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German Pages 524 Year 2019
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 87
Eine Rheinische Republik? Die ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 in Zeiten des völker- und verfassungsrechtlichen Umbruchs
Von
Philipp Bender
Duncker & Humblot · Berlin
PHILIPP BENDER
Eine Rheinische Republik?
Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 87
Eine Rheinische Republik? Die ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 in Zeiten des völker- und verfassungsrechtlichen Umbruchs
Von
Philipp Bender
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds der VG WORT. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de Gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 978-3-428-15746-4 (Print) ISBN 978-3-428-55746-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85746-3 (Print & E-Book)
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Meinen Eltern
Vorwort Die Monographie untersucht die Geschichte sowie die vorherrschenden Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen vor 100 Jahren, nämlich zwischen November 1918 und August 1919. Als rechtshistorische Arbeit geht sie dabei der Frage nach, ob und inwieweit die erste Initiative zur Schaffung einer „Rheinischen Republik“ einen Einfluss auf die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung sowie auch auf die Entwicklung des internationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker hatte. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn hat diese Abhandlung im Herbst 2018 als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gebührt an erster Stelle meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Professor Dr. Christian Hillgruber, mit dem ich seit nunmehr zehn Jahren zunächst als studentische Hilfskraft und nach meiner ersten Juristischen Staatsprüfung im April 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zusammenarbeiten darf. Er ist für mich ein stets aufgeschlossener und interessierter Gesprächspartner und war mir als versierter Verfassungshistoriker und Völkerrechtler beim Verfassen dieser Monographie ein inspirierender Hinweisgeber. Meinen aufrichtigen Dank richte ich auch an Professor Dr. Dres. h.c. Josef Isensee, der das Zweitgutachten sowohl inhaltlich tiefgehend als auch zügig und ergänzt um wertvolle Anmerkungen zur Veröffentlichung der Arbeit erstellt hat. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, Kirsten und Frank Bender, die ich immer liebevoll und geduldig an meiner Seite weiß. Sie haben mich gefördert, mir vieles möglich gemacht und die Entfaltung meiner Persönlichkeit geprägt. In tiefer Dankbarkeit und Liebe bin ich ihnen verbunden. Bonn, im Januar 2019
Philipp Bender
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Hinführung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Von den „Rheinlanden“ zur preußischen Rheinprovinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Das Rheinland zwischen Revolution und Republik: Die politische Ausgangslage im November 1918 und die Entwicklung bis August 1919 . . . . . . . . . . . . 28 III. Die Ursprünge der ersten Rheinstaatsbestrebungen und das Treffen mit Konrad Adenauer vom 9. November 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 IV. Die Kölner Zentrumsversammlung vom 4. Dezember 1918 . . . . . . . . . . . . . . . 52 V. Die Elberfelder Besprechung vom 13. Dezember 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 VI. Die Denkschrift von Hugo Preuß und der Entwurf der künftigen Reichsverfassung vom 20. Januar 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 VII. Die Großkundgebung des „Freiheitsbundes der deutschen Rheinlande“ vom 29. Januar 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 VIII. Die Bildung des „Westdeutschen Politischen Ausschusses“ vom 1. Februar 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IX. Der Brief Hans Adam Dortens an Adenauer vom 5. Februar 1919 . . . . . . . . . 101 X. Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 . . . . . . . . 114 XI. Die Sechs-Punkte-Erklärung der Aktionisten vom 6. März 1919 . . . . . . . . . . . 116 XII. Die Bildung des „Ausschusses für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik“ vom 10. März 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 XIII. Die Stellungnahme der Reichsregierung vor der Nationalversammlung vom 13. März 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
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Inhaltsverzeichnis XIV. Die Diskussion im Reichsverfassungsausschuss der Nationalversammlung vom 19. und 20. März 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 XV. Das preußische Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt vom 20. März 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 XVI. Die Entschließung der Preußischen Landesversammlung vom 24. März 1919 145 XVII. Das Treffen von Rheinstaatsbefürwortern mit dem französischen General Mangin vom 17. Mai 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 XVIII. Das Ultimatum der Reichsregierung vom 28. Mai 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 XIX. Die Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses vom 30. Mai 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 XX. Das Ausscheiden Kasterts und Kuckhoffs aus der Zentrumsfraktion in der Landesversammlung vom 30. Mai 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 XXI. Das Treffen der Reichsregierung mit rheinischen Abgeordneten vom 31. Mai 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 XXII. Die Proklamation der Rheinischen Republik in Wiesbaden vom 1. Juni 1919 194 XXIII. Vom Wiesbadener Putschversuch zur Verabschiedung der Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 XXIV. Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Die Bedrohung einer Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich . . 224 II. Antipreußische Ressentiments und rheinischer Lokalpatriotismus . . . . . . . . . . 232 III. Die kirchenfeindliche Politik des preußischen Kultusministers Adolph Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 IV. Parteipolitische Interessen des Zentrums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 V. Antisozialismus und Antibolschewismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 D. Völker- und staatsrechtliche Formen rheinländischer Eigenständigkeit . . . . . . . . 259 I. Separatismus: Das Rheinland als Pufferstaat außerhalb des Reichsverbands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Inhaltsverzeichnis
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II. Autonomie: Das Rheinland als autonomer Verband? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Die Entwicklung des Autonomiebegriffs in der deutschen Staatstheorie seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Der „autonome Verband“ als Ziel der ersten Rheinstaatsbestrebungen? . . . 277 III. Föderalismus: Das Rheinland als Gliedstaat innerhalb des Reichsverbands . . 286 IV. Provinzialismus: Das Rheinland als sich selbstverwaltende preußische Provinz 292 E. Die ersten Rheinstaatsbestrebungen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker 295 I. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Rheinstaatsfrage . . . . . . . . . . . 297 II. Ursprünge und ideelle Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker
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III. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . 330 1. Das Selbstbestimmungsrecht nach Lenin und die sozialistische Konzeption 333 2. Das Selbstbestimmungsrecht im Wilson-Programm und die westliche Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Das Selbstbestimmungsrecht in den Pariser Friedensverhandlungen und Friedensverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 4. Das Selbstbestimmungsrecht im Åland-Disput . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 IV. Das Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes – ein Sonderweg? . . . . . 370 1. Die Rheinländer als taugliches Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Inhalt und Umfang des Selbstbestimmungsrechts in der Rheinstaatsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3. Die Versagung eines Selbstbestimmungsrechts des rheinischen Volkes . . . . 387 4. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 F. Die ersten Rheinstaatsbestrebungen und die Weimarer Reichsverfassung . . . . . . 396 I. Die wissenschaftlichen und publizistischen Entwürfe einer Reichsverfassung zum Jahreswechsel 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 II. Der von Hugo Preuß vorgelegte Entwurf der Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . 411 1. Die „Zerschlagung“ Preußens und die Pläne zur Neugliederung des Reichsgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 2. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit zur Neugliederung . . . . . . . . . . . . . 421 3. Die Rheinlandfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 III. Die erste Lesung im Plenum der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 IV. Die Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung . . . . . . . 440
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Inhaltsverzeichnis V. Die zweite und dritte Lesung im Plenum der Nationalversammlung . . . . . . . . 448 VI. Die Bedeutung des Artikels 18 WRV für die Reichsneugliederungspläne . . . . 463 VII. Die Bedeutung der Rheinstaatsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 VIII. Der Gesetzentwurf über die Selbständigkeitsrechte der preußischen Provinzen 480 IX. Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
G. Ergebnisse und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 I. Ungedruckte Quellen und Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 II. Gedruckte Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
A. Einleitung Kein Volk darf gezwungen werden, unter einer Herrschaft zu leben, unter der es nicht leben will. Thomas Masaryk, Oktober 1918
I. Hinführung und Gang der Untersuchung Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Region des sogenannten „Rheinlandes“ in der Zeit nach dem für das Deutsche Reich vor 100 Jahren verlorenen Ersten Weltkrieg, den der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan später als „the great seminal catastrophe of this century“, also als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ beschreiben sollte.1 Die Monate von November 1918 bis zum August 1919, bestimmt von den einschneidenden Erlebnissen der militärischen Niederlage, der sozialistisch inspirierten Novemberrevolution, des Friedensschlusses in Versailles und der Verabschiedung der Reichsverfassung, waren eine Zeit voller innen- wie außenpolitischer Ungewissheiten. Sowohl die zukünftige gesellschaftliche und verfassungspolitische Ordnung, als auch der äußere Rahmen, in dem sich das staatliche Leben des deutschen Volkes zukünftig abspielen würde, waren plötzlich unbestimmt. Die Zeichen der Zeit standen auf Tabula rasa, und sämtliche Fragen von Politik und Verfassung schienen gänzlich offen. Eine dieser Fragen, die ab dem Winter 1918/19 lebhaft diskutiert wurde, war die Frage nach einer territorialen Neugliederung des Reichsgebiets sowie – damit eng verbunden – die Zukunft des preußischen Staates im geeinten, republikanischen Deutschland. In diesen staats- und verfassungspolitischen Debatten nach dem Untergang des Kaiserreichs suchten und fanden die Bevölkerung der preußischen Rheinprovinz – im Folgenden „Rheinländer“ genannt – und die sie vertretenden Politiker die Gelegenheit, mehr Unabhängigkeit für die deutschen Rheinlande zu fordern. Kommt man auf die Selbständigkeitsbestrebungen am Rhein, wenn nicht sogleich und ohne Umwege auf die rheinischen „Separatisten“ nach dem Ersten Weltkrieg zu sprechen, liegt das hauptsächliche Augenmerk stets auf den aktionistischen und mitunter blutigen „Separatistenunruhen“ des Jahres 1923. Hans-Peter Schwarz er1 Kennan, The Decline of Bismarck‘s European Order, 1979, S. 3. Hervorhebung im Original.
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A. Einleitung
läutert, dass im Sommer und Herbst 1923 aufgrund der durch Ruhrbesetzung, Inflation, und des Zusammenbruchs des passiven Widerstands gegen die Franzosen ausgelösten Krise Deutschlands das Rheinland „gewissermaßen auf dem Präsentierteller“ gelegen habe.2 Hierzu bemerkt Rudolf Morsey, in der Staats- und Wirtschaftskrise der Republik habe „die Einheit des Reiches auf des Messers Schneide“ gestanden.3 Diese politische und wirtschaftliche Krise hatte dazu geführt, dass sich zwischen dem 21. Oktober und Ende November 1923 eine „Rheinische Republik“ im Westen des Deutschen Reiches glaubte gründen zu können, deren Hauptstadt Koblenz sein sollte. Der französische Hochkommissar und Präsident der Rheinlandkommission, Paul Tirard, erkannte die Herrschaft der Separatisten am 26. Oktober 1923 tatsächlich als legitime Regierung an und interpretierte sie als Resultat einer politischen Revolution der rheinischen Bevölkerung.4 Nach nur wenigen Tagen zerbrach jedoch die Separatistenbewegung, die in dem Gebiet um Koblenz und das Siebengebirge zu einer veritablen umstürzlerischen „Gewaltherrschaft“ geführt hatte, am bewaffneten Widerstand der rheinischen Bevölkerung und internen Streitigkeiten. Vielfach übersehen oder nur beiläufig gewürdigt werden hierbei die Anfänge des modernen rheinischen Unabhängigkeitsstrebens in der Gründungsphase der Weimarer Republik vor 100 Jahren, das sein Ziel, jedenfalls ursprünglich, nicht durch einen Putsch zu erreichen suchte, sondern auf legal-konstitutionellem Wege eine staatsrechtliche Eigenständigkeit des Rheinlandes innerhalb des Reichsverbandes anstrebte. Als sogenannte „erste Rheinstaatsbewegung“ bzw. „erste Rheinstaatsbestrebungen“5 können die Selbständigkeitsbestrebungen im preußischen wie bayerischen6 2
Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952, 1986, S. 229. Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis, in: Dietrich Murswiek, Ulrich Storost, Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Staat-Souveränität-Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 540. 4 Bundesarchiv, Unterredungen mit dem Präsidenten der Interalliierten Rheinlandkommission Tirard am 29. Oktober 1923, abrufbar unter: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichs kanzlei/1919-1933/0000/str/str2p/kap1_1/para2_85.html?highlight=true&search=Revolution, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 5 Den Begriff „Rheinstaatsbestrebungen“ präferiert Schlemmer, Los von Berlin, 2007, S. 14 f., weil es keine homogene und geschlossene „Bewegung“ gegeben habe. Zwingend erscheint diese begriffliche Festlegung jedoch nicht, sodass in dieser Abhandlung im Wesentlichen gleichsinnig von Bewegung(en), Bestrebungen, Initiativen, Rheinstaatsbefürwortern und Rheinstaatsanhängern gesprochen wird. 6 Auch in der bayerischen Pfalz gab es überwiegend föderalistische Loslösungsbestrebungen, die indes nicht den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden. Diese beschränkt sich auf die Untersuchung der nieder- und mittelrheinischen Initiative oder anders gesagt: auf die Initiativen in der preußischen Rheinprovinz. Der Zeitgenosse Fritz Brüggemann sieht klar, wenn er ironisch bemerkt: „Vor allen anderen Städten des Rheinlandes erfreut sich die Stadt Köln der Ehre, während des Waffenstillstandes im Jahre 1918/1919 den Mittelpunkt der Bestrebungen auf Errichtung einer Rheinischen Republik gebildet zu haben.“, vgl. Brüggemann, Die rheinische Republik, 1919, S. 5. 3
I.
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Rheinland verstanden werden, die in die Phase der offenen staatsorganisatorischen Fragen nach der Revolution vom 9. November 1918 und der Verfassunggebungen im Deutschen Reich und im Freistaat Preußen fallen. Es handelte sich bei der „Rheinstaatsbewegung“, „Rheinstaatsinitiative“ oder auch „Rheinlandbewegung“ im Grunde um verschiedene lokale oder parteipolitische Zirkel und Initiativen, die jedoch vereint waren in dem Wunsch, eine „Rheinische Republik“7, eine „Westdeutsche Republik“8 oder eine „Rheinisch-Westfälische Republik“9 im Westen des Deutschen Reiches zu gründen und zumindest als gliedstaatliche Einheit zu etablieren. Es sollte ein rheinländischer Staat errichtet werden, der jedenfalls „los von Preußen“ strebte, wobei auch den Zeitgenossen selbst häufig unklar blieb, wie weit diese rheinische Eigen- oder Selbständigkeit bzw. Unabhängigkeit reichen sollte: „Los von Preußen“ oder sogar „Los vom Deutschen Reich“? Rheinländischer Gliedstaat, getrennt von Preußen, aber im Reichsverband verbleibend, oder unabhängiger Pufferstaat zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich? Die Betrachtungen der vorliegenden Abhandlung beschränken sich auf diese frühe, gleich nach dem Waffenstillstand aufgekommene, rheinische Eigenständigkeitsbewegung, sowie deren ideengeschichtlichen Hintergrund und insbesondere ihren Einfluss auf die Verfassungsgesetzgebungen im Deutschen Reich. Als verfassungshistorische Untersuchung hat die Abhandlung hervorgehoben die konstitutionelle Bedeutung der frühen Rheinlandbewegung zum Gegenstand, also nicht die historisch-politische Einordnung und Würdigung des rheinischen Eigenstaatsbewusstseins insgesamt.10 Im ersten Abschnitt wird dennoch eine möglichst umfassende und bruchlose Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen vorangestellt, wobei rechtshistorische Betrachtungen den Schwerpunkt ausmachen (Abschnitt B). Die bisher erarbeitete Chronologie der ersten Rheinstaatsinitiative ist fragmentarisch und nicht frei von Widersprüchen, und auch neueste Arbeiten zu dem Thema leisten keine komplettierende Geschichtsschreibung,11 sodass eine eigene Darstellung zu Beginn der rechtsgeschichtlichen Abhandlung zum Einstieg und zur Orientierung angezeigt erscheint. Ergänzend hierzu werden sodann die vorherrschenden zeit- und ideengeschichtlichen Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen aufgearbeitet und darge7 Vgl. etwa Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik, 1919; Moldenhauer, Die Rheinische Republik, 1920; Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik, 1919. 8 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, 1966, S. 221. 9 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 3. 10 Diese historische Gesamtschau liefert vor allem Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5). 11 Auch nicht die vergleichsweise umfassende Arbeit Schlemmers, Los von Berlin (Fn. 5), dessen chronologischer Überblick über die Entwicklung der ersten Rheinstaatsbestrebungen ergänzungsfähig bleibt.
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A. Einleitung
stellt (Abschnitt C). Es wird der Frage nachgegangen, aus welchen Ursachen und Gründen heraus die Rheinländer überhaupt auf den Gedanken kamen, nach einer eigenständigen Staatlichkeit, jedenfalls losgelöst vom Freistaat Preußen, zu streben. Im Anschluss daran werden die – jedenfalls abstrakt – denkbaren Möglichkeiten einer völker- oder staatsrechtlichen Eigenständigkeit des Rheinlands dargestellt (Abschnitt D). Neben die verfassungs- und ideengeschichtlichen Betrachtungen tritt sodann eine umfassende völkerrechtshistorische Einordnung (Abschnitt E), wobei die erste Rheinlandbewegung in den Zusammenhang des Abschlusses des Versailler Friedensvertrags gestellt wird. Völkerrechtlich ist dabei danach zu fragen, ob der Bevölkerung des Rheinlands bei ihrem Anliegen nach Eigenständigkeit auch das moderne Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Seite gestanden hat und ob hieraus ein Recht auf Staatsgründung hätte folgen können. Aus der Sicht des Völkerrechts hat das populäre Schlagwort vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ während und nach dem Ersten Weltkrieg dazu geführt, dass sich eine Vielzahl von Nationen, Nationalitäten und andere Entitäten, insbesondere in Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, aber auch im Deutschen Reich, zu Wort meldeten und staatliche Selbständigkeit einforderten. Die historische Forschung spricht im Kontext des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg und in den Friedensverhandlungen zwar von Serbokroaten, Polen, Slowenen, Balten, Ruthenen, Dänen, Finnen, Iren, Åländern, Elsässern sowie Lothringern und Belgiern, geht jedoch mit keinem Wort auf die Rheinstaatsbewegung ein, die sich immerhin in gleicher Weise auf ein „Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes“12 berief. Es wird der Frage nachzugehen sein, ob und inwiefern die Rheinstaatsinitiative für die historische und ideengeschichtliche Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Rolle gespielt hat und insbesondere, wie das Selbstbestimmungsrecht von Rheinstaatsanhängern und Rheinstaatsgegnern ausgelegt und verstanden worden ist. Zwar sind und waren die Rheinländer schon immer für ihr gefestigtes Selbstbewusstsein bekannt, „das neben Karneval, Mundart und Redensarten eine gute Portion Lokalpatriotismus beinhaltet“,13 aber genügte dieses Kultur- bzw. Regionalgefühl tatsächlich, um die Berufung der Rheinländer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu begründen? Der Abschluss des Friedensvertrages und gleichzeitig die Ausarbeitung der neuen Reichsverfassung waren seit dem Frühjahr 1919 die beiden großen Aufgaben der gerade erst konstituierten Deutschen Nationalversammlung. Somit ergibt sich der enge Bezug der Rheinstaatsinitiative zur verfassunggebenden Versammlung, mussten die Rheinländer doch gerade hier mit ihrem Anliegen Gehör finden. Es stellt 12 Vgl. statt vieler Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 39. 13 General-Anzeiger v. 12. Januar 2017, S. 26 („Eine Region ohne Umrisse“).
I.
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sich die rechtshistorische Frage, ob die Rheinlandbewegung mit ihrer Forderung nach dem Rheinstaat Einfluss auf die Beratungen der Nationalversammlung und schließlich die Weimarer Reichsverfassung ausgeübt hat, ob sich, mit anderen Worten, „Spuren“ der Rheinstaatsinitiative im Verfassungswerk von 1919 finden lassen (Abschnitt F). In dem besonderen Kontext der republikanischen Reichs- und Länderneugliederungspläne spricht einiges dafür, dass die ersten Rheinstaatsbestrebungen ein verfassungsgeschichtlich interessantes Phänomen darstellen, denn auch die Zeitgenossen maßen ihnen eine hervorgehobene Bedeutung bei, wie eine Aussage Friedrich Eberts im Rat der Volksbeauftragten vom 31. Dezember 1918 anschaulich verdeutlicht: „Wenn die bisherigen Bundesstaaten weiter in der Größe wie jetzt bestehen bleiben sollen, dann werden wir vor dem Volke nicht bestehen können. Die Bestrebungen auf Schaffung einer Republik im Rheinland, in Westfalen, in Hannover und Schlesien werden jetzt von bürgerlichen Kreisen getragen. Wenn diese separatistischen [!] Bestrebungen durch die Nationalversammlung gefördert werden sollen, müssen wir das vorher wissen, damit wir uns dann an die Spitze der Bewegung stellen können.“14 In der frühen Phase der Republikgründung von Weimar wurden die Loslösungsbestrebungen im Westen des Reiches ein politischer Faktor und überdies eine Bedrohung für die sozialistischen Revolutionsregierungen in Preußen und auf der Reichsebene. Es war deutlich geworden, dass, wenn es nicht gelänge, die Rheinstaatsbewegung zu marginalisieren und in die Bedeutungslosigkeit zu drängen, man sie mit ihren Forderungen konstitutionell „einfangen“ musste. Mit dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (WRV) am 14. August 1919 wird das Ende der auf legale Zusammenarbeit mit den gewählten Autoritäten bedachten ersten Rheinstaatsbewegung markiert. Fortan hielt lediglich eine radikalisierte Minorität an dem Unabhängigkeitsgedanken fest, wobei man sich seit jeher den Vorwurf der illegalen „Sonderbündlerei“ gefallen lassen musste. Diese aktionistische Strömung, als „Abfallbewegung“15 schon zeitgenössisch gebrandmarkt, war es im Kern, die im Krisenjahr 1923 die Separatistenunruhen am Rhein auslöste oder jedenfalls mittrug. An diese Unterscheidung der beiden Flügel der Rheinstaatsbewegung knüpft die Bezeichnung einzelner Akteure als (gemäßigter) „Legalist“ im Gegensatz zu „Aktivist“ bzw. „Aktionist“ an, die dieser Abhandlung zugrunde liegen soll.16 14
S. 23. 15
Zitat bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8),
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 77. Vgl. hierzu auch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 13. Die Begriffe „Legalisten“ und „Aktivisten“ gehen auf den Zeitzeugen und Zentrumspolitiker Ludwig Kaas zurück, der diese in einer Sitzung der Nationalversammlung vom 22. Juli 1919 prägte, vgl. Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 327, 1920, S. 1803 (A). 16
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Mit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung fand die erste Rheinstaatsinitiative praktisch ihr Ende. Die Arbeit beschränkt sich in ihrer Untersuchung demnach auf die zehn Monate zwischen dem 9. November 1918 und dem 14. August 1919, die zugleich die Gründungsphase der Weimarer Republik darstellen. Auf das „Separatismusjahr“ 1923 soll vorliegend nicht eingegangen werden, denn hier stehen die Geschichte sowohl der Reichsverfassunggebung als auch des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht im Vordergrund des Forschungsinteresses. Es wird ferner zu erörtern sein, in welchem Umfang die französische Besatzungsmacht die Rheinstaatsbewegung in ihrer Zielsetzung unterstützt oder sogar erst ins Leben gerufen hat, etwa durch ein taktisches Bündnis mit der zentrumsnahen „Kölnischen Volkszeitung“.17 Hierauf wird eingegangen, wenn die drohende Annexion des linken Rheinufers durch die Franzosen als ein zeitgeschichtliches Motiv der Loslösungsbestrebungen behandelt wird. Schließlich soll eine rechtshistorisch überfällige Antwort auf die bis zum heutigen Tage vieldiskutierte Frage gegeben werden, ob die erste Rheinstaatsinitiative ihrer Anlage nach „sonderbündlerisch“ und separatistisch oder lediglich autonomistisch, föderalistisch oder provinzialistisch eingestellt, jedenfalls aber „reichstreu“, gewesen ist. Eine Einordnung ist hierbei nur mit einer möglichst exakten Definition dieser Begrifflichkeiten möglich, die die Geschichtswissenschaft bislang jedoch schuldig geblieben ist. Die vorgefundene Begriffswahl reicht dabei von national gesinntem Föderalismus, über Provinzialismus, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, Partikularismus, Sonderbündlerei bzw. Sonderbündelei, Hoch- und Landesverrat, bis hin zum offenen Separatismus, Absonderung und „Abfall“. Hier setzt die historisch-juristische Untersuchung an und bezweckt, eine rechtlich tragfähige Einordnung anzubieten, die wiederum auch für den Historiker einen Erkenntnisgewinn darstellen kann. Die politische Schlagseite so mancher historischen Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt sich insbesondere aus der Konzentration auf die Person Konrad Adenauers, der zur Zeit der ersten Rheinstaatsinitiative Oberbürgermeister von Köln und prominenter Politiker der rheinischen Zentrumspartei gewesen war und der sich noch als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland laufend dem Vorwurf des national unzuverlässigen, rheinisch-katholischen Separatismus ausgesetzt sah.18 Enthalten muss sich diese Arbeit einer eingehenderen lokal- bzw. regionalhistorischen Betrachtung, etwa mit Blick auf die jeweiligen Initiativen und Zirkel in
17 Von Letzterem scheint etwa Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus?, 1974, auszugehen. 18 Siehe hierzu etwa Janßen, Adenauer – ein Separatist?, in: Die Zeit, Nr. 49 v. 8. Dezember 1967, abrufbar unter http://www.zeit.de/1967/49/adenauer-ein-separatist, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018.
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Aachen19 und Rheinhessen-Nassau20. Zwar war die Rheinstaatsbewegung eine dezentrale, vielerorts spontane und regional organisierte Erscheinung, vorliegend soll jedoch der Versuch gemacht werden, die „Rheinstaatsbewegung“ bzw. „Rheinlandbewegung“ insgesamt in den Blick zu nehmen, was vor dem hier verfolgten staatstheoretischen, verfassungshistorischen sowie völkerrechtsgeschichtlichen Forschungsziel eine Berücksichtigung lokaler Verschiedenheiten und Besonderheiten entbehrlich erscheinen lässt.
II. Forschungsstand Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2018 abgeschlossen und fällt damit in das 100. „Jubiläumsjahr“ der ersten Rheinstaatsbestrebungen. Einen der Ausgangspunkte dieser Abhandlung kann die Feststellung Rudolf Morseys aus dem Jahre 1965 bilden, der unter Bezugnahme auf eine regional- und zeitgeschichtliche Studie Heinz Gollwitzers formulierte: „Gollwitzers Folgerung: ,Hier ergibt sich für eine auch die neuere und neueste Zeit berücksichtigende Landesgeschichte eine lohnende Aufgabe‘, gilt uneingeschränkt für eine Untersuchung des Verhältnisses der Rheinlande zu Preußen und zum Reich in der Epoche nach 1914. In der Darstellung von Geschichte und Eigenart der westdeutschen politischen Landschaft werden die treibenden Kräfte im Ringen zwischen Unitarismus und Föderalismus, einem Grundproblem der neueren deutschen Geschichte, ebenso deutlich wie die Sonderentwicklung eines Grenzgebietes, dessen jüngste Geschichte noch weithin unerforscht ist.“21 Mit diesem Grenzgebiet meinte Morsey das Rheinland oder, wie insbesondere historisch konnotiert, die Rheinlande. Zur Verfassungsgeschichte der jungen Weimarer Republik meinte Hans Fenske noch im Jahr 1996: „Überhaupt ist der breite Komplex der Verfassunggebung im Übergang vom wilhelminischen zum Weimarer Deutschland immer noch nicht im wünschenswerten Umfang bearbeitet.“22 Die vorliegende Abhandlung möchte die erste Rheinstaatsinitiative im Gesamtkontext der Verfassunggebung wie auch der Friedensverhandlungen sowohl untersuchen als auch würdigen und hofft, auf diesem Wege einen wissenschaftlichen 19 Näher hierzu etwa Hermanns, Stadt in Ketten, 2. Aufl. 1933; Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 521 ff. 20 Näher hierzu Süss, Rheinhessen unter französischer Besatzung, 1988; sowie sehr eingehend Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968). 21 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 176. 22 Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 26.
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Beitrag zur neueren Geschichte des Rheinlandes und zur allgemeinen Verfassungsund Völkerrechtsgeschichte zu leisten. Zunächst sei zu diesem Zweck der bisherige Stand der historischen und rechtshistorischen Forschung skizziert. Die zeitgenössischen Schriften, also zwischen 1918 und den frühen 1920er Jahren, waren inhaltlich beherrscht von der Absicht, französische Annexionsabsichten oder jedenfalls französische Versuche der Einflussnahme auf das Schicksal der Westdeutschen politisch abzuwehren; es dominierte die „Franzosenfurcht“. So hieß es noch 1922 in dem zweibändigen Sammelwerk „Geschichte des Rheinlandes von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart“: „Eines lehrt die Geschichte unserer rheinischen Heimat besonders eindringlich: Das Glück dieses Landes war immer dann am größten, wenn seine Einheit mit dem deutschen Vaterlande am festesten geschlossen war und in der Westmark selbst am wärmsten empfunden wurde. Nur im Zusammenhang mit dem ganzen Deutschen Reich wird sich die Zukunft des Rheinlands wieder heben.“23 Der Appell an rheinische Geschlossenheit und Treue zum deutschen Vaterland macht deutlich, dass man sich zumindest implizit mit der Angelegenheit beschäftigte, die in dieser Arbeit regelmäßig als „Rheinland-“ bzw. „Rheinstaatsfrage“ bezeichnet werden soll. Zu diesem Thema erschienen nach dem Ersten Weltkrieg eine Fülle von kontroversen, polemischen und (pseudo-)wissenschaftlichen Schriftwerken, die unter den Schlagworten „Kampf um den Rhein“, „Rheinlandbewegung“, „Separatismus“,24 „Sonderbündelei“, „Los von Berlin“, „Rheinkampf“, „Freies Rheinland“, „Rheinische Republik“ und anderen mehr standen und allesamt entweder in die eine oder die andere Richtung, also für oder gegen eine Rheinische Republik, positioniert waren. Ab 1925 finden sich einige Publikationen, die nun zwar weniger die beiden unterschiedlichen Rheinstaatsinitiativen 1918/19 und 1923 behandelten, aber immer noch durchdrungen waren von deutschnationalistischen Tönen in Richtung Frankreich. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung, vor allem über die rheinisch-preußische Beziehung der neueren Zeit und die damit verbundene Verfassungsentwicklung, blieb indessen aus.25 Nach 1933 wurde die Geschichte des Rheinlandes der vorausgegangenen Weimarer Zeit im Sinne nationalsozialistischer Propaganda umgedeutet,26 was einher ging mit massiven Anfeindungen und Anklagen an die Adresse (früherer) führender
23 Hansen (Hrsg.), Geschichte des Rheinlandes von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, 1922, Bd. 1, S. VII. 24 Vgl. die ersten drei Begriffe bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 176 ff. 25 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 183. 26 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 178.
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Persönlichkeiten des rheinischen Zentrums und der vor allem katholischen Presse.27 Erneut war von „Separatismus“ und „Hochverrat“ die Rede;28 damit einhergehend wurde eine Legenden- und Mythenbildung betrieben, deren Ergebnisse sich bis in die jüngste Zeit hinein gehalten haben,29 ja teilweise bis heute – selbst in der Fachliteratur – halten.30 Man muss es bereits an dieser Stelle deutlich sagen: Der Beginn einer Geschichtsschreibung, die die beiden verschiedenen Rheinstaatsbewegungen einerseits der Jahre 1918/19 und andererseits 1923 pauschal unter dem Schlagwort des „rheinischen Separatismus“ abhandelt und somit Ungleiches zu Gleichem machen will, liegt im Nationalismus der Weimarer Republik und im sich anschließenden Nationalsozialismus begründet. Die Kriegspublikationen blieben diesem Ansatz zumeist völlig unreflektiert treu und lassen sich treffend mit dem Titel eines Bonner Universitätsvortrages von Leo Just aus dem Jahre 1941 charakterisieren: „Geistiger Kampf um den Rhein.“31 Wenige Monate später wurde das Rheinland in dem Sammelband „Deutschland und der Westraum“ in seiner vermeintlichen Bedeutung als Teil eines künftigen, nationalsozialistisch „geordneten“ Europas gewürdigt.32 Während der Kanzlerschaft Adenauers in den 1950er- und 1960er-Jahren wurden viele, zumeist rein polemische Schriften veröffentlicht, die jedenfalls vorgaben, sich mit seiner Rolle als Kölner Oberbürgermeister in der Rheinstaatsinitiative 1918/19 zu beschäftigen. Im Grunde aber verfolgten sie durchsichtig den Zweck, den ersten Bundeskanzler und seine neugegründete Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) als „(rheinisch-)separatistisch“ zu diskreditieren, insbesondere im Zuge der voranschreitenden Westbindung der Bundesrepublik und der sich abzeichnenden deutschen Teilung. Morsey schreibt zu diesem Umstand: „Als vermeintlicher Beleg für Adenauers Aversionen gegenüber Berlin im engeren und – damit verbunden – Preußen im weiteren Sinne gilt vielfach das Stichwort ,Separatist‘, bezogen auf sein Verhalten in der Rheinlandbewegung im Winter 1918/19 und dann wieder im Spätjahr 1923. Diesen Vorwurf erhoben ab 1933 die Nationalsozialisten, nach 1945 dann im Westen Deutschlands die Kommunisten, teilweise auch
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Vgl. etwa Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein, 1934. Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27); Friedrichs, Aus rheinischer Not- und Kampfzeit. Separatismus!, 1933. 29 Vgl. etwa nur Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr, 1961; Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924, 1969. 30 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, 1984, S. 1128 ff.; Gillessen, Hugo Preuß, 2000, S. 105; Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung, 2009, S. 15; Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam, 2018, S. 55 ff. 31 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 178. 32 Heiß, Deutschland und der Westraum, 1941, S. 9. 28
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Sozialdemokraten. Das von der SED verbreitete Adenauer-Bild blieb auf Stereotypen wie ,Separatist‘ oder ,Spalter‘ reduziert.“33 Exemplarisch sei die Streitschrift des Krefelder SPD-Landtagskandidaten Willi Sinnecker genannt, die vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1962 unter dem Titel „Christliche Politik? Karl V. und Konrad Adenauer. Zweimal Nachkriegsseparatismus?“ erschien und auf die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg Bezug nahm, in Inhalt und Tenor jedoch aus dem Jahr 1923 hätte stammen können.34 In puncto historischer Ungenauigkeit und ideologischer Polemik wurden derlei Pamphlete nur noch von der staatsoffiziellen DDR-Geschichtsschreibung übertroffen, die Adenauers Westorientierung pseudowissenschaftlich als bourgeoisen Schachzug anfeindete und von zeithistorisch omnipräsenten separatistischen Tendenzen ausging.35 Wissenschaftlich tatsächlich Relevantes zur Rheinlandbewegung nach dem Ersten Weltkrieg war seit der Gründung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen 1946 und nach der Auflösung Preußens 1947 zunächst so gut wie nicht erschienen, von rein lokalhistorischen Abhandlungen einmal abgesehen.36 Im Jahre 1965 wurde anlässlich des 150. Jubiläums der Angliederung der Rheinprovinz an Preußen der Sammelband „Das Rheinland in preußischer Zeit“ veröffentlicht, der jedoch die Entwicklung seit 1914 überwiegend ausklammerte, so dass auch hier eine Behandlung der Rheinstaatsbewegung 1918/19 ausblieb. Erst gegen Ende der 1960er-Jahre, als die Akten zur jüngeren Geschichte des Rheinlands – zumeist unter den aussagekräftigen Titeln „Rheinlandbewegung“ oder „Separatismus“37 – der Forschung zur Verfügung standen, beschäftigte sich die Geschichtswissenschaft mit der Politik im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg eingehender. Hervorgehoben seien hier nur das Werk Morseys zur Geschichte der deutschen Zentrumspartei38 sowie Karl Dietrich Erdmanns Abhandlung „Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg“39, beide aus dem Jahre 1966 und prägend für die jüngere Rheinlandgeschichte. Freilich konnten sich auch diese beiden Autoren nicht der politischen Stellungnahme enthalten, waren sie doch beide 33 Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 536. 34 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 178. 35 Vgl. etwa Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29). Der gesamte Titel dieser Streitschrift lautet: „Separatisten an Rhein und Ruhr. Die konterrevolutionäre separatistische Bewegung der deutschen Bourgeoisie in der Rheinprovinz und in Westfalen November 1918 bis Juli 1919“. 36 So auch die Einschätzung bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 179. 37 Vgl. Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 179. 38 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923, 1966. 39 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8).
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eher gewillt, Adenauer und die Zentrumspartei vom politischen Vorwurf der Sonderbündlerei zu entlasten. Wiederum also stand insbesondere die Person und Rolle Adenauers im Fokus des Interesses. In dieser Richtung folgten einige, zumeist kürzere Abhandlungen, die vor allem den Zweck verfolgten, Adenauer vom Separatismus freizusprechen.40 Deutlich kritischer, aber mindestens ebenso politisierend war einige Jahre später Henning Köhler mit seinen Schriften „Autonomiebewegung oder Separatismus? Die Politik der ,Kölnischen Volkszeitung‘ 1918/1919“41 (1974) und „Adenauer und die rheinische Republik“42 (1986). Hier gerieten Adenauer, das rheinische Zentrum und die katholische rheinische Presse insgesamt in die Kritik, insbesondere ihr Taktieren vor dem Hintergrund französischer Annexionsabsichten. Man kann die genannten Publikationen von Morsey, Erdmann und Köhler wohl als historische Standardwerke zur Rheinlandfrage 1918/19 bezeichnen, muss sich indessen der stellenweise zutage tretenden politischen Motivation bewusst sein. Daneben stehen die Veröffentlichungen von Erwin Bischof43und Klaus Reimer44 aus den Jahren 1969 bzw. 1979, die zwar neutraler in der Haltung und grundsätzlich akribisch sind, andererseits nicht ohne „handwerkliche“ Ungenauigkeiten. Als umfangreiche Arbeit jungen Datums und ebenfalls als Standardwerk ist Martin Schlemmers „Los von Berlin – Die Rheinstaatsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg“45 anzuführen, die sowohl chronologisch und zeitanalytisch reichhaltig ist und der vorliegenden rechtshistorischen Abhandlung bedeutende historische Impulse gegeben hat. Dennoch kann auch der historische Erkenntnisgewinn dieser Arbeit durch Ergänzungen, gerade vor dem Hintergrund der Werke von Bischof, Morsey, Erdmann und Köhler, noch vergrößert werden, um die chronologische Gesamtdarstellung der frühen Rheinstaatsbewegung zu vervollständigen, die bei Schlemmer bewusst schlaglichtartig dargestellt ist. Dies nimmt sich die vorliegende Untersuchung vor, wenn sie auch schwerpunktmäßig eine rechtshistorische Schrift bleibt. Dass der bisherige Forschungsstand noch inhaltlich sinnvoll erweitert werden kann und dass es auch heute noch angezeigt ist, sich (rechts-)historisch mit den ersten Rheinstaatsbestrebungen eingehender zu beschäftigen, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Abhandlung Wilhelm Ribhegges zur Geschichte des Parlamentarismus im Rheinland und in Westfalen aus dem Jahre 2008, in der es lapidar heißt: „Im Rheinland kam es in Teilen des Zentrums zur Forderung nach einer ,rheinisch40 Vgl. etwa Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926), in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, 1976, S. 99 ff. 41 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17). 42 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik, 1986. 43 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29). 44 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933), 1979. 45 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5).
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westfälischen Republik‘, die sich weniger gegen das Reich als gegen Preußen und gegen die preußische Revolutionsregierung richtete. Sie wurde aber von der rheinischen SPD nicht unterstützt und verebbte nach den beiden Januarwahlen [1919, zur Deutschen Nationalversammlung und zur Preußischen Landesversammlung, P.B.].“46 Wie sich zeigen wird, ist diese Darstellung der ersten Rheinstaatsinitiative als historisch unbedeutende Nebenerscheinung zurückzuweisen. Auch Ribhegges Prämisse, die Rheinstaatsbestrebungen seien letztlich deshalb erfolglos gewesen, weil sie nicht von der – wählermäßig und politisch weniger bedeutsamen – rheinischen SPD mitgetragen worden seien, ist nicht überzeugend. Hochaktuell ist die Schrift Heiko Holstes aus dem Jahr 2018 „Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam“, die die ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 in einem kurzen Kapitel behandelt.47 Ein tatsächlicher Erkenntnisgewinn ist mit dieser Abhandlung allerdings nicht verbunden, knüpft Holste doch inhaltlich wie sprachlich eher an die nationalsozialistisch bzw. kommunistisch motivierten „Untersuchungen“ des vergangenen Jahrhunderts an. Selbst 2018 scheint es dem Autor noch vor allem darum zu gehen, Adenauer als separatistischen „Verräter“ ins Zwielicht zu rücken („Konrad Adenauer zwischen Patriotismus und Verrat“). Offenbar besteht bis zum heutigen Tage ein Bedarf, die erste Rheinstaatsinitiative als Phänomen in den wissenschaftlichen Fokus zu rücken und sich eingehender mit ihr zu beschäftigen. Ein Vorteil gerade für den Rechtshistoriker ist, dass einige der zuvor genannten wissenschaftlichen Abhandlungen eine Sichtung und Aufarbeitung von Primärquellen vorgenommen haben, worauf die hier vorgelegte Arbeit aufbauen kann. Nichtsdestotrotz wurden punktuell selbständige Quellenauswertungen vorgenommen, insbesondere bei historisch-chronologischen Unstimmigkeiten in der bisherigen Forschung sowie gezielt zu dem hier bearbeiteten völkerrechts- und verfassungsgeschichtlichen Schwerpunktthema.
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Ribhegge, Preussen im Westen, 2008, S. 308. Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55 ff. 47
B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen I. Von den „Rheinlanden“ zur preußischen Rheinprovinz Um die Rheinstaatsbewegung 1918/19 historisch zutreffend einordnen zu können, muss zunächst auf die Entstehung des „preußischen“ Rheinlandes eingegangen werden.48 Bis zum Einzug der französischen Revolutionsarmee im Jahre 1794 fanden sich entlang des Rheins bis zu 300 Territorien, weshalb man in Deutschland seit jeher von den „Rheinlanden“ im Plural sprach. Gleichzeitig aber nannte man die Bevölkerung dieses territorialen Flickenteppiches schlicht „Rheinländer“.49 Im Jahr 1815 wurden die Rheinlande als später sogenannte „Rheinprovinz“ Bestandteil des preußischen Königreichs. Zunächst bildete die preußische Verwaltung die beiden Provinzen Jülich-Kleve-Berg und das Großherzogtum Niederrhein, aus denen am 22. Juni 1822 schließlich die geeinigte Rheinprovinz hervorging, deren Provinzhauptstadt Koblenz wurde. „Damit erhielt der größte Teil des Rheinlandes zum ersten Mal seit der karolingischen Zeit wieder einen zusammenhängenden politischen Charakter innerhalb Deutschlands, allerdings unter preußischer Herrschaft.“50 Die Rheinprovinz war sodann untergliedert in die fünf Regierungsbezirke Aachen, Düsseldorf, Köln, Koblenz und Trier. An der Spitze einer jeden preußischen Provinz stand ein Oberpräsident als Vorsitzender des Provinzialrates. Sitz des Oberpräsidenten der Rheinprovinz war Koblenz, während der rheinische Provinziallandtag als Vertretungsorgan der Städte und Kreise in Düsseldorf zusammenkam. Zum Provinziallandtag hieß es: „Ihm ist die Selbstverwaltung vieler [!] Angelegenheiten der Provinz, z. B. des Straßenwesens, des Taubstummenwesens und der Blindenfürsorge, der Irrenpflege usw. übertragen.“51 Mit Blick auf diese „Kompetenzfülle“ des Provinziallandtags lässt sich bereits erahnen, warum in der Rhein48 Dem Kapitel zugrunde liegt im Wesentlichen die lokalhistorische Arbeit Joseph Hansens, die ursprünglich zum 100. Jubiläum der preußischen Rheinprovinz erscheinen sollte, bedingt durch den Ersten Weltkrieg jedoch erst 1917 vorgelegt werden konnte, vgl. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915, 1918. Hierin findet sich eine ausführliche Geschichte des preußischen Rheinlandes. 49 General-Anzeiger v. 12. Januar 2017, S. 26 („Eine Region ohne Umrisse“). 50 Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preussens, 1949, S. 249. 51 Kerp, Die Rheinprovinz, 2. Aufl. 1911, S. 134.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
provinz schließlich der Ruf nach Selbständigkeit und Selbstregierung laut werden musste. Auf dem Wiener Kongress, der seit November 1814 tagte, war am 10. Februar 1815 beschlossen worden, dass die Rheinlande nebst Westfalen der preußischen Krone zufallen sollten; übrigens noch ehe die grundsätzliche Entscheidung über die zukünftige Gestaltung Deutschlands gefallen war. Die Proklamationen und die beiden Besitzergreifungspatente, durch welche König Friedrich Wilhelm III. das Rheinland Preußen einverleibte, datieren vom 5. April 1815. Es war nicht einmal Preußen selbst, das die Hand nach dem Rheinland ausstreckte, sondern es waren Klemenz Wenzel Lothar von Metternich und CharlesMaurice de Talleyrand-Péligord, die in Wien durchsetzten, dass Preußen statt der einen Hälfte von Sachsen die rheinischen und westfälischen Gebiete zugewiesen erhielt. Für den österreichischen sowie für den französischen Staatsmann musste es darum gehen, Preußen für die Zukunft zu schwächen. Hansen erläutert: „Die neuen Provinzen grenzten an den unruhigen Nachbar im Westen, ohne daß ihnen die wichtigen Festungen an der Maas, Luxemburg und Mainz zugeteilt wurden. Sie waren räumlich vom Zentrum des preußischen Staates durch das Königreich Hannover und Kurhessen getrennt, ,wie eine Insel im Ozean von Preußens Hauptland abgelegen‘ (Görres). Durch Verfassung und Gesetzgebung, durch soziale Gliederung, Sitten und Religion der Mehrzahl ihrer Einwohner waren sie auch innerlich von Preußen geschieden.“52 So gesehen, liest sich die Geschichte des Zusammengehens des Rheinlandes mit Preußen eher wie die einer holprigen „Zwangsheirat“, die keiner der Beteiligten zuvor ernstlich angestrebt hatte und in die man unglücklich hineinstolperte. Die Mediatisierung der rheinländischen Herrschaften durch Preußen stieß auch unter den Rheinländern von Vornherein auf eine mehr oder minder ausgeprägte Ablehnung. Mentalitätsgeschichtlich standen die Rheinländer dem deutschen Reichs- und Einheitsgedanken näher als die Preußen, denn „[d]ort zog sich das politische Bewußtsein auf den Partikularismus des lebenskräftigen Einzelstaates zurück und gab die Verbindung mit dem allgemeinen Reichsgedanken preis“.53 Am Rhein jedoch hatte die „kleinstaatliche Zersplitterung und Rückständigkeit“ den überkommenen Reichspatriotismus stärker wachgehalten, weil der territoriale Partikularismus hier nicht befriedigen konnte und das Reich in den über neunzig [!] politischen „Zwerggebilden“ entlang des Rheins sowieso noch am meisten Einfluss ausübte.54 Seit 1814 war freilich auch im Rheinland das Verlangen nach dem „Idealbild der deutschen Zukunft, nach einem großen, freien, staatlich vereinigten deutschen Vaterland“ spürbar gewesen und man sah allgemein die durch eine moderne Volks-
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Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 17. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 2. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 2.
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vertretung beschränkte, konstitutionelle Monarchie als die beste Staatsform an.55 Man griff nicht auf den Gedanken einer unbeschränkten Volkssouveränität zurück – den jakobinischen Terreur der französischen Revolution noch vor Augen –, sondern strebte eine paktierte deutsche Verfassung an, die von den Stämmen und Fürsten Deutschlands gemeinsam geschaffen und verabredet werden sollte. Weder sollte das Volk die Verfassung exklusiv erarbeiten und beschließen, noch sollte sie von fürstlichen Gnaden oktroyiert werden.56 Das einseitige Vorgehen des Wiener Kongresses konterkarierte jedoch diese konstitutionelle Vereinbarungsidee und bedeutete für die Rheinländer eine herbe Enttäuschung. Auch die Absage des Kongresses an die deutsche Einheit stieß im Rheinland auf Ablehnung. Hansen schreibt hierzu: „Die Entscheidung aber, die der Kongreß am 10. Februar 1815 über die preußische Zukunft der Rheinlande traf, fiel gerade in die Wochen, wo die am Rhein hochgespannten nationalen Hoffnungen dieser Enttäuschung entgegengingen. Die Aufnahme, die sie bei den Rheinländern fand, wurde daher von der Entwicklung dieser Hoffnungen stark beeinflußt.“57 Das bedeutete, dass die Loyalität der Rheinländer zu Preußen in starkem Maße davon abhing, wie sich im Weiteren die nationalstaatliche Einheit Deutschlands entwickeln und insbesondere, welchen Anteil die preußische Krone daran haben würde. Die Anhänglichkeit nahm im Verlauf des „langen“ 19. Jahrhunderts in dem Maße ab, in dem sich Preußen gegen die (groß-)deutsche Einheit positionierte und die kleinstaatliche Lösung ansteuerte. Desweiteren waren die Rheinländer konfessionell-historisch nach Österreich und Süddeutschland orientiert und sie identifizierten sich eher mit dem katholischen habsburgischen Kaisertum; „Preußen war […] als gefährlichster Gegner dieses Kaisertums wenig beliebt“.58 In den rheinischen Gegenden und insbesondere in den ländlichen Regionen überwog die Skepsis gegenüber der preußischen Herrschaft, die sich seitens des preußischen Königs lediglich durch die Versprechungen von konstitutionellen Reformen, der Herstellung der deutschen Einheitsnation sowie besonderer Achtung der katholischen Konfession und einer katholischen Kulturpolitik abmildern ließ. Aus der Sicht der überwiegenden Mehrheit der Rheinländer enttäuschte Preußen diese Versprechen jedoch allesamt. Das preußisch-rheinländische Verhältnis im 19. Jahrhundert blieb geprägt von kirchenpolitischen Spannungen, Streit um die zugesagte Konstitutionalisierung und Selbstverwaltung sowie dem Kampf gegen die preußisch-partikularistische Reaktion, die den Rheinländern innerlich fremd geblieben ist. Andererseits verweist Manfred Groten mit Recht darauf, dass die Rheinländer zwar allgemein schlecht über Preußen redeten, sie ihm aber gerade 55 56 57 58
Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 13 f. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 14. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 16. Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis 1915 (Fn. 48), S. 2.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
durch die politische und administrative Einigung in der Rheinprovinz ein Stück weit ihre rheinische Identität verdankten.59 Im Jahr 1911 befanden sich die meisten großen Städte Preußens übrigens in der Rheinprovinz, so etwa Köln (520.000 Einwohner), Düsseldorf (360.000 Einwohner) und Essen (300.000 Einwohner).60 Die Einwohnerzahl betrug 7,2 Millionen, wovon rund zwei Drittel katholischer und etwa ein Drittel evangelischer Konfession waren.
II. Das Rheinland zwischen Revolution und Republik: Die politische Ausgangslage im November 1918 und die Entwicklung bis August 1919 Am Abend des 3. Oktober 1918 ersuchte die deutsche Regierung unter dem am selben Tag vom Kaiser ernannten Reichskanzler Prinz Maximilian („Max“) von Baden den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, auf „die Herstellung des Friedens“ auf der Grundlage des von ihm selbst aufgestellten Programms vom Januar 1918 (insbesondere der „Vierzehn Punkte“) hinzuwirken. Das Angebot des Waffenstillstands lautete: „Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung den sofortigen Abschluß [sic!] eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen.“61 Zu diesem Schritt war die Regierung aufgrund des ultimativen Drängens der Obersten Heeresleitung (OHL) veranlasst worden, die am 28. und 29. September im Großen Hauptquartier in Spa angesichts des Scheitern der Frühjahrsoffensive und der bevorstehenden Niederlage im Weltkrieg den militärischen Offenbarungseid hatte leisten müssen. Das Waffenstillstands- und Friedensangebot hatte den praktischen Zweck, die militärische Katastrophe zu verhindern. Ein parlamentarisch regiertes Deutschland würde ferner günstigere Friedensbedingungen aushandeln können als der bisherige Obrigkeitsstaat, so die Annahme der hohen Militärs.62 Die Antwortnoten Wilsons auf das deutschen Friedensangebot, insbesondere die dritte Note vom 23. Oktober 1918, erhöhten den Druck auf Kaiser Wilhelm II., da Wilson deutlich machte, dass wenn die Vereinigten Staaten gezwungen sein sollten, mit den militärischen Führern und „monarchistischen Autokraten“ zu verhandeln, Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln könne, sondern sich sofort ergeben müsse.63 Gefordert wurde schließlich die bedingungslose Kapitulation statt Friedensverhandlungen auf Augenhöhe. 59 60 61 62 63
General-Anzeiger v. 12. Januar 2017, S. 26 („Eine Region ohne Umrisse“). Kerp, Die Rheinprovinz (Fn. 51) Hier auch die Angaben im Folgenden. Zitat bei Kolb, Die Weimarer Republik, 7. Aufl. 2009, S. 4. Winkler, Weimar 1918 – 1933, 1993, S. 24. Zitat bei Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 4.
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Die Antwort des US-amerikanischen Präsidenten bewirkte einen dramatischen Stimmungsumschwung im Reich, der bei der rheinischen Bevölkerung bereits ab Sommer 1918 eingesetzt hatte, als man die Rückschläge an der nahen Front im Westen als erste in Deutschland wahrgenommen hatte. Die Rheinländer waren sich im Klaren gewesen, dass sie vor allen anderen Deutschen die Folgen der militärischen Niederlage im Westen zu tragen haben würden, was deshalb zu einer besonders großen Furcht vor einem militärischen Zusammenbruch geführt hatte.64 Die ohnehin in den vorherigen Wochen stark angewachsene Friedensbewegung forderte offen die Abdankung des Kaisers, um mit den US-Amerikanern über einen „guten Frieden“ reden zu können. Die völlig unvorbereitete Bevölkerung des Deutschen Reichs war von dem Eingeständnis der militärischen Niederlage überrascht und psychologisch traumatisiert worden, hatte doch die Propaganda der OHL bisher an der Mär des deutschen Sieges festgehalten. Gleichzeitig wuchsen und radikalisierten sich revolutionäre Gruppen und Zirkel, die bis dato zahlenmäßig irrelevant und organisatorisch ungefestigt waren und allein zum Ziel hatten, den Krieg so schnell wie möglich und innenpolitisch um jeden Preis zu beenden. Obwohl es der Reichsregierung und dem Reichstag nicht recht gelang, die drängende Stimmungslage eines Großteils der Bevölkerung aufzunehmen und in politische Entscheidungen zu kanalisieren, traten am 28. Oktober 1918 die beiden Gesetze „zur Abänderung der Reichsverfassung“ in Kraft, mit denen das Reich positiv-verfassungsrechtlich eine parlamentarische Monarchie wurde. Politisch verfehlte die „Oktoberreform“ indes ihr Hauptziel, Krone und Militär der zivilen Reichsleitung unterzuordnen und zu kontrollieren. Nach der Antwort des US-Präsidenten vom 23. Oktober 1918 hatte sich nämlich die OHL plötzlich auf den militärischen Ehrenstandpunkt gestellt, wonach die Forderung nach Kapitulation unannehmbar sei.65 In einem Rundtelegramm an die Truppenführer des Feldheeres forderte die Heeresleitung am 24. Oktober 1918 zum Weiterkämpfen auf. Als die Marineführung am 30. Oktober 1918 in den Verdacht geriet, mit der Seekriegsflotte eine letzte „Verzweiflungsschlacht“ in der Nordsee mit den Briten wagen zu wollen, um die Kapitulation nicht kampflos erdulden zu müssen, kam es zu ersten Befehlsverweigerungen von Matrosen der auf Schilligreede vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte. Die Seekriegsleitung, so hieß es allenthalben, plane den von der Reichsregierung verfolgten friedenspolitischen Kurs zu unterlaufen und zwar durch ein militärisch aussichtsloses und unverantwortliches Manöver. Hierzu hatte man zwar das Einverständnis des Kaisers eingeholt, nicht aber das des Reichskanzlers. In Wilhelmshaven und kurze Zeit später auch in Kiel wurden rund tausend meuternde Matrosen verhaftet. 64 Först, Rheinische Städte und ihre Oberbürgermeister während der Weimarer Zeit, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, 1976, S. 547. 65 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 25.
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Dies wiederum bewirkte eine nicht vorhergesehene Mobilisierung von Matrosen, Soldaten und Arbeitern, aber auch von Landstreichern, Taugenichtsen und Abenteurern, die sich mit den inhaftierten Seeleuten solidarisierten und auf spontanen Kundgebungen die Freilassung ihrer „Kameraden“ forderten. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Polizeieinheiten, Soldatenräte wurden gebildet und sowohl Offiziere als auch Polizei vor Ort entwaffnet. Am Abend des 4. November 1918 befand sich Kiel in den Händen der Aufständischen und von dort aus verbreitete sich die Aufstandsbewegung in das nördliche Reich, die überall von Soldaten, Arbeitern und Funktionären von Arbeiterparteien und Gewerkschaften getragen wurde und zur Bildung spontaner Arbeiter- und Soldatenräte führte. Beginn und Verlauf des November-Umsturzes im Rheinland wurden lange Zeit nur stellenweise und zögernd erforscht.66 Gewaltsame Revolutionsereignisse oder eine merkliche Episode turbulenter Räteherrschaft waren jedenfalls nicht zu verzeichnen.67 Nach dem Waffenstillstand und dem Einsetzen der revolutionären Erhebungen kam der Stadt Köln eine besondere Bedeutung zu. Walter Först erläutert: „Köln war der wichtigste Platz, weil es die stärkste Garnison hatte, mit Koblenz zusammen die Rheinlinie bildete, auf die sich die zurückweichende Front im Westen stützen mußte, und weil die Revolution von Köln aus in die anderen rheinischen Städte getragen werden konnte.“68 Am 8. November 1918 erreichten die revolutionären Soldaten Köln und Düsseldorf. Die Ankunft in Köln lief insgesamt friedlich ab, weil es dem Kölner SPDVorsitzenden Wilhelm Sollmann gelang, ein Eingreifen antirevolutionärer Militärs zu verhindern.69 Auf dem Kölner Neumarkt wählten etwa zweihundert Kieler Marinesoldaten einen Arbeiter- und Soldatenrat, dem der betont kooperative Oberbürgermeister Konrad Adenauer sogleich Büroräume und Arbeitsmittel in seinem Rathaus zur Verfügung stellte.70 Im Gegenzug erreichte er durch dieses Entgegenkommen, dass auf dem Dach des Rathauses keine rote Fahne von den Revolutionären gehisst wurde.71 Först meint, bereits am 7. November 1918 sei es den etwa zweihundert Soldaten gelungen, aus Kiel nach Köln durchzukommen. Diese seien sodann in kleinen Gruppen nach Düsseldorf, Essen, Wuppertal, Mönchengladbach, Bonn, Trier und
66 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 183. 67 Vgl. insgesamt Metzmacher, Novemberumsturz und Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19 im Rheinland, 1965. 68 Först, Rheinische Städte und ihre Oberbürgermeister während der Weimarer Zeit (Fn. 64), S. 548. 69 Ribhegge, Preussen im Westen (Fn. 46), S. 298. 70 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 28. 71 Först, Rheinische Städte und ihre Oberbürgermeister während der Weimarer Zeit (Fn. 64), S. 549.
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Aachen in Zügen weitergereist.72 Teilweise hatte der später um gute Zusammenarbeit bemühte Adenauer dabei noch versucht, am 7. November mit dem Zug eintreffende Matrosen verhaften zu lassen;73 diese mussten jedoch nach wenigen Stunden Arrest wieder freigelassen werden. Ab November 1918 marschierte das geschlagene Westheer über die Kölner Rheinbrücke in die Heimat zurück. In den Augen vieler Rheinländer bedeutete die letztlich in ihrem Umfang überraschende Niederlage im Weltkrieg vor allem einen enormen Prestigeverlust Preußens, „seiner Verwalter und Soldaten“.74 Viele der heimkehrenden Soldaten unterstützten nun den sozialistischen Arbeiter- und Soldatenrat in Köln. Auch in Aachen kam am 9. November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat an die Macht. Bereits am 25. November 1918 wurde jedoch nach einer Großkundgebung der Zentrumspartei ein „Volksrat“ gebildet, der die bürgerlichen Parteien miteinschloss, die bis dahin von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen waren. Tilman Stieve deutet diesen Vorfall allgemein als „Indiz der Schwäche der Linken der Region“.75 Das kurze revolutionäre Intermezzo in Aachen endete bereits am 3. Dezember, als die eintreffenden belgischen Kavallerieeinheiten den erweiterten Volksrat kurzerhand auflösten.76 Die revolutionäre Welle hatte Berlin ebenfalls am 9. November 1918 erreicht.77 Prinz Max von Baden hatte das Amt des Reichskanzlers an den Führer der Mehrheitssozialdemokraten Ebert übergeben, weil die MSPD-Spitze in diesen Tagen „das volle Vertrauen des Volkes“ besessen habe.78 Zuvor hatte Prinz von Baden – ohne hierzu autorisiert worden zu sein – die Abdankung Kaiser Wilhelms II. bekanntgegeben, der bis zuletzt an seinem Thron festhielt. Ebert wiederum verpflichtete sich, die Regierung unter den Vorgaben der bisherigen Reichsverfassung zu führen, und die Mehrheitssozialdemokraten stimmten der Ausschreibung von allgemeinen Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung zu. Erklärtes Ziel Eberts war es dabei, die revolutionäre Bewegung durch eine Regierungsneubildung unter Beachtung der zuletzt geänderten Oktoberverfassung einzufangen oder jedenfalls abschwächen zu können. Dabei ging er davon aus, die bisherigen Mehrheitskoalition von MSPD, Zentrum und der linksli72 Först, Rheinische Städte und ihre Oberbürgermeister während der Weimarer Zeit (Fn. 64), S. 548. 73 Ribhegge, Preussen im Westen (Fn. 46), S. 298. 74 Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel 41 (1961), S. 61. 75 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 524. 76 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 29. 77 Zur verfassungsrechtlichen Würdigung des Ganzen vgl. Hillgruber, Deutsche Revolutionen – legale Revolutionen?, in: Der Staat, 2010, S. 168 ff. 78 Zitat bei Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 7.
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beralen Fortschrittspartei um die sich revolutionär gebärdende Unabhängige Sozialdemokratie (USPD) erweitern zu können, um die Unabhängigen so in ein Übergangskabinett mit quasi-diktatorischen Vollmachten bis zum Zusammentritt einer bald zu wählenden Nationalversammlung einspannen zu können.79 Die USPD ihrerseits und insbesondere die ihr angehörenden oder nahestehenden „Revolutionären Obleute“ aber hatten sich am selben Tag darauf verständigt, am nächsten Vormittag in sämtlichen Berliner Garnisonen und Betrieben Arbeiter- und Soldatenräte zu wählen, die dann zu einer Räteversammlung zusammentreten sollten, um selbst eine provisorische Reichsregierung einsetzen zu können. Die in Berlin mächtige USPD dachte gar nicht daran, mit den Mehrheitssozialdemokraten – geschweige denn mit den Bürgerlichen – eine parlamentarische Republik zu gründen. Angesichts dessen mussten Ebert und Philipp Scheidemann (MSPD) den Plan eines sozialistisch-bürgerlichen Kompromisskabinetts fallenlassen, um noch vor der Zusammenkunft der Räteversammlung die direkte Verständigung mit der Führung der USPD zu suchen. Unter dem Eindruck des starken Rückhalts, den die USPD bei den Berliner Arbeitern und Soldaten besaß, sahen sich die Mehrheitssozialdemokraten gezwungen, die weitgehenden Bedingungen der Unabhängigen zu akzeptieren. So kam es am frühen Nachmittag des 10. November 1918 zur Bildung des paritätisch besetzten „Rates der Volksbeauftragten“, der als provisorische Regierung fungieren sollte. Der Rat der Volksbeauftragten bestand aus Ebert, Scheidemann und Otto Landsberg von der MSPD sowie den USPD-Politikern Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth. Die Versammlung der etwa 3000 gewählten Delegierten der Berliner Arbeiter und Soldaten bestätigte die Einigung zwischen den beiden sozialistischen Parteien und erkannte den Rat der Volksbeauftragten als provisorische Reichsregierung an. Zugleich wurde jedoch, vor allem auf Druck der Linksradikalen, ein revolutionärer Aktionsausschuss aus der Taufe gehoben, der als „Vollzugsrat“ eine Art linksextreme Gegenregierung zum Rat der Volksbeauftragten hätte werden können. Letztlich erzwangen jedoch die MSPD und Soldatenvertreter, dass auch dieses Gremium paritätisch besetzt sein sollte, so dass die Mehrheitssozialdemokraten den revolutionären Aktionismus auch hier „einfangen“ konnten.80 Es gelang den mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten zudem, den Rückhalt der überwiegend bürgerlichen „Fachminister“, also der Leiter der Reichsämter, zu gewinnen, so etwa von Hugo Preuß, Wilhelm Heinrich Solf oder Eugen Schiffer (alle Linksliberale). Nicht nur auf Reichsebene, auch in den einzelnen Gliedstaaten endete die Fürstenherrschaft. Die spontanen Revolutionsregierungen der Gliedstaaten waren teils ebenfalls paritätisch aus Politikern der MSPD wie der USPD zusammengesetzt (Preußen, Sachsen, Bayern), in Süddeutschland dominierte meist die MSPD (Hessen, Württemberg), im Norden war eher die USPD richtungsweisend (Braunschweig, 79 80
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 7. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 8.
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Hamburg, Bremen), und in Baden und Mecklenburg-Schwerin gehörten sogar Bürgerliche, überwiegend Linksliberale, den Kabinetten an. Die Abdankung der Monarchen und das Aufkommen der Revolutionsregierungen fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen, wobei die deutsche Delegation – mit Billigung der OHL – von dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger angeführt wurde. Die Bedingungen, die den Deutschen von dem französischen Marschall Ferdinand Foch präsentiert wurden, waren umfänglich und hart: Räumung sämtlicher von den Alliierten besetzte Gebiete im Westen sowie des gesamten linken Rheinufers und dreier Brückenköpfe bei Köln, Koblenz und Mainz, Auslieferung eines Großteils des Kriegsmaterials und Rückführung der Kriegsgefangenen der Entente ohne Verpflichtung auf Gegenseitigkeit. Ferner wurde die Blockade gegen das Deutsche Reich aufrechterhalten. Dennoch hatte die OHL die überwiegend zivile Friedensdelegation angewiesen, den Waffenstillstand um jeden Preis abzuschließen.81 Dies geschah am 11. November 1918 im nordfranzösischen Compiègne. Der französische Kolonialverwaltungsexperte Paul Tirard baute sodann eine französisch dominierte Administration im besetzten Gebiet auf. Diese war ab dem 22. Dezember 1918 als „Contrôle général de l’administration des territoires rhénans“ vollständig etabliert. Am 12. Dezember 1918 wurde das besetzte Gebiet durch eine Zollgrenze vom Reich getrennt und am 15. Januar 1919 wurde der Handel nach Westen hin orientiert und erleichtert.82 Im Zuge dessen mehrten sich innerhalb der rheinländischen Bevölkerung die Gerüchte und Sorgen, wonach das linksrheinische Gebiet von Frankreich und Belgien annektiert werden könnte. Mit dem Waffenstillstand war der Erste Weltkrieg für die deutsche Bevölkerung faktisch beendet, die Bewohner des Rheinlandes aber sollten die Auswirkungen der vier Kriegsjahre erst jetzt in voller Tragweite zu spüren bekommen. „Wohl nirgends ist der Gegensatz zwischen dem Deutschland, das 1914 so stark und siegesfroh hinausgezogen, und dem Deutschland, das im Herbst 1918 durch Krieg und Revolution zerschmettert am Boden lag, so fühlbar gewesen wie am deutschen Rhein“, schrieb der Studienrat Johannes Kohl aus Bingen rückblickend im Jahr 1930.83 Gleichzeitig war die rheinländische Bevölkerung überwiegend erleichtert, dass die einrückenden Besatzungsmächte den revolutionären und spontanen Umtrieben ein Ende bereiteten, indem sie militärische und administrative Ordnung schufen. In der französischen Zone hatte Marschall Foch bereits im Vorjahr die Richtlinien für das weitere Vorgehen in der „Instruction sur l‘administration civile des territoires occupés“ festgehalten, nach denen nun viele Gebiete links des Rheins von franzö81
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 9. Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 525. 83 Zitat bei Thielen, Nach dem Krieg: Die alliierte Rheinlandbesetzung 1918 – 1930, abrufbar unter: http://www.regionalgeschichte.net/index.php?id=14577, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 82
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sischen Militärbehörden geleitet wurden. Die Gebiete um Trier und Koblenz befanden sich hingegen unter amerikanischer Besatzung.84 Festgeschrieben wurde die alliierte Rheinlandbesetzung endgültig im sogenannten „Rheinlandabkommen“, das Bestandteil des Friedensvertrags von Versailles war und erst am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Die Besetzung des Rheinlands sollte dabei als Garantie für die hohen Reparationszahlungen wirken, die dem Deutschen Reich auferlegt wurden, also laut Vertragsklausel als „Sicherheiten für die Ausführung“ der Versailler Bestimmungen.85 Die Besetzung war, unter der Voraussetzung, dass Deutschland alle Bedingungen des Friedensvertrags erfüllte, auf fünfzehn Jahre befristet. Die Bewohner der linken Rheinseite waren im Laufe der Kriegsjahre bereits schweren Belastungen ausgesetzt gewesen und mussten sich nun widerwillig den harten Besatzungsbedingungen beugen, obwohl sie sich unmittelbar nach dem Waffenstillstand keineswegs als Kriegsverlierer, geschweige denn Kriegsschuldige, verstanden. Besonders schwer wog, dass man Frankreich in der eigenen Heimat als neue Führung zu dulden und sich dem einstigen ”Erbfeind” zu unterwerfen hatte.86 Nachdem der Weltkrieg mit dem Waffenstillstand tatsächlich beendet war, konzentrierten sich alle politischen Kräfte auf die Auseinandersetzungen im Inneren des Reichs. Der Zusammenbruch der Monarchie war für alle am politischen Leben Interessierten oder Beteiligten überraschend gekommen und niemand besaß einen Plan für das weitere Vorgehen in der akut gewordenen Staatskrise Ende 1918. Vielleicht am „öffentlichkeitswirksamsten“ gebärdete sich in den November- und Dezembertagen der rätekommunistische „Spartakusbund“ um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der bis Ende Dezember 1918 der USPD angeschlossen war. Zwar war der Spartakusbund eine vergleichsweise kleine Gruppierung, aber durch seine ungezügelte Versammlungsagitation, vereinzelte Saal- und Straßenschlachten und die unmissverständliche Parole „Alle Macht den Räten!“ konnte er vor allem in bürgerlichen Kreisen den Eindruck erwecken, die bolschewistische Anarchie stünde unmittelbar bevor und die Einberufung einer Nationalversammlung sei gefährdet. Selbst die Revolutionären Obleute, die dem Spartakusbund ideologisch nahestanden, aber dessen aggressiv-agitatorisches Vorgehen ablehnten und die disziplinierte Aktion der radikalen Arbeiterschaft in den Betrieben bevorzugten, spotteten über die „revolutionäre Gymnastik“ der Kommunisten.87 Zunehmend wurde bereits im November 1918 eine unüberwindbare Spaltung des Rats der Volksbeauftragten augenscheinlich. Während die mehrheitssozialdemokratischen Beauftragten so zügig wie möglich eine allgemeine Wahl zu einer Nationalversammlung anstrebten, bestanden die dem gemäßigten Flügel ihrer Partei 84 85 86 87
Thielen, Nach dem Krieg: Die alliierte Rheinlandbesetzung 1918 – 1930 (Fn. 83). Thielen, Nach dem Krieg: Die alliierte Rheinlandbesetzung 1918 – 1930 (Fn. 83). Thielen, Nach dem Krieg: Die alliierte Rheinlandbesetzung 1918 – 1930 (Fn. 83). Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 10.
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entstammenden Beauftragten der Unabhängigen auf sozialistische Reformen, bevor die Nationalversammlung zusammentreten werde. Sie hatten es mit der Wahl zur Nationalversammlung nicht eilig und beharrten auf einer Umgestaltung von Staat und Gesellschaft im sozialistischen Sinne während des Interregnums. Der MSPD kam es demgegenüber entscheidend darauf an, die revolutionäre Bewegung möglichst schnell in das ruhige Fahrwasser einer demokratischen Wahlbewegung überzuleiten. Dabei führten die Mehrheitssozialdemokraten die Regierungsgeschäfte bis zur Wahl der Nationalversammlung in der Überzeugung, lediglich zur Ausübung einer interimistischen Verwaltung legitimiert zu sein, denn alle wesentlichen Fragen über die staatsrechtliche und gesellschaftliche Neuordnung des Reiches sollten der Nationalversammlung vorbehalten bleiben.88 Heinrich August Winkler schreibt hierzu: „Nicht als Gründerväter einer Demokratie also, sondern als Konkursverwalter des kaiserlichen Deutschland begriffen sich die regierenden Sozialdemokraten in den zehn Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie und der Wahl der Nationalversammlung. Als Demokraten meinten sie, ohne ein ausdrückliches Mandat des deutschen Volkes keine grundlegenden Neuerungen in Angriff nehmen zu dürfen.“89 Aus realpolitischen Gründen ging Ebert bereits am 10. November 1918 ein Bündnis mit dem württembergischen General Wilhelm Groener ein, der am 26. Oktober Erich Ludendorff als Generalquartiermeister nachgefolgt und die bestimmende Gestalt in der OHL geworden war. Beide lehnten den revolutionären Umbruch ab und wollten nicht zuletzt mit der Nationalversammlung „gesetzmäßige Zustände“ schaffen.90 So gab Groener aus taktischen Gründen eine Loyalitätserklärung gegenüber der neuen Regierung ab und erwartete im Gegenzug, dass der Rat der Volksbeauftragten ihm nicht in die militärische Führung hineinredete und insbesondere die Kommandogewalt der Offiziere aufrechterhalten werden konnte. Am 29. November 1918 verabschiedete der Rat der Volksbeauftragten das Gesetz über die Wahlen zur Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Neben der Einführung eines strikten Verhältniswahlrechts war bemerkenswert, dass Frauen nun das aktive und passive Wahlrecht zugebilligt bekamen. Man hatte sich darauf verständigt, dass die Festlegung des Wahltermins dem Ersten Rätekongress vorbehalten bleiben sollte, der vom 16. bis 20. Dezember 1918 in Berlin tagte und sich aus Vertretern aller deutschen Arbeiter- und Soldatenräte zusammensetzte, wobei von den 514 Delegierten nahezu zwei Drittel in der MSPD organisiert waren und dem Spartakusbund nicht einmal ein Dutzend Vertreter angehörten. Mit großer Mehrheit wurde der 19. Januar 1919 als Wahltermin festgelegt und ein Antrag, wonach das Rätesystem „als Grundlage der Verfassung der sozialistischen Republik“ festgehalten werden und den Räten die gesetzgebende und exekutive Gewalt zukommen sollte, mit ebenso großer Mehrheit abgelehnt. 88 89 90
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 12. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 39 f. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 13.
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Reinhard Rürup verweist mit Recht darauf, dass das Verhalten der deutschen (Mehrheits-)Sozialdemokraten ausschlaggebend war für diesen evolutionären anstatt eines revolutionären Demokratisierungsprozesses.91 Die MSPD war nach der Abspaltung der Unabhängigen eine demokratisch-evolutionistische Partei geworden, die die orthodox-marxistische Terminologie und Programmatik zwar beibehielt, jedoch revolutionärem Umsturz und Räteherrschaft ablehnend gegenüberstand und offen war für ein pragmatisches Bündnis mit den bürgerlichen Kräften, insbesondere mit den Linksliberalen und Zentrumskatholiken. Unter der tatsächlichen Führung der Mehrheitssozialdemokratie waren die USPD-Volksbeauftragten in eine untergeordnete Rolle geraten, wobei ihnen die eigene, heillos in einen linksradikalen und einen gemäßigt-sozialistischen Flügel zerstrittene Partei keine Stütze sein konnte. Rürup meint, sie sei schließlich zu einer Oppositionspartei innerhalb der Regierung abgestiegen;92 zunehmend revolutionärdogmatisch, kompromissunfähig und ohne weitreichendes Verantwortungsbewusstsein, stellten die Unabhängigen zum Jahresende 1918 ihre Regierungsarbeit faktisch ein. Aufgrund des anhaltenden Drucks des linken Parteiflügels traten die USPDVolksbeauftragten Haase, Dittmann und Barth schließlich am 28. Dezember 1918 aus dem gemeinsamen Rat mit den Vertretern der MSPD aus und wurden durch die Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske und Rudolf Wissell ersetzt. Ebenso schieden die USPD-Minister am 3. Januar 1919 in Preußen aus der Regierung aus. Die mehrheitssozialdemokratischen Regierungen indessen konnten nach dem Ausscheiden der Linken vermehrt auf die Unterstützung der nicht-sozialistischen Fachminister und der Bürokratie setzen.93 Das Bürgertum und seine politischen Organisationen waren im November 1918 durch die Nachricht der Kriegsniederlage, der revolutionären Umwälzungen und der allgemeinen Furcht vor einer grundlegenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung im bolschewistischen Sinne wie gelähmt. Die politische Initiative lag nahezu überall bei den Linken, und bürgerliche Parteien fanden sich in eine passive Rolle gedrängt. Herbert Hömig stellt hierzu fest: „Durch die Staatsumwälzung geriet das gesamte Gefüge der nichtsozialistischen Parteien, wie es sich seit 1871 im Reich und in Preußen herausgebildet hatte, in eine Krise. Ihr Ergebnis war die Entstehung von DNVP94, DVP95 und DDP96 als neue Parteien der Konservativen und Liberalen. 91
Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, 1968, S. 15 f. Hier auch im Folgenden. 92 Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19 (Fn. 91), S. 33. 93 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 16. 94 Deutschnationale Volkspartei, gegründet am 24. November 1918. Überwiegend protestantisch, monarchistisch, konservativ bis reaktionär sowie jedenfalls in Teilen antisemitisch orientiert, Nachfolgerin der nationalkonservativen Gruppierungen der Deutschkonservativen Partei, Reichs- und Freikonservativen Partei sowie Vaterlandspartei. 95 Deutsche Volkspartei, am 22. November 1918 gegründet. Rechts- bzw. nationalliberal ausgerichtet, Nachfolgerin vor allem der Nationalliberalen Partei des Kaiserreiches.
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Dagegen hat als einzige der bürgerlichen Parteien das Zentrum die Revolution von 1918 ohne größere innere Erschütterungen überstanden – wenn man von der Sezession des Bayerischen Zentrums absieht – und dabei weitgehend seine Identität bewahren können […].“97 Auch wenn der Name und die Organisation der Zentrumspartei bestehen blieben, so ist Hömigs Befund in politisch-programmatischer Hinsicht zu relativieren. Es war besonders die katholische Zentrumspartei, die um den Jahreswechsel 1918/19 turbulente Zeiten erlebte, sich nur unsicher mit den neuen Begebenheiten abzufinden schien und Probleme hatte, ihren Platz in der Republik zu finden. Zwar blieb das Zentrum die entscheidende politische Kraft der katholischen Wählerschaft Deutschlands und insbesondere des Rheinlands. Ihre eigentliche Stärke resultierte nicht zuletzt aus einer umfassenden sozialen Spannweite, die vom adeligen Großgrundbesitzer bis zum christlichen Gewerkschafter und dem katholischen Proletariat reichte und das Zentrum zur eigentlichen Volkspartei des Kaiserreichs und der Weimarer Republik machte. In den Monaten Dezember und Januar 1918/19 scheiterte das Zentrum jedoch mit dem Versuch, sich als überkonfessionelle „Christliche Volkspartei“ (CVP) zu erweitern. Bereits im November 1918 hatte sich die bayerische Zentrumspartei als „Bayerische Volkspartei“ (BVP) rechts vom Zentrum selbständig gemacht, weil man den zunehmend zentralistischen Kurs der Reichspartei um Erzberger nicht zulasten föderalistischer Ansätze weiterverfolgen wollte und man insbesondere das rheinische Zentrum mit seinem starken Arbeitnehmerflügel als wirtschaftlich zu links stehend empfand. Auch schien die Partei in ihrem Bekenntnis zur Republik zurückhaltend zu sein, jedenfalls fielen derartige Bekundungen recht verhalten aus. In einem Aufruf des Reichsausschusses vom 30. Dezember 1918 hieß es: „Durch gewaltsamen Umsturz ist die alte Ordnung Deutschlands zerstört, sind die bisherigen Träger der Staatsgewalt teils beseitigt, teils lahmgelegt worden. […] Eine neue Ordnung ist auf dem Boden der gegebenen Tatsachen zu schaffen; diese Ordnung darf nach dem Sturz der Monarchie nicht die Form der sozialistischen Republik erhalten, sondern muß eine demokratische Republik werden.“98 Die Hochburgen der Zentrumspartei blieben die Regionen mit überwiegend katholischer Bevölkerung, wobei erneut das mittlere und nördliche Rheinland hervorzuheben ist. Der Befund der relativen Stärke des Zentrums nach außen hin, jedenfalls bei Wahlen, spiegelte sich auch in den Ergebnissen der Wahl zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 wider, die nach der Niederwerfung des „Spartakusaufstands“ Anfang Januar und der Ermordung Luxemburgs und Lieb96
Deutsche Demokratische Partei, gegründet am 20. November 1918. Überwiegend linksbzw. sozialliberal, Nachfolgerin der Fortschrittlichen Volkspartei, wobei auch ehemalige Mitglieder der Nationalliberalen Partei der DDP beitraten. 97 Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik, 1979, S. 14 f. 98 Zitat bei Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 64.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
knechts durch Freikorpsangehörige am 15. Januar 1919 erstaunlich ruhig und ohne dass sich der revolutionäre Trend niederschlug, abgehalten werden konnten. Hinter der mit Abstand stärksten MSPD (37,9 Prozent, 165 Mandate) wurde die Zentrumspartei – gemeinsam mit der BVP in Bayern – (19,7 Prozent, 91 Mandate) zweitstärkste politische Kraft im Reich und hatte mit den anderen bürgerlichen Gruppierungen DDP (18,5 Prozent, 75 Mandate), DNVP (10,3 Prozent, 44 Mandate) und DVP (4,4 Prozent, 19 Mandate) sogar die Mehrheit in der Nationalversammlung, zumal die USPD nur 7,6 Prozent und mithin 22 Mandate verbuchen konnte. So standen die Bürgerlichen mit 229 Sitzen den Sozialisten und „Novemberrevolutionären“ mit 187 Sitzen gegenüber, als es um die Erarbeitung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ging. Eberhard Kolb bilanziert mit Recht, dass trotz sichtbarer Verschiebungen und Veränderungen das deutsche Parteiensystem in der Umbruchssituation 1918/19 eine bemerkenswerte Kontinuität bewiesen hat.99 Die Wahlbeteiligung lag mit 83 Prozent zwar etwas niedriger als bei den letzten Reichstagswahlen 1912 (84,9 Prozent), gleichzeitig war aber auch die Zahl der Wahlberechtigten durch die Einführung des Frauenwahlrechts und die Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 25 auf 20 Jahre enorm gestiegen, nämlich um fast 20 Millionen Wahlberechtigte oder relativ um 167 Prozent. Dass die besetzten Rheinländer sich überhaupt an der Wahl beteiligen konnten, war keine Selbstverständlichkeit, sondern musste erst durch die Ententemächte genehmigt werden. Für die politische Reichsintegration nach den bisherigen chaotischen Revolutionswochen war diese gesamtdeutsche Wahl ein entscheidender Faktor und es entstand mit der Konstituante ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Gremium, das neben anderem auch den zukünftigen Aufbau des Reiches zu regeln hatte.100 Nach dieser Wahl schien die „Weimarer Koalition“ aus MSPD, Zentrum und DDP, die sich letztlich schon im Oktober 1918 angedeutet hatte, vorprogrammiert. Daraus folgte, dass die Reichsverfassung nur durch ein Bündnis der Mehrheitssozialdemokratie mit den katholischen bzw. bürgerlich-demokratischen Partnern tragfähig zustande kommen würde. Nicht zuletzt durch die Berufung des Linksliberalen Hugo Preuß zum Staatssekretär im Reichsamt des Innern am 15. November 1918, der den Auftrag erhielt, einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, war der künftige Verfassungskompromiss schon eingeläutet worden. Die Nationalversammlung wurde am 6. Februar 1919 in Weimar – und damit weit weg von dem politisch unruhigen Berlin – eröffnet. Ebert hatte am 14. Januar 1919 in einer Kabinettssitzung zudem erklärt, es werde „in der ganzen Welt angenehm empfunden werden, wenn man den Geist von Weimar mit dem Aufbau des neuen Deutschen Reiches verbinde“.101 99
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 17. So auch Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 67. 101 Miller, Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/1919, 1969, S. 225. 100
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Da alle Parteien rechts von der USPD darauf hinarbeiteten, das staatsrechtliche Interim so schnell wie möglich zu beenden, legte die verfassunggebende Versammlung in kürzester Zeit die Fundamente für den neuen Staat. Bereits am 8. Februar 1919 wurde der Nationalversammlung der Entwurf des „Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt“ zugeleitet, den die Regierung mit den Vertretern der Einzelstaaten abgestimmt hatte und der aus der Feder Preuß‘ stammte.102 Es wurde zwei Tage später verabschiedet, ohne dass man in eine Grundsatzdebatte eingetreten wäre oder auch nur eine genaue materielle Prüfung vorgenommen hätte. Einen Tag später wurde Ebert zum ersten Präsidenten des Reiches gewählt und er beauftragte seinen Parteifreund Scheidemann mit der Kabinettsbildung, der somit zum „Reichsministerpräsidenten“ ernannt wurde. Dies war die Gründung der ersten „Weimarer Koalition“, die bereits am 13. Februar 1919 stand. Während man sich heutzutage vor allem an die revolutionären „Weichenstellungen“ im November und Dezember 1918 erinnert, so waren es indes die Monate Januar bis Mai 1919, die innenpolitisch besonders turbulent verlaufen sind. Diese im machtpolitischen Vakuum heraufbeschworene Unruhe erfasste zunehmend die Massen der Arbeiterschaft und der allgemein Unzufriedenen, und immer wieder kam es zu großen Streikaktionen, zur Besetzung von Betrieben, Zeitungshäusern und öffentlichen Gebäuden. Kurzlebige Räterepubliken etwa in München und Bremen entstanden und gingen ebenso schnell wieder unter und vielerorts kam es zu bewaffneten und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.103 Erst durch ein massives Eingreifen von antisozialistischen Freikorpsformationen konnte die „Revolution“ 1918/19 beendet werden. Der Preis für den allmählich einsetzenden innenpolitischen Frieden durch das Niederringen revolutionärer Initiativen war jedoch die konkrete Gefahr, dass politisch extreme Gruppierungen zu Massenbewegungen werden konnten bzw. sich diese für ihre radikalen Ziele nutzbar machen konnten. Der unentschiedene Konflikt um die staatsrechtliche und politische Zukunft Deutschlands im Frühjahr 1919 bildete den Nährboden für das Auftauchen umstürzlerischer Bewegungen, Komitees und Zirkel und führte allgemein zu einer Radikalisierung in den politischen Zielsetzungen und den gewählten Aktionsformen. Gleichzeitig zog sich die Mehrheitssozialdemokratie bemerkbar aus der radikal-aktionistischen Arbeiterbewegung zurück, was eine weitere Radikalisierung und zum Teil ein Mehr an revolutionärer Dynamik der letzteren zur Folge hatte. Das Bekanntwerden der „Friedensbedingungen der alliierten und assoziierten Regierungen“ am 7. Mai 1919 zog einen ohnmächtigen Schrei der Empörung nach sich und zwar sowohl seitens der Reichsregierung als auch des deutschen Volkes, das auf die schweren Opfer nicht vorbereitet war. Bis zuletzt hatte man auf einen „Wilson-Frieden“ gehofft, also einen Friedensschluss im Zeichen von Ausgleich und Verständigung „auf Augenhöhe“, beruhend auf dem Prinzip des Selbstbestim102 103
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 18. Siehe hierzu im Einzelnen Kapitel B.X. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 21.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
mungsrechts der Völker – aller Völker, mithin auch des deutschen. Man hatte insbesondere in der deutschen Bevölkerung immer geglaubt, das „neue“ republikanische und parlamentarische Deutschland werde nicht umfänglich für die Sünden des „alten“ monarchischen Regimes büßen müssen.104 Winkler beschreibt die Friedensbedingungen und den erzeugten Eindruck wie folgt: „Die Friedensbedingungen aber lasen sich auf den ersten Blick so, als habe nicht der amerikanische Präsident, sondern der Geist der ,Erbfeindschaft‘ den siegreichen Mächten die Feder geführt.“105 Die Situation und Stimmungslage im Nachkriegs-Rheinland fasste der Zeitzeuge Paul Moldenhauer so zusammen: „Die vom Feinde besetzten Rheinlande spürten zuerst und am stärksten die Folgen des verhängnisvollen Waffenstillstandes; sie mußten mit der Gefahr rechnen, daß Frankreich bei seinen Verbündeten die völlige Annexion des linken Rheinufers durchsetzen werde.“106 Die Erleichterung dürfte schließlich groß gewesen sei, als Frankreich im Frühjahr 1919 im Hinblick auf das Rheinland zurückstecken und seine lange gehegten Ambitionen aufgeben musste: Die linksrheinischen Gebiete wurden nicht vom Deutschen Reich losgetrennt und auch nicht einer permanenten militärischen Kontrolle, d. h. Besatzung, durch die Ententemächte unterstellt. Die Friedensbedingungen sahen eine nach drei Zonen gestaffelte, auf fünf (Niederrhein, über Köln und Bonn, bis nach Bad Neuenahr und Ahrweiler), zehn (etwa Aachen bis Koblenz) und fünfzehn Jahre (übriges Rheinland und die Pfalz, Rheinhessen bis Frankfurt) befristete Besetzung und eine dauerhafte „Entmilitarisierung“ des linksrheinischen deutschen Gebietes vor. Wenig später wurde von den Alliierten in Aussicht gestellt, dass die Besatzung des Rheinlands vorzeitig enden könnte, wenn sich das Reich kooperativ verhalte, vor allem in der noch zu klärenden Angelegenheit der Reparationszahlungen.107 Damit trafen die Friedensbedingungen das Rheinland, vor allem verglichen mit den Ostgebieten Oberschlesien, Posen und Westpreußen, die an Polen fallen sollten, vergleichsweise milde; zumindest waren die weitergehenden französischen Pläne abgewehrt worden. Ein Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich wurde indes untersagt. Neben zahlreichen militärischen Beschränkungen verlor Deutschland letztlich mit dem Friedensvertrag ein Siebtel seines bisherigen Staatsgebiets und ein Zehntel seiner Bevölkerung; daneben büßte das Reich ein Drittel seiner Kohle- und drei Viertel (!) seiner Erzvorkommen ein. Hinzu kam der Verlust aller Kolonien.108 Trotz nahezu einhelliger Empörung und Ablehnung setzten sich am Ende die „Realpoli104 105 106 107 108
Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 15. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 90. Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 92. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 90.
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tiker“ um Erzberger, dem Vorsitzenden der deutschen Waffenstillstandskommission, Noske und Eduard David durch, und der Friedensvertrag von Versailles wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet, wenn auch unter deutschem Protest. In Anlehnung an die bekannte Eschenburgsche Charakterisierung als „improvisierte Demokratie“109 schreibt Kolb über die Republikgründung, dass nicht eigentlich die Demokratie, wohl aber die liberale, parlamentarische Republik in Deutschland 1918/19 improvisiert worden sei.110 Das Reich machte sich auf, Republik zu werden, weil seine alten Kräfte 1914 den Weg in einen Weltkrieg gingen, an dessen Ende 1918 die militärische Niederlage stand, aus der die schwere Hypothek eines Friedensvertrages mit erdrückenden Bestimmungen erwachsen sollte. Die Diskussion um die konkrete Ausgestaltung der neuen Ordnung beschränkte sich nicht auf das Plenum der Weimarer Nationalversammlung oder der Preußischen Landesversammlung in Berlin, sondern wurde erbittert auf der Straße ausgetragen, oftmals in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Letztlich ist die revolutionäre Massenbewegung im Wesentlichen jedoch gescheitert. Kolb schreibt hierzu: „Zum Kernbestand der durch allgemeinen Konsens als positiv eingestuften Traditionen der deutschen Geschichte gehört diese Revolution bis heute nicht.“111 Die Etablierung der parlamentarischen Demokratie unter diesen ungünstigen Umständen war eine Jahrhundertaufgabe, der sich jedoch nur ein Teil der deutschen Gesellschaft stellen wollte. Der Staat von Weimar, der sich im Frühjahr und Sommer 1919 herausbildete, sollte zeitlebens ein fragiles Gebilde bleiben, immer bedroht von links- und rechtsradikalen Kräften. Enttäuscht über die „steckengebliebene Revolution“112 rüstete sich die radikale Linke zum revolutionären Sturz dieser Republik, die als eine bürgerliche verachtet wurde. Und die reaktionäre Rechte trauerte nicht nur dem Kaiserreich nostalgisch nach, sondern bündelte ihrerseits Kräfte, um das liberalparlamentarische System schnellstmöglich wieder abzuschaffen. In diesem Klima politischer Unruhe und weltanschaulicher Extreme blieb es letztlich an dem Zweckbündnis zwischen dem gemäßigten Flügel der Arbeiterbewegung und dem demokratisch gesinnten Part des Bürgertums, ein tragfähiges Fundament für die parlamentarische Demokratie zu legen. Die Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 sind sowohl in diesem horizontalen Kampf der Weltanschauungen wie auch in den vertikalen Konflikten eines zunehmend unitarisch ausgeformten Bundesstaats zu sehen. Zwar war die Rheinprovinz weniger von revolutionären Unruhen und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen aufgewühlt worden, dafür „aber meldeten sich als westdeutsches Gegenstück zu 109 Eschenburg, Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik, in: Hellmuth Günther Dahms (Hrsg.), Geschichte und Politik 1950 – 1956, Band 10 (1954). 110 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 23. 111 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 23. 112 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 22.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
entsprechenden Vorgängen in anderen Grenzgebieten des Reiches an verschiedenen Stellen des Rheinlands regionale Selbständigkeitsbestrebungen zu Wort“.113 Aus eher heterogenen Motiven heraus und mit teilweise frappant voneinander abweichender Zielsetzung fanden sich spontan und zunächst unkoordiniert Persönlichkeiten und Zirkel zusammen, denen indessen bald die Parole „Los von Berlin“ zum gemeinsamen Schlachtruf werden sollte. Sie alle forderten eine stärkere Selbständigkeit der Rheinprovinz im Rahmen des als reformbedürftig empfundenen preußischen Staates oder sogar eine völlige Trennung von Preußen und die Etablierung einer eigenen rheinischen Staatlichkeit. Dabei ist in der historischen Forschung unstrittig, dass die Rheinstaatsinitiativen eng mit der Novemberrevolution und insgesamt der Umbruchssituation von 1918/19 zusammenhingen. So schreibt Morsey: „Das lautlose Verschwinden der Dynastie am 9. November 1918, die kampflose Preisgabe der Krone als des Kristallisationskerns des bisherigen Verfassungssystems sowie die Ausrufung einer Deutschen Republik waren die erste Voraussetzung für Aufkommen und Widerhall der rheinischen Bewegung.“114 Die zweite Voraussetzung sah er übrigens in der unklugen antiklerikalen Politik der neuen preußischen sozialistischen Regierung.115
III. Die Ursprünge der ersten Rheinstaatsbestrebungen und das Treffen mit Konrad Adenauer vom 9. November 1918 Als „geistiger Mittelpunkt“116 der frühen Rheinstaatsbestrebungen im Rheinland gilt in der neueren Geschichtsforschung konsentiert117 die katholische „Kölnische Volkszeitung“.118 Der Zeitzeuge und Reichtagsabgeordnete der USPD August Erdmann war sogar der Ansicht, „daß die ganze Kölner Bewegung eine Mache der Kölnischen Volkszeitung und ihres Anhangs“ gewesen sei.119
113 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 184. 114 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 184. Hervorhebung im Original. 115 Siehe hierzu eingehender Kapitel C.III. 116 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 25. 117 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 85 Fn. 293. 118 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 85; Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 25; Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 101; Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 22; Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, 2013, S. 107. 119 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 57.
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Sie stellte das prominenteste und auflagenstärkste Sprachrohr der westdeutschen katholischen Zentrumspartei dar120 und galt bereits seit den 1870er Jahren als ein Publikationsorgan von „nationalem Rang“.121 Die Kölnische Volkszeitung stand ursprünglich besonders der sozialorientierten, vergleichsweise progressiven „Kölner Richtung“ des Zentrums nahe und hatte im Zuge des Gewerkschaftsstreits nach der Wende zum 20. Jahrhundert die Entwicklung christlicher Gewerkschaften gefördert.122 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges hatte die Kölnische Volkszeitung zunehmend militaristischen und annexionistischen Zielen das Wort geredet und hatte dabei enge Kontakte zur Obersten Heeresleitung (OHL) gepflegt.123 In der zeitweise herausgegebenen Frontausgabe in einer Auflage von 130.000 Stück forderte die Kölnische Volkszeitung etwa die Annexion des lothringischen Eisenerzreviers um Longwy-Briey sowie der flämischen Küste um Antwerpen.124 Auch wenn sich der Personenkreis um die Kölnische Volkszeitung weit überwiegend aus Mitgliedern und Sympathisanten der Zentrumspartei zusammensetzte, so muss doch mit Blick auf die Rheinlandbewegung zwischen diesem Zeitungskreis und der rheinischen Zentrumspartei unterschieden werden.125 In den ersten Rheinstaatsbestrebungen vertrat die Kölnische Volkszeitung durchaus eigenständige Positionen, welche sich nicht immer mit denen der Partei und besonders der Parteiführung deckten. Nach und nach distanzierten sich denn auch Volkszeitung und Zentrum voneinander, ohne indessen ganz voneinander loszulassen.126 Gleichwohl war die Zeitung der führende „Meinungsmacher“ im Rheinland und verlieh den Ansichten weiter katholischer Bevölkerungskreise Ausdruck.127 Die Vertreter der Volkszeitung waren in erster Linie ihre Verleger Robert und Franz Xaver Bachem, ihr Chefredakteur und Zentrumspolitiker Karl Hoeber128 und der Kölner Oberpfarrer und Zentrumspolitiker Bertram Kastert129 Ferner gehörte 120
Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 84 f. Nipperdey, Arbeitswelt und Bürgergeist, 1990, S. 443. 122 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 74; Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 23. 123 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 74. 124 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 74. 125 So auch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 85. 126 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 188. 127 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 85. 128 Hoeber (1867 – 1942) war promovierter Oberlehrer in Straßburg gewesen und seit 1914 Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung. 129 Kastert wurde 1868 in Köln geboren, empfing 1893 die Priesterweihe und war ab 1907 Pfarrer der Pfarrei St. Josef in Köln-Kalk. Seit 1916 war er Kölner Oberpfarrer und um 1919 wurde er Vorsitzender der Kölner Zentrumspartei, für die er später in die Preußische Landesversammlung einzog. Im Mai 1919 wurde es aus der Zentrumsfraktion ausgeschlossen, gehörte der Landesversammlung aber bis 1921 an. Noch im Jahre 1922 wurde er Vorsitzender der offen separatistischen „Rheinischen Volksvereinigung“ und er gilt damit als einer der radikalsten Rheinstaatsanhänger. Dazu Näheres siehe Kapitel B.XX. 121
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
diesem Zirkel der außenpolitische und geistliche Berater Pater Josef Froberger an.130 Besonders Letzterem kommt innerhalb der Rheinstaatsbewegung ein besonderes persönliches wie programmatisches Gewicht zu.131 Hans-Ludwig Selbach vermutet, dass Froberger die Rolle des Sprechers der Gruppe übernommen hatte,132 und Köhler nennt ihn gar den „spiritus rector“ der Bewegung.133 Pater Froberger, 1871 im Elsass geboren, war Provinzial der deutschen Provinz der klerikalen Gesellschaft der „Weißen Väter“. Diese französische Weltpriesterkongregation war 1868 mit dem Ziel der römisch-katholischen Mission in Afrika gestiftet worden und hatte ihren Sitz in Algier. Der sprachgewandte und polyglotte Froberger fungierte für die Kölnische Volkszeitung als „Kundschafter […] im kirchlichen Bereich“, und im Rahmen des allgemeinen Zentrumsstreits wirkte er durch seine Beziehungen zur vatikanischen Bürokratie als Kontaktperson im Sinne des fortschrittlicheren Zentrumsflügels.134 Er stand ferner in Kontakt mit dem Kölner Generalvikariat.135 Insgesamt bewertet Köhler ihn als Person mit „Neigung zu geheimen Missionen und Aktivitäten eher konspirativen Charakters“.136 Die Urteile der Zeitgenossen über Froberger waren mitunter vernichtend:137 Justizrat Carl Bachem stellt im Mai 1919 fest, dass Froberger ein herausragender Gelehrter mit „vortrefflichen Fähigkeiten für Literatur“ sei, aber „daß Schlimmste war, daß er sich für einen politischen Kopf hält“138. Zu den Beziehungen Frobergers zur Chefetage der Kölnischen Volkszeitung schreibt Bachem weiter: „Dieser Tollkopf von Froberger, der sich für einen hochpolitischen Kopf hält und nichts ist wie ein rechter Gschaftelhuber, hat zur Zeit den Dr. Hoeber eingewickelt und dann meine Brüder.“139 Er betreibe Politik mit einem „geradezu polizeiwidrigen Dilettantismus“.140 Auch in den Beziehungen zu den Oberen des Ordens ergaben sich immer wieder Spannungen, denn Frobergers Ordensleitung war deutlich konservativer und „ul130
Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 85. Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 13; Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 86. 132 Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 111. 133 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 21. 134 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 13. 135 Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, 1976, S. 218. 136 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 13. Ekkhard Häussermann nennt Froberger gar „eine der gefährlichsten Figuren der bewegten Jahre 1918/1919“, deren Zwielicht bis heute nicht aufgehellt sei, Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933 (Fn.135), S. 217. 137 So auch Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933 (Fn. 135), S. 218. 138 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 256. 139 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 262. 140 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 256. 131
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tramontaner“ als er selbst.141 Es ist anzunehmen, dass den Ordensoberen seine politische „Wendigkeit“ nicht zusagen konnte. In einem Brief vom 2. Juni 1919 an den preußischen Innenminister schreibt etwa der Kölner Regierungspräsident Karl von Starck über Froberger: „Dr. Froberger ist ein durchaus deutsch gesinnter Mann und Idealist, dessen Anschauungen meines Erachtens, allerdings ihm unbewußt, etwas durch seinen langen Aufenthalt im Auslande beeinflußt werden; ich bin auch nicht ohne Zweifel, ob er nicht, ohne es zu merken, von seinen ausländischen Beziehungen etwas für französische Zwecke benutzt wird.“142 Tatsächlich wurde Froberger im Januar 1911 von seinem Generaloberen vorerst für sechs Monate mit umfassenden Auflagen beurlaubt. Er erhielt ein einjähriges Aufenthaltsverbot für die Stadt Köln und es wurde ihm untersagt, politische Artikel zu verfassen.143 Durch diese Maßnahme sollte die Beziehung Frobergers zur Kölnischen Volkszeitung gekappt und eine Zentrumsagitation unmöglich gemacht werden. Noch 1911 ließ sich Froberger im Einverständnis mit dem Kölner Kardinal zum Weltgeistlichen säkularisieren.144 Das Aufenthaltsverbot löste Froberger, indem er sich in Bonn niederließ und dabei die Beratertätigkeit für die Kölnische Volkszeitung unbeirrt fortführte.145 Andererseits erscheint es übertrieben, ihn als „außenpolitische[n] Redakteur“146 der Volkszeitung zu bezeichnen, denn er hat keine Aufmerksamkeit als besonders aktiver Publizist erregt – auch nicht später in der Rheinlandfrage. Eher muss er als Vertrauensmann des Verlegers Franz Xaver Bachem angesehen werden147, der ihm weniger publizistisch denn politisch den Raum gewährte, seine Vorstellungen zu vertreten. Froberger kommt mithin nicht die Rolle eines agitatorischen Redakteurs, sondern vielmehr die des politischen Netzwerkers zu, der besonders zwischen der Kölnischen Volkszeitung und der Zentrumspartei vermittelte, jedoch auch Kontakt zu dem Kölner Oberbürgermeister Adenauer aufnahm und hielt. Am Abend des 9. November 1918, als die „Revolution“ in Köln gerade einen Tag alt war, trafen sich „mehrere Zentrumskreisen angehörige Herren, unter anderen Stadtverordneter Mönnig, Stadtverordneter Rings, Stadtverordneter Maus, Stadtverordneter Bollig, Oberpfarrer Kastert, Chefredakteur Dr. Hoeber und […] Dr. 141 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 14: In einem Brief an F. X. Bachem vom 18. November 1910 beklagte sich Froberger: „Bei meinen Oberen bin ich als Modernistenfreund so verdächtig geworden, daß ich in unserer Gesellschaft wohl keinen Boden mehr unter den Füßen habe.“ 142 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 78. 143 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 14 verweist auf den Nachlass F. X. Bachem. 144 Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933 (Fn. 135), S. 218. 145 In einer Jubiläumsschrift von 1918 wird Froberger als „theologischer Berater“ ausgewiesen, siehe Hölscher, Hundert Jahre J. P. Bachem, 1918, S. 101. 146 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 25; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 123. 147 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 14 f.
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Froberger von der Kölnischen Volkszeitung“148 mit Oberbürgermeister Adenauer im Kölner Rathaus. Mit dem Zeitzeugen Moldenhauer ist in der Tat anzunehmen, dass diese Unterredung den eigentlichen Anfang der Rheinlandbewegung bildete.149 Auch Stieve meint, am 9. November 1918 habe die „Bewegung für die Autonomie“ begonnen.150 Zum ersten Mal wagten es prominente Zentrumspolitiker und Journalisten, sich über ihre Rheinlandpläne auszutauschen und ein weiteres Vorgehen in der Angelegenheit abzustimmen. Man könnte auch sagen, an diesem 9. November 1918 haben sich einige später bedeutende Rheinstaatsanhänger erstmalig „vernetzt“. Karl Müller, einer der Beteiligten, erinnerte sich am 11. Februar 1919 wie folgt: „Als die Republik hier am 8. November ausbrach [!], hat die Kölner Zentrumspartei für den 10. November eine Versammlung angesetzt. Wir haben uns zu vier Herren am 9. November abends zusammengefunden im Hause des Herrn Oberpfarrer Kastert, und jeder von uns war mit dem Gedanken dorthin gekommen, so kann das nicht weitergehen. Wir hatten uns schon klargemacht, wie die Dinge in Berlin gehen würden, wie sie dann auch tatsächlich gekommen sind, und wir haben uns gesagt, wir müssen im Westen neu aufbauen. Dr. Froberger und Dr. Hoeber von der Kölnischen Volkszeitung kamen nachher hinzu und brachten die außenpolitischen Momente in die Debatte hinein. Darauf sind wir sofort noch abends zum Oberbürgermeister der Stadt Köln hingegangen und haben ihm diese Gedanken vorgetragen.“151 Schlemmer vermutet, dass dieser Zirkel Adenauer bereits zu diesem Zeitpunkt für die Idee eines von Preußen unabhängigen Rheinstaates gewinnen wollte.152 In der Tat legten die Zentrums- und Volkszeitungs-Honoratioren Adenauer dar, dass „nach seinen [Frobergers, P.B.] Informationen die Entente die Rheinprovinz Frankreich zusprechen werde. Man könne das Deutschtum hier am Rhein nur retten, wenn man sich von Preußen lostrenne und einen besonderen Staat bilde.“153
148
Adenauer in einer selbst verfassten, undatierten Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/1919 wohl vom März 1919, abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 238. 149 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4: „Von dieser Unterredung an kann man den Anfang der Bewegung der Errichtung einer rheinischen Republik rechnen.“ 150 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 526. 151 Bericht Karl Müllers auf der Tagung der Kommunalpolitischen Vereinigung vom 11. Februar 1919, später bestätigt durch Kastert, HAStK 902/253/2, Nr. 133 ff. Nicht bei diesem Treffen anwesend war der Vorsitzende der rheinischen Zentrumspartei Carl Trimborn, anders als es Klein unbegründeterweise behauptet, vgl. Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 39. 152 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 87. 153 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (s. bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 238.
III.
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An Adenauers Rückblick ist insbesondere interessant, dass bereits in diesem ersten Gespräch im November 1918 einer föderalistischen Lösung der Rheinlandfrage, also ein Rheinstaat losgelöst von Preußen bei gleichzeitigem Verbleib im deutschen Reichsverband, der Vorzug gegeben werden sollte. Ihm zufolge ist also am 9. November 1918 keine Sezession eines noch zu bildenden Rheinstaates vom Deutschen Reich avisiert worden. Ob in einem derart frühen Stadium der Rheinlandbewegung jedoch bereits solche staats- bzw. völkerrechtlichen Festlegungen erfolgt sind, erscheint fraglich. Zwar gibt Adenauer in seiner undatierten Denkschrift, vermutlich verfasst im März 1919, die Sprachregelung wieder, die in den Auseinandersetzungen im Dezember 1918 entstanden war, nämlich dass man sich als Rheinländer zwar vom Freistaat Preußen, nicht aber vom Reich lossagen wollte. Eine derart juristisch reflektierte Diskussion um die staatsrechtliche Zukunft des Rheinlandes dürfte jedoch am 9. November 1918 im Kölner Rathaus noch nicht geführt worden sein. Eher liest sich die rückblickende Darstellung Adenauers – quellenkritisch betrachtet – wie eine Schutzbehauptung, um nicht die Rheinstaatsbewegung und vor allem sich selbst dem Vorwurf des Separatismus oder sogar des Hochverrats auszusetzen.154 Vielmehr ist davon auszugehen, dass die von Froberger dargelegten Pläne eine größere oder jedenfalls allgemeinere Dimension gehabt haben dürften als „lediglich“ einen rheinischen Gliedstaat im Reichsverband. Schon die oben bereits aufgeführte Aussage Müllers „wir müssen im Westen neu aufbauen“ weist in diese Richtung. Die Formulierung „neu aufbauen“ deutet an, dass die Beteiligten von einer staatsrechtlichen „Stunde Null“ in Westdeutschland ausgingen, jedenfalls (noch) keine lediglich föderalistisch orientierte Zurückhaltung gezeigt haben dürften. Mit diesem Befund deckt sich auch die Beobachtung, dass es bereits gegen Ende des Krieges, vor allem in der ländlichen Bevölkerung, durchaus Gerüchte respektive fatalistische Befürchtungen gegeben hatte, wonach das Rheinland ein Pufferstaat zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich werden könnte. So hielt der Lehrer und Stadtarchivar Stephan Weidenbach aus Andernach bereits im September 1918 in seinem Tagebuch fest: „Die Stimmung der Leute ist gar keine rosige. Daß wir verlieren würden, behaupten 95 Prozent. Die sonderbarsten Gerüchte gehen rund, dabei werden die unglaublichsten für wahr gehalten. Viele behaupten, wir würden französisch, oder andere behaupten, Rheinland müsse ein Pufferstaat werden zwischen Frankreich und Deutschland. In dieser Beziehung ist ihnen alles egal.“155 Am 7. November 1918 notierte er: „Daß wir Elsaß-Lothringen herausgeben müssen, gilt unzweifelhaft sicher; es handelt sich nur noch darum, ob wir französisch werden. Hierüber sind die Meinungen geteilt. Einzelne behaupten, das Rheinland würde ein neutraler Staat.“156 154
S. 40. 155 156
In diese Richtung auch Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), LHAK 700/023, Nr. 3, Bl. 69 f. LHAK 700/023, Nr. 3, Bl. 79.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Nach Köhler soll Adenauer bei dem Treffen gefragt haben, welches Interesse Froberger selbst an der Rheinstaatsfrage habe. Daraufhin soll dieser auf seine elsässische Herkunft verwiesen und erklärt haben, dass er die Hoffnung habe, ein neugebildeter Rheinstaat könne auch das Elsass vor einer französischen Annexion bewahren.157 Ergo schließt Köhler hieraus: „[…] wenn man sogar vorgab, das Elsaß vor der Rückgliederung an Frankreich bewahren zu wollen, dann konnte dies sich ja wohl niemals mit der Abtrennung der Rheinprovinz von Preußen bewerkstelligen lassen, sondern für derartige Pläne mußte man davon ausgehen, daß das Bismarckreich aufgehört habe zu existieren und man in dem bestehenden Vakuum neue Staatsgebilde mit einer ganz anderen politischen Zielsetzung errichten könne – wahrscheinlich so etwas wie ein lothringisches Zwischenreich, das sich an Frankreich anlehnen würde.“158 Man muss Köhler nicht in seiner kühnen Spekulation folgen, dass Froberger ein solches „lothringisches Zwischenreich“ quasi als wiederbelebtes „Austrasien“159 im November 1918 vorschwebte. Es erscheint aber überzeugend, dass sich die Rheinstaatsaktivisten am 9. November, beseelt von der Vision eines wie auch immer ausgestalteten „unabhängigen Rheinstaates“, nicht derart staatsrechtlich präzise auf einen Verbleib des Rheinlands im Deutschen Reich festgelegt haben dürften. Man sollte sich dieses erste Treffen von Rheinstaatsbefürwortern eher als eine Art gegenseitiges „Abtasten“ und als ein Zusammentragen und einen Austausch vorläufiger Ideen und Stimmungen vorstellen. Jedenfalls ist es, zumal ohne einen einzigen Nachweis zu erbringen, allzu pauschal, wenn Klein schreibt, man habe bereits klar eine „Abgrenzung der Rheinprovinz von Deutschland“ vorbereiten wollen.160 Es waren nicht zuletzt die mitunter mehrdeutigen und reißerischen Artikel der Kölnischen Volkszeitung, an die spätere Separatismusvorwürfe dankbar anknüpfen konnten. Am 30. November 1918 hieß es etwa unter der Überschrift „Der Sturm gegen Berlin“: „Es bleibt nichts anderes übrig, als daß Deutschlands noch gesunde Landesteile die Leitung ihrer Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Am Rhein und an der Donau ist man dazu fest entschlossen.“161
157
Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 40. Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 40. 159 Kaiser Lothar I. erhielt im Vertrag von Verdun 843, abgeschlossen mit seinen Brüdern Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen, Austrasien beziehungsweise Austrien („Land im Osten“) als „lotharingische[s] Zwischenreich“ (Lotharii Regnum), welches sich zwischen Frankreich und Deutschland legte und von der Nordsee bis nach Italien reichte. Der westlich davon gelegene Reichsteil, im wesentlichen Frankreich, wurde als „Neustrien“ bezeichnet, vgl. hierzu Prinz zu Sayn-Wittgenstein, Fahrten ins Elsaß, 7. Aufl. 1981, S. 18. 160 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 36. 161 KV Nr. 942 v. 30. November 1918 („Der Sturm gegen Berlin“). 158
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Hier blieb völlig offen, ob der zu gründende Rheinstaat staatsrechtlich in das Reich integriert bleiben oder zu einer selbständigen völkerrechtlichen Einheit werden sollte, was insbesondere bei Skeptikern Misstrauen auslösen musste. In diesem politisch unsicheren Schwebezustand ist davon auszugehen, dass sich die Diskussion um die Zukunft des Rheinlands noch nicht auf die recht konkrete Frage, ob man ein eigener Staat werden oder weiterhin eine bloße Provinz Preußens bleiben würde, verengt hatte, sondern gerade mit Blick auf die französischen Absichten ein Pufferstaat außerhalb des Reichsverbands als im Rahmen des Möglichen angesehen worden sein dürfte. Zumal man sich anderenfalls auch – ohne zwingenden Grund162 – in seinem noch weiter zu entwickelnden Vorhaben von Vornherein eingeschränkt hätte. Plausibel ist, dass der Besuch bei Adenauer aus Sicht der Zentrums- und Volkszeitungs-Honoratioren ausloten sollte, wie weit der Zentrumsmann und Oberbürgermeister von Köln als einer der mächtigsten Politiker in der Rheinprovinz von der Idee eines unabhängigen Rheinlandes zu überzeugen war. Womöglich sollte sich sogar zeigen, inwieweit Adenauer selbst Teil der Rheinstaatsbewegung werden und wie weit er mit ihr zu gehen bereit sein würde. Nach Ekkhard Häussermanns Bewertung der Ereignisse vom 9. November 1918 „kommen auf dem Rathaus ungleiche Größen zusammen: Adenauer, erst ein Jahr im Amt, noch unerprobt in der überlokalen Politik, erst recht ohne Übung im Umgang mit Presseleuten; ein recht junger Oberbürgermeister, der in der Zwischenzeit zwischen Monarchie und Republik seine ersten Wegstrecken noch vorsichtig auskundschaften muss. Auf der anderen Seite waren Chefredakteur Dr. Karl Hoeber von der ,Kölnischen Volkszeitung‘ und sein außenpolitischer ,Experte‘ Dr. theol. Joseph [sic!] Froberger. Sie waren dabei […] eine mehr oder weniger verhüllte Abtrennung des Rheinlandes vom Reich zu vertreten.“163 Als Adenauer im Dezember 1918 zum Treffen vom 9. November befragt wurde, zeigte er sich noch rückblickend beeindruckt von Frobergers Darlegungen: „Dr. Froberger erklärte mir, dass er die französische Presse durch und durch kenne, ebenso die spanische. Er sei überzeugter Pazifist, und auf Grund [sic!] seiner ausgezeichneten Verbindung mit dem Auslande könne er mir nur sagen, dass die Gefahr der Annektion der Rheinprovinz durch Frankreich so ernst sei, dass Schritte dagegen unbedingt notwendig seien.“164 Erdmann weist in dem Kontext der aufkommenden Rheinstaatsbestrebungen auf eine gewisse Ignoranz Adenauers im November 1918 hin: „Für den Ansatzpunkt 162 Der später immer wiederkehrende Vorwurf des Separatismus und des Hochverrats, der die föderalistisch-zurückhaltende Sprachregelung zumindest in der Öffentlichkeit erforderlich machte, wurde im November 1918 noch nicht erhoben; auch, weil die Rheinstaatsbefürworter noch nicht sichtbar in Erscheinung getreten waren. Insofern waren Gedankenspiele im November 1918 also wesentlich „freier“ als bereits ab Dezember 1918, siehe hierzu Kapitel B.IV. 163 Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933 (Fn.135), S. 217. 164 Düsseldorfer Zeitung Nr. 655 v. 23. Dezember 1918.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Adenauers zu seinem Umgang mit der Frage einer Westdeutschen Republik ist es charakteristisch, daß dieser Gedanke nicht seinen eigenen Überlegungen entstammt. Er wurde von außen situationsbedingt an ihn herangetragen.“165 Ferner fehle jeder Hinweis darauf, dass die Idee eines Rheinstaates bei ihm aus irgendwelchen staatstheoretischen Grundsatzüberzeugungen oder besonderen Erinnerungsbildern hätte erwachsen können. Nach Erdmann habe sich Adenauer vor dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands überhaupt nicht in irgendwie bemerkenswerter Weise mit Staatspolitik befasst.166 Diese Charakterisierung des jungen Oberbürgermeisters spricht ebenfalls gegen den rückblickenden Bericht Adenauers, man habe am 9. November konkret und ausschließlich über einen rheinischen Gliedstaat als Teil des Deutschen Reichs gesprochen. Adenauer verhielt sich während des Gesprächs abwartend, ja zögerlich. Zu diesem Zeitpunkt sei ihm der Gedanke „noch nicht so klar und spruchreif“167 gewesen, und er habe von Beginn an Wert darauf gelegt, die anderen rheinischen Parteien, vor allem die SPD und die (links-)liberale Partei, in Kenntnis zu setzen und die Rheinstaatsideen mit ihnen zu besprechen.168 Gemeint waren damit in erster Linie der Reichstagsabgeordnete Johannes („Jean“) Meerfeld sowie der Stadtverordnete Sollmann von der SPD und der liberale Justizrat und Stadtverordnete Bernhard Falk (später DDP). In seiner Denkschrift vom März 1919 behauptet Adenauer, er habe die ihm vorgetragenen Ideen für absurd gehalten und eine weitere Erörterung und Verbreitung abgelehnt.169 Ob er in seiner Haltung am 9. November tatsächlich derart rigoros gewesen ist, erscheint, wie bereits oben dargelegt, zweifelhaft. Mit Köhler ist vielmehr anzunehmen, dass Adenauer lediglich den Plan einer kurzfristigen Versammlung zur Erörterung eines „Neuaufbaus“ im Westen als „absurd“ abgelehnt hat.170 Ebenfalls in seiner Denkschrift räumt Adenauer selbst ein: „In den folgenden Tagen wurde es mir bei näherem Nachdenken bedenklich, allein die Verantwortung für eine solche ganz ablehnende Haltung zu tragen. Ich habe daher die Herren Meerfeld und Sollmann von der sozialdemokratischen Partei und Falk von der liberalen Partei über das Vorgefallene unterrichtet und die Herren auch, damit sie sich selbst ein Bild machen könnten, in persönliche Verbindung mit Herrn Dr. Froberger gebracht.“171 165
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 28. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 28. 167 Bericht Karl Müllers auf der Tagung der Kommunalpolitischen Vereinigung vom 11. Februar 1919, später bestätigt durch Kastert, HAStK 902/253/2, Nr. 133 ff. 168 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 29 f. 169 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 238. 170 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 32. 171 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 238. 166
III.
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Dieses Vorgehen zeigt, dass Adenauer zu diesem Zeitpunkt keine Rolle für sich in der aufkommenden Rheinstaatsbewegung gesehen hat, er jedoch dieses noch sehr vage und tatsächlich etwas phantastisch anmutende Projekt immerhin durch seine Vermittlertätigkeit nicht ganz seinem Einfluss entschwinden lassen wollte. Getreu seinem 1961 als Bundeskanzler geäußerten Motto „Ich muss die Finger überall etwas drin behalten“172, dürfte sich Adenauer auch bereits in der Rheinlandfrage verhalten haben. Ganz so ablehnend, wie Adenauer und andere dies später gerne betonten, hat sich der Oberbürgermeister im November 1918 also sicherlich nicht verhalten. Man kann wohl Morsey Recht geben, der resümiert, Adenauer habe sich merklich zurückgehalten und den Verlauf der Entwicklung zunächst mehr beobachten wollen.173 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Günther Meinhardt in seiner Schrift174, die ersichtlich von der Intention geleitet ist, den späteren Bundeskanzler Adenauer von jedweder sonderbündlerischen Konspiration frei zu sprechen, das Treffen vom 9. November 1918 gar nicht erst erwähnt. Schließlich ist zu unterstreichen, dass es Adenauer entschieden darauf ankam, auch die anderen relevanten Parteien in diesen Diskussionsprozess um den Rheinstaat mit einzubeziehen und das ganze Vorhaben nicht zu einem reinen ZentrumsProjekt werden zu lassen.175 Rückblickend schreibt er: „Mir gegenüber ist niemals von irgend jemand der Gedanke ausgesprochen worden, diese Westdeutsche Republik solle möglichst eine Zentrumsmehrheit haben oder rückschrittliche ParteiMehrheit bekommen.“176 Auch Kastert erklärte rückblickend in einer Rede in der Preußischen Landesversammlung vom März 1919: „Wir haben mit dem Herrn Oberbürgermeister Adenauer festgesetzt, daß diese Dinge durchaus nicht von einem kleinen Gremium aus gemacht werden könnten, daß dazu auch die Angehörigen aller anderen Parteien und aller anderen Stände herangezogen werden müßten.“177 Aufgrund der anfänglichen Zögerlichkeit Adenauers wurde eine für den Folgetag vorgesehene Versammlung des Kölner Zentrums von der Parteiführung auf den 4. Dezember 1918 verschoben.
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Kortmann/Wolf, „Die Lage war noch nie so ernst!“, 1976, S. 19. Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 188. 174 Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus, 1962. 175 So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 30. 176 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 239. 177 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, 1919 – 1921, Bd. 1, Sp. 490. 173
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
IV. Die Kölner Zentrumsversammlung vom 4. Dezember 1918 Der 4. Dezember 1918 markiert das Datum, an welchem die Öffentlichkeit zum ersten Mal von der Rheinstaatsbewegung Kenntnis nehmen konnte. Waren die Ideen und Projekte rund um ein unabhängiges oder wenigstens unabhängigeres Rheinland bisher eher Produkte von Stammtischrunden oder konspirativer Zirkel178 gewesen, so warben die Rheinstaatsbefürworter ab dem Ende 1918 offener und offensiver für ihre Idee und traten gleichsam in den staatspolitischen Wettbewerb um die Zukunft des Deutschen Reiches ein. Während man bis zum 4. Dezember 1918 als Loslösungsbefürworter eher in Deckung blieb, „war nach diesem Datum die Hölle los“.179 Die Bühne für diesen Schritt an die Öffentlichkeit bot eine Großversammlung der Kölner Zentrumspartei in der Kölner Bürgergesellschaft, die aufgrund der unerwartet hohen Besucherzahl von annähernd 5.000 Personen180 in zwei Parallelveranstaltungen abgehalten werden musste. Sie stand unter der Leitung des Oberpfarrers Kastert.181 Ursprünglich war die Zentrumsversammlung nicht mit dem Ziel der Erörterung der Rheinlandfrage oder gar der Proklamation einer eigenständigen Republik anberaumt worden, sondern es sollten allgemein die Leitlinien einer zukünftigen Zentrumspolitik vorgestellt werden. Erst durch einen „Coup“ der Rheinstaatsaktivisten und des Kölner Zentrumsvorsitzenden Kastert kam die Forderung nach einem selbständigen Rheinland auf die Tagesordnung. Jedoch war die ganze Zeit vor diesem Termin eine fiebrige Stimmung zu spüren gewesen, und selbst aus Düsseldorf waren Interessierte angereist mit der Vorstellung, dass eine „rheinische Republik“ ausgerufen werden würde.182 Für den nächsten Tag war der Einmarsch der britischen Besatzungstruppen in Köln angekündigt worden – nachdem die letzten deutschen Truppen abgezogen waren – und man war bestrebt, noch vorher das erstrebte Ziel eines rheinischen Staates publik zu machen.183 Offenbar sollte der Rheinstaatsidee unter dem Eindruck 178 So berichtet der DDP-Politiker Brüggemann, dass schon vor Ausbruch der Revolution „im Lehrerkollegium des Gymnasiums in Köln-Ehrenfeld lebhaft über die Gründung einer rheinischen Republik gesprochen worden war“. Ferner habe Hoeber den Rheinstaatsplan schon früher innerhalb der Zentrumspartei angesprochen: „Er ließ den Gedanken der rheinischen Republik zunächst eines Abends zu vorgerückter Stunde in einem engen Kreis von Parteifreunden in der katholischen Bürgergesellschaft als Versuchsballon steigen. Der Funke schlug gleich Feuer in den vom Wein angeregten Gemütern.“ Siehe Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 11 und 18. 179 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34. 180 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 35; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 121. 181 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34. 182 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 22. 183 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 35.
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des bevorstehenden Besatzungsregimes eine besondere Überzeugungskraft zukommen. Insofern wirkte auch an dieser Stelle, wie schon zuvor die Ankündigung einer vermeintlich bevorstehenden Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich, eine eingebildete oder tatsächliche äußere Bedrohungslage suggestiv für den Unabhängigkeitsgedanken. Der genaue Ablauf dieser Großversammlung ist heute nur schwierig zu rekonstruieren, da sich die Aussagen der Zeitzeugen unterscheiden und teilweise sogar widersprechen. Die voneinander abweichenden Schilderungen der Geschehnisse vom 4. Dezember 1918 dürften vor allem politisch motiviert sein: Während die Rheinstaatsenthusiasten, vor allem Froberger, Kastert und Hoeber, durch ihre Darstellung verdeutlichen wollten, welche Schlagkraft und Popularität dem Rheinstaatsgedanken bereits in diesem frühen Stadium der Unabhängigkeitsbestrebungen zukamen, betonten andere184 – insbesondere hierunter Politiker, die bereits an exponierter Stelle Verantwortung übernahmen und übernommen hatten – ebenso frühzeitig ihre Distanz zu den vermeintlich „sonderbündlerischen“ Zirkeln. Eine exakte Wiedergabe der Ereignisse ist in einer rechtshistorischen Arbeit nicht erforderlich. Wohl aber ist die Versammlung in der Kölner Bürgergesellschaft und vor allem die Reaktionen, die sie umgehend hervorgerufen hat, insofern bedeutend, als hier die Konstitution der frühen Rheinstaatsbewegung und die ideologischen Dissonanzen innerhalb des wichtigsten politischen Trägers dieser Bestrebungen, der rheinischen Zentrumspartei, sichtbar werden. Zudem ist die Kölner Zentrumsversammlung für die Rheinstaatsbefürworter ein wichtiger Schritt in der Gründungsphase der Bewegung gewesen: Neben der nahezu ausschließlich journalistischen und publizistischen Werbung sollte ab dem 4. Dezember 1918 die aktionistische Propaganda für ein unabhängiges Rheinland los von Preußen einsetzen.185 Mit Parolen wie etwa „Berlin ist nicht Deutschland“186 und später „Rheinisches Recht für rheinisches Land“187 hatte die Kölnische Volkszeitung auf die Versammlung eingestimmt. In gewohnter Mehrdeutigkeit darüber, was für ein Staatsgebilde die Rheinische Republik denn nun sein sollte, hieß es dort: „Lösen wir uns von allen Fremdlingen los und bauen wir in treuer deutscher Gemeinschaft ein neues Staatswesen auf, das Militarismus und Revolution, überhebliches Junkertum und gewissenloses Demagogentum mit gleicher Entschiedenheit abschüttelt, um einem freien Volke freies Land zu schaffen, um ein neues Deutschland zu gestalten, das die ganze in Trümmer gesunkene Periode von 1866 – 1918 endgültig in den Hintergrund
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Insbesondere Carl Trimborn und Wilhelm Marx, siehe dazu weiter unten. So andeutungsweise auch Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34. Überschrift in der KV Nr. 907 v. 17. November 1918. KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
der Vergangenheit schiebt, um wieder an Zeiten echter deutscher Geschichte anzuschließen.“188 Insbesondere diejenigen, die bereits 1918/19 separatistische Kräfte am Werk sahen, griffen und greifen noch heutzutage ebensolche vermeintlichen Belege heraus.189 Und in der Tat wurde in diesen Passagen der Rheinstaatsbefürworter nicht deutlich, von wem genau sich eine Rheinische Republik lossagen sollte und ob man, offenbar die Jahre der Reichsgründung 1866 – 1918 hinter sich lassend, nicht doch aus dem Verband des (bismarckschen) Deutschen Reiches ausscheiden wollte. Nun endlich, am 4. Dezember 1918, sollte aus Sicht der Loslösungsbefürworter der Rheinstaat in Köln proklamiert werden, um die „stammesfremde[n] Beherrscher“190 aus Berlin abzuschütteln. Der ehemalige Reichstagsabgeordnete und geschäftsführende Vorsitzende des Zentrums Trimborn191, „einer der großen alten Männer des Zentrums“,192 sprach im „großen Saal“ und der Abgeordnete und spätere Reichskanzler Wilhelm Marx trat im sogenannten „weißen Saal“ auf. Beide Redner sprachen allgemein über die Politik der Zentrumspartei, ohne auf die Rheinstaatsinitiative ausdrücklich einzugehen.193 Es war Trimborn, der beiläufig und in einem wenig konkreten Zusammenhang den Rheinstaatsgedanken als erster in der Öffentlichkeit aussprach, „zum Jubel der herbeigeströmten Zentrumsmassen“194. Mit dieser Rede bildete er die Grundlage für den später gegen ihn erhobenen Vorwurf des Landesverrats.195 188
KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918 („Rheinisches Recht für rheinisches Land“). Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919, Teil 2, 1942, S. 451. 190 KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918. 191 Carl Trimborn, auch Karl Trimborn, wurde 1854 in Köln geboren. Er studierte zunächst Geschichte und Philosophie in Leipzig und später Rechtswissenschaften in München und Straßburg. Von 1894 bis 1913 war Trimborn Stadtverordneter in Köln und er gehörte sowohl dem Preußischen Abgeordnetenhaus als auch dem Reichstag von 1896 bis 1918 an. Im Jahre 1918 war er für kurze Zeit Staatssekretär im Reichsamt des Innern im letzten Kabinett des Kaiserreiches des Prinzen Max von Baden. 1919/20 war er Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und seit 1920 Vorsitzender der Zentrumspartei, lehnte aber den Vorschlag von Reichspräsident Ebert, die Regierungsbildung zu übernehmen, ab. 1921 starb Trimborn in Bonn. Zur Biographie vgl. Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921, 2011; Morsey, Zeitgeschichte in Lebensbildern, 1973, S. 81 – 93. 192 Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952 (Fn. 2), S. 207. 193 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 35; Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 35. Trimborn und Marx referierten über die Programmentwürfe vom 19./20. November 1918, vgl. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 121. 194 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 22 f. Trimborn vermied es jedoch – auch auf Nachfrage aus dem Publikum – konkreter zu werden. Der Kölner Liberale Falk schreibt hierzu: „Wie ich aus seinem [Trimborns, P.B.] eigenen Munde weiß, hat er auf das Verlangen der Menge, seine Stellungnahme zu der Frage der rheinischen Republik sofort darzulegen, geantwortet: ,Kütt se, dann kütt se‘.“, BArch Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 385, Bl. 102. 195 Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 206. 189
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Besonders die späteren Erinnerungen an den 4. Dezember 1918 von Marx sind widersprüchlich: Hatte er 1933 in einem Erinnerungsbericht für die Justizbehörden noch ausgeführt, dass gegen Ende der Versammlung der Parteisekretär Peter Joseph Jörg „unter ungeheurer Begeisterung“196 die rheinische Republik ausgerufen habe, berichtet er an anderer Stelle, dass es zu keiner Proklamation gekommen, „sondern nur eine Entschließung vorgeschlagen und angenommen worden“197 sei, die lediglich der Hoffnung nach baldiger Errichtung einer rheinischen Republik Ausdruck verliehen habe. In dieser Entschließung habe es geheißen: „Die Verslg. gibt ihrem festen Willen Ausdruck, die Einheitlichkeit des Reiches zu wahren und den Wiederaufbau eines neuen dt. Staatswesens von den Ländern am Rhein und Westfalen aus aufzunehmen.“198 Die Resolution lautete vollständig im Wortlaut: „Fünftausend rheinische Bürger und Bürgerinnen, am 4. Dezember 1918 in der Bürgergesellschaft zu Köln versammelt, fassen folgende Entschließung: In Anbetracht der tiefgreifenden politischen Umwälzungen im Deutschen Reiche, in der Erkenntnis der völligen Unmöglichkeit, in Berlin eine geordnete Regierung zu schaffen, in der Überzeugung, daß die Länder am Rhein nebst Westfalen politisch, kulturell und wirtschaftlich ausreichende staatsbildende Kräfte besitzen, gibt die Versammlung ihrem festen Willen Ausdruck, die Einheitlichkeit des Reiches zu wahren und den Wiederaufbau eines neuen deutschen Staatswesens von den Ländern am Rhein und Westfalen aus aufzunehmen. Die Versammlung fordert deshalb die anerkannten Vertreter des Volkswillens aller Parteien in Rheinland und Westfalen und den anderen Ländern am Rhein auf, baldigst die Proklamierung einer dem Deutschen Reiche angehörigen, selbständigen Rheinisch-Westfälischen Republik in die Wege zu leiten. Es lebe das freie Rheinland im freien Deutschland!“199 An dem Entschließungswortlaut ist bemerkenswert, dass im Dezember 1918 die Intention dahin ging, zwar einerseits ein neues deutsches Staatswesen aufbauen zu wollen, andererseits ein etwaiger Rheinstaat jedoch im Reichsverband verbleiben sollte.200 Das zu errichtende Staatswesen sollte aber nicht nur das Rheinland, sondern auch Westfalen umfassen. Ebenso führte Trimborn in seiner Rede aus: „Wir treten ein für die Erhaltung der Reichseinheit, für die Stärkung des Reichsgedankens. Mit der Dynastie der Hohenzollern […] ist für uns jede ernstliche Verpflichtung, an Preußen festzuhalten, verschwunden […]. Eine Treueverpflichtung gegenüber dem alten Preußen besteht 196
Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx, 1968, Nr. 94, S. 85. Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 88. 198 Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 88. In dem Saal, in dem Trimborn sprach, verlas der Volkszeitungs-Chefredakteur Hoeber dieselbe Resolution. 199 Wortlaut wiedergegeben nach Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 35 Fn. 14. 200 In diese Richtung auch Hehl, Wilhelm Marx 1863 – 1946, 1987, S. 145. 197
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für uns nicht mehr […]. Wie nun das große Deutsche Reich in große Bundesstaaten zerlegt werden soll […], das ist abzuwarten. Darüber müssen das Volk und alle Parteien mit ihren Organen entscheiden.“201 Ebenso wie vorher schon Adenauer kam es Trimborn entscheidend darauf an, den Rheinstaat nicht als Projekt ausschließlich des Zentrums aussehen zu lassen, sondern er verwies auf alle Parteien, und zwar gemeinsam mit ihren Organen. Der letzte Passus weist darauf hin, dass Trimborn die Einbeziehung und Mitwirkung von Vorständen und Parteitagen forderte, eine Diskussion um das Projekt also nicht nur Angelegenheit einzelner parteiinterner Gruppierungen sein durfte – hier könnte ein Seitenhieb auf die Umtriebe einzelner Zentrumspolitiker, etwa auf solche Kasterts, hineingelesen werden. In einer Vorbesprechung der Versammlung am Nachmittag des 4. Dezember, an der auch Marx und Trimborn teilgenommen hatten, war ein Rheinstaat noch als Möglichkeit erörtert worden, um einer Annexion des linken Rheinufers durch Frankreich zuvorzukommen.202 In erstaunlicher Klarheit meinte Marx sich noch 1933 erinnern zu können, dass „eine Reihe von Herren […] alle mit dem Ziele [sprachen]: es muß, wenn wir uns retten und nicht frz. werden wollten, eine Rhein. Republik gegründet werden! Selbstverständlich Teil des DR [Deutschen Reiches, P.B.], aber losgelöst von Preußen!“203 Später unterstrich der oben bereits erwähnte Jörg in einer Mitteilung an die rheinischen Reichstagsmitglieder, die Rheinische Republik werde Teil des Reiches bleiben und sie werde sich an allen Entschädigungszahlungen beteiligen.204 Ursprünglich war zu dieser recht spontanen Vorbesprechung nur der Vorstand der Kölner Zentrumspartei geladen gewesen. Es gelang jedoch, den engeren Zentrumsvorstand zu „überrumpeln“, da bei der Sitzung eine Menge Personen anwesend waren, die nicht dem Vorstand angehörten, die aber umso eifriger die unbedingt notwendige Gründung der rheinischen Republik betonten.205 Somit erfuhren die führenden Köpfe des rheinischen Zentrums, nämlich Trimborn und Marx, erst jetzt von der Absicht der Loslösungsbefürworter, die abendliche Veranstaltung für diesen Zweck zu benutzen.206 In dieser Situation sei Trimborn überfordert und in seiner Entscheidung unsicher gewesen, so erinnert sich Marx.207 Zwar protestierte Marx selbst gegen dieses forsche
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Morsey, Zeitgeschichte in Lebensbildern (Fn. 191), S. 90. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 88. 203 Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 84. 204 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 88. 205 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34, unter Bezugnahme auf Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 84. 206 Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 145. 207 Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 84. 202
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Vorgehen,208 am Ende willigte er aber dennoch ein, an der Versammlung trotz Bedenken teilzunehmen und seine Rede über die zukünftige Politik der Zentrumspartei zu halten.209 Verabredet worden war also, dass Marx zu einem neutralen Thema sprechen und keine Proklamation des Rheinstaates erfolgen sollte, jedenfalls nicht während seines Vortrags. Er befürchtete, dass zum damaligen Zeitpunkt jede Trennung des Rheinlandes von Preußen die Begehrlichkeiten der Franzosen geradezu wecken und eine Gefahr für den Bestand des ganzen Reiches heraufbeschwören musste. Als man ihm in der spontan anberaumten Vorbesprechung entgegenhielt, ganz Köln wisse bereits von der Absicht, am Abend eine rheinische Republik auszurufen, drohte Marx mit seiner sofortigen Abreise.210 Beruhigen konnten ihn schließlich die Zusicherung der Aktivisten, dass seine Ansprache nicht unterbrochen werden würde und er alles Weitere nicht würde zu verantworten haben. Am 22. März 1919 erinnerte sich Kastert in der Preußischen Landesversammlung an den Verlauf der Kundgebung vom 4. Dezember 1918. Trimborn und Marx hätten „mit keinem Wort an die Sache [der Rheinisch-Westfälischen Republik, P.B.] gerührt“. Er betonte ferner: „Sie haben [nach ihren Vorträgen, P.B.] an der weiteren Entwicklung des Abends gar keinen Anteil gehabt; das nehmen wir ganz auf unser Konto.“211 So kann die spätere Resolution nicht ohne weiteres als eine Forderung des gesamten Zentrums dargestellt werden,212 obwohl die Mehrheit der rheinischen Zentrumspartei sie unterstützt haben dürfte.213 Es scheint so, als habe für die Rheinstaatsbefürworter im Umkreis der Kölnischen Volkszeitung, besonders Kastert, Hoeber und Froberger, diese Einstellung führender Zentrumspolitiker eine Enttäuschung bedeutet. Hatten sie doch in dem Artikel unter der Überschrift „Rheinisches Recht für rheinisches Land“214 einen selbständigen 208
Scharf fragte Marx die Anwesenden, „ob sie denn wirklich glaubten, sie könnten, wenn sie das Alphabet der Trennung einmal angeschnitten und A gesagt hätten, dann unter den Augen der Entente das Alphabet ruhig weiter abhandeln? Sähen sie denn nicht, daß wenn einmal A gesagt worden wäre, dann die Entente das Übrige weiter abhandeln würde?“, Stehkämper, Der Nachlaß des Reichskanzlers Wilhelm Marx (Fn. 196), S. 84. 209 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34 f. 210 Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 145. 211 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 1, Sp. 496. 212 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 35; eher a.A. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 9 und 22 ff., der jedoch polemisch zuspitzt. 213 So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 35; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 122. 214 KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918. In Auszügen: „An die politischen und geistigen Führer der Länder am Rhein ergeht aus ihrem ganzen Volke die stürmische Aufforderung: Es geschehe nunmehr, was geschehen muß. Der Zeiger der Zeitenuhr zeigt auf rheinisches Recht im rheinischen Land. Gebrauchen wir das anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zögern wir
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Staat gefordert, ohne aber eine weitere Zugehörigkeit zum Deutschen Reich zu erwähnen.215 Vielmehr endete der Aufruf mit einem deutlichen Appell an die EntenteMächte, dem neu zu errichtenden Staatswesen zur Hilfe zu kommen216 und man berief sich bereits in diesem Artikel auf das moderne Selbstbestimmungsrecht der Völker.217 Für einen lediglich von Preußen unabhängigen Rheinstaat, der aber fest im Verbund des Reiches verbleiben sollte, betrieb die Kölnische Volkszeitung in ihrer Ausgabe vom 4. Dezember 1918 für viele Zeitgenossen einen zu enormen Begründungsaufwand. Auf der einen Seite nahm man das weitreichende Selbstbestimmungsrecht der Völker für sich als Rheinländer in Anspruch, auf der anderen Seite wünschte man sich jedoch, dass ein selbständiges Rheinland „der Grundstein zum neuen freien Deutschland werden soll“.218 Aus diesen Erwägungen heraus, sind die Ereignisse rund um den 4. Dezember 1918 bedeutsam für diejenigen Zeitzeugen und Historiker, die es vor allem der Kölnischen Volkszeitung nicht abnahmen, lediglich für einen Rheinstaat los von Preußen einzutreten. Man unterstellte ihnen das Ziel eines gänzlich von Deutschland unabhängigen, souveränen Staatsgebildes. Für Häussermann etwa ist der Artikel in der Kölnischen Volkszeitung schlicht „ein Aufruf zum Separatismus“, denn es fehle „das Bekenntnis der Zugehörigkeit zum deutschen [sic!] Reich“.219 Zu Beginn der Veranstaltung machte Kastert zwar deutlich: „Wir hier auf dem linken Rheinufer, besetzt von den Heeren der Alliierten, wir bleiben deutsch!“220 Dieses Bekenntnis dürfte jedoch eher als Spitze gegen eine vermeintlich drohende französische Annexion des Rheinlandes zu verstehen sein und hebt einmal mehr den außenpolitisch motivierten Begründungsansatz für die Schaffung eines Rheinstaates hervor. Über eine staatsrechtliche Zugehörigkeit dieses künftigen rheinischen Staatsgebildes zum Deutschen Reich war damit allerdings noch nichts gesagt. Man unterstellt den Zeitungsmachern der Kölnischen Volkszeitung in der Tat wohl nicht zu viel, wenn man den Wunsch nach einer raschen, effektiven und möglichst weitreichenden Unabhängigkeit des Rheinlands als für ihre Politik bekeinen Tag mehr, den Weg zu gehen, den uns die Geschichte und die lauten Forderungen des harten Gegenwartstages weisen. Eine Rheinische Republik ist heute innerlich berechtigt, und nach außen wirksamer Schutz unseres Daseins und Bürgschaft glücklicher Zukunft. Sie ist Ausdruck des Volkswillens und verlangt daher nach Verkündigung durch die maßgebenden Führer. […] Nur eine Lösung gibt es darum aus der gegenwärtigen Not, nämlich die baldige Proklamation einer Rheinischen Republik, die der Grundstein zum neuen freien Deutschland werden soll.“ [Kursivschreibweise im Original, P.B.]. 215 Diesen Umstand betont zu Recht Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 22; Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 53. 216 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34. 217 Dies hebt auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 22, hervor. 218 KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918. 219 Häussermann, Konrad Adenauer und die Presse vor 1933 (Fn. 135), S. 220. 220 Zitiert nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 121.
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stimmend ansieht. Ob sich der Zirkel um Kastert, Hoeber und Froberger daneben Gedanken um eine staatsrechtliche Ausgestaltung einer künftigen Rheinischen Republik gemacht hat, muss hier erneut bezweifelt werden. Zumindest im Dezember 1918 ist eine eindeutige Positionierung dieser Personen zwischen den möglichen Zielen des völkerrechtlich relevanten Separatismus und des staatsrechtlichen Föderalismus nicht festzustellen. Diese Standortbestimmung im Koordinatensystem der Rheinstaatsbestrebungen muss Ende 1918 (noch) offen bleiben. Man ist zu schnell mit der „Separatismus-Keule“ unterwegs, wenn man zur Begründung auf den frühen Zeitpunkt des 4. Dezember 1918 hinweist. Mit Sicherheit jedoch waren die Rheinstaatsaktivisten der Kölnischen Volkszeitung nicht derart auf einen rheinischen Gliedstaat im Reichsverband festgelegt, wie es die meisten führenden Zentrumspolitiker (vor allem Trimborn und Marx) gewesen sein dürften. Hier ist schon früh eine sich andeutende Spaltung der Unabhängigkeitsbefürworter zu erkennen, jedenfalls aber eine inhaltlich ganz entscheidende Differenz. Insofern lagen die Ereignisse des 4. Dezember 1918 „nicht völlig auf dieser Linie [der Kölnischen Volkszeitung, P.B.]“.221 Ernst Rudolf Huber etwa meint, bereits mit Blick auf Anfang Dezember 1918 resümieren zu können: „Die Losung: Autonomie des Rheinisch-Westfälischen Staats innerhalb des Reichsverbands fand starke Zustimmung. Aber sie war offenkundig eine Kompromißformel, die den grundlegenden Gegensatz unter den Beteiligten nur notdürftig verhüllte: für den einen Teil der Zustimmenden war das Bekenntnis zur Einheit des Reichs das Entscheidende und die geforderte Autonomie des westdeutschen Staats nur ein der gegebenen Lage Rechnung tragendes Notprogramm von sekundärem Rang; für den anderen Teil, der zwar schwach an Zahl war, aber auf die Begünstigung durch die vor der Tür stehenden Okkupationsmächte rechnete, war die staatliche Absonderung das Hauptanliegen und das Bekenntnis zur Reichseinheit nur ein der Täuschung der Öffentlichkeit dienender taktischer Schachzug.“222 In diesem Punkt scheint sich der Deutschnationale Huber mit dem Kommunisten Klein einig zu sein, der ebenfalls davon ausging, dass die These, man trete nur für die Abtrennung des Rheinlandes von Preußen, nicht aber für eine Loslösung von Deutschland ein, ein „demagogische[s] Täuschungsmanöver“ gewesen sei.223 Es darf, wie bereits angedeutet, bezweifelt werden, ob bereits am 4. Dezember 1918 eine derart deutliche Festlegung der angestrebten staats- bzw. völkerrechtlichen Zukunft erfolgt ist. Für die Mehrheit der anwesenden politisch Interessierten dürfte das – zunächst noch vage – „Los von Berlin“ im Fokus ihrer Absichten gestanden haben. Jedenfalls sollte man mit definitorisch umgrenzten Begriffen wie „Autonomie“ vorsichtig sein; hinter der Loslösungsabsicht stand noch kein konkretes 221
Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 34. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1132. Hervorhebung im Original. 223 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 46. 222
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rechtliches Programm. Gleichwohl ist Huber mit Blick auf die festgestellte einsetzende Spaltung der Rheinlandbewegung beizupflichten. Aber auch diese setzte zur Frontenbildung keine juristischen Festlegungen voraus, denn die Grenze verlief vielmehr zwischen den radikalen, aktionistischen Rheinstaatsanhängern („Los von Preußen hier und jetzt“) und den zunächst abwartenden, pragmatischen und weniger aktionistischen („Los von Preußen als Bestandteil einer zukünftige Agenda“). Nicht zuzustimmen ist nach alldem der Bewertung Erdmanns, wenn er sagt: „Tatsächlich verlief aber die Kundgebung so, wie sie die Aktivisten geplant hatten“.224 Ursprünglich hatten diese nämlich in der Tat vorgehabt, die Zentrumsversammlung zu nutzen, um sogleich die Rheinische Republik zu proklamieren und nicht erst „baldigst“. Überdies vermutet Köhler, dass bereits am 4. Dezember 1918 das künftige Oberhaupt des rheinischen Staates, nämlich Adenauer, vorgestellt werden sollte.225 Für diese These bleibt Köhler freilich einen Beweis schuldig. Adenauer selbst sagte dazu am 13. Dezember 1918 in einer Besprechung mit dem preußischen Innenminister Rudolf Breitscheid in Elberfeld, dass man ihn vor der Versammlung ersucht habe, sich an die „Spitze der Sache“ zu stellen und die Republik zu proklamieren.226 Damit ist aber nicht zwangsläufig die Absicht verbunden, Adenauer als Präsidenten einer zu schaffenden Republik einzusetzen. Eher dürfte die Absicht der Rheinstaatsaktivisten dahin gegangen sein, die Popularität und Seriosität des einflussreichen Kölner Oberbürgermeisters für ihre Zwecke zu nutzen und Adenauer als „Galionsfigur“ einzuspannen. Abgesehen davon hatte Adenauer dem Volkszeitungs-Zirkel bereits abgesagt, und er war am 4. Dezember 1918 auch nicht zugegen.227 Es ist auch nicht davon auszugehen, dass er den Inhalt der Resolution vorher gekannt hatte.228 Für Ulrich von Hehl war die ganze Aktion Anfang Dezember 1918 „nicht mehr als bloßer Theaterdonner“.229 Tatsächlich stieß dieser Vorstoß der rheinischen Unabhängigkeitsanhänger in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung überwiegend auf Ablehnung. Obwohl man sich bemüht hatte, den politischen Gegnern möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten, etwa indem von der Gründung einer „Rheinisch-Westfälischen Republik“ im Verband des Deutschen Reiches die Rede gewesen ist, riefen die in der Bürgergesellschaft geäußerten Pläne scharfe politische Gegenreaktionen hervor. Nun wurde deutlich, dass es so gut wie unmöglich war, die anderen politischen Kräfte außerhalb des Zentrums für ein gemeinsames Vorgehen 224
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 32. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 35 Fn. 15; in diese Richtung auch Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 206. Brüggemann allerdings geht von Trimborn als „präsumptive[n] Präsident[en] der zu schaffenden Republik“ aus, vgl. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 12. 226 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 36. 227 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 36; Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 206. 228 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 122. 229 Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 146. 225
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bewegen zu können, geschweige denn zu erreichen, dass sich die anderen Parteien dieser Resolution würden anschließen können. Damit aber war ein gerade für Adenauer zentrales Anliegen vorerst hinfällig geworden, nämlich die Rheinlandbewegung als überparteiliche Sammlungsbewegung, vor allem gemeinsam mit Sozialdemokraten und Liberalen, entstehen zu lassen. So veranstaltete der Kölner Arbeiter- und Soldatenrat, das heißt in erster Linie die Kölner MSPD-Führung, am 6. Dezember 1918 eine Versammlung im Gürzenich. Die dort angenommene Resolution erblickte „in diesem Bestreben, unter dem Schutze der Okkupationsmächte die westdeutschen Provinzen in die Gefahr der Loslösung vom Reich zu bringen […] einen Verrat an der deutschen Volkseinheit.“230 Ein Kommentar im „Vorwärts“ zu der Zentrumsversammlung und der dort angenommenen Resolution stellte fest, dass man auf sozialdemokratischer Seite nichts dagegen haben könne, „wenn das alte Preußen sich in seine natürlichen Bestandteile auflöst“, andererseits aber frage man sich, „ob nicht durch eine derartige Bewegung im jetzigen Moment der bekannte Plan unserer Feinde sehr stark gefördert wird, die Rheinlande gänzlich vom deutschen Reiche loszulösen.“231 Die sozialdemokratische „Rheinische Zeitung“ reagierte auf die Ereignisse in der Kölner Bürgergesellschaft geringschätzig zurückhaltend – wohl in der Einschätzung, dass es sich bei dieser Aktion nur wieder um eine jener „Bachemschen Sudeleien“232 handelte, gegen die die Rheinische Zeitung ohnehin unentwegt Front machte.233 Brüggemann spricht unumwunden davon, dass es das Bestreben der sozialdemokratischen „Protestvolksversammlung“ vom 6. Dezember 1918 gewesen sei, „die Machenschaften der Leute von der Kölnischen Volkszeitung als Verrat an der deutschen Volkseinheit“ abzustempeln.234 Besonders ablehnend reagierte auch von Beginn an die bürgerlich-liberale „Kölnische Zeitung“. In der „Los von Berlin“-Bewegung sah sie die Gefahr, „daß diese zentrifugale Bewegung sich weiter dehnt als gut ist, und es mehren sich die Anzeichen, die Absage an die Berliner Führung zu einer Abwehr vom Reichsgedanken zu erweitern und die Einheit zu zerschlagen. So weit darf es nicht kommen, wenn wir nicht elender werden wollen, als wir schon sind.“235 Mit Blick auf die Versammlung vom 4. Dezember 1918 verurteilte die Kölnische Zeitung besonders den listigen Coup der Rheinstaatsaktivisten um Kastert, Hoeber und Froberger, denn „schon äußerlich ist die Überrumpelung und Überraschung zu beanstanden, mit der hier versucht wird, die Welt vor eine vollzogene Tatsache zu stellen, deren Tragweite doch erheblich über die politische Einsicht und staatsbür230 231 232 233 234 235
Rheinische Zeitung Nr. 285 v. 7. Dezember 1918. Vorwärts Nr. 334a v. 5. Dezember 1918. Rheinische Zeitung Nr. 292 v. 16. Dezember 1918. So auch Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 58. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 24. Kölnische Zeitung Nr. 1096 v. 26. November 1918.
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gerliche Bedeutung der Leute hinausgeht, die gestern in der Röhrengasse zu Köln darangingen, das Reich aus den Angeln zu heben.“236 In der Ausgabe vom 7. Dezember 1918 wird der Ton der Kölnischen Zeitung noch schärfer: „Auch wir waren längst auf den ,Weckruf‘ vorbereitet worden, der nun von Köln ausgegangen ist; auch wir wußten, daß es seit geraumer Zeit menschelte am Rhein, daß verächtliche Ichsucht und das Streben, sich an der Schlußabrechnung, die uns alle miteinander treffen muß, herumzudrücken, mit den Trennungsgelüsten liebäugelten, die jetzt in der Kölner Bürgergesellschaft ihren Anwalt gefunden haben.“237 Im liberalen Lager ging man grundsätzlich davon aus, dass die Unabhängigkeitsbestrebungen nichts weiter als „lichtscheue Machenschaften“238 der Kölner Zentrumspartei seien. Eine rheinische Unabhängigkeit werde nur angestrebt, um dem persönlichen Ehrgeiz einiger weniger zu genügen. Man könnte indes einwenden, dass die schroffe Ablehnung der sozialdemokratischen und liberalen Zeitungen nicht repräsentativ für die politische Einstellung der breiten Masse der rheinischen Bevölkerung gewesen sein dürfte, denn diese hing traditionsgemäß dem Zentrum an und las überwiegend die zentrumsnahe Kölnische Volkszeitung oder andere zentrumsorientierte Presse. Andererseits ist zu beachten, dass auch die sonstige zentrumsnahe Presse die Resolution vom 4. Dezember 1918 kritisierte oder sogar ablehnte. Insoweit ist Selbach zu widersprechen, wenn er undifferenziert behauptet, dass die Zentrumspresse das Kölner Vorgehen „erwartungsgemäß“ begrüßte.239 So kommentierte die „Koblenzer Volkszeitung“ am 6. Dezember 1918: „Die Ungeduld vaterländischer Sorge […] rechtfertigt aber nicht das Meilenstiefeltempo der Kölner Herren. Derartige schwerwiegende Entscheidungen, die im weitesten Umfange die ideellen und materiellen Lebensinteressen einer Bevölkerung von mehr als elf Millionen berühren, bedürfen doch wohl einer ganz anderen Vorbereitung, als sie eine lediglich örtliche Veranstaltung schaffen kann. Der Kölner Separatismus schlägt unseres Erachtens einen Weg ein, dessen Richtung sich noch nicht klar erkennen läßt.“240 Es wird zudem die – auch im rheinischen Zentrum weit verbreitete – Sorge zum Ausdruck gebracht, dass der außenpolitische Zeitpunkt schlichtweg unpassend für eine solche Rheinstaatsinitiative sei. Man hege die Besorgnis, dass die Resolution „gerade jetzt, wo die Einigkeit ganz Deutschlands gegenüber dem rücksichtslosen 236 Kölnische Zeitung Nr. 1121 v. 5. Dezember 1918, ein Kommentar mit der bezeichnenden Überschrift „Das Kölner Zentrum gegen Preußen“. 237 Kölnische Zeitung Nr. 1127 v. 7. Dezember 1918. 238 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 4, vgl. auch S. 16: „Was übrig blieb, war mithin keine rheinische Bewegung mehr, sondern eine rein parteipolitische und muß als solche erkannt werden.“ 239 Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 113. 240 Koblenzer Volkszeitung Nr. 381 v. 6. Dezember 1918.
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Vernichtungswillen unserer Feinde am notwendigsten“ sei, „zu einer Zersplitterung der Kräfte führen“ müsse.241 Das zentrumsnahe „Düsseldorfer Tageblatt“ vertrat zwar eine durchaus föderalistische Position, denn hinsichtlich der Frage der Aufteilung Preußens unterstrich man das vitale Interesse an einem „Selbstbestimmungsund Selbstverwaltungsrecht der deutschen Stämme“. Über allem müsse jedoch die Reichstreue stehen, denn „nur als einiges Reich werden wir das furchtbare Unglück des Weltkrieges überwinden können“.242 Ebenso lehnten einflussreiche Zentrumspolitiker, wie etwa Adam Stegerwald und Erzberger, das Vorgehen der Rheinstaatsanhänger ab.243 Stegerwald erklärte am 21. Februar 1919 in der gerade erst konstituierten Nationalversammlung: „Ich bin an diesen Bestrebungen nicht beteiligt. Ich habe mich im Wahlkampf über diese Fragen gar nicht engagiert.“244 Es bestätigt sich hier der bereits oben angedeutete Befund, dass die Resolution vom 4. Dezember 1918 zwar auf einer Zentrumsversammlung abgestimmt worden ist, ihr Gegenstand jedoch nicht vollständig kongruent war mit den politischen Leitlinien der rheinischen Zentrumspartei am Ende des Kriegs- und Revolutionsjahres 1918. Führende Persönlichkeiten des rheinischen Zentrums, vor allem Trimborn und Marx, standen jedoch blamiert da, waren sie nämlich tatsächlich von einer zahlenmäßig relativ unbedeutenden Gruppe von Rheinstaatsaktivisten, in erster Linie aus dem Umfeld der Kölnischen Volkszeitung, auf ihrer eigenen Parteiversammlung „überrumpelt“ worden. Auch wenn der Volkszeitungs-Zirkel eigentlich an diesem Abend in der Kölner Bürgergesellschaft bereits die „Rheinisch-Westfälische Republik“ ausrufen wollte, was jedoch in letzter Minute besonders am Widerstand von Marx gescheitert ist,245 so hatte er doch mit seiner Absicht, die Politik(er) vor „vollzogene Tatsachen“246 zu stellen, zumindest einen teilweisen Erfolg. Die rheinische Unabhängigkeitsbewegung ist somit Anfang Dezember 1918 an die Reichsöffentlichkeit getreten – und zwar mit einer Entschließung, die immerhin auf einer Großversammlung von 5.000 Menschen angenommen worden war. Es lag nun
241
Koblenzer Volkszeitung Nr. 382 v. 7. Dezember 1918. Düsseldorfer Tageblatt Nr. 333 v. 1. Dezember 1918. 243 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 36. 244 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 326, 1920, S. 264. 245 Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 145; Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 54. Meinhardt behauptet, eine Warnung Trimborns, den Boden der Reichsverfassung nicht verlassen zu dürfen, habe Kastert an der Ausrufung einer eigenständigen Republik gehindert, vgl. Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 9. Allerdings ist diese Warnung Trimborns nicht belegt und Meinhardt bleibt der einzige Autor, der auf sie hinweist. Es ist daher zweifelhaft, ob es eine derartige Aussage Trimborns gegeben und vor allem, welchen Einfluss sie auf die Rheinstaatsaktivisten gehabt hat. 246 Kölnische Zeitung Nr. 1121 v. 5. Dezember 1918. 242
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an sämtlichen politischen Akteuren, hierzu Stellung zu beziehen, was sich insbesondere für das rheinische Zentrum als überaus schwierig gestaltete. Das Hauptargument gegen diesen Vorstoß und Alleingang eines kleinen Kreises von Rheinstaatsenthusiasten war nach dem Waffenstillstand ein außenpolitisches: Wie konnte man die Reichseinheit zu einem Zeitpunkt, in dem die militärische Besatzung des Rheinlandes durch die Entente begann und künftig die Deutschen ein erhebliches diplomatisches „Pfund“ in die Waagschale der Friedensverhandlungen würden werfen müssen, derart leichtfertig durch öffentlichkeitswirksame „separatistische“ Aktionen schwächen? Wenn auch Brüggemann in seiner Einschätzung, wonach der „erste Akt der Bewegung für die rheinische Republik […] gescheitert“ war247, wie aufgezeigt, nicht völlig zuzustimmen ist, so muss man indes zugeben, dass zwar die Rheinstaatsinitiative Anfang Dezember 1918 publikumswirksam in Erscheinung getreten war, sie aber ebenso kompromisslos und wirksam eine breite Ablehnung erfahren hat. Insofern stellten der 4. Dezember 1918 und die ihm nachfolgenden Tage eine frühe Zäsur für die sich erst entwickelnde Selbständigkeitsbewegung dar. Den Befürwortern musste klar geworden sein, dass sie eine breite politische Front gegen sich hatten und sie sich, wollten sie künftig von ihrer Idee ernsthaft überzeugen, argumentativ und taktisch besser aufstellen mussten. Ein Vehikel, das eine neue Dynamik in die Rheinstaatsplanungen bringen würde, sollten vor allem die Ende 1918 einsetzenden offiziellen Reichsneugliederungsgedanken sein.
V. Die Elberfelder Besprechung vom 13. Dezember 1918 War das allmähliche Aufkommen der Rheinstaatsinitiative bisher von den revolutionären Autoritäten in Berlin ignoriert oder jedenfalls vernachlässigt worden, so sahen sich Reichs- und Landesregierung ab Mitte Dezember 1918 dazu genötigt, auf die Geschehnisse im Rheinland zu reagieren. Die preußische Regierung hatte in einer Erklärung vom 10. Dezember 1918 so schroff wie eindeutig erklärt, dass die Rheinlandbewegung gemeinwohlgefährdend und mit allen Mitteln zu bekämpfen sei.248 Am 11. Dezember 1918 bezog der Rat der Volksbeauftragten in Berlin zu der Resolution der Rheinstaatsbefürworter Stellung und verurteilte die Vorgänge in Köln.249 Der Aufruf war verfasst worden von dem Staatssekretär des Innern Preuß 247
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 25. Zitat bei Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1133. Die Bekanntmachung vom 10. Dezember 1918 ist abgedruckt in: Deutscher Reichs- und Staatsanzeiger Nr. 292 v. 11. Dezember 1918. 249 Feststellungen zur Rheinlandfrage aus Dezember 1918, in: BArch Berlin R 58, Nr. 2485, Bl. 176. 248
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und dem sozialdemokratischen Abgeordneten Max Quarck,250 die in ihrer Begründung inhaltlich auf die Forderungen der Rheinstaatsinitiative eingingen und es nicht bloß bei einem Kampfaufruf beließen, wie es die preußische Revolutionsregierung zuvor getan hatte. Der Rat der Volksbeauftragten sprach sich gegen eine „Abtrennung und Selbständigmachung“251 von Teilen des Reiches oder Preußens aus und verwies auf eine künftige Nationalversammlung als zuständiges Organ für eine etwaige Neugliederung des deutschen Reichsgebiets.252 Diese sei der Ort, wo die rheinischen Abgeordneten im Rahmen der kommenden Reform des preußischen Staatsgebietes ihre Vorstellungen einbringen könnten.253 Allerdings bemerkte die Erklärung auch, dass „[e]ine Neuregelung seines [des preußischen Staates, P.B.] Staatsgebietes […] durchaus im Gange der wahrscheinlichen Entwicklung liegen [dürfte].“254 Man schloss mit der formelhaften Erwartung, „daß auch in RheinlandWestfalen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich entschlossen gegen jeden Versuch zur Abtrennung wendet.“ Mitte Dezember 1918 also verband sich die Rheinstaatsinitiative mit den aufkommenden Plänen zur allgemeinen Neugliederung des Reichsterritoriums und wurde von den verantwortlichen und federführenden Reichsstellen, insbesondere von Preuß, zunächst in diesem Kontext gewürdigt. Aus der rein lokalen Idee wurde ein ernstzunehmender Beitrag in der Reichsreformdebatte und ein Faktor, mit dem man rechnen musste, wobei die Berliner Verantwortlichen unter dem Eindruck der vorausgegangenen Zentrumsversammlung gestanden haben dürften. Sollte sich tatsächlich die rheinische Zentrumspartei als ein durchaus machtvoller politischer „Spieler“ des Rheinstaatsgedankens angenommen haben, so musste der Reichsführung an einer Integration gelegen sein. Deutlich beharrte man bereits frühzeitig auf einem legal-repräsentativen Prozess, indem man die Angelegenheit an eine noch zu bestimmende zukünftige Nationalversammlung verwies. Festzuhalten ist, dass man der jungen Rheinstaatsinitiative Mitte Dezember 1918 (noch) nicht die Loslösung des Rheinlands vom Deutschen Reich, also offenen Separatismus, unterstellte. Man hatte seitens der Volksbeauftragten also durchaus wahrgenommen, dass es der Bewegung um ein „Los von Preußen“ ging, nicht um einen Angriff auf die Reichseinheit. Am 12. Dezember 1918 tagte in Hamm der Provinzialausschuss der westfälischen Zentrumspartei, welcher sich von den Kölner Plänen distanzierte, die zeitnah die Bildung einer „Rheinisch-Westfälischen Republik“ vorsahen. Es dürfe nicht nur die Angelegenheit einer einzigen Partei sein, die noch nicht entwickelte und spruchreife 250
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 36. Zitat bei KV Nr. 976 v. 12. Dezember 1918. 252 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 124. 253 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 87. 254 Abgedruckt bei Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 247. Hier auch das nachfolgende Zitat. 251
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Frage nach einer autonomen Republik im Westen entscheiden zu wollen.255 Gleichwohl könnten, so der Provinzialausschuss, Verhältnisse eintreten, „welche die Errichtung einer Rheinisch-Westfälischen Republik wünschenswert machen.“ Nämlich dann, wenn die Regierungen in Berlin es nicht binnen kürzester Frist schaffen würden, geordnete und gesetzliche Zustände im Reich und in Preußen zu erwirken.256 In Berlin begann man, den Ernst der Situation in Westdeutschland zu erkennen. Am 13. Dezember 1918 traf der neu ernannte preußische Innenminister Breitscheid in der Handelskammer in Elberfeld mit 30 bis 40 Spitzenleuten257 der rheinischen Provinz, also der Kommunalverwaltung, der Parteien, der Wirtschaft und der Presse, zu einer Besprechung über die Zukunft des Rheinlandes zusammen. Geplant war zunächst, das Treffen in Köln anzuberaumen.258 Klaus Reimer vermutet, dass es wegen eines möglichen Widerstands der britischen Besatzungsbehörden in das unbesetzte Elberfeld verlegt worden war.259 Huber bemerkt hierzu insgesamt, dass man sich seitens des preußischen Staatsministeriums schon deshalb auf Verhandlungen mit den Rheinländern habe einlassen müssen, weil im besetzten linksrheinischen Gebiet schlicht die Machtmittel fehlten, um der Rheinstaatsbewegung unmittelbar und gegebenenfalls polizeistaatlich entgegenzutreten.260 Neben Breitscheid waren der Unterstaatssekretär Friedrich Freund (DDP), der Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz, Karl Egon Prinz von Ratibor und Corvey, und Regierungspräsident von Starck angereist; andere Teilnehmer waren etwa Trimborn, Marx, Mönnig, Froberger (wohl stellvertretend für die Kölnische Volkszeitung), Adenauer und weitere Bürgermeister, Meerfeld und Sollmann, Falk (DDP), der USPD-Bezirksvorsitzende Niederrhein Otto Braß und der Generaldirektor der „Vereinigten Stahlwerke“ Albert Vögler (DVP) als Vertreter der rheinischwestfälischen Großindustrie. Nach den Aussagen von Marx war der Sozialist Breitscheid „ganz als Regierungsmann“ aufgetreten: „Gehrock, hoher Stehkragen, edle Gesten“261. Das Gespräch verlief kontrovers und die Elberfelder Besprechung zeigte deutlich das tiefsitzende Misstrauen der sozialistischen Führer aus Berlin gegenüber den führenden rheinischen Zentrumspolitikern, das umgekehrt jedoch ebenso bestand. Innenminister Breitscheid erklärte zu Beginn der Sitzung zurückhaltend, die Berliner Regierung habe sich durch die Kölner Ereignisse vom 4. Dezember 1918
255 256 257 258 259 260 261
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 125. Zitiert nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 125. Diese Zahl nennt Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 146. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 37. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 87. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1133. Zitat bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 127.
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veranlasst gesehen, das Treffen festzusetzen, „um sich über Umfang und Stärke der Bewegung zu informieren.“262 Trimborn wies zwar die Verantwortung für die Resolution vom 4. Dezember 1918 zurück, denn diese sei allein von der Kölnischen Volkszeitung ausgegangen. Er wollte allerdings nicht völlig Abstand von dem Plan einer Rheinisch-Westfälischen Republik nehmen, wenn dieser sich als einzige Möglichkeit einer Vermeidung französischer Annexionen erweisen sollte. Auch müsse eine solche Republik diskutiert werden, wenn die Aufteilung Preußens oder die Neugliederung des Reiches „in Frage kommen“ sollten.263 Er erklärte: „Wenn es doch zu einer anderweitigen Gestaltung von Preußen kommt, dann wollen wir mitreden. Wir wollen nicht einem Bundesland X oder Y überwiesen werden, und in diesem Sinne behalte ich mir für die Zukunft alle Entscheidungen vor.“264 Deutlich war das Dilemma Trimborns in dieser Situation zu erkennen, dessen Wut über die „Überrumpelungsaktion“ des Volkszeitungs-Zirkels vom 4. Dezember 1918 noch nicht verflogen war, der andererseits jedoch das noch ungefähre Vorhaben eines von Preußen unabhängigen Rheinlandes nicht gänzlich aufgeben mochte – schon gar nicht gegenüber der sozialistischen preußischen Regierung. So ergänzte Trimborn, die Bewegung sei auch aus dem Bestreben heraus entstanden, die „Berliner Mißwirtschaft“ abzuwenden.265 In einem Manuskript, das zwischen dem 17. und 31. Dezember 1918 verfasst worden sein muss, sah sich Trimborn zu einer weiteren Klarstellung genötigt.266 Er habe es am 4. Dezember „ausdrücklich abgelehnt, in der Versammlung den Vorsitz zu führen und die vorgeschlagene Entschliessung [sic!] zu begründen“. Inhaltlich hielt er sich jedoch die Möglichkeit eines Rheinstaates offen: „Es ist unbedingt an der Reichseinheit festzuhalten und der Reichsgedanke zu stärken, namentlich durch Schaffung einer starken Zentralgewalt. Ein zentralisierter Einheitsstaat wie Frankreich darf indes Deutschland nicht werden. Es muss nach wie vor Bundesstaaten geben, es brauchen aber nicht die alten zu sein. Die kleinen thüringischen Bundesstaaten dürfen nicht mehr wiederkehren […], es müssen große, wirtschaftlich leistungsfähige Bundesstaaten geschaffen werden. Preußen braucht nicht in seinem alten Bestande erhalten zu bleiben.“ Marx hingegen erklärte in Elberfeld kategorisch und unzweideutig: „Ich bin bis heute nach wie vor gegen die Bildung dieser Republik.“267
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Zitat bei Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 37. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126; Cardauns, Carl Trimborn, 1922, S. 182. 264 Düsseldorfer Zeitung Nr. 654 v. 23. Dezember 1918. 265 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 37. 266 Manuskript Trimborns in: HAStK 1256/151, Bl. 1 – 8. Dort die nachfolgenden Zitate. 267 Zitiert nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126. 263
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Oberpräsident Prinz von Ratibor und Corvey bemerkte grundsätzlich, dass der Gedanke einer Republik Rheinland-Westfalen unter den Westfalen noch keine Verbreitung gefunden habe.268 Froberger jedoch verteidigte die Propaganda, besonders die der Kölnischen Volkszeitung („unsere Propaganda“269), für die Rheinisch-Westfälische Republik mit der Begründung, es habe herausgestellt werden sollen, dass eine Loslösung des Rheinlands aus dem Reichsverband nicht beabsichtigt werde und dass alle deutschen Parteien zur Geschlossenheit aufgerufen seien. Diese Bekundungen seien gegen die französischen Anschlusspläne gerichtet gewesen, denn die französische Führung versuche, bei den rheinischen Katholiken Sympathien für Frankreich hervorzurufen.270 An der französischen Propaganda für einen rheinischen Pufferstaat seien auch maßgeblich religiöse Organe beteiligt.271 Froberger behauptete ferner, dass die Franzosen als „Hauptmittel“ die Verbesserung der Lebensmittelversorgung benutzen würden. Dabei werde aber nur das „alte französische Ziel“ verfolgt, die Abtrennung des linken Rheinufers, „sei es als Pufferstaat oder als zur französischen Republik gehöriges Land“, zu erreichen.272 Obwohl es in der Kölnischen Volkszeitung in dem Artikel „Rheinisches Recht für rheinisches Land“273 am 4. Dezember 1918 noch lautete: „Unabänderliche Tatsachen der politischen Neugestaltung Europas lassen uns jeden als Bundesgenossen willkommen heißen, der die Berechtigung unserer Forderung versteht“, erklärte Froberger in Elberfeld: „Ich habe als Bedingung ausgesprochen, daß die Katholiken eine feierliche Erklärung abgeben müßten, daß sie keine Trennung vom Reich beabsichtigten und daß wir Katholiken am Rhein nicht allein und direkt mit den Vertretern der Entente uns in Verhandlungen einlassen könnten, sondern nur gemeinschaftlich mit den Vertretern aller Parteien.“274 Es ist wenig glaubwürdig, wenn sich Froberger am 13. Dezember 1918 nun vordergründig auf die „gemäßigte Linie“ von Adenauer und Trimborn begab, zumal die Kölnische Volkszeitung regelmäßig die Prinzipien der Reichstreue und der Legitimität negierte. So ist Köhlers Verwunderung darüber, dass die Ausführungen Frobergers nicht umgehend auf klarstellende Ablehnung seitens der anderen Teilnehmer der Besprechung stießen, nachvollziehbar.275 Dieser Umstand könnte als Indiz für die These 268
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 38. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126. 270 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126. 271 Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 114. 272 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 65. 273 KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918. 274 Zitiert nach Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 66. 275 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 66. 269
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gewertet werden, dass Froberger Mitte Dezember 1918 nach wie vor den Respekt, vielleicht sogar die Unterstützung der anwesenden Zentrumspolitiker genoss und man ihn vor dem linken preußischen Innenminister nicht bloßstellen wollte. Etwas zu weitgehend dürfte aber die Vermutung Selbachs sein, insbesondere Adenauer habe „zunehmend Vertrauen zu Froberger“ gefasst.276 Dies passt nicht zu dem politischen Taktiker Konrad Adenauer, der Froberger erst seit kurzer Zeit kannte und von seinen forschen Plänen nicht überzeugt gewesen war im Dezember 1918. Wie schon am 9. November 1918 im Kölner Rathaus, gab sich Froberger ferner als intimer Kenner der französischen Politik aus und argumentierte rein außenpolitisch. Politische oder gar „kulturkämpferische“ Spitzen gegen die Sozialisten in Berlin verbaten sich in der Anwesenheit des sozialdemokratischen Innenministers ohnehin. Darüber waren sich offenbar alle teilnehmenden Zentrumshonoratioren stillschweigend einig. Lediglich der Nationalliberale Vögler erhob heftige Vorwürfe gegen die Berliner Regierung und verwies auf den Unwillen und die Unfähigkeit der Sozialdemokraten, die Terrorherrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte nicht beenden zu wollen oder zu können.277 Tatsächlich hatte der Arbeiterrat von Mülheim an der Ruhr in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 1918 die Großindustriellen August Thyssen, Fritz Thyssen jun. und Edmund Stinnes sowie einige Direktoren verhaften lassen, weil sie angeblich in einer Versammlung die Meinung vertreten hatten, nur die ausländischen Truppen könnten die revolutionären Umtriebe wirksam bekämpfen.278 Vögler drohte, die Großindustrie werde die Abtrennungsgedanken nur dann „unterdrücken“279, falls der Rat der Volksbeauftragten imstande sei, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Breitscheid hielt der Runde entgegen, die Rheinstaatsbefürworter ereiferten sich zwar über die Volksbeauftragten und die Spartakisten gleichermaßen, böten aber selbst keinerlei Alternativen an, wie man der kommunistischen Agitation Herr werden könne. Er ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er hervorhob, dass man Luxemburg und Liebknecht „nicht einfach an die Wand stellen“ könne und man dies mit den Kölner Unabhängigkeitsbefürwortern – er nannte ausdrücklich Trimborn und Marx – ja auch nicht vorhabe, obwohl man die Resolution vom 4. Dezember 1918 juristisch vielleicht als Landesverrat „frisieren“ könne.280 Damit stand von offizieller Seite her der künftig immer wiederkehrende Vorwurf des Landes- bzw. Hochverrats281 im Raum, und man stellte die Rheinstaatsaktivisten auf eine Stufe mit den umstürzlerischen Spartakisten Luxemburg und Liebknecht. 276 Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 113. 277 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 88. 278 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 68 f. 279 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 38. 280 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 88; Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 38. 281 Zur juristischen Würdigung vgl. eingehender Kapitel B.XXII.
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Daraufhin kam es zu einer kurzen aber heftigen Auseinandersetzung mit Marx, dessen Gegenkandidat Breitscheid bei den Reichstagswahlen 1910 gewesen war, in der sich Marx über die mangelnde Differenzierung sowohl zwischen ihm und den Spartakisten als auch zwischen ihm und Trimborn erboste.282 Auffallend scharf kritisierte auch Oberbürgermeister Adenauer, den Selbach nicht zu Unrecht als „wichtigste[n] Sprecher des Rheinlandes“ einschätzt,283 die Kölner Initiative vom 4. Dezember, obwohl er im Vorfeld der Veranstaltung von Froberger und Hoeber – zumindest mit Blick auf den Ablauf der Versammlung, wenn auch nicht über den Wortlaut der Entschließung – eingeweiht gewesen sein dürfte.284 Adenauer war schließlich, wenn auch ohne sein eigenes Zutun, als möglicher Präsident einer rheinischen Republik gehandelt worden.285 Er bemühte sich nicht nur für seine Person, sondern auch für das rheinische Zentrum eine Distanz zu den Rheinstaatsaktivisten aufzubauen, denn weder er selbst noch die Mehrheit der Zentrumspartei planten die Gründung eines klerikal-katholischen „Zentrumsstaat[es]“286. Vielmehr beteuerte Adenauer gegenüber Breitscheid: „Ich selbst würde einem neuen Staatsgebilde, in welchem der Pastor und der Küster herrschten, die sozialistische Republik vorziehen.“287 Es ginge jedoch fehl, ihm mit Blick auf die Elberfelder Besprechung eine Art „Duckmäusertum“ vorzuwerfen, sondern es zeigt sich einmal mehr sein Bestreben, die Zentrumspartei nicht mit dem Projekt einer „Rheinischen Republik“ zu isolieren, sondern aktiv auf die anderen Parteien, allen voran auf die Sozialdemokratie, ein- und zuzugehen. Dennoch kann seine harsche Wortwahl in Elberfeld überraschen: „Ich bin vollständig überrascht gewesen von dem Verlauf der Versammlung am 4. Dezember. Es ist tatsächlich ein Heißsporn bei mir gewesen, mit dem Ersuchen, ich sollte mich an die Spitze der Sache stellen und die Republik proklamieren. Ich habe diesen Unsinn auf das Entschiedenste abgelehnt und dem Manne gesagt, ob er wohl meine, daß, wenn ich mich in Köln auf den Neumarkt stellte, dadurch die Republik Rheinland geschaffen werden könnte. Der Mann ging von mir, und ich nahm an, daß nun nichts passieren würde. Ich war daher ganz starr, als ich am nächsten Morgen zuerst in der Kölnischen Zeitung288 las, daß die bekannte Entschließung angenom282
Hehl, Wilhelm Marx, 1863 – 1946 (Fn. 200), S. 146. Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 113 f. 284 So auch Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126; Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 37. 285 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 3), S. 35 Fn. 15; in diese Richtung auch Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 68), S. 206. 286 Begriff nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126. 287 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 126 f. 288 Bemerkenswert hieran ist, dass der Zentrumspolitiker Adenauer auf die Lektüre der liberalen Kölnischen Zeitung verweist, also eine Morgenzeitung gegnerischer Provenienz. Selbst an solchen (vermeintlichen) Kleinigkeiten wird die „Umarmungstaktik“ Adenauers in Bezug auf die konkurrierenden Parteien deutlich. 283
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men worden sei. Ich hatte den Eindruck, wir [gemeint ist die Kölner Zentrumspartei, P.B.] seien von einer kleinen Clique überrascht worden.“289 In seiner Denkschrift von 1919 machte Adenauer erneut seine Überraschung über die Resolution deutlich und schrieb: „Ich hielt dieses Vorgehen für äußerst unklug und gefährlich. Es mußte meiner Überzeugung nach dadurch notwendigerweise bei den Nichtzentrumsanhängern der Eindruck erweckt werden, als wenn das Zentrum aus parteipolitischen Gründen die Sache betreibe. Ich hielt es im vaterländischen Interesse für meine Pflicht, einzuschreiten.“290 Die ablehnende Haltung Adenauers in Elberfeld zur Rheinstaatsidee ist Breitscheid gegenüber eindeutig. Andererseits wird man Erdmann Recht geben können, wenn er feststellt, dass für Adenauer die rheinische Bewegung ein Umstand geworden war, mit dem man rechnen musste. Der „politische Realist“ Adenauer habe die Rheinstaatsinitiative als einen solchen Umstand akzeptiert und mehr noch, er habe sich das Ziel eines westdeutschen Gliedstaates „mehr und mehr zu eigen“ gemacht.291 Erdmann ist der Auffassung, der Oberbürgermeister habe nur auf die Stunde gewartet, in der es möglich sein würde, in einer Zusammenführung der politischen Kräfte des Rheinlandes und auf legalem Wege „das Ziel zu erreichen“.292 Zu Recht hebt er hervor, dass Adenauer vor allem auf die Überparteilichkeit und Legalität des Vorhabens Wert legte. Allerdings dürfte er sich im Dezember 1918 die Rheinstaatsidee doch nicht so sehr „zu eigen gemacht“ haben, dass er bereits auf „die Stunde“ der Aktion hinarbeitete, um „das Ziel“ zu erreichen. Das Verhalten Adenauers Ende 1918 deutet auf eine reservierte Zurückhaltung und lediglich beobachtende Passivität hin. So betont auch der Zeitzeuge Brüggemann, dass Adenauer während dieser ganzen ersten Zeit der Bewegung wenig aktiv an ihr beteiligt gewesen sei.293 Jedenfalls wohlwollende, konstruktive Beiträge zur Rheinlandfrage wird man zu diesem Zeitpunkt bei ihm nicht finden. Seine Ausführungen sind jedenfalls insofern glaubhaft, als sie die Überraschung oder das Unverständnis über die hastige Dynamik und die politische Naivität der Rheinstaatsenthusiasten zum Ausdruck bringen. Mithin ist anzunehmen, dass die spontane und übereilte Resolution vom 4. Dezember 1918 in seinen Augen tatsächlich „die größte Dummheit, die überhaupt gemacht werden konnte“294 gewesen sein dürfte.
289
Zitiert nach Düsseldorfer Zeitung Nr. 655 v. 23. Dezember 1918. Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 239. 291 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 34. 292 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 34 f. 293 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 28. 294 Düsseldorfer Zeitung Nr. 655 v. 23. Dezember 1918. 290
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Im Allgemeinen war indes in Elberfeld die Front der rheinischen Politiker – zumindest mit Blick auf die innenpolitischen Argumente – gegenüber Breitscheid geschlossen. Zusammenfassend lautete der Tenor der Rheinländer: Bevor man die junge Rheinstaatsinitiative verurteile, solle die preußische Regierung zunächst die chaotischen Regierungszustände in Berlin, die radikalen Bestrebungen zur Trennung von Staat und Kirche sowie die destruktive Finanz- und Wirtschaftspolitik in den Griff bekommen. Huber fast insoweit treffend die Situation wie folgt zusammen: „Deutlich trat hier ins Licht, daß nichts die Einheit des Reichs wie die des preußischen Staats mehr gefährdete als der in Berlin herrschende Radikalismus, der nicht nur die Grundanschauungen des Bürgertums, sondern auch die der gemäßigten Mehrheitssozialisten bedrohte.“295 Breitscheid forderte zum Abschluss der Beratungen alle Beteiligten fast trotzig auf, die Entscheidungen der voraussichtlich im Januar 1919 zu wählenden Volksvertretungen abzuwarten und die Agitation einzustellen.296 Letztlich rang er sich durch, den Anwesenden zugute zu halten, dass sie sich „zum mindesten [sic!] über den Eindruck, den die Kundgebung [vom 4. Dezember, P.B.] machen mußte, im voraus nicht klar gewesen sind“.297 Mit diesem Schlusswort meinte er, die Rheinstaatspläne bereits nachhaltig konterkariert zu haben. In dem Protokoll des Preußischen Staatsministeriums zur Sitzung des Politischen Kabinetts vom 14. Dezember 1918 ist folgender Vermerk zu finden: „Nachrichten über erneute Loslösungsbestrebungen des Rheinlandes. Die Angelegenheit wird durch die […] Erklärung der preußischen Regierung gegen solche Separationsbestrebungen und die Anwesenheit Breitscheids im Rheinland für erledigt gehalten.“298 Die Annahme der preußischen Regierung, die Rheinstaatsinitiative bereits im Dezember 1918 für beendet erklären zu können, zeugt einerseits von einer gewissen Ignoranz der Berliner Sozialisten gegenüber den Verhältnissen und Stimmungen in der Rheinprovinz und andererseits davon, wie sehr man nach wie vor das demagogische Potenzial der Rheinlandbewegung unterschätzte. Offenbar deutete Breitscheid die taktische Zurückhaltung insbesondere der rheinischen Zentrumspolitiker in Elberfeld fälschlich als ein Nachgeben in der Sache. Verfassungshistorisch bedeutsam ist der Umstand, dass sich die Mehrheit der Anwesenden darauf verständigte, schnellstmöglich Wahlen zur deutschen Nationalversammlung abhalten zu wollen.299 Es zeigte sich, dass exponierte Vertreter der 295
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1134. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 88; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 127. 297 Zitat bei Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 64. 298 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817 – 1934/38, 2002, Nr. 4, S. 40. Hervorhebung im Original. 299 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 536. 296
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rheinischen Unabhängigkeit durchaus bereit waren, die Frage der Neugliederung auf konstitutionellem Wege zu lösen und die Angelegenheit zu einer gesamtdeutschen werden zu lassen. Erstmalig und dezidiert zur Sprache kam der Primat einer noch zu wählenden Nationalversammlung, auf die auch die Rheinlandbewegung Rücksicht zu nehmen habe. Am 19. Dezember 1918 fasste der Erste Reichsrätekongress auf Antrag des Kölners Haas (MSPD) eine Resolution, die sich gegen jedwede Loslösungsbestrebungen wandte, jedoch insbesondere gegen die rheinischen.300 Hierin hieß es: „Der Rätekongreß protestiert gegen alle Absonderungsbestrebungen, ganz gleich, unter welchem Vorwand sie propagiert werden. Der Kongreß erklärt, daß nur der großdeutsche, demokratische, sozialistische Einheitsstaat Gewähr dafür bietet, daß das Volk in seiner kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung zur höchsten Stufe emporgehoben werden kann.“301 In dieser dogmatischen, materialistisch-dialektischen Erklärung hielten die Arbeiter- und Soldatenräte betont an ihrem Ideal des sozialistischen Einheitsstaates fest, was sie in eine feste Frontstellung gegenüber bürgerlichen Politikern, insbesondere aber den Unabhängigkeitsbefürwortern, gebracht hat. Erneut konnten sich die Rheinstaatsanhänger in ihrem Antisozialismus bestätigt fühlen, und die politische Linke hatte früh die Chance einer Verständigung mit der Rheinlandbewegung vertan. Letztlich dürften die Interventionen der preußischen Staatsregierung sowie des ebenfalls sozialistischen Rätekongresses indessen keinen bleibenden Eindruck auf die rheinischen Spitzenpolitiker und -funktionäre gemacht haben, stand doch die territoriale Integrität Preußens von offizieller Seite her, namentlich seitens der Reichsführung, bereits zur Disposition.
VI. Die Denkschrift von Hugo Preuß und der Entwurf der künftigen Reichsverfassung vom 20. Januar 1919 Als Staatssekretär im Reichsamt des Innern war der Staatsrechtler Preuß Mitte November 1918 gebeten worden, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten.302 Ende Januar 1919 konnte der Entwurf bereits auf eine wechselvolle Entstehungsgeschichte zurückblicken.
300
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1134. Zentralrat der Sozialistischen Republik Deutschlands, Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenra¨ te Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, 1919, Sp. 283. 302 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 17. 301
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Im Dezember 1918 hatte Preuß nach intensiven Beratungen im Reichsamt des Innern, an denen auch der Soziologe Max Weber seinen Anteil hatte, einen ersten Verfassungsentwurf fertiggestellt. Hierin bereits enthalten war etwa die bekannte Konstruktion des „starken“ Reichspräsidenten, den Preuß als autokratisches Element im Gegenspiel zum ebenfalls allgemein und unmittelbar zu wählenden Reichstag ausgestaltet wissen wollte. Zugleich waren einschneidende Strukturveränderungen im Verhältnis zwischen dem Reich als Bund und den Gliedstaaten vorgesehen, nämlich ein Bundesstaat mit auffallend unitarischen Zügen. Zentraler Gedanke in Preuß‘ territorialen Plänen war die Aufteilung des übermächtigen Freistaates Preußen im Rahmen einer umfassenden Neugliederung des Reichs. Das Gebilde Preußen umfasste rund drei Fünftel der deutschen Bevölkerung und des deutschen Territoriums.303 In der Republik war die Personalunion „Deutscher Kaiser und König von Preußen“ weggefallen, so dass die hegemoniale Verzahnung des republikanischen Preußens mit dem Reich weniger stark ausgeprägt war, als es mit dem monarchischen Preußen der Fall gewesen war. Während die deutschen Binnengrenzen im Kaiserreich keinen Veränderungen unterworfen waren, wurden seit dem Ende des Kaiserreichs – insbesondere von linksliberaler Seite – immer wieder Überlegungen zu einer umfassenden Reichsreform angestellt, die im Kern auf die Zerschlagung Preußens und die Errichtung eines dezentralisierten Einheitsstaates hinausliefen.304 Ein hegemoniales Großpreußen erschien nunmehr als „dynastischer Dinosaurier“, welcher nicht recht mit dem Gedanken des demokratischen Nationalstaats nach der Revolution zu vereinbaren war. Der Historiker Friedrich Meinecke deutete die neu entstandene Situation so: „In einer großen, Deutsch-Österreich mit umfassenden deutschen Volksrepublik hat das alte Preußen, das Werk heroischer, aber geschichtlich nun überwundener Kräfte, keine Existenzberechtigung mehr. Die alte Forderung Paul Pfizers und der Achtundvierziger, die preußische Staatseinheit aufzulösen, damit die deutsche Staats- und Nationaleinheit sich ungestört entfalten könne, – sie gewinnt jetzt einen ganz neuen, ungeahnten Sinn und Wert. […] Deutschland kann sich nicht gedeihlich entfalten, wenn Großpreußen bestehen bleibt.“305 Prägnant fasst Köhler die politische Situation zum Jahreswechsel 1918/19 so zusammen: „Für die Auflösung oder, anders ausgedrückt, für die Umorganisierung dieses Staates sprach mehr als für seine Beibehaltung. Die Chance für einen halbwegs funktionierenden Föderalismus konnte nur im Falle des Verschwindens Preußens gegeben sein.“306
303
Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 67. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 70. 305 Meinecke, Politische Schriften und Reden, 1958, S. 283 und 301. Hervorhebung durch den Verf. 306 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 17. 304
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Jedoch war der Charakter der neu zu schaffenden Gliedeinheiten in dieser staatsorganisationsrechtlichen Umbruchsphase umstritten. Die Diskussion reichte von selbständigen Gliedstaaten in einem deutschen Bundesstaat über Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltungskompetenzen bis hin zu Provinzen oder bloßen Präfekturen eines zentralistischen deutschen Einheitsstaats.307 Es wurden die vielfältigsten politischen und wissenschaftlichen Vorschläge einer territorialen Neugliederung des Reiches gemacht, denen allen die besondere Betonung des Prinzips der deutschen Stämme und der daraus resultierende föderalistische Ansatz gemeinsam waren, welche als rechtshistorische Phänomene im Fortgang dieser Arbeit noch zu untersuchen sein werden.308 Insgesamt richteten sich die Reichsreformpläne, neben der Berücksichtigung der Stämme oder landschaftlicher Motive, nach den Erfordernissen von Wirtschaft und Verkehr und weniger nach verwaltungsrechtlichen Aspekten.309 Von den Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung kamen indes eher Überlegungen mit unitarischer Zielrichtung auf, die verwaltungsrechtliche Aspekte in den Vordergrund rückten. Dies entsprach auch der politischen Linie der meinungsbildenden Parteien MSPD und DDP auf Reichsebene, die föderalistischen Elemente zugunsten einer starken Zentralgewalt in Berlin klein zu halten.310 Der liberale Politiker und zeitweilige Reichsinnenminister Erich Koch-Weser (DDP) etwa trat für einen „dezentralisierten Einheitsstaat“ ein, dessen Glieder in etwa die Größe der preußischen Provinzen haben sollten.311 Demnach sollte Preußen als Gliedstaat pro forma erhalten bleiben, den einzelnen Provinzen – etwa auch dem Rheinland – sollte jedoch mehr Eigenständigkeit in Kultur und Verwaltung eingeräumt werden, was auf eine Dezentralisierung Preußens hinauslaufen musste. Im dezentralisierten Einheitsstaat sollte das Prinzip des Provinzialismus mithin gegenüber einer föderalistischen Gliederung bestimmend sein. So fasst Wolfgang Kohte die politische Stimmungslage wie folgt zusammen: „Föderalistische Vorstellungen blieben in diesen Jahren den Neugliederungsvorschlägen im allgemeinen fremd; die Föderalisten hielten an den bestehenden Ländern fest oder schwiegen zumeist, während die Tendenz der literarischen Debatte stark auf den Einheitsstaat mit einer gewissen Selbstverwaltung der Teile hinging.“312 Preuß selbst konnte sich bei seinem Verfassungsentwurf auf die Vorarbeit seines Parteifreundes Solf stützen, der seit Oktober 1918 Staatssekretär im Auswärtigen 307
Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 71. Vgl. hierzu eingehender Kapitel E.IV. und F. 309 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6 (1953), S. 185 ff. 310 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 76 f. 311 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6 (1953), S. 190. 312 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6 (1953), S. 188. 308
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Amt war. Bereits am 17. November 1918 hatte Solf dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten Ebert schriftlich vorgeschlagen, die preußischen Provinzen zu verselbständigen. Solf führte hierbei zwei Modelle einer künfigen Neugliederung aus: „1.) Reiner Unitarismus, völliges Aufgehen der gesamten Einzelstaaten im Reich. Dieser Weg wird auf entschlossenen Widerstand in Bayern, Baden, Württemberg stoßen und dort gerade jetzt gegenüber dem Ausland gefährliche partikulare Tendenzen stärken. Ein gesamtdeutscher zentralistischer Staat mit der Leitung in Berlin ist unmöglich. 2.) Es muß deshalb der Weg des Bundesstaats gegangen werden. Die Schwierigkeit für diese Lösung liegt in der Größe Preußens, in dem allein über die Hälfte der Deutschen zusammengefaßt sind. Es muß gefragt und durchdacht werden, ob nicht […] die Selbstverwaltung der preußischen Provinzen bis an die Grenze der Selbständigkeit ausgebaut, und gleichzeitig die Selbständigkeit der süddeutschen Bundesstaaten an die Grenze der Selbstverwaltung zurückgeschraubt werden soll, damit ein Bundesstaat nach amerikanischem oder schweizerischem Muster mit annähernd gleichen Gliedern, ohne Übergewicht eines einzelnen Staates entstehen kann.“313 Anknüpfend an den Gedanken der Gleichheit der Gliedstaaten, sollten statt der vielen Einzelstaaten, so der Preußsche Plan, sechzehn „Gebiete des Reichs“ gebildet werden, zu denen gegebenenfalls noch Deutschösterreich und Wien hinzutreten sollten.314 Schon am 12. November 1918 hatte die Provisorische Nationalversammlung in Wien einstimmig den Zusammenschluss der Republik Deutschösterreich mit dem Deutschen Reich beschlossen. Dies hatten jedoch die Volksbeauftragten stets abgelehnt unter Hinweis darauf, dass die territoriale Vergrößerung Deutschlands auf die Ententemächte als feindseliger Akt wirken müsse und entsprechend von ebendiesen beantwortet werden würde.315 Ursprünglich waren lediglich zwölf neu zu bildende Gebiete vorgesehen, wobei sich Preuß – mit Ausnahme der preußischen Provinz Sachsen – an den Grenzen der alten Bundesstaaten, der preußischen Provinzen sowie der Regierungsbezirke orientierte. Die norddeutschen Kleinstaaten sollten an die angrenzenden preußischen Provinzen angeschlossen werden.316 Jedenfalls auf den ersten Blick wirken diese Reichsneugliederungspläne geradezu revolutionär und gleichzeitig wird deutlich, in welchem geistigen Klima und unter welchen Bedingungen – und das nicht nur auf die Rheinprovinz bezogen – die Rheinstaatsfrage mehr und mehr akut werden konnte. Die Gedankenspiele zur Neugliederung des Reichs waren das Ergebnis theoretischer Erörterungen, die das gesamte Reichsgebiet berücksichtigten. Gleichwohl weist Schlemmer darauf hin, dass die verschiedenen regionalen Eigenbestrebungen, die lediglich eine entsprechend begrenzte Perspektive einnahmen, nicht mit den reichsweiten Plänen zur 313 314 315 316
Wiedergegeben bei Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 72. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 18. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 66. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 72.
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Staatsreform vermengt werden dürften.317 Er meint, da die meisten regionalen Selbständigkeitsbestrebungen zeitlich vor den Überlegungen zur territorialen Neugliederung auf Reichsebene eingesetzt hätten, könnten erstere nicht als Resultat der Reichsreformdebatte betrachtet werden.318 Und dennoch ist das Aufkommen einzelner Unabhängigkeitsbestrebungen, welche Motive auch immer federführend gewesen sein mögen, in diesem spezifischen historischen Kontext der staatsrechtlichen Unsicherheit zu sehen. Es erscheint müßig, sich Gedanken darüber zu machen, welche Begebenheit zuerst eingetreten ist und welche die jeweils andere bedingt haben mag. Zentral ist, was Schlemmer nur beiläufig erwähnt, die wechselseitige „Durchdringung und Beeinflussung“319 von regionalen Initiativen und Reichsreformplänen. Diese Beobachtung ist entscheidend für das Verständnis dafür, dass die rheinischen Selbständigkeitsbestrebungen ein Phänomen der kurzen Umbruchsphase nach dem Ersten Weltkrieg waren, in der jedenfalls kein politisch konsolidiertes deutsches Staatswesen existierte. Insofern ist die Initiative hin zu einer rheinischen Unabhängigkeit und die Parole „Los von Preußen“ im Trend des Jahreswechsels 1918/19 zu betrachten und zu würdigen. So kann es nicht überraschen, dass Ebert im Rat der Volksbeauftragten einen engen Zusammenhang zwischen einzelnen Selbständigkeitsbestrebungen, der Territorialreform auf Reichsebene sowie der noch zu installierenden Nationalversammlung bereits Ende Dezember 1918 erkennen konnte: „Wenn die bisherigen Bundesstaaten weiter in der Größe wie jetzt bestehen bleiben sollen, dann werden wir vor dem Volke nicht bestehen können. Die Bestrebungen auf Schaffung einer Republik im Rheinland, in Westfalen, in Hannover und Schlesien werden jetzt von bürgerlichen Kreisen getragen. Wenn diese separatistischen [sic!] Bestrebungen durch die Nationalversammlung gefördert werden sollen, müssen wir das vorher wissen, damit wir uns dann an die Spitze der Bewegung stellen können.“320 Schlemmer hält seine methodisch getrennte Betrachtung von Reichsreformdiskussion und regionalen Initiativen selbst nicht konsequent durch, wenn er einige Seiten weiter ausführt: „Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die Befürworter einer rheinischen Autonomie mit dem Verdikt des Hoch- und Landesverrats belegt wurden, während Pläne von anderer Seite, die eine vollkommene Beseitigung des bisherigen preußischen Staates vorsahen, von derartigen Vorwürfen weitgehend verschont blieben.“321 Der tiefere Sinn der territorialen Neugliederung des Reiches, wie er vor allem von Preuß immer wieder betont wurde, bestand indes gerade in der Stärkung der na317 318 319 320
S. 23. 321
Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 71. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 71 f. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 72. Zitat bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 73.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
tionalen Einheit.322 Zwar wurde die Aufspaltung Preußens allgemein erwogen, ein eigenmächtiges Vorgehen am Rhein wäre dem Gedanken der Reichseinheit jedoch zuwidergelaufen und hätte den partikularistischen und separatistischen Bewegungen in West- und Ostpreußen, Posen, Oberschlesien und Bayern Auftrieb gegeben. Doch nicht nur liberale Ministerialbeamte des Reichs erwogen die Auflösung Preußens als Großstaat. So stellte der konservative Oberpräsident der Provinz Ostpreußen, Adolf von Batocki, in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 10. Dezember 1918 die grundlegende Frage: „Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?“323. Er stellte fest, dass dem preußischen Staatsverband weder die Integration der Polen, noch die der Rheinländer gelungen war und weiterhin ein innerer Gegensatz zwischen den westlichen Neu- und den östlichen Altprovinzen zu verzeichnen sei. Preußen habe sich zwar die Achtung der Rheinländer verschafft, niemals jedoch deren „Zuneigung“. Schließlich sei mit dem Ende der HohenzollernDynastie zuletzt das einigende Band weggefallen, so dass von Batocki zu dem erstaunlich unverblümten Fazit kam: „Die Bestrebungen, Rheinland von Preußen abzutrennen und zum selbständigen Glied des Deutschen Reiches zu machen, sind sachlich berechtigt. Sie werden ohne Zweifel bei den anderen selbständigen preußischen Kultur- und Wirtschaftsgebieten Nachahmung finden.“ Auch wenn der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen unter den preußischen Staatsmännern mit dieser Meinung in der Minderheit gewesen sein dürfte, so zeigt sich jedoch auch von dieser Seite her, dass der Bestand des übermächtigen Preußens keineswegs als sakrosankt betrachtet worden ist – auch nicht von preußischen Bürokraten selbst. Gleichzeitig ist diese Beobachtung geeignet, den revolutionären Impetus der regionalen Selbständigkeitsbestrebungen im Übergangsjahr 1918/19 zu relativieren. Der von Preuß vorgestellte Verfassungsentwurf vom 20. Januar 1919 sah mit § 11 einen legalen Weg hin zu einem dezentralisierten deutschen Einheitsstaat vor.324 Das 322
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung, 1922, Vorwort. Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 627 v. 10. Dezember 1918. 324 § 11 des Entwurfs des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung (WRV-Entwurf I): Abs. 1: Dem deutschen Volke steht es frei, ohne Rücksicht auf die bisherigen Landesgrenzen neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten, soweit die Stammesart der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Verhältnisse und geschichtlichen Beziehungen die Bildung solcher Staaten nahelegen. Neu errichtete Freistaaten sollen mindestens 2 Millionen Einwohner umfassen. Abs. 2: Die Vereinigung mehrerer Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat geschieht durch Staatsvertrag zwischen ihnen, der der Zustimmung der Volksvertretungen und der Reichsregierung bedarf. Abs. 3: Will sich die Bevölkerung eines Landesteils aus dem bisherigen Staatsverbande loslösen, um sich mit einem oder mehreren anderen deutschen Freistaaten zu vereinigen oder einen selbständigen Freistaat innerhalb des Reichs zu bilden, so bedarf es hierzu einer Volksabstimmung. Die Volksabstimmung wird auf Antrag der zuständigen Landesregierung oder der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel 323
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staatsorganisationsrechtliche Instrument war hierbei die Volksabstimmung, die zwar von Reichs wegen angeordnet werden, aber auf der Grundlage von Initiativen der betreffenden Bevölkerungen selbst fußen sollte. Entweder sollte die Volksabstimmung von der jeweiligen Landesregierung – das war jedoch im Falle Preußens nicht zu erwarten – oder von „der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel der unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen“ beantragt werden, was im Rheinland denkbar erschien. Das plebiszitäre Element, also die Neuordnung „von unten“ her, hat Preuß im Folgenden immer wieder besonders betont, so etwa auf einer Konferenz der Länderregierungen am 25. Januar 1919: „Es entspricht nicht dem Geiste, der jetzt herrschen soll, daß wir von oben her etwa die Karte Deutschlands vornehmen und mit Rotstift die Grenzen der neuen Territorien ziehen. Wir stehen auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung nicht nur der Völker, sondern auch der Volksteile. Die Umgruppierung muß aus der Initiative der Bevölkerung selbst hervorgehen.“325 Das politische Schicksal der einzelnen Provinzen hätte demnach nicht von dem Votum der gesamten preußischen Bevölkerung oder ihrer Repräsentanten abgehangen, sondern wäre eher regional und basisdemokratisch entschieden worden. Auf Anweisung der Volksbeauftragten musste Preuß sein Konzept indes in zwei wichtigen Punkten ändern: Zum einen wurde ein knapper Grundrechtskatalog hinzugefügt und zweitens – für diese Arbeit bedeutsamer – wurde der konkrete Neugliederungsvorschlag ersetzt durch eine vage Klausel, die die Neugliederung für eine unbestimmte Zukunft vorbehielt. Im Rat der Volksbeauftragten stieß Preuß insbesondere in der Frage der Aufspaltung Preußens auf Widerstand, und nur Ebert unterstützte seinen Plan der territorialen Neugliederung.326 Entgegen der eigentlichen sozialdemokratischen Doktrin, wandten sich die Volksbeauftragten auch gegen den „scharf zentralistischen Staatsaufbau“327 Preußscher Prägung, denn die neuen Länderregierungen wurden überwiegend aus MSPD und USPD gebildet und diese Gubernativebene stand zentralistischen Gedankenspielen naturgemäß skeptisch gegenüber. Die geplante Aufteilung Preußens wurde nicht zuletzt durch die im Jahreswechsel verstärkt einsetzende Rheinstaatsbewegung konterkariert, denn in Berlin wollte man Preußen als eine starke Klammer zwischen dem Osten, in dem es ebensolche Loslösungsbewegungen gab, und dem Westen des Reiches erhalten. Der sozialdemoder unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen, von der Reichsregierung angeordnet und von den zuständigen Landesbehörden durchgeführt. Abs. 4: Entstehen bei der Zerlegung oder Vereinigung deutscher Freistaaten Streitigkeiten über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Vgl. zum Verfassungsentwurf eingehender Kapitel F.II. 325 Preuß/Anschütz, Reich und Länder, 1928, S. 167. 326 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 66. 327 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 66.
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kratische Ministerpräsident Preußens Paul Hirsch äußerte sich am 25. Januar 1919 im Rahmen der besagten Konferenz der Einzelstaatsregierungen dahingehend, dass Preußen als Staat bestehen bleiben müsse, damit sich nicht der konfessionelle Gegensatz bis hin zu der Gründung eigener Republiken im Westen und Osten zuspitze. Eine „Kleinstaaterei“ diene letztlich nur den französischen Interessen an einem schwachen Deutschen Reich.328 Damit ist erneut das wohl „stärkste Argument“329 der Rheinstaatsgegner prägnant zusammengefasst, nämlich die Sorge um die drohende Gefährdung der Reichsintegrität von außen her, indem man das „Bollwerk“ Preußen „schwächt“. Preuß selbst führte daraufhin aus: „Meine Denkschrift setzt die Gründe auseinander, aus denen ich glaube, daß mit der republikanischen Staatsform Deutschlands ein Einheitsstaat Preußen nicht vereinbar ist. Die Erörterungen der letzten Tage haben mir nur Anlaß gegeben, das doppelt und dreifach zu unterstreichen. Gerade, wenn wir sehen, daß eine vollkommene Neigung aller deutschen Einzelstaaten zu einer schärferen Konzentration des Reiches nicht in dem Maße vorhanden ist, wie man es nach der Revolution hätte erwarten sollen, ist es umso gefährlicher, den Widersinn, der in der Existenz des Großstaates Preußen liegt, aufrechtzuerhalten. Man komme mir auch nicht mit dem Argument: gerade dann ist Preußen das Rückgrat des Reiches, das es zusammenhält. Das war es. Das alte königliche Preußen war vielfach Schirm und Hort Deutschlands. Es ist zerbrochen; es hat nicht mehr die Macht, dieses Rückgrat zu bilden. Umso wichtiger ist, daß das Reich der Erbe dieser preußischen Hegemonie wird; und dem steht die Existenz des preußischen Großstaates mit 4/7 des Ganzen als unübersteigliches Hindernis im Wege. Daß die preußische Staatsregierung anderer Meinung ist, habe ich nie bezweifelt. Wenn soziale Gruppen wirklich nie Selbstmord begehen, Behörden noch viel weniger!“330 Es ist dem bis dato uneinheitlichen Auftreten der Rheinstaatsbewegung geschuldet, dass man noch mit keinem konsistenten politischen oder gar staatsorganisatorischen Programm an die Öffentlichkeit gegangen war und niemand die neue Erscheinung im Westen des Reiches einzuordnen vermochte. Hinter den Einwänden der Volksbeauftragten und der preußischen Regierung gegen die Neugliederungspläne des der Rheinstaatsinitiative an sich fernstehenden Preuß stand nicht zuletzt die Angst, eine mögliche Abspaltung der Rheinprovinz von Preußen werde nur der erste Schritt zu einer Loslösung vom Reich sein, worauf Winkler zutreffend hinweist.331 Als der Verfassungsentwurf am 20. Januar 1919 veröffentlicht worden war, erzwangen die Regierungen der Gliedstaaten aufgrund des unitarischen Gepräges des neuen Bundes weitere Modifikationen im Reich-Länder-Verhältnis. Preuß setzte 328 329
S. 21.
Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 66 f. So auch Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8),
330 Zitat bei Düwell, Der Umbruch in Staat, Gesellschaft und Kirche 1918/19, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 51 (2002), S. 130. 331 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 67.
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fortan darauf, dass die direkt gewählte Nationalversammlung den Ambitionen der Einzelstaaten entschieden entgegentreten werde.332
VII. Die Großkundgebung des „Freiheitsbundes der deutschen Rheinlande“ vom 29. Januar 1919 Bereits am 16. November 1918 hatte der Kreis um die Kölnische Volkszeitung einen überparteilichen „Bund zum Schutz der rheinischen Freiheit“ gegründet, der schnell Ortsgruppen in vielen Städten des Rheinlandes einrichten konnte und es zunächst tatsächlich schaffte, Mitglieder unterschiedlicher parteipolitischer Provenienz anzuziehen.333 Ursprünglich war auch diese Initiative zunächst von der Zentrumspartei aufgegriffen worden, die auf einer Versammlung Stellung zu den Waffenstillstandsbedingungen bezogen und vor den Konsequenzen für die religiöse, kulturelle und politische Zukunft des Rheinlandes gewarnt hatte. Der Zentrumspolitiker und ehemalige Reichstagsabgeordnete Karl-Joseph Kuckhoff wurde kommissarischer Leiter des Bundes.334 Er sollte für die weitere Entwicklung der Rheinstaatsbewegung eine wichtige Rolle spielen. Kuckhoff wurde 1878 in Köln geboren, besuchte das Gymnasium in Andernach und Arnsberg und studierte im Anschluss an der Universität Bonn. Im Jahr 1903 wurde er Kandidat für das höhere Schulamt und er verbrachte ein Seminarjahr in Bonn sowie ein Probejahr in Wipperfürth. Dort wurde er 1905 zum Oberlehrer ernannt, bevor er 1907 an das Königliche Gymnasium in Essen wechselte. Dennoch hielt er Kontakt zu den Kölner Zentrumskreisen, denn von Januar 1912 bis November 1918 war Kuckhoff Mitglied des Reichstags für den Wahlbezirk Köln-Land und im Frühjahr 1919 zog er in die verfassunggebende Preußische Landesversammlung ein.335 Reimer vermutet, dass der Bund vehement Mitglieder auch anderer Parteien anwarb, „um von dem Zentrumscharakter abzulenken“.336 Pointierter formuliert es erneut der Liberale Brüggemann: „Auf jeden Fall ist die Anregung auch zu dieser Gründung [des Bundes zum Schutz der rheinischen Freiheit, P.B.] zunächst aus reinen Zentrumskreisen hervorgegangen, die es dann für opportun hielten, einige Männer ,aus anderen politischen Parteien‘ mit heranzuziehen.“337 So gehörten dem Vorstand neben Karl Hoeber auch der Gründungsrektor der Kölner Universität, Professor Christian Eckert, und der Sozialdemokrat Meerfeld 332 333 334 335 336 337
Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 19. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 89. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 90 f. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21.
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an.338 Dadurch ergab sich jedoch eine schwer zu kontrollierende Heterogenität, so dass die aufkommende Rheinstaatsbewegung von Anfang an vielschichtig geblieben ist und unterschiedliche Vorstellungen über die Ausgestaltung eines rheinischen Staatswesens nur schwer zu koordinieren waren. So hatte etwa die DDP gezielt dafür geworben, den Bund durch den Beitritt ihrer Parteimitglieder im Sinne des Bestands des preußischen Staates in seiner damaligen Form zu majorisieren.339 Zunächst sei in der DDP vor dem Beitritt gewarnt worden, dann aber habe man geradezu „Stimmung gemacht, in den Bund einzutreten, um den Drahtziehern das Konzept zu verderben“.340 Es wurden jedoch nicht alle Beitrittswilligen in den Bund aufgenommen: Etwa wurde der rechtsradikale, militaristische „Kreiskriegerverband Köln-Stadt“ abgelehnt, da er aufgrund seiner Vergangenheit zu sehr „belastet“ sei.341 Durch den Beitritt vieler Mitglieder vor allem der DDP und der SPD gelang es den Loslösungsbefürwortern der Kölnischen Volkszeitung und des Kölner Zentrums in der Folgezeit nicht, den „Bund zum Schutz der rheinischen Freiheit“ zu einem politischen Instrument zur Verwirklichung ihrer spezifischen Vorstellungen zu machen. So kam es, dass sich der Bund bereits am 27. November 1918 den zurückhaltenderen, unverfänglichen Namen „Freiheitsbund der deutschen Rheinlande“ gab. Während „Bund zum Schutz der rheinischen Freiheit“ eine trotzige, kämpferische Haltung gegenüber jedermann außerhalb des Rheinlands selbst – gedacht war in erster Linie an Frankreich und Preußen – zum Ausdruck bringen sollte, betonte das Etikett „Freiheitsbund der deutschen Rheinlande“ die Zugehörigkeit der rheinischen Gebiete zum Deutschen Reich und richtete sich vielmehr gegen die vermeintlichen französischen Annexionsabsichten. Als Aufgabe des Freiheitsbundes wurde die Wahrung und Verteidigung des Deutschtums auf überparteilicher Grundlage in den linksrheinischen Gebieten festgelegt.342 Es ist Schlemmer zu widersprechen, wenn er pauschal feststellt, dass der Freiheitsbund ab Ende November 1918 in der Bedeutungslosigkeit versunken sei.343 Zwar ist zuzugeben, dass der Bund mit der Ablehnung der Resolution vom 4. Dezember 1918 durch alle anderen Parteien außer dem Zentrum als parteiübergreifende Organisation keine Zukunft mehr hatte, da sich vor allem Linksliberale und Sozialdemokraten aus dem Freiheitsbund zurückzogen.344
338
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 80. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 89. 340 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21. 341 Kölner Tageblatt Nr. 464 v. 14. Dezember 1918. 342 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79 f.; so auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21, der die „Betonung des deutschen Charakters“ des Freiheitsbundes anspricht. 343 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 89. 344 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 84. 339
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Bereits auf der ersten öffentlichen Kundgebung des „Freiheitsbunds der deutschen Rheinlande“ am 5. Dezember 1918 hatte Meerfeld die bisherigen Rheinstaatsbestrebungen scharf kritisiert und die weitere Sinnhaftigkeit des Bundes in Frage gestellt.345 Der Wunsch nach einer rheinischen Republik wurde als „Verrat an der deutschen Volkseinheit“346 gewertet, und der Kölner Stadtverordnete Haas (MSPD) kritisierte, dass der neue Rheinstaat wohl nur im Interesse der klerikalkapitalistischen Urheber des Freiheitsbundes gestaltet werden solle.347 Brüggemann ist zuzustimmen, wenn er kritisch festhält: „In der Folge sollte sich erweisen, daß dieser Bund, der als Schrittmacher der politischen Sonderbestrebungen im Rheinland von den treibenden Zentrumskreisen gedacht war, sich zu diesem Zwecke nicht mehr verwenden ließ.“348 Dieser faktische Rückzug der anderen politischen Parteien verhinderte jedoch nicht, dass die Rheinstaatsfrage im Januar 1919 als Richtungsstreit innerhalb des Freiheitsbundes erneut ausgetragen wurde. Nunmehr sahen die Gegner eines von Preußen unabhängigen Rheinstaates – allen voran die Sozialdemokraten – den Bund als ein Mittel an, eine gerüchteweise kursierende Rheinstaatsproklamation zu unterbinden oder wenigstens zu behindern. Offenbar beeindruckt von neuen, bedrohlichen Nachrichten über die französische Politik, hatten sich Vertreter von DDP und SPD dem Freiheitsbund Anfang 1919 schrittweise wieder angenähert.349 Seine ursprüngliche antifranzösische, „treudeutsche“ Zielrichtung war wieder aktuell geworden. Man wird nicht mit Köhler behaupten können, dass der Monat Januar im Rheinland insgesamt ruhig verlaufen sei. Man hatte lediglich mit Blick auf die am 19. bzw. 26. Januar 1919 anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung und zur Preußischen Landesversammlung weniger Parteiagitation für die rheinische Frage betrieben. Dies galt besonders für die Zentrumspartei, da man hier keine der Rheinstaatsidee ablehnend gegenüberstehenden Wähler verprellen wollte.350 Unterdessen waren französische Planungen für die Zukunft des besetzten Rheinlands bekannt geworden. So hatte am 10. Januar 1919 Marschall Ferdinand Foch angeregt, man möge einen oder gleich mehrere deutsche Staaten im besetzten Gebiet bilden, die dann mit Frankreich in einer Wirtschafts- und Zollunion verbunden werden sollten.351 Auch innenpolitisch waren die Pläne für ein selbständiges Rheinland erneut öffentlichkeitswirksam auf die Tagesordnung gesetzt worden. Am 19. Januar 1919 hatte sich in Aachen um den Frauenarzt Gustav Vogel und den Regierungssekretär 345
KV Nr. 955 v. 6. Dezember 1918. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 83. 347 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 83. 348 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21. 349 So auch Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 210. 350 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 47. 351 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 69; Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 209. 346
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Edmund Mönikes ein „Aachener Ausschuss zur Förderung der Bildung einer selbständigen Rheinisch-Westfälischen Republik im Verband des Deutschen Reiches“ gegründet, der im Folgenden eigenständig eine Proklamation plante.352 Bereits seit dem 10. Januar 1919 existierte dort auch ein Verein „Rheinisch-Westfälische Republik“, der im Februar 1919 etwa 150 Mitglieder gehabt haben soll.353 Auf einer Großkundgebung des Freiheitsbundes am 29. Januar 1919 im Kölner Gürzenich wurde deutlich, dass die Ausrufung eines vom Reichsverband losgelösten Rheinlandes durch die Franzosen, unterstützt gerüchteweise durch deutsche Aktivisten, massive Gegenreaktionen von Gewerkschaften und Sozialdemokratie nach sich ziehen würde.354 Die weit überwiegende Mehrheit der Rheinstaatsbefürworter ging denn auch auf die Verlockungen der französischen Besatzer nicht ein und stand fest zu einer Rheinischen Republik als Teil des deutschen Bundesstaates. Trimborn reagierte in seiner Rede auf die Äußerungen des Marschalls Foch mit Ablehnung und betonte, dass die Rheinlande degradiert würden zu „einem ohnmächtigen Pufferstaat […] in dem unser Deutschtum, unser Wirtschaftsleben, unsere blühende rheinische Kultur verelenden wird“.355 Die Franzosen müssten, so Trimborn, „uns unsere volle politische Freiheit [lassen] und insbesondere uns als Glied eines neuen deutschen Staatswesens [anerkennen]“. Ausdrücklich bezog er sich auf das von US-Präsident Wilson in seinen Vierzehn Punkten proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker: „Immer wieder müssen wir unser gutes Recht betonen, das Recht eines mündigen Volkes, sein politisches Geschick selbst zu bestimmen und mit allem Nachdruck für seine Stammeszugehörigkeit Zeugnis abzulegen […]. Wenn Völker wie dem polnischen, tschechischen, slowakischen und vielen anderen dieses Recht von den Alliierten zugebilligt wird, […] dann kann dieses Recht dem rheinischen Volke von 8 Millionen mit seiner uralten und glänzenden Kultur, mit seiner blühenden Wirtschaftsorganisation, nicht versagt werden. Würde es geschehen, so würde man die schlimmste Irredenta schaffen, die es je gegeben hat. Niemals würden wir uns bei einem solchen Zustande beruhigen.“ Gemeinsam mit den Vertretern von MSPD, DDP und Zentrum wurde schließlich eine Resolution verabschiedet, die jegliche Abtrennung des Rheinlands von Deutschland mit aller Entschiedenheit ablehnte.356 Somit musste jedem klar geworden sein, dass sämtliche relevanten politischen Parteien ausschließlich für den Verbleib des Rheinlandes im Reichsverband eintraten und eine auch nur tatsächliche Annäherung an Frankreich ausgeschlossen war. Dies bedeutete auch eine Absage an 352
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 102. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 108. 354 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 104. 355 Eigenhändiges Manuskript Trimborns in: HAStK 1256/303, Bl. 35 – 66. Dort ebenso die nachfolgenden Zitate. 356 Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 210. 353
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vermeintliche und diffuse sonderbündlerische bzw. separatistische Tendenzen innerhalb der Rheinlandbewegung, insbesondere pro futuro. Aufgetreten waren separatistische Strömungen nämlich noch nicht. Es war nicht viel mehr als ein Gerücht, wonach man mit dem Bekanntwerden der französischen Rheinpläne annahm, dieses weitgehende Loslösungsvorhaben könnte innerhalb der rheinländischen Bevölkerung auf offene Ohren treffen. Der Gedanke der Separation vom Deutschen Reich blieb den Rheinländern indes fremd, jedenfalls lassen sich hierfür zu Beginn des Jahres 1919 keine Belege finden. Ungeklärt blieb jedoch Ende Januar 1919, ob eine baldige oder gar sofortige Konstituierung des Rheinstaates als neuer deutscher Gliedstaat angestrebt werden sollte. Im Wahlkampf anlässlich der Wahl zur Nationalversammlung unterstrich Trimborn seinen Standpunkt erneut: „Die bisherige Vorherrschaft Preußens in Deutschland ist erledigt. […] Ich bin Anhänger der rheinischen Republik, aber am Reich müssen wir bleiben. Die Bürger aller Parteien müssen an der Erreichung dieses Zieles mitarbeiten.“357 Neben der erneuten Betonung der Überparteilichkeit der Rheinstaatsinitiative ist besonders Trimborns Formulierung bemerkenswert, eine rheinische Republik müsse „am Reich“ bleiben und nicht etwa „im Reich“ (ver-)bleiben. Dies konnte in der Tat auf die Vorstellung hindeuten, das Rheinland sei bereits natürlicherweise unabhängig, wenn nicht gar originär souverän, und schließe sich (lediglich) an den Rest des Reichsgebietes an bzw. bleibe dort angeschlossen. Hier scheint ein Bild des Nebeneinanders und nicht das eines Mit- oder sogar Ineinanders entworfen zu sein, bei dem das Reich als Gebietskörperschaft im Sinne eines dreigliedrigen Staatsbegriffs, praktisch das übergeordnete, einheitsstiftende Ganze, in den Hintergrund tritt und man könnte geneigt sein, anzunehmen, dass hier das deutsche Staatsgebilde eher als Staatenbund denn als Bundesstaat beschrieben wird. Überzeugender dürfte es jedoch sein, die Formulierung „am Reich“ nicht inhaltlich überzubewerten und sonderbündlerische Absicht hineinzulesen, sondern lediglich von einem etwas altertümlichen Sprachgebrauch Trimborns auszugehen. Mit Blick auf den Preußschen Entwurf einer künftigen Reichsverfassung und die tatsächlich avisierte staatsrechtliche Auflösung Preußens nämlich gab Trimborn in derselben Rede bekannt, dass „heute schon die Berliner Regierung mit der Umwandlung der bundesstaatlichen Einrichtungen befasst“ sei. Damit verweist Trimborn auf seine ausschließliche Orientierung am Bundesstaatsmodell. Es war ab Ende Januar 1919 gerade diese föderalistische Lösung der Rheinstaatsfrage, die unter den Vertretern der größten deutschen wie rheinischen Parteien und später in den politischen Gremien diskutiert werden sollte. Damit deutete sich an, dass gleichzeitig sämtliche separatistischen Ansätze, waren sie auch nicht real sondern lediglich eine Projektion, zu einer Arbeit im politischen Untergrund ver357 Rede in Bonn vom 18. Januar 1919, abgedruckt in Deutsche Reichszeitung Nr. 18 v. 18. Januar 1919. Hier auch das nachfolgende Zitat.
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dammt sein würden – wenn nicht gar im politischen „Niemandsland“ – und auf sonderbündlerisches Sektierertum verwiesen sein mussten. Nachdrücklich war dem Separatismus von namhaften Protagonisten der Rheinstaatsbewegung eine Absage erteilt worden.
VIII. Die Bildung des „Westdeutschen Politischen Ausschusses“ vom 1. Februar 1919 Für den 1. Februar 1919 hatte Adenauer alle gerade gewählten rheinischen Abgeordneten der Nationalversammlung und der Landesversammlung sowie eine Reihe rheinischer Oberbürgermeister nach Köln eingeladen. Offenbar sollte es sich ursprünglich um eine Art programmatische Vorbesprechung handeln, bevor die Abgeordneten zu den Konstituierungen der jeweiligen verfassunggebenden Versammlungen nach Weimar bzw. Berlin reisen würden.358 Hans-Peter Schwarz sieht jedoch die treibende Ursache für die Einladung Adenauers ganz deutlich: „Einflußnahme auf die rheinischen Abgeordneten der Konstituante und damit auf diese selbst, um das Vorhaben eines Westdeutschen Bundesstaates im vorgesehenen Verfahren in Gang zu bringen.“359 Von den 84 eingeladenen Abgeordneten nahmen 65 an der Versammlung teil; außerdem der Vorsitzende des Provinzialausschusses der Rheinprovinz, Otto Graf Beissel von Gymnich.360 Von den Rheinstaatsaktivisten aus der Gruppe um die Redaktion der Kölnischen Volkszeitung nahm bis auf Oberpfarrer Kastert, der ein Mandat für die Preußische Landesversammlung erlangt hatte, niemand an der Versammlung teil, da sie überwiegend keine Mandatsträger waren. Obwohl diese Versammlung unter dem Vorsitz Adenauers letztlich zur Bildung des „Westdeutschen Politischen Ausschusses“ führte, hatte der Kölner Oberbürgermeister jedoch ausschließlich Vertreter des besetzten linksrheinischen Gebietes eingeladen, also nicht solche der gesamten Rheinprovinz.361 Dieses Vorgehen führte prompt dazu, dass die Ablehnung eines westdeutschen Staates bei den Politikern östlich des Rheins, vor allem im Ruhrgebiet, wuchs und sie sich unter der Führung des parteilosen Essener Oberbürgermeisters und späteren Reichskanzlers Hans Luther verstärkt zu Wort meldeten.362 So wurde ein Dreierausschuss aus Luther und den Oberbürgermeistern Ernst Eichhoff (Dortmund) und Karl Jarres (Duisburg) gegründet, der fortan als Ansprechpartner des Ruhrreviers in 358 359 360 361 362
Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 54. Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952 (Fn. 2), S. 219. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 105. Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 6. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 54.
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der Frage des westdeutschen Staates gelten sollte.363 Dieser Ausschuss von Gemeindevorstehern umfasste später neun und am Ende zwölf Personen, jedoch nur solche aus dem Ruhrgebiet.364 Am 6. Februar 1919 bezeichneten sie die Kölner Initiative als „Bluff“ und behaupteten, dass diese Bestrebungen gegen die Industrieinteressen des Reviers gerichtet seien.365 Bereits Anfang Dezember 1918 hatte Adenauer eine eher informelle „politische Kommission“366 eingerichtet, die paritätisch aus je drei Vertretern des Zentrums, der Liberalen und der Sozialdemokraten bestand, und so einen institutionellen Rahmen für die weiteren Besprechungen der Rheinlandfrage mit den wichtigsten Parteipolitikern geschaffen. Köhler bemerkt richtigerweise, dass hiermit zugleich eine politische Legitimation vermittelt worden sei, die es erlaubte, die Rheinstaatsdiskussion führen zu können, ohne dass diese Thematik sofort als „klerikale Machenschaft des Zentrums verteufelt werden konnte“.367 Diese Kommission hatte unter der Federführung Adenauers einen Resolutionsentwurf ausgearbeitet, den Adenauer durch den neu zu bildenden Ausschuss behandeln und beschließen lassen wollte. Am 28. Januar 1919 wurde dieser interfraktionelle Ausschuss jedoch mit Blick auf die bevorstehende Parlamentarierversammlung aufgelöst und es wurde beschlossen, ein Nachfolgegremium einzurichten.368 Daneben hatte sich am 7. Januar 1919 in Köln auf Initiative des Bankiers Johann Heinrich von Stein hin ein sogenannter „Wirtschaftlicher Ausschuss“ zusammengefunden, dessen Vorsitz Adenauer ebenfalls übernahm. Huber weist zutreffend darauf hin, dass Adenauer somit „die weitgehende Kontrolle über die rheinische Bewegung, soweit sie von Angehörigen der Zentrumspartei ausging“, ausübte.369 An der Gründung hatten sich etwa 30 führende Persönlichkeiten der rheinischen Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Presse beteiligt.370 Bereits mit Blick auf dieses Gremium geht Huber davon aus, dass es einen „scharfen Gegensatz“ zwischen den Anhängern einer sofortigen, widerrechtlichen Sezession, die sowohl die Reichsregierung als auch die Nationalversammlung vor vollendete Tatsachen gestellt hätte, und den gemäßigten Rheinstaatsanhängern, die eine rheinische Selbständigkeit auf konstitutionellem Wege anstrebten, gegeben habe.371 Es erscheint jedoch wenig wahrscheinlich, dass sich gerade in diesem Zirkel die spätere Spaltung der Rheinlandbewegung angedeutet haben soll. 363 364 365 366 367 368 369 370 371
Rheinische Zeitung Nr. 354 v. 3. Februar 1919. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 113. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 52. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 40. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 40. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 103. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 35. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135.
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Die Zusammenkunft vom 7. Januar 1919 wurde bestimmt von bürgerlichen Politikern, überwiegend des Zentrums und der DDP, zudem von Vertretern der diese unterstützenden Presse. Es ist kaum denkbar, dass gerade das rheinische politische Establishment der anstehenden Bildung der Nationalversammlung derart schroff und zudem widerrechtlich vorgegriffen hätte. Vielmehr konzentrierten sich die Hoffnungen der Rheinstaatsbefürworter zu diesem Zeitpunkt auf die anstehende Verfassunggebung, um den rheinischen Gliedstaat zu verwirklichen. Sonderbündler wird man unter ihnen nicht gefunden haben. Hubers Bewertung der Situation Anfang Januar 1919 ist damit als ahistorisch zurückzuweisen, zumal er selbst keine Belege für seine These anführen kann. Im Vorfeld des Februar-Treffens konnte Adenauer auch in diesem Fall die Zustimmung sowie die Selbstauflösung des Wirtschaftlichen Ausschusses erreichen.372 Mit der Bildung des Westdeutschen Politischen Ausschusses konnten die bisherigen Gremien abgelöst und der Diskurs um die Rheinstaatsfrage sollte bei diesem überparteilichen Ausschuss zentralisiert werden. Laut Reimer sollte der „Wildwuchs der immer mehr ausufernden Rheinstaatsbewegung“ unterbunden werden und zwar zugunsten der „gewählten Volksvertreter“.373 Adenauer hielt an seinem einmal eingeschlagenen, legalistisch-parlamentarischen Kurs in der Rheinstaatsdebatte fest. Auf Vorschlag Trimborns wurde Adenauer zum Versammlungsleiter gewählt und gleich zu Beginn betonte der Kölner Oberbürgermeister, dass diese Versammlung streng vertraulich sein sollte und nur die allgemeine Resolution, jedoch keinerlei Einzelheiten aus den Diskussionen an die Öffentlichkeit gelangen dürften.374 Damit reagierte er auf die aufgeheizte und überspannte öffentliche und veröffentliche Meinung, die überwiegend die Ausrufung einer rheinischen Republik im Reichsverband als unmittelbar bevorstehend ansah. So machten am 1. Februar 1919 Gerüchte in Köln die Runde, wonach endlich Tatsachen geschaffen und die Proklamation erfolgen würde. Der spätere französische Hochkommissar in Bonn, André François-Poncet, erinnerte sich 1949 wie folgt: „Am 1. Februar 1919 erwartete man, daß der Kölner Oberbürgermeister Adenauer im Rathaus die Rheinische Republik ausruft.“375 Ferner berichtete der liberale Stadtverordnete Falk, dass er morgens Robert Bachem, einen der Verleger der Kölnischen Volkszeitung, getroffen habe: „[…] ein Mann, der über weitreichende Verbindungen und gute Informationen verfügte, begrüßte mich mit den Worten: ,Aha, Sie sind auf dem Wege zur historischen Sitzung.‘ Damit wusste ich, woran ich war.“376
372 373 374 375 376
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1136. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 103. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 105. François-Poncet, Von Versailles bis Potsdam, 1949, S. 39. BArch Koblenz N 1641/1, Bl. 112.
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Jedes Publikationsorgan wäre sofort daran gegangen, den Diskussionsverlauf genauestens zu sezieren und jeder hätte diejenigen Passagen herausgenommen und weiterverbreitet, die der eigenen politischen Interpretationsrichtung in der Sache am dienlichsten gewesen wären. Adenauer und den Abgeordneten war jedoch daran gelegen, die Rheinstaatsfrage sachlich und ohne Überstürzung zu beraten und zu verhindern, dass die öffentliche Diskussion ins Uferlose, ja Absurde abdriftete oder jedenfalls in unkontrollierbare Bahnen lief. Die einleitenden Ausführungen Adenauers zu Beginn der Versammlung werden als seine „erste große politische Rede“377 eingeordnet, wobei man besser von der ersten großen „außenpolitischen“378 Rede sprechen sollte, denn in seinen weit ausholenden Bemerkungen äußerte er sich vor allem in bemerkenswerter Weise über seine Einschätzung der außenpolitischen Situation nach dem Waffenstillstand. Die genauere Untersuchung der Argumentation Adenauers ist lohnenswert, denn sie legt anschaulich die politische Motivation der frühen, gemäßigten Rheinstaatsinitiative dar und kann hierfür als eine Art „herrschende Meinung“, weil überwiegend konsentiert, aufgefasst werden. Zunächst beschrieb Adenauer pointiert und ganz im Sinne des Zeitgeistes das Verhältnis von Frankreich und dem Deutschen Reich: „Deutschland und Frankreich sind Erbfeinde.“379 Er ging von einem damals gängigen, aber lückenhaften Geschichtsbild aus, wenn er ausführt, dass „der Streit und der Kampf zwischen Deutschland und Frankreich schon viele hundert Jahre hin und her“ getobt habe. Zwar sei das Deutsche Reich im Weltkrieg geschlagen worden und liege „ohnmächtig am Boden“.380 Frankreich jedoch befinde sich seit 1870/71 im wirtschaftlichen und demographischen Niedergang und habe auch den letzten Krieg nur als Alliierter einer westlichen „Mächtekonstellation“ überstehen können, die Frankreich jedoch im Falle eines künftigen, als sicher zu geltenden Revanchekriegs Deutschlands nicht mehr in dieser Form zur Seite stehen würde. Demnächst stehe Frankreich dem wiedererstarkten Deutschland allein gegenüber. In dieser geschwächten Position, zumal mit Blick auf eine zukünftige militärische Revanche des Deutschen Reichs, sei Frankreich geradezu dazu gezwungen, „Garantien zu verlangen und zu schaffen, die nach menschlichem Ermessen es Deutschland unmöglich machen, in absehbarer Zeit diese Revanche an ihm zu nehmen“. Worin also konnte nun die reale Sicherheit für Frankreich bestehen? Adenauer meinte, in Frankreich zwei Strömungen in dieser Frage ausgemacht zu haben: Zum 377 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 41. Vollständig abgedruckt ist sie auf S. 212 – 234. 378 So Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 56. 379 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 215. Hier auch das nachfolgende Zitat. 380 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 216. Hier auch die beiden nachfolgenden Zitate.
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einen eine „chauvinistische Richtung“, die den Rhein dadurch zur strategischen Grenze machen wolle, indem sie ihn auch zur politischen mache.381 Hier sprach Adenauer die Möglichkeit der Annexion des linken Rheinufers durch Frankreich an. Daneben existiere eine „gemäßigte Richtung“, die der Erreichung dieses weitgehenden Zieles skeptisch gegenüberstehe und eher aus dem linksrheinischen Gebiet einen Pufferstaat machen wolle, „der unter starkem französischem Einfluß stehen soll“.382 Deutschland – vor allem aber das Rheinland – müsse sich mithin auf diese beiden französischen Möglichkeiten der Absicherung gefasst machen, nämlich Annexion oder Pufferstaat. Freilich ist Köhler Recht zu geben, der bemerkt, dass es im Ergebnis zwischen der „chauvinistischen“ und der „gemäßigten“ französischen Strömung keinen großen Gegensatz gegeben habe, da auch die Bildung eines Pufferstaats vorausgesetzt habe, dass die militärische und politische Grenze des Deutschen Reiches durch den Rhein markiert und dass auf der linken Rheinseite ein von Frankreich abhängiges Staatswesen errichtet werde. Ohnehin sei die Forderung nach der vollständigen Annexion des linksrheinischen Gebiets in der französischen Politik wenig einflussreich gewesen.383 Bemerkenswert ist aber die realistische Einschätzung Adenauers, dass von dem Völkerbund und der allgemeinen Abrüstungsbewegung, die damals als frommer Wunsch weit verbreitet war, zur Friedenssicherung nicht viel zu erwarten sei, denn „auch unter den Ententeländern ist keines, das davon überzeugt ist, daß der Abrüstungsgedanke auf die Dauer und in allen Ländern siegreich bleiben wird“.384 Auch war er zu Recht skeptisch gegenüber der offiziellen deutschen Auffassung, wonach der Waffenstillstand durch seine Berufung auf die Vierzehn Punkte Wilsons den künftigen Friedensvertrag als „Rechtsfrieden“ präjudiziere, wenn er erläutert: „Die Friedensverhandlungen finden unter den Verbandsmächten in Paris statt, und sie werden damit ausgehen, daß der fertige Friedensvertrag dem Deutschen Reich diktiert wird. Deutschland muß sich also jedem Verlangen der Entente fügen.“ Ebenso weitsichtig ist die eindringliche Beschwörung Adenauers, Frankreich müsse vor sich selbst und seinen weitgehenden Vorstellungen in Bezug auf das linke Rheingebiet bewahrt werden, auch im Sinne des gesamteuropäischen Friedens. Würden sich die Franzosen mit ihren diffusen Plänen am Ende durchsetzen, hätte dies für den Frieden fatale Folgen. Denn die Deutschen würden diesen dann geschaffenen Status quo nicht lange hinnehmen und der „nächste europäische Krieg würde in absehbarer Zeit, sobald es Deutschland irgendwie wieder möglich wäre, so sicher kommen, wie morgen die Sonne aufgeht“.385 381
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 217. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 217. 383 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 57. 384 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 217. Hier auch das nachfolgende Zitat. 385 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 219. 382
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Mit dieser Feststellung nahm Adenauer einen wichtigen Punkt des späteren Ringens um den Friedensvertrag von Versailles vorweg. Tatsächlich kann man sagen, dass der umstrittene Kompromiss, wonach das Rheinland im Deutschen Reich verbleiben sollte, jedoch von deutschen Truppen entmilitarisiert und von fremden besetzt, den besonders die angelsächsischen Verbündeten Frankreichs so angestrebt hatten, die Franzosen letztlich vor ihrem eigenen überzogenen Garantiedenken (vorläufig) geschützt habe.386 Adenauer betonte, dass grundsätzlich Großbritannien mäßigend auf Frankreich einwirken werde und mithin als möglicher „Helfer“ Deutschlands anzusehen sei, denn unter Wahrung seiner traditionellen „Balance-ofpower-Politik“ habe das Vereinigte Königreich ein Interesse daran, Frankreich als Kontinentalmacht nicht allzu stark werden zu lassen.387 Im Grunde anerkannte Adenauer das Recht oder zumindest das Bedürfnis der Franzosen, Sicherheiten gegen einen kommenden deutschen Angriff zu fordern,388 aber er bemühte sich ein Arrangement zu finden, mit welchem das Rheinland im deutschen Reichsverband verbleiben könnte und eben kein Pufferstaat und schon gar nicht annektiert würde. Dieser Gedankengang ist das hauptsächliche außenpolitische Argument für die frühe Rheinstaatsbewegung, nämlich die Aufspaltung des im Ausland als militaristisch und nationalistisch geltenden Preußens und die Gründung eines westdeutschen Staates als Gliedstaat im Reichsverband, um dem französischen Garantieverlangen ein Entgegenkommen zu signalisieren. So zeigt sich, dass außenpolitische Erwägungen in diesen Tagen eng verknüpft waren mit innen- oder staatspolitischen Begründungsansätzen. Nicht unabsichtlich schwenkt Adenauer in seinem einleitenden Referat nach seinen Ausführungen zur internationalen Lage um auf die innerdeutsche politische Situation und die Reichsreformdiskussion. Die thematische Reihenfolge seiner Rede dürfte zunächst durch zwei Überlegungen bedingt gewesen sein. So ist es wahrscheinlich, dass sich Adenauer inhaltlich mit seinen außenpolitischen Gedanken – wohl nicht zu Unrecht – im allgemeinen Konsens mit den anwesenden Politiker wähnte und er seine Ausführungen nicht gleich mit einer politischen Konfrontation beginnen wollte, was rhetorisch geschickt erscheint. Zweitens dürften die vermeintliche Annexion oder die Bildung eines rheinischen Pufferstaates für ihn und für die gemäßigten Rheinstaatsbefürworter im Allgemeinen in der Tat die bewegenden Motive gewesen sein. Um aber auch den von Adenauer als „gemäßigt“ bezeichneten französischen Bestrebungen zur Errichtung eines von Frankreich abhängigen Pufferstaats gegebenenfalls zuvorkommen zu können, musste für das Rheinland eine Lösung im Verband des Deutschen Reichs gefunden werden, die dennoch die französischen Sicherheitsinteressen ausreichend berück386
So auch Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 57. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 218 f. 388 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 216: „Aus diesen Erwägungen heraus folgt für Frankreich die absolute Notwendigkeit, zum Schutze seiner nationalen Existenz Garantien zu verlangen […].“ 387
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sichtigte.389 Die Loslösung der Rheinprovinz von Preußen und die Neugründung als Gliedstaat erschienen hierfür vielen als gangbarer Weg. Somit hätte sich in der Verfassungspolitik des Deutschen Reiches eine europäische Friedenspolitik widergespiegelt. Die Rolle Preußens charakterisierte Adenauer in seinen weiteren Ausführungen betont negativ, er wies jedoch darauf hin, hierbei primär die Sicht der Alliierten einzunehmen, also nicht unbedingt seine eigene Meinung wiederzugeben. Köhler vermutet, dass diese Schwarzmalerei Preußens jedoch durchaus der Überzeugung Adenauers entsprach, er aber den zu erwartenden Protest, vor allem der Linksliberalen und Sozialdemokraten, von Vornherein zu vermeiden suchte.390 Preußen stehe da als „böser Geist“ Europas und als „Hort des kulturfeindlichen, angriffslustigen Militarismus“, mithin im Grunde als der Alleinschuldige am Kriegsausbruch 1914.391 Auch nach der Niederlage im Weltkrieg bestünde aus Sicht der Triple Entente die Gefahr, dass eine preußische, monarchistische Restauration stattfinden könnte. Wenn es gelänge, die Hegemonie Preußens über Deutschland durch die Gründung einer Westdeutschen Republik zu beenden, so müsse dies besonders für England von Interesse sein, da diese Lösung „die sicherste Grundlage für den europäischen Frieden bilden würde“. Und weiter: „England würde wohl, wenn es wahrhaft friedensfreundlich ist [und] auch sein eigenes Interesse versteht, auch bei Frankreich diese Lösung als die allein mögliche durchdrücken können.“392 Adenauer unterstrich am 1. Februar 1919 neben der außenpolitischen Sicherung des deutschen Rheinlands gegenüber Frankreich einen weiteren bedeutsamen Begründungsansatz der Rheinstaatsbewegung, nämlich die „pazifistische Mission“ eines neu zu gründenden Rheinstaates: „Die Westdeutsche Republik würde wegen ihrer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung in dem neuen Deutschen Reiche eine bedeutungsvolle Rolle spielen und demgemäß auch die außenpolitische Haltung Deutschlands in ihrem friedensfreundlichen Geiste beeinflussen.“ Dieses Argument hatte eine doppelte Stoßrichtung, denn zum einen erklärte er friedenspolitisch die Rheinstaatsfrage zum gesamteuropäischen, wenn nicht gar zum globalen Interesse. Zum anderen richtete er sich innenpolitisch an die versammelten Abgeordneten und appellierte daran, dass „sich die Länder am Rhein, nicht etwa nur das linke Rheinufer, nicht etwa nur die Rheinprovinz, sondern auch die angrenzenden rechtsrheinischen Landesteile zu einem westdeutschen Staat, zu einer Westdeutschen Republik im Verbande des Deutschen Reiches“ zusammenschließen mögen.393 An anderer Stelle hob der Kölner Oberbürgermeister ebenfalls die Notwendigkeit her389
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 221. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 58. 391 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 221. 392 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 222. Einfügung im Original. Hier auch das nachfolgende Zitat. 393 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 221. Hervorhebung im Original. 390
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vor, die Westdeutsche Republik möglichst großflächig zu planen, denn ein kleiner, allein etwa auf das linke Rheinufer oder die Rheinprovinz beschränkter „westdeutscher Bundesstaat [würde] eine direkte Gefahr für das Deutschtum bilden; er würde der Gefahr der Verwelschung unbedingt ausgeliefert sein“. Ferner würde ein solch kleiner Rheinstaat „nicht den Frankreich befriedigenden Einfluß im Deutschen Reiche haben, also zunächst seinen außenpolitischen Zweck verfehlen“.394 Erneut sei auf die Zweigleisigkeit der Argumentation in der Debatte um die „Westdeutsche Republik“ hingewiesen. Auf der einen Seite malte Adenauer außenpolitisch das Bild eines großflächigen westdeutschen Staatsgebildes als „Friedensgarantie“ (Entgegenkommen und Berücksichtigung der französischen Interessen) und auf der anderen Seite sollte der neu zu errichtende Staat ein Bollwerk gegen die „Verwelschung“, also die zunehmende französische Einflussnahme, darstellen (innenpolitisches Argument). Die innenpolitische Frage der Auflösung Preußens war unter Berücksichtigung des am 20. Januar 1919 veröffentlichten Verfassungsentwurfs von Preuß durchaus im Sinne der rheinischen Föderalisten zu lösen. Etwas befremdlich und wohl nicht ganz ernst zu nehmen ist Adenauers Bekenntnis zu einem starken, unitarischen Reich: „Es ist ausgeschlossen, daß das Deutsche Reich jetzt ein Einheitsstaat wird, daß die Bundesstaaten verschwinden. Ich für meine Person würde es begrüßen, wenn die Entwicklung dahin führen würde. Ich bin auch überzeugt, sie wird einmal kommen, aber für die nächste Zeit, für wie lange, weiß ich nicht, ist sie ausgeschlossen, die süddeutschen Bundesstaaten werden es nicht zulassen und ebensowenig die Entente.“395 Wahrscheinlicher ist es, anzunehmen, dass Adenauer der – zumal sozialistischen – Zentralregierung ablehnend gegenüberstand und als rheinischer Katholik vielmehr föderalistisch und weniger zentralistisch gesinnt gewesen sein dürfte, als er in dieser Situation zugeben wollte. Ferner vermochte er nicht zu begründen, warum gerade ein von Preußen unabhängiger westdeutscher Gliedstaat, wenn man so möchte, ein in etwa vorweggenommenes „Nordrhein-Westfalen“, durch seine schiere Existenz die gesamtdeutsche Politik in einem pazifistischen Sinne umwandeln können sollte.396 Die Annahme Adenauers, auf diesem Weg die Gefahr eines preußisch-deutschen Revanchismus bannen zu können, blieb jedenfalls spekulativ. So stand der Gedanke einer weitreichenden Unabhängigkeit eines Gliedstaats gegenüber Berlin, wobei diesem sogar eine nahezu selbständige Außen- oder Friedenspolitik im Sinne einer Politik des Ausgleichs ermöglicht sein sollte, im krassen Gegensatz zu den eher unitarisch orientierten Vorstellungen einer neuen deutschen Staatsstruktur, so dass diese Gedankenexperimente des Rheinstaatsbe394 395 396
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 222. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 219. Skeptisch auch Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 59.
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fürworters Adenauer nur bedingt realistisch erscheinen. Überdies weist Reimer zu Recht darauf hin, dass aus der Sicht der Entente, und hier vor allem Großbritanniens, die Weststaatsinitiative nicht per se als „Friedensprojekt“ honoriert werden würde, zumal die Prämisse, die westelbische Industrie sei friedensfreundlicher als die ostelbische Landwirtschaft, keinerlei belastbaren Bezug zur Realität gehabt habe.397 Zu sehr auch war Adenauers Bild eines aggressiven, militaristischen preußischen Staatswesens der Weltkriegspropaganda der Ententemächte entnommen, um die linksrheinischen Abgeordneten tatsächlich von der Notwendigkeit einer Zerschlagung Preußens überzeugen zu können. Zumal faktisch im Februar 1919 die monarchisch-militaristische Obrigkeit in Preußen durch die Revolution größenteils aus dem Sattel gehoben oder jedenfalls paralysiert worden war. Folglich blieben die Grenzen in Adenauers Schlussfolgerung vage und sein Plädoyer geriet wenig überzeugend: „Entweder wir kommen direkt oder als Pufferstaat zu Frankreich, oder wir werden eine Westdeutsche Republik; ein Drittes gibt es nicht.“398 Er differenzierte nicht genau zwischen den grundverschiedenen Alternativen „Annexion“ und „Pufferstaat“ und war nicht imstande darzulegen, warum nicht auch ein rheinischer Gliedstaat, jedenfalls faktisch-politisch, eine Art Pufferstaat bedeuten würde. Einerseits bekannte er sich stellvertretend für die Unabhängigkeitsbefürworter zum rheinischen Deutschtum und zum Verbleib im deutschen Reichsverband, andererseits stellte er sich eine für den deutschen Zentralstaat wohl nicht hinnehmbare Unabhängigkeit dieses Weststaates vor. Noch unbestimmter wurden seine Ausführungen, als es ihm um die Frage des praktischen Vorgehens in den nächsten Wochen ging. An sich müsse auf dem Boden der staatsrechtlichen Legalität vorangeschritten werden, also seien die gewählten verfassunggebenden Versammlungen in erster Linie berufen, Verfassungen zu erarbeiten, die eine Neugründung von Gliedstaaten ermöglichten, und sich gegen jegliche Annexionsabsichten zu erklären.399 Grundsätzlich also sollte die Initiative selbst aus der rheinischen Bevölkerung erwachsen, um dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker zu genügen.400 Andererseits musste das ganze Vorhaben auf einer legalen Grundlage fußen und überdies war es außenpolitisch nur durchzusetzen, wenn Großbritannien als Ententemacht mäßigend auf Frankreich einwirkte. Über den Resolutionsentwurf berieten sich die Fraktionen daraufhin getrennt und beschlossen schließlich einstimmig eine abgeänderte Entschließung. Zuvor war es nämlich zu Meinungsverschiedenheiten über die Formulierung des zweiten Absatzes des Resolutionsentwurfs gekommen. Adenauer hatte bereits gemeinsam mit dem 397
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 108. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 224. 399 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 225 f. 400 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 109. 398
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bisherigen politischen Ausschuss eine Kompromissformel in die Sitzung am 1. Februar 1919 eingebracht, die jedoch in langwierigen Verhandlungen, vor allem mit der Zentrumspartei, weiter abgeschwächt wurde.401 Ursprünglich lautete der zweite Absatz: „Für den Fall, daß die Reichsverfassung einer Aufteilung Preußens die gesetzliche Grundlage schafft, ist unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen die Vereinigung der Länder am Rhein zu einem Freistaat im Verbande des Deutschen Reiches herbeizuführen.“402 Köhler vermutet, dass den Liberalen und Sozialdemokraten diese Formulierung nicht präzise genug erschien, weil nicht klar herausgestellt wurde, wer genau die „Vereinigung der Länder am Rhein“ schließlich vorzunehmen habe.403 Prinzipiell erschien es nämlich möglich, dass die Initiative der Staatsgründung aus der Nationalversammlung (Verfassung), der rheinischen Bevölkerung (Volksabstimmung) oder sogar aus dem Ausschuss selbst kommen konnte. Es ist Reimer aber nicht in seiner Annahme zu folgen, dass Adenauer dem Westdeutschen Politischen Ausschuss selbst „einen klaren Auftrag“ zugedacht habe,404 vielmehr sollte das Gremium von Anfang an dem überparteilichen Austausch dienen und die Angelegenheit eines unabhängigen Rheinstaats lediglich „soweit möglich fördern“, wie Adenauer selbst erläuterte.405 Auch der DDP-Politiker Brüggemann unterstellt dem ursprünglichen Resolutionsentwurf zu Unrecht ein geplantes Vorgehen, wonach „der Nationalversammlung durch eine sofortige Volksabstimmung am Rhein vorgegriffen werden und ein Ausschuß gewählt werden sollte, der die Vorbereitung zu dieser Abstimmung unverzüglich in die Wege zu leiten hätte“.406 Ähnlich äußerte der DVP-Politiker Moldenhauer, man habe letztlich einen „Zentrumsantrag“ verhindert, „der eine sofortige Volksabstimmung verlangte“. Die Frage der Rheinischen Republik sei alleinig durch die Nationalversammlung in Weimar zu entscheiden.407 Diese parteipolitisch motivierten Ansichten werfen vor allem der Zentrumspartei, aber auch der Rheinstaatsbewegung im Allgemeinen vor, sich außerhalb der Legalität zu bewegen und letztlich die gewählte Nationalversammlung nicht anzuerkennen. Mithilfe dieser damals besonders unter Demokraten und Sozialdemokraten beliebten Unterstellung wurde der Versuch unternommen, die Weststaatsbefürworter unter das Verdikt der umstürzlerischen „Sonderbündlerei“ zu stellen und als national unzuverlässig erscheinen zu lassen.
401
Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 61. Resolutionstext zitiert hier und im Folgenden nach Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 226 und 229. 403 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 61. 404 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 110. 405 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 226. 406 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 48. 407 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 6. 402
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Dennoch hat Morsey nicht Unrecht, wenn er über die Versammlung schreibt: „Es ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, ob Adenauer ursprünglich die Absicht verfolgte, mit Hilfe dieses Gremiums die Loslösungsbestrebungen zu forcieren oder gar die Rheinische Republik proklamieren zu lassen, bevor sich die Nationalversammlung konstituiert hatte.“408 Letzteres jedoch erscheint zweifelhaft, denn es verträgt sich nicht mit Adenauers grundsätzlicher Überzeugung, den Zweck eines unabhängigen Rheinlandes auf legalem und parteiübergreifendem Wege sowie weitestgehend in Abstimmung mit der sozialistischen Regierung in Berlin zu fördern.409 Andererseits erinnert sich Adenauer in seiner Denkschrift wie folgt: „Ich hielt es für angebracht, die […] Kommunalvertreter einzuladen, weil nach dem Preuß’schen Verfassungsentwurf Vertreter von Kommunalverbänden, die zusammen eine gewisse Anzahl von Einwohnern enthielten, das Recht sollten haben können, den Antrag auf Herbeiführung einer Volksabstimmung zwecks Ausscheidens aus dem bisherigen Bundesstaate und Bildung eines neuen Bundesstaates zu stellen.“410 Adenauer hielt sich also auch die Möglichkeit eines Plebiszites zur Bildung eines westdeutschen Staatsgebildes, neben der Alternative der Lösung der Rheinlandfrage durch die noch zu schaffende Reichsverfassung, ausdrücklich offen. In einem Zeitungsbericht von 1961 wird das Verhalten Adenauers in dieser Frage treffend beschrieben, wenn es dort heißt, dass er in diesen Umständen als ein Mann aufgetreten sei, „der in einer revolutionären Situation äußerst vorsichtig, mehr experimentierend als vorantreibend, die auf der Bühne befindlichen Kräfte auf ihre Durchschlagskraft hin prüft, um sich dann selbst ein praktikables Programm zu machen, das mit seinen Überzeugungen vereinbar ist“.411 In seinen Ausführungen präzisierte der Versammlungsleiter Adenauer seine Vorstellungen von der Tätigkeit des Westdeutschen Politischen Ausschusses wie folgt: „Das Komitee [der Ausschuss, P.B.] würde die Verhandlungen zu führen haben mit der preußischen und deutschen Regierung und würde weitere Verhandlungen zu führen haben mit den Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung und endlich mit den am Rhein gelegenen Gebieten, preußischen und nichtpreußischen, die entweder aus sich heraus den Wunsch haben, in die Westdeutsche Republik hereinzukommen, oder die aus anderen Gründen eine Angliederung an die Westdeutsche Republik wollen.“412
408
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 246. Vgl. hierzu Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 244. 410 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 244. 411 Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel 41 (1961), S. 63. 412 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 226 f. 409
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In seiner kurze Zeit später erschienenen Denkschrift erklärte Adenauer deutlich, er habe am 1. Februar 1919 in keiner Weise daran gedacht, die Westdeutsche Republik auszurufen.413 Der genannte Passus wurde letztlich in Gänze fallengelassen und stattdessen wurde folgende Konkretisierung vorgenommen, die die Rolle der jüngst gewählten Nationalversammlung stärkte: „Da die Teilung Preußens ernstlich erwogen wird, übertragen wir dem von uns gewählten Ausschuß die weitere Bearbeitung der Pläne auf Errichtung einer Westdeutschen Republik im Verbande des Deutschen Reiches und auf dem Boden der von der deutschen Nationalversammlung zu schaffenden Reichsverfassung.“ Erhellend wirkt auch der Umstand, dass zwischenzeitlich ein angedachter Kompromissvorschlag der Zentrumsabgeordneten verworfen worden war, wonach die „Nationalversammlung unverzüglich für eine Aufteilung Preußens die gesetzliche Grundlage“ schaffen sollte, „um die Vereinigung des deutschen Westens zu einer Republik im Verbande des Deutschen Reiches herbeizuführen“.414 Die Aufforderung zur Aufspaltung Preußens war gegen den Widerstand der Sozialdemokraten und Liberalen nicht durchzusetzen. Der Oberbürgermeister von Aachen und Zentrumspolitiker Wilhelm Farwick stimmte der Resolution erst nach einer Rüge Adenauers zu. Er hatte Bedenken geäußert, dass man sich als Weststaatsbefürworter mit dem Zusatz „auf dem Boden der von der deutschen Nationalversammlung zu schaffenden Reichsverfassung“ ausschließlich auf die Nationalversammlung und ihre Debatten mit unsicherem Ausgang verlasse, man sich mithin „willenlos und machtlos in die Hand der Reichsverfassung“ begebe, deren letztgültige Ausgestaltung noch als völlig ungewiss erscheinen musste.415 Farwick hatte zuvor in den intrafraktionellen Beratungen die Meinungsänderung zugunsten des Kompromissvorschlags innerhalb der Zentrumspartei verpasst, weil er zwischen den Parteiberatungen und der Beratung der Oberbürgermeister im Wechsel teilgenommen hatte.416 Besonders interessant ist die leichtfertige Bemerkung Farwicks in diesem Zusammenhang, dass eine rasche und konsequente Staatsgründung im Westen am besten die „kulturellen Güter und Ideale“ bewahren könne. Dies alarmierte die sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich in ihrer Besorgnis einmal mehr bestätigt fühlten, dass das Zentrum im Westen ein dogmentreues, klerikal-katholisches Staatswesen zu errichten suchte. So kommentierte Meerfeld diese Bemerkung Farwicks lakonisch: „Die Ausführungen des Herrn Oberbürgermeisters Farwick waren mir und meinen Freunden sehr interessant. Ich
413
Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 244. 414 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 50. 415 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 229. 416 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 110.
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sage aber kein Wort weiter dazu. Ich sage auch, daß wir bis an die äußerste Grenze des Möglichen gegangen sind und keinen Schritt weiter gehen werden.“ Im Folgenden verwandten Adenauer und Trimborn einige Mühen darauf, zu erklären, dass das „kulturelle Moment“ in den Verhandlungen der Zentrumsfraktion keine Rolle gespielt habe, sondern nur das „deutsche Interesse“ entscheidend gewesen sei. „Konfessionelle Rücksichten“ seien nicht maßgebend gewesen.417 Dagegen hatte die Annahme des ersten Absatzes der Resolution keine politischen Schwierigkeiten bereitet. Gestützt auf den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Stammesprinzips wurde „laut und feierlich“ protestiert „gegen die in der ausländischen Presse418 zutage tretenden Bestrebungen auf Loslösung des linken Rheinufers oder einzelner seiner Teile von Deutschland“.419 Die Zusammensetzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses entsprach schließlich nicht den linksrheinischen Mehrheitsverhältnissen, wonach das Zentrum an sich die absolute Mehrheit hätte beanspruchen können. Durch dieses Entgegenkommen sollten die nach wie vor dem Rheinstaat skeptisch gegenüberstehenden Liberalen und Sozialdemokraten integriert werden. So erhielt die Zentrumspartei vier420 Sitze (Ludwig Kaas, Joseph Heß, Benedikt Schmittmann und Trimborn), die Sozialdemokraten zwei (Meerfeld und Sollmann) und DDP (Falk) sowie DVP (Victor Weidtmann) je einen Sitz. Hinzu kam jedoch der stimmberechtigte Vertreter der linksrheinischen Oberbürgermeister – dies konnte kein anderer sein als Adenauer selbst –, der dem Zentrum die Mehrheit verschaffen konnte. Diese Erwägungen zu der 5:4-Situation sind jedoch rein theoretischer Natur, denn die Arbeit im Ausschuss war gerade auf Einstimmigkeit angelegt, damit eine zu schaffende Rheinische Republik eben kein genuiner „Zentrumsstaat“ werden würde. Die Resolution der Versammlung wurde zwei Tage später dem Rat der Volksbeauftragten, dem Preußischen Staatsministerium und dem britischen Befehlshaber General Charles Fergusson bzw. dessen Stabschef General George Sidney Clive übermittelt, der sie am 8. Februar 1919 an die britische Delegation der Friedenskonferenz weiterleitete.421
417
Zu dem Ganzen Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Siehe S. 230 f. Aufschlussreich auch die parteipolitisch eingefärbte Darstellung bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 49. 418 In einem ersten Entwurf hatte es noch „französische Presse“ geheißen, vgl. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 249. 419 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 226. 420 Ursprünglich waren sogar lediglich drei Zentrumsvertreter vorgesehen, vgl. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 109 f. Dieses Zugeständnis der anderen Parteien dürfte mit der Annahme des geänderten zweiten Absatzes der Resolution, welchen das Zentrum zunächst abgelehnt hatte, sowie mit der Absicht, die politischen Mehrheitsverhältnisse genauer abzubilden, im Zusammenhang gestanden haben. 421 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 110.
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Adenauer selbst musste sich nach dem 1. Februar 1919 den Vorwurf gefallen lassen, den neugebildeten Ausschuss vorsätzlich „ausgeschaltet“ zu haben, denn er wurde tatsächlich nur ein einziges Mal, nämlich am 30. Mai 1919, zusammengerufen. Interessanterweise wird Adenauer ausgerechnet von dem Rheinstaatsgegner Brüggemann gegen diesen Vorwurf der Untätigkeit, den die aktionistischen Unabhängigkeitsanhänger zunehmend erhoben, in Schutz genommen. Der Westdeutsche Politische Ausschuss sei vielmehr sehr rührig gewesen und habe die Interessen des Rheinlandes in Weimar vor der Regierung und vor dem Parlament „in der entschiedensten Weise“ vertreten.422 Köhler zieht Parallelen zu der Versammlung am 4. Dezember 1918, denn auch auf der Versammlung der Abgeordneten als der gewählten Vertreter des linksrheinischen Gebiets habe man vollendete Tatsachen schaffen wollen, bevor die Nationalversammlung und die preußische Landesversammlung sich konstituiert hätten. Die Bildung des Rheinstaats habe so weit vorangetrieben werden sollen, dass ein „unverrückbarer Tatbestand“ eingetreten wäre, so dass in der Nationalversammlung keine abweichenden Beschlüsse mehr zu treffen gewesen wären.423 In der Tat darf die Bedeutung und die politische Tragweite dieser Zusammenkunft nicht unterschätzt werden. So protestierten etwa die Bürgermeister der 111 im rheinischen Städtebund zusammengeschlossenen Kreisstädte dagegen, dass die Bevölkerung der von ihnen vertretenen Städte bei der Beratung nicht berücksichtigt worden sei.424 Es habe ferner in liberalen und sozialdemokratischen Kreisen nach diesem Datum „einige Verwirrung“ darüber geherrscht, dass die nicht dem Zentrum angehörenden Abgeordneten überhaupt dieser bedeutsamen Einladung Adenauers Folge geleistet und auch noch einer gemeinsamen Resolution zugestimmt hatten, obwohl man die gesamte Rheinstaatsbewegung besser hätte boykottieren sollen.425 Das bereits erwähnte Gremium aus Oberbürgermeistern, Kommunalvorstehern und Abgeordneten des Ruhrreviers, das sich als Reaktion auf die Kölner Versammlung zusammengefunden hatte, kritisierte zum einen, dass der zur Bearbeitung der Frage nach einer „westdeutschen Republik Rheinland-Westfalen“ berufene Parlamentarier-Ausschuss nur aus Mitgliedern der linksrheinischen Gebiete bestehen sollte. Zum anderen verwarfen die Politiker des Ruhrgebiets und Westfalens jedwede Reform des Reichsgebietes, auch nur in seinen Teilen, unter Hinweis auf die nach wie vor ventilierte Bedrohung einer Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich. In einer gefassten Entschließung hieß es: „Da dies besonders für die linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reiches gilt, so mußte schon die Einsetzung eines Ausschusses nur aus linksrheinischen Vertretern mindestens für die Feinde, aus 422 423 424 425
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 68. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 55 f. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 48. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 50.
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deren Reihen zum Teil die Festlegung des Rheines als Deutschlands Grenze gefordert wird, zu einer Mißdeutung führen. Der Industriebezirk wiederholt deshalb seinen festen Entschluß, keinem Plan zuzustimmen, der die Grundlagen des Deutschen Reiches erschüttert. […] Ferner dürfen innenpolitische Gesichtspunkte solange keine Rolle spielen, als dadurch außenpolitische Gefahren für das Deutsche Reich heraufbeschworen werden können.“426 Nach dieser deutlich manifestierten Ablehnung eines Rheinstaats durch die Verwaltung und Politik des rechtsrheinischen Ruhrreviers, zeichnete sich in der Tat ein Wandel in der namensgebenden Begrifflichkeit ab: Hatten die Rheinstaatsbefürworter bislang von einer „rheinisch-westfälischen Republik“ oder jedenfalls von einer „rheinischen Republik“ gesprochen, so war nun öfter unbestimmt die Rede von der „westdeutschen Republik“, ein Terminus, den insbesondere Adenauer stets gebrauchte.427 Dieser schloss in seiner Vagheit zwar rechtsrheinische Gebiete als künftige Bestandteile der selbständigen Republik nicht per se aus, berief sich indessen nicht mehr namentlich auf Westfalen oder das gesamte Rheinland, also linkswie rechtsrheinisch verstanden. Trotzdem sei, so Brüggemann, der 1. Februar 1919 für die Loslösungsbefürworter und das Zentrum, ebenfalls in der Parallele zu den Ereignissen vom 4. Dezember 1918, eine relative Niederlage gewesen, denn man habe der Entscheidung der Nationalversammlung eben nicht vorgreifen können und es sei ein Erfolg der liberalen und sozialdemokratischen Politik gewesen, „daß durch den Beschluß im Hansasaal die Entscheidung über die rheinische Frage vor das Forum der Nationalversammlung gebracht worden war“.428 In der Tat kommentierte etwa der preußische Landtagsabgeordnete und Rheinstaatsaktivist Kuckhoff die Entschließung mit den Worten, die rheinischen Abgeordneten hätten der Idee eines unabhängigen Rheinlandes vor dem Friedensschluss „eigentlich schon einen Grabstein“ gesetzt.429 Diese Ansicht überschätzt jedoch die ursprünglichen Intentionen jedenfalls der Zentrumspartei und unterschätzt den Sinn für politische Realitäten bei den handelnden Akteuren der Partei, vor allem bei Adenauer und Trimborn. Dabei muss man sich zunächst vor Augen führen, dass in diesem ersten Stadium der Rheinlandbewegung die Forderung nach einer Loslösung der Rheinprovinz aus Preußen zu keinem Zeitpunkt als offizielle Politik des Zentrums verfochten worden war.430 Freilich war die in der Resolution vorgesehene strikte Bindung der weiteren Rheinstaatsbestrebungen an die noch auszuarbeitende neue Reichsverfassung nicht auf vorbehaltlose Zustimmung seitens der Zentrumspartei gestoßen, da diese geeignet war, die Schaffung des westdeutschen Staatsgebildes zu verzögern, wenn 426 427 428 429 430
Abgedruckt bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 56. Beispiele bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 56 f. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 51. Allgemeine Rundschau Nr. 7 v. 22. Februar 1919, S. 104. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 251.
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nicht gar zu verhindern. Trimborn bezeichnete die Zustimmung des Zentrums zu diesem Passus als „das Äußerste, was wir konzedieren können“.431 Zum ersten Mal wurde die Rheinstaatsfrage als länger schon aktuelles Politikum von gewählten Volksvertretern diskutiert und sogar eine sachlich unaufgeregte und grundsätzlich positive, wenn auch abwartende Entschließung verabschiedet. Das Treffen trug dazu bei, die Rheinlandbewegung differenzierender zu betrachten und jedenfalls die Unabhängigkeitsbefürworter innerhalb der rheinischen Verwaltungen und besonders der Zentrumspartei nicht stets pauschal mit dem Verdikt der hochverräterischen Sonderbündelei zu belegen. Dass es überhaupt gelang, alle bedeutsamen rheinischen Parteien an einen Verhandlungstisch zu bringen, ist als ein Erfolg Adenauers zu bewerten. Vorschnell abgegeben sind die Einschätzungen, wonach die parlamentarischen Rheinstaatsanhänger bereits am 1. Februar 1919 die rheinische oder westdeutsche Republik hätten ausrufen wollen und der Westdeutsche Politische Ausschuss ein widerrechtlicher Vorgriff auf die Entscheidung der Nationalversammlung gewesen sei. Zu Recht weist Huber, der die gesamte Rheinlandbewegung ansonsten kritisch betrachtet, darauf hin, dass der Ausschuss keinen Auftrag hatte, die „Herbeiführung“ der Vereinigung der rheinischen Gebiete zu einer „Westdeutschen Republik“ zu forcieren, sondern sein Mandat habe sich auf die bloße „Bearbeitung“ der darauf abzielenden Pläne beschränkt.432 Es kann mithin kein ernstlicher Zweifel daran bestehen, dass der Westdeutsche Politische Ausschuss sich schon im Vorfeld auf dem Boden der künftigen Reichsverfassung und somit auf dem Boden der Legalität bewegte. Die Kritiker der Ergebnisse der Sitzung vom 1. Februar 1919, insbesondere die späteren aktionistischen Rheinstaatsanhänger, monierten, dass es von Adenauer illusorisch gewesen sei, zu glauben, man müsse zwingend parteiübergreifend agieren und insbesondere Linksliberale und Sozialdemokraten einbinden, denn „aus Mußgegnern macht man keine Helfer“.433 Mit der Einbeziehung der Rheinstaatsgegner aus MSPD und DDP sei es grundsätzlich nicht möglich gewesen, zu einem unabhängigen rheinischen Gliedstaat zu kommen.
IX. Der Brief Hans Adam Dortens an Adenauer vom 5. Februar 1919 Am Ende des Jahres 1918 hatte sich mit Hans Adam Dorten ein leidenschaftlicher Aktivist in die Rheinstaatsbestrebungen eingeschaltet, der schon bald aus dem mehr 431
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 230. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1137. 433 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 35. 432
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oder minder gefestigten Konsens der etablierten politischen Kräfte in der Rheinlandfrage ausscheren und danach eine zentrale Persönlichkeit der sehr viel aktionistischeren und ab 1923 sogar separatistischen Bewegung werden sollte. Bischof nennt Dorten den „spätere[n] Führer des rheinischen Separatismus“,434 was darauf hindeutet, dass der Autor den Begriff „Separatismus“ noch nicht mit dem Jahr 1919 in Verbindung bringt. Dorten war 1880 als Sohn eines Kaufmanns in Bonn-Endenich geboren worden und hatte in Heidelberg, München und Bonn Rechtswissenschaft studiert, bevor er in Leipzig promoviert wurde. Im Jahre 1902 war er in den Staatsdienst eingetreten und tätig als Amtsrichter und später als Staatsanwalt in Düsseldorf und Berlin. Ein anonymer Publizist behauptete 1919, dass Dorten zu dieser Zeit Mitglied der Freikonservativen Partei gewesen sei,435 was allerdings vor dem Hintergrund, dass es sich bei dieser Partei um eine preußisch-protestantische Gruppierung handelte, zweifelhaft erscheint. Im Weltkrieg diente Dorten zuletzt als Luftschutzoffizier im Range eines Hauptmanns und wurde ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse. Seit November 1918 war er aus Gesundheitsgründen beurlaubt und lebte in Wiesbaden. Dorten wird beschrieben als „Mann von Welt“ und als „schlanke, elegante Erscheinung“.436 Der französische Oberdelegierte für den Bezirk Wiesbaden, Marquis Edmond de Lillers, der Dorten aus vielen persönlichen Gesprächen gut kannte, beschrieb ihn so: „Die Energie ist in der Tat einer der hervorstechendsten Züge seines Charakters […] Sein erregbares Temperament macht ihn fähig zu Hinneigungen, die an Leidenschaft grenzen, aber auch zu Gefühlen der Abneigung, die an Haß grenzen. […] außerdem ist er, glaube ich, außerordentlich ehrgeizig. […] Er ist nicht charakterlos, aber er ist von Grund auf Egoist nach dem eigenen Geständnis seiner besten Freunde.“437 Und zu Dortens außenpolitischer Gesinnung bemerkt de Lillers: „Er liebt unbestreitbar Frankreich […] Aber er ist Rheinländer, und wenn die ,Lateiner des Rheinlandes‘, wie sie sich zu nennen lieben, die Feinde der Preußen sind, die sie als minderwertige Barbaren betrachten, so sind sie doch nicht weniger Germanen, die kaum einen Hauch des römischen Genius verspürt haben. Man darf es nicht aus dem Auge verlieren: Herr Dorten kann ein aufrichtiger Freund Frankreichs sein, er ist nichtsdestotrotz ein Deutscher.“
434
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 39. Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 146 (1919), S. 46. 436 KV Nr. 539 v. 6. Juni 1919. 437 Hier und im Folgenden zitiert nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 39 f. 435
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Zwischen Dorten und Adenauer, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Januar 1919 kennengelernt hatten,438 entwickelte sich schon bald ein grundsätzliches Misstrauen und bereits zum ersten Treffen bemerkte Adenauer rückblickend, Dorten habe „keinen schlechten, wohl aber einen sehr unüberlegten Eindruck“ hinterlassen.439 Später, nachdem es über die Rheinstaatsfrage zum Bruch zwischen den beiden gekommen war, nannte Adenauer ihn unumwunden einen „offenbaren Vaterlandsverräter“440 und einen „notorischen Schwindler und Phantasten“441. Der Zeitgenosse Max Springer schrieb, Dorten sei vor allem durch den Ehrgeiz getrieben gewesen, eine hervorragende politische Rolle in einem neuen Rheinstaat zu spielen.442 Unvertretbar ist es jedenfalls anzunehmen, wie Peter Klein dies tut, dass es zwischen Adenauer und Dorten „keine wesentlichen Unterschiede gab, was ihre Arbeit für die Gründung eines rheinischen Separatstaates angeht“ und dass beide „ihre antinationale hochverräterische Politik“ betrieben hätten.443 Hier versuchte der DDR-Historiker Klein den Bundeskanzler Adenauer retrospektiv auf eine Stufe mit den späteren rheinischen Separatisten und dem aktionistischen Rheinstaatsbefürworter Dorten zu stellen, jedoch ohne jede Differenzierung in der Sache und ausschließlich zum Zwecke der persönlichen Diskreditierung. Rückblickend schrieb Dorten im späteren französischen Exil, dass er Anfang Dezember 1918 noch nichts von der Rheinstaatsinitiative oder überhaupt der rheinischen Frage gewusst habe: „J’ignorais à ce moment-là tout du mouvement rhénan.“444 Wie viele andere Persönlichkeiten der damaligen Zeit, etwa nicht zuletzt Adolf Hitler,445 fasste Dorten den Entschluss zu seiner späteren politischen Agitation in den Novembertagen 1918. Noch während des Krieges erschienen Dorten bereits Bolschewismus und der vermeintlich drohende marxistische Umsturz sowie später die Novemberrevolution als große Gefahren für das Vaterland. So gehörten die No438 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 245. Dorten selbst schildert, er habe sich Adenauer bereits im Dezember 1918 vorgestellt. So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 43. Der genaue Zeitpunkt der ersten Begegnung ist nicht mehr zu ermitteln, für die vorliegende Untersuchung aber auch zweitrangig. 439 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 245. 440 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 264. 441 Brief Adenauers an Oberstudiendirektor Reimann vom 11. Juni 1926, HAStK 902/253/ 6. Zu diesem Briefwechsel vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 192 ff. 442 Springer, Loslösungsbestrebungen am Rhein (1918 – 1924), 1924, S. 7. 443 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 87. 444 Dorten, La tragédie rhénane, 1945, S. 40. 445 Fest, Hitler. Eine Biographie, 2010, S. 141 ff.
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vemberrevolution und ihre Folgen schon bald zu den bedeutendsten Antrieben für Dortens politische Tätigkeit.446 Er war einer der unzähligen Soldaten, die sich aus Frust und aus Hass gegen die „Novemberverbrecher“ in die Politik begaben und deren Antibolschewismus sie zu Anhängern der „Dolchstoßlegende“ werden ließ, wonach die sozialistischen Umstürzler in der deutschen Heimat dem „im Felde ungeschlagenen“ Heer sprichwörtlich den Dolch in den Rücken gestoßen hätten.447 In seinen Memoiren schreibt Dorten dazu: „Wir alle [sic!] waren von der Verräterqualität des Berliner Regimes derart durchdrungen, daß es uns höchst lobenswert erschien, ihm entgegenzuarbeiten. Persönlich war ich jedenfalls in einer derartigen Gemütsverfassung, daß ich mit Freuden jede Gelegenheit ergriff, um mich für den ,Dolchstoß‘ zu revanchieren […].“448 In keiner anderen Persönlichkeit dieser Zeit zeigt sich dieses antibolschewistische und revanchistische Motiv für das Streben nach rheinländischer Unabhängigkeit so deutlich wie in der Person Dortens. Das Weltkriegserlebnis, der Glaube an die eigene politische Mission für das bedrohte Vaterland, der ausgeprägte Antibolschewismus sowie das einseitige, verabsolutierende Denken kennzeichnen ein ganzes Motivbündel, welches die Parallelen zur Biographie Hitlers nicht übertrieben erscheinen lässt.449 Über seine Anfänge in der Rheinlandbewegung berichtet Dorten, dass er am 7. Dezember 1918 in Düsseldorf als Mitglied eines Clubs rheinischer Industrieller mit bedeutenden Industriekapitänen zusammengetroffen sei, die ihm folgendes Szenario offengelegt hätten: Das linksrheinische Gebiet würde zeitnah von den Franzosen annektiert werden, während das rechte Rheinufer und das Ruhrgebiet den Bolschewisten zum Opfer fallen werde. Nur ein Mittel käme als rettende Idee in Betracht, nämlich „adopter l’idée de la création d’un Etat rhénan indépendant englobant la presque totalité des régions industrielles sur les deux rives du Rhin“450, also ein unabhängiger Rheinstaat, der beide Industriereviere entlang des Rheins umfassen sollte. Dorten selbst fasste dieses Treffen mit den Industrievertretern in Düsseldorf als eine Art doppelte Aufgabenstellung auf. Einerseits sollte er als überzeugter Unabhängigkeitsanhänger – der er offenbar innerhalb weniger Stunden geworden war – den „Kölner Zentrumsherren“451 den erforderlichen „Schneid“ beibringen und 446 447 448
04. 449
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 41. Hierzu grundlegend Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration, 2003. Dorten, Mein Verrat. Das rheinische Drama 1918 – 1924, in: BArch Koblenz ZSG 105/
In diese Richtung auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 42. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 40 f. 451 Die Zentrumsversammlung, durch welche die erste Rheinstaatsinitiative zum ersten Mal prominenter an die Öffentlichkeit getreten war, hatte bereits am 4. Dezember 1918 in Köln stattgefunden. 450
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zweitens sah er seine Rolle darin, mit den Besatzungsmächten, vor allem mit Frankreich, in Verhandlungen zu treten, um von ihnen die Bewilligung für die Errichtung eines „unabhängigen Staates“ zu erhalten.452 Ob hierbei die Unabhängigkeit (nur) von Preußen oder vom Reichsverband beabsichtigt war, geht aus der Erinnerung Dortens ebenso wenig hervor, wie die Antwort auf die Frage, warum gerade er als politisch völlig Unbekannter plötzlich mit Verantwortlichen der Ententemächte über einen etwaigen rheinischen Staat verhandeln sollte. Insgesamt sind Dortens niedergeschriebene Erinnerungen stets mit Vorsicht zu genießen, neigen sie doch zu einer unhistorischen Selbstüberhebung.453 Mit ihm trat jedenfalls ein betont aktivistischer und kompromissloser Enthusiast in die Rheinlandbewegung ein. Er kämpfte von Beginn an gegen die aus seiner Sicht zu langsame Entwicklung der Verhältnisse, für die er vor allem, insgesamt aus seiner Sicht nicht zu Unrecht, die rheinischen Politiker und Abgeordneten verantwortlich machte, und für die rasche Herstellung eines Rheinstaates als fait accompli. Nicht zuletzt den Besatzungsmächten sollten jedenfalls zum Jahreswechsel 1918/19 keine Interventionsmöglichkeiten in die rheinischen Angelegenheiten verbleiben: „[…] j’insistai […] pour une décision rapide et la proclamation immédiate de l’Etat rhénan […] il ne fallait pas laisser aux puissances occupantes le temps d’intervenir […].“454 In Köln nahm Dorten zunächst mit dem Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung Hoeber und Froberger Kontakt auf, die ihn dann später Adenauer vorstellten. Auf den Vorschlag Dortens hin soll Adenauer zugestimmt haben, auch die Rheinpfalz, Rheinhessen und Nassau in das Vorhaben der Errichtung einer rheinischen Republik miteinzubeziehen. Ferner habe Adenauer ihn beauftragt, in den genannten südlichen Gebieten Zustimmungserklärungen und Vollmachten von politischen Organisationen, Kommunalvertretungen und hochgestellten Persönlichkeiten einzuholen.455 Insgesamt existieren zehn solcher Erklärungen, wovon sich fünf unmittelbar auf die bevorstehende Versammlung am 1. Februar 1919 in Köln beziehen. Bei den Oberbürgermeistern größerer Städte, beispielsweise in Wiesbaden, blieb Dorten jedoch erfolglos und konnte keine Zustimmungserklärungen einholen.456 Ebenfalls im Januar 1919 gründete Dorten in aktionistischer Manier in Mainz und Wiesbaden den sogenannten „Nassauischen Ausschuss“ sowie in Bingen und Kreuznach den „Mittelrheinischen Ausschuss“, deren Aufgabe es im Folgenden sein sollte, in der lokalen Bevölkerung für den Gedanken einer rheinischen Republik zu werben.457 In dieser Zeit berücksichtigte er die Vorgaben, die ihm Adenauer in den 452
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 41. So auch Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 202; Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 44. 454 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 42. 455 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 44 ff. 456 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 46 f. 457 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 45. 453
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wenigen Besprechungen mitgeteilt hatte, und arbeitete auf einen rheinischen Gliedstaat im Verband des Deutschen Reiches hin. Zu bedeutsam schienen Dorten die guten Beziehungen zu den Zentrumspolitikern und vor allem zu Adenauer zu sein und er war bereit, sich zu Beginn des Jahres 1919 als „Neuling“ in der Rheinstaatsbewegung den politischen Autoritäten unterzuordnen. Lediglich der Kompromittierung Adenauers soll die Beschreibung des Verhältnisses zu Dorten bei Klein dienen, wonach beide enge und vertrauensvolle Mitstreiter gewesen seien, die als Partner auf Augenhöhe an ihrem gemeinsamen „separatistischen“ Plan der Rheinischen Republik außerhalb des Reichsverbands gearbeitet hätten.458 Zunehmend wuchsen vielmehr in Adenauer die Zweifel über Dortens Charakter und Absichten. In einer Denkschrift aus dem Frühjahr 1919 schreibt Adenauer: „Er [Dorten, P.B.] kam nach einiger Zeit wieder und behauptete, er habe den größten Teil der Bevölkerung Wiesbadens, Nassaus und Hessens hinter sich. Er spielte sich in einer solchen Weise auf, daß ich Zweifel über die Persönlichkeit bekam, namentlich da er mir erklärte, er sei in der Zwischenzeit in Mainz mit der Entente über den Plan einer Westdeutschen Republik in Verbindung getreten. Ich habe daher den Geheimrat Prof. Dr. Eckert gebeten, nach Mainz und Wiesbaden zu fahren, um dort über diesen Herrn und die ganzen Verhältnisse Erkundigungen einzuziehen. Herr Eckert kam später zurück und erklärte, daß Herr Staatsanwalt Dorten dort wenig bekannt sei und dort sich auf seine angeblich schon lange Jahre währende Bekanntschaft mit mir überall beziehe. Das veranlaßte mich, gegen Dorten noch vorsichtiger zu sein, zumal mir Herr Eckert auch sagte, daß Dorten ihn gefragt habe, was er [Dorten, P.B.] dann in der Westdeutschen Republik für eine Stelle bekomme.“459 So wird man die Aussage Dortens mit Vorsicht behandeln müssen, er habe von Adenauer Mitte Januar 1919 die Einwilligung erhalten, in der für den 1. Februar 1919 in Köln geplanten Versammlung den Anschluss des mittleren und südlicheren Rheingebiets an den „einen und unteilbaren“ rheinischen Staat bekanntgeben zu dürfen.460 Er berichtet weiter, dass ihm Adenauer am 31. Januar 1919 mitgeteilt habe, die Reichsregierung habe interveniert und verlange, dass jedwede Entscheidung in der Rheinlandfrage vertagt werden müsse. Adenauer habe sich dieser Anordnung aus Berlin widersetzen wollen und ihm, Dorten, seine Rede dargelegt, die er für die Versammlung am darauffolgenden Tag vorbereitet hatte. Diese habe mit dem Appell geendet, unverzüglich den westdeutschen Freistaat zu proklamieren.461 Nach Dorten soll Adenauer im Januar 1919 also nicht so zurückhaltend und abwartend gewesen sein, wie er sich selbst in seiner Denkschrift darstellt. Vielmehr 458
Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 82 ff. Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 245. 460 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 51. 461 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 52 f. 459
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beschreibt Dorten Adenauer als einen Akteur, der selbst die Rheinlandfrage einer raschen und eindeutigen Klärung zuführen und sich hierzu der Abgeordnetenversammlung vom 1. Februar 1919 bedienen wollte. Nun mag es tatsächlich so sein, dass Adenauer seine eigenen Absichten und seine Rolle zu Beginn des Jahres 1919 betont harmlos dargestellt hat und er sich möglicherweise die Chancen für eine Entscheidung zugunsten des rheinischen Gliedstaates günstiger ausgemalt hatte. Insofern ist nicht ausgeschlossen, dass er mithin auch Dorten, der ihm zu diesem Zeitpunkt noch in Treue zur Seite stand, einige Hoffnungen in der Sache gemacht haben könnte. Richtigerweise weist jedoch Bischof darauf hin, dass Dorten auf gewisse Mentalreservationen Adenauers schließen musste. So habe Adenauer ihm gegenüber stets hervorgehoben, er wolle „die definitive Entscheidung erst während der Versammlung treffen“.462 Dabei kam es, wie bereits gezeigt worden ist, Adenauer besonders darauf an, dass die Entscheidung in der Rheinstaatsangelegenheit einstimmig und parteiübergreifend durch die eingeladenen Abgeordneten des besetzten rheinischen Gebiets gefällt werden sollte. Wenn Dorten also Adenauer mit Blick auf den 1. Februar 1919 unterstellte, der Oberbürgermeister habe an diesem Datum die rheinische Republik ausrufen wollen, so erscheint dies wenig glaubhaft und ist wohl dadurch motiviert, dass der später als Hoch- und Landesverräter schwer belastete Dorten den Oberbürgermeister ebenfalls als Verräter zu kompromittieren suchte. In seinen Memoiren schildert Dorten die Geschehnisse rund um den 1. Februar 1919 so: Adenauer sei an jenem Morgen sehr nervös und dünnhäutig gewesen. Dorten vermutete, dass die Anspannung Adenauers auf eine spontane Aktion des Kölner Volkshumors zurückzuführen gewesen sei. Dieser habe sich kurz vor „Fastelovend“ die Gelegenheit zu einem typischen makabren „Kölnischen Kräzchen“ nicht entgehen lassen und am Vorabend in den Stadtanlagen ein Grab ausgeschaufelt und einen Grabstein gesetzt mit der Inschrift: „Hier ruht Konrad Adenauer, erster Präsident der Rheinischen Republik“.463 Erneut behauptet Dorten, Adenauer habe ihn gebeten, in seinem Oberbürgermeisterbüro zu warten, bis er gerufen werde, um der Parlamentarier-Versammlung die erhaltenen Vollmachten vorzulegen und den Anschluss der südlichen Rheingebiete zu verkünden. Später, nach Stunden des Wartens, sei er auf den Nachmittag verwiesen worden, da Adenauer noch habe versuchen müssen, die Zögernden für die Sache der Rheinischen Republik zu gewinnen.464 Da es aber bekanntlich nicht zu der von Dorten erhofften Proklamation des Weststaates kam, konnte er nicht mit seinen Zustimmungserklärungen von einigen wenigen Lokalpolitikern in Aktion treten, und weil er ja auch nicht zu den geladenen 462 463 464
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 48. Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 53.
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Abgeordneten gehörte, war seine Rolle an diesem 1. Februar 1919 eine ganz unbedeutende. In dem Verhandlungsprotokoll wird weder sein Name noch der Umstand der eingeholten Vollmachten mit auch nur einem Wort erwähnt.465 Somit haftete Dortens ersten Aktionen innerhalb der Rheinstaatsbewegung eine unübersehbare „Weltfremdheit“ an. Er zog durch rheinische Lande und sammelte Vollmachten und Zustimmungsbekundungen für die „rheinische Sache“ von zumeist politisch unbedeutenden Persönlichkeiten, um sodann, hierauf sich stützend, einer der Begründer der rheinischen Republik zu werden. In seiner Selbstüberschätzung und aus einem übersteigerten Sendungsbewusstsein heraus, blendete er die Bedeutung der demokratisch legitimierten Volksvertreter völlig aus, denn er war offenbar der Meinung, diese hätten ab dem Februar 1919 in ihren verfassunggebenden Versammlungen schlicht auszuführen, was er selbst, vor allen anderen, als „wahren Volkswillen“ identifiziert zu haben glaubte, belegt durch lediglich zehn „Vollmachtserklärungen“. Das Ergebnis der Versammlung bedeutete für Dorten nicht nur eine tiefe persönliche Kränkung, sondern auch eine politische Enttäuschung. Mit der versäumten Proklamation und der Verweisung an die noch zu konstituierende Nationalversammlung habe „der kölnische Klüngel […] die rheinische Freiheit eingesargt […]“.466 Pathetisch schreibt er in seinen französischen Memoiren: „Le jour de la Libération s’achevait par son enterrement.“467 Später, im Juli 1919, hieß es in einer Kampfschrift der aktionistischen Rheinstaatsbefürworter, die Sitzung vom 1. Februar 1919 sei ein „völlige[s] Versagen“ gewesen.468 Ausdrücklich verraten fühlte sich Dorten von Adenauer und den übrigen Rheinstaatsbefürwortern aus der Zentrumspartei, denn man habe offenbar die Rheinstaatsfrage bewusst hintertreiben wollen, indem man den Ausschuss mit namhaften Gegenspielern, insbesondere aus der DDP und MSPD, besetzt habe. „Natürlich war die Zusammensetzung dieses Ausschusses in den Parteiküchen gar gekocht worden, sodaß [sic!] es nicht erst zur wahlweisen Abstimmung der Mitglieder kommen konnte; der Umstand allein, daß ihm die beiden einzigen [!] Gegner der rheinischen Sache [d. h. die Sozialdemokraten Meerfeld und Sollmann, P.B.] angehörten, machte ihn zu jeder praktischen Arbeit unfähig.“469 Einmal mehr zeigt sich Dortens Realitätsverlust oder -leugnung, denn neben den beiden Sozialdemokraten waren auch die Liberalen Falk und Weidtmann entschiedene Gegner eines von Preußen unabhängigen Rheinstaates. Dorten schien 465
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 51. Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. 467 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 54. 468 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 37. 469 Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. 466
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schlichtweg nicht in der Lage zu sein, den politischen und auch demokratischen Kompromiss der Parteien anzuerkennen.470 Überdies war Dorten überzeugt davon, dass mit der Konstituierung und den ersten Verhandlungen der Nationalversammlung sowie der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung der günstigste Augenblick zur Ausrufung der Rheinischen Republik verpasst sein würde. Schon am 2. Februar 1919 besuchte Dorten den Kölner Oberbürgermeister erneut im Rathaus und forderte in einem schärferen Ton die sofortige Einberufung des am Vortag gebildeten Westdeutschen Politischen Ausschusses. Dies aber lehnte Adenauer ab und Dorten wurde auf seine Aufgaben „im Süden“ verwiesen. Die beiden Männer seien im gegenseitigen Misstrauen auseinandergegangen: „Nous nous quittâmes dans une atmosphère de défiance réciproque.“471 Trotz alledem bemühte sich Dorten weiterhin, Adenauer zu einem forscheren Vorgehen zu bewegen und ihm eine Entscheidung über die Rheinlandfrage abzuringen. Am 5. Februar 1919 schrieb er Adenauer einen längeren Brief; bezeichnenderweise hatte man offenbar von weiteren persönlichen Zusammenkünften zunächst abgesehen. Dorten eröffnete sein Schreiben, indem er sich als „Anwalt“ derer ausgab, die durch ihre Vollmachten und Zustimmungserklärungen zuvor eine rasche Bildung des Rheinstaates gefordert und erwartet hatten: „Sie [Adenauer, P.B.] hatten die Güte, aus diesen Schriftstücken zu ersehen, daß ich als Bevollmächtigter der vorgenannten Körperschaften und Parteiverbände aufzutreten berechtigt und verpflichtet bin.“472 Man begrüße grundsätzlich den „feierlich erhobenen Einspruch“ der Abgeordnetenversammlung vom 1. Februar 1919 „gegen die Bestrebungen auf Loslösung des linken Rheinufers oder einzelner seiner Teile von Deutschland“ und man wünsche die Aufrechterhaltung des Reichsverbands.473 Ausdrücklich bezog sich Dorten also nur auf den ersten Teil der Resolution, nämlich die Protestation, die ursprünglich gegen die französischen Annexionsabsichten gerichtet war und auf die sich die in Köln versammelten Repräsentanten noch unproblematisch hatten verständigen können. Kritisch wird Dorten erst, wenn er auf den zweiten Absatz der Entschließung zu sprechen kommt, der die Frage nach dem künftigen Bestand Preußens und dem Primat der Nationalversammlung sowie der zu schaffenden Reichsverfassung in der Frage der Westdeutschen Republik zum Gegenstand hat.474 So bekräftigt er, man 470
So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 51. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 55. 472 Brief abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 2, S. 235. 473 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. 474 Zur Erinnerung den Wortlaut des zweiten Absatzes der Resolution: „Da die Teilung Preußens ernstlich erwogen wird, übertragen wir dem von uns gewählten Ausschuß die weitere Bearbeitung der Pläne auf Errichtung einer Westdeutschen Republik im Verbande des Deutschen Reiches und auf dem Boden der von der deutschen Nationalversammlung zu schaffenden 471
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(gemeint sind hierbei stets er und seine „Mandanten“) halte die Teilung Preußens zeitnah für notwendig. Er verwies auf die „Verschiedenartigkeit der Volksstämme“ und erläuterte, dass man aufgrund dessen den Gesamtstaat Preußen nicht mehr als „einheitliche Republik“ betrachten könne.475 Darüber hinaus – und dies ist der eigentliche Kern seiner Kritik an der Entschließung vom 1. Februar 1919 – sei die Rheinstaatsfrage exklusiv durch die betroffenen Rheinländer selbst zu entscheiden, nicht jedoch durch die (gesamt-) deutsche Nationalversammlung: „Hierüber [die Auflösung Preußens, P.B.], sowie über die Zusammenfassung einzelner Teile zu neuen Freistaaten die endgültige Entscheidung zu treffen, ist lediglich Sache der Selbstbestimmung der betreffenden Volksstämme, nicht aber der preußischen Regierung oder Nationalversammlung.“476 An dieser Stelle bringt Dorten gleich zwei zentrale staats- bzw. völkerrechtstheoretische Argumente der Rheinstaatsbefürworter in Stellung, nämlich das schon angesprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker, wobei „Völker“ mit Blick auf die deutsche föderalistische Tradition mit den einzelnen deutschen „Stämmen“, also beispielsweise etwa Bayern, Schwaben, Friesen, Hessen und eben die Rheinländer, gleichgesetzt wurde. Damit ist zugleich das Prinzip der deutschen Stämme als Begründungsansatz angesprochen. Problematisch erscheint jedoch der offenbar recht weit verstandene Stammesbegriff Dortens, wenn er angibt, der Gebietsumfang der zu schaffenden Republik solle „Oldenburg, Teile von Hannover bis zur Weser, Rheinland und Westfalen, Nassau, Rheinhessen und Rheinpfalz“ umfassen.477 So erscheint es auf der einen Seite kaum begründbar im Sinne einer gewissen historischen, kulturellen, religiösen oder sonstigen Homogenität, dass Hannoveraner, Westfalen, Rheinländer und Hessen ein und derselbe deutsche Stamm sein sollten oder aber auf der anderen Seite, warum sich gerade diese verschiedenen Stämme zu einer Westdeutschen Republik zusammenschließen sollten. Erst nachdem sich die Rheinländer in einem Akt, der Ausdruck ihres Selbstbestimmungsrechts als „Volk“ sei, die rheinische oder westdeutsche Republik geschaffen haben würden, durfte nach Dorten die Nationalversammlung tätig werden: „Nach getroffener Entscheidung wird die Stellung des neuen Freistaates innerhalb des Reichsverbandes durch die Reichsverfassung festzulegen sein.“478 Es ist Bischof in seiner Feststellung Recht zu geben, der Dorten in seinem Brief an Adenauer Widersprüchlichkeit und mangelnde Konsequenz vorwirft.479 Als das Reichsverfassung.“, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 229. 475 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. 476 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. Hervorhebungen durch den Verf. 477 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 236. 478 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. 479 Vgl. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 54 f.
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„dringendste Gebot der Stunde“ forderte Dorten „die sofortige Errichtung der Westdeutschen Republik“, wobei er andererseits erklärte: „Namens meiner Auftraggeber erkläre ich deren Einverständnis mit der Errichtung einer westdeutschen Republik im Verbande des Deutschen Reiches und auf dem Boden der von der Deutschen Nationalversammlung zu schaffenden Reichsverfassung.“480 In einem letztlich durchsichtigen Manöver versuchte Dorten mit diesen Formulierungen, seine Forderung nach sofortiger Volksabstimmung, jedenfalls noch vor der Konstituierung der Nationalversammlung, mit dem angenommenen Kompromisstext der Resolution vom 1. Februar 1919 zu versöhnen. Er konnte aber nicht erklären, wie er alsbald „auf dem Boden der […] Reichsverfassung“ die Errichtung der Republik planen konnte, wenn die endgültige Entscheidung über die Staatsgründung gerade der „Selbstbestimmung der betreffenden Volksstämme“481 überlassen werden sollte und es für eine solche Volksabstimmung mangels neuer Reichsverfassung noch gar keine Rechtsgrundlage gab. Vielmehr versuchte Dorten die Absicht zu verschleiern, die ihn bereits von der Mehrheit der Rheinstaatsbefürworter isolierte, nämlich dass die Nationalversammlung vor vollendete Tatsachen in Form des Ergebnisses eines Plebiszits gestellt werden sollte und schließlich keine eigene Entscheidung mehr in der Sache zu treffen haben würde, jedenfalls nicht, ohne den „furor rhenanus“ auf sich zu ziehen. Jenseits der Frage nach den tatsächlich vorhandenen demokratischen Mehrheiten für ein von Preußen losgelöstes Rheinland,482 tritt hier der „Spaltpilz“ der frühen Rheinstaatsbewegung zum ersten Mal klar zutage, nämlich die unterschiedlichen Meinungen in Bezug auf das genaue Vorgehen der rheinischen Staatsgründung. Während die Entschließung der Abgeordnetenversammlung und mit ihr die als gemäßigt oder legalistisch zu bezeichnenden Exponenten der rheinischen Unabhängigkeitsbewegung die Frage des westdeutschen Staates durch die gerade gewählte Deutsche Nationalversammlung entscheiden lassen wollten, forderten Dorten und die ihm folgenden Rheinstaatsanhänger eine plebiszitäre Entscheidung durch die Rheinländer (und gegebenenfalls andere „Stämme“) selbst und der Nationalversammlung sollte es lediglich überlassen bleiben, diesen Ausdruck des rheinischen Volkswillens in der künftigen Reichsverfassung zu formalisieren und damit zu positivieren. Die Nationalversammlung war in dieser Rolle nicht mehr handelnder Akteur, sondern degradiert zum bloßen Exekutor des Willens der rheinischen Bevölkerung. 480
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 236. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. 482 Auch hier erscheint Dortens Konzept, wonach der Rheinstaat auch beispielsweise Hannoveraner und Westfalen einschließen sollte, nicht durchdacht. Denn dass die Bevölkerungen dieser Regionen die Idee eines von Preußen losgelösten westdeutschen Staats weit überwiegend ablehnten, dürfte auch Dorten bekannt gewesen sein. Insofern musste es aus Dortens Sicht zu einer „Volksabstimmung mit ungewissem Ausgang“ kommen. So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 55. 481
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Neben Dorten warb etwa auch der Aachener Zusammenschluss „Verein Republik Rheinland und Westfalen im Deutschen Reichsverbande“483 für die Idee der sofortigen Volksabstimmung. Diesem Verein, der sich ebenfalls seit dem 10. Januar 1919 für eine beschleunigte Staatsgründung in der Rheinprovinz einsetzte und im Februar 1919 etwa 150 Mitglieder hatte,484 gehörten einige lokale Honoratioren an, so etwa der Regierungssekretär Mönikes, der später ein bekennender Führer der Aachener Separatisten werden sollte,485 der Chefredakteur der zentrumsnahen Tageszeitung „Der Volksfreund“ Matthias Salm486 sowie der bereits erwähnte Vogel, der von den Bemühungen Kasterts inspiriert worden war und bereits an der Kölner Versammlung vom 4. Dezember 1918 teilgenommen hatte. Von Letzterem trennte sich der Aachener Verein jedoch bald, nachdem Vogel Positionen vertreten hatte, die auf einen selbständigen Rheinstaat als Pufferstaat abzielten.487 Interessanterweise hatte die Aachener Gruppe Adenauer ebenfalls am 5. Februar 1919 einen Brief zukommen lassen, der inhaltlich in seinen Forderungen mit dem Dortens übereinstimmte. Der Verein unterstrich, dass er „die Errichtung der Republik durch eine neue allgemeine und geheime Volksabstimmung“ anstrebte, denn „die zu den Nationalversammlungen getätigten Wahlen haben nicht mit Rücksicht auf die Entscheidung über die Gründung einer Republik Rheinland & [sic!] Westfalen stattgefunden“.488 So wurde die Versammlung vom 1. Februar 1919 zu einem Schlüsselerlebnis in der frühen Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen. Ob freilich die Meinungen über den Zweck der Abgeordnetenversammlung von Adenauer, stellvertretend für die eher gemäßigte Strömung, und Dorten, der bereits zunehmend aktionistisch dachte, derart weit auseinanderlagen, ist schwer festzustellen. Tatsächlich wird Dorten davon ausgegangen sein, dass auf der Sitzung am Ende die selbständige Republik proklamiert würde, während Adenauer, sehr viel realistischer, die Zusammenkunft und die zu beschließende Resolution lediglich als einen weiteren Schritt im evolutiven Prozess einer bevorstehenden Reichsgebietsneugliederung
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Auch bezeichnet als „Ausschuß für die Republik Rheinland-Westfalen“ sowie „Aachener Ausschuß zur Förderung der Bildung einer selbständigen Rheinisch-Westfälischen Republik im Verbande des Deutschen Reiches“, vgl. Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 542 und 546. Die Uneindeutigkeit in der Namensgebung ist bezeichnend für den niedrigen und wechselhaften Organisationsgrad der lokalen Rheinstaatsinitiativen. 484 Reichsgericht, Aachener Berichte 1919. Aus den Voruntersuchungsakten des Reichsgerichts gegen Dr. Dorten wegen Hochverrats, in: BArch Koblenz ZSG 105/1262, Bl. 11. 485 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 54. 486 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 54. 487 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 109. Dazu Mönikes: „So verlangte er [Vogel, P.B.] wirtschaftliche Selbständigkeit, das Recht des Abschlusses eigener Handlungsverträge und eigener politischer Vertretungen. Es war klar, daß die Erfüllung dieser Forderungen eine Loslösung vom deutschen Reiche [sic!] zur Folge haben würde. Dem aber konnten wir nicht folgen.“, in: BArch Koblenz ZSG 105/1262, Bl. 5. 488 Brief des Vereins an Adenauer vom 5. Februar 1919, in: HAStK 902/253/1.
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verstand, in welchem der Kölner Oberbürgermeister das Rheinland geschlossen und argumentativ „gut aufgestellt“ wissen wollte.489 Vor allem das weitere Vorgehen in der Sache entfremdete die beiden Repräsentanten der sich abzeichnenden unterschiedlichen Flügel der Rheinstaatsbewegung. Adenauer kam es nicht nur auf einen breiten politischen Konsens an, sondern er verfolgte auch einen weitgehend legalen, das heißt, soweit ausgestalteten verfassungsmäßigen Weg, wenn er stets forderte, dass die Rheinstaatsfrage nicht ohne die Beteiligung der gerade gewählten Nationalversammlung und unabhängig von der zu schaffenden Reichsverfassung entschieden werden könne: „Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Westdeutsche Republik unbedingt auf dem gesetzmäßigen Wege geschaffen werden muß […].“490 Die Errichtung eines westdeutschen Staats wurde mithin als gesamtdeutsches Problem begriffen und auf den Weg des Rechts verwiesen. Dorten dagegen trat immer mehr als Exponent der aktionistischen „Hardliner“ auf, die bereit waren, den schnellen Weg einzuschlagen. Das hieß sofortige Proklamation eines Rheinstaates als unumkehrbaren fait accompli ohne Mitarbeit oder Einbeziehung der Nationalversammlung und schon gar nicht der sozialistischen Reichsführung oder der preußischen Regierung. Überdies war für diese Strömung, hierauf wird noch zurückzukommen sein, eine offene Zusammenarbeit mit den französischen Besatzungsmächten zur Forcierung ihrer Rheinstaatsbestrebungen nicht ausgeschlossen. Dabei riskierte Dorten, dass im weiteren Verlauf die Grenze zwischen seinem eigentlich avisierten Föderalismus einerseits und Separatismus andererseits verwischte. Durch sein ausgeprägt partikularistisches Denken veranlasst, betrachtete Dorten die Frage nach der Rheinstaatsgründung allein als eine Angelegenheit der rheinischen Bevölkerung, welche hierbei keine Einigung mit der Reichs- oder der preußischen Staatsregierung und eben auch nicht mit der gesamtdeutschen Nationalversammlung zu suchen brauchte. Genau in diesem geplanten Vorgehen Dortens und seiner Anhänger wurzelt der wiederholte Vorwurf des Separatismus, denn es ging dieser Strömung letztlich um die Befreiung des Rheinlands von dem politischen und rechtlichen Einfluss und Willen des übrigen Reiches und seiner Organe, wenn auch nicht die territoriale Sezession vom Reichsgebiet gefordert wurde.491 Moldenhauer erinnert sich im Jahre 1920 daran, dass mit Dorten und anderen eine „neue Bewegung“ in der Rheinlandfrage entstanden sei, die eine selbständige, das heißt vollkommen autonome Rheinische Republik angesteuert gehabt habe.492 Auch 489 Adenauer: „Ich habe in keiner Weise daran gedacht, daß etwa an diesem Tage die Westdeutsche Republik ausgerufen werden sollte.“, in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 244. 490 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 225. 491 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 56. 492 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 6.
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Huber macht früh eine Spaltung der Rheinstaatsbewegung in zwei Lager aus: „Ein Teil der Befürworter der ,Westdeutschen Republik‘ hielt es im Anfang für ernsthaft denkbar, die Reichszugehörigkeit eines unter der Besatzungsmacht verselbständigten westdeutschen Staats zu wahren. Ein anderer Teil, die Gruppe der eigentlichen ,Separatisten‘, dagegen spiegelte die Absicht, an der Reichszugehörigkeit des neuen Weststaats festzuhalten, nur vor, um nicht den elementaren Widerstand der deutschbewußten Bevölkerung herauszufordern.“493 Dabei charakterisiert Huber die repräsentativ-legalistische Strömung ungenau, denn die „Konstitutionalisten“ waren gerade nicht gewillt, die Rheinische Republik mit Hilfe der Ententemächte zu gründen, sondern hofften auf die Debatten in der Nationalversammlung und eine ausschließlich „deutsche Lösung“. Schwarz sieht nach dem 1. Februar 1919 die „Autonomisten [um Dorten, P.B.] ausmanövriert“.494 Diese pointierte Auffassung dürfte jedoch mit Blick auf den weiteren Verlauf der ersten Rheinstaatsbestrebungen im Frühjahr 1919 allzu vorschnell sein, denn Dorten und seine Anhänger dachten gar nicht daran, sich der weiteren Debatte um den Rheinstaat zu enthalten. Diese Strömung blieb weiterhin ein bedeutsamer historischer Akteur.
X. Das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 Als die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung am 6. Februar 1919 im Weimarer Hoftheater von dem MSPD-Politiker Eduard David eröffnet wurde, war es, von der USPD einmal abgesehen, Konsens, dass die Zeit des staatsrechtlichen Interims so rasch wie möglich beendet werden sollte.495 Mit dem „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“496, welches am 10. Februar 1919 verabschiedet wurde, nachdem es der Versammlung erst am 8. Februar 1919 zugeleitet worden war, legte die Nationalversammlung den ersten Stein für die noch zu schaffende Reichsverfassung. Dabei galt dieses frühe Staatsorganisationsgesetz, das lediglich zehn Paragraphen umfasste, als eine Art vorläufige oder „vorweggenommene“ Reichsverfassung, indem es die wesentlichen Verfassungsorgane bereits festlegte. Es war die Rechtsgrundlage sowohl für die Wahl des Reichspräsidenten als auch für die von diesem zu bestellende Reichsregierung. Am 14. August 1919 wurde es schließlich von der Reichsverfassung außer Kraft gesetzt (Artikel 178 Satz 1 WRV). Zunächst rückte die Nationalversammlung in die Position der Legislative, des bisherigen Reichstages, ein. Neben der Verfassunggebung war sie kompetent, auch 493 494 495 496
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1129. Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952 (Fn. 2), S. 221. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 17. Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt v. 10. Februar 1919, RGBl. Nr. 33, S. 169.
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„sonstige dringende Reichsgesetze zu beschließen“ (§ 1). Die Gliedstaaten des Reiches waren vertreten in einem „Staatenausschuss“ (§ 2). Bereits auf einer Staatenkonferenz der Vertreter der Einzelstaaten, die am 25. und 26. Januar 1919 getagt hatte und die seit diesem Datum Einfluss auf die Verfassungsberatungen ausübte, war beschlossen worden, die Gliedstaaten in Form eines Staatenausschusses an den Verfassungsberatungen zu beteiligen. Dies war von Preuß zunächst nicht vorgesehen worden und erfolgte insgesamt gegen seinen Widerstand. § 2 regelte hierzu: „Der Staatenausschuß wird gebildet von Vertretern derjenigen deutschen Freistaaten, deren Regierungen auf dem Vertrauen einer aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beruhen.“ Damit sicherte das Gesetz das republikanische und demokratische Prinzip als Grundlage allen neuen deutschen Verfassungsrechts ab. Jeder Freistaat hatte mindestens eine Stimme, dabei jedoch eine Stimme pro eine Million Landeseinwohner (§ 2 Absatz 2). Mit Blick auf einen möglichen Anschluss Deutschösterreichs formulierte man für den Staatenausschuss: „Wenn Deutsch-Österreich sich dem Deutschen Reiche anschließt, erhält es das Recht der Teilnahme am Staatenausschusse mit einer dem Abs. 2 entsprechenden Stimmenzahl.“ Kein Gliedstaat sollte jedoch mehr als ein Drittel aller Stimmen innehaben. Helmut Klaus spricht davon, dass diese Bestimmung „die erste gegen Preußen gerichtete Gesetzesnorm“ gewesen sei.497 Mit diesem Gremium war der spätere Reichsrat vorgeformt worden. Immerhin konnte die Reichsregierung durchsetzen, dass sie den Vorsitz des Staatenausschusses einnahm. Zügig kam die Staatenkonferenz zunächst vom 27. bis 30. Januar 1919 in Berlin zusammen, wobei ihr ein Entwurf des Reichsamtes des Innern für das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vorlag. Nach heftigen Debatten wurde festgelegt, dass für die Reichsverfassung die alleinige Kompetenz der Nationalversammlung bestand, mit der Ausnahme der Gebietsänderungen (s. u.). (Einfache) Reichsgesetze kamen durch Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staatenausschuss zustande (§ 4 Absatz 2). Ergänzend bestimmte § 4 Absatz 2: „Ist eine solche Übereinstimmung nicht zu erzielen, so kann der Reichspräsident die Entscheidung durch eine Volksabstimmung herbeiführen.“ Hier wird deutlich, dass sich die zunächst provisorischen Verfassunggeber von Weimar gegenüber Plebisziten offen zeigten. Besonders interessant ist die den Freistaaten gegenüber abgegebene Zusicherung, wonach ihr Gebietsstand nur mit ihrer Zustimmung geändert werden konnte (§ 4). Dieses Vetorecht der Landesregierungen bedeutete eine Niederlage Preuß‘, der in seinem (zweiten) Entwurf vom 20. Januar 1919 auch auf die Volksabstimmung als Instrument der territorialen Neugliederung quasi „von unten“ her und gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Landesregierungen gesetzt hatte. Er be497 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung, 2006, S. 21.
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gründete in der Nationalversammlung die Einführung dieser abschließenden Entscheidungsbefugnis durch den betreffenden Einzelstaat mit einer Kapitulation vor den politischen Begebenheiten; eine lokale Volksabstimmung ohne Vetorecht des Einzelstaates sei nicht durchsetzbar gewesen.498 Es ist Kolb Recht zu geben in seinem Fazit: „Mochte das alles auch als ,vorläufig‘ deklariert werden – durch die Macht des Faktischen war schon vor Beginn der eigentlichen Verfassungsberatungen mit Reichstag, Reichspräsident, Reichsministerium und Reichsrat die Grundstruktur des Verfassungsbaus festgelegt.“499 Den Plänen des Rates der Volksbeauftragten für einen weitgehend zentralisierten Einheitsstaat war eine klare Absage erteilt und die föderale Struktur des Reiches war bestätigt worden. Diesen bundesstaatlichen Zug in den Verfassungsberatungen und die Durchsetzungsstärke und Machtstellung der Einzelstaaten dürften auch die Rheinstaatsanhänger zur Kenntnis genommen haben.
XI. Die Sechs-Punkte-Erklärung der Aktionisten vom 6. März 1919 Ende Februar 1919 hatte Dorten nochmals, aber letztlich vergeblich versucht, Adenauer für ein radikaleres Vorgehen in der Rheinstaatsfrage zu gewinnen. Am 28. Februar 1919 ließ er dem Oberbürgermeister eine kurze Notiz zukommen, die eine energische und nachdrückliche Aufforderung im Namen des gemeinsamen Arbeitsausschusses von Wiesbaden und Mainz enthielt. Darin hieß es: „Ein weiteres Hinausschieben der Errichtung der Westdeutschen Republik läuft den Interessen Nassaus und Rheinhessens zuwider. Wir werden zum Handeln gedrängt. Daher erwarten wir bis zum 4. März 1919 eine unzweideutige Erklärung des rheinischen Ausschusses [gemeint ist der Westdeutsche Politische Ausschuss500, P.B.]. Andernfalls werden wir zur Tat schreiten.“501 Am 3. März 1919502 traf Dorten zum letzten Mal Adenauer für eine Unterredung in Köln. Ebenfalls zufällig anwesend bei diesem Gespräch war ein gewisser Major 498
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 24. Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 18. 500 In der Aufforderung selbst wird Adenauer adressiert als „Vorsitzende[r] des Rheinischen Ausschusses für die Errichtung einer Westdeutschen Republik“, was eine bewusste Falschbezeichnung des Ausschusses darstellt, vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 247. Offenbar sollte Adenauer durch diese Anrede vor Augen geführt werden, zu welchem Zweck dieser Ausschuss aus Sicht des Dorten-Zirkels gegründet worden war, nämlich zur Forcierung der unverzüglichen Staatsgründung. 501 Erklärung abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 247 f. 502 Das exakte Datum ist nicht rekonstruierbar: Adenauer selbst gibt den 3. März 1919 an, während Dorten sich an den 5. März zu erinnern glaubt, vgl. Dorten, La tragédie rhénane 499
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Kroeger aus dem großen Generalstab der Obersten Heeresleitung (OHL), den Adenauer bei dem vorherigen Gesprächstermin gebeten hatte, noch im Rathaus zu bleiben und Dorten kennenzulernen. Kroeger sollte sich ein Bild von den Dortenschen Bestrebungen machen können und Adenauer war wohl interessiert daran, einen Zeugen für diese Unterredung zu haben.503 In seiner Denkschrift erinnert sich der Kölner Oberbürgermeister an das Gespräch: „Dorten verlangte von mir in schroffen Worten eine Erklärung darüber, ob ich jetzt zur Tat schreiten wolle. Ich habe ihm erwidert, auf eine derartige, in solchem Ton gestellte Anfrage gäbe ich ihm überhaupt keine Antwort. Er lenkte darauf ein. Ich sagte ihm, daß ich an meinem abwartenden Standpunkte festhielte, daß er im übrigen [sic!] tun und lassen könne, was er wolle.“504 Neben der freimütigen Selbstpositionierung Adenauers („meinem abwartenden Standpunkte“) interessiert zunächst die Beobachtung, dass Adenauer sich durch die aktivistische Strömung zunehmend unter Druck gesetzt sieht, eben gerade aufgrund seiner tastenden und passiven Haltung. Er berichtet: „Aus verschiedenen Nachrichten, die mir zukamen, merkte ich, daß eine Gruppe um die Kölnische Volkszeitung, insbesondere die Herren Dr. Hoeber, Bachem, Dr. Froberger, Oberpfarrer Kastert, mit meiner abwartenden Haltung in keiner Weise einverstanden waren. Man machte von dieser Seite aus sehr gegen mich Stimmung. Ich habe das bei einer Gelegenheit Herrn Dr. Froberger und Herrn Oberpfarrer Kastert ins Gesicht gesagt und hinzugefügt, daß ich mich dadurch zu nichts drängen lassen würde, was ich im Interesse des Vaterlandes nicht für richtig hielte.“505 An dieser Stelle gibt Adenauer an, wer mittlerweile den aktionistischen, vorpreschenden Flügel der Rheinstaatsbewegung personell formte, nämlich neben Dorten die Gruppe um die Kölnische Volkszeitung, von der bereits die Rede gewesen ist und noch weiterhin sein wird. Um diesen Kreis war es zwischen Dezember 1918 und Februar 1919 etwas ruhiger geworden, er agierte und agitierte jedoch weiterhin im Hintergrund und mit den Mitteln des propagandistischen Journalismus. Mit der Wahl Kasterts in die verfassunggebende Preußische Landesversammlung verfügte die Gruppe ab dem 26. Januar 1919 über einen politischen Entscheidungsträger in ihren Reihen, so dass sie zunehmend wieder an Einfluss gewinnen und diesen auch geltend machen konnte. In einem Brief an Adenauer vom 11. April 1925 beschreibt Major Kroeger das Auftreten Dortens rückblickend so: „Dr. Dorten, der während der ganzen Bespre(Fn. 444), S. 56. Daraus macht Bischof wohl einfach „vermittelnd“ den 4. März, Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 56. Die genaue Datierung ist jedoch weniger bedeutsam. 503 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 248. 504 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 248. 505 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 246 f.
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chung allein das Wort führte, machte Ihnen heftige Vorwürfe, daß Sie in der Frage eines selbständigen Rheinlandes nicht so gearbeitet hätten, wie er – Dorten und seine Freunde – es von ihnen erwartet hätten. Ich erinnere mich noch ziemlich genau der Worte, die stark theatralisch vorgetragen wurden: ,Wir haben auf Ihre Fahne geschworen. Sie sollten unser Führer sein, Sie aber haben die Fahne und uns im Stich gelassen.‘“506 Die Argumentation Dortens, so erinnerte sich der Major, sei zweifelsohne separatistisch gewesen. Dorten habe seine Pläne „einer gewaltsamen Trennung des Rheinlandes“ mit der ihm vermeintlich aus sicherer Quelle bekanntgewordenen Tatsache gerechtfertigt, dass Frankreich „seinen Plänen sympathisch gegenüberstände“.507 Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob sich Dorten in der Anwesenheit eines Stabsoffiziers der OHL derart offen zu seinen wohlwollenden französischen Verbindungen bekannt haben mag, so dass diese Erinnerung Kroegers mit Vorsicht zu behandeln ist.508 Wahrscheinlicher ist, dass sein Erinnerungsvermögen im Jahre 1925 von den unverhüllt separatistischen Ereignissen der Zwischenzeit beeinflusst sein dürfte. Jedenfalls zum Zeitpunkt März 1919 ist es wenig wahrscheinlich, dass sich Dorten explizit für eine Sezession des Rheinlandes vom Deutschen Reich ausgesprochen haben sollte. Die Eile Dortens erklärt sich jedenfalls damit, dass er Kenntnis von dem angeblichen Umstand erhalten hatte, dass die Rheinlandfrage, und mit ihr die französischen Forderungen mit Blick auf das linksrheinische Gebiet, zeitnah durch die Ententemächte in Paris verhandelt werden würden.509 Ebenso wie die deutsche Nationalversammlung sollten auch Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten durch die baldige Proklamation des Rheinstaats vor vollendete Tatsachen gestellt werden, die sie dann in ihren Friedensbedingungen zu berücksichtigen hätten.510 Köhler weist überdies mit Recht darauf hin, dass in Berlin der Straßenkrieg wieder heftiger aufgeflammt war, der erneut „die vagen Angstgefühle vor dem ,Bolschewismus‘“ auslöste, was auch für den erklärten Anti-Bolschewisten Dorten eine weitere Motivation gewesen sein dürfte.511 506
Brief Major Kroegers an Adenauer abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 236 f. 507 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 236 f. 508 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 117. 509 Vgl. hierzu Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 38. 510 Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 56. Die Autoren gehen jedoch davon aus, dass Dorten hierbei an den 6. März 1919 gedacht hat. Tatsächlich fanden die entscheidenden Verhandlungen der Ententemächte jedoch erst am 11. bis 14. März 1919 statt. 511 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 71.
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Auf Dortens Einlassungen habe Adenauer, so Kroeger, mit scharfer Ablehnung reagiert und festgestellt, dass die „gewaltsame Trennung“ nur einen Landesverrat bedeuten könne. Auch habe der Oberbürgermeister entgegengehalten, dass „englische führende Persönlichkeiten“, also über die Vertreter der Kölner Militärbehörden hinausgehende Verantwortliche, „allen derartigen Tendenzen in schärfster Form ablehnend“ gegenüberständen. Eine andere Frage sei es freilich, ob man erwöge, „einem erweiterten Rheinlande innerhalb Deutschlands eine Sonderstellung in dieser oder jener Form einzuräumen“, aber dafür, so gibt Kroeger Adenauers Position wieder, seien „im Augenblick die Verhältnisse viel zu ungeklärt, um bestimmte Pläne zu fassen“.512 In seinen Memoiren stellt Dorten das Gespräch mit Adenauer und die Rolle Major Kroegers erwartungsgemäß anders dar. So habe Adenauer versucht, ihn zu beeindrucken und einzuschüchtern, indem er vorgab, dass Kroeger von der OHL eigens in das Rheinland abkommandiert worden sei, um eine Untersuchung über die rheinische Bewegung anzustellen. Die Heeresleitung verurteile eine zumindest überstürzte Proklamation der Rheinischen Republik und sei überdies in der Lage, den Bolschewismus und Anarchismus in Berlin unter Kontrolle zu halten, so dass man sich im Rheinland keine Sorgen um einen kommunistischen Umsturz zu machen brauche. Unter Verweis auf die wirksamen Aktivitäten der OHL habe sich Adenauer außerstande erklärt, den Westdeutschen Politischen Ausschuss einzuberufen, geschweige denn, Beschlüsse in Dortens Sinne zu fassen. Auf diese Ausführungen Adenauers hin, zu denen Major Kroeger die ganze Zeit über geschwiegen habe, sei es zum Streit mit dem Oberbürgermeister gekommen, denn Dorten habe den Anwesenden zu verstehen gegeben, dass sich die OHL aus den rheinischen Interna herauszuhalten habe.513 Dieses Treffen im Kölner Rathaus vom 3. März 1919 markiert den Bruch zwischen den beiden zentralen Persönlichkeiten in den ersten Rheinstaatsbestrebungen. Dorten musste schließlich eingesehen haben, dass der Kölner Oberbürgermeister als einer der mächtigsten und einflussreichsten Politiker des Rheinlandes nicht für die aktivistische Rheinstaatspolitik zu gewinnen war. Daraufhin reifte in Dorten der Entschluss, jegliche Verbindung zu Adenauer, den er als Verräter an der rheinischen Sache betrachtete,514 abzubrechen.515 Adenauer erwähnt fast beiläufig in seiner Denkschrift, dass er sich anlässlich dieses letzten Zusammentreffens mit Dorten mit den Zentrumspolitikern Hugo
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Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 237. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 56: „[…] nous étions d’avis que la [sic!] Oberste Heeresleitung n’avait rien à voir dans les affaires intérieures de la Rhénanie.“ 514 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 58. 515 „Cette insolente tentative de duperie augmenta notre désir de couper court à toute collaboration avec Adenauer“, Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 56. 513
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Mönnig und einem Herrn Bollig ausgesprochen habe und man sich darüber einig gewesen sei, dass man auf Dorten „nichts weiter geben solle“.516 Dorten und mit ihm der forsch voranschreitende Kern der Rheinstaatsbewegung verfolgten jedoch weiterhin einen eigenständigen Kurs und blieben skeptisch sowohl gegenüber dem Westdeutschen Politischen Ausschuss als auch gegenüber den gewählten Repräsentanten in den verfassunggebenden Versammlungen und den Parteien im Allgemeinen. Immer mehr traten dabei plebiszitäre Tendenzen und das Prinzip der Stammessouveränität in den Vordergrund der zunehmend theoretisierenden Argumentation der Aktionisten, wie sie sich etwa in der sogenannten SechsPunkte-Erklärung vom 6. März 1919 zeigte.517 Da von den Beratungen der parlamentarischen Gremien sowie des Parlamentarier-Ausschusses vom 1. Februar 1919 nichts an die Öffentlichkeit gedrungen war, meinten vor allem die außerhalb der politischen Parteien stehenden Rheinstaatsbefürworter, nun selbst die Initiative ergreifen zu müssen. Um gegebenenfalls den Versailler Friedensverhandlungen noch vorgreifen zu können, wurde das Drängen nach sofortiger Bildung einer westdeutschen Republik und Durchführung einer Volksabstimmung in dem betreffenden Gebiet stärker. Die Kölnische Volkszeitung hatte bereits am 2. März 1919 die Nachricht lanciert, dass nach einer Erklärung des außenpolitischen Beraters von Premierminister Georges Clemenceau, André Tardieu, der Präliminarfrieden zwischen dem 8. und 15. März 1919 unterzeichnet werden würde und die noch ungelösten Fragen, also auch die nach der deutsch-französischen Grenze und damit die Rheinlandfrage, bis dahin geklärt sein müssten.518 Wie bereits erwähnt, fanden die diesbezüglichen Verhandlungen dann zwischen dem 11. und 14. März 1919 statt. Die Staatsgründung und damit die Selbstorganisation der rheinischen Bevölkerung sollten nach dem Willen des Dorten-Zirkels bestenfalls schon vorher, jedenfalls aber zeitgleich erfolgen. Hinter der (ursprünglichen) Sechs-Punkte-Erklärung standen, neben Dorten, der bereits erwähnte Herausgeber und die Redakteure der Kölnischen Volkszeitung, Franz Xaver Bachem, Hoeber und Froberger, ferner Kastert sowie der Kölner Bankier Konsul von Stein und der Verleger des „Kölner Tageblattes“ Ahn.519 Bezeichnenderweise traf sich dieser Kreis im sogenannten Windthorst-Saal in den
516
Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 248. 517 Es ist verwirrend, wenn Köhler lediglich von einer Fünf-Punkte-Erklärung spricht, vgl. Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 73. Näheres dazu im Folgenden. 518 KV Nr. 171 v. 2. März 1919. 519 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 249.
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Redaktionsräumlichkeiten der Kölnischen Volkszeitung.520 Dieser Umstand illustriert die weiterhin herausgehobene Rolle der katholischen Zeitung in der aktionistischen Strömung. Köhler nennt das Redaktionshaus der Volkszeitung mit Recht die „Hochburg der Bewegung“.521 Erneut wurde in der Verlautbarung das Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes bemüht (Punkt eins). Der zu bildende Rheinstaat sollte im Reichsverband verbleiben (Punkt zwei), aber er sollte ein Freistaat werden als „Gewähr für den Frieden Europas“ und als „Damm gegen bolschewistische Überflutungen“ (Punkt vier).522 Klar zeigt sich hier einmal wieder die sowohl pazifistische als auch antibolschewistische Stoßrichtung des Vorbringens der rheinischen Aktivisten. Es bleibt jedoch unklar, wie die „Friedensrepublik“ Rheinland sich einerseits dem Sozialismus erwehren sollte, andererseits aber einen friedlichen Ausgleich zwischen dem Westen und Osten schaffen würde, waren doch offensichtlich die preußische Landes- sowie die Reichsregierung schon gegen diese westdeutsche Republik eingestellt. Der dritte Punkt pochte auf die Unversehrtheit des vermeintlich rheinischen Gebiets, indem es hieß: „Rheinland, Nassau und Rheinhessen müssen ein einheitliches Staatsgebilde darstellen. Der Anschluß der Rheinpfalz, von Westfalen und Oldenburg ist dringend erwünscht.“ Die Erklärung sprach also nicht mehr wie noch am 4. Dezember 1918 von einer „Rheinisch-Westfälischen Republik“, wie sie auch in Dortens Brief an Adenauer vom 5. Februar 1919 noch skizziert worden war. Den beteiligten Akteuren dürfte mittlerweile bewusst geworden sein, dass man jedenfalls auf das Ruhrrevier nicht werde zählen können.523 Neben diesen gängigen Argumentationsansätzen ist ferner die Betonung des direktdemokratischen Verfahrens, also die Forderung nach einer Volksabstimmung, besonders bemerkenswert (Punkt fünf524) sowie die Tatsache, dass sich die Verfasser der Entschließung nunmehr für allein kompetent und federführend in der Rheinstaatsfrage erklärten, denn sie betrachteten ausdrücklich den gerade erst gebildeten Westdeutschen Politischen Ausschuss „infolge seiner bisherigen gänzlichen [!] Untätigkeit als erledigt“ (Punkt sechs). Durch diese Überrumpelung Adenauers und der gewählten Repräsentanten galt die Erklärung dem harten Kern der Rheinrepublikbewegung als „das erste Dokument rheinischer Aufrichtigkeit“.525
520
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 59. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 71. 522 Text der Resolution abgedruckt in Michaelis/Schraepler/Scheel, Ursachen und Folgen, Bd. 3, 1958, Nr. 628. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 523 So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 61. 524 „Daher wollen wir die sofortige Errichtung der Westdeutschen Republik und erwarten von den zuständigen Stellen die unverzügliche Zulassung einer Volksabstimmung in den beteiligten Gebieten“, vgl. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 61. 525 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 39. 521
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Schließlich wurde Dorten von der Runde zum „Ersten Bevollmächtigten“ ernannt und er hatte den Auftrag, die Entschließung den alliierten kommandierenden Generälen in Köln, Koblenz und Mainz zuzustellen, die diese wiederum an ihre Regierungen weiterleiten sollten.526 Dieses Vorgehen kann nicht anders denn als Versuch gewertet werden, die Reichsregierung zu „überspielen“ und bei den Ententemächten gegebenenfalls Verbündete in der Sache zu finden, vor allem in Frankreich.527 Es ist insbesondere diese von Anfang an gesuchte Kollaboration mit den alliierten Siegermächten, die den Aktionisten um Dorten, Froberger und Kastert den Vorwurf des Hoch- oder Landesverrats und der separatistischen Sonderbündelei einhandelte. Die Erklärung war in der Vorbereitung einer Versammlung der radikalen Rheinstaatsaktivisten verfasst worden und sollte kurz darauf im Kölner Zivilkasino in einem größeren Kreis von geladenen Personen zur Annahme gebracht werden.
XII. Die Bildung des „Ausschusses für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik“ vom 10. März 1919 Als Gegenentwurf zu dem abwartenden, bisher untätigen Westdeutschen Politischen Ausschuss Adenauers bildete die Kasino-Versammlung der aktionistischen Rheinstaatsenthusiasten um Dorten und die Vertreter der Kölnischen Volkszeitung am 10. März 1919 den sogenannten „Ausschuss für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik“. Eingeladen zu dieser Zusammenkunft waren etwa 100 Personen „einer prominenten Oberschicht“528. Ebenso sollte die vorbereitete Erklärung angenommen werden, die in ihrem sechsten Punkt die Arbeit des Parlamentarier-Ausschusses vom 1. Februar 1919 für beendet erklärte – zumindest aus der Sicht derjenigen Unabhängigkeitsbefürworter, die die rheinische Republik unverzüglich im Wege einer Volksabstimmung faktisch schaffen wollten, ohne die Diskussion und Entscheidung sowohl der Reichsregierung als auch der Nationalversammlung abzuwarten. Man berief sich bei der Forderung einer sofortigen Volksabstimmung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker.529 Huber nennt diese Erklärung demnach „Aktivisten-Resolution“.530
526 527
S. 52. 528
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 60. So auch Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8),
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 64. Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 544. 530 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1138. 529
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Mit diesem „Putsch“ innerhalb des Lagers der Rheinstaatsbefürworter war die Spaltung nun auch offiziell vollzogen und die „Gruppe Dorten“531 verstand sich fortan als die alleinige „Speerspitze“ der Bewegung. Dorten schreibt in seinen Memoiren: „Mit denselben Vollmachten wie Adenauer ausgestattet, mußte ich mich von dann an als ordnungsmäßig berufenen Führer der Bewegung betrachten, zumal Kastert als Bevollmächtigter der Zentrumsabgeordneten bei meiner Bestallung mitgewirkt hatte.“532 Tatsächlich handelte es sich bei der Kasino-Versammlung eher um eine Vollversammlung der rheinischen Arbeitsausschüsse, die zumeist von Dorten selbst ins Leben gerufen worden waren,533 und deren Sympathisanten. Insofern war der Westdeutsche Politische Ausschuss als Ausschuss der gewählten rheinischen Repräsentanten in den verfassunggebenden Versammlungen das repräsentativere und mithin legitimere Gremium. Dies verkennt Reimer, wenn er schreibt: „Die Diskussion, ob der Westdeutsche Politische Ausschuß oder der Kasinoausschuß eine rechtmäßige Vertretung der rheinischen Bevölkerung darstellte, ist müßig, da beide mehr oder weniger einer privaten Initiative entsprangen.“534 Als „private Initiative“ kann man lediglich die Kasino-Versammlung einordnen, jedoch schwerlich die vom Kölner Oberbürgermeister in dieser offiziellen Funktion einbestellte ParlamentarierKonferenz vom 1. Februar 1919. Dies anerkennt selbst der Rheinstaatsgegner Brüggemann, der zum Westdeutschen Politischen Ausschuss schreibt: „Damit kam die ganze Angelegenheit endlich aus den privaten Konventikeln vor die allein durch allgemeine Wahl berufenen Vertreter der gesamten Bevölkerung.“535 Mit der allgemeinen Entscheidung für die repräsentative Demokratie waren die Abgeordneten der allgemein gewählten verfassunggebenden Versammlungen berufen, den staatsorganisationsrechtlichen Neuaufbau des Reiches zu beraten und zu beschließen. Die Vorstellung Dortens, sein aktionistischer Honoratioren-Club könnte die zuvor stattgefundene unmittelbare Volkswahl zu der National- und Landesversammlung ignorieren, ist eine vordemokratische. Der radikale Flügel der Unabhängigkeitsbewegung pervertierte für seine Zwecke den direktdemokratischen Gedanken bis hin zu sektiererischen Verzerrungen. Die Bezeichnung des neugegründeten Zirkels blieb jedoch einerseits zurückhaltend, hatte man doch jede Namensgebung vermieden, die den Vorwurf des Separatismus, Antisozialismus, Klerikalismus oder Ähnliches nach sich ziehen konnte. Andererseits waren der Zweck des Ausschusses, nämlich die westdeutsche Republik, und das Mittel hierfür – die Volksabstimmung in den in Rede stehenden Gebieten – klar benannt. 531 532 533 534 535
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135. Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 62. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 121. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 47.
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Mit Fritz Stier-Somlo, einem bekannten Professor für Öffentliches Recht an der Handelshochschule Köln, hatte man zudem eine Persönlichkeit für den Ausschussvorsitz gewinnen können, die, von den bisherigen Grabenkämpfen unbelastet, als um Mäßigung und Ausgleich bemühter anerkannter Fachmann auftreten und den zuweilen hitzköpfigen Aktionisten eine gewisse Seriosität verleihen konnte. Der Verfassungsrechtler hatte im Januar einen eigenständigen Verfassungsentwurf für die „Vereinigten Staaten von Deutschland“536 erarbeitet, der einen weitgehend föderalistischen Bundesstaat vorsah,537 seitens der politischen Entscheidungsträger, vor allem von Seiten des federführenden Reichsamts des Innern, jedoch wenig Beachtung gefunden hatte.538 Darüber hinaus war Stier-Somlo „ein rühriges Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei“,539 die den Rheinstaatsenthusiasten, die zu einem Großteil Zentrumsmitglieder waren, an sich skeptisch gegenüberstand. Mit der Person Stier-Somlos als Vorsitzendem hatte man also eine gewisse Überparteilichkeit suggerieren können. Adenauer nahm an der Kasino-Versammlung lediglich für zwei Stunden als Zuhörer teil, obwohl er klar gemacht hatte, dass er mit dem VolksabstimmungsAusschuss nichts zu tun haben wollte und er dessen Gründung „für durchaus unangebracht“ halte.540 Gleichwohl war er bestrebt, über die weiteren Schritte der Aktivisten informiert zu sein, nicht zuletzt, wie er deutlich machte, als Vorsitzender des Westdeutschen Politischen Ausschusses. Spätestens nach dem Redebeitrag des DVP-Politikers Moldenhauer konnte sich Adenauer sicher sein, dass die anwesenden Vertreter von DVP und SPD ganz in seinem Sinne handeln würden. So hatte der Nationalliberale Moldenhauer kritisiert, der neu zu errichtende Ausschuss konterkariere die Bemühungen des Westdeutschen Politischen Ausschusses und der gewählten Repräsentanten, das bisherige Wirken unkontrollierter Ausschüsse durch die Tätigkeit eines alleinig legitimierten Ausschusses zu ersetzen. Dieser legitimierte politische Ausschuss solle nun durch ein Gremium ersetzt werden, das nicht auf einer demokratischen Entscheidung des Volkes fuße, und damit werde der überholte chaotische und unverantwortliche Zustand des Nebeneinanders wiederhergestellt.541 Andere Teilnehmer forderten einige Abänderungen des Resolutionsentwurfs, was aber Bachem mit der wahrheitsgemäßen Begründung ablehnte, der Text sei in der
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1919.
Stier-Somlo, Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik),
537 Stier-Somlo, Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik) (Fn. 536), vgl. etwa Präambel (S. 15), §§ 8 ff. und 42 ff. 538 Gienow, Leben und Werk von Fritz Stier-Somlo, 1990, S. 106. 539 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 69. 540 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 251. 541 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 120; s. auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 66.
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vorliegenden Version bereits den Ententemächten übermittelt worden.542 Die Initiatoren der Kasino-Versammlung wollten also auch in diesem Punkt nichts dem Zufall überlassen und ihr Vorgehen erscheint erneut überhastet und getrieben, was mit einem (direkt-)demokratischen Anspruch nur schwerlich zu vereinbaren war. Adenauer war nachhaltig empört über die Tatsache, dass Froberger und Kastert das Gerücht in die Welt gesetzt hatten, der Oberbürgermeister betrachte den am 1. Februar 1919 gegründeten Parlamentarier-Ausschuss ebenfalls als aufgelöst und billige nunmehr das Entstehen des neuen Gremiums. Adenauer habe diesen sechsten Punkt der Erklärung vom 6. März 1919 mit unterzeichnet.543 Am 9. März 1919 hatte Adenauer die Herren Ahn, von Stein, Kastert, Bachem, Hoeber und schließlich Froberger, der jedoch verhindert war, auf das Rathaus bestellt, „um dieses Lügengewebe klarzustellen“.544 Es zeigte sich hierbei, dass Kastert bei der Besprechung am 6. März 1919 zudem die – wie er selbst zugeben musste, frei erfundene – Behauptung geäußert hatte, der Zentrumspolitiker Schmittmann, der mittlerweile den Vorsitz des Freiheitsbundes der deutschen Rheinlande übernommen hatte,545 sei fest entschlossen, den Westdeutschen Politischen Ausschuss zu verlassen. Vermutlich entschied sich Adenauer erst zu diesem Zeitpunkt, der Kasino-Versammlung am darauffolgenden Tag beizuwohnen, um im Falle der Wiederholung dieser Unwahrheiten gleich offiziell als Vorsitzender des Parlamentarier-Ausschusses widersprechen zu können. Daraufhin wurde der eigentlich für die Abstimmung vorgesehene Punkt sechs der Entschließung zurückgezogen, so dass aus der Sechs-Punkte-Entschließung eine lediglich fünf Punkte umfassende Erklärung wurde.546 Letztlich wurde die Resolution bei einigen Gegenstimmen angenommen, die wohl auf Moldenhauers Einwände zurückzuführen waren.547 Beinahe erstaunlich ist die Entschlossenheit, mit der der ansonsten zurückhaltende und sich in der Rheinlandfrage alle Möglichkeiten offen haltende Adenauer in dieser konspirativen Angelegenheit reinen Tisch machte. Er selbst erinnert sich kurz nach diesem Treffen: „Die Besprechung mit den Herren verlief sehr erregt. Ich nahm kein Blatt vor den Mund, wie sehr ich über diese ganzen Unwahrheiten, auch seitens des Herrn Dr. Froberger, und über das Vorgehen der Herren entrüstet sei.“548 Jedoch ging es neben der Autorität des Westdeutschen Politischen Ausschusses nicht zuletzt 542
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 119. Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 249. 544 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 250. 545 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 116. 546 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 119. 547 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 120. 548 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 251. 543
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auch um seine eigene Autorität als rheinischer Politiker und Kölner Oberbürgermeister. Als Vorsitzender des Abgeordnetengremiums verstand sich Adenauer, nicht zu Unrecht, als primärer Ansprechpartner in der Rheinstaatsfrage und zwar sowohl gegenüber der Reichsregierung als auch den Besatzungsmächten. Durch die kompromittierenden Gerüchte und Lügen hatten vor allem Kastert und Froberger gezielt versucht, Adenauers Ausschuss zu desavouieren, um den Weg in die politische Arena frei zu machen für ihren „Ausschuss für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik“. Sie scheuten dabei nicht davor zurück, einigen Zentrumsmitgliedern im Westdeutschen Politischen Ausschuss gegenüber vorzugaukeln, Adenauer selbst habe die Arbeit des Ausschusses für beendet erklärt. Derart durfte sich Adenauer nicht vorführen lassen, zumal Kastert selbst als Abgeordneter der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung Teilnehmer der Parlamentarier-Konferenz am 1. Februar 1919 gewesen war. Am 9. März 1919 machte Adenauer den Betreffenden gegenüber deutlich, dass er dieses unwürdige Vorgehen auch „vom deutschen Standpunkte aus für total verfehlt“ hielt und es ihm unverständlich sei, wie die Herren dem ihnen ganz unbekannten Staatsanwalt Dorten und seinen Erklärungen vertrauen konnten. In diesen Vorwürfen Adenauers schwingt zweierlei mit: Einerseits lehnte er die Sechs- bzw. Fünf-PunkteErklärung, besonders die Forderung nach sofortiger Volksabstimmung, inhaltlich ab und hält sie für die Lösung des Problems der rheinischen Selbständigkeit nicht für förderlich. Andererseits war er persönlich getroffen durch die Illoyalität seines prominenten Parteifreundes Kastert und der zentrumsnahen Kölnischen Volkszeitung. Nicht zuletzt hier musste Adenauer erkennen, dass die Gräben in der Rheinstaatsangelegenheit nicht zwischen den politischen Parteien oder zwischen dem linken und rechten Rheinufer verliefen, sondern das eine kleine aber entschlossene Bewegung, vor allem innerhalb der Zentrumspartei, den Aufstand wagte. Es hatte sich eine aktivistische Minderheit als überwiegend „außerparlamentarische Opposition“549 etabliert. Dabei war das Nicht-Parteimitglied Dorten der Mann für die gröberen Aktionen, nicht zuletzt gegenüber Adenauer selbst. Es hatte sich eine konspirative Allianz zwischen dem unabhängigen Aktivisten Dorten, Kastert als einflussreicher Zentrumspersönlichkeit und Froberger sowie Hoeber von der Kölnischen Volkszeitung zusammengefunden, die durchaus Adenauer und den gemäßigten Selbständigkeitsbefürwortern gefährlich werden konnte, wie der Oberbürgermeister auch zeitnah erleben musste. Denn trotz dieser deutlichen Worte vom 9. März 1919 musste Adenauer später aus der Zeitung erfahren, dass nach seinem Verlassen der Kasino-Versammlung Oberpfarrer Kastert die nächste Falschbehauptung verbreitet hatte. Danach habe Adenauer offiziell als Vorsitzender des Parlamentarier-Ausschusses „die Arbeit der 549
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neuen Gruppe [Ausschuss für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik, P.B.] als eine höchst erwünschte Vorarbeit für die Parlamentarier-Konferenz bezeichnet“.550 Auch in dem Artikel der Kölnischen Volkszeitung551 klang es so, als ob Adenauer mit der Bildung des neuen Ausschusses einverstanden gewesen sei. Daraufhin bemühte er sich mit einem Schreiben an die Redaktion um Richtigstellung, womit er jedoch nicht durchdrang. Vielmehr erfuhr Adenauer einige Tage später von Ahn, dass die Volkszeitung beabsichtige, an seine Zuschrift „einen langen Artikel [zu] knüpfen, der der Sache des Deutschtums doch außerordentlich schaden würde“.552 Die Kölnische Volkszeitung arbeitete also mittlerweile offen gegen Adenauer, zumindest in dieser Angelegenheit. Obwohl Adenauer gegenüber Ahn erklärte, „über dieses neuerliche Vorgehen des Oberpfarrers Kastert und der Kölnischen Volkszeitung auf das tiefste empört“ zu sein, sah er sich gezwungen, „jetzt, wo für die Rheinprovinz voraussichtlich bald die Entscheidung herannahe, […] alle persönlichen Differenzen zurückstellen [zu müssen] im Interesse des Deutschtums am Rhein“.553 Anstatt etwa den Kontakt zur Gruppe um Dorten und Kastert endgültig abzubrechen, entschied sich Adenauer für eine weitere Unterredung am 16. März 1919. Man bemerkt hieran, dass er und mit ihm der parlamentarisch-legalistische Flügel der Rheinstaatsbewegung zum Handeln herausgefordert worden waren und es gelang immer weniger, die aktionistische Minderheit zu mäßigen, geschweige denn zu integrieren. Es kann demnach nicht überraschen, dass zu der Besprechung dann lediglich Bachem, Hoeber, Ahn und von Stein erschienen, also die eigentlichen Involvierten Kastert und Froberger fernblieben. Bachem und Hoeber erklärten ihren Artikel in der Volkszeitung damit, dass sie der Meinung waren, Adenauer habe seinen ursprünglich ablehnenden Standpunkt während der Besprechung am 9. März 1919 aufgegeben und diese Sinneswandlung sei für die Rheinstaatsbewegung und die Volkszeitung im Besonderen von größter Wichtigkeit gewesen. In der Tat hatte der stets auf Überparteilichkeit bedachte Adenauer den Veranstaltern der Kasino-Versammlung in einem Nebensatz empfohlen, wenigstens auch noch die Sozialdemokraten für den 10. März 1919 einzuladen. Hieraus habe man gefolgert, Adenauer fördere den neu zu gründenden Ausschuss grundsätzlich. Dieser Folgerung widersprachen sowohl dieser selbst als auch Ahn und von Stein, so dass sich die Vertreter der Kölnischen Volkszeitung schließlich bereit erklärten, auf ihren 550
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 251. KV Nr. 201 v. 11. März 1919 („Zu der Westdeutschen Republik“). 552 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 252. 553 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 252. 551
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kritischen Artikel zu verzichten und Adenauers Richtigstellung den Lesern zur Kenntnis zu bringen. Andererseits lenkte Adenauer nicht unerheblich ein, als er sich verpflichtete, in einem Brief an den gerade gewählten Vorsitzenden Stier-Somlo den Ausschuss für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik anzuerkennen: „Ich war und bin ferner der Überzeugung, daß die Veranstalter aus ihnen durchaus triftig erscheinenden Gründen sich im vaterländischen Interesse für verpflichtet gehalten hatten, möglichst rasch zu handeln und die von ihnen geplante Volksabstimmung in die Wege zu leiten.”554 Man muss nicht mit Köhler so weit gehen, dass das Schreiben Adenauers eine „völlige Kapitulation“ darstellte.555 Eher ist das Einlenken als taktischer Kompromiss zu bewerten, auch wenn ihm offensichtlich die Formulierung dieses Briefs schwer gefallen sein dürfte.556 Adenauer spekulierte nach wie vor darauf, im Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Friedensbedingungen der Entente „die […] notwendige Einigkeit und Geschlossenheit aller Parteien herbeiführen zu können“,557 wobei er mit „Parteien“ nicht zuletzt auch die auseinanderdriftenden Strömungen unter den Rheinstaatsbefürwortern gemeint haben dürfte. Zwar bedeutet der Brief Adenauers an Stier-Somlo nicht, dass sich die Rheinstaatsbewegung künftig auf einen gemeinsamen Nenner würde einigen können. Zu divergierend waren die Meinungen über das weitere Vorgehen, also sofortige Volksabstimmung oder parlamentarische Beratungen und Beschluss in der Nationalversammlung, und zu tief saß spätestens im März das Misstrauen zwischen den Protagonisten selbst. Der Brief gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass Adenauer und die Mitglieder des Westdeutschen Politischen Ausschusses in die Defensive geraten waren und die rheinische Politik gegenüber Berlin und Paris nicht dazu in der Lage war, mit einer Stimme zu sprechen. Es darf zwar nicht übersehen werden, dass sich der harte Kern der Loslösungsbefürworter spätestens Mitte März 1919 in eine „hoffnungslose Isolierung“558 begeben hatte, denn sowohl Sozialdemokraten und Liberale standen dem gesamten Vorhaben nach wie vor ablehnend gegenüber und verwiesen in der Rheinstaatsfrage unermüdlich auf die Beratungen in der Nationalversammlung als auch Adenauer und 554
Brief Adenauers an Stier-Somlo abgedruckt in Adenauer, Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 253. 555 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 75. 556 Dies zeigen die verschiedenen handschriftlichen Entwürfe, die sich in seinen Akten befinden, vgl. HAStK 902/253/2, S. 239 – 241. 557 Adenauer in der Denkschrift über seine Rolle in den Rheinstaatsbestrebungen 1918/ 1919 (siehe bereits Fn. 21), abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 252. 558 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 74.
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mit ihm die Mehrheit der Zentrumsabgeordneten distanzierten sich von der aktionistischen Gruppe. Diesem Kreis um Kastert, Dorten und Froberger musste klar geworden sein, dass eine Volksabstimmung gegen die staatstragenden Parteien nicht durchzusetzen sein würde. Gleichwohl agitierten sie weiterhin gegen das politische Establishment, und dieses konnte das Drängen der sich radikalisierenden Minderheit nicht einfach unbeachtet lassen. Es zeigte sich jedoch schon bald nach der Kasino-Versammlung, dass die Interessen der Teilnehmer zu unterschiedlich waren, als dass eine längerfristige Aktionsgemeinschaft hätte entstehen können. Einige zogen es vor, ihre Ziele gemeinsam mit der Zentrumspartei in den parlamentarischen Versammlungen weiter zu verfolgen und mithin in die „Legalität“ zurückzukehren. Durch das Ausscheiden Stier-Somlos Ende März, der sich seitdem aus der Rheinstaatsbewegung völlig zurückzog,559 und Ahns war der Vorstand des neu gebildeten Ausschusses praktisch aufgelöst. Brüggemann weist darauf hin, es habe geheißen, der Ausschuss habe seine Arbeit „wegen innerer Hemmungen“ einstellen müssen.560 Dies kann nur so verstanden werden, dass die innere Zerstrittenheit des Zirkels ein einhelliges und koordiniertes Vorgehen nicht mehr ermöglichen konnte. Mitte März 1919 scheint es so, als sei die außerparlamentarische Rheinstaatsbewegung in eine „politische Sackgasse“ geraten und habe sich daraufhin neu aufstellen, vielleicht auch neu „erfinden“ müssen. Während Dorten sich seltsamerweise in den darauffolgenden Wochen im Hintergrund hielt,561 wandelten Kastert, Froberger und der Aachener Aktivist Mönikes den bestehenden, bisher jedoch eher unbedeutenden Aachener Arbeitsausschuss562 in den „Verein Westdeutsche Republik in der Einheit des Deutschen Reiches“ um. Die anfängliche Kölner Initiative hatte sich nun nach Aachen verlagert,563 weil die dortige Gruppe besonders aktiv und überdies durch die belgischen Besatzer protegiert war. Die erste öffentliche Erklärung des neuen Vereins vom 14. März 1919, die im Wesentlichen die Resolutionen vom 4. Dezember 1918 und 10. März 1919 inhaltlich wiedergab, wurde seitens der Nationalversammlung und der Preußischen Landesversammlung jedoch mit keiner Würdigung bedacht.564 So war es in den darauffolgenden Wochen ruhig um die Bewegung geworden, denn man merkte zumindest in der Öffentlichkeit nichts mehr von ihr.565 559
Dies geschah wohl auch auf den Druck aus seiner Partei DDP hin, vgl. Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 549. 560 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 97. 561 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 127. 562 Zu diesem näher Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 108 ff. 563 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 549 f. 564 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 127. 565 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 97.
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XIII. Die Stellungnahme der Reichsregierung vor der Nationalversammlung vom 13. März 1919 Die Reaktion der Reichsregierung auf den erneuten Vorstoß der Rheinlandbewegung vom 10. März 1919 erfolgte prompt. Am 13. März 1919 lud Ministerpräsident Scheidemann zu einer Sitzung der rheinischen Abgeordneten der Nationalversammlung ein. Es ist unverständlich, wie Reimer zu der Annahme gelangt, bei einem vorausgehenden Treffen am 12. März 1919 seien lediglich die „nicht dem Zentrum angehörenden Abgeordneten der Rheinprovinz“ zusammengekommen.566 Über eine solche Vorbesprechung finden sich keinerlei Angaben in den Quellen und es wäre auch nicht zweckmäßig gewesen, die rheinischen Zentrumsabgeordneten in dieser Angelegenheit außen vor zu lassen. Geplant war nämlich seitens der Reichsregierung, eine gemeinsame, einstimmig zu beschließende Erklärung zu erarbeiten, die Scheidemann noch am selben Tag vor der Nationalversammlung abgeben wollte.567 Die Einladung erfolgte anlässlich eines Beschlussvorschlags des Reichskolonialministers Johannes Bell (Zentrum), wonach den „Lostrennungsbewegungen“ nachdrücklich entgegengetreten werden sollte und entsprechende Abwehrmaßnahmen zu beschließen seien, unter anderem auch in Form einer Regierungserklärung.568 Laut Brüggemann legten Scheidemann und Erzberger in der Sitzung „wichtiges Material“ vor,569 wobei jedoch unklar bleibt, worum es sich hierbei handelte. Zu vermuten ist, dass es um die Friedensverhandlungen oder allgemein um die außenpolitische Lage des Reiches gegangen sein dürfte, denn nur so ist der ausdrückliche Hinweis auf Erzberger, den Vorsitzenden der Waffenstillstandskommission und Bevollmächtigten der Reichsregierung, erklärlich. Die Stellungnahme selbst geht inhaltlich auf die vorgetragenen Argumente der aktionistischen Rheinstaatsbefürworter ein und dreht gewissermaßen den Spieß um. Es heißt nämlich: „Die Reichsregierung sieht in jedem Versuch der Losreissung [sic!] links- oder rechtsrheinischen Landes einen durch keinen Vorwand zu beschönigenden Verstoß gegen das allgemein anerkannte Nationalitätenprinzip, eine unerhörte Vergewaltigung des einheitlich fühlenden deutschen Volkes.“ Was hierbei mit dem „Vorwand“, der nichts zu beschönigen vermöge, gemeint ist, lässt sich leicht ermitteln: Es ging um die von den Rheinstaatsanhängern regelmäßig vorgetragene Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wonach die Rheinländer als eine eigentümliche Volksgruppe oder ein eigener Stamm ihre po566
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 122. Wortlaut der Erklärung in: Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), S. 776. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 568 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 203. 569 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 73. 567
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litische Zukunft und die eines eigenen, noch zu gründenden Staates selbst zu regeln hätten. Die Reichsregierung bestritt diesen Anspruch und setzte diesem „das allgemein anerkannte Nationalitätenprinzip“ entgegen, denn letztlich seien die Bewohner des Rheinlands Teil des „einheitlich fühlenden deutschen Volkes“ und nicht etwa ein genuin eigenes Volk, das zur Staatsbildung berufen sei. Hiernach sei am Bestand der einen deutschen Nation festzuhalten und die Rheinländer seien eben – unumstritten – Angehörige der deutschen Nation. Es zeigt sich deutlich der im Folgenden noch zu untersuchende Antagonismus, für den die beiden unversöhnlichen Gegenpositionen in der Frage des unabhängigen Rheinstaates stehen, nämlich einerseits das Selbstbestimmungsrecht des rheinischen „Volkes“, das andererseits dem umfassend integrierenden, deutschen Konzept eines einigen Nationalstaates entgegenzustehen schien. Auch das zweite Argument in der Erklärung der Reichsregierung nimmt Bezug auf die Entschließung vom 10. März 1919, wenn behauptet wird: „Die Reichsregierung weiß sich völlig einig mit der heiligen Überzeugung der gesamten links- und rechtsrheinischen Bevölkerung, die nichts gemein haben will mit eigennützigen Bestrebungen einzelner interessierter Personen.“ Neben dem Versuch, die handelnden Rheinstaatsbefürworter – übrigens nicht differenzierend zwischen der radikalen Strömung um Dorten und den gemäßigten Föderalisten, wie sie überwiegend in der rheinischen Zentrumspartei zu finden waren – als versprengte Minderheit zu isolieren, die nur nach neuen Betätigungsfeldern für die Förderung der eigenen politischen Karrieren suche, verdient der erste Teil dieses Vorbringens mehr Aufmerksamkeit. Hier scheint es, als wolle man den zunehmend plebiszitären Tendenzen, die nicht zuletzt auf der Kasino-Versammlung treibend waren, den Wind aus den Segeln nehmen, indem sich die Meinung der Berliner Reichsregierung als mit der „heiligen Überzeugung“ der Rheinländer in Einklang befindlich ausgibt. Die Meinung der im katholischen Rheinland weithin unbeliebten sozialistischen Reichsregierung jedoch als angebliche rheinländische Mehrheitsmeinung auszugeben und die „Heiligsprechung“ derselben ausgerechnet durch die materialistischen Sozialdemokraten – das musste dem selbstbewussten Rheinländer sarkastisch anmuten. Nicht ohne Grund betonte die Erklärung, dass die „gesamte[] links- wie rechtsrheinische[] Bevölkerung“ vertreten werde, denn wäre nur die Rede von der rheinischen oder gar der linksrheinischen Bevölkerung gewesen, so hätte die Behauptung der Reichsregierung als weit hergeholt erscheinen müssen. Lediglich die Bewohner des Ruhrgebiets und Westfalens werden die Aussagen der Stellungnahme wohl mehrheitlich mitgetragen haben, denn hier war die öffentliche Meinung erkennbar gegen die Zugehörigkeit zu einem selbständigen Rheinstaat positioniert. In den linksrheinischen Gebieten stieß die Idee jedoch ungebrochen auf eine hohe Zustimmung, nicht nur in den Kreisen der Zentrumspar-
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tei.570 Für diese Bevölkerung konnte die Berliner Reichsregierung sich also schwerlich als Anwalt gegen den Rheinstaat ausgeben. Der in erster Linie von Froberger aber auch von Adenauer vorgetragenen Erwägung, das Rheinland könne als selbständige „Friedensrepublik“571 die instabilen außenpolitischen Verhältnisse im Nachkriegseuropa ausgewogen gestalten und nicht zuletzt die Versöhnung zwischen Ost und West bringen, setzte die Regierungserklärung entgegen: „Das Verhältnis der rheinischen Lande zu den deutschen Gliedstaaten ist eine rein innere Angelegenheit Deutschlands.“ Was staatsrechtlich zweifelsohne richtig ist, zeugt jedoch von der Befürchtung Berlins, ein selbständiger Rheinstaat, sei es als deutscher Freistaat oder sogar als Pufferstaat, werde sich verstärkt an Westeuropa annähern. Insofern lehnte die Reichsregierung jede Anlehnung etwa an Frankreich oder Großbritannien, geschweige denn die Einflussnahme des Westens auf die Staatsgliederung des Deutschen Reiches, kategorisch ab. Wenn auch die in Rede stehende Formulierung zurückhaltend ist, so wirkt es dennoch, als sollten die Rheinstaatsbefürworter als jene dargestellt werden, die mit den westlichen Alliierten gemeinsame Sache machten, und zwar gegen Deutschland und reichsdeutsche Interessen. Es folgte konsequent der Hinweis: „Diese Frage kann nur in fester Reichseinheit gelöst werden.“ Es ist seit jeher ein beliebtes rhetorisches Mittel in der Politik, den Gegner nicht frontal zu attackieren, sondern die nach der eigenen Überzeugung alleinig richtigen Aussagen prägnant und überzeugt darzulegen, so dass der anderen Partei stillschweigend Vorwürfe gemacht werden. Hier kann man als Dritter nur zu dem Schluss kommen, dass die rheinischen Unabhängigkeitsbefürworter als „vaterlandslose Gesellen“ die deutsche Reichseinheit bedrohten. Immerhin hatte Dorten ja tatsächlich die Sechs-Punkte-Erklärung an die Besatzungsmächte in Köln, Koblenz und Mainz weitergeleitet und sie spätestens dadurch in die Rheinstaatsfrage einbezogen.572 Und Scheidemann hatte sich gegenüber Trimborn und Kaas über die mangelnde „nationale Gesinnung“ der Rheinstaatsbefürworter beschwert.573 Überdies aber bedarf die Formulierung „[d]as Verhältnis der rheinischen Lande zu den deutschen Gliedstaaten“ einer näheren Betrachtung. Hier erscheinen nämlich mehrere Lesarten möglich, je nachdem, ob ein zwei- oder dreigliedriger Staatsbegriff zugrundezulegen ist. Zudem ist einführend nur von der „Losreissung [sic!] links570
So ergab eine Unterschriftensammlung für die Errichtung einer Rheinischen Republik in diesem Gebiet im März 1919 rund 100.000 Unterschriften, vgl. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 127 f.; Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 212. 571 Mit den Worten Adenauers: „Die Westdeutsche Republik würde wegen ihrer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung in dem neuen Deutschen Reiche eine bedeutungsvolle Rolle spielen und demgemäß auch die außenpolitische Haltung Deutschlands in ihrem friedensfreundlichen Geiste beeinflussen.“, zitiert nach Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 222. 572 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 60. 573 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 203.
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oder rechtsrheinischen Landes“ die Rede, nicht jedoch die Klarstellung, von welcher Gebietskörperschaft genau die Abspaltung erfolgen solle. Einerseits wird man annehmen können, dass die Reichsregierung nicht die gänzliche Lostrennung des Rheinlands vom Deutschen Reich, also die souveräne Nationenbildung und die politische Zukunft als Pufferstaat tatsächlich befürchtete, denn ansonsten hätte die Stellungnahme einen Hinweis auf das Verhältnis der rheinischen Lande zum Reichsverband und nicht bloß zu den (dann anderen) Gliedstaaten beinhalten müssen. Es liegt näher, davon auszugehen, dass man in Berlin eher die Gründung eines rheinländischen Freistaates befürchtete, der territorial zu Lasten der bisherigen Bundesstaaten entlang des Rheins, vor allem des Freistaates Preußen, gehen musste. Andererseits findet sich in der Stellungnahme der Passus: „Die rheinische Bevölkerung ist deutsch und will deutsch bleiben.“ Dies wäre aber selbstverständlich auch der Fall gewesen, wenn der Rheinstaat als Gliedstaat im deutschen Reichsverband gegründet worden wäre. Nur die Staatsneugründung außerhalb des Reichsverbands, also die Pufferstaat-Lösung, hätte dazu geführt, dass die rheinische Bevölkerung nicht mehr im Sinne des Nationalitätengrundsatzes (eine Nation in einem Staat) und aus staatsangehörigkeitsrechtlicher Sicht aus „Deutschen“ bestanden hätte. In diesem zentralen Punkt, nämlich von welchem Gebilde und welchen Voraussetzungen man in der Rheinstaatsangelegenheit seitens der Reichsregierung und der Nationalversammlung überhaupt ausging, blieb die Stellungnahme vage und mehrdeutig. Es zeigt sich, dass die staatsrechtliche Dimension der Rheinstaatsangelegenheit von den Organen der Reichsführung auch Mitte März 1919 noch nicht erfasst worden ist. Zudem drängt sich der Schluss auf, dass man die Rheinstaatsbewegung, jedenfalls in ihrer überwiegenden Mehrheit, vorsätzlich falsch verstehen wollte, um sie weiterhin effektiv politisch diskreditieren zu können. Die Diskreditierung der Initiative ist vor dem Hintergrund verständlich, dass sowohl die Reichsregierung – ausgenommen Preuß – als auch die Staatsregierung Preußens vom ungeschmälerten Bestand des preußischen Staates ausgingen, für den eine rheinische Republik die größte Bedrohung darstellte. Diese fast trotzige und an sich überflüssige Feststellung, wonach alle Rheinländer Deutsche seien und dies auch bleiben wollten, lediglich als „Protest gegen alle eventuellen Annexionsgelüste von seiten [sic!] der Siegermächte“ einzuordnen, wie Bischof dies tut,574 geht fehl. Dieses Motiv mag zwar begleitend gewesen sein, schließlich war die Frage nach der Zukunft des linksrheinischen Gebiets auf der Pariser Friedenskonferenz noch nicht final entschieden worden. Sieht man die Stellungnahme dagegen näherliegend als Reaktion auf die Fünf-Punkte-Erklärung der Kasino-Versammlung vom 10. März 1919, so ist diese Annahme insgesamt nicht überzeugend.
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Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 65.
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Keinen Zweifel lässt die Deklaration jedoch daran, wer aus ihrer Sicht zur Lösung der Rheinstaatsfrage einzig kompetent ist: „Reichsregierung und Nationalversammlung widmen ihr die ernsteste Beachtung.“ Es sei nicht die Angelegenheit der rheinischen Bevölkerung, die Entscheidung im Wege der Volksabstimmung herbeizuführen, sondern die gewählten, legitimierten Vertreter in Regierung und verfassunggebender Versammlung seien aufgefordert, die Zukunft des Rheinlands zu beraten und letztlich zu beschließen. Die sofortige direktdemokratische Klärung durch die betreffende Bevölkerung wird abgelehnt unter Verweis auf den Repräsentationsgedanken. Schließlich finden wir eine Aussage zum avisierten Zeitpunkt der Entscheidung und den Appell zur Achtung des Legalitätsprinzips: „Eine endgültige Lösung kann erst nach Friedensschluß und nur auf verfassungsmäßigem Wege erfolgen.“ Der Verweis auf das Abwarten des Friedensvertragsschlusses ist ersichtlich darauf angelegt, das forsche Voranschreiten der Aktionisten, die das sofortige Plebiszit als fait accompli anstrebten, zu bremsen. Ursprünglich hatte Scheidemann weiterhin vorgesehen, der Erklärung eine Aussage am Ende anzufügen, wonach nach dem aktuellen Stand der Dinge aus der Sicht der Reichsregierung jede „absichtliche Umgestaltung vor Friedenschluß“ geeignet sei, „die nationale Einheit unseres Vaterlandes zu bedrohen.“575 In der Vorbesprechung mit den rheinischen Abgeordneten hatten die Vertreter des Zentrums jedoch diesen Passus als Bestandteil der gemeinsamen Erklärung für unannehmbar erklärt, weil er eine zu drastische Kritik an der Rheinstaatsbewegung zum Ausdruck bringe, die in ihrer Pauschalität als unberechtigt und erneut Unruhe stiftend angesehen werden müsste. Erst in einer langen Verhandlung, die beinahe sogar abgebrochen worden wäre, hatte man sich dahingehend geeinigt, dass Ministerpräsident Scheidemann das Recht haben sollte, den beanstandeten Zusatz als seine rein persönliche Auffassung anmerkend zur Kenntnis zu bringen.576 In der einstimmig angenommenen Erklärung jedoch war der Zusatz nicht mehr enthalten, da das Zentrum sonst die Zustimmung verweigert hätte. Mehrfach betonten die rheinischen Abgeordneten der Zentrumspartei, dass sich ihre Zustimmung ausschließlich auf den Text der Stellungnahme richtete, nicht jedoch die Anmerkungen Scheidemanns gebilligt worden seien.577 Am Nachmittag verlas der Ministerpräsident die erarbeitete Erklärung außerhalb der Tagesordnung im Plenum der Nationalversammlung, wobei es Beifall von allen Parteien gab.578 Jedoch betont Brüggemann, dass diese Entschließung die „Gegner der Sonderbündelei“ nicht vollauf befriedigt habe. So hatten sich in der vorhergehenden Sitzung vor allem Falk, Meerfeld und Sollmann gegen die Bedingung des Zentrums ausgesprochen, die ursprünglich enthaltene Feststellung zur Frage der 575 576 577 578
Zitat nach Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 74 f. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 75. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 65. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 74.
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vaterländischen Einheit fallen zu lassen und sie von Scheidemann als persönliche Meinung wiedergeben zu lassen.579 Besonders auch das engagierte Auftreten des im Rheinland geachteten Zentrumsmannes Erzberger gegen die Rheinstaatspläne schwächte die Rheinstaatsbewegung.580 Erzberger hatte erklärt, man werde mit den in der Fünf-Punkte-Erklärung geäußerten Absichten genau das Gegenteil dessen erreichen, was man eigentlich intendiert hatte, zumindest was den Schutz vor französischer Annexion betraf.581 Die Stellungnahme der Nationalversammlung kann nur als Kompromiss bezeichnet werden, mit welchem sich schließlich die Zentrumspartei und die dort beheimateten gemäßigten Rheinstaatsbefürworter durchgesetzt haben. Zu pauschal ist die Bewertung dieser Ereignisse durch Reimer, wonach „das Zentrum an seiner Linie festhielt und sich jede Möglichkeit für die Bildung eines rheinischen Freistaats offenhalten wollte“.582 Es hat sich bereits gezeigt, dass es innerhalb des Zentrums keine Einigkeit in der Rheinstaatsfrage geben konnte, denn führende Vertreter wie etwa Erzberger, Bell und Stegerwald lehnten einen selbständigen Rheinstaat nach wie vor ab. Vielmehr dürfte es den Zentrumspolitikern am 13. März 1919 darum gegangen sein, die politische Stimmungslage im Rheinland nicht noch dadurch zu verschärfen, dass die Reichsregierung und die Nationalversammlung zu harsch und unbedacht auf die Rheinstaatsbefürworter reagierten, so dass erneut der Vorwurf im Raum stünde, die Reichsregierung behandele die Rheinländer „von oben herab“583. Trimborn schrieb in einem Brief an seine Frau: „Sozialdemokraten und Demokraten haben die Regierung mobil gemacht.584 Diese wollte eine Erklärung abgeben, die sich direkt gegen die KV [Kölnische Volkszeitung, P.B.] und die ganze Bewegung richtete. Mit vieler Mühe [sic!] haben Brauns, Prof. Kaas (Trier) und ich das verhindert. Es kam schließlich zu einer Erklärung der Regierung, die wir mitmachen konnten.“585 Mit dem Entwurf der Regierungserklärung vom 13. März 1919 wurden die Fronten klar abgesteckt. Der Standpunkt der gemäßigten Unabhängigkeitsbefürworter, vor allem der maßgeblichen Zentrumspolitiker, war eindeutig formuliert worden: Eine Entscheidung in der Rheinlandfrage erst nach Abschluss des Friedensvertrages, nur im Rahmen der Reichseinheit und auf verfassungsmäßiger Grundlage, mithin erst nach der Verabschiedung der Reichsverfassung.
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Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 73 f. KV Nr. 194 v. 15. März 1919. 581 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 73 und 75. 582 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 122. 583 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 203. 584 Dies ist nicht ganz richtig, denn ursprünglich kam ja der Antrag gerichtet auf ein Tätigwerden von Trimborns Parteifreund Bell. 585 Trimborns Brief an seine Frau Jeanne vom 17. März 1919, in: HAStK 1256/74, Bl. 26. 580
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Dabei ist bemerkenswert, dass die Auseinandersetzung im Prozess der Aktion und Reaktion nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich mit politischen, wirtschaftlichen oder historischen Argumenten ausgetragen wurde, sondern dass sich beide Parteien in erster Linie auf staatstheoretische und verfassungsrechtliche Begründungen beriefen. Man erkennt beinahe schulmäßig gegenübergestellt die theoretischen Gegensätze wie heranwachsendes Selbstbestimmungsrecht kontra integrierendes Nationalitätsprinzip, direkte kontra repräsentative Demokratie und illegale Aktion kontra legales Verfahren. Es verwundert daher nicht, dass der Zeitzeuge Brüggemann insgesamt von einer „ziemlich akademischen Aktion“ spricht.586
XIV. Die Diskussion im Reichsverfassungsausschuss der Nationalversammlung vom 19. und 20. März 1919 Mit Blick darauf, dass die Rheinstaatsbewegung noch eingehender im Lichte des Verfassungsrechts gewürdigt werden soll,587 kann sich dieses Kapitel auf eine zusammenfassende Darstellung der Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung beschränken. Die Deutsche Nationalversammlung hatte sich in Weimar zum ersten Mal am 19. Februar 1919 eigens mit der Rheinlandfrage beschäftigt. Einen Tag zuvor hatte der einflussreiche Zentrumsabgeordnete Heß noch in der Kölnischen Volkszeitung betont, dass die Frage nach der Errichtung einer westdeutschen Republik im Reichsverband eine „Schicksalsfrage für ganz Deutschland“ sei.588 Der Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Adolf Gröber, der auch dem „Ausschuß zur Vorberatung des Entwurfs einer Verfassung für das Deutsche Reich“ (Reichsverfassungsausschuss) angehörte, hatte bereits am 13. Februar 1919 die föderalistische Einstellung seiner Fraktion hervorgehoben, ohne jedoch explizit auf die Vorstellung zur Reichsreform einzugehen. Das Zentrum bekenne sich zu einer „demokratischen Republik auf föderativer Grundlage“. Er erklärte ferner, man sei gegen einen „ungesunden Unitarismus“ und eine „übertriebene Zentralisierung“, denn diese hätten erst die Rufe „Los von Berlin“ ausgelöst. Unter diesem Motto sei es dazu gekommen, dass nunmehr auch „ganz ruhige und solide Bürger“ im Westen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit verlangten.589 Am 17. März 1919 fragte Gröber im Reichsverfassungsausschuss: „Warum soll man denn den deutschen
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Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 75. Siehe eingehender hierzu im Folgenden Kapitel F. 588 KV Nr. 136 v. 18. Februar 1919. 589 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 54.; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 201. 587
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Stämmen nicht das Recht lassen, daß sie ihre eigenen Angelegenheiten selbst ordnen, natürlich […] in Unterordnung unter das Gesamtwohl des Reiches?“590 Damit war die Grundposition der Zentrumspartei in der Bundesstaatsproblematik treffend zusammengefasst. In die Kompetenzen der Gliedstaaten sollten nach dem Wunsch des Zentrums besonders alle kulturellen Belange fallen, da man von der linken Mehrheit im Reich keine hinreichende Rücksichtnahme auf die vor allem konfessionellen tradierten Eigentümlichkeiten erwarten konnte.591 Andererseits war man zu diesem Zeitpunkt noch vorsichtig damit, die Rheinlandfrage ausdrücklich in die Diskussion um die Neugliederung des Reiches miteinzubeziehen. Morsey vermutet, dass die Befürworter einer Zerschlagung des Gliedstaates Preußen damit rechnen mussten, mit ihren Argumenten weiteren „provinziellen Selbstständigkeitsbestrebungen in den Grenzgebieten des Reiches (aber etwa auch in Hannover)“ Vorschub zu leisten und somit die außenpolitische Position des Reichs zu schwächen.592 Dennoch blieb das Problem der Reichsneugliederung für die Zentrumspolitiker und Zentrumsabgeordneten auf das engste mit den Rheinstaatsbestrebungen verwoben. Bereits am 18. März 1919 war das Rheinland in etwas anderem Kontext zum Thema geworden, nämlich bei der vieldiskutierten Frage des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Ein Antrag, der auf Friedrich Naumann und die DDP zurückging, hatte gefordert, dass die Republik Deutschösterreich „als Ganzes als ein Gliedstaat“ dem Reich beitrete, um damit die populäre Anschlussdebatte von der verfassungsrechtlichen Seite her voranzutreiben. Koch-Weser, Naumanns Parteifreund, bewertete dieses Vorgehen zwar als „juristisch unmöglich“, man habe aber die Sympathie und das Entgegenkommen des Reichsverfassungsausschusses in dieser Angelegenheit signalisieren wollen. Gegen diesen Antrag äußerte sich jedoch das Auswärtige Amt unter Hinweis darauf, dass die Gefahr bestehe, Frankreich bekäme so einen neuen Grund für seinen Anspruch auf Annexion des linken Rheinufers.593 Die deutschen Diplomaten waren in dieser Frage sehr sensibel, was zeigt, dass die politische Bedeutung des linksrheinischen Gebietes hoch war und bei der Verfolgung sonstiger außenpolitischer Absichten auch stets Beachtung fand. Schließlich wurde ein Antrag beschlossen, der betonte, „wie sehr wir [der Reichsverfassungsausschuss, P.B.] uns über den Anschluß freuen würden“.594 Schon am 19. Februar 1919 hatte Adenauer angesichts des hartnäckigen Drängens Dortens telegraphisch bei Trimborn angefragt, was das Ergebnis der bisherigen 590 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs, 1920, S. 78. 591 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 202. 592 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 202. 593 Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“, 1978, S. 63 f. 594 Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593), S. 64.
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parlamentarischen Diskussionen „betr. Westdeutsche Republik“ sei, um sein Verhalten „entsprechend einrichten“ zu können.595 Trimborn selbst hatte sich zu einem Eintritt in den Verfassungsausschuss der Nationalversammlung genötigt gesehen, weil er seit seinem Auftritt auf der Zentrumsversammlung vom 4. Dezember 1918 reichsweit als die führende Figur in der Rheinstaatsbewegung wahrgenommen wurde. In einem Schreiben an seine Frau beschwerte er sich: „Wegen dieser verflixten [rheinischen, P.B.] Republik musste ich in die Kommission eintreten, die eine neue Reichsverfassung zu beraten hat und Monate lang tagt!“596 Der konkrete Anlass zur Diskussion der rheinischen Frage ergab sich zwischen dem 17. und 20. März 1919 im Reichsverfassungsausschuss bei der Behandlung des Artikels 15 (des späteren Artikels 18) im dritten Verfassungsentwurf der Reichsregierung, der die Gliedstaaten zum Regelungsgegenstand hatte („Reichsreformartikel“).597 Ursprünglich sollte durch diesen Artikel die Zusammenlegung ganzer Gliedstaaten zu größeren Gebilden ermöglicht werden, indem es hieß: „Die deutschen Gliedstaaten sind berechtigt, sich […] im ganzen [sic!] oder in Teilen zusammenzuschließen.“598 Eine Reichskompetenz in der Frage der Neubildung von Gliedstaaten war, anders als noch im ersten Entwurf, nicht mehr enthalten. Territoriale Neugliederungen im Sinne einer Fusion von Bundesstaaten sollten durch staatsvertragliche Vereinbarungen zwischen den Staatsorganen der beteiligten Länder erfolgen, also ohne die Einbeziehung der Bevölkerungen. Die (Glied-)Staatssouveränität wäre somit der Volkssouveränität vorangegangen. Zwar sah die dritte Entwurfsfassung vor, dass die Länder sich für eine Reichsreform einsetzen sollten, jedoch beinhaltete dies keine juristische Verpflichtung, sondern stellte einen lediglich deklaratorischen Aufruf dar. Nicht zuzustimmen ist Reimer, wenn er behauptet, die territoriale Neugliederung habe für die meisten Zeitgenossen eher die Zusammenlegung kleinerer Gliedstaaten bedeutet und die Bildung eines hannoverschen oder rheinischen Staates sei nicht intendiert gewesen.599 Es entsprach durchaus einer politischen öffentlichen Meinung, dass der Großstaat Preußen im Zuge einer allgemeinen Neugliederung in Mittelstaaten aufgeteilt werden sollte. Diese Pläne stammten seit jeher nicht zuletzt von Preuß und waren lebhaft diskutiert worden. Trimborn stellte hierzu einen Änderungsantrag, der den 595
Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 66. Schreiben Carl an Jeanne Trimborn vom 5. März 1919, in: HAStK 1256/74, Bl. 21. 597 Siehe hierzu eingehender Kapitel F.IV. 598 Wortlaut abgedruckt bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 123. 599 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 124. 596
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basisdemokratischen Gedanken aufgriff und wonach es „dem deutschen Volke freistehen [solle], ohne Rücksichten auf die bisherigen Landesgrenzen neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reiches zu errichten […]. Will sich die Bevölkerung eines Landesteiles aus dem bisherigen Staatsverbande loslösen, um einen selbständigen Freistaat innerhalb des Reiches zu bilden, so bedarf es hierzu einer Volksabstimmung für das Gebiet dieses Landesteils.“600 Eine Neugliederungsinitiative gerichtet auf die Durchführung einer Volksabstimmung sollte auf Verlangen eines Viertels der betroffenen wahlberechtigten Bevölkerungsteile angeordnet werden (Viertel-Quorum) und das Ergebnis der Volksabstimmung, also die Bildung neuer Bundesstaaten, sollte der Genehmigung durch (lediglich) einfaches Reichsgesetz bedürfen. In seiner Begründung schrieb Trimborn, durch die Möglichkeit der Auflösung der alten Staaten, vor allem Preußens, Hessens und Bayerns, sollte ein Neuaufbau des Reichs gefördert werden. Nur auf diesem Wege ließe sich letztlich die Einheit desselben aufrechterhalten.601 Er ging von der Prämisse aus, dass „die bodenständige Bevölkerung des Rheinlands in ihrer überwältigenden Mehrheit die Gründung einer selbständigen Republik dringend wünscht.“ In diesem Punkt war er sich einig mit dem Rheinstaatsanhänger Peter Kirchem, der behauptete, „daß die ländliche Bevölkerung mit der Errichtung einer Republik am Rhein durchweg vollkommen einverstanden ist.“602 Der Zentrumspolitiker Martin Faßbender, Abgeordneter der Preußischen Landesversammlung, resümierte, dass „die Möglichkeit für die einzelnen deutschen Landesteile gegeben [wäre], auf dem Wege der Volksabstimmung sich von dem Bundesstaate loszusagen, zu dem man bislang gehört hat. Und so ist es nicht verwunderlich, daß die Freunde der rheinischen Absplitterung bereits mit der Sammlung von Unterschriften beginnen […]“.603 Mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beanspruchte Trimborn für die Rheinländer vage „eine gewisse analoge Anwendung im Inneren“.604 Es zeigt sich, dass der Topos des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es prominent etwa ein Jahr zuvor Präsident Wilson aufgebracht hatte, den Rheinstaatsbefürwortern durchaus bekannt gewesen ist, wenn sie auch unter Berücksichtigung der eher innenpolitischen Fragestellung lediglich eine „gewisse analoge Anwendung“ forderten. Man sah das Problem, völkerrechtliche Topoi auf den innerstaatlichen Bereich zu übertragen. Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch nur analog an-
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Zitiert nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 65 f. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 79. 602 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 5. 603 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen?, 1919, S. 4. 604 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 92. 601
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gewandt, hatte man als Rheinstaatsanhänger ein vermeintlich rechtliches Argument auf seiner Seite, nicht bloß ein emotionales oder ein politisches. Dem Vorbringen Trimborns trat der preußische Justizminister Wolfgang Heine (MSPD) strikt entgegen, und erneut wurde der Vorwurf der die Reichseinheit gefährdenden Sonderbündlerei erhoben: „Wenn der Westen nicht seine Loslösung von Preußen betrieben hätte, wäre die Gefahr, daß diese Gebiete vom Reich getrennt werden, geringer gewesen.“605 Heine plädierte im Gegenteil dafür, den Einheitsstaat durch die Angliederung kleinerer Gliedstaaten an das „Reichsland“ Preußen zu formieren.606 In diesem Zusammenhang prägte er mit Blick auf die angespannte politische Lage des Reiches und die Rheinstaatsbewegung den in der Folgezeit immer wieder zu hörenden Ausspruch „Die Ratten verlassen das Schiff“607, was sodann eine harsche Kritik durch den Zentrums-Fraktionsvorsitzenden Gröber zur Folge hatte. Kaas entgegnete, dass man falls die Reichsverfassung darauf verzichten sollte, für die Verwirklichung der Selbständigkeitsbestrebungen eine legale Möglichkeit zu schaffen, man vielmehr ein verfassungsrechtliches „Bollwerk“ dagegen errichten wolle, in Wirklichkeit die Gefahr spontaner Volksaufstände im Rheinland schaffe, die im Interesse der Reichseinheit mehr als jeher zuwiderlaufen müssten.608 Der Abgeordnete Gottfried Traub (DNVP) warf der Zentrumsfraktion vor, sie wolle sich ihren eigenen katholischen Zentrumsstaat am Rhein schaffen. Daraufhin konterte Kaas, die Aktualisierung der rheinischen Frage sei nicht von seiner Partei ausgegangen, sondern von der rheinischen Bevölkerung. Es sei lediglich die Absicht des Zentrums, dem Rheinland seinen ihm gebührenden Platz im neuen Deutschen Reich zu verschaffen und es sei die verfehlte preußische Politik, die die Bevölkerung im Westen dazu bringe, sich von Preußen lossagen zu wollen.609 Es kamen mithin die bereits erwähnten parteipolitischen Gegensätze, begleitet von den bekannten Unterstellungen, zu Tage. Wirklich Neues oder eine kreative neuartige Argumentation erfolgte in der Debatte zunächst nicht. Meerfeld, selbst Mitglied des Westdeutschen Politischen Ausschusses, gab Trimborn zu, dass zwar er selbst [Trimborn, P.B.] sich der Reichseinheit und der Autorität der Reichsgewalt verpflichtet fühlen möge, andere Rheinstaatsbefürworter – gemeint sein konnte nur der Zirkel um Dorten und die Kölnische Volkszeitung – jedoch offen die nahezu selbständige Rheinische Republik proklamieren würden. Die unbedingte Achtung der zentralen Reichsgewalt aber sei die Voraussetzung für ein Zusammengehen der MSPD mit dem Zentrum, insofern sollte die Zentrumspartei 605
Zitiert nach Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 79. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 124. 607 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 80. 608 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 83. 609 Zitiert nach Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 123. 606
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ihre Taktik in der Rheinstaatsfrage überdenken. Schließlich verwies der Vertreter der oldenburgischen und lippischen Landesregierung, Georg von Eucken-Addenhausen, darauf, dass für den gewünschten Anschluss Oldenburgs an einen zu bildenden Rheinstaat in der oldenburgischen Bevölkerung keine Stimmung vorhanden sei.610 Letztlich wurde dem Antrag Trimborns entsprochen, indem ein von Meerfeld und den Sozialdemokraten initiierter Änderungsantrag611 zum Inhalt des Artikels 15 das Grundanliegen der Rheinstaatsbefürworter aufgriff. Hiernach hatte „die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebietes durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten“ aufgrund eines Reichsgesetzes und einer Volksabstimmung zu geschehen, also ebenfalls ohne Zustimmung der Regierungen der betroffenen Gliedstaaten.612 Auch das Viertel-Quorum wurde übernommen, jedoch mit der interessanten Ergänzung, dass neben dem Viertel der wahlberechtigten betroffenen Bevölkerung auch ein Viertel der diese vertretenden Abgeordneten eine Volksabstimmung sollten fordern können, also alternativ.613 Durch diese Beibehaltung des plebiszitären Prinzips näherte man sich in bemerkenswerter Weise den Forderungen der Kasino-Versammlung an, was den ehemaligen Außenminister Friedrich Rosen 1925 rückblickend zu der Feststellung veranlasst hat, diese Fassung habe „die schwersten Erschütterungen der deutschen Reichseinheit zur Folge [gehabt, P.B.], indem sie Absonderungsbestrebungen […] als verfassungsmäßig erschienen ließ.“614 In der Tat bestand die Brisanz dieser Formulierung darin, dass die Auflösung oder Neugliederung von Gliedstaaten gegen den bestehenden Willen der jeweiligen Länder durchsetzbar war. Dies stellte vor allem für Preußen eine Bedrohung dar und es kann nicht verwundern, dass in erster Linie die „Preußenpartei“ DNVP sich in der Folgezeit gegen diese Regelung stemmte.615 Andererseits hatten die Sozialdemokraten und Liberalen die Länderneuordnung durch Volksabstimmung dadurch zu erschweren versucht, dass sie außer der Volksabstimmung auch noch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz forderten, also nicht nur die formale Länderneugründung („Genehmigung“) durch einfaches Reichsgesetz genügen lassen wollten. Damit wurde letztlich doch versucht, den Status quo zu zementieren.616 Dieses Hemmnis ist jedoch aufgrund des Widerstands
610
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 80. Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), Antrag Nr. 35. Vgl. hierzu auch Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 3 f. 612 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 66. 613 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 125. 614 Federn/Kühn, Deutschland. Vergangenheit und Gegenwart. Bilder zur deutschen Politik und Kulturgeschichte, 1925, S. 57 f. 615 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 125. 616 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 204. 611
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der Zentrumspartei aufgegeben worden, so dass sich in einem später angenommenen Änderungsantrag dieser Passus nicht wiederfand.617 Ferner wurde gefordert, dass die Gliederung des Reiches in Länder „im Sinne der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung unter möglichster Berücksichtigung der beteiligten Völker erfolgen“ solle.618 Um nicht lebensfähige „Zwergstaaten“ und „Grenzlächerlichkeiten“ zu vermeiden, sollten die neu zu errichtenden Freistaaten mindestens zwei Millionen Einwohner umfassen.619 Neben dem subjektiv-voluntaristischen Element der positiven Volksabstimmung trat eine materielle Bedingung, die indes in ihrem Inhalt und in ihren Anforderungen reichlich unbestimmt blieb. In dieser geänderten Fassung wurde der Artikel 15 des Verfassungsentwurfs am 20. März 1919 durch den Reichsverfassungsausschuss mit den Stimmen des Zentrums, der MSPD, DDP und sogar DVP angenommen. Es ist festzuhalten, dass sich die Mehrheit des Ausschusses dazu bereit zeigte, sich mit der rheinischen Frage auseinanderzusetzen und es ist geradezu überraschend, wie weit man sich auf eine basisdemokratische Linie in der Rheinstaatsfrage einließ, auch gegen die repräsentativdemokratische Haltung der Reichsregierung. Insofern relativiert die Annahme des geänderten Artikels 15 durch den Ausschuss zumindest ein wenig die von der Nationalversammlung am 13. März 1919 einstimmig beschlossene Erklärung, die allein die Reichsregierung und die Deutsche Nationalversammlung für kompetent zur Lösung dieser Frage erachtete. Der spätere Artikel 18 der Reichsverfassung war geplant worden als eine Art „Ventil“, um den Selbständigkeitsbestrebungen einen legalen Weg zu eröffnen. Damit hatte sich die gemäßigtere, legalistische Strömung der Rheinstaatsbewegung zunächst parlamentarisch durchsetzen können. Am 21. März 1919 teilte Adenauer Trimborn mit, er habe zu seiner Freude von Meerfeld erfahren, dass sich die Mehrheit des Reichsverfassungsausschusses den Gründen, „die uns von Anfang an zu unserer Stellungnahme bewogen haben, nun nicht mehr länger“ verschließe. Falls es noch nicht zu spät sein sollte, so hoffe er, dass die Rheinlande „von der ihnen nunmehr gebotenen Möglichkeit Gebrauch machen werden“.620 Trimborn jedoch erkannte weitsichtig, dass es sich letztlich bloß um einen „Etappensieg“ handelte. So schrieb er: „Einen dauernden Erfolg bedeutet die Annahme des Antrages übrigens nach meiner Meinung kaum. Die Gegner werden nicht ruhen und sie sind stärker.“621 Er sollte Recht behalten.
617
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 204 f. Wortlaut abgedruckt bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 125. 619 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), Antrag Nr. 35, S. 89 und 92 f. 620 Brief Adenauer an Trimborn vom 21. März 1919, in: HAStK 902/253/2. 621 Brief Trimborns an seine Frau vom 23. März 1919, HAStK 1256/74, Bl. 32. 618
XV.
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XV. Das preußische Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt vom 20. März 1919 Nur eine Woche nach der Wahl zur Nationalversammlung wurde am 26. Januar 1919 die verfassunggebende Preußische Landesversammlung gewählt, die eine neue republikanische Verfassung für den Freistaat Preußen erarbeiten sollte. Am 5. März 1919 trat die Landesversammlung erstmalig zusammen. Dabei waren sich die meisten Abgeordneten nicht sicher, ob es überhaupt sinnvoll sei, eine Landesverfassung zu diskutieren und zu verabschieden.622 Grundsätzlich wollte man zunächst die Verabschiedung der neuen Reichsverfassung abwarten, um abschätzen zu können, wie diese das künftige Verhältnis des Bundesstaats zu seinen Gliedstaaten regeln würde oder – grundlegender – ob es überhaupt in Zukunft eigenständige deutsche Länder geben werde. Es bestand eine große Unsicherheit über die verfassungspolitische Zukunft des bisherigen preußischen Großstaates. Der Gedanke einer Desintegration des bisherigen Gliedstaates Preußen war im Frühjahr 1919 noch nicht aufgegeben worden und der Reichsverfassungsentwurf sah diese Möglichkeit explizit vor. Es fragte sich, ob der Staat Preußen nicht überflüssig geworden war und ob es neben der Reichsverfassung eigens einer Landesverfassung bedurfte. Dennoch erarbeitete vor diesem Hintergrund das preußische Innenministerium einen Vorschlag für eine Verfassung. Bereits am 20. März 1919 verabschiedete die Landesversammlung das „Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt in Preußen“623 als eine Art „Vorläuferverfassung“ oder gar „Notverfassung“624. Da man erst am 15. März 1919 mit den Beratungen begonnen hatte,625 entstand diese Übergangsverfassung innerhalb von nur fünf Tagen. Debattiert worden war der Verfassungsentwurf in der Landesversammlung zunächst zögerlich, nämlich erst, als die Beratungen zur Reichsverfassung eine Orientierung vorgaben. Die preußische Landesverfassung sollte dem Geist der Reichsverfassung nicht widersprechen.626 Es sollte lediglich eine „vorläufige Ordnung“ festgeschrieben werden.627 In seiner Eröffnungsrede am 13. März 1919 hatte der Ministerpräsident des „Revolutionskabinetts“ Hirsch die republikanische Sendung des gewandelten Preußen betont: „Preußens Aufgaben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist der Freiheit, der Ordnung und der Arbeit gestützt, soll es noch einmal der deutschen Nation und ihrer künftigen friedlichen Größe dienen. Preußens beste Eigenschaften, 622 623 624 625 626 627
Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947, 2011, S. 178. Preußische Gesetzsammlung 1919, Nr. 17, S. 53 ff. Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 189. Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 181. Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 189. Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 181.
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Arbeitsamkeit und Pflichttreue, braucht auch das deutsche Reich zum Wiederaufbau. […] Das alte Preußen ist tot, es lebe das neue Preußen!“628 Zugleich gab Hirsch einen eindrucksvollen Appell für den Fortbestand und die Integrität des „neuen“ Preußens, dem man nach wie vor eine hervorgehobene Machtpolitik zugestand, nun eben eine friedliche und demokratische. Im Hintergrund erkennt man indes die überlieferte Vorstellung, wonach der Großstaat Preußen der eigentliche Antrieb und zugleich Garant der deutschen Reichseinheit sei. So erklärte Hirsch weiter: „Preußen ist bereit, aufzugehen im Reich, in der Republik der politisch geeinten Nation [!], im deutschen Einheitsstaat. […] Aber der denkbar ungeeignetste Weg zum deutschen Einheitsstaat wäre die Zerschlagung Preußens in leistungs- und lebensunfähige Zwerggebilde. […] Ein freies Preußen ist nicht mehr das Schreckgespenst aus vergangenen Tagen, dem man mit dem alten Schlagwort von dem gefährlichen Übergewicht Preußens über Deutschland zu Leibe ging; gefährlich war für Deutschland nur das alte Preußen des Junkertums und der Reaktion; das neue Preußen des freien Volkes soll ein Segen werden für das gesamte deutsche Vaterland.“ In einer bewussten Absage an eine monokratische oder präsidiale Struktur,629 bestimmte das Gesetz die verfassunggebende Landesversammlung zur „Inhaberin der gesetzgeberischen und vollziehenden Staatsgewalt“. Sie allein habe „die künftige Verfassung der Republik Preußen als Gliedstaat des Deutschen Reiches festzustellen und Gesetze, die keinen Aufschub dulden, zu erlassen“ (§ 1 Absätze 1 und 2). Der Präsident der Landesversammlung berief den Ministerpräsidenten und die preußische Staatsregierung, genannt „Staatsministerium“ (§ 3), die die vollziehende Gewalt übernahmen. Gemäß § 6 war jeder Minister des Staatsministeriums auf das Vertrauen der Landesversammlung angewiesen und dieser auch verantwortlich. Im Übrigen blieben alle bestehenden preußischen Gesetze und Verordnungen in Kraft, soweit sie der Notverfassung nicht entgegenstanden (§ 9). Über eine etwaige Neugliederung des Staatsgebiets oder die territoriale Staatsorganisation insgesamt fand sich in dem Gesetz keine Silbe. Offenbar erschien den Parlamentariern die territoriale Integrität Preußens einstweilen als gegebene Tatsache, die man besser nicht selbst hinterfragte oder bezweifelte. Vorsorglich verzichtete man demnach auf eine demonstrative Sicherung dieses Status quo in der vorläufigen Staatsverfassung, denn was ohnehin galt, musste nicht konstitutionell beschworen oder gefestigt werden. Am 25. März 1919 berief der Sozialdemokrat Robert Leinert als Präsident der Landesversammlung die preußische Staatsregierung und damit „die erste parlamentarische Regierung Preußens“.630 Es sollte jedoch noch eineinhalb Jahre dauern, 628
Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Sp. 1 ff. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 629 Vgl. hierzu Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 182. 630 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Sp. 638 ff.
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bis schließlich am 30. November 1920 die Verfassung des Freistaates Preußen in Kraft trat. Am 14. Januar 1921 fand die letzte Sitzung der Preußischen Landesversammlung statt.
XVI. Die Entschließung der Preußischen Landesversammlung vom 24. März 1919 Die Landesversammlung befasste sich in überaus heftigen Debatten631 mit der Rheinstaatsfrage und dem grundsätzlichen Verhältnis Reich-Preußen vom 21. bis 24. März 1919, also unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes zur vorläufigen Ordnung der Staatsgewalt in Preußen. Der Zentrumsabgeordnete Faßbender sprach von einer „ausgiebigen Aussprache“, aber der fachliche Ertrag dieser Erörterungen habe im umgekehrten Verhältnis zu deren Umfang gestanden.632 Der Landesversammlung lagen zwei Anträge der provisorischen Staatsregierung zur Beschlussfassung vor. Der erste richtete sich deklaratorisch gegen die Loslösung rheinischer Landesteile vom Deutschen Reich durch die Ententemächte und wurde einstimmig und ohne kontroverse Debatte angenommen. Der zweite Antrag (Antrag Nr. 101) wandte sich gegen die Loslösungsbestrebungen in Westdeutschland, konnte aber ebenfalls einstimmig beschlossen werden, wobei sich das Zentrum geschlossen der Stimmen enthielt. Die Stimmenthaltung war eine Reaktion auf die „außerordentlich beleidigende und verletzende Art und Weise, wie die für eine westdeutsche Republik eintretenden Rheinländer und mit dieser die ganze Zentrumspartei sowohl in der Preußischen Landesversammlung, wie in Weimar und auch in der Presse“ behandelt worden war.633 Es ist an dieser Stelle festzuhalten, wie sehr also die Zentrumspartei und ihre Fraktionen in den verfassunggebenden Versammlungen nach wie vor in der Defensive waren und sich stets des Vorwurfs der Sonderbündelei erwehren mussten. Am Abschluss der Debatte stand die Annahme der folgenden Entschließung: „Die Landesversammlung erklärt sich mit aller Entschiedenheit gegen alle Bestrebungen einzelner Gebietsteile, sich von Preußen abzutrennen, insbesondere gegen die Errichtung einer Westdeutschen Republik. Sie vertraut darauf, daß die Staatsregierung [Preußens, P.B.] diesen Bestrebungen mit der größten Tatkraft entgegentritt und sich für die Erhaltung eines ungeteilten Preußens einsetzt.“634 Dabei hätten sich die Abgeordneten der Landesversammlung durchaus überwiegend mit einem Aufgehen Preußens in einem dezentralisierten Einheitsstaat, also 631 632 633 634
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 207. Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 4. Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 4 f. Zitiert nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 66.
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ohne föderale Struktur, abgefunden, eine Zerstückelung durch die Loslösung einzelner Provinzen lehnten sie jedoch entschieden ab.635 So verlief die Debatte in der Landesversammlung zunächst unter anderen Vorzeichen als in der Nationalversammlung. Während die Nationalversammlung um die zentrale Frage nach Bundes- oder Einheitsstaat unter Aufrechterhaltung souveräner Gliedstaaten stritt, war man in der Landesversammlung überwiegend überzeugt, dass das anzustrebende starke Reich nur ein weitgehend zentralisierter Einheitsstaat sein könne, in dem das preußische Staatsgebiet in reichsunmittelbare Bezirke mit Selbstverwaltungskompetenzen aufgegliedert werden sollte. Dies nannte man das „Aufgehen“ Preußens im Reich. Auf diesem Wege hätte sich indessen eine gesonderte preußische Verfassung erübrigt.636 So erklärte Ministerpräsident Hirsch, Preußen sei bereit, seine staatliche Selbständigkeit in gleichem Maße wie andere Bundesländer zugunsten des Reiches zu beschränken, werde indessen keine einseitige Entrechtung hinnehmen.637 Der DVP-Abgeordnete Moldenhauer sprach sich grundsätzlich gegen die „Zerschlagung“ Preußens in einzelne Gliedstaaten aus, die für ihn einen Schritt zurück in „die Zeiten alter, bösester deutscher Kleinstaaterei“ bedeutete. Ebenso wie Hirsch war er der Auffassung, dass wenn die übrigen Bundesländer ihren territorialen Besitzstand im Sinne eines deutschen Einheitsstaates aufzugeben bereit wären, auch Preußen im unitarischen Staat aufgehen könnte.638 Für die Zentrumsfraktion hatten sich besonders die Abgeordneten Kastert und Heß in die Diskussion eingebracht und unablässig versucht zu unterstreichen, dass die Rheinlandfrage niemals eine „ureigenste Zentrumssache“ gewesen sei. Vielmehr rückten beide Redner „nationale Erwägungen“ in den Vordergrund und Heß schloss seine Rede mit den Worten: „Wir sind deutsch gewesen und wir wollen und werden deutsch bleiben.“639 Er erläuterte dabei die Motivation der Rheinstaatsbewegung wiederum unter Hinweis auf eine etwaige französische Annexion und dass dieser zuvorgekommen werden müsse: „Wir auf dem linken Rheinufer […] waren von der inneren Überzeugung geleitet, daß die Gründung einer westdeutschen Republik aus nationalen Erwägungen notwendig wäre; denn wir glaubten, der begründeten Ansicht sein zu müssen, daß die Unversehrtheit des ganzen deutschen Reichsgebiets nur auf diesem Wege zu sichern wäre.“640 635
So auch Heimann, Der Preußische Landtag 1899 – 1947 (Fn. 622), S. 189. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 40. 637 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1140. 638 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 7. 639 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 1, Sp. 569. 640 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 1, Sp. 562. 636
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Kastert konnte sich auf den im Rheinland vorherrschenden Antiborussismus stützen, als er erklärte, „daß das Kapitel des alten Preußens und seiner Sünden gegen das Rheinland ein ganz eigenartiges und ein ganz reichhaltiges Kapitel preußischer Regierungskunst oder besser Regierungsunkunst ist“.641 Während Heß also eher eine außenpolitische Argumentation bemühte, ging Kastert schroff mit Preußens Innenpolitik ins Gericht. Zu der Rolle der Zentrumspartei erläuterte Faßbender in seiner Denkschrift von 1919: „Das Eintreten für die Gründung eines westdeutschen Freistaates ist nicht Fraktionssache des Zentrums, vielmehr sind die Ansichten unter den Zentrumsanhängern geteilt.“642 Im Wahlkampf zur Wahl der preußischen Landesversammlung vom 26. Januar 1919 hatte jedoch zumindest das rheinische Zentrum erklärtermaßen für einen westdeutschen Staat geworben. Im Wahlaufruf hieß es: „Die Männer und Frauen, die ihr wählt, werden darüber entscheiden, ob das freie, echt deutsche Volk in Rheinland und Westfalen von einer sozialistischen Minderheit in Berlin beherrscht werden soll, die seine wirtschaftliche Kraft zerrüttet, die seine kulturellen und religiösen Güter vernichtet, oder ob Rheinland und Westfalen ein starkes Gesamtwesen im deutschen Gesamtvolk sein soll, das gute deutsche Sitte und echten christlichen Glauben wahrt und hochhält.“643 Auf der Liste der Zentrumspartei standen tatsächlich viele engagierte Anhänger einer Rheinischen Republik, prominent für den Wahlkreis 20 (Köln-Aachen) etwa der Kölner Parteivorsitzende Kastert, daneben aber auch Kuckhoff und Schmittmann. Die Wahl brachte für die rheinische Zentrumspartei sodann einen überwältigenden Erfolg. Im großen Wahlkreis Köln-Aachen errang die Partei 12 von möglichen 19 Sitzen in der Landesversammlung und in Aachen über 60 Prozent der abgegebenen Stimmen.644 Dies hatten die Rheinstaatsbefürworter innerhalb des Zentrums als einen Sieg ihrer Ideen betrachtet. Die Stimmenthaltung bei der Entschließung der Landesversammlung vom 24. März 1919 erklärt sich nach Morsey dadurch, dass sich die Fraktionsmehrheit nicht in dieser Form auf den unversehrten Fortbestand des preußischen Staates festlegen lassen wollte. Ferner äußerten einige Abgeordnete, sie fühlten sich für ihre Haltung in der Rheinlandfrage in verletzender Weise durch die Majorität behandelt.645 Auch der Kritiker Moldenhauer gab zu, dass das Zentrum einen schweren
641 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 1, Sp. 490. 642 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 5. 643 Zitat bei Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 537. 644 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 538. 645 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 207; vgl. auch Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 8.
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Stand in dieser Debatte hatte.646 Reimer behauptet ohne jeden weiteren Beleg, die Zentrumsfraktion habe die Resolution „überwiegend“ abgelehnt.647 Daraus kann jedenfalls nicht geschlossen werden, dass die Mehrheit der Fraktion für eine rheinische Selbständigkeit eingetreten sei, sondern allenfalls, man habe Preußen nicht in seinem damaligen Bestand garantieren wollen. Allgemein nimmt Morsey an, dass lediglich etwa ein Drittel der Fraktionsmitglieder zu den Förderern oder Anhängern der rheinischen Selbständigkeitspläne zählte.648 Zutreffend konstatiert Reimer, dass das Zentrum lediglich seine eigene Zerrissenheit in dieser Frage nicht nach außen hin dokumentieren wollte.649 Indes war die Mehrheit der Fraktionsmitglieder nicht bereit, als „Sprachrohr“ für die rheinischen Aktivisten zu fungieren, vor allem nicht für die ungebrochen aktionistische Strömung des Fraktionskollegen Kastert. Eher kontraproduktiv für die rheinische Frage bewertet denn auch Brüggemann die Redebeiträge Kasterts, der versuchte, den anwesenden Abgeordneten „das Verständnis für das Vorgehen […] nahezubringen“: „Alles, was den Befürwortern der Loslösungsbestrebungen von gegnerischer Seite entgegengehalten wurde, hat der Kölner Zentrumsabgeordnete nicht mit einem Wort zu widerlegen vermocht oder auch nur versucht.“650 So hatte Moldenhauer ihm entgegnet, dass gerade eine „Grenzmark“ wie die Rheinlande bei Preußen bleiben müsse, weil nur der preußische Staat stark genug sei, den „Verwelschungsversuche[n]“ am Rhein Einhalt zu gebieten.651 Zudem habe Kastert auf Rückfragen hin die vermeintlich bevorstehende Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich nicht beweisen können und sich lediglich auf die altbekannten Gerüchte berufen, die jedoch „durch ihre ewige Wiederholung nicht an Glaubwürdigkeit zu gewinnen vermocht hatten“. Der Auftritt Kasterts sei auch deshalb schwach gewesen, weil er sich permanent dazu hinreißen lassen habe, auf Zwischenrufe ungehalten zu erwidern, jedoch „Heftigkeit […] am allerwenigsten beweiskräftig“ sei.652 Zu der anschließenden Enthaltung der Zentrumsfraktion bemerkt Brüggemann: „Man beachte wohl: Das gesamte Zentrum! Nicht etwa die rheinischen Abgeordneten, sondern die sämtlichen Zentrumsabgeordneten ohne Unterschied der landschaftlichen Herkunft, während auch die rheinischen Abgeordneten aller anderen Parteien für den Antrag stimmten.“653 Dadurch sah er sich erneut in seiner Grund646 647 648 649 650 651 652 653
Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 7. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 125. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 207. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 125. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 80 f. Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 7. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 81. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 81 f.
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these bestätigt, dass die gesamte rheinische Angelegenheit eine rein parteipolitische Inszenierung der Zentrumspartei gewesen sei, „wozu bis zu dieser Stunde nur das offene Eingeständnis gefehlt hatte“.654 Auch Selbach weist auf die ungeschickten Äußerungen Kasterts hin, der indirekt kritisiert habe, dass der Westdeutsche Politische Ausschuss bisher noch nicht einberufen worden sei.655 Damit hatte Kastert öffentlich und in einem weitgehend reserviert und ablehnend eingestellten Gremium die Spaltung und Zerstrittenheit der Loslösungsbefürworter eingestanden und die gesamte Bewegung einmal mehr angreifbar gemacht. Frappierend ist der Vergleich dieser Erklärung mit derjenigen der Nationalversammlung vom 13. März 1919. Grundsätzlich wandte man sich gegen die Lostrennung von rheinischen Gebieten, vor allem vom Reichsverband, aber die Nationalversammlung hatte erklärt, dass sie selbst und die Reichsregierung der rheinischen Frage „die ernsteste Beachtung“656 zukommen lassen wollten, also durchaus auf die Forderungen der Rheinstaatsbewegung adäquat reagieren, wenn auch nicht unbedingt eingehen wollten. Demgegenüber erwartete die Landesversammlung von ihrer Staatsregierung, dass man diesen Bestrebungen „mit der größten Tatkraft entgegentritt“ und den ungeteilten preußischen Staat erhalte. Diese starre Haltung der preußischen Staatsorgane in der Rheinstaatsangelegenheit kam letztlich denjenigen Aktivisten zugute, die immer behaupteten, Preußen behandele das Rheinland seit jeher „von oben herab“ und negiere die vaterländische Gesinnung der rheinischen Bevölkerung. So schreibt der Zeitgenosse Wilhelm Hankamer, der selbst nicht einmal Rheinstaatsenthusiast gewesen ist657: „Es gehört zu den schwersten Mißgriffen der preußischen Staatspolitik, die Treue der Rheinlande in Zweifel gezogen und danach ihre Behandlung des rheinischen Volksteils eingerichtet zu haben.“658 Besonders der aktionistische Zirkel um Dorten konnte sich über diesen willkommenen Agitationsstoff freuen659 und „alle reichstreuen Rheinstaatbefürworter“ mussten sich durch diese „Scharfmacherei“ vor den Kopf gestoßen fühlen.660 Dabei war, wie bereits erwähnt, weder für die preußische Landesversammlung noch für die Staatsregierung der unveränderte Bestand Preußens sakrosankt. Noch im Dezember 1919, also vier Monate nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, 654
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 82. Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 123. 656 Wortlaut der Erklärung in: Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), S. 776. 657 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 126. 658 Hankamer, Preußen und die Rheinlande im Spiegelbild der Wahrheit, 1924, S. 3. 659 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 66. 660 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 126. 655
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forderte die Landesversammlung in einer Deklaration den rein unitarischen deutschen Einheitsstaat. Hierin hieß es: „Preußen ist im Begriff, sich eine Verfassung zu geben. Als das größte der deutschen Länder erblickt Preußen seine Pflicht darin, zunächst den Versuch zu machen, ob sich nicht bereits jetzt [!] die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates erreichen läßt. Aus diesen Erwägungen heraus ersucht die Landesversammlung die Staatsregierung, sofort und noch vor Einbringen der endgültigen Verfassung, die Reichsregierung zu veranlassen, mit den Regierungen aller deutschen Länder über die Errichtung des deutschen Einheitsstaates in Verhandlungen einzutreten.“661 Preußen strebte eine gesamtdeutsche Lösung der Neugliederungsproblematik an, war indessen nicht dazu bereit, einseitig auf die Rheinprovinz im Sinne einer partiellen Aufteilung zu verzichten. Hier zeigt sich eine weitere Konfliktlinie in der Rheinstaatsdebatte, nämlich zwischen dem Deutschen Reich und dem Freistaat Preußen: Während auf der Reichsebene die auf einen Einheitsstaat gerichteten Pläne nicht weiter verfolgt worden waren, man jedoch der Schaffung eines rheinischen Gliedstaates auf verfassungsrechtlichem Wege nicht per se entgegenstand, hielt Preußen am dezentralisierten Einheitsstaat fest und verwahrte sich gegen die eigene „Zerstückelung“. Dass die preußischen Parlamentarier allgemein zunächst zur Einheit des preußischen Staates und zu seiner Vormachtstellung standen und keine Zugeständnisse machten, konnte auch die Rheinstaatsbefürworter nicht überraschen. Dies hatte sich bereits 1916 gezeigt, als es in einer Entschließung des Abgeordnetenhauses vom 20. November um die Zukunft Preußens in Polen ging. Zwar war dieses Abgeordnetenhaus noch anders zusammengesetzt als die Landesversammlung, es zeigen sich indessen preußische Kontinuitäten, die auch durch die sozialistische Revolution und die Wahl zur Landesversammlung nicht unterbrochen wurden. In besagter Entschließung waren „dauernd wirksame militärische, wirtschaftliche und allgemein-politische Sicherungen Deutschlands [sic!] im Königreich Polen“ verlangt worden. Was die „Regelung der innenpolitischen Verhältnisse in der deutschen Ostmark“ betraf, worunter konkret „politische Schritte“ zu verstehen waren, „welche die Interessen der polnisch sprechenden Preußen [sic!662] berühren“, wehrte man sich gegen alles, was geeignet erschien, „den deutschen Charakter der mit dem preußischen Staat unlösbar verbundenen sowie für die Machtstellung Preußens und Deutschlands [sic!] unentbehrlichen östlichen Provinzen irgendwie zu gefährden.“663 Mit Blick auf diese Episode konnte sich die Rheinlandbewegung der Jahre 1918/ 19 eine Vorstellung davon machen, dass man als preußische Staatsführung erst recht 661
Wortlaut in: Drucksachen Landesversammlung 1919, Nr. 1467, S. 2147; zur Debatte vgl. Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Sp. 8074 ff. 662 Nicht etwa findet sich die Formulierung „preußische Polen“! 663 Zitate bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1963, S. 77.
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rigide an den deutschsprachigen westlichen Provinzen, nämlich dem Rheinland, festhalten würde. Ebenso wie später nach dem Waffenstillstand wurde bereits 1916 das an sich rein preußische mit dem gesamtdeutschen Interesse verknüpft, was folglich bedeutete, dass jede Auflösung der Integration des Freistaates Preußen gleichsam eine Gefährdung des Reichsintegration bzw. Reichsstabilität verhieß. Diese politische „Logik“ erfuhr auch in der gesamten ersten Rheinstaatsinitiative keinen Bruch. Unmittelbar nach dem Abschluss der Rheinlanddebatten erfolgte durch die Landesversammlung die Bildung der preußischen Koalition und der Regierung aus MSPD, DDP und Zentrum nach dem Vorbild der Weimarer Koalition, die bereits seit dem 13. Februar 1919 bestand. Aufgrund dessen ist es verständlich, dass auch auf Landesebene seitens der Zentrumspartei die Rheinstaatsbestrebungen immer weniger zur Sprache gebracht wurden.664 Vielmehr gewann die Vorstellung innerparteilich an Überzeugungskraft, dass sich eine Abtrennung der westdeutschen Gebiete von Preußen nachteilig auf die kulturelle Stellung des gesamtpreußischen Katholizismus auswirken könnte, der mithin außerhalb des rheinisch-westfälischen Gebiets im öffentlichen Leben „fast zur Ohnmacht“ verdammt sein würde.665 Mit den beiden Stellungnahmen der verfassunggebenden Versammlungen im Reich und in Preußen war zunächst ein schleichender Rückzug der parlamentarischen, „legalen“ Rheinstaatsbestrebungen bemerkbar geworden. Holzschnittartig aber im Kern zutreffend schrieb Leo Böhmer 1928 hierzu: „Nach der Verdammung des Separatismus [!] durch den Landtag [sic!] am 24. März und der mißglückten Abstimmung am 10. März, nach der Drohung des Sozialisten Sollmann mit Generalstreik im Falle einer Ausrufung der rheinischen Republik und inmitten der Uneinigkeit der rheinischen Parteien begann die ,illegale‘ Separatistenbewegung.“666 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es selbst unter den Parlamentariern Befürworter einer außerparlamentarischen Aktion gab, wie das Beispiel des radikalen Rheinstaatsanhängers Kastert zeigt. Bereits am 24. Januar 1919, in seinem Wahlkampf zur Landesversammlung, hatte er die zeitige Republikgründung angekündigt: „Wenn es glückt, dann kommt sie. Und bevor noch die deutsche Nationalversammlung zusammentritt, wird die rheinisch-westfälische Republik ihre Pforten geöffnet haben!“667 Einmal mehr zeigt sich, dass prominente Rheinstaatsanhänger ihre Ziele im Grunde auf außerparlamentarischem Wege verfolgten, also ohne die Einbeziehung der verfassunggebenden Versammlungen. Von den Verfassunggebern erwartete die aktionistische Strömung innerhalb der Rheinlandbewegung ab März 1919 nichts Weiteres mehr in Sachen rheinischer Selbständigkeit. 664
Vgl. hierzu Selbach, Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 118), S. 123. 665 Mausbach, Kulturfragen in der deutschen Verfassung, 1920, S. 84. 666 Böhmer, Die rheinische Separatistenbewegung und die französische Presse, 1928, S. 17. 667 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 539.
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XVII. Das Treffen von Rheinstaatsbefürwortern mit dem französischen General Mangin vom 17. Mai 1919 Da sich nach dem März 1919 andeutete, dass die parlamentarischen Möglichkeiten einer baldigen westdeutschen Staatsgründung faktisch verbaut sein würden, erstarkten die aktionistischen und außerparlamentarischen Rheinstaatsbestrebungen, deren Träger nunmehr vor allem Dorten und bisher weniger bekannte Aktivisten, die zumeist den Aachener, Mainzer oder Wiesbadener Arbeitskreisen entstammten, wie etwa ein gewisser Justizrat Eckermann, Klingelschmitt, der bereits erwähnte Mönikes, Salm und Klaus Kraemer668. Dabei standen jedoch die Aachener Rheinstaatsbefürworter im ständigen Kontakt mit den Kölner Vertretern, vor allem mit den Abgeordneten Kastert und Kuckhoff.669 Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass sich der Kern der Bewegung zunehmend in dem von den Franzosen besetzten Gebiet betätigte und sogar mit den Besatzungsmächten zusammenarbeitete, also ausgerechnet mit der Ententemacht, der man bis dato zu bekämpfende Annexionsabsichten unterstellt und als Hauptbedrohung für das deutsche Rheinland betrachtet hatte. Diese geographische Verlagerung des Agitationsschwerpunktes von Köln in den Süden hatte jedoch ihren praktischen Grund darin, dass den radikalen Rheinstaatsbefürwortern ihr Wirken in der US-amerikanischen Besatzungszone mehr und mehr erschwert worden war. So erinnert sich Pierrepont B. Noyes, von April 1919 bis Juni 1920 amerikanischer Kommissar bei der Rheinlandkommission, dass das wie ein Keil zwischen Mainz und der nördlichen Rheinprovinz liegende US-amerikanisch besetzte Gebiet für Dorten und seine Mitstreiter eine „verbotene Zone“ gewesen sei.670 Morsey beschreibt die Zeit während der Formulierung des späteren Artikels 18 der Reichsverfassung und nach der Übergabe der alliierten Friedensbedingungen als eine „neue Phase im Kampf um den Rhein“, wobei es die Franzosen gewesen seien, die versucht hätten, Einfluss auf die rheinischen Aktivisten zu nehmen.671 Brüggemann sieht in der Übergabe der Friedensbedingungen am 7. Mai 1919 im Pariser Hôtel du Trianon Palace eine Zäsur: „Mit der Bekanntgabe der Friedensbedingungen, in denen sich die Annektionsgefahr für die Rheinlande nicht bestätigte, war den Interessenten an der rheinischen Republik ihre schönste Hoffnung fortgeschwommen.“672 Clemenceau hatte seine maximalistische Rheinpolitik gegen den geschlossenen Widerstand Großbritanniens und der Vereinigten Staaten nicht durchsetzen können. Geblieben waren eine fünfzehnjährige Besatzungszeit des linken Rheinufers zur 668 669 670 671 672
Vgl. Kraemer, Die rheinische Bewegung, 1919. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 110. Noyes, Wo Europa doch des Friedens harrt …!, 1922, S. 28. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 252. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 100 f.
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Sicherung der Reparationen, der Sonderstatus des Saarlandes und die Entmilitarisierung der Gebiete bis zu einer Linie fünfzig Kilometer östlich des Rheins.673 Um die Rheinische Republik trotzdem noch auf den Weg bringen zu können, wandte man sich als Rheinstaatsanhänger nunmehr „auf eigene Faust an den Feind“ und versuchte ihn zu überzeugen, dass ein selbständiges Rheinland auch für die Triple Entente von Vorteil sei.674 Auch Moldenhauer beschreibt, dass mit der Bekanntgabe der Friedensbedingungen eine Neuorientierung der radikaleren Rheinlandbewegung erfolgt sei, man habe „einen Schritt weiter“ gehen wollen.675 Als man merkte, weder in der Nationalversammlung noch in der Landesversammlung ernsthafte Verbündete zu haben, erschien die Kollaboration mit den Franzosen als letztes Mittel, doch noch zu einer rheinischen Staatlichkeit zu kommen, die als unumstößliches Faktum schließlich auch durch die deutschen und preußischen Verfassunggeber anzuerkennen gewesen wäre. Mit Recht weist jedoch Jean-Jacques Becker darauf hin, dass der Kontakt der Rheinlandbewegung zur französischen Armee durch gegenseitiges Wirken zustande kam. Nach der Übergabe der Friedensbedingungen an das Deutsche Reich begannen hohe französische Militärs verstärkt damit, die rheinischen Aktionisten zu fördern, nicht zuletzt Marschall Foch selbst. Becker spricht sogar davon, dass man auf diese Weise erst zur Entstehung von „Separatistenbewegungen“ beigetragen habe.676 Dies erscheint nach der bisher dargelegten Untersuchung jedoch übertrieben. Nicht zuletzt um dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker genügen zu können, war man auf französischer Seite jedoch froh, unter den Rheinländern Kontaktund Mittelsmänner zu haben, die auf die rheinische Bevölkerung einwirken konnten.677 Dorten hatte schon im Januar 1919 mit Oberst Pineau, dem französischen Delegierten für den Bezirk Wiesbaden, Kontakt aufgenommen, wie ein von Dorten, Kraemer und einem Geueke in französischer Sprache verfasstes Memorandum vom 10. Januar 1919 beweist.678 Ebenso treffend wie lapidar heißt es hier zu Beginn: „Nous avons en vue de créer une république autonome dans l’Allemagne de l’Ouest.“ Dabei erläuterten Dorten und seine Mitstreiter ihre Motivationslage so, dass der preußische Staat nach der Revolution keine Daseinsberechtigung mehr habe, da das alte Königreich Preußen eine rein dynastische Schöpfung gewesen sei, die nur durch 673 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 550. 674 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 100 f. 675 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 8. 676 Becker, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, 2001, S. 69. 677 So auch Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 550. 678 Vgl. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 69 ff. Hier auch die nachfolgenden Zitate.
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die mittlerweile abgesetzte Person des Monarchen zusammengehalten worden sei. Überdies gehe von Preußen-Berlin nunmehr die sich ausbreitende Gefahr des Bolschewismus aus, der Einhalt im Westen geboten werden müsse: „Pour y parvenir il faudra recourir à l’organisation d’un nouvel Etat établi sur les principes de la Société bourgeoise […]“. Die eigenständige Staatsgründung durch und für die bürgerliche Gesellschaft allein könne verhindern, dass im Westen eine sozialistische Regierung eingesetzt werde. Während die französische Delegation auf der Versailler Friedenskonferenz hartnäckig für ihre Rheinlandpläne stritt, bemühten sich die beiden französischen Generäle am Rhein, Charles Mangin und Emile Fayolle, die Rheinländer für die französische Idee zu gewinnen.679 Sie waren am 14. Dezember 1918 mit den französischen Truppen in Mainz eingezogen. Fayolle bemühte sich, stets eine gewisse Distanz und Reserviertheit gegenüber der deutschen Bevölkerung zu demonstrieren, wohingegen Mangin umgänglicher auftrat und sich auch aktiv zu innerdeutschen politischen Fragen, nicht zuletzt in der Rheinstaatsfrage, zu Wort meldete. Er, ein Schwiegersohn Fochs,680 wurde der Oberbefehlshaber der französischen Armee in Rheinhessen und Nassau. Aufgrund dieser Offenheit gegenüber dem Anliegen der Unabhängigkeitsbefürworter kritisierte Fayolle Mangins Haltung „der offenen und hingestreckten Hand“.681 So berichtete der DDP-Politiker und damalige Innenminister Koch-Weser über die französische Besatzung: „Dem Klerikalismus der Bevölkerung wird klug entgegengekommen, indem z. B. der General Mangin sich eine eigene Kapelle hat errichten lassen, in der er jeden Morgen die Messe hört und diese Tatsache durch die Zeitungen veröffentlicht.“682 Auch wirkten die französischen Truppen im Frühjahr 1919 als Sicherheitskräfte gegen Anarchie und Bolschewismus, was durchaus von den Rheinländern wohlwollend anerkannt worden ist.683 Es verwundert daher nicht, dass auch Dorten von seiner ersten Begegnung mit Mangin Ende April 1919 in der ihm eigentümlichen Euphorie schwärmt: „[…] ich befand mich in Gegenwart eines wahren Mannes. Er empfing mich nicht mit der kühlen Distanz einer preußischen Exzellenz, sondern mit liebenswürdiger Natürlichkeit, die keiner Inszenierung bedurfte, um zu imponieren. Die lebendige Intelligenz, die aus seinem scharfen, leicht ironischen aber verständnisvollen Blick
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Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 67. Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 121. 681 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 67. 682 Arns, Erich Koch-Wesers Aufzeichnungen vom 13. Februar 1919, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 101. 683 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 67. 680
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sprach, verlieh jenes seltene Gefühl, daß man sich auf diesen geborenen Führer voll und ganz verlassen konnte […].“684 Es war auf Seiten der Franzosen Mangin, der vom April 1919 bis Ende 1923 – mithin selbst nach seiner Abberufung im Herbst 1919 – den größten Einfluss auf Dorten hatte.685 Der Zeitzeuge Springer bezeichnete den General im Jahre 1924 rückblickend als „Vater des Separatismus“.686 Am 10. März 1919 schrieb Fayolle an Mangin, dass sich ihre Truppen bisher darauf beschränkt hätten, sich mit der einheimischen Bevölkerung zu versöhnen, jetzt aber gelte es, von der Situation zu profitieren, indem man die linksrheinische Bevölkerung dazu brachte, sich von der rechten Rheinseite zu trennen: „[…] préparer les solutions qui nous sont favorables. Les événements qui se déroulent en Allemagne depuis une quinzaine de jours ont en effet vivement impressionné les populations de la rive gauche et les ont rapprochées de nous. […] De là les tendances au séparatisme qui se manifestent un peu partout. […] C’est cette tendance qu’il s’agit d’exploiter dès maintenant en faisant comprendre aux populations de la rive gauche que leur intérêt matériel et moral est de se séparer de la rive droite […].“687 Fayolle entwarf das Bild eines linksrheinischen Separatismus, der aus dem wirtschaftlichen und moralischen Interesse der linksrheinischen Bewohner heraus folgen müsste. Die bestehenden aktivistischen Bewegungen sollten demnach französischen Absichten dienstbar gemacht werden, wobei sich der französische General implizit etwa auf die Kasino-Versammlung und die Sechs-Punkte-Erklärung vom 6. März 1919 sowie auf die Aktivitäten der Dortenschen „Arbeitskreise“ in Wiesbaden, Mainz und Aachen bezogen haben dürfte. Dabei handelte es sich nicht nur um die vereinzelte Meinung von im Rheinland stationierten Militärs, wie ein Brief des französischen Außenministers Stéphen Pichon an den Unterstaatssekretär beim Amt des Ministerpräsidenten vom 11. März 1919 zeigt. Hier hieß es, dass der linksrheinischen Bevölkerung klar gemacht werden müsse, dass ihre wirtschaftliche Prosperität nicht von den Beziehungen zum rechten Rheinufer abhänge, schon gar nicht von der politischen Einheit mit demselben.688 Es handelte sich demnach bei der gezielten Beeinflussungspolitik auf die Rheinländer und der Einflussnahme auf die westdeutsche Politik durch die Besatzungsmächte um ein von Paris aus bewusst gesteuertes Vorgehen, hinter welchem zumindest ursprünglich die Idee des rheinischen Pufferstaats, außerhalb des Verbandes des Deutschen Reiches, stand. Bereits ab Anfang Februar 1919 war die 684
Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 70. 686 Springer, Loslösungsbestrebungen am Rhein (1918 – 1924) (Fn. 442), S. 6. 687 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 68. 688 Auszüge aus dem Wortlaut des Briefs bei Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 68. 685
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kulturelle „Umerziehung“ der rheinischen Bewohner gestartet worden, indem Französisch ein Pflichtfach an den Schulen geworden war und Erwachsenensprachkurse eingerichtet wurden.689 Schon in einer an Clemenceau adressierten ersten Note vom 27. November 1918 hatte Marschall Foch die Annexion des linken Rheinufers vorgeschlagen. In einer zweiten Note vom 10. Januar 1919 änderte er seinen ursprünglichen Vorschlag geringfügig: Der Rhein sollte fortan die Westgrenze Deutschlands bilden und etwaigen neu entstehenden Rheinstaaten sollte der Autonomiestatus verliehen werden.690 Am 7. Mai 1919 war eine Delegation des Aachener Vereins, angeführt von dem Oberpostassistenten Johann Dahlen und Mönikes, mit General Mangin in Aachen zusammengetroffen. Man erklärte ihm, „daß die hiesige Bevölkerung deutsch bleiben und im Verband des deutschen Reiches selbständig werden wollte.“691 Der General habe dieses Anliegen geachtet und erklärt, dass sie den Mainz-Wiesbadener Zielen gleichkämen. Man darf jedoch annehmen, dass diese Verlautbarung für den französischen General eher als gegen die Annexionsabsichten gerichtet erschien und dass weniger die staatsrechtliche Frage nach der Ausgestaltung des Rheinstaates eine Rolle gespielt haben dürfte. Es ist Dorten selbst, der uns über Mangins politische Absichten mitteilt, dass dieser nicht daran gedacht habe, die „Rheinische Republik“ im Reichsverband zu belassen, sondern er habe vielmehr einen Rheinbund nach napoleonischem Vorbild gewollt, der sich auch teilweise über das rechtsrheinische Gebiet erstrecken sollte. „Der General war […] höchst erstaunt, als ich ihm unsere Grundbedingung vorlegte, und ihm allen Ernstes versicherte, daß die Aufrechterhaltung des Reichsverbandes nicht eine bloße Floskel bedeute, sondern durchaus ehrlich gemeint sei […].“692 Dorten gibt an, er habe stets betont, dass der „Reichsgedanke im rheinischen Volke unzerstörbar Wurzel geschlagen habe“ und dass die Rheinländer sich lediglich von Preußen trennen wollten, um es auch den übrigen „deutschen Stämmen“ zu ermöglichen, die „Hegemonie Preußens“ ihrerseits abzuschaffen. Es sollte ein „neues Reich“ gegründet werden, dessen Hauptaufgabe die Aussöhnung mit Frankreich zu sein habe. Andererseits räumt Dorten ein, dass man „an eine radikale Lostrennung des besetzten Gebietes gedacht habe und vielleicht noch denken müsse“, eine solche Separation indes „nur den ersten Schritt zur Verwirklichung des weiterreichenden Programms“ darstellen könne.
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Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 138. Becker, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören (Fn. 676), S. 67 f. 691 Reichsgericht, Aachener Berichte 1919. Aus den Voruntersuchungsakten des Reichsgerichts gegen Dr. Dorten wegen Hochverrats (Fn. 489), Bl. 8. 692 Dorten, Mein Verrat, in: BArch Koblenz ZSG 105/04. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 690
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Zwar bleiben Dortens Angaben erneut vage, jedenfalls aber wird deutlich, dass Dorten im Frühjahr 1919 den Abfall des Rheinlandes vom übrigen Deutschen Reich („radikale Lostrennung“) jedenfalls erwogen hat, zumindest alternativ dann, wenn der Weg zum rheinischen Gliedstaat im Reichsverband verbaut sein sollte, wie dies aufgrund der Beschlüsse der verfassunggebenden Versammlungen im März 1919 zu geschehen drohte. Ablehnend verhielt sich Dorten lediglich gegenüber französischen Annexionsplänen, die jedoch General Mangin selbst in dieser Radikalität aufgegeben hatte.693 Bischof mutmaßt, dass es sich bei Dortens Postulat auf Verbleib im Reichsverband im März/April 1919 mehr und mehr um ein „taktisches Manöver“ mit Rücksicht auf das ungebrochene Reichsbewusstsein in der rheinischen Bevölkerung handelte. Dabei verweist er auf einen französischen Bericht aus dem Jahre 1923, wonach Dorten ausgesagt habe, dass nach seinen Plänen die Schaffung eines rheinischen Staates im Reichsverband immer schon nur vorübergehender Natur sein sollte und dass sich dieser Freistaat zu einem eng an Frankreich angelehnten Pufferstaat entwickeln sollte.694 Dass Dorten sich nach 1918/19 allmählich als offener Separatist betätigte, ist bekannt. Ob aber seine späteren Aussagen als „Sonderbündler“ im Jahr 1923 rückblickend auf das Frühjahr 1919 in diesem Punkt glaubhaft sind, erscheint fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass sich Dorten schrittweise – wohl erst ab dem Jahr 1920 – von dem Gedanken der deutschen Reichseinheit verabschiedete, um seine Loslösungsbestrebungen weiterführen und seinem persönlichen Ehrgeiz genügen zu können. Beim Treffen in Aachen übergaben die Aachener Aktivisten Mangin ein Programm für die Errichtung einer Westdeutschen Republik,695 das sie gemeinsam mit Kastert ausgearbeitet hatten.696 Sie versicherten dem General dabei optimistisch, dass in der französischen Zone fast zwei Drittel der Bevölkerung für eine Rheinische Republik seien, auf dem Land sogar über neunzig Prozent.697 In dem „Aachener Programm des Arbeitsausschusses für die Errichtung einer Westdeutschen Republik vom 5. Mai 1919“698, das davon ausging, „daß die politische, militärische, Zoll- und Wirtschaftsgrenze an den Rhein gelegt wird“, wurde das Bild eines faktisch unter dem Protektorat Frankreichs stehenden Pufferstaates entworfen, insofern entsprach es ganz den Vorstellungen Mangins. Dieser hatte dem 693 Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 500. Vgl. zur französischen Politik insgesamt in dieser Frage auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 87. 694 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 72 m.w.N. 695 Abgedruckt bei Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 492 ff. 696 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 72. 697 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 551. 698 Abgedruckt bei Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 492 ff. Hier auch die nachfolgenden Zitate.
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Arbeitskreis erklärt: „Mais tout peut être sauvé, si, au lieu de réclamer une république faisant partie de l’Allemagne, on veut une république indépendante. Le ,Los von Berlin‘ doit être complet.“699 Damit empfahl er den Aktivisten, die nach wie vor betonte Bindung des Rheinlandes an das Deutsche Reich700 aufzugeben und die Parole „Los von Berlin“ vollständig in die Tat umzusetzen. Erstaunlich uninformiert erscheint der Hinweis Mangins noch an jenem 7. Mai 1919, man solle sich als unabhängiger rheinischer Staat auf der Friedenskonferenz in Versailles vorstellig machen.701 Denn bereits einen Tag zuvor war Marschall Foch mit seinem letzten vergeblichen Vorstoß im Geiste der französischen Rheinpolitik in der Vollversammlung der Friedenskonferenz gescheitert. Am 7. Mai 1919 selbst wurden die Friedensbedingungen der deutschen Delegation in Versailles übergeben und damit war die Rheinlandfrage eigentlich entschieden. Das Treffen des Aachener Arbeitskreises mit Mangin sowie jenes mit den Kölner Aktivisten erarbeitete Programm waren mit Dorten nicht abgestimmt gewesen. So erklärte Mangin Dorten nach seiner Rückkehr nach Mainz, aus französischer Sicht bestehe kein Interesse mehr an der von ihm angestrebten Rheinischen Republik im Reichsverband, denn die weitergehenden Aachener Pläne entsprächen den französischen Absichten eher.702 Dorten war mit dem Vorgehen der Aachener nicht einverstanden und er sah sowohl sich als auch Mangin überrumpelt, denn die Aachener Aktivisten seien „zweitrangige Persönlichkeiten“, die sich nicht getraut hätten, offen mit dem General zu sprechen.703 So habe man dem Franzosen eingeredet, es bestehe in der rheinischen Bevölkerung eine breite Sympathie für einen an Frankreich angelehnten und vom Deutschen Reich unabhängigen Pufferstaat.704 Dies hielt Dorten für einen taktischen Fehler und ein zu weites Entgegenkommen, denn kurze Zeit später705 drängte er darauf, Frankreich müsse die Bevölkerung in den rheinischen Gebieten erst gewinnen, etwa durch abgemilderte Friedensbedingungen. Der weitere Gang der Ereignisse sollte indes zeigen, dass sich Mangin in diesem Punkt einer Täuschung hingab. So hat später selbst Clemenceau davor gewarnt, die rheinischen Antipathien gegenüber Berlin und dem Preußentum als Anhänglichkeit 699
Zitat bei Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 72. In dem Aachener Programm heißt es eingangs: „Der Ausschuß hält nach wie vor am Gedanken der Westdeutschen Republik in der Einheit des Deutschen Reiches fest […].“, vgl. Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 492. Hervorhebung durch Verf. 701 Vgl. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 72 f. 702 Gorrenz, Die Drahtzieher, 1924, S. 27. 703 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 66: „ […] personalités secondaires qui n’osaient pas lui parler franchement.“ 704 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 74. 705 Auf dem gemeinsamen Treffen am 16. Mai 1919, vgl. dazu im Folgenden. 700
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und Wohlwollen gegenüber Frankreich misszuverstehen: „Auch ich706 hätte es gerne gesehen, wenn die Rheinländer Franzosen geworden wären. Aber ich war ihrer Zustimmung gar nicht so sicher. Die Rheinländer wollen zwar keine Mußpreußen [sic!] sein, aber sie hatten deshalb noch lange nicht den Wunsch geäußert, Franzosen zu werden.“707 Insgesamt neigte die französische Öffentlichkeit jedoch mehrheitlich dazu, den Rheinländern frankophile Tendenzen zu unterstellen, wie ein Artikel des bekannten Nationalisten Maurice Barrès im „Echo de Paris“ vom 12. Februar 1919 zeigt: „Wir müssen die lebhafte Sympathie erfassen, die uns im rheinischen Grenzland entgegengebracht wird. Die Erbitterung auf Preußen kann sich eines Tages leicht in Freundschaft für Frankreich verwandeln.“708 Neben Mangin nahm der Zensur- und Verbindungsoffizier der politischen Abteilung des französischen Generalstabes in Aachen, Hauptmann Rostan, Kontakt zu den Rheinstaatsbefürwortern auf. Nach einer Besprechung mit Froberger vom 15. Mai 1919 fertigte Letzterer eine kurze Niederschrift an, in der es heißt: „Wenn […] es gelänge, eine Rheinische Republik zu schaffen, einen neuen Staat, der dem Deutschen Reich einverleibt bleibt, könnte man sofort in nahe Verbindung mit Frankreich treten.“709 Ebenso wie Dorten versprach sich Froberger von der überwiegend katholischen, zu Frankreich hinneigenden Republik ein Bollwerk gegen den östlichen Bolschewismus. Daneben setzte Froberger auf Erleichterungen im Friedensvertrag, um die innerdeutsche und innerrheinländische Opposition gegen die Republikpläne zum Nachgeben bewegen zu können: „Wenn Deutschland bemerkenswerte Verbesserungen dieser Art erwarten könnte, auf der Grund der Bildung einer rheinischen Republik, würde jede weitere Opposition wie mit einem Zauberschlage verschwinden.“ Es war innerhalb des Wiesbadener Arbeitskreises Dorten selbst, der immer deutlicher die Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit mit den Franzosen erkennen ließ, was selbst im Lager seiner Mitstreiter zu Zweifeln an ihm führte.710 Er war aber durch das forsche Vorgehen des Aachener Arbeitskreises in Zugzwang geraten und konnte die Entwicklung gemeinsam mit den Franzosen nicht an sich vorbeiziehen lassen. Mangin lud schließlich auf das Insistieren Dortens hin eine Runde der prominentesten Rheinstaatsaktivisten nach Mainz ein. Recht unverfänglich sollte es bei 706
Gemeint neben Clemenceau selbst war Marschall Foch, vgl. Clemenceau, Grösse und Tragik eines Sieges, 1930, S. 174 f. 707 Clemenceau, Grösse und Tragik eines Sieges (Fn. 706), S. 175. 708 Zitat bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 88. 709 Zitat nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 74. Hier auch das nachfolgende Zitat. 710 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 117.
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dieser Zusammenkunft wohl darum gehen, sich über die Wünsche und Ansichten der Rheinländer auszutauschen.711 Dorten musste daran gelegen sein, gegenüber der Köln-Aachen-Gruppe, von der er in Wiesbaden zuletzt eher isoliert war, das Heft der Aktion in der Hand zu halten.712 Die Kölner und Aachener wiederum hatten ein Interesse daran, mit Dorten allgemein in Kontakt zu bleiben, schon um über seine Vorstöße und eigenwilligen Pläne unterrichtet zu bleiben. So fand man sich am 16. Mai 1919 zu einer Vorbesprechung in Dortens Wiesbadener Wohnung ein. Die Teilnehmer waren, neben Dorten selbst, die Kölner Kastert, Kuckhoff und Froberger sowie die Aachener Kleinen, Dahlen und Salm und die Wiesbadener Liebing, Klingelschmitt und Eckermann. Begleitet wurden sie von Hauptmann Rostan. Es stellt einen nicht zu unterschätzenden Erfolg Dortens dar, dass man sich darauf einigte, das Aachener Programm vom 5. Mai 1919 zu verwerfen und sich auf die von Froberger ausgearbeiteten „Vorbedingungen zur Errichtung einer Rheinischen Republik“713 verständigte, die schließlich von Dorten eigenhändig abgeändert und in Reinform übertragen wurden.714 Diese Bedingungen sollten als Verhandlungsgrundlage für die Unterredung mit Mangin einen Tag später dienen. Bedingung Nr. 2 wiederholte die bekannte, aber in puncto politischer Überzeugung mit einem Fragezeichen zu versehende Forderung nach einem neuen Gliedstaat im Reichsverband: „Die Bevölkerung dieser Gebiete715 verlangt eine Trennung von Preußen, Hessen, Bayern und die Vereinigung zu einem einheitlichen Bundesstaate im Rahmen des Deutschen Reiches.“ Die vorläufige Regierung sei zu bilden aus Personen, die von den Arbeitsausschüssen zu bestimmen seien und es habe eine sofortige Wahl zu einer „geordnete[n] Volksvertretung“ stattzufinden (Nr. 4). Außenpolitisch müsse der Rheinrepublik – besonders „in Angelegenheiten von Krieg und Frieden“ – ein besonderer Status eingeräumt werden, etwa um eigene „Gesandtschaften“ einrichten zu können (Nr. 3) und mit den Besatzungsmächten die „Besatzungsfragen“ ordnen zu können (Nr. 5). Diese Reservatrechte in auswärtigen Fragen sollten durch den Völkerbund verbürgt werden (Nr. 7). Die Bedingung Nr. 6 schließlich dürfte auf Dortens Intervention zurückzuführen sein, denn entgegen der bisherigen Behauptungen der Aachener Arbeitsgruppe gegenüber Mangin hieß es plötzlich „ein Zustandekommen der Republik [stoße] im gegenwärtigen Augenblick auf unüberwindliche Schwierigkeiten […], sowohl 711
So vermutet Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 74 f. Vgl. hierzu auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 138. 713 Abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 288 f. 714 Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 75. 715 Bedingung Nr. 1 nannte die Rheinprovinz, Birkenfeld, Rheinhessen, Altnassau und die Rheinpfalz. 712
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wegen der Stimmung der Bevölkerung im besetzten und unbesetzten Gebiet als auch wegen des Widerstandes der deutschen Regierung […]“. Diese Vorbedingung verweist mithin auf eine eher ablehnende Stimmung der rheinischen Bevölkerung, also auf das Gegenteil dessen, was die Aachener Aktivisten Mangin zuvor eingeredet hatten. Die Entstehung des Rheinstaates hänge vielmehr davon ab, dass „im Hinblick auf dessen Bildung Milderungen der Friedensbedingungen in wesentlichen Punkten erzielt werden“716 könnten, um die deutsche Bevölkerung – nicht nur im Rheinland – für die Idee zu begeistern. Es wird betont, dass die Milderungen der Friedensbedingungen nur im Hinblick auf die Rheinstaatsgründung eintreten dürften, es mithin einer Kausalität zwischen der Bildung des neuen Staates und Erleichterungen im Friedensvertrag bedürfe. Froberger bemerkte am 31. Mai 1919, dass unter dem Druck der harten Friedensbedingungen die Rheinstaatsidee in der betroffenen Bevölkerung auf „scharfe[n] Widerstand“ stoße.717 Diese Grundannahme sei am 16. Mai 1919 Konsens und überdies bestimmend gewesen. Letztlich sei es im Interesse Frankreichs, die Rheinstaatspläne zu unterstützen, da so „die stärkste Garantie gegen eine Wiederkehr des Krieges auf ewige Zeiten geschaffen wird“. In diesem Punkt ist deutlich die Handschrift Frobergers zu erkennen, der bereits früher die Argumente der „Rheinischen Friedensrepublik“ und der „kulturellen Brücke zwischen Westen und Osten“ entwickelt hatte, vor allem um die Franzosen zu locken. Am 17. Mai 1919 fand zwischen 16 und 19 Uhr das „berühmt-berüchtigte“718 Treffen zwischen Dorten, Eckermann, Kraemer, den Abgeordneten der Preußischen Landesversammlung Kastert und Kuckhoff, Froberger sowie Klingelschmitt und etwa fünfzehn höhergestellten französischen Besatzungsoffizieren, darunter der Wortführer General Mangin, im Mainzer Schloss statt. Morsey schreibt hierzu: „Bisher ist das berühmt-berüchtigte Mainzer Gespräch vom 17. Mai 1919 fast ausnahmslos verfälscht dargestellt worden.“719 In der Tat ist hier eine besonders aufmerksame und skeptische Quellenkritik angezeigt, wobei die bedeutendsten Berichte dieser Begegnung die von Froberger (datiert 31. Mai), Kuckhoff und des Generalstabsoffiziers im Brückenkopf Köln,
716
Gedacht wurde an die Frage der Abtretung des Saargebiets, der Kreise Eupen und Malmedy und der Gebiete im Osten sowie an die allgemeinen wirtschaftlichen Lebensbedingungen, vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 289. 717 Bericht Frobergers zum Treffen vom 16. Mai 1919; Abschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 289 f. 718 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 75; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 253. 719 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 253.
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Hauptmann Otto Schwink (datiert 19. Mai)720, sind. Froberger war ein Verbindungsmann Schwinks, und der Hauptmann wiederum unterrichtete laufend die Friedensdelegation in Versailles, die Waffenstillstandskommission in Spa, die Verbindungsstelle der OHL, den Regierungspräsidenten von Starck und – das ist besonders bemerkenswert – den Kölner Oberbürgermeister Adenauer über die Gespräche der Rheinstaatsbefürworter mit den französischen Besatzern.721 Am umfangreichsten sind die Aussagen Frobergers über den 17. Mai 1919, die jedoch ebenfalls vorsichtig bewertet werden müssen, da er einer der nachdrücklichsten Rheinstaatsenthusiasten war und mit seinen Deutungen und Angaben stets auch politische Motive verwoben sind. Die Niederschrift722 entstand am 31. Mai 1919 und Froberger erwähnt darin, dass sie auf Notizen beruhe, die er gleich nach der Besprechung niedergeschrieben habe. Bekannt wurde das geheim gehaltene Treffen am 24. Mai 1919 durch eine gezielte Indiskretion Sollmanns, der Auszüge aus dem eigentlich unter Verschluss gehaltenen Bericht Schwinks vom 19. Mai 1919 in der sozialdemokratischen „Rheinischen Zeitung“ unter der Überschrift „Alarm“ veröffentlichte.723 Sollmann sei es auch gewesen, der die Reichsregierung erstmalig in Kenntnis von der Niederschrift Schwinks gesetzt habe.724 Der daraufhin einsetzende Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit725 verurteilte das Treffen vom 17. Mai 1919 pauschal als „Hochverrat“ bzw. „Landesverrat“ und ins Visier der Kritiker geriet vor allem die Kölnische Volkszeitung, in deren Redaktion man die Hintermänner der Aktion vermutete, was mit Blick auf die beteiligten Personen jedoch nicht ganz richtig ist.726 So hatten die Verleger Franz Xaver und Robert Bachem Froberger ausdrücklich empfohlen, nicht an der Unterredung teilzunehmen und ihre Zustimmung zur Reise nach Mainz verweigert.727
720 Durchschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 284 ff. Der Bericht beruht aber auf mündlichen Aussagen Frobergers, so dass Frobergers eigener Bericht vom 31. Mai 1919 treffender sein dürfte, trotz aller distanzierten Würdigung. Schwink war ursprünglich für den reibungslosen Abzug der deutschen Truppen über den Rhein verantwortlich, fungierte aber auch als Kontaktperson, vor allem zu Froberger und Adenauer, vgl. hierzu Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 92. 721 Vgl. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 253. 722 Abschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 289 ff. 723 Rheinische Zeitung Nr. 117 v. 24. Mai 1919. Am 30. Mai brachte dieselbe Zeitung die reißerische Schlagzeile: „Treu zur deutschen Republik. Die entlarvten ,Geheimdiplomaten‘. – Als Hochverräter gezeichnet!“ 724 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 255. 725 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 108: „Die Erregung im ganzen Rheinland war ungeheuer.“ 726 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 255. 727 Vgl. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 257.
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Laut Froberger enthielt der Bericht Schwinks allerdings „Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten in wesentlichen Punkten“,728 so dass Froberger nur seine Aufzeichnung vom 31. Mai 1919 als authentisch gelten ließ. Man muss wohl Brüggemann zustimmen, wenn er feststellt, die Delegation der Loslösungsanhänger sei angereist „unter Frobergers Führung“,729 denn schon aufgrund seiner Kenntnisse des Französischen hatte er in den Verhandlungen mit den französischen Militärs einen taktischen Vorsprung gegenüber seinen Mitstreitern, auch gegenüber Dorten. Überdies deutet Brüggemann an, der Bruder Mangins sei Mitglied desselben Ordens der „Pères blancs“ gewesen, dessen Oberer Froberger in Trier war. Auch sei ein Vetter des Elsässers Froberger ein französischer Generalstabsoffizier gewesen.730 Diese Andeutungen sind jedoch zurückhaltend zu werten, da es dem Politiker Brüggemann offenkundig darauf ankam, enge Verbindungen zwischen den Rheinstaatsaktivisten und den französischen Besatzern zu konstruieren, um die gesamte Bewegung in das schiefe Licht des Landesverrats zu rücken. Es sollte ein Bewusstsein für die vermeintlich antideutsche Stoßrichtung der „Kollaborateure“ erzeugt werden. Rückblickend betonte Froberger denn auch nachdrücklich, dass die deutschen Teilnehmer an dem Gespräch auf einem rheinischen Gliedstaat im Verband des Deutschen Reiches beharrt hätten, also gerade kein neutraler Pufferstaat unter dem Protektorat des Völkerbunds gefordert worden sei, wie es in den Angaben Schwinks noch lautete. Man habe dem General erklärt, dass „niemand in der ganzen rheinischen Bevölkerung […] eine Lostrennung vom Deutschen Reiche [wolle, P.B.], vielmehr sei gerade die Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche Voraussetzung in der ganzen Bewegung.“731 Frobergers Korrektur ist insofern plausibel, als sie mit der Vorbedingung Nr. 2 vom 16. Mai 1919 inhaltlich übereinstimmt. Überdies bestätigt Mangin das Festhalten der Deutschen an der Reichseinheit: „Les protagonistes sont fort timides: ils prétendent que l’heure n’est pas venue de proclamer l’indépendance et se contentent de vouloir figurer ‘dans le cadre de l’Etat allemand‘“.732 Froberger bemerkt, Mangin habe darauf erwidert, „daß Frankreich an einem neuen Bundesstaat am Rhein keinerlei Interesse habe, dieser Bundesstaat habe für Frankreich nicht den geringsten Nutzen“.733 Vielmehr würden die Franzosen, sollte der Friedensvertrag nicht von den Deutschen unterzeichnet werden, dafür sorgen, dass das Rheinland ein Pufferstaat au728 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 289. 729 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 99. 730 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 99. 731 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 290. 732 Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 517. 733 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 291.
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ßerhalb des Reichsverbandes werde, ohne eigene Volksvertretung und unter der mittelbaren Herrschaft Frankreichs. Stellte man sich diesem Vorgehen entgegen, so werde der Krieg fortgeführt und alle wehrfähigen Männer des Rheinlandes würden interniert.734 Es waren Kastert und Kuckhoff, die den General darauf hinwiesen, dass sich die Rheinländer niemals mit einem von Deutschland losgelösten Pufferstaat abfinden würden und dass sie unter allen Umständen beim Deutschen Reich verbleiben wollten.735 Wie in der Vorbesprechung festgelegt, betonte man gegenüber Mangin, die unnachgiebigen Friedensbedingungen und die Not sammelten die Rheinländer hinter der Reichsfahne und es wäre eine „Schmach und Schande“736, dem rheinischen Volk „den Abfall von der gemeinsamen Sache“ zu unterbreiten. Lediglich eine Milderung der Friedensbedingungen könnte ein Umdenken in der Bevölkerung bewirken, wenn diese mit der Rheinstaatsgründung einherginge. Als ein Ergebnis der Besprechung fasst Froberger denn auch prägnant zusammen: „Die Franzosen stellten fest, daß eine Lostrennung der Rheinlande vom Deutschen Reich unter Mitwirkung der Bevölkerung niemals erfolgen könne.“737 Der General sei über das aus seiner Sicht dürftige Ergebnis der Unterredung enttäuscht gewesen, wie ein französischer Offizier Froberger nachträglich mitteilte.738 Es ist anzunehmen, dass ihm der Aachener Arbeitskreis, der sich am 17. Mai 1919 vermutlich unter der Dominanz des Kölner Kreises und Dortens zurückgehalten haben dürfte, Anfang Mai zu viel Hoffnung auf die Errichtung eines pro-französischen Pufferstaats gemacht hatte.739 Nach Frobergers Bericht habe er den Rheinstaatsbefürwortern gedroht, wenn die Friedensbedingungen nicht unterzeichnet würden, könne die Besatzung des Rheinlandes weit über die veranschlagten fünfzehn Jahre hinaus andauern. Die Rheinländer würden von der Entente vor die Wahl zwischen „Frieden und Krieg“ gestellt. Damit konnte nur gemeint sein, dass sich die Rheinische Republik selbständig gegenüber Frankreich und den übrigen Siegermächten absichern solle und sich nicht auf Berlin verlassen dürfe. 734 Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 146 (1919), S. 44 f. 735 Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 146 (1919), S. 45. 736 Das Gespräch wurde auf Französisch geführt: „ce serait une honte et ignominie“, vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 290 f. Hier auch das nachfolgende Zitat. 737 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 293. 738 vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 292 f. 739 Vgl. Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 517: „C’est très intéressant, mais d’un déclenchement beaucoup moins rapide que je ne l’espérais à Aix-laChapelle.“ Auf diesen Eindruck weist schon Froberger in seinem Bericht hin, vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 290.
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Daraufhin schlug Froberger vor, die Entmilitarisierung und militärische Neutralität des Rheinlands sollte vom Völkerbund mit der Zustimmung des Reiches garantiert werden, also nicht bloß von den Ententemächten. Gleichzeitig sollte das Deutsche Reich eine gewisse Mitsprache im Völkerbund haben.740 Froberger setzte mithin nach wie vor auf eine pazifistische und um Ausgleich und Dialog bemühte Argumentation. Sowohl außenpolitisch sollten das Deutsche Reich, das Rheinland und die Siegermächte in einen Dialog treten, aber auch innenpolitisch wagte sich Froberger nicht in eine Konfrontation mit der Reichszentrale, sondern die auswärtige Lage des Reiches und insbesondere Frankreich sollten Überzeugungsarbeit für ein Einlenken im Rheinstaatsstreit leisten. Hauptmann Schwinks Bericht,741 der zwar auf Frobergers mündlichen Angaben beruht, stellt gewisse Dinge interessanterweise anders dar. So hätten sich die Rheinstaatsaktivisten untereinander erklärt, dass die Stimmung der Bevölkerung von Wiesbaden, Aachen und Mainz „absolut franzosenfreundlich“ sei.742 Dies ist ein eklatanter Widerspruch zu der Prämisse, die man gegenüber Mangin vertrat, wonach die politische Situation, vor allem geprägt durch die Friedensbedingungen, die Rheinländer auf den deutschen Zusammenhalt im Reich eingeschworen habe. Welche Annahme nun die tatsächliche Lage widerspiegelte und welche nur eine Taktik gegenüber dem französischen General war, ist nicht eindeutig auszumachen.743 Man bediente sich dieses Argumentes, wie es gerade opportun erschien: Grundsätzlich waren frankophile Tendenzen in der rheinischen Bevölkerung nützlich, wenn es gegen Berlin und Preußen ging. Gegenüber Mangin und seinen Pufferstaatsplänen gab man sich indes unter Hinweis auf eine skeptische Haltung der Rheinländer reserviert, wohl auch um nicht vorschnell Konzessionen eingehen zu müssen. Mangin sei von einer franzosenfreundlichen Grundstimmung innerhalb der Bevölkerung ausgegangen und habe festgestellt, dass sich die Bildung eines Pufferstaats mit Hilfe der zugeneigten Rheinländer durchsetzen lasse. Dies hätten auch die Briten erkannt und insoweit habe man den Franzosen „freie Hand gelassen“.744 Unverblümt habe Mangin darauf hingewiesen, dass die Loslösung des besetzten Gebietes vom Deutschen Reich die „wichtigste Aufgabe Frankreichs“ sei. Dem habe Froberger, so wie von ihm selbst beschrieben am 31. Mai 1919, widersprochen. Ferner stellt Schwink einen zentralen Punkt anders dar, als dies Froberger wenig später tat, was Letzteren dazu gebracht haben könnte, von „Ungenauigkeiten“ in 740 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 292. 741 Durchschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 284 ff. 742 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 284. 743 So auch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 91. 744 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 284. Hier auch das nachfolgende Zitat.
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Schwinks Rapport zu sprechen. Mangin habe auf Frobergers Widerspruch hin beinahe trotzig erklärt, die Deutschen würden die Friedensbedingungen ohnehin nicht erfüllen können. Auch in dieser Frage seien Mangin und Froberger uneins gewesen, Froberger habe Bedenken geäußert, ob und wie „Ruhe und Ordnung“745 im Rheinland in diesen turbulenten Zeiten gewahrt werden könnten. Seiner Meinung nach sei eine Besatzungsherrschaft nicht geeignet, denn diese könne vielleicht für die beabsichtigten fünfzehn Jahre geordnete Verhältnisse garantieren, nicht jedoch darüber hinaus. Daraufhin habe Mangin angekündigt, man werde auch nach diesen fünfzehn Jahren die Ordnung und Sicherheit in den besetzten Gebieten sicherstellen. Anders als von Froberger später beschrieben, liest sich die Möglichkeit einer über fünfzehnjährigen Besatzung bei Schwink nicht als Drohung Mangins gegen den Unwillen der rheinischen Bevölkerung zur Sezession, sondern als nüchterne Antwort auf Frobergers Sicherheitsbedenken. Mithin stellt Froberger die Unterredung konfrontativer dar und schildert Mangins Gemütszustand als aggressiver und entschlossener. Laut Schwinks Niederschrift hat sich Mangin letztlich bereit erklärt, einen neu zu bildenden Freistaat, der die bisherige neutrale Zone umfasse, zu unterstützen, so dass dieser unter den Schutz des Völkerbunds gelangen könnte. Ebenso wie Froberger selbst berichtet Schwink, dass Mangin die rheinische Bevölkerung vor die Wahl gestellt sehe, ob es Krieg oder Frieden wolle, wenn die Friedensbedingungen nicht unterzeichnet werden würden. Sollte das Volk den Frieden wählen, müsse es den Pufferstaat bilden und sich vom Deutschen Reich loslösen, um separat Frieden schließen zu können. Deutlicher als Froberger arbeitet Schwink heraus, dass die Nichtunterzeichnung des Friedensvertrages die Errichtung des Pufferstaats bedeuten musste. Bei Annahme der Friedensbedingungen könne die Rheinische Republik nur dann realistisch gegründet werden, wenn wesentliche Erleichterungen in Aussicht gestellt würden – in diesem entscheidenden Punkt besteht zwischen den beiden Aussagen demnach ein Gleichklang.746 Insgesamt beschreibt Schwink Mangin in diesem Gespräch vom 17. Mai 1919 als umgänglicher und auch optimistischer, was die Lösung der Rheinlandfrage anbetrifft. Diese werde sich selbst unter dem Regime des Friedensvertrags finden lassen. In der bereits geschilderten komplizierten persönlichen Lage Dortens schien dieser am 17. Mai 1919 eine Art „doppeltes Spiel“ betrieben zu haben. Überaus entschieden habe er – ausgehend von seiner fortwährenden Annahme, die Rheinstaatsfrage müsse umgehend entschieden werden – einen Pufferstaat am Rhein verworfen und erklärt, nur ein starker Gliedstaat mit Stimme im Reichsrat könne effektiv für die Aussöhnung zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich tätig werden. Ein Pufferstaat, der vielleicht sogar schlimmer als eine Annexion sei, schaffe 745 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 285. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 746 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 286.
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nur ein neues Aufmarschgebiet für künftige Revanchekriege; ähnlich wie Belgien 1914 würde der rheinische Pufferstaat überrannt werden.747 Warum Dorten noch im Mai 1919, entgegen seiner späteren Agitation, an der Bundesstaatsidee festhielt und Mangins Pufferstaatslösung eine Absage erteilte, wird bis zu einem gewissen Grad immer Gegenstand der Spekulation bleiben müssen. Jedoch wird man annehmen können, dass es weniger Dortens „Reste nationalen Gefühls“748 gewesen sein dürften, sondern eine taktische Rücksichtnahme auf die ungebrochene Reichstreue der Majorität der rheinischen Bevölkerung. Er selbst hielt jedenfalls mittelfristig die Annäherung der zu schaffenden Republik an Frankreich für sicher.749 Tatsächlich ist das Verdikt des hoch- bzw. landesverräterischen Separatismus nicht vorschnell zu verhängen,750 zumal die Verflechtungen aus politischen Interessen und der Realpolitik jener Tage komplex gewesen sind. Dorten muss man sich als politischen Taktiker vorstellen, der sich stets alle Wege und Entscheidungen in der Rheinstaatsentwicklung offen halten und sich nicht selbst durch eindeutige Festlegungen ins Aus begeben wollte. Leider belegt Reimer seine Annahme der Reichstreue Dortens nicht mit belastbaren Quellen, aber im Ergebnis ist ihm mit Blick darauf Recht zu geben, dass Dorten gegenüber Mangin mehrmals und nachdrücklich betonte, dass man als Rheinländer im Reichsverband verbleiben wolle. Andererseits aber, so berichtet es Schwink, habe es zwischen Dorten und Froberger einen Streit um die Frage gegeben, ob man die preußische bzw. die Reichsregierung von dem Gespräch mit dem französischen General in Kenntnis setzen und die Proklamation der Rheinischen Republik ankündigen sollte. Während Froberger die Regierungen über die Unterredung zu informieren gedachte und die anwesenden Herren am 17. Mai 1919 nachdrücklich bat, „die größte Vorsicht zur Wahrung der deutschen Interessen zu beobachten“751, dachte Dorten gar nicht daran, die Regierungen zu „warnen“, sondern wollte durch die Proklamation ein fait accompli schaffen.752
747
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 77. Springer, Frankreich und seine „Freunde“ am Rhein, 1923, S. 36. 749 Vgl. schon oben. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 50. 750 So aber schon dem Titel nach bei Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27) und Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29). 751 Was nichts anderes als eine Absage einerseits an separatistische Gedanken, andererseits an illegale und konfrontative Alleingänge bedeuten konnte. Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 284. 752 Vgl. Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 68: „L’audience terminée, Froberger souleva une dernière question: faudrait-il, oui ou non, prévenir le gouvernement de Berlin de notre intention en lui fournissant des explications sur notre visite chez Mangin. Nous fûmes tous très étonnés de cette intervention qui sentait l’école d’Adenauer, et nous exprimâmes unanimement l’avis qu’une telle démarche ne rimerait à rien, sauf à permettre au gouvernement prussien de faire échouer nos desseins avant que nous ne puissions les exécuter. Il nous parut 748
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Froberger selbst verschweigt in seinem Bericht ebendiesen Konflikt mit Dorten, denn er weist lapidar darauf hin, dass „[u]nsererseits […] erklärt [wurde, P.B.], daß wir die maßgebenden Stellen in Deutschland über den Stand der Dinge […] in Kenntnis setzen werden“.753 Damit suggeriert er – wieder von relativierenden politischen Absichten geleitet – eine Geschlossenheit in dieser Frage, die mindestens unwahrscheinlich ist. Es ist bemerkenswert, dass Dorten den Vorschlag Frobergers als „Adenauersche Schule“ (l’école d’Adenauer) abtut. Dies zeigt, dass sich die junge Rheinstaatsbewegung sehr wohl selbst darüber im Klaren war, dass sie aus verschiedenen Strömungen bestand, nämlich dem legalistischen oder um Legalität bemühten AdenauerFlügel und der illegal-aktionistischen Dorten-Partei. Froberger selbst weist in seinem Bericht auf den Umstand der mangelnden Geschlossenheit hin: „Alle Herren gaben sich gegenseitig das Wort, die Interessen des Deutschen Reiches ausdrücklich zu wahren. Auch die Herren von Aachen, Mainz und Wiesbaden, die in anderen politischen Fragen von den Kölner Herren abweichende Ansichten hatten, waren in den vaterländischen Gesichtspunkten mit allen übrigen durchaus einig, keinerlei Mißton [sic!] konnte in dieser Richtung bemerkt werden.“754 Man beachte, mit welchem Nachdruck Froberger auf das gemeinsame nationale Interesse pochte, ja die Geschlossenheit in diesem Punkt retrospektiv geradezu beschwor. Diesem kommt gerade in den „hitzigen“ Maitagen eine besondere Bedeutung zu, sollte er doch die vielfach erhobenen (politischen) Vorwürfe des Separatismus und des Landes- bzw. Hochverrats entkräften. In ebendiesem Kontext ist die Formulierung eines Zwischenergebnisses durch Froberger zu sehen, wonach „namentlich von den Abgeordneten die Rechte von Reichsregierung und Volksvertretung“ gewahrt worden seien.755 Hiermit unterstreicht Froberger die unverfängliche Legalität seines Vorgehens und stellt sich gleichsam schützend vor die Abgeordneten in der Preußischen Landesversammlung Kastert und Kuckhoff.756 Auf der einen Seite hielt Dorten also gegenüber Mangin am rheinischen Gliedstaat und an der deutschen Reichseinheit fest, äußerte sich mithin nicht separatistisch mit Blick auf das Reichsgebiet. Auf der anderen Seite setzte er jedoch unumwunden auf die illegale politische Aktion, die die Loslösung des Rheinlandes von Preußen gegen den Willen der Landesregierung durchsetze müsste. Dorten erklärt, sein „Separatismus“ habe alleinig eine antipreußische Stoßrichtung. qu’il serait assez tôt de notifier le fait accompli le jour même où les proclamations seraient affichées.“ Hervorhebungen durch Verf. 753 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 292. 754 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 290. 755 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 293. 756 Zu diesen beiden und ihrem Konflikt mit ihrer Zentrumsfraktion Näheres in Kapitel B.XX.
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Das führt Bischof zu Recht zu folgendem Schluss: „Dorten vertrat am 17. Mai 1919 zusammen mit den Vertretern der Aachener Gruppe den radikalen Teil der Aktivisten, der ohne Fühlungnahme mit dem Reich und Preußen, aber unter vorheriger Verständigung der Besatzungsmächte durch die Proklamation der Rheinischen Republik ein fait accompli schaffen wollte.“757 Froberger hingegen wollte nicht hinter dem Rücken der Regierungen handeln und hatte die Regierungsstellen bereits über sein Treffen mit Hauptmann Rostan am 15. Mai 1919 als auch über die geplante Unterredung mit Mangin zwei Tage später über den Mittelsmann Schwink informiert. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen erreichte Schwinks Bericht die Reichsregierung erst am 26. Mai 1919 und Scheidemann verlas ihn am 27. Mai 1919 in einer Kabinettssitzung.758 Man könnte sagen, Froberger rückte damit in die Rolle Adenauers in der Rheinstaatsinitiative ein und es gelang ihm, den Kölner Volkszeitungs- und Zentrumszirkel auf seine Linie einzuschwören. Als Vorgabe galt ihnen fortan, sich in der Loslösungsfrage mit den Regierungen und Volksvertretungen zu verständigen. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass Froberger sich nicht scheute, in seiner Friedensrepublik-Konzeption Funktionen des zu bildenden Rheinstaats anzusprechen, die im Grunde auf einen Pufferstaat hinausliefen, wenn er etwa von der Möglichkeit der „interposition d’un tampon entre France et Prusse; voisinage d’un peuple civilizé […] barrière contre le bolchevisme“ sprach.759 Die Berücksichtigung der bereits behandelten sieben Vorbedingungen der Rheinstaatsaktivisten ergibt erneut einen Beweis von Dortens Durchsetzungskraft gegenüber den „Gemäßigten“, denn skizziert wird ein beträchtlich, vor allem außenund verteidigungspolitisch, unabhängiger Staat, der sich kaum in das Gefüge des Bundesstaats hätte einfügen lassen.760 Avisiert worden war zunächst eine eigene rheinische Delegation auf den Pariser Friedensverhandlungen, was jedoch zu diesem späten Zeitpunkt nur im Falle einer Nichtunterzeichnung des Friedensvertrages durch das Deutsche Reich virulent geworden wäre, womit Dorten aber damals rechnete. Die Staatsbildung hätte dann, wie bereits angesprochen, die Funktion gehabt, die Friedensbedingungen für das Reich zu mildern. Selbst der überaus kritische Bischof attestiert Dorten in diesem Punkt tatsächlich „nationale Motive“.761 Es war aber zu befürchten, dass die völkerrechtlich unklare und vage Sonderstellung des Rheinstaates, die Froberger mit Blick auf die formulierten Vorbedin757
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 78. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 78. 759 Zitat bei Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 86. 760 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 145. Dieser bezeichnet die behauptete Bindung an das Reich als „relative Leerformel“. In dieser Richtung auch Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 84. 761 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 79. 758
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gungen als „rein theoretische Betrachtung“762 relativierte, tatsächlich eines Tages dazu geführt hätte, sich als „Quasi-Pufferstaat“763 an Frankreich anzulehnen oder sogar gänzlich vom Reichsverband loszusagen. Freilich blieb diese Furcht spekulativ, denn darauf arbeitete unter den Rheinländern tatsächlich niemand hin. Für Mangin war der formale Verbleib der Rheinischen Republik im Verband des Reiches ohnehin nur vorübergehender Natur: „La nouvelle République serait au début séparée de la Prusse mais unie à l’Allemagne.“764 Morsey vermutet am Ende der Besprechung vom 17. Mai 1919 die Absicht Mangins, die Rheinische Republik als Gliedstaat ausrufen zu lassen, um deren Verbleib im Reichsverband dann als französisches „Zugeständnis“ ausgeben zu können, was wiederum mittel- bis langfristig die Verhandlungsposition Frankreichs aufgewertet hätte.765 Auch die innenpolitischen Gegner der Unabhängigkeitsbewegung sahen dieses „Einfallstor“, so etwa der Abgeordnete in der Preußischen Landesversammlung Moldenhauer, der eine weitere Reichszugehörigkeit mit der Forderung nach weitreichend unabhängiger Außenpolitik für unvereinbar hielt.766 Brüggemann wurde noch deutlicher, als er die Formulierung „im Verbande des Deutschen Reiches“ als eine „elende Wortklauberei“ abtat und meinte, es handele sich letztlich um nichts weiter als ebenjenen Pufferstaat; man habe dem Separatismus nur ein „nationales Mäntelchen“ umlegen müssen.767 Im Verlauf dieser Unterredung wurden Dorten auch französische Gelder für das weitere Engagement in Aussicht gestellt.768 Es war vor allem dieser Umstand, an den später der Vorwurf des Landes- und Hochverrats gegen Dorten anknüpfte. So trat er auch am 17. Mai 1919 als „Erster Bevollmächtigter“ auf und die Antwort der französischen Regierung auf die rheinischen Forderungen sollten ihm persönlich zugestellt werden.769 Für Bischof bedeutet der 17. Mai 1919 ein „wichtiges Datum“ in der Geschichte des rheinischen „Separatismus“, da die Aktivisten von diesem Tage an „offen von den Franzosen unterstützt“ worden seien.770 Ganz so eindeutig erscheint die Interes762 „Die Erörterung über diesen Punkt wurde beiderseits als rein theoretische Betrachtung aufgefaßt, zu einem praktischen Vorschlage war man ja in gleicher Weise unzuständig.“, vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 292. 763 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 79. 764 Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 515. Hervorhebung durch Verf. 765 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 252. 766 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 8. 767 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 101 f. 768 Vgl. den vom 2. November 1921 datierenden Bericht von Dortens Geheimsekretär Hermann Joseph Grom, in: Reichsgericht, Aachener Berichte 1919. Aus den Voruntersuchungsakten des Reichsgerichts gegen Dr. Dorten wegen Hochverrats (Fn. 489), Bl. 93 – 95. 769 Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 68. 770 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 80.
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senlage allerdings nicht, da man sich ja bis zuletzt über das weitere Vorgehen und die Reichweite der Selbständigkeit uneins geblieben und der auf französischer Seite Verantwortliche Mangin über die bisherigen Unterredungen „enttäuscht“771 war. Ferner vermutet Reimer, dass die Besprechung einen lediglich inoffiziellen Charakter gehabt und die französische Regierung davon erst hinterher erfahren habe. Französische Offiziere hätten auf eigenes Vorgehen Außenpolitik ohne Einwilligung ihrer Regierung betrieben, da sie den zivilen Kräften nicht zugetraut hätten, die Rheinlandfrage im nationalen Interesse bestmöglich zu lösen.772 In der Tat hatte Mangin der zivilen Führung am Verhandlungstisch von Versailles „verhängnisvolle Fehler“ (fautes inconcevables) attestiert und das Ergebnis letztlich abgelehnt.773 Entscheidend dürfte ihm dabei die Aufgabe der französischen Rheingrenze Mitte März 1919 gewesen sein. Köhler meint, Mangin habe durch eine entschlossene Politik auf eigene Faust versucht, diese Versäumnisse auszugleichen.774 Kurz darauf soll es zu einer zweiten Unterredung gekommen sein, diesmal zwischen Mangin und dem Aachener Dahlen.775 Der französische General sicherte zu, dass die Rheinische Republik ein Freistaat im Reichsverband werden solle und so Frankreich ausreichend Sicherheiten geboten wären. Es könnten Milderungen in den Friedensbedingungen erreicht werden und Frankreich würde auf die Abtretung des Saargebiets verzichten, sowie Belgien auf Eupen und Malmedy. Naturgemäß – aber unausgesprochen – wären diese Gebiete an den Rheinstaat angegliedert worden.776 Das Einlenken im großen Stile zeigt, dass nicht nur den Rheinstaatsaktivisten, sondern auch den Franzosen die Zeit allmählich davonzulaufen begann. Schwink vermutete, dass es spätestens seit dem Treffen mit Dahlen dazu kommen könne, dass „unter dem Schutz der Franzosen in Mainz, Wiesbaden, Koblenz, Aachen und Pfalz [sic!] wilde Proklamationen von Sonderstaaten erfolgen“ würden.777 Die darauffolgenden Wochen sollten beweisen, wie Recht er mit seiner Vermutung hatte. Die zunehmende Nervosität und Unsicherheit im französischen Lager manifestierte sich auch an dem Umstand, dass man sich mittlerweile mit Leuten wie Dahlen abgab, 771 Vgl. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 286. 772 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 147 f. 773 „C’est la pire des solutions“, vgl. Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 519. 774 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 83. 775 Hierzu Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 102 f.; Bericht Schwinks, Durchschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 286 f. 776 So auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 102 f., der dies zum erneuten Anlass nimmt, den Rheinstaatsbefürwortern das nationale Interesse abzusprechen, denn schließlich würden die Gebiete ja nicht Deutschland erhalten bleiben, sondern dem rheinischen Pufferstaat. Warum der Rheinstaat nicht als Teil Deutschlands aufgefasst wird, kann Brüggemann nicht begründen. 777 Bericht Schwinks, Durchschrift abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 287.
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einer „Persönlichkeit von so geringem Kaliber […], ein[em] klein[en] Postbeamte[n]“.778 Köhler geht, jedoch ohne nähere Begründung, davon aus, dass das Treffen eine reine Erfindung Frobergers gewesen sei, denn Mangin habe nicht den Willen und schon gar nicht die Befugnis gehabt, derart weitreichende Zugeständnisse zu machen.779 Dem mehr und mehr eigenständigen und konspirativen Handeln Mangins entspräche jedoch eine Erklärung von solcher Tragweite, da er mittlerweile offenbar nahezu unabhängig von der politischen Führung in Paris operierte. Dass womöglich die Reichweite der Zusagen Mangins von Dahlen und Froberger etwas „ausgeschmückt“ worden ist, mag im Rahmen des Wahrscheinlichen liegen. Zu unterstellen, die ganze Unterredung sei eine Propagandalüge gewesen, entbehrt dagegen jeglicher Erkenntnisgrundlage, auch weil nicht ersichtlich ist, was mit dieser Lüge erreicht werden sollte. Angesichts der ursprünglichen Loslösungspläne der französischen Besatzer kann den Rheinstaatsaktivisten aus Köln, Aachen und Wiesbaden nicht zweifelsfrei der Vorwurf des Separatismus gemacht werden, weil man das Rheinland jedenfalls nach den eigenen Bekundungen nicht aus dem Reichsverband habe loslösen wollen. Jedoch vertrugen sich die Forderung nach einer weitreichenden außen- und friedenspolitischen Unabhängigkeit sowie der Ruf nach dem Schutz dieser Reservatrechte durch den Völkerbund schwerlich mit der allzeit behaupteten „Reichstreue“.
XVIII. Das Ultimatum der Reichsregierung vom 28. Mai 1919 Als Vertreter des legalistischen Kurses in der Rheinstaatsdiskussion, der stets um ein Zusammenwirken mit der Berliner Reichs- und Landesführung bemüht war, hatte sich Adenauer von dem aktionistischen Flügel der Rheinstaatsbewegung weiterhin ferngehalten. Damit ist aber nicht gesagt, dass Adenauer die Idee eines rheinischen bzw. westdeutschen Freistaates ad acta gelegt hätte. So traf er während eines einwöchigen Berlinaufenthalts am 19. Mai 1919 mit Scheidemann zusammen, um ihn auf den neuesten Stand der Entwicklung aus Sicht des Rheinlandes zu bringen. Dabei berichtete Adenauer vom Gespräch Frobergers mit Rostan, über das er von Schwink in Kenntnis gesetzt worden war. Auch berief sich Adenauer auf ein eigenes Gespräch vom 12. Mai 1919 mit dem britischen Militärgouverneur in Köln, General Clive, und einer weiteren britischen Mitteilung vom 17. Mai 1919, wonach Großbritannien einer Milderung der Friedensbedingungen ebenfalls zustimmen werde, sollte die Westdeutsche Republik im Verband des Deutschen Reiches gegründet
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Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 83 f. Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 91.
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werden.780 Obwohl er selbst eine weitere Quelle anführt, die diese Haltung Clives bestätigt, bezweifelt Reimer, dass sich der englische General in dieser Weise geäußert hat.781 Leider bleibt er für seine Annahme einen Nachweis schuldig, wenngleich es zutrifft, dass die Briten – anders als die Franzosen – kaum ein Interesse an einem selbständigen Rheinland gehabt haben dürften.782 Adenauer beschwor Scheidemann, man solle die Vorschläge der Alliierten wenigstens politisch prüfen, doch lehnte Scheidemann dies per se ab, da die Ententemächte auch mit dem Rheinstaat niemals bereit sein würden, die Friedensbedingungen zu entschärfen.783 Er betrachte diese Mitteilungen der Entente als „Spiegelfechterei“.784 Mit dem ihm in solchen Situationen oft eigenen fatalistischen Pathos verkündete Adenauer daraufhin, dass nach seiner festen Überzeugung das Rheinland verloren sei, wenn der Friedensvertrag in der vorliegenden Form unterzeichnet werde und mithin die Triple Entente das Recht habe, das Rheinland auf fünfzehn Jahre oder sogar darüber hinaus besetzt zu halten und in die laufende Verwaltung eingreifen zu können.785 In der Frage, wie lange die Besatzungszeit fortdauern werde, lag Adenauer auf der Linie Mangins, der gegenüber Froberger ebenfalls geäußert hatte, dass die Besatzung über die veranschlagten fünfzehn Jahre hinaus bestehen bleiben könnte. Der Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei Heinrich Albert meinte in diesem Zusammenhang, die Rheinprovinz sei so oder so verloren.786 Am 27. Mai 1919 traf sich Dorten mit Froberger, Kuckhoff und Salm nachmittags für kurze Zeit in Bonn. Konkret plante Dorten nun für den 29. Mai 1919 in Aachen die Proklamation der Rheinischen Republik787 und er wollte anlässlich dieses Treffens den Proklamationsentwurf besprechen. In der Zwischenzeit hatte er Kontakt zu Kaas und der Zentrumspartei in Trier aufgenommen, die jedoch den Plänen Dortens zur sofortigen Aktion ablehnend gegenüberstanden. Dies hinderte Dorten aber nicht daran, den Anwesenden am 27. Mai 1919 zu berichten, Kaas habe seine Kooperationsbereitschaft zugesagt.788 Mit dieser Lüge sollte vor allem der Zentrumsabgeordnete Kuckhoff beruhigt werden, der gemeinsam mit Kastert bereits am
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Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 57. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 153. 782 In diese Richtung auch Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 89 f. 783 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 153. 784 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 57. 785 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 57. 786 Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952 (Fn. 2), S. 223. 787 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 151; Niederschrift Kuckhoffs vom 27. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 287 f. 788 Zu den Ereignissen in Trier vgl. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 154 f. 781
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23. Mai 1919, nachdem sie der Fraktion von der Zusammenkunft mit Mangin berichtet hatten, gerügt worden war und um seine politische Zukunft fürchtete. Es waren Kuckhoff und Froberger, die Dorten eindringlich – jedoch letztlich ohne Erfolg – aufforderten, die Proklamation abzusagen und die Reichsregierung unter Druck zu setzen, indem man sich des verbindlichen Rückhalts und der gemachten Zusagen (Saargebiet, Eupen und Malmedy, Erleichterung der Friedensbedingungen, Rheinstaat als Gliedstaat) Mangins und der Franzosen versicherte. Erneut verwiesen die beiden Dorten auf das legalistisch-kooperative Vorgehen, indem nämlich die Reichsregierung, die Abgeordneten und der Westdeutsche Politische Ausschuss in die Rheinstaatsfrage miteingebunden werden sollten. Resigniert schließt Kuckhoff seinen Bericht mit den Worten: „Dorten war unbelehrbar. Der Mann kann als Politiker kaum ernst genommen werden.“789 Schließlich waren es Kuckhoff und Froberger, die die Reichsregierung und Adenauer von dem konspirativen Vorhaben Dortens über den Verbindungsoffizier Schwink unterrichteten.790 Ohne lange zu zögern, veröffentlichte die Reichsregierung am 28. Mai 1919 folgenden Aufruf, der in zahlreichen Zeitungen des unbesetzten Reiches und kurzzeitig auch im besetzten Gebiet erschien und den Standpunkt der Reichsführung auf den Punkt brachte: „Verfassungsmäßig791 bildet die Provinz Rheinland einen Bestandteil des preußischen Staates. Wer es unternimmt, diesen verfassungsmäßigen Zustand durch Losreißung der Provinz Rheinland vom preußischen Staatsgebiet zu ändern, macht sich des Hochverrats schuldig […].“792 Man warnte vor dem „verbrecherische[n] Plan, die Provinz Rheinland zu einer selbständigen Republik auszurufen“. Diese Erklärung setzte kein neues Strafrecht, sondern rekurrierte auf den Straftatbestand des Hochverrats gemäß § 81 Nr. 4 StGB,793 den die Reichsregierung als erfüllt ansah. Reimer erklärt, der Aufruf habe viele potentielle Rheinstaatsbefürworter von einer Beteiligung an der bevorstehenden Proklamation abgehalten.794 789
Niederschrift Kuckhoffs vom 27. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 287 f. 790 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 155; Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 83. 791 Man bezog sich auf Artikel 1 der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850. Hiernach bildeten „alle Landesteile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen Umfange das preußische Staatsgebiet“. 792 Abgedruckt bei Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), Teil 2, Dokument Nr. 122, S. 501. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 793 § 81 StGB (Auszug): „Wer außer den Fällen des § 80 es unternimmt, […] 4. das Gebiet eines Bundesstaats ganz oder theilweise einem anderen Bundesstaate gewaltsam einzuverleiben oder einen Theil desselben vom Ganzen [eines bestehenden Bundesstaates, P.B.] loszureißen, wird wegen Hochverraths mit lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher Festungshaft bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft nicht unter fünf Jahren ein.“ Zur rechtlichen Würdigung siehe zusammenfassend Kapitel B.XXII. 794 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 156.
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Skeptisch spricht Köhler von einem „groben Knüppel“ und nennt die Regierungserklärung eine „martialische Strafandrohung“.795 Es hieß dort nämlich abschließend: „Die Strafverfolgungsbehörden sind verpflichtet, gegen jeden an den hochverräterischen Umtrieben Beteiligten mit der vollen Schärfe des Gesetzes einzuschreiten.“ Unbeirrt hielt die Regierung an dem rein staatsrechtlichen Argument der Zugehörigkeit der Rheinprovinz zum Gliedstaat Preußen fest, ohne mit einem Wort auf die innen- oder außenpolitischen Motive der rheinischen Loslösungsbewegung einzugehen. Zwar ist die Position des Reichskabinetts staatsrechtlich nicht zu beanstanden, es kann aber auch nicht überraschen, dass sich die Rheinländer und besonders die Rheinstaatsbefürworter mit ihren politischen Anliegen einmal mehr in Berlin nicht ernst genommen fühlten. Insofern packte die Reichsregierung in der Tat den „groben Knüppel“ aus, der jedoch nicht nur die eigentlichen „Hochverräter“ traf, sondern all jene Rheinländer, denen die preußische Gleichgültigkeit ein Dorn im Auge gewesen war. Bemerkenswert ist indes die augenscheinlich gewordene Panik der Reichsführung, die aus ihrer Sicht kurz vor dem Abschluss der Friedensverhandlungen alles daran setzen musste, die Reichsintegrität nicht angreifbar werden zu lassen, sondern ein Bild der innenpolitischen Geschlossenheit gegenüber den alliierten und assoziierten Siegermächten abzugeben. In dieser Trutz- und Abwehrhaltung ließ die Reichsregierung jede an sich angezeigte Differenzierung zwischen rheinischen Föderalisten und vermeintlichen oder tatsächlichen Separatisten fallen und konstruierte selbst dort veritable „Reichsfeinde“, wo sie kaum zu finden waren. Umso bemerkenswerter ist die Reaktion der Kölnischen Volkszeitung auf das Ultimatum der Reichsregierung. War das im Rheinland einflussreiche katholischkonservative Blatt bisher einen strammen Loslösungskurs gefahren, so scheint es im Mai 1919 zu einer Distanzierung zu den aktionistischen Rheinstaatsaktivisten gekommen zu sein. So hatten die Verleger Froberger bereits entschieden von dem Treffen mit Mangin in Mainz abgeraten. Ferner hatte man in der Zwischenzeit einen guten Kontakt zur Reichsregierung, namentlich zu Erzberger, aufgebaut und versucht, Adenauer hier durch ein Telegramm zu kompromittieren, wonach der Oberbürgermeister mit der ganzen Angelegenheit Kastert-Kuckhoff einverstanden gewesen sei.796 Am 29. Mai 1919 veröffentlichte die Volkszeitung schließlich die Drohung der Reichsregierung mit einem zustimmenden Kommentar, ohne die Zustimmung der britischen Militärzensur eingeholt zu haben, was Capitaine de Lillers
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Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 88. Davon berichtete Adenauer in der Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses am 30. Mai 1919, siehe hierzu das nachfolgende Kapitel sowie die stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 259. 796
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in einem Bericht vom 31. Mai nicht zu Unrecht als „komplette Wendung“ bezeichnete.797 Anstatt sich also in dieser erneuten Konfrontation der Rheinstaatsbewegung mit der Reichsregierung wie üblich über die ungebührliche Behandlung der Rheinländer durch das Reich und vor allem durch Preußen zu beklagen, begibt sich die Kölnische Volkszeitung auf die Seite der deutschen Regierung. Es ist zu vermuten, dass das gesamtdeutsche und damit das nationale Interesse durch die Übergabe der als hart empfundenen Friedensbedingungen für die Verleger der Volkszeitung bestimmend geworden und die Frage der rheinischen Selbständigkeit innerhalb des Reiches in den Hintergrund getreten sein dürfte oder jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt nicht diskutabel war. Politisch besonnener als die Reichsführung hatte bemerkenswerterweise die preußische Landesregierung am 27. Mai 1919 reagiert: „Das Verhalten derjenigen Männer, die mit dem Feinde über die Bildung einer besonderen rheinischen Republik, sei es innerhalb, sei es außerhalb des Deutschen Reiches, verhandelt haben, ist aufs schärfste [sic!] zu verurteilen. Dabei ist die Frage, ob darin Landesverrat zu erblicken sei oder nicht, zunächst noch offen zu lassen und die Entscheidung hierüber den dazu berufenen Instanzen zu überlassen.“798 Interessant ist hierbei einerseits, dass man es als Landesregierung offenbar resigniert aufgegeben hatte, nach der staats- oder völkerrechtlichen Qualität der Loslösung beziehungsweise Selbständigkeitsbestrebung zu differenzieren. Andererseits scheint juristisch eine Verwirrung über die Einschlägigkeit der Deliktstatbestände Hoch- und Landesverrat799 vorherrschend gewesen zu sein. Insofern ist auch die Stellungnahme der preußischen Landesregierung rechtlich vage und allzu pauschal. Strafrechtlich in Betracht kam jedenfalls nur die Prüfung des § 81 StGB (Hochverrat). Besonnener war die Landesregierung gleichwohl, da sie das Ergebnis der juristischen Prüfung nicht politisch vorwegnehmen wollte. Die Reduktion der Rheinstaatsfrage auf das juristische Argument war politisch unklug. Die Reichsregierung konnte wohl annehmen, dass die große Mehrheit des deutschen Volkes in diesem Punkt auf ihrer Seite stand, nicht zuletzt durch die 797 Zitat bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 89 Fn. 23: „Ce texte était effectivement publié le 29 par la Kölnische Volkszeitung sans l’assentiment des autorités britanniques; chose plus surprenante, encore, ce journal faisait suivre la publication de ce document de commentaires très sevères sur ce qui se préparait à Aixla-Chapelle. En somme, il procédait à une volte-face complète.“ 798 Erklärung abgedruckt bei Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 80. 799 § 87 StGB: „Ein Deutscher, welcher sich mit einer ausländischen Regierung einläßt, um dieselbe zu einem Kriege gegen das Deutsche Reich zu veranlassen, wird wegen Landesverraths mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren und, wenn der Krieg ausgebrochen ist, mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft von sechs Monaten bis zu fünf Jahren und, wenn der Krieg ausgebrochen ist, Festungshaft nicht unter fünf Jahren ein.“
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unseriösen Planungen und das dilettantische Gebaren der Rheinlandaktivisten. Andererseits zeigte diese Erklärung, dass die Reichsführung in die Defensive geraten war: Wie auch schon im März 1919 reagierte die Regierung auf die Bewegung, sie hatte jedoch selbst nicht die Möglichkeiten oder den politischen Willen zum aktiven, gestaltenden Einfluss. Während die Rheinstaatsbefürworter auf die von den Franzosen in Aussicht gestellte mögliche Milderungen der schockierenden und in der Bevölkerung verhassten Friedensbedingungen hinweisen konnten, hatte die Reichsregierung in dieser wichtigen Angelegenheit nichts Materielles anzubieten, als nur das vage Versprechen, man werde den Friedensvertrag als Regierung noch selbst ändern oder mildern können vor seiner letztgültigen Unterzeichnung.
XIX. Die Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses vom 30. Mai 1919 Den rheinischen Parlamentariern musste Ende Mai daran gelegen sein, in dieser gleichsam emotional aufgeheizten wie auch politisch wirren Lage handlungsfähig zu bleiben und sich nicht von konspirativen Zirkeln das Heft aus der Hand nehmen zu lassen – sofern dies überhaupt noch möglich war. Am 30. Mai 1919 lud Adenauer als Vorsitzender schließlich zu einer Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses nach Köln ein, womit der ParlamentarierAusschuss zum ersten und gleichzeitig letzten Mal tagen sollte. Die Sitzung war nötig geworden, weil sich die Verhältnisse durch die Ereignisse der letzten vierzehn Tage „zugespitzt“ hatten.800 Hömig weist verdeutlichend darauf hin, dass die sich verstärkenden Putschgerüchte zu der Einberufung des Ausschusses förmlich genötigt hätten.801 Adenauer berichtete zunächst von der bereits angesprochenen Mitteilung General Clives vom 17. Mai 1919, wonach „maßgebende britische Politiker“ sich bereit erklärt hätten, wesentliche Milderungen der Friedensbedingungen für das „übrige Deutschland“ herbeizuführen, wenn es gelänge, eine „Westdeutsche Republik im Rahmen des Deutschen Reiches“ zu errichten. Diese Aussage konnte Hauptmann Schwink auf Grund eines Gesprächs mit Oberst Rubert Sumner Ryan, dem Chef des Political Departments der britischen Besatzungszone, bestätigen.802 Als Adenauer jedoch am 19. Mai 1919 mit Reichsministerpräsident Scheidemann in Berlin zusammentraf, war er mit seiner Bitte, mit den Briten diesbezügliche Verhandlungen aufzunehmen und sich der Rheinstaatsidee gegenüber zu öffnen, brüsk abgewiesen worden. Es wird deutlich, dass Adenauer Ende Mai 1919 noch 800
Zitat bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 257. Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik (Fn. 97), S. 70. 802 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 253, Fn. 3. Hier auch die obigen Zitate. 801
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nicht vom Gedanken eines rheinischen Freistaates abgerückt war, sondern, in partieller Übereinstimmung mit den aktionistischen Rheinstaatsaktivisten, in ihm ein mögliches Mittel zur Milderung der Friedensbedingungen erblickte. Dabei zählte Adenauer weniger auf die Franzosen, sondern auf die britischen Besatzungsmächte, die in Köln und Umgebung stationiert waren und zu denen er als Kölner Oberbürgermeister ohnehin einen regen Kontakt unterhielt. Gleichzeitig betonte Adenauer gegenüber den Anwesenden seine Distanz zu Froberger, Dorten und ihrer Gruppe. Er habe sowohl Froberger als auch Kastert und Kuckhoff schwere Vorwürfe wegen ihrer Unterredung mit General Mangin und ihrer Zusammenarbeit mit dem „Vaterlandsverräter“ Dorten gemacht, was die Abgeordneten Meerfeld und Falk sogleich bekräftigen konnten.803 Der Linksliberale Falk fügte hinzu, alle drei maßgeblichen Fraktionen der Kölner Stadtverordnetenversammlung, also MSPD, Zentrum und DDP, hätten dem Oberbürgermeister für seine strikte Haltung bereits „Beifall gezollt“.804 Allerdings erklärte Adenauer auch, er halte die allgemeine Missbilligung von Kastert und Kuckhoff für zu streng, da die beiden nicht „irgendwie einen Landesverrat“805 begangen hätten; er wolle in strafrechtlicher Hinsicht keine „derartigen detaillierten Vorschläge“806 machen. Diese unklaren Aussagen können nur so verstanden werden, dass sich Adenauer nicht vorschnell juristisch auf einen Deliktstatbestand festlegen konnte und nicht in das pauschale Urteil der meisten Zeitgenossen einstimmen wollte. Aus seiner Sicht war den beiden Zentrumsabgeordneten vor allem zweierlei vorzuwerfen: Zum einen, dass sie überhaupt mit solchen „offenbare[n] Vaterlandsverräter[n]“ wie Dorten und Salm zu einem französischen General gegangen waren und das Ganze derart offenkundig geschah, zum anderen, dass man mit Mangin hochpolitische Detailvorschläge beraten hatte, was allein Sache der Reichsregierung sei.807 Gleichzeitig zeigte er aber ein gewisses Verständnis für den Alleingang der Zentrumsabgeordneten, denn er hatte in seinem Gespräch mit Scheidemann selbst erneut den Eindruck gehabt,808 dass die Reichsregierung dem Rheinland nicht die 803 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 259 f. 804 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 260. 805 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 264. Vgl. hierzu bereits oben Kapitel XVIII. Einschlägig war lediglich der Straftatbestand des Hochverrats gemäß § 81 StGB. Zur strafrechtlichen Würdigung siehe zusammenfassend Kapitel B.XXII. 806 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 260. 807 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 264. 808 Dies vermutet Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 258.
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gleiche Aufmerksamkeit zukommen lasse wie Danzig oder Schlesien und man keine „rechte Empfindung“ dafür besitze, was im Westen auf dem Spiel stehe.809 In diesem Punkt wurde er unterstützt von Kaas, der ebenfalls für „mildernde Umstände“ plädierte und den psychologischen Druck der Rheinstaatsaktivisten nachempfinden konnte, der erst durch die „ausgesprochene Interessenlosigkeit“ der Berliner Regierung an den rheinischen Problemen eingetreten sei und letztlich zu einem eigenmächtigen Vorgehen faktisch genötigt habe.810 Einmal mehr zeigte sich die längst bemerkte und akzeptierte Teilung der Rheinstaatsbewegung, wenn Kaas fordert, zwischen den „Landesverrätern“ (gemeint war hier vor allem Dorten) und denjenigen Politikern, die auf legalem, ja loyalem Wege und bisher „in ehrlicher Weise“ für die Rheinische Republik eingetreten seien, müsse klar unterschieden werden.811 Adenauer wiederholte seine bereits gegenüber Scheidemann geäußerten Befürchtungen, das Rheinland werde aufgrund des „jahrelangen Drucks“ von außen auf „absehbare Zeit“ für Deutschland verlorengehen, wenn die Friedensbedingungen in der aktuellen Form, vor allem die Regelungen betreffend die langfristige Besatzung, die Zollgrenze und die Eingriffsbefugnisse der Alliierten in die laufende Verwaltung, angenommen werden würden.812 Das Rheinland werde peu à peu „französiert“ werden. Köhler deutet Adenauers Pessimismus noch weitergehend, denn der Oberbürgermeister sei davon ausgegangen, dass der Charakter der Rheinländer schwach sei und die Bevölkerung die langwierige Besatzungszeit nicht ohne Schäden am nationalen Gefühl werde durchstehen können.813 Adenauer erklärte, er werde zwar mit seinen Bedenken nicht an die Öffentlichkeit gehen, aber er äußerte seinen dringenden Wunsch, aus dem Parlamentarier-Ausschuss auszuscheiden, um die Entscheidung über die weitere politische Gestaltung den gewählten Volksvertretern zu überlassen. Nochmals unterstrich er dabei seinen fatalistischen Antrieb: „Die Sache wird sich nach meiner Meinung so entwickeln, daß das Rheinland verloren ist.“814 Sollmann und Falk konnten diese Gefahren für das Rheinland nicht erkennen. Falk meinte, die Gefahren würden erst dadurch entstehen, dass das Vorgehen der Aktivisten auf die rheinische Bevölkerung einen negativen Eindruck mache oder gar
809
Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 266. 810 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 267. 811 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 268. 812 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 266. 813 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 93. 814 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 265.
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Einfluss habe.815 Dies war auch die Auffassung Sollmanns, der ergänzte, das nationale Gefühl sei gerade in der Arbeiterschaft ungebrochen stark; man wolle das Deutsche Reich nicht aufgeben.816 Abgeordnete aller Fraktionen bedrängten Adenauer, den Vorsitz des Ausschusses nicht niederzulegen und weiterhin in dem Gremium mitzuwirken. Falk erklärte, man befinde sich gerade in einem „außerordentlich kritischen Stadium“ und ein Rücktritt würde als Eingeständnis des Scheiterns des gemäßigten Flügels der Selbständigkeitsbewegung aufgefasst werden. Ferner könnte es so wirken, als sei Adenauer durch die aktuellen Geschehnisse persönlich belastet und habe sich deshalb zurückziehen wollen.817 Dem wiederum stimmten Sollmann und Heß zu. In einem außergewöhnlich emotionalen Ausbruch erwiderte Adenauer, dass ihn der immer wieder fälschlicherweise vorgebrachte Vorwurf belaste, er sei eine treibende Kraft in der Rheinstaatsinitiative gewesen und sei stets auch mit den Machenschaften von Kastert, Froberger und Dorten einverstanden gewesen. Er sei „heruntergerissen“ worden bei der Regierung und der Zentrumsfraktion und werde „von allen Seiten mit Steinen beworfen“.818 Kaas bejahte, dass dieses Bild von Adenauer, nicht zuletzt durch Kastert, entstanden sei: „Ich bekam von der Darstellung [Kasterts, P.B.] den Eindruck, als ob Sie fürchteten, den Anschluß zu verpassen; da die Sache in siegreichem Vorgehen begriffen sei, so möchten Sie um Gottes Willen dabei sein.“819 Schließlich kam man überein, dass Adenauer wenigstens interimistisch den Vorsitz weiterführte, nicht zuletzt mangels anderweitiger Kandidaten, da man vermeiden wollte, dass ein Abgeordneter und damit ein Parteipolitiker den Westdeutschen Politischen Ausschuss leitete. Dieses Anliegen betonte vor allem der Zentrumsmann Heß,820 der einerseits wohl vermeiden wollte, dass weitere Zentrumspolitiker sich in die Rheinstaatsangelegenheit verstrickten und das ganze Unterfangen erneut als reine Zentrumsforderung gelten würde und der andererseits aus parteipolitischen Erwägungen dagegen sein musste, dass ein Sozialdemokrat in dem
815 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 265. 816 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 266. 817 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 269. 818 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 269. 819 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 261. 820 Vgl. die stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 271.
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Gremium die Präsidentschaft erlangte. Andere Parteien kamen für den Ausschussvorsitz nicht in Frage. Es ist nicht anzunehmen, dass Adenauer mit seiner Rücktrittsankündigung eine erneute Bestätigung in seinem Amt anstrebte, sondern man wird Erdmann zustimmen können, wenn er darauf hinweist, Adenauer habe aufgrund der gegen ihn gerichteten Kampagne keinen sonderlichen Ehrgeiz mehr verspürt, weiterhin innenpolitisch derart im „Kreuzfeuer“ zu stehen.821 Rein spekulativ ist jedoch die weitere Begründung, Adenauer habe selbst nicht mehr an die Verwirklichung eines westdeutschen Freistaates geglaubt.822 Für Adenauers inhaltliche Positionierung Ende Mai 1919 ist nämlich ein Detail von besonderem Interesse. Am 27. Mai 1919 hatte er sich mit Kastert und Kuckhoff im Kölner Rathaus getroffen und bei dieser Gelegenheit die von Froberger am 16. Mai 1919 ausgearbeiteten und von Dorten redigierten „Vorbedingungen zur Errichtung einer Rheinischen Republik“823 zur Kenntnis genommen. Dieses Positionspapier, das die Grundlage für das Gespräch mit Mangin am 17. Mai 1919 bildete, sah eine nahezu faktische Selbständigkeit des Rheinstaates mit umfangreichen Reservatrechten und eine Einbeziehung Eupen-Malmedys und des Saargebiets vor.824 Adenauer bekannte in der Runde am 30. Mai 1919 offen, dass er die Vorbedingungen für „unbedingt günstig für Deutschland“ halte, andererseits distanzierte er sich von Frobergers Positionen aus dem Bericht vom 19. Mai 1919, den Schwink nach Frobergers mündlichen Aussagen angefertigt hatte und den Froberger selbst später am 31. Mai 1919 nicht als authentisch gelten lassen wollte. Adenauer hatte die Rheinstaatsidee Ende Mai 1919 keineswegs aufgegeben, sondern im Gegenteil setzte er alles daran, dass man seitens der Reichsregierung sofort tätig werde und diesbezügliche Verhandlungen mit der Entente aufnehme. So erklärte er selbst offen am 30. Mai 1919, er habe sich als Ausschussvorsitzender und Oberbürgermeister – und damit gerade nicht als parteipolitischer Parlamentarier – stets neutral verhalten, obwohl er eigentlich der Meinung sei, dass man die Rheinische Republik errichten sollte.825 Aus dieser neutralen Zurückhaltung Adenauers schließen zu wollen, er habe selbst nicht mehr an ein Gelingen der Unabhängigkeitspläne geglaubt, ist nicht begründet. Zu diesem Zeitpunkt musste es der gesamten deutschen Politik weniger um die innenpolitischen Fragen des „Ob“ der westdeutschen Staatsgründung oder der 821
Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 157; in diese Richtung auch Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. 823 Abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 288 f. 824 Vgl. hierzu bereits oben Kapitel B.XVIII. 825 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 269. 822
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Aufteilung Preußens gehen, sondern der Hauptzweck der Bemühungen musste in der (partiellen) Neuverhandlung der Friedensbedingungen liegen, wobei die Rheinstaatsfrage sowohl Mittel als auch Nebenzweck, besonders für die Loslösungsbefürworter, geworden war. So erklärte Adenauer gleich zu Beginn der Sitzung seinen ursprünglichen Standpunkt so: „[…] ich war der Auffassung, daß die Frage, ob eine Rheinische oder eine Rheinisch-Westfälische Republik im Rahmen des Deutschen Reiches zu gründen sei oder nicht, zunächst eine Frage von innenpolitischer Bedeutung sei und daß es daher nicht angebracht sei, über diese Frage überhaupt zu sprechen, ehe von den verfassungsmäßigen Organen im Wege der Gesetzgebung die Möglichkeit dazu geschaffen wäre, oder falls sie nicht geschaffen werde, der verfassungsmäßige Weg damit erledigt sei.“ Mittlerweile aber habe sich die außenpolitische Lage so „zugespitzt“, dass eine Aussprache im Ausschuss stattfinden müsse.826 Am Nachmittag des 30. Mai 1919 stießen zwei deutsche Diplomaten aus Versailles (von Becker) und Spa (Legationsrat Oskar Trautmann) zu den Beratungen des Ausschusses hinzu. Graf von Brockdorff-Rantzau hatte den Finanzsachverständigen der Friedensdelegation von Becker nach Köln geschickt, um sich ein genaues Bild der verwickelten Situation im Rheinland und innerhalb der Selbständigkeitsbewegung zu machen.827 Es ist bemerkenswert, in welchen düsteren Farben Adenauer erneut die gegenwärtigen Verhältnisse auch ihnen gegenüber malte. Dies zeigt eine gewisse Verzweiflung, aber auch die Entschlossenheit Adenauers, der mittlerweile neben emotionalen Appellen unumwunden auf fatalistische Theatralik setzte. Er hielt an seinem bekannten „Alles-oder-Nichts-Argument“ fest, wonach im Falle der Unterzeichnung des Friedensvertrags „die vollständige Vernichtung Deutschlands“828 eingeläutet sei, wenn man nicht zeitnah die Westdeutsche Republik schaffe und so die eigene Verhandlungsposition aufwerte. Köhler sieht in diesem „übertriebene[n] Pessimismus“Adenauers den Versuch, seine Lösung der Westdeutschen Republik als alternativlos zu vermitteln, gerade gegenüber von Becker und Trautmann. Jedenfalls, das anerkennt auch Köhler, muss Adenauer bestrebt gewesen sein, politischen Druck auf die Reichsregierung auszuüben, damit „die Möglichkeiten der Verwirklichung der Rheinischen Republik“ überhaupt ernsthaft erwogen und ausgelotet werden würden.829 Dabei war die Schwarzmalerei ein beliebtes Druckmittel Adenauers, von dem er in seinem ganzen politischen Leben nie abgelassen hat.830
826 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 253 f. 827 Vgl. Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 274. 828 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 275. 829 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 92.
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Der nach Versailles abgeordnete Finanzsachverständige von Becker machte indes deutlich, dass der Plan der Errichtung der Rheinischen Republik als „Kompensationsfrage“ in den Friedensverhandlungen keinerlei Rolle gespielt habe und weder von der Entente noch der Reichsregierung angeregt worden sei.831 Demgegenüber zeigte sich Adenauer überrascht, da es gerade Frankreich darauf ankommen müsste, den „böse[n] Feind des allgemeinen Weltfriedens“, nämlich den Staat Preußen, zu zerschlagen. Gegen diesen böte den Franzosen nur der westdeutsche Gliedstaat eine „Sicherung“ im Sinne einer Garantie.832 Auch im Gespräch mit den Diplomaten verwies Adenauer für die Stützung seiner These, die Triple Entente stehe dem rheinischen Gliedstaat wohlwollend gegenüber und man werde im Falle seiner Gründung die Friedensbedingungen abschwächen, auf sein Gespräch mit General Clive, den er für einen „anständigen Menschen“ halte und der „unbedingt ehrlich“ sei.833 Ebenso hätten schließlich die Franzosen Mangin und Rostan Mitte Mai ein Interesse ihrer politischen und militärischen Führung an dem Rheinstaat gezeigt. Köhler geht davon aus, dass von Becker und Trautmann von diesen Ausführungen wenig beeindruckt gewesen sein dürften: „Es gehörte – besonders für die im Umgang mit der Entente geübten Diplomaten aus Versailles und Spa – nicht viel Scharfsinn dazu, dass Illusionäre dieser angeblich konkreten Anhaltspunkte zu erkennen.“834 Dabei beruft er sich auf ein Telegramm Trautmanns vom 2. Juni 1919, indem es misstrauisch hieß, Adenauer sei der „Leiter der Bewegung“, dessen Ausführungen nur „mit größter Vorsicht“ aufzunehmen seien.835 Insgesamt schlossen von Becker und Trautmann aus dem Treffen mit den rheinischen Parlamentariern, dass „die Republikidee jetzt überwunden [sei und] nur von einigen Parteileuten geschürt, von [den] Massen absolut abgelehnt“ werde.836 Tatsächlich hatte der Westdeutsche Politische Ausschuss den Gedanken an die sofortige Loslösung des Rheinlandes von Preußen einstweilen verworfen. Man würde jedoch Adenauer Unrecht tun, wenn man ihm in dieser Frage und zu diesem 830
Man denke etwa an die „Die Lage war noch nie so ernst“-Appelle, die später nahezu zum Leitmotiv seiner Kanzlerschaft in der jungen Bundesrepublik werden sollten, vgl. Zeit online v. 12. November 2009, Konrad Adenauer, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2009/47/VorbilderAdenauer, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 831 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 274. 832 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 275. 833 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 276. 834 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 93. 835 Zitate bei Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 93. 836 Telegramm der Waffenstillstandskommission in Spa an von Brockdorff-Rantzau v. 31. Mai 1919. Abgedruckt auszugsweise bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 157.
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Zeitpunkt Naivität und Realitätsverlust unterstellte.837 Er wollte sich insbesondere nicht mit der Tatsache abfinden, dass die Berliner Führung den Gedanken des westdeutschen Gliedstaats kategorisch ablehnte und erst recht nicht als außenpolitisches Pfund bei den Friedensverhandlungen in die Waagschale geworfen hatte. Das eigentliche Problem bestand aus der Sicht von Adenauer darin, dass die Reichsregierung durch ihre Ignoranz die Chance einer Abschwächung der Friedensbedingungen verstreichen ließ.838 So setzte sich Adenauer immerhin insoweit durch, als der Westdeutsche Politische Ausschuss von Becker einmütig bat, Außenminister von Brockdorff-Rantzau zu überzeugen, den Gedanken der Republikgründung in die Verhandlungen mit den Ententemächten einzuführen. Ferner forderte der Ausschuss, bei den Verhandlungen mit den Siegermächten seien rheinische Vertreter hinzuzuziehen. Damit verfolgten die Abgeordneten weiterhin den Versuch, die rheinischen Interessen unmittelbar bei der deutschen Friedensdelegation zur Geltung zu bringen. Bereits am 4. April 1919 war von der Reichsregierung beschlossen worden, „eine Unterkommission der Friedenskommission mit dem Sitz in Köln einzusetzen“, zu deren Vorsitz Adenauer zu bestellen sei.839 Diese Kommission scheiterte jedoch an dem Veto sowohl des Ministerpräsidenten Hirsch als auch des Marschalls Foch. Der eine war der Auffassung, die preußische Administration werde übergangen, wenn dieses rheinische Gremium faktisch reichsunmittelbar in Funktion trat, der andere, weil er keine unmittelbare Zusammenarbeit der Rheinländer mit der Reichsregierung wünschte, sollten nach dem französischen Rheinlandkonzept doch beide eher gegeneinander ausgespielt werden.840 Es war primär das Desinteresse Hirschs an einer solchen Kommission, das die Reichsregierung veranlasste, gegen das am 12. April 1919 von Foch ausgesprochene Verbot nicht offiziell Einspruch zu erheben. Die rheinischen Abgeordneten indes mussten sich einmal mehr von der preußischen Führung im Stich gelassen fühlen. So griffen sie die Thematik einen Monat später erneut auf und verfolgten ihr Anliegen, bei den Friedensverhandlungen auch personell einbezogen zu werden, weiter.
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In diese Richtung aber Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 93. Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 277 f. 839 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 60. 840 So auch Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 60. 838
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XX. Das Ausscheiden Kasterts und Kuckhoffs aus der Zentrumsfraktion in der Landesversammlung vom 30. Mai 1919 Als in den Reihen der Zentrumsfraktion in der Landesversammlung das Gerücht umgegangen war, die Mitglieder Kastert und Kuckhoff seien mit hohen französischen Offizieren in Verbindung getreten, um über die Möglichkeiten der Rheinischen Republik zu beraten, reagierte die Zentrumsfraktion nach Angaben von Heß in der Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses prompt.841 So sei Kuckhoff sofort nach dem Bekanntwerden der Gerüchte „gestellt“ worden und als dieser Heß von dem Treffen mit Mangin berichtet hatte, habe Heß darauf bestanden, dass Kuckhoff die Fraktion darüber aufkläre. Am 23. Mai 1919, als in der Presse über das Treffen mit dem französischen General noch nichts erwähnt worden war, gaben Kastert und Kuckhoff ihre Erklärungen ab und die Zentrumsfraktion verabschiedete eine Stellungnahme, wonach man mit dem eigenmächtigen Vorgehen der Fraktionskollegen nicht einverstanden sei, man dieses vielmehr „auf das entschiedenste“ missbillige.842 Diese rasche Reaktion sei deshalb erfolgt, um sich nicht nachher vorhalten lassen zu müssen, man hätte als Zentrumsfraktion zu spät auf das Verhalten der Mitglieder reagiert oder gar mit ihnen gemeinsame Sache gemacht. Die Zentrumsführung, die über die „berühmte Reise“843 nach Mainz nicht informiert worden war, geriet in eine „peinliche Situation“.844 Man konnte es politisch nicht bei einer internen Rüge belassen. In einer Kabinettssitzung am 27. Mai 1919 äußerte sich Reichsminister Bell in dem Sinne, dass seine Partei mit dem Alleingang der beiden Abgeordneten nichts zu tun habe.845 Im Verlauf „erregter“846 Landesversammlungsdebatten vom 27. und 28. Mai 1919 distanzierte sich auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Carl Herold unter Bekanntgabe des Fraktionsbeschlusses vom 23. Mai von Kastert und Kuckhoff.847 Er rief im Namen der Zentrumsfraktion alle Bevölkerungskreise „auf das dringendste“ dazu auf, von allen Bestrebungen zur Loslösung einzelner Landesteile von Preußen zurückzutreten und diese entschieden zu bekämpfen, da die 841
Vgl. hierzu insgesamt die stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 263. 842 Zitat nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 256. 843 So Heß am 27. Mai 1919, vgl. Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 3, Sp. 2694. 844 KV Nr. 480 v. 22. Juni 1919; Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 256. 845 Germania Nr. 237 v. 27. Mai 1919 („Eine Hetze gegen das Zentrum“). 846 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 257. 847 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 3, Sp. 2695.
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„endgültige Gestaltung des Deutschen Reiches und seiner Gliedstaaten […] den vom Gesamtvolke gewählten und allein zuständigen Instanzen im Einvernehmen mit der Preußischen [sic!] und der Reichsregierung vorbehalten bleiben“ müsse. Deshalb verurteile „die Zentrumsfraktion auch alle Aktionen einzelner Persönlichkeiten oder Gruppen, die auf die Umgestaltung der politischen Gliederung des Deutschen Reiches oder seiner Einzelstaaten“ hinausliefen.848 Ein Brief von Trimborn an seine Frau vom 29. Mai 1919 verdeutlicht, dass es selbst für die Zeitgenossen immer undurchsichtiger geworden war, worin überhaupt das Ziel der Rheinstaatsbewegung bestand und welche staatsrechtliche Konstruktionen in den zahlreichen „Geheimdiplomatien“ ventilierten: „Ungeheure Aufregung erregt hier das Vorgehen der Abgeordneten […], die in Wiesbaden und Mainz mit den Franzosen […] verhandelt haben. Man nimmt hier an, dass diese Verhandlungen zur Errichtung eines rheinischen Pufferstaates führen sollten. Hier wird dieses Vorgehen allgemein verurteilt, namentlich auch in Zentrumskreisen. Mein Leitgedanke ist bezüglich der rheinischen Republik immer gewesen: 1. nur in engster Verbindung mit dem Reich, also kein Pufferstaat 2. nur auf legalem Wege – also über Weimar – in Verbindung mit einer neuen Gliederung von ganz Deutschland.“849 Neben einer konzisen Schilderung des in Zentrumskreisen verbreiteten konstitutionell-legalistischen Kurses in der Rheinstaatsfrage, ist an Trimborns Darstellung bemerkenswert, dass die Affäre Kastert-Kuckhoff auch in der Nationalversammlung einiges Aufsehen erregt hat und mit welcher Beharrlichkeit man auch hier den Abgeordneten nach wie vor unterstellte – nicht zuletzt der Weimarer Zentrumsfraktion selbst – sie hätten gemeinsam mit den Franzosen separatistische Pläne verfolgt. In der allgemeinen Verwirrung rund um den Weststaat schien es so, als sei die Büchse der Pandora der Möglichkeiten rheinischer Sonderbündelei entgültig geöffnet worden: Vom Pufferstaat und französischen Protektorat über rheinischen Gliedstaat im Reichsverband war den Zeitgenossen alles denkbar und nicht zuletzt die Aufspaltung und Fragmentierung der Rheinstaatsanhänger und -aktivisten machte die Konfusion perfekt. Trimborn und die Zentrumsfraktionen in Berlin und Weimar konnten sich alle Mühe geben, darzutun, dass die Rheinstaatsfrage im Kontext der generellen Reichsneugliederung als rein innenpolitische Angelegenheit betrachtet werden sollte; wenn aber gleichzeitig die Aktionisten mit französischen Militärs verhandelten, waren alle Beschwichtigungen in ihrer Außenwirkung vergebene Liebesmüh. Insofern war das Verhalten der Rheinstaatsanhänger dubios, zumindest aber ambivalent. Selbst Adenauer hatte noch am 30. Mai 1919 einmal mehr die „außenpolitische Karte“ gespielt und an eine vermeintlich mögliche Ab-
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Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 3, Sp. 2697. 849 Brief Carl an Jeanne Trimborn v. 29. Mai 1919, HAStK 1256/74, Bl. 48. Hervorhebung im Original.
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milderung der Friedensbedingungen erinnert, so dass die Frage der rheinischen Staatsgründung eben doch nicht als ausschließlich reichsintern angesehen wurde. Bereits am 23. Mai 1919 hatten sich Kastert und Kuckhoff in der Berliner Fraktion erklärt und richtiggestellt, man habe gerade keinen Pufferstaat angestrebt und habe Mangin vermittelt, dass es ausschließlich um eine Gliedstaatsgründung gehen könnte. Offenbar jedoch haben diese Richtigstellungen die Parteifreunde in der Weimarer Nationalversammlung nicht erreicht, was darauf hindeutet, wie schwer es für den Zirkel um Kastert, Kuckhoff und Froberger geworden war, sich von den „sonderbündlerischen“ Vorwürfen freisprechen zu können und gegenüber dem der Sonderbündelei verdächtigen Dorten-Flügel eine glaubhafte Distanzierung zu schaffen. Andererseits schildert Heß, die Fraktion sei nicht der Auffassung gewesen, Kastert und Kuckhoff hätten einen Hochverrat in Mainz begangen, sondern man war im Grunde überzeugt, dass die beiden „von guter Absicht geleitet worden“ seien und man die „bona fides“ nicht habe anzweifeln können. Die Kollegen hätten letztlich „kopflos“ gehandelt.850 Dieser Einschätzung schlossen sich Adenauer und Kaas an, die das Urteil der Fraktion in der Begründung für zu scharf hielten, und Kaas plädierte „energisch für mildernde Umstände“.851 Jedoch fanden die beiden Abgeordneten auch in der heimischen Parteiorganisation keinen Rückhalt mehr. Am Morgen des 30. Mai 1919 war dem Kölner Zentrum von den der Partei zugehörigen organisierten Arbeitern ein Schreiben zugeleitet worden, in dem der sofortige Rücktritt von Kastert und Kuckhoff von ihren Mandaten gefordert wurde.852 Die Kölner Arbeiter waren aufgeschreckt worden durch eine offenbar bewusst lancierte Falschmeldung, wonach auf dem Wege eines Putsches in Koblenz die Rheinische Republik ausgerufen worden sei.853 Die Ereignisse überschlugen sich nun. Noch am selben Tag traten beide Abgeordneten aus der Zentrumsfraktion aus und Kuckhoff legte überdies sein Mandat nieder und schied somit auch aus der Landesversammlung aus. Kastert jedoch blieb Mitglied der Preußischen Landesversammlung bis 1921.854 850 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 265. 851 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 267. Zur strafrechtlichen Bewertung des Vorwurfs des Hochverrats siehe die zusammenfassende Würdigung in Kapitel B.XXII. 852 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 114. 853 Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 146 (1919), S. 43. 854 In diesem Punkt irrt Morsey, der behauptet, Kastert habe sich ebenfalls Ende Mai 1919 aus der Landesversammlung und aus der Politik insgesamt verabschiedet, vgl. Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 193. Morsey ist aber nicht der Vorwurf der Ungenauigkeit zu machen, denn selbst Zeitzeugen schrieben – unverständlicherweise – davon, dass sowohl Kuckhoff als auch Kastert ihre
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Kuckhoff erklärte später auf dem Parteitag des rheinischen Zentrums vom 16. September 1919, man sei diesen Schritt gegangen, „um die Einigkeit der Partei zu retten“. Die Bestrebungen der Rheinstaatsaktivisten seien „für das Deutschtum in den Rheinlanden gegen Preußen, im rheinischen und deutschen Interesse gegen die Bestrebungen von außen her“ gerichtet gewesen.855 Es ist nicht nachzuvollziehen, warum Brüggemann annimmt, dass Kastert und Kuckhoff deshalb aus der Fraktion ausgetreten seien, um einem Ausschluss zuvorzukommen.856 Über etwaige Pläne eines Fraktionsausschlusses ist nichts bekannt, und es ist trotz aller Kritik und der damit verbundenen Isolation unwahrscheinlich, dass man seitens der Fraktionsführung den offiziellen Bruch mit den Abgeordneten gewagt hätte, zumal die Vorhaltungen nicht von strafrechtlicher Relevanz waren. Dass indes der politische Druck auf die beiden Rheinstaatsanhänger enorm gewesen sein muss, kann nicht ernstlich bestritten werden. Obwohl er letztlich freiwillig aus dem politischen Leben ausgeschieden war,857 beklagte sich Kuckhoff noch 1940 bei der Niederschrift seiner Erinnerungen darüber, dass sein Name in der „Öffentlichkeit gar zu eng mit dem Namen Kastert gekoppelt gewesen“ sei. „Kuckhoff-Kastert war und blieb eine geläufige Zusammensetzung, auch in Witzblättern und Karnevalsscherzen, wenigstens für einige Jahre. Kastert aber hatte wirklich Anstände zu berechtigter Kritik seiner patriotischen Haltung gegeben, weil er mit Dorten und Dr. Karl Müller in Verbindung blieb, auch als die Rheinlandbewegung illegal geworden war.“858 Oberpfarrer Kastert hat sich trotz des Fraktionsausschlusses und einer Maßregelung durch seine kirchlichen Vorgesetzten, wonach ihm jede politische Betätigung für die Loslösungsbewegung untersagt worden war, weiterhin in diesen Kreisen engagiert und wurde daraufhin nach Muffendorf bei Bonn strafversetzt, wo er 1935 starb.859 Naturgemäß kritisch beschrieb der aktionistische Rheinstaatsbefürworter Kraemer aus Wiesbaden den Fall Kastert-Kuckhoff in seiner Streitschrift von August 1919.860 Die überwiegende Mehrheit der rheinischen Abgeordneten hätte sich vor ihrer Wahl in die Landesversammlung ihrer Wählerschaft gegenüber zum EinMandate niedergelegt hätten, vgl. Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 43; Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 146 (1919), S. 45. 855 Zitate bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 256. 856 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 114. 857 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 155. 858 Zitat bei Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik (Fn. 97), S. 71. 859 Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 19. 860 Kraemer, Die rheinische Bewegung (Fn. 668), S. 49 f. Hier auch die nachfolgenden Zitate.
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treten für die rheinische Republik verpflichtet. „Aber der Weg vom Wollen zum Vollbringen führt über dornige Hindernisse und ist so weit, daß nur einzelne ihn bis zum Ende durchschreiten“ und allein Kastert und Kuckhoff hätten den Mut aufgebracht, „den Wünschen ihrer Wähler entsprechend bis zuletzt für die rheinische Freiheit einzutreten“. Die eigene Partei aber habe sie „verfemt“ und „genötigt“, aus der Fraktion bzw. der Landesversammlung auszuscheiden. Dies sei ein treffendes Beispiel für das geringe „Maß von persönlicher Freiheit“, welches den einzelnen Abgeordneten in der „neuzeitlichen Parteimaschine“ noch verbleibe. Gleichzeitig erteilte Kraemer dem „legalen“ Weg eine Absage, denn die „Berufenen“, gemeint sein konnten damit nur die gewählten Volksvertreter in den verfassunggebenden Versammlungen, wollten den Rheinstaat gar nicht errichten. „Darum mussten es eben die ,Unberufenen‘ machen. Und sie haben es gemacht.“ In überraschender Parallelität im Wortlaut äußerten sich die Wiesbadener Putschisten in ihrer Streitschrift aus Juli 1919 über den Vorfall, so dass es naheliegt, das Kraemer auch diese Passage formuliert hat: „Was die einzelnen Abgeordneten in der neuzeitlichen Parteimaschine noch für ein Maß von persönlicher Freiheit haben, beweist drastisch der Fall Kastert und Kuckhoff. Diese beiden mannhaften rheinischen Abgeordneten haben es allein gewagt, den Wünschen ihrer Wähler bis zuletzt Geltung zu verschaffen, sie haben bis zuletzt für die rheinische Freiheit einzutreten gewagt, und wurden für diese echt rheinische Tat von ihren eigenen Parteifreunden aus Berlin verjagt, ein erbauliches Schauspiel!“861 Der Rückzug der beiden überzeugten und engagierten Rheinstaatsaktivisten aus der Zentrumsfraktion bzw. ganz aus der Preußischen Landesversammlung markierte einen weiteren, vielleicht den bedeutendsten Schritt in Richtung der Schwächung bis hin zum Niedergang der parlamentarischen Selbständigkeitsbewegung und bedeutete insbesondere für die legalistische, auf parlamentarische Repräsentation setzende Strömung eine Demütigung. So erklärt sich auch die relative Zurückhaltung von Adenauer, Heß und Kaas bei der Aussprache über das Vorgehen Kasterts und Kuckhoffs am 30. Mai in der Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses. Die erfahrenen Zentrumspolitiker hatten eingesehen, dass eine Rheinische Republik wohl nicht mehr durch eine parlamentarische Initiative zu schaffen sein würde und sie hofften auf den Fortgang der Friedensverhandlungen in Versailles, quasi als ein Vehikel zur Beförderung des Rheinstaatsgedankens und auf ein Einsehen der Reichsregierung in dieser Angelegenheit.
861 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 31.
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XXI. Das Treffen der Reichsregierung mit rheinischen Abgeordneten vom 31. Mai 1919 Nach der öffentlichen Warnung der Reichsregierung vom 28. Mai 1919, der parteiinternen Disziplinierung Kasterts und Kuckhoffs durch die preußische Zentrumsfraktion und dem Treffen des Westdeutschen Politischen Ausschusses kamen am 31. Mai in Berlin Vertreter der Reichsregierung, allen voran Ministerpräsident Scheidemann, und Mitglieder der National- und Landesversammlung862 aus dem besetzten rheinischen Gebiet zusammen.863 Dabei handelte es sich nicht etwa um eine turnusgemäße Besprechung, sondern um eine Reaktion auf die vorangegangenen Ereignisse.864 Es war Trimborn, nach wie vor ein Vertreter des legalistischen Kurses in der Rheinstaatsfrage, der zunächst seine Einschätzung bekräftigte, dass von der rheinischen Bevölkerung die Loslösung von dem Gliedstaat Preußen, keineswegs aber die Sezession vom Reich gewollt sei. Diese Meinung sei besonders bei weiten Kreisen im ländlichen Gebiet anzutreffen.865 Der Resolutionsentwurf, den er der Versammlung unterbreitete, unterstrich den angenommenen Wunsch der Rheinländer, „für unsere engere Heimat jede Bewegungsfreiheit und Selbständigkeit, die mit der engen Zugehörigkeit zum Reich vereinbar ist“, zu erreichen.866 Trimborn forderte die Regierungen auf, Verständnis für eine der „historischen Bedeutung“ des Rheinlandes entsprechende Stellung im Reich zu zeigen.867 Er verwies jedoch ebenso auf den Beschluss der Nationalversammlung vom 13. März 1919, wonach die öffentliche Erörterung der Rheinstaatspläne „bis nach
862 Bischof spricht fälschlicherweise nur von Abgeordneten der „Deutschen Nationalversammlung“, vgl. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 84. Eine solche Zusammenkunft aber wäre inkomplett gewesen, da ja gerade in Rede stand, die Rheinprovinz aus Preußen herauszulösen und es sich somit ebenso und zuvörderst um eine preußische staatliche Angelegenheit handelte. Richtig wiedergegeben bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 114: „Weit über hundert rheinische, rheinhessische und pfälzische Abgeordnete der deutschen Nationalversammlung und der preußischen Landesversammlung aus allen Parteien […].“ In diesem Punkt begrifflich konfus schreibt Reimer von „Abgeordneten der National- bzw. der Preußischen Nationalversammlung“, Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 157. 863 Das Protokoll der Sitzung findet sich bei Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei, 1971, S. 407 – 410. 864 So auch Kuhl, Carl Trimborn, 1854 – 1921 (Fn. 191), S. 213. 865 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 259. 866 Wortlaut des Resolutionsentwurfs ebenfalls bei Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei (Fn. 863), S. 409. 867 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 259.
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Friedensschluss zurückgestellt“ werden sollte.868 Ähnlich äußerte sich der ebenfalls anwesende Reichsminister Bell.869 Trimborn stieß mit seinem Entwurf jedoch nicht auf einhellige Zustimmung, und selbst Zentrumsabgeordnete verwarfen den Plan der Abspaltung des Rheinlandes von Preußen. So schlug Heinrich Brauns vor, ausnahmslos jeden Versuch der Veränderung des „bisherigen staatlichen Zustands“ der Rheinprovinz zu verurteilen. Man konnte sich lediglich darauf verständigen, die Abtrennung linksrheinischer Gebiete vom Reich abzulehnen,870 was aber eher einem politischen „Einigungsritual“ gleichkam, denn diese Frage war seit jeher unter den Abgeordneten weder umstritten noch war sie tagespolitisch aktuell. In der schließlich einstimmig angenommenen Resolution hieß es: „Eine Abänderung des staatlichen Zustandes der Rheinlande, Rheinhessens und der Pfalz vor Abschluß des Friedens ist unter allen Umständen zu verurteilen. Der Bestand des Reiches muß über allem stehen und er wird gefährdet durch jede Lockerung seines Gefüges. Wer sich gutgläubig an solchen Plänen beteiligt, lädt schwere Verantwortung auf sich. Wer sie in Verbindung mit feindlichen Instanzen verfolgt, macht sich des Hochverrats schuldig.“871 Hervorgehoben wurde der Hinweis, „daß alle Bestrebungen, welche auf eine Lostrennung von linksrheinischen Landen vom preußischen Staate gerichtet sind, von jetzt ab bis zu einem bestätigten Frieden zu schweigen haben“. Immerhin vier Stunden dauerte die Besprechung, die letztlich zu der einstimmigen Entschließung geführt hat. Differenzierter zu betrachten ist allerdings die Feststellung Brüggemanns, es habe „vollkommene[] Uebereinstimmung [sic!] zwischen der Regierung und den Abgeordneten“ geherrscht, „indem der Gedanke einer Loslösung vom Reich als vollkommen indiskutabel von allen Seiten verworfen und erklärt wurde, daß vor der Verabschiedung der Verfassung und vor Friedensschluß auch an eine Aenderung [sic!] der staatsrechtlichen Verhältnisse in Preußen nicht gedacht werden könne.“872 In der Tat war die völkerrechtlich relevante Sezession des Rheinlands, Rheinhessens und der Pfalz vom Reich einmütig verworfen worden unter Beschwörung des „Bestand[s] des Reiches“ im Resolutionstext; dies aber war seit jeher unter den Parlamentariern unumstritten gewesen. Weniger eindeutig entschieden und deshalb etwas undurchsichtig blieb der Aspekt der Aufteilung Preußens durch Aufwertung der Rheinprovinz zu einem eigenständigen Gliedstaat.
868
Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei (Fn. 863), S. 408. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. 870 Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei (Fn. 863), S. 410. 871 Resolutionstext abgedruckt bei Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei (Fn. 863), S. 410. 872 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 115. 869
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Zwar könnte dies unter die Formulierung „Lockerung seines [des Reichs, P.B.] Gefüges“, was als Gefährdung der Reichseinheit verstanden wurde, subsumiert werden. Einerseits ist diese Annahme aber mitnichten so alternativlos, wie Brüggemann behauptet, und andererseits ist in der Entschließung keine Rede von der Verabschiedung der Reichsverfassung, sondern lediglich von dem Abschluss des Friedensvertrages. Es dürfte in der Sache richtig sein – so ja gerade der legalistische Kurs –, dass die Frage einer etwaigen Neugliederung des Reichsgebiets eine Frage der Verfassungsdiskussion sein musste. Die vermeintlich „vollkommene[] Uebereinstimmung“ der Parlamentarier in allen Punkten, die Brüggemann behauptet, ist aber zu relativieren, jedenfalls was die Angelegenheit Preußen betrifft. Man kam zeitlich begrenzt überein darin, bis zum Friedensvertrag „die Füße still zu halten“, man wollte es sich aber, zumal als rheinischer Abgeordneter, nicht nehmen lassen, „an eine Aenderung der staatsrechtlichen Verhältnisse in Preußen“ denken zu dürfen. Mit der Terminierung der Frage nach dem Abschluss des Friedensvertrags blieb die Versammlung auf der Linie der Nationalversammlung und des Trimborn-Entwurfs. Die Handschrift der Reichsregierung wird vor allem in der Betonung der absoluten Priorität des staatsrechtlichen Status quo und darin deutlich, dass erneut der Hochverrats-Vorwurf erhoben wurde. Letzteres erfolgte allerdings nunmehr in differenzierender Art und Weise, also nicht mehr in der ursprünglichen harschen Pauschalität der Regierungserklärung vom 28. Mai 1919. Denn erstmals offiziell zur Kenntnis genommen und damit faktisch „neu eingeführt“ in die Rheinstaatsdiskussion wurde die Gruppe der „Gutgläubigen“, die von der Idee eines selbständigen Rheinlandes überzeugt waren und sich zwar nicht als Rädelsführer, aber als Gehilfen, Anhänger oder Mitläufer an den (Putsch-)Plänen beteiligt hatten. Sie wies man darauf hin, dass zwar juristische Konsequenzen eher nicht zu befürchten seien, die Gutgläubigen jedoch „schwere Verantwortung“ auf sich lüden – was auch immer das im Einzelnen bedeuten mochte. Gemeint sein konnte nur eine politische oder moralisch-soziale Verantwortung. Jedoch sollte diese Drohung ebenso vor einer Beteiligung und Unterstützung des aktionistischen Flügels der Rheinstaatsbewegung abschrecken wie der Hinweis auf den Straftatbestand des Hochverrats. Dabei ließ man beides – wohl bewusst – im Unklaren: Sowohl, was genau mit der Formulierung „an solchen Plänen beteiligt“ gemeint, als auch, was als Konsequenz zu erwarten war. Es wird ferner nicht deutlich, warum einerseits von den gesamten Rheinlanden, Rheinhessen und der Pfalz die Rede ist, dann aber lediglich von der Lostrennung linksrheinischer Gebiete von Preußen. Man bediente sich hier einer vagen Argumentation, um einen Gegner zu bekämpfen, der mindestens ebenso nebulös geblieben war. Die Resolution ist mithin ein aussagekräftiges Zeitdokument für die insgesamt verworrene und unübersichtliche Situation. Die Reichsregierung hatte dabei an mehreren Fronten zu kämpfen: Außenpolitisch rang man um die Bedingungen des Friedensvertrags und musste gleichzeitig die im Westen des Reiches „zündelnden“ französischen Offiziere stoppen. Innenpoli-
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tisch tobte ungebrochen die Schlacht mit den Gliedstaaten und insbesondere mit Preußen um die territoriale Neuordnung, und daneben waren die Rheinstaatsbestrebungen gänzlich unübersichtlich und vielschichtig geworden. In bemerkenswerter Weise gerät ferner erneut die Person Adenauers in den Fokus des Interesses. Mit Recht bemerkt Erdmann, dies bestätigten Adenauers Ausführungen vom 30. Mai 1919 zu seiner schwierigen persönlichen Lage, in der er sich zahlreichen Verdächtigungen ausgesetzt sehe.873 Als einer der reichsweit prominentesten rheinischen Persönlichkeiten wurde Adenauer jede Nähe zur Rheinstaatsidee und jede Sympathiebezeugung gleich als erster Schritt in Richtung Hochverrat ausgelegt – ein Umstand, an dem die Reichsregierung mit ihren martialischen Drohungen und Warnungen nicht ganz unschuldig war. Ihr dürfte es ganz gelegen gekommen sein, einen beliebten katholischen und antisozialistischen Politiker derart kompromittieren zu können. Insofern war die Rheinstaatsdebatte auch eine Möglichkeit zur Machtstabilisierung und zum Machtausbau der Regierung, denn die liberalen und sozialdemokratischen Wähler wurden noch enger an die Weimarer Koalition gebunden, aber auch die katholischen, nicht-rheinischen Zentrumswähler, die die Loslösungsbewegung kritisch sahen, goutierten das entschlossene Vorgehen der Regierung gegen die „Sonderbündler“ im Westen. Mehrere Politiker des Rheinlandes, so etwa Falk, Stegerwald und Wilhelm Busch (Zentrum) gaben indes nachdrückliche Ehrenerklärungen zu Adenauers Gunsten ab, wonach er mit Dorten „nichts zu tun gehabt habe“ (Falk) und „Preußen und dem Reich gegenüber vollkommen korrekt verfahren“ sei (Busch).874 Anknüpfend an die Ausschusssitzung vom Vortag wurde ferner beschlossen, „daß Sachverständige aus dem Rheinlande und den anderen bedrohten Gebieten von der Delegation in Versailles gehört werden“ sollten.875 Man kann jedoch nicht ohne weiteres mit Erdmann folgern, dass die Unterredung am 31. Mai 1919 „ein Erfolg für die taktischen Bestrebungen Adenauers“ gewesen sei.876 Er hatte zwar bereits am 30. Mai 1919 gefordert, die Reichsregierung solle prüfen, ob vor allem mit den Franzosen weitere Verhandlungen möglich seien. Dies ergab aber höchstens mittelbare Folgen für die Frage, ob Vertreter des Rheinlandes nach Versailles zu entsenden seien. Entscheidender war demgegenüber der Beschluss des (gesamten) Westdeutschen Politischen Ausschusses, man möge künftig rheinische Abgeordnete bei Verhandlungen mit der Entente hinzuziehen.877 Erst dieser Wunsch wird Eindruck auf die Reichsregierung gemacht haben. Es war eben nicht nur Adenauer, der,
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Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. Hierzu Näheres bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. 875 Erdmann/Booms, Akten der Reichskanzlei (Fn. 863), S. 410. 876 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 59. 877 Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 279. 874
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wie neben Erdmann auch Reimer bemerkt, dieses „wiederholt gefordert hatte“878, sondern es war der gemeinsame Wunsch aller rheinischen Parlamentarier. Unter „hinzuziehen“ konnte natürlich nicht verstanden werden, dass die Rheinländer in Versailles unmittelbar mit den Siegermächten verhandelten, sondern dass sie von der deutschen Friedensdelegation angehört und zu Rate gezogen würden in den Angelegenheiten betreffend das Rheinland. Morsey schreibt, Sachverständige aus den besetzten Gebieten sollten die Friedensdelegation über die Lage im Rheinland laufend informieren und weist damit eher auf eine untergeordnete, zuarbeitende Funktion der Rheinländer denn auf eine Beratung auf Augenhöhe hin.879 Die Versammlung war von Vornherein auf die einstimmige Verabschiedung einer Entschließung in der Rheinlandfrage gerichtet gewesen.880 Durch die Herstellung von Einigkeit unter den Abgeordneten der betroffenen Gebiete und der Reichsregierung sollten die parlamentarischen Rheinstaatsbefürworter, die zweifelsohne noch vorhanden waren, etwa Trimborn, Kaas und Schmittmann, praktisch „eingefangen“ werden, indem man sich auf eine einmütige Stellungnahme verständigte.
XXII. Die Proklamation der Rheinischen Republik in Wiesbaden vom 1. Juni 1919 Die Aktivisten um Dorten und Salm ließen sich nicht lange bitten, als letztes Aufgebot und zugleich „harter Kern“ der Rheinstaatsbewegung loszuschlagen. Am Sonntag, den 1. Juni 1919, kam es in Wiesbaden zu der bereits erwarteten Aktion, die Brüggemann als „Satyrspiel, eine Harlekinade, mit der die rheinische Tragödie ad absurdum geführt werden sollte“881 beschreibt und Huber schlichtweg als „Putschversuch“.882 Dabei stellten sowohl der Ort als auch der Zeitpunkt einen Kompromiss dar, der zwischen den Aktionisten und der französischen Besatzung um General Mangin konspirativ ausgehandelt worden war. Zwar konnte in dem Gespräch vom 17. Mai 1919 keine abschließende Einigung erzielt werden, doch bereits zwei Tage später verständigten sich Dorten und Mangin auf ein neues politisches Programm, dessen genauer Inhalt aber nicht überliefert ist. Als Detail lediglich interessant ist der spätere Hinweis Mangins in seinen „Lettres de Rhénanie“, dass es erneut, zumindest formal, um eine selbständige Rheinische Republik im Verband des Deutschen
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Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 158. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S 259 f. So auch Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 259. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 115. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 293.
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Reiches gegangen sein muss, die also nicht völkerrechtlich unabhängig angelegt war: „Mais il s’agit toujours de la République autonome et non indépendante.“883 Es war ursprünglich geplant, auf der Grundlage dieses Programms bereits am 24. Mai 1919 in Koblenz in der amerikanischen Besatzungszone die Republik auszurufen.884 Die Proklamation scheiterte indes schon im Vorfeld an der strikt ablehnenden Haltung des Generals Hunter Liggett von der Dritten Armee des USamerikanischen Besatzungsheeres, der seinem „Kollegen“ Mangin klar machte, dass die Amerikaner jedwede gewaltsame Veränderung der staatsrechtlichen deutschen Verhältnisse ablehnten. Überdies verwies Liggett sämtliche bekannten rheinischen Agitatoren des amerikanischen Sektors. Dies geschah auch aufgrund des zunehmenden Drucks und Widerstands von Teilen der Bevölkerung gegen die Protagonisten, beispielsweise durch die organisierte Arbeiterschaft in Köln, die am 27. Mai 1919 als Reaktion auf die Koblenzer Putschgerüchte in den Generalstreik trat. Dieses Agitationsverbot im amerikanischen Sektor war der „Times“ vom 30. Mai 1919 eine Schlagzeile wert,885 was zeigt, dass das Thema „Rheinstaat“ für die Amerikaner politisch sensibel war und eine gewisse Relevanz besaß. Nachdem neben dem amerikanischen Sektor auch der britische für die Rheinstaatsaktivisten, die sich mittlerweile unverhohlen zu Putschisten gewandelt hatten, zur Tabuzone geworden war, setzte Dorten den Tag der Proklamation auf einen Donnerstag, den 29. Mai 1919, in Aachen fest.886 Er weihte Mangin am 26. Mai in die Pläne ein und einen Tag später fand in Bonn das Treffen Dortens mit Salm, Froberger und Kuckhoff statt, wo er die bereits erläuterte Proklamationserklärung vorlegte, die Mangin zuvor genehmigt hatte. An diesem Datum kam es endgültig zum Bruch zwischen Dorten und den besagten Rheinstaatsbefürwortern, so dass Kuckhoff in seiner Niederschrift festhielt, dass Dorten „unbelehrbar“ gewesen sei und die Anwesenden mit seiner Ankündigung „aufs äußerste [sic!] erschreckt“ habe.887 Am Vortag der geplanten Ausrufung der Rheinischen Republik notierte Mangin noch zuversichtlich: „C’est pour demain. J’ai approuvé la proclamation au peuple rhénan, qui est un grand progrès sur le premier projet. […] L’affaire se présente de mieux en mieux. […] En somme, les affaires me paraissent trop engagées pour qu’on puisse penser à un recul.“888 Zunehmend irrig schätzte Mangin die politische und gesellschaftliche Situation im Rheinland ein und es zeigt sich gleichzeitig, wie sehr er mit den Putschisten im Bündnis stand. So gibt er freimütig zu, die Proklamation an das rheinische Volk 883
Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 518. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 81. 885 Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 16. 886 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 83. 887 Niederschrift Kuckhoffs vom 27. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 287 f. 888 Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 518. 884
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genehmigt („approuvé“) zu haben. Trotz des einschüchternden Ultimatums der Reichsregierung nahm Mangin an, die ganze Angelegenheit entwickle sich „besser und besser“. Dabei sollte es nicht zuletzt die Drohung der Reichregierung gewesen sein, die entscheidend zum Scheitern der Aachener Aktion beigetragen hatte.889 Einen Tag später musste Mangin sich plötzlich eingestehen, dass man schlichtweg Pech gehabt und 48 Stunden zu spät losgeschlagen habe.890 Am Ende unterblieb auch die Aachener Proklamation, weil sich erneut die Besatzungsmächte querstellten. In Aachen war es der belgische General Edouard Michel, der den Putschenden erklärte, er habe Weisungen aus Brüssel erhalten, wonach die Staatsgründung von den Belgiern nicht unterstützt werden sollte.891 Als Dorten klar geworden war, dass das Vorhaben nur Unterstützung oder jedenfalls wohlwollende Sympathie seitens Frankreichs erfahren würde, wählte er als Ort der Ausrufung seine Heimatstadt Wiesbaden im französischen Sektor und terminierte die Proklamation auf den 1. Juni 1919. Dort meinte er, nicht zu Unrecht, unter dem Schutz Mangins zu stehen. Der General schrieb dazu selbst: „Il fixe le gouvernement provisoire à Wiesbaden, certain d’y être protégé.“892 Tatsächlich hatte Mangin am 30. Mai 1919 über General Fayolle ein chiffriertes Telegramm von Marschall Foch persönlich erhalten, das Weisungen für den Umgang der französischen Besatzer mit der Situation in Wiesbaden enthielt. Hiernach sollte man sich zwar nicht offiziell in die Fragen der Innenpolitik einmischen, man wollte die rheinische Bevölkerung aber nicht daran hindern, durch Plakate oder andere Mittel ihre politischen Forderungen kundzutun. Ferner sollten die alliierten Militärbehörden alle preußischen und bayerischen Beamten und Offizielle in gehobener Position warnen, die „politische Freiheit“ der Bevölkerung nicht zu unterdrücken.893 Zusammengefasst bedeutete dies, man hatte vorgesehen, die Putschisten gewähren lassen und ging überdies davon aus, dass sich die Wiesbadener Einwohner spontan mit ihnen solidarisieren und die Staatsgründung legitimationsstiftend mittragen würden. Darüber hinaus verabredete man, gegen einschreitende deutsche – vor allem preußische – Ordnungsbehörden vorzugehen. Doch damit nicht genug, denn am nächsten Morgen ging bei Mangin ein zweites Telegramm ein, dieses Mal direkt von Foch. Dieses enthielt den Befehl, die Veröffentlichung und Verbreitung der strafrechtlichen Warnung, die die Reichsregierung am 28. Mai 1919 ausgesprochen hatte, zu untersagen. Als Grund für dieses Publikations- und Verbreitungsverbot nannte Foch eine Bedrohung der öffentlichen
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Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 84. Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 518: „[…] mais vraiment nous jouons de malheur. Nous sommes partis quarante-huit heures trop tard.“ 891 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 84. 892 Mangin, Lettres de la Rhénanie, in: Revue de Paris 43 (1936), S. 519. 893 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 85. 890
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Ordnung: „Vous suspendrez (impératif) cette publication comme étant de nature à menacer l’ordre publique.“894 Für die französischen Militärs erschien die öffentliche Ordnung im besetzten Gebiet demnach eher durch das bisher rein rhetorische Ultimatum der Regierung gefährdet als durch die Putschvorhaben eines kleinen Zirkels von Rheinstaatsaktivisten. Dass eine derartige Einschätzung von Marschall Foch zumindest geteilt worden ist, verdeutlicht die zunehmend aktivere Rolle Frankreichs in der Rheinstaatsfrage und hatte mit der sich selbst theoretisch auferlegten innenpolitischen Neutralität wenig zu tun. Gut rekonstruiert findet sich der genaue Verlauf des Proklamationsversuchs Dortens vom 1. Juni 1919 bei Bischof, der eine Übersicht über die Ereignisse des preußischen Innenministeriums vom 15. Juni 1919 zugrunde legt, die gemäß amtlichen Materials zusammengestellt worden ist.895 Am Sonntagmorgen, dem 1. Juni 1919, wurden Plakate mit der Überschrift „An das rheinische Volk“ in Wiesbaden, Aachen, Mainz und Speyer vielerorts angeschlagen, wobei die französischen Militärbehörden etwa den Wiesbadener Polizeidirektor bereits am Samstagabend angewiesen hatten, diese Plakatierungen zu tolerieren und sogar zu beschützen. Reimer behauptet – allerdings ohne nähere Nachweise –, die Plakate seien von der Bevölkerung meist gleich wieder abgerissen oder übermalt worden.896 Auf diesen Maueranschlägen stand zu lesen: „Es wird eine selbständige Rheinische Republik im Verbande des deutsches Reiches als Friedensrepublik errichtet, die das Rheinland, Alt-Nassau, Rheinhessen und die Rheinpfalz umfaßt [sic!]. […] Die vorläufige Regierung wird durch Delegierte der unterzeichneten Ausschüsse ausgeübt. Die Erlaubnis zur unverzüglichen Vornahme der Wahlen zur Rheinischen Landesversammlung auf der Grundlage des Wahlrechts zur Deutschen Nationalversammlung und deren alsbaldige Einberufung wird sofort nachgesucht werden […]. Als Ort für den Sitz der Regierung und den Zusammentritt der Landesversammlung gilt Koblenz. Die vorläufige Regierung hat ihren Sitz einstweilen in Wiesbaden […]. An Stelle der Preußischen, Bayerischen und Hessischen Zentralregierung tritt die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik.“897 Unterzeichnet war der Aufruf von dem „Rheinischen Arbeitsausschuß“, dem „vereinigte[n] Nassauisch-Rheinhessische[n] Arbeitsausschuß“ und dem „Pfälzische[n] Arbeitsausschuß“. Anders als noch in vorangegangenen Planungen war nun nicht mehr die Rede von Territorien wie Westfalen, Oldenburg und Hannover als Bestandteile des künftigen westdeutschen Staates. 894
Zitiert nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 85. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 85 ff. 896 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 158. 897 Abgedruckt bei Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 45 sowie bei Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 752, Dokument Nr. 7. 895
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Was die unterzeichnenden Arbeitsausschüsse betrifft, vermutet Brüggemann nicht zu Unrecht, dass es sich bei dem „Rheinischen Arbeitsausschuß“ im Wesentlichen um den Aachener Zirkel gehandelt haben dürfte.898 Maßgebende Persönlichkeiten aus Aachen wurden als kommende Minister der Rheinischen Republik gehandelt, wie etwa Mönikes (Innenminister), Salm (Landwirtschaft) und Dahlen (Verkehr).899 Gegen 15 Uhr sprach ein Mitstreiter Dortens, Klingelschmitt, in Begleitung von zwei französischen Offizieren bei dem Landeshauptmann August Krekel in Wiesbaden vor und verlangte die Besichtigung des Landeshauses, d. h. des Kommunallandtages, auf seine Eignung als Sitz für die vorläufige Regierung. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Präsenz von Besatzungsmilitärs kooperierte Krekel nach anfänglicher Weigerung. Indessen lehnten führende Parteipolitiker Wiesbadens in einem Gespräch mit dem französischen Bezirksverwalter Oberst Pineau unisono die Republikgründung ab und bezeichneten Dorten als Hochverräter und politischen Abenteurer. Wortführer war der Vorsitzende der DNVP-Ortsgruppe Wiesbaden und Amtsgerichtsrat Freiherr von Stein. Dieser geriet mit Pineau in eine heftige Auseinandersetzung, in der dieser schließlich erklärte, falls sich die Wiesbadener Bevölkerung der Proklamation nicht ohne Gegenwehr füge, würden die Franzosen sie durch Hunger dazu zwingen. Daraufhin schleuderte ihm von Stein die Worte „Das nennen Sie Zivilisation!“ entgegen und wurde wegen dieser „Beleidigung“ kurzzeitig inhaftiert.900 Am Montag, dem 2. Juni 1919, kam es zum Generalstreik in sämtlichen Fabriken und bei den Straßenbahnen in Wiesbaden und alle Läden und Geschäfte blieben geschlossen. Man wird annehmen können, dass die Bevölkerung Wiesbadens weit überwiegend gegen die Proklamation einiger weniger eingestellt war, wie zahlreiche Protesterklärungen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden heute noch belegen. Es finden sich ablehnende Erklärungen von den Vorständen der Fraktionen in der Stadtverordnetenversammlung, des Wiesbadener Beamtenbundes, des Wiesbadener Stadtbundes für Frauenbestrebungen (immerhin 26 Vereine!), der Lehrkörper von 17 Schulen, des Nassauischen Landes-Bauernausschusses, der Landwirtschaftskammer für den Regierungsbezirk Wiesbaden, des Evangelischen Konsistoriums Wiesbaden und einiger mehr. Selbst wenn man mit Bischof annehmen wollte, unter den Bewohnern von Wiesbaden und Mainz habe es auch einige „überzeugte Anhänger“ einer Rheinischen Republik als Freistaat im Deutschen Reich gegeben901, so ist der Proklamationsversuch in erster Linie deshalb auf breite Ablehnung gestoßen, weil er sichtbar durch die französischen Militärs protegiert worden ist und dem
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Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 116. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 112. 900 Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 264. 901 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 89. 899
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ganzen Unterfangen allein deshalb bereits der Geruch des Sonderbündlerischen und Landesverrats anhaftete. General Mangin hat denn auch die Proteststreiks durch eine Aufruf an die Bevölkerung prompt untersagt, welcher lautete: „Die Beförderer, der Rheinischen Republik, die eine sehr große Stimmenmehrheit in der Bevölkerung für sich haben, diskutieren seit einem halben Jahre über die Interessen ihres Vaterlandes, ohne dabei die allgemeine Ordnung zu stören. […] Nichts aus ihren Erklärungen kann zum Vorwande für Kundgebungen dienen, die die allgemeine Ordnung und das wirtschaftliche Leben stören, und die ich nicht dulden kann. Die Führer entgegengesetzter Kundgebungen werden aus dem besetzten Gebiete ausgewiesen.“902 Um dem primären rechtlichen Auftrag der Besatzungskräfte, nämlich der Wahrung der öffentlichen Ordnung, zu genügen, gleichzeitig aber auch den Anweisungen Fochs Folge leisten zu können, ist es nicht verwunderlich, dass Mangin das Argument der „allgemeinen Ordnung“ bemüht, um die Reaktion auf den Putschversuch kleinhalten zu können. Dass sich die Besatzungsbehörden als Schutzmacht der aktionistischen Rheinstaatsanhänger anboten, provozierte nachvollziehbar die Frage, warum man sich derart in die innerdeutsche Politik einmischte und welche nationalen Interessen Frankreich an dem rheinischen Gliedstaat wohl haben möge. Es ist nicht sicher feststellbar, ob Mangin einen überwiegenden Zuspruch der Bevölkerung wider bessere Einsicht aber aus taktischen Erwägungen heraus schlichtweg behauptete oder ob der General von den Rheinstaatsbefürwortern Anfang Mai über die politische Stimmung getäuscht worden war.903 Zwar überrascht an vielen Daten die Uninformiertheit und Ignoranz Mangins, dass dieser sich aber in diesem Ausmaß auf die wenig repräsentativen Einschätzungen von ein paar politischen Hasardeuren verlassen haben soll, erscheint wenig wahrscheinlich. Vielmehr wird er sich und der Rheinstaatsbewegung einen mehrheitsfähigen und mithin demokratischen Anstrich gegeben haben, um den Eindruck einer avantgardistischen Volksbewegung erwecken zu können. Trotz des „Gegenwinds“ erschien der Aachener Dahlen im Auftrag von Pineau und in Begleitung eines französischen Hauptmanns am Nachmittag im Landeshaus. Er forderte, die Räumlichkeiten sollten der vorläufigen Landesregierung der Rheinischen Republik zur Verfügung gestellt werden und man drohte dem Landeshauptmann im Falle des Widerstands die sofortige Ausweisung aus dem besetzten Gebiet an. Daraufhin legte auch der konservative Regierungspräsident Karl Wilhelm von Meister sein Amt nieder, ohne aber die neue Regierung formal anzuerkennen. Später erschien Dorten in einem französischen Militärauto und erneut begleitet von Franzosen und nahm von den Räumlichkeiten Besitz. Ferner übersandte er Telegramme an Ministerpräsident Scheidemann sowie Reichspräsident Ebert und die 902
Zitiert nach Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 89. So vermuten Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 89 und Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 18. 903
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Friedenskonferenz in Versailles, in denen er mitteilte, man habe die Rheinische Republik ausgerufen und die Besatzungsmächte um Erlaubnis zur sofortigen Vornahme von Wahlen zur Rheinischen Landesversammlung und zur Zulassung von Vertretern der provisorischen Regierung zur Friedenskonferenz gebeten.904 Mit Recht bemerkt Bischof, dass Dorten nun endgültig manifestiert hatte, er werde die Rheinische Republik mit Hilfe der Siegermächte gründen, gegen den entgegenstehenden Willen der preußischen wie der Reichsregierung.905 Es musste den Putschisten jedoch klar geworden sein, dass ihre Bewegung auch die US-Amerikaner und Briten gegen sich hatte und dass Friedensverhandlungen nur mit dem Reich als Ganzem geführt werden würden, nicht aber mit der Delegation eines einzelnen, neu gegründeten Gliedstaates. Vollumfänglich verließ man sich auf die französischen Besatzer, die sich mit ihrer Unterstützung der rheinischen Bewegung jedoch im Kreise der Entente isoliert hatten. Es ist bemerkenswert, dass Dorten am 1. Juni 1919 mit keinem Wort mehr gegenüber den Franzosen die noch im Gespräch mit Mangin am 17. Mai außerordentlich betonten Erleichterungen der Friedensbedingungen für das Deutsche Reich erwähnte. Offenbar hatten die Putschisten diese „Vorbedingung“ zur Errichtung der Rheinischen Republik fallen gelassen und man versuchte nunmehr, den Freistaat mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht „um jeden Preis“906 zu gründen. Ihr schnelles Ende fand die versuchte Staatsgründung am Nachmittag des 4. Juni 1919. Morgens war die vorläufige Regierung907 vom Landeshaus in das Wiesbadener Regierungsgebäude gezogen und Dorten hatte das Dienstzimmer des abwesenden Regierungspräsidenten belegt. Gegen 17 Uhr kam der telefonisch herbeigerufene Oberregierungsrat und Stellvertreter des Regierungspräsidenten Gustav Springorum hinzu, der das Eindringen in das Gebäude als „unerhörte Frechheit“ ansah. Dorten erwiderte herrisch: „Schweigen Sie still und gehorchen Sie, machen Sie sich nicht unmöglich, in zwei Tagen sind Sie geliefert. Wir haben jetzt hier zu befehlen. […] Wir sind aus dem Willen des Volkes heraus hier. Wir haben dieselbe Berechtigung wie die Regierung, die am 9. November v.J. [sic!] ans Ruder gekommen ist.“908 Spingorum blieb indes hartnäckig abwehrend und befahl den Putschisten, das Haus zu verlassen; anderenfalls werde man vom Hausrecht Gebrauch machen. Es kam tatsächlich zu einem kurzzeitigen Gerangel zwischen Dorten und dem Stell904 Abgedruckt bei Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 46 f. 905 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 87. 906 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 92. 907 Diese bestand aus den hinlänglich bekannten Rheinstaatsaktivisten Dorten (Präsidium und Äußeres), Liebing (Finanzen), Eckermann (Justiz), Salm (Landwirtschaft), Klaus Kraemer (Kultur), Adolf Krämer (Volkswohlfahrt), Mönikes (Inneres) und Klingelschmitt (Kunst und Wissenschaft). 908 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 87.
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vertreter des Regierungspräsidenten.909 Man rief Oberst Pineau zur Klärung herbei und als Springorum ihn offen fragte, ob er den Befehl gegeben habe, Dorten solle das Regierungsgebäude besetzen und man solle ihn dabei gewähren lassen, antwortete der Franzose ausweichend, dass die Besatzungskräfte sich lediglich um Ruhe und Ordnung auf der Straßen zu kümmern hätten, man verbleibe ansonsten neutral. Daraufhin erwiderte Springorum, es sei mithin seine ureigene Aufgabe, für Ordnung im Regierungssitz zu sorgen. Kurzerhand ließ der stellvertretende Regierungspräsident eine spontane Schutzmannschaft, in erster Linie bestehend aus den Hausmeistern und herbeigeeilten Arbeitern, rufen, die die anwesenden Mitglieder der vorläufigen Regierung als Hausfriedensbrecher buchstäblich aus dem Gebäude prügelten. Die „vorläufigen Minister“ Klingelschmitt und Eckermann mussten sogar im Krankenhaus behandelt werden.910 Offenbar fühlte sich Oberst Pineau nicht zuständig; jedenfalls schritt er gegen dieses gleichermaßen selbstbewusste wie rüde Vorgehen nicht ein. Es war wohl dem energischen Vorgehen Springorums zuzurechnen, dass die Franzosen in letzter Konsequenz doch nicht als Schutzmacht der Dorten-Gruppe auftraten. Nicht zuletzt als sich diese Episode in der Bevölkerung herumgesprochen hatte, galten Dorten und seine vorläufige Regierung als hochverräterische Minderheit, die sich zu alledem der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Die „Frankfurter Zeitung“ vom 4. Juni 1919 berichtete etwa, schon einen Tag vorher habe es, nachdem der selbsternannte Präsident der neuen Republik zu einem Termin mit Journalisten nicht erschienen war, überall auf den Straßen Wiesbadens geheißen: „Dorten ist nicht mehr dorten!“ In der Kölnischen Zeitung vom 16. Juni 1919911 wurde Hans Adam Dorten spöttisch „Präsident Addi“ genannt. Leider ohne nähere Belege stellt Erdmann mit Blick auf den Dorten-Zirkel kurz und bündig fest: „Sie galten in der Pfalz nicht weniger als an Mittel- und Niederrhein als Verräter.“912 Meinhardt weist darauf hin, dass der Wiesbadener Putsch insbesondere daran gescheitert war, dass Dorten und der vorläufigen Regierung kein exekutiver Unterbau und keine militärischen Machtmittel zur Verfügung standen. Man hatte sich als kleine Gruppierung auf die französischen Besatzungskräfte verlassen, die schließlich indes ihrerseits kopf- und ratlos wirkten. Spontan herbeigeeilte Wiesbadener protestierten lautstark gegen die „vorläufige Regierung“,913 was auch einen Eindruck auf die französischen Militärs gemacht haben dürfte. 909
Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 269. 910 Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 17. 911 Kölnische Zeitung Nr. 496 v. 16. Juni 1919. 912 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 27. 913 Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 270.
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Wäre allerdings eine Unterstützung durch die Franzosen erfolgt, so hätte eine „gefährliche Situation“ entstehen können, da das Reich keine Reichswehrtruppen in das besetzte Gebiet hätte entsenden dürfen und auch eine Verstärkung der lokalen Schutzpolizei nicht möglich gewesen wäre.914 Am 4. Juni 1919 wurde das Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Hochverrats gemäß §§ 81, 82 StGB915 beim Reichsgericht in Leipzig eingeleitet. Angestoßen worden war es durch die Reichsregierung, die bereits am 2. Juni 1919 diesen Schritt angekündigt hatte.916 Der Oberreichsanwalt warf Dorten vor, „es im Mai und Juni 1919 in Wiesbaden und andern [sic!] Orten des zur Zeit von den Ententemächten besetzten deutschen Gebiets unternommen zu haben, einen Teil des Bundesgebiets vom Ganzen loszureissen, indem er aus preußischen, bayerischen und hessischen Gebietsteilen eine Rheinische Republik gründete und diese dem Schutze der Ententemächte unterstellte, Verbrechen gegen §§ 81 Nr. 3, 82 StGB“.917 In seiner erst spät, nämlich im Herbst 1920918 eingereichten Rechtfertigungsschrift919 an den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts versuchte der ehemalige Staatsanwalt Dorten sein Proklamationsvorhaben vor allem mit zwei wesentlichen Erwägungen vor dem Vorwurf des Hochverrats gegen den Bund bzw. gegen das Land Preußen zu rechtfertigen. Zum Verratsverdacht bemerkte er zunächst, dass das von § 81 StGB geforderte Tatbestandsmerkmal der Gewaltanwendung zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe: „Rein tatsächlich habe ich mich auf das peinlichste [sic!] gehütet, irgendwelche Gewalt überhaupt anzuwenden.“ Das zweite Argument Dortens ist staatsrechtlich bemerkenswert: Er berief sich darauf, dass es im Mai/Juni 1919 weder eine Reichsverfassung noch eine preußische Verfassung gegeben habe, der man untreu habe werden können oder gegen die man habe verstoßen können. Dies ist die zentrale Frage nach der Fortgeltung der Bundes914
Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 18. Der § 81 Nr. 3 und 4 StGB definierte den Straftatbestand des Hochverrats wie folgt: „Wer […] es unternimmt, […] das Bundesgebiet ganz oder theilweise einem fremden Staate gewaltsam einzuverleiben oder einen Theil desselben vom Ganzen loszureißen [Nr. 3], oder das Gebiet eines Bundesstaats ganz oder theilweise einem anderen Bundesstaate gewaltsam einzuverleiben oder einen Theil desselben vom Ganzen loszureißen [Nr. 4], wird wegen Hochverraths mit lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher Festungshaft bestraft.“ Hervorhebung durch Verf. Daneben bestimmte § 82 StGB eine Art „vorgezogene Vollendungsstrafbarkeit“ für den Versuch: „Als ein Unternehmen, durch welches das Verbrechen des Hochverraths vollendet wird, ist jede Handlung anzusehen, durch welche das Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden soll.“ 916 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 121. 917 Originalbrief des Oberreichsanwalts an den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts, Reichsgerichtsrat Dr. Schmidt in Leipzig v. 4. Juni 1919, in: BArch Berlin R 3003/574. 918 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 162. 919 BArch Berlin, R 3003/574. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 915
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wie der Landesverfassung nach den Ereignissen ab November 1918, die aber in dieser Arbeit nicht weiter behandelt werden soll.920 An dieser Stelle seien lediglich die Annahmen Dortens wiedergegeben. Er meinte, seit der Novemberrevolution einen „Schwebezustand“ ausgemacht zu haben zwischen „der gewaltsam beseitigten alten und der noch nicht gegebenen neuen Verfassung“. Es sei „jedermann unbenommen geblieben, seinerseits zu versuchen, das Schicksal Deutschlands in gesunde Bahnen zu lenken (gesundere [sic!] als die der Herren Volksbeauftragten)!“ Und kurzum: „Meine subjektive Auffassung war jedenfalls die, dass die deutsche Verfassung vollkommen beseitigt war.“ Der souveräne pouvoir constituant sei alleinig berufen gewesen, diesen Zustand der staatsrechtlichen Schwebe durch eine Volksabstimmung zu beenden und er habe lediglich die Vorbereitungen hierfür treffen wollen. Mit Blick auf die Definition des Hochverrats in § 81 StGB erfüllten sowohl separatistische (Nr. 3) als auch „föderalistische“ (Nr. 4) Bestrebungen den Tatbestand, so dass im Falle der Tatbestandsverwirklichung noch nichts darüber ausgesagt war, ob eine Bewegung schon separatistisch oder „lediglich“ föderalistisch agierte. In diesem Sinne gab Dorten später im Frühjahr 1920 in bemerkenswerter Offenheit selbst zu, juristisch ein Hochverräter gewesen zu sein, doch er rechtfertigte seinen Hochverrat mit dem seiner Meinung nach vorangegangenen schlimmeren „Hochverrat“ der Revolutionäre im November 1918.921 Der Oberreichsanwalt, der sich auf die tatbestandliche Alternative des §§ 81 Nr. 3, 82 StGB stützte, wertete den Wiesbadener Putsch und die ihm vorangegangenen Konspirationen als (vollendeten) separatistischen Hochverrat, was indes vor den dargestellten Plänen der Gruppe um Dorten und mit Blick auf die vorherigen Absprachen mit Mangin mehr als zweifelhaft erscheint. Zu keinem Zeitpunkt sollte die Rheinische Republik losgelöst vom Reichsverband existieren; dies hatten die Putschisten ja gerade gegenüber Mangins weitergehenden Pufferstaatsabsichten durchgesetzt. Für die Bejahung des Tatbestands des § 81 Nr. 3 StGB war jedoch gefordert, dass vorsätzliches Ziel die „Begründung eines Sonderstaats“ sein musste.922 Einschlägig dürfte vielmehr die Tatbestandsalternative des § 81 Nr. 4 StGB gewesen sein, denn der zu bildender Rheinstaat sollte ja verschiedene Landesteile anderer bestehender Gliedstaaten in sich vereinen. Genauer gesagt, konnte es im Falle der Rheinischen Republik nur um § 81 Nr. 4 Alternative 2 StGB gehen: „[…] oder einen Teil desselben vom Ganzen [Freistaat Preußen und gegebenenfalls weitere Länder, P.B.] loszureißen, […]“.
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Hierzu etwa Lamp‘l, Das Recht der deutschen Revolution, 1921. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 120 und 140, Fn. 569. 922 Ebermayer/Eichelbaum/Lobe/Rosenberg, Das Reichs-Strafgesetzbuch, Kommentar, 1920, § 81 Ziffer 6. 921
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Problematisch erscheint in der Tat das Tatbestandsmerkmal „gewaltsam“, vorgegeben in der ersten Alternative des § 81 Nr. 4 StGB, bzw. „loszureißen“. Auch das Tatbestandsmerkmal des Losreißens impliziert begrifflich eine gewisse Gewaltanwendung und meint mehr als lediglich eine (gewaltfreie) Lostrennung oder Abspaltung. Dorten und seine Mitstreiter enthielten sich jedoch in Wiesbaden jeglicher Gewaltanwendung und ob die bloße Kollaboration mit französischen Offiziellen das Tatbestandsmerkmal erfüllte, scheint fraglich. Jedenfalls aber – und zu diesem Ergebnis kam auch der Oberreichsanwalt – hatten sich Dorten und seine „Mittäter“ nicht wegen Landesverrats gemäß §§ 87 ff. StGB strafbar gemacht. Auf den ersten Blick halbwegs einschlägig konnte nur § 89 StGB923 sein, wobei die Bejahung der militärischen „landesverräterische[n] Begünstigung“924 bereits daran gescheitert sein dürfte, dass nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 nicht mehr von einem „ausgebrochenen Krieg“ die Rede sein konnte, wenn auch der kriegsbeendigende Friedensvertrag noch ausstand. Auch ist sehr zweifelhaft, ob die aktionistischen Rheinstaatsanhänger mit ihren Kontakten zu den französischen Besatzungsmächten und insbesondere zu General Mangin einer feindlichen Macht „Vorschub“ geleistet haben. In einem StGBKommentar von 1920 heißt es hierzu: „Vorschub geleistet ist dann, wenn das gegen Deutschland gerichtete kriegerische Unternehmen gefördert, die kriegerische Lage der feindlichen Macht günstiger gestaltet und gestärkt ist […].“925 Naheliegender erscheint es, anzunehmen, dass die Rheinstaatspläne des Frühjahrs 1919 nicht die Qualität erreicht haben, die „kriegerische Lage“ der Franzosen zu verbessern. Insofern ist den Zeitgenossen, aber auch zahlreichen Autoren bis zum heutigen Tage zu widersprechen, die die Rheinstaatsinitiative mit dem Verdikt des Landesverrats belegen.926 Der erhobene Vorwurf des Landesverrats beruhte und beruht auf einer unzureichenden rechtlichen Würdigung, die man freilich etwa von Historikern wie Morsey nicht ohne Weiteres verlangen kann. In der Geschichtswissenschaft zur Rheinstaatsfrage herrscht allzu oft ein eher umgangssprachliches Verständnis von „Landesverrat“ vor, das bereits im Falle von (konspirativen) Treffen und Absprachen zwischen Vertretern der Rheinstaatsbewegung und französischen Militärs von einer 923
§ 89 Satz 1 StGB (Landesverrat): „Ein Deutscher, welcher vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges einer feindlichen Macht Vorschub leistet oder den Truppen des Deutschen Reichs oder der Bundesgenossen desselben Nachtheil zufügt, wird wegen Landesverraths mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft.“ Hervorhebungen durch Verf. 924 Ebermayer/Eichelbaum/Lobe/Rosenberg, Das Reichs-Strafgesetzbuch (Fn. 922), § 89 Ziffer 1. 925 Ebermayer/Eichelbaum/Lobe/Rosenberg, Das Reichs-Strafgesetzbuch (Fn. 922), § 89 Ziffer 4. 926 So etwa ausdrücklich Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 194.
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Tatbestandlichkeit ausgeht. Tatsächlich waren die §§ 87 ff. StGB enger gefasst und verlangten insbesondere den Zustand eines „ausgebrochenen Krieges“. Eine eingehendere rechtliche bzw. rechtshistorische Betrachtung stellt in diesem Kontext jedoch einen nicht zu unterschätzenden Erkenntnisgewinn auch für den Historiker dar, denn letzterer knüpft ja gerade sein historisches Urteil des „Separatismus“ und der „Sonderbündelei“ an die vorhergehende Feststellung, dass zumindest die aktionistische Rheinstaatsbewegung hoch- bzw. landesverräterisch gewesen sei. Beide Tatbestände der §§ 80 ff. StGB dürften jedoch tatsächlich nicht erfüllt gewesen sein, wenn auch in Richtung der Geschichtsforschung zuzugeben ist, dass dieses Ergebnis der Rechtsanwendung nicht evident ist. Am 11. Juni 1919 erließ der Untersuchungsrichter einen Haftbefehl gegen Dorten, dessen Vollstreckung jedoch im besetzten Gebiet nicht durchführbar gewesen ist. Die Alliierten hatten in Artikel 31 der Ordonnanz Nr. 2 festgelegt, dass kein Einwohner des besetzten Gebietes wegen einer politisch motivierten Straftat während der Waffenstillstandszeit ohne Genehmigung der Besatzungsmächte verfolgt oder bestraft werden durfte. Es kann daher nicht verwundern, dass Dorten das Leipziger Verfahren unbeeindruckt gelassen hat, denn er bereiste weiterhin mit französischen Pässen und dem besonderen Kraftfahrzeugkennzeichen „R.R.1“ (Rheinische Republik 1) das besetzte Gebiet, um für seine Rheinstaatspläne Anhänger zu finden.927 Erdmann behauptet, Adenauer habe in der Zwischenzeit durch eine Intervention bei General Clive einen Erlass der britischen Besatzungsmacht erwirkt, wonach die Agitation Dortens in der britischen Zone fortan unter Strafe verboten worden sei.928 Tatsächlich aber hatte der General ein solches Gesuch Anfang Juni noch als unnötig abgelehnt und erst im August 1919 wurde eine derartige Verfügung erlassen.929
XXIII. Vom Wiesbadener Putschversuch zur Verabschiedung der Reichsverfassung Wenn auch der gescheiterte Proklamationsversuch in Wiesbaden für niemanden überraschend kam, so war er doch eine Art Weckruf für die etablierten politischen Kräfte im Rheinland und in Berlin. Nach dem 1. Juni 1919 kam es für die große Mehrheit der rheinischen und Berliner Staatsmänner nicht mehr darauf an, auf einem legalen Kurs eigene Pläne für Westdeutschland zu verfolgen, sondern man verwaltete innenpolitisch den Status quo und richtete den Blick auf die Friedens- und Außenpolitik, um die in Versailles unnachgiebig gerungen wurde. Im Inneren galt es, die Aktionisten um Dorten und Anhänger ruhig zu halten und gleichzeitig für das gesamte Reich gemäßigte Friedensbedingungen zu erwirken, ohne dass die Sonder927 928 929
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 93. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 63. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 159.
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bündler mit ihrer Paralleldiplomatie, vor allem mit den Franzosen, dabei in die Quere kamen. Die gemäßigten Rheinstaatsbefürworter und rheinischen Politiker, die Dortens Putschbestrebungen selbstverständlich nicht unterstützen konnten, und andere Abgeordneten des Rheinlands hatten sich seit dem März 1919 nach und nach aus der Debatte um die Staatsgründung im Westen zurückgezogen. Das Ende der parlamentarischen, legalistischen Rheinstaatsbewegung markierten die Sitzung des Westdeutschen Politischen Ausschusses vom 30. Mai 1919 und das einen Tag später terminierte Treffen rheinischer Abgeordneter mit der Berliner Regierung. In mühsam vermittelter Einmütigkeit war jede weitere Rheinstaatsinitiative auf die Zeit nach dem Abschluss eines Friedensvertrages und damit auf eine Ende Mai noch ungewisse Zukunft verschoben worden. Der politische und territoriale Bestand des Deutschen Reiches wurde parteiübergreifend als sakrosankt beschworen und jedes Abrücken von diesem Dogma wurde mit dem Verdikt des Hochverrats belegt.930 Gleichwohl war allgemein der Wunsch geäußert worden, man möge in Versailles doch Sachverständige aus dem besetzten Rheinland zu den Verhandlungen mit den Ententemächten beratend hinzuziehen oder jedenfalls vor der deutschen Friedensdelegation anhören.931 Ebenso fasste man den Beschluss, einen neuen interfraktionellen Ausschuss zu bilden, der künftig für alle Fragen betreffend das Rheinland zuständiger Ansprechpartner, nicht zuletzt für die Reichsregierung und die Friedensdelegation, sein sollte. Das genaue Datum der Gründung dieses „Beirats für die besetzten linksrheinischen Gebiete“ ist in der Geschichtswissenschaft umstritten und offenbar nicht klar zu belegen, weil eine entsprechende Aufzeichnung nicht unterzeichnet und vor allem undatiert ist.932 Während Reimer davon ausgeht, der Beirat sei auf einer gemeinsamen Sitzung von rheinischen Abgeordneten der National- bzw. der Preußischen Landesversammlung am 4. Juni in Berlin gegründet worden,933 meint Morsey, die Einrichtung dieses Beirats sei bereits auf der Sitzung der Abgeordneten vom 31. Mai beschlossen worden.934 Da die besagte Sitzung vom 31. Mai 1919 in Berlin hinreichend belegt ist, erscheint es zweifelhaft und unwahrscheinlich, dass man sich in nahezu derselben großen Runde gleich wenige Tage später, also am 4. Juni, erneut zusammengefunden haben soll. Überdies lässt sich zu einem solchen Treffen in den Akten der Reichskanzlei nichts finden. Vielmehr hat an diesem Datum eine Kabinettssitzung der Reichsregierung stattgefunden, in der von einer Besprechung mit rheinischen Ab930
Siehe hierzu insgesamt oben Kapitel B.XVIII. Zur rechtlichen Würdigung siehe zusammenfassend Kapitel B.XXII. 931 Vgl. Stenographische Niederschrift der Sitzung vom 30. Mai 1919, abgedruckt bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 279. 932 Vgl. hierzu Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 260, Fn. 32. 933 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 160. 934 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 260.
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geordneten keine Rede ist.935 Insbesondere den Parlamentariern aus Weimar wird man es nicht zugemutet haben, innerhalb von 5 Tagen zweimal nach Berlin zu reisen. Es spricht somit vieles dafür, dass die Einrichtung dieses Gremiums schon am 31. Mai beschlossen worden ist, also noch vor dem Dorten-Putsch und nicht erst unter dem Eindruck desselben. Dem Beirat für die besetzten linksrheinischen Gebiete gehörten 20 Mitglieder an, davon sieben Zentrumsleute, sechs von der SPD, je zwei von DDP, DVP und DNVP sowie ein Abgeordneter der USPD.936 Daraufhin löste sich am 5. Juni 1919 der im Februar in Köln gegründete Westdeutsche Politische Ausschuss auf und übertrug seinen Aufgabenbereich dem neuen Beirat. Er hatte zwar nur einmal getagt, indes als Adressat von insbesondere linksrheinischen Loslösungsforderungen eine „bremsende Wirkung“ auf einen Großteil der Rheinstaatsbewegung ausgeübt.937 Ob die Etablierung eines neuen Gremiums eine Reaktion auf Adenauers Amtsmüdigkeit als Vorsitzender des Politischen Ausschusses oder gar auf ein Scheitern dieser bisherigen Einrichtung war, ist nicht abschließend zu klären. In der „Trierischen Landeszeitung“ vom 13. Juni 1919 forderte Kaas, einer der letzten legalistischen Unabhängigkeitsbefürworter, alle Anhänger der rheinischen Unabhängigkeit von Preußen dazu auf, ihre Bemühungen einstweilen einzustellen, damit man nicht mit dem „Häuflein aufgeregter Aktivisten“ um Dorten verwechselt würde. Nach dem bevorstehenden Friedensschluss könne die Rheinstaatsfrage im „ehrlichen innenpolitischen Kampf“ gelöst werden. Kaas sprach sich gleichwohl für eine Gebietsreform auf dem „Boden eines Einheitsstaates […] mit verstärkter Autonomie der nach völkischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten umschriebenen Provinzen“ aus.938 Für die rheinischen Politiker kam es nach dem 1. Juni 1919 entscheidend darauf an, die Klärung ihrer Position gegenüber den Putschisten bzw. der Unterstützung durch die französische Besatzungsmacht herbeizuführen, was weit überwiegend zu einer schroffen Ablehnungshaltung führte. Am 28. Juni 1919 unterzeichneten Außenminister Hermann Müller (MSPD) und Verkehrsminister Bell unter Protest den Friedensvertrag in Versailles und beendeten somit die Zeit des Waffenstillstands. Die Friedensbedingungen waren für das Deutsche Reich und insbesondere für das Rheinland hart und nahezu erdrückend: Aufgrund der Demilitarisierung des Rheinlands wurde nun jedenfalls die militärische Grenze zwischen Frankreich und Deutschland an den Rhein verlegt, um das Rheinland aus Sicht der Franzosen der deutschen Kriegsmaschinerie strategisch, wirtschaftlich und demographisch zu entziehen.939 935
Vgl. Akten der Reichskanzlei vom 4. Juni 1919, R 43 I/1863, S. 417 f., abrufbar unter: http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/00a/sch/sch1p/kap1_2/para2_107. html, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 936 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 160. 937 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 260. 938 Trierische Landeszeitung v. 13. 6. 1919. 939 Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926) (Fn. 40), S. 106 f.
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Das linksrheinische Gebiet wurde durch die alliierten Siegermächte für fünf, zehn bzw. fünfzehn Jahre besetzt, um eine zusätzliche Gewähr dafür zu schaffen, dass das Deutsche Reich seinen vertraglichen Verpflichtungen auch nachkommen würde. Die alliierte Militärverwaltung im linksrheinischen Gebiet wurde abgelöst von einer zivilen Einrichtung, nämlich der „Interalliierten Rheinlandkommission“ (Irko), die bereits Ende April 1919 für die wirtschaftlichen Belange der vier Besatzungszonen eingerichtet worden war und einen starken Einfluss auf die Rechtsetzung und Verwaltung im besetzten Gebiet nahm.940 Leidtragender oder zumindest am stärksten Betroffener dieser Bestimmungen war augenscheinlich das Rheinland, sodass es nicht verwundern kann, dass sich dort erneut lebhaft Unmut verbreitete, der hier und da auch erneut an die Lösung eines unabhängigen Rheinstaates denken ließ. Man empfand die Besatzung als „eine ungeheuerliche Zumutung an die nationale Ehre und Souveränität“.941 Dorten und seine verbliebenen Anhänger, offenbar unbeeindruckt durch den peinlich gescheiterten Proklamationsversuch, verbreiteten bis August 1919 weiterhin eine emsige Propagandatätigkeit in der Rheinprovinz, in Nassau und in Rheinhessen.942 Ende Juni 1919 kam es vor den Toren Wiesbadens in Eltville zu einer Zusammenkunft aller Vertrauensmänner der Zentrumspartei des Rheingaues, Wiesbadens und Lahnsteins, bei der eine Rede Dortens offenbar nachhaltigen Eindruck hinterließ. Denn man beschloss, durch den lokalen, insbesondere ländlichen Klerus überall Stimmen und Vertrauensbekundungen für die Rheinische Republik zu sammeln, die später im Rahmen einer weiteren, größeren Veranstaltung in Geisenheim der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten.943 Jedoch gelang es lediglich in etwa fünfzig Gemeinden durch die örtliche Geistlichkeit schriftlich zu bezeugen, dass der Großteil der jeweiligen Gemeindemitglieder für die Errichtung einer Rheinischen Republik im Reichsverband eintrete.944 Ob diese Bezeugungen darüberhinaus wirklich repräsentativ waren, ob also ein Stimmungsbild in den Pfarreien durch Umfrage oder Urabstimmung eingeholt worden ist oder ob es sich lediglich um Einschätzungen des Dorfpfarrers handelte, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Dies variierte vermutlich von Pfarrgemeinde zu Pfarrgemeinde. Reimer geht davon aus, dass „die politisch uninformierte Bevölkerung vom örtlichen Klerus leicht beeinflußt werden konnte.“945 Hierbei stützt er sich aber wohl eher auf ein Gefühl allgemeiner Lebenserfahrung, vielleicht sogar auf ein Vorurteil, aber nicht auf belastbare Berichte. 940
Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926) (Fn. 40), S. 109. Stump, Konrad Adenauers Beziehungen zur Zentrumspartei, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, 1976, S. 436. 942 Hierzu im Einzelnen Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 93 ff. 943 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 298 v. 25. Juni 1919. 944 Hierzu zwei exemplarische Erklärungen abgedruckt bei Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 93. 945 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 163. 941
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Daneben sammelte Dorten auch Vertrauenserklärungen bis hin zu „Vollmachten“ von sechzehn Bürgermeistern und sechsundzwanzig Vorständen von Bauernvereinen und lokalen Zentrumsorganisationen, in denen man sich unumwunden für eine Volksabstimmung über die Gründung einer Rheinischen Republik im Verband des Deutschen Reiches aussprach und sich hinter Dortens Wiesbadener Proklamation stellte. Diese Erklärungen leitete Dorten dann erneut an General Mangin weiter, um seine Tätigkeit politisch legitimieren zu können.946 Der gewisse Erfolg, den Dorten durch seine Agitation zumindest lokal feiern konnte, belegt, dass es durchaus in der rheinischen, überwiegend katholischen Bevölkerung jedenfalls den Wunsch nach einer Volksabstimmung zu der Frage der Reichsneugliederung und des Rheinstaates gegeben haben muss. Ob sich dieses Streben unmittelbar auf einen rheinischen Gliedstaat richtete, erscheint indes zweifelhaft. Vielmehr dürften die Sympathiebekundungen einer allgemeinen Ablehnung der Verhältnisse auf Reichsebene und dem Drang nach unmittelbar zurechenbarer Selbstbestimmung geschuldet gewesen sein. Bischof bemerkt zu Recht, dass der Rückhalt Dortens trotz des misslungenen Putsches vom 1. Juni 1919 zumindest in der ländlichen Bevölkerung noch bemerkenswert stark war.947 Damit widerspricht er Erdmann in seinem allzu pauschalen Urteil, wonach die „Separatisten“ in der Bevölkerung keinen Rückhalt gehabt hätten.948 Es ist zu differenzieren: Es war eher die städtische Bevölkerung, die sich von der Idee einer Rheinischen Republik nicht begeistern ließ und hier insbesondere die preußischen Beamten, Protestanten und sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich organisierten Arbeiter.949 Sogar der Rheinstaatsgegner und DVP-Politiker Moldenhauer erklärte 1919, „daß weit über die Zentrumskreise hinaus in der rheinischen Bevölkerung der Gedanke einer rheinischen Republik festen Fuß gefaßt hat“.950 Parteipolitisch spiegelte sich dieser soziologische Befund dergestalt wieder, dass die „Preußen-Parteien“ DNVP und DVP die Selbständigkeit der Rheinprovinz oder hessischer Gebiete ebenso ablehnten wie die sozialistischen Parteien MSPD und USPD. Auch die überwiegend von protestantischen Akademikern, Beamten und Industriellen geformte DDP stand den Absichten und Hoffnungen der katholischen Landbevölkerung fern und suchte ihr Klientel in den mittleren und größeren Städten zu bedienen. Das Zentrum jedoch war nach wie vor in der Rheinstaatsfrage gespalten, hier weniger aufgrund eines weltanschaulichen Dissenses denn nach regionaler Herkunft. So war der rheinische Zentrumspolitiker naturgemäß der Angelegenheit aufgeschlossener oder wenigstens sensibler gegenüber eingestellt als der Zentrumspolitiker aus dem Regierungsbezirk Minden (Hochstift Paderborn). 946
Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 94 ff. Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 95. 948 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 27. 949 So auch Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 95. 950 Moldenhauer, Von der Revolution zur Nationalversammlung: Die Frage der rheinischwestfälischen Republik, 1919, S. 19. 947
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Mit der Kölnischen Volkszeitung verabschiedete sich im Sommer 1919 eine weitere bislang entschiedene Verfechterin des unabhängigen Rheinstaates von den Aktivisten um Dorten. Am 17. Juli 1919 hieß es dort, ihre Stellungnahmen gegenüber der von Dorten geführten Bewegung müsse stets durch die Richtlinie gekennzeichnet sein: „Getrennt marschieren, aber vereint schlagen!“ Man wollte also die Sache nicht ad acta gelegt wissen, gleichwohl unterstütze man nicht weiterhin den aktionistischen Kurs eines kleinen aber treibenden Kreises. Dorten selbst setzte auch über den Sommer 1919 hinaus seine „Wühlarbeit“ unablässig fort,951 allerdings ohne erkennbare Erfolge. Parallel zu der Vertagung einer endgültigen Entscheidung in der Rheinstaatsfrage näherten sich die Beratungen über die neue Reichsverfassung ihrem Ende. In der Rheinstaatsfrage war indes verfassungspolitisch bislang lediglich die Sezession der Rheinprovinz, gegebenenfalls erweitert um östliche Gebiete, vom Deutschen Reich als Pufferlösung kategorisch abgelehnt worden. Dies führte jedoch nicht zu einer Verflachung der staatstheoretischen Diskussion, sondern es sollte sich im Sommer 1919 zeigen, dass fortan die Ausgestaltung rheinischer Selbständigkeit im Gegenteil vielschichtiger behandelt wurde. Dabei verstärkte insbesondere die preußische Regierung, die den rheinischen Gliedstaat im Sinne einer föderalistischen Neugliederung weder im deutschen und erst recht nicht im preußischen Interesse für notwendig erachtete, ihre Bemühungen um eine Lösung, die den Rheinstaat schlichtweg überflüssig machen und den Loslösungsbestrebungen den Boden entziehen sollte. Mit Landesgesetz vom 16. Juli 1919 war bestimmt worden, dass die Provinzial- und Kommunallandtage Preußens als aufgelöst galten und durch Wahl neu zu konstituieren waren. Dabei war jedoch bewusst eine Ausnahme für die Rheinprovinz und Hessen-Nassau gemacht worden, für die das Staatsministerium ermächtigt wurde, die Neubildung zu einem späteren Zeitpunkt vorzunehmen.952 Bei dieser Ausnahme spielte die Rheinlandbewegung eine Rolle, denn man befürchtete, dass etwa der Provinziallandtag der Rheinprovinz nach einer Neuwahl von Unabhängigkeitsbefürwortern dominiert werden könnte. In einer Besprechung in Düsseldorf vom 23. bis 24. Juli 1919, die mögliche Konsequenzen des Wiesbadener Putschversuchs zum Gegenstand hatte, legte vor allem Adenauer eine bemerkenswerte politische Kehrtwende hin und unterstützte im Ergebnis die preußische Ansicht.953 Adenauer erklärte, das rheinische Volk lehne eine Lösung à la Dorten ab und zwar trotz der vielen „Unzulänglichkeiten“, die aus dem Besatzungsalltag wie auch aus dem Verhalten der preußischen Administration gegenüber den Rheinländern ent951
Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 9. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 45. 953 Zu der Konsultation insgesamt siehe Niederschrift in HAStK 902/253/2. 952
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standen seien. Jedoch geht Reimer in seiner Interpretation zu weit, wenn er es für eindeutig hält, dass Adenauer sich offen als Gegner eines westdeutschen Freistaates erklärte.954 Ausgesprochen hatte sich Adenauer tatsächlich für eine „möglichst starke deutsche Zentralgewalt“, die nur ein „unitarisches Reich mit selbständigen Provinzen“ bieten könne. Während der Ruf nach einer starken Zentralgewalt im Reich eher ein Zugeständnis an die Führung in Berlin gewesen sein dürfte, ist unklar, was Adenauer als „unitarisches Reich mit selbständigen Provinzen“ verstanden wissen wollte. Indem er „selbständige Provinzen“ des Reichs und nicht etwa Preußens beschreibt, könnte man vermuten, dass er nichts anderes als Freistaaten gemeint habe. Andererseits sind Provinzen eben keine Gliedstaaten des Reiches, was dem Verwaltungsfachmann Adenauer eigentlich bewusst gewesen sein muss. Erneut zeigte sich dieser typische Zug Adenauers, dass er durch ein kryptisches und vieldeutiges Vokabular – gerade wenn in die Defensive geraten – einer klaren Festlegung seines Standpunkts auswich. Da jedoch allen Beteiligten in Düsseldorf bekannt war, dass Adenauer ein prinzipieller Befürworter einer westdeutschen Republik im Reichsverband war, wird der Kölner Oberbürgermeister wohl kaum seine ohnehin beschädigte Glaubwürdigkeit auf das Spiel gesetzt haben, indem er sich plötzlich rundheraus als Gegner einer Rheinischen Republik zu erkennen gab. Hier überinterpretiert Reimer die, wenn auch mehrdeutigen, Zustimmungsbekundungen, die Adenauer an die Berliner Adresse richtete. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Adenauer sich in seiner persönlichen Zielsetzung nicht eindeutig auf ein Mehr an Föderalismus im Deutschen Reich, also die Rheinische oder westdeutsche Republik als gleichberechtigter Gliedstaat etwa neben Preußen, oder auf ein Mehr an Regionalismus bzw. Provinzialismus festlegen lassen wollte. Letzteres hätte lediglich die Aufwertung der Rheinprovinz als Verwaltungseinheit des preußischen Staates bedeutet. Damit wich Adenauer aber von einem konsequenten Föderalismus als staatsorganisatorischem Prinzip ab, obwohl der Föderalismus seit der Reichsgründung Bismarcks fest zur Ideologie des politischen Katholizismus, insbesondere auch der Zentrumspartei, gehört hatte.955 Für eine Hinwendung zu dieser „kleinen Lösung“ könnte sprechen, dass Adenauer gemeinsam mit dem rechtsliberalen Oberbürgermeister von Duisburg Karl Jarres, einem entschiedenen Gegner des Rheinstaatsgedankens, einen Plan des Unterstaatssekretärs Wilhelm „Bill“ Drews befürwortete, wonach eine allgemeine preußische Verwaltungsreform angestoßen werden sollte, die die rheinischen Interessen innerhalb Preußens vermehrt berücksichtigen und damit die Ursache für das Streben nach einer selbständigen Rheinprovinz und für antipreußische Ressentiments beseitigen sollte.956 Unter dem Eindruck der Ereignisse in Hessen-Nassau vom 1. Juni 1919 bewegte sich die preußische Staatsregierung also doch, wenn auch eine 954
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 165. Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel 1961, S. 62. 956 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 165 f. Hier auch im Folgenden. 955
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
gliedstaatliche Unabhängigkeit der Rheinprovinz (und Teilen Nassaus) weiterhin abgelehnt wurde. Drews lockte Adenauer und Jarres mit der Idee, die borussische obrigkeitsstaatliche Administration durch ein konsequentes Selbstverwaltungssystem abzulösen. Er gestand dabei ein, dass die preußische Selbstverwaltung Fortschritte gemacht habe, aber nicht zuletzt aufgrund des Krieges und der Revolution nicht fortgeführt worden sei. Man sei nun bereit, zahlreiche Staatsaufgaben den gewählten Organen der kommunalen Gebietskörperschaften zu übertragen, damit diesen unteren staatlichen Einheiten ein entscheidender Einfluss auch auf das politische Leben eingeräumt werden könne. So würden künftig Rheinländer tatsächlich von ihren selbst gewählten rheinischen Vertretern verwaltet und nicht von Preußen. Als ein erster, aber entscheidender Schritt sollte an die Stelle des zentral eingesetzten „staatlichen Landrats“ ein gewählter Vertrauensmann der Kommune als Hauptverwaltungsbeamter treten. Ähnliche Regelungen wurden angedacht für die Ämter des Ober- bzw. der Regierungspräsidenten. Nach Drews würden so die preußischen Landesteile gestärkt werden: „Die Entwicklung […] drängt zu einem unitarischen Deutschland und es wird dringend nötig sein, Preußen zum Aufgehen in das Reich in seinen einzelnen Landesteilen auch sachlich zu befähigen. Das geschieht, wenn jetzt den Provinzen in weitem Umfange die Exekutive übertragen wird.“957 Diese Aussagen eines hohen preußischen Beamten sind aufschlussreich und sie atmen überdies den Geist der preußischen Reformen einer kommunalen Selbstverwaltung des Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein, wie sie in der Städteordnung vom 19. November 1808 zum Ausdruck gebracht worden waren. Zur Begründung seiner Kommunalreform hatte Freiherr vom Stein seinerzeit in seiner Nassauer Denkschrift von 1807958 ausgeführt, es ginge ihm um die „Wiederbelebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, den Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre.“ Unter dem nationalen Schock der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt von 1806 sollte das preußische Staatswesen auch durch die Verwaltungsreform wieder aufgerichtet werden, indem man den kommunalen Gebietskörperschaften die Selbstverwaltung überlassen und letztlich eine verbesserte politische Partizipation im Staate ermöglichen wollte. Die Selbstverwaltungsreformen waren dabei nicht oder weniger von demokratischen Gedan-
957 Zitat bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 166. 958 Vollständiger Titel: „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“, abgedruckt in Hubatsch, Briefe und amtliche Schriften des Freiherrn vom Stein, Bd. 2, 1959, S. 363 ff.
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ken getragen, sondern begründet durch die akute politische Schwäche des preußischen Staates. In einer bemerkenswerten Vergleichbarkeit kann man die Reformversprechen des Unterstaatssekretärs Drews vom Juli 1919 betrachten. Auch hier erkennt man den Versuch eines höheren Beamten, den durch den verlorenen Weltkrieg, die Novemberrevolution und die Verfassungs- und Neugliederungsdiskussion geschwächten preußischen Staat „zukunftsfest“ zu machen durch eine partizipatorische und mithin befriedende Verwaltungsreform, die ansetzte an dem Gedanken der kommunalen Selbstverwaltung. Mit Blick auf die bis dato starre Verweigerungshaltung der preußischen Führung zu jeglichen Selbständigkeitsbestrebungen in der Rheinprovinz, stellt diese Ankündigung eines weitreichenden Entgegenkommens nicht weniger als einen Erfolg der Rheinlandbewegung dar, der gleichsam die zum Kompromiss zwingende Lage eines in Bedrängnis geratenen Preußens eindrucksvoll dokumentiert. Es kann nicht verwundern, dass sich die in Düsseldorf anwesenden Hauptverwaltungsbeamten über das Nachgeben der preußischen Regierung überrascht zeigten. Bezeichnenderweise war es der ebenfalls der Rheinischen Republik ablehnend gegenüberstehende nationalliberale Essener Oberbürgermeister und spätere Reichskanzler Luther, dem die offenen Arme der preußischen Administration zu weit ausgestreckt erschienen. Etwas unbestimmt warnte er davor, „dem Staat zuviel Eigenkraft zu nehmen“.959 Reimer führt zu dem Düsseldorfer Treffen in beeindruckender Präzision aus: „Mit dieser Versammlung begann die Diskussion über die preußische Provinzialautonomie, die nun den Gegenpol der Rheinstaatsdiskussion bilden sollte.“960 Aus den ursprünglichen zwei denkbaren Polen in der Rheinstaatsdiskussion, die auch den bisherigen Ausführungen dieser Arbeit zugrunde gelegen haben, nämlich „Separatismus“ und „Föderalismus“, war die Debatte um eine dritte staatstheoretische Facette ergänzt worden. Es erschien zum ersten Mal der Vorschlag, die Selbständigkeitsforderungen weniger als strikt antipreußische Los-von-Berlin-Bewegung zu behandeln, sondern ihnen als legitimem demokratischem Ausdruck des regionalen Volkswillens mit mehr Provinzialautonomie zu begegnen. Der Preußen-Plan hatte zwar seine den Rheinländern so ungeliebte paternalistische Stoßrichtung nicht abgelegt, er schien aber nicht zuletzt Adenauer als erwägenswerte Alternative in der ansonsten ziemlich verfahrenen Situation. Marie-Luise Recker schreibt über Adenauers geänderte Haltung: „Nun richtete sich seine Aufmerksamkeit im wesentlichen auf eine Stärkung der Rolle der Rheinlande im preußischen und deutschen Staatsverbund, sei es hinsichtlich der
959 Zitat bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 166. 960 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 166.
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Personalpolitik, der Verwaltung – seine Forderung nach Provinzialautonomie ist ein beredtes Zeugnis dafür – oder ähnlicher Fragen.“961 Am 31. Juli 1919 kam es zur Schlussabstimmung über die Reichsverfassung, in der sie mit 262 gegen 75 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen wurde. Für die Verfassung stimmten MSPD, Zentrum und DDP, gegen sie USPD, Bayerischer Bauernbund sowie die Rechtsparteien DNVP und DVP.962 Am 11. August 1919 fertigte Ebert die Reichsverfassung aus, welche gemäß Artikel 181 am Tag ihrer Verkündung, nämlich am 14. August 1919, in Kraft treten sollte. Am selben Tag waren nach Artikel 178 Absatz 1 WRV die alte Reichsverfassung vom 16. April 1871 sowie das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 aufgehoben. Parteiübergreifend hatten die rheinischen Abgeordneten – der Kölner Sozialdemokrat Sollmann ebenso wie der Trierer Zentrumsmann Kaas – stets davor gewarnt, durch allzu große Erschwerung oder gar Versperrung des legalen Wegs illegale Loslösungsbestrebungen zu fördern.963 Insgesamt hatten die Zentrumspartei und mit ihr die gemäßigten Rheinstaatsbefürworter stets versucht, den Neugliederungsbestrebungen an mehreren Orten im Reich einen verfassungsmäßigen Weg zu öffnen, womit sie sich ganz auf der Linie Preuß‘ befanden.964 Kurt Düwell spricht in diesem Zusammenhang von einer „Herabstufung des preußischen Übergewichts“ und einer Reduktion der „alte[n] hegemoniale[n] Stellung Preußens im Reich“.965 Wie schon der Verfassung nach Otto von Bismarck, so ging auch der Weimarer Verfassung eine Präambel voran, die zwar keinen Rechtssatz enthielt, aber die staatsrechtliche und politische Lage des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg zum Ausdruck brachte. Sie lautete: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Für das Thema der vorliegenden Arbeit sind dabei zwei Elemente der Präambel bemerkenswert, nämlich zum einen die ausdrückliche Beschwörung der Einigkeit der deutschen Stämme und zum anderen der Wille, dem inneren Frieden zu dienen. An der Formulierung der Präambel lässt sich abschließend ablesen, welche Bedeutung die Verfassunggeber der innenpolitischen und territorialen Neugliederung beimaßen, ja sicherlich beimessen mussten. Denn diese beschworene Einigkeit der Stämme hatte gerade nicht bestanden und bestand auch im August 1919 noch nicht, denn noch immer stand das übermächtige Preußen den Rheinländern, Oldenburgern, 961
Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926) (Fn. 40), S. 108. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 105. 963 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 24. 964 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 9 f. 965 Düwell, Der Umbruch in Staat, Gesellschaft und Kirche 1918/19, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 51 (2002), S. 125. 962
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Hannoveranern, Braunschweigern, Oberschlesiern und anderen in trotziger Haltung gegenüber und die Preußen waren bis zuletzt nicht bereit gewesen, nur einen Fußbreit ihres Territoriums zugunsten anderer Stämme abzutreten. Insofern täuschte bereits das Vorwort der Reichsverfassung über einen Zustand der Harmonie, der so nicht bestand und im Grunde die gesamte Zeit der Weimarer Republik nicht bestehen sollte. So verwundert es nicht, dass der Zeitzeuge Willibalt Apelt, der auch Mitarbeiter Preuß‘ gewesen war, früh zu dem Schluss kam: „Wenn der Vorspruch feststellt, daß es [das deutsche Volk, P.B.] ,einig in seinen Stämmen‘ sei, so klingt damit nur eine historische Reminiszenz an, denn die deutschen Stämme haben wohl nach Rasse und Kulturleistung ihre Eigenart und Bedeutung erhalten, bilden aber seit langem keine staatsrechtlichen Einheiten mehr.“966 Nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung war die Staatsrechtslehre ersichtlich bemüht, den Zusammenhang zwischen Stamm und Gliedstaat – im Sinne eines „jedem deutschen Stamm sein eigenes Land“ – zu verwischen. Der deutsche Bundesstaat gliederte sich gerade nicht oder jedenfalls nicht prinzipiell nach Stammesgesichtspunkten, ansonsten hätten die Rheinländer ihr eigenes Land zugesprochen bekommen müssen. Noch zu Beginn der Verfassungsberatungen im Winter 1919 war es demgegenüber in Wissenschaft und Publizistik anerkannt gewesen, dass Stammeseigenschaften bei der territorialen Neuordnung eine tragende Rolle spielen sollten.967 Winkler beurteilt den Verfassungskompromiss so: „Im Endergebnis war das Reich unitarischer, als es die Föderalisten, und föderalistischer, als es die Unitarier gewünscht hatten. Die Länder waren mehr als bloße Selbstverwaltungskörper und das Reich nicht der Einheitsstaat, der Preuß vorgeschwebt hatte.“968 Gleichwohl konstatiert er, dass sich seit dem Sommer 1919 „eine gewisse politische Beruhigung“ in Deutschland abzeichnete. Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles und der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung seien die äußeren und inneren Rahmenbedingungen der deutschen Politik „zunächst einmal“ festgelegt worden.969 Prägnant resümiert Morsey, dass mit der Verabschiedung der Reichsverfassung durch die Nationalversammlung die Idee einer „Rheinischen Republik“ erledigt gewesen sei.970 Freilich sollte man unter Berücksichtigung der Ereignisse im Jahr 1923 hinzufügen: Zunächst war die Idee des Rheinstaates ad acta gelegt worden.
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Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 128. Vgl. hierzu Kapitel F.I. 968 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 100. 969 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 109. 970 Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 539. 967
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Die Reichsverfassung sah immerhin in Artikel 18971 die Möglichkeit vor, auch gegen den Willen der bestehenden Länder, eine Neugestaltung der gliedstaatlichen Ordnung des Reiches vorzunehmen, nicht zuletzt auf dem Wege der Volksabstimmung in den betroffenen Gebieten. Allerdings war die Anwendung des Artikels 18 bis zum August 1921, also zwei Jahre, durch Artikel 167 WRV suspendiert worden unter Hinweis auf die außen- wie innenpolitisch nach wie vor unruhige Großwetterlage. Nichtsdestotrotz blieb der Gedanke an einen Rheinstaat vereinzelt lebendig. So kam es am 5. August 1919 auf einer Versammlung in Köln zu scharfen Protesten gegen die Sperrbestimmung des Artikels 167 WRV. Gefordert wurde vielmehr ein sofortiges Plebiszit,972 was sich jedoch gegen den gerade gefundenen Verfassungskompromiss nicht durchzusetzen vermochte. Auch blieb die aktionistische Rheinstaatsbewegung weiterhin aktiv und radikalisierte sich zunehmend nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung. Es entstand sogleich am 15. August 1919 ein neuer „Rheinlandbund“, an dessen Spitze der frühere USPD-Politiker Josef Smeets stand, der den Bund später zur „RheinischRepublikanischen Volkspartei“ (RhRVP) umwandelte und unverhohlen separatistisch agierte, auch noch im eigentlichen „Separatismusjahr“ 1923. Er bekannte sich stets zu einem „aktiven Separatismus“.973 Smeets gab auch die Kampfzeitung 971
Artikel 18 der Verfassung des Deutschen Reichs (Endversion nach dritter Lesung): Abs. 1: Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Aenderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz. Abs. 2: Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes. Abs. 3: Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt. Abs. 4: Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt. Abs. 5: Zum Beschluß einer Gebietsänderung oder Neubildung sind drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles eines preußischen Regierungsbezirkes, eines bayerischen Kreises oder in anderen Ländern eines entsprechenden Verwaltungsbezirkes handelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in Betracht kommenden Bezirkes festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirke nicht besteht, kann auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebiets als ausreichend erklärt werden. Abs. 6: Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlußfassung vorzulegen. Abs. 7: Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 972 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 11. 973 Springer, Loslösungsbestrebungen am Rhein (1918 – 1924) (Fn. 442), S. 15.
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„Rheinische Republik“ heraus, die mit der Zeit auch eine Vorkämpferin der Ideen Dortens wurde.974 Dorten selbst aber stand Smeets und seiner Rheinisch-Republikanischen Volkspartei zunächst ablehnend gegenüber, weil diese neben separatistischen auch linksradikale, insbesondere sozialpolitische Positionen vertrat, die dem Antisozialisten Dorten nicht geheuer sein konnten. Dieser war am 22. Januar 1920 einer der Gründer der „Rheinischen Volksvereinigung“, die verglichen zur RhRVP eher zurückhaltendere Töne anstimmte.975 Erst in der Folgezeit näherten sich Smeets und Dorten bis zum Jahr 1923 einander an. Die Rheinlandfrage gärte nach August 1919 in kleineren Zirkeln weiter, trat indessen bei den sonstigen ursprünglichen Rheinstaatsbefürwortern und insbesondere bei der Zentrumspartei mehr und mehr in den Hintergrund. Auf dem Reichsparteitag des Zentrums am 17. September 1919 bekannte man sich kryptisch zum Modell eines offenbar staatstheoretisch wenig durchdachten „organischen deutschen Einheitsstaates mit autonomen Stammesländern“, wobei man hervorhob, dass alle Neugliederungen strikt verfassungskonform ablaufen müssten.976 Weitere erhobene Forderungen der Zentrumspartei, etwa dass man den preußischen Provinzen mehr Selbstverwaltung gewähren möge, behielten in der Folgezeit eher appellativen Charakter.
XXIV. Zusammenfassung und Ergebnisse Die ersten Rheinstaatsbestrebungen setzten nach dem Waffenstillstand und gleichzeitig mit der Novemberrevolution ein und sind in diesem epochalen Kontext zu würdigen. Als organisatorische „Keimzelle“ gilt die weit verbreitete katholische Kölnische Volkszeitung, deren Protagonisten rasch die Zusammenarbeit mit Kölner Zentrumspolitikern, nicht zuletzt Adenauer, suchten. Innenpolitisch aufgeschreckt durch die sozialistische, kulturkämpferische Revolution und angesichts der außenpolitischen Bedrohung durch Pläne einer französischen Rheingrenze, beriet man, wie die Prosperität, Sicherheit und Kultur des Rheinlandes und seiner Bevölkerung in Zukunft am besten gewährleistet sein würden. Übereinstimmend kam man zu dem Schluss, dass ein Rheinstaat, der sich von Preußen ablöste, die geeignete Lösung gegen bolschewistische Anarchie und französische Annektion sein musste. Dabei legte man sich indes bis zum Jahresende 1918 nicht eindeutig staatsrechtlich fest, was für ein Gebilde die zu schaffende Rheinische Republik sein sollte. Früh fanden sich jedoch eindeutige Bekenntnisse zum Deutschtum am Rhein und auch zum Deutschen Reich. 974
Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 11. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 219. 976 Entschließung des Zentrums wiedergegeben bei Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 12. 975
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Mit der Zentrumsversammlung in Köln vom 4. Dezember 1918 traten die freilich noch diffusen Rheinstaatspläne zum ersten Mal wahrnehmbar an die deutsche Öffentlichkeit und es wurde eine Resolution verabschiedet, die eine dem Deutschen Reiche angehörige, jedoch selbständige Rheinisch-Westfälische Republik forderte. Hier war eindeutig und unmissverständlich ausgesprochen, dass es den Rheinländern nicht um die Loslösung vom Reich und Pufferstaatsgründung ging. Dennoch stieß die Erklärung in den folgenden Wochen auf harsche Kritik, die vor allem den Inhalt hatte, dass jegliche territoriale Änderungen in Zeiten außenpolitischen Drucks für die Reichseinheit insgesamt gefährliche Experimente seien, die man tunlichst zu unterlassen habe. Am 13. Dezember 1918 hatte sich die Reichsführung eingeschaltet und glaubte fälschlicherweise, mit einem Machtwort den Rheinstaatsbestrebungen sodann ein schnelles Ende bereitet zu haben. Virulent bleiben konnten die Rheinstaatspläne im Grunde nur, weil sie sich mit den einsetzenden Debatten um die allgemeine territoriale Neuordnung Deutschlands und der Aufspaltung des Großstaates Preußen inhaltlich verbanden. Insofern nährten die Preußschen Verfassungsentwürfe vom Januar 1919 Expektanzen der Rheinlandbewegung, sahen sie doch die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer basisdemokratischen Gliedstaatsgründung, auch gegen den Willen der überkommenen Freistaaten, vor. Diese Perspektive wirkte im Folgenden disziplinierend auf die vagen und unausgereiften Ideen der Rheinstaatsanhänger, denn es war klargestellt worden, dass es unter Umständen eine legale Zukunft für das Rheinland in der Form des eigenständigen Landes im Bundesstaat geben konnte. Man dachte daher nicht daran, die Sezession vom Reich zu betreiben. Zu diesem Zeitpunkt, also zu Beginn des Jahres 1919 und den Wahlen zu den verfassunggebenden Versammlungen im Reich und in Preußen, waren die Rheinstaatsbestrebungen allesamt legalistisch und konstitutionalistisch orientiert, d. h. man respektierte die Kompetenz der gewählten Vertreter zur Schaffung eines Rheinstaates auf dem Wege der Verfassunggebung. Es wurde nicht bezweifelt, dass die Lösung der Rheinlandfrage eine gesamtdeutsche Angelegenheit war und als solche behandelt werden musste. Dabei war man durchaus nachvollziehbar optimistisch, wiesen doch die Arbeit Preuß‘ und die Wahlversprechen der Kandidaten der rheinischen Zentrumspartei in diese Richtung. Eine Spaltung bzw. Fragmentierung der Rheinstaatsbewegung setzte erst und allmählich nach der Kölner Parlamentarier-Konferenz vom 1. Februar 1919 ein, in der der überparteiliche Westdeutsche Politische Ausschuss eingerichtet worden war, der sich nach seinem Selbstverständnis in politischen Debatten und insbesondere in den Verfassungsberatungen für die Idee des Rheinstaates stark machen sollte. Nicht wenige, vor allem in der Redaktion der Kölnischen Volkszeitung, hatten indes gehofft, die rheinischen Abgeordneten würden bereits die Sitzung selbst dazu nutzen, die Rheinische Republik als Gliedstaat, abgelöst von Preußen, zu proklamieren, um so den Debatten mit ungewissem Ausgang in den Verfassungsversammlungen vorzugreifen.
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Die gemäßigten Rheinstaatsanhänger arbeiteten auf eine mehrheitsfähige Lösung der Rheinstaatsfrage in den Versammlungen hin und mussten schon deshalb bedacht darauf sein, die ursprüngliche Initiative der Zentrumspartei zu einem überparteilichen Ansinnen zu machen. Deshalb wurde etwa der Westdeutsche Politische Ausschuss, wie andere vorläufige Gremien zuvor, mit Vertretern aller maßgeblichen Parteien besetzt. Es zeigte sich in den Verfassungsberatungen jedoch bald, dass die Skepsis der übrigen Parteien gegenüber einer „Zerschlagung“ Preußens und einer Weststaatsgründung überwog und es nahezu ausschließlich Zentrumsabgeordnete waren, die daran festhielten, die Rheinische Republik explizit in der Reichsverfassung vorzusehen. Als dies nicht möglich war, schon weil man aus grundsätzlichen Erwägungen die einzelnen Gliedstaaten bzw. Länder nicht ausdrücklich in der Verfassung aufzählen und damit festschreiben wollte, konzentrierten sich die Kräfte der rheinischen Legalisten auf das Ringen um den Neugliederungsartikel (den späteren Artikel 18 WRV). Anfang 1919 war Dorten als überzeugter Antibolschewist und ehrgeiziger Rheinstaatsanhänger auf die politische Bühne getreten und hatte seine Mitwirkung zunächst an der Marschrichtung Adenauers ausgerichtet. Auch er war am 1. Februar 1919 davon ausgegangen, der Oberbürgermeister würde auf der Abgeordnetenversammlung die Rheinische Republik ausrufen und insbesondere ihn, Dorten selbst, als treuen Vorkämpfer der rheinländischen Sache in die Kreise der politischen Prominenz des Rheinlandes einführen. Als die Proklamation ausblieb und Dorten das Kölner Rathaus spätnachmittags verließ, hatten sich Adenauer und die übrigen legalistischen Rheinstaatsbefürworter einen eifrigen Gegenspieler geschaffen, der sich fortan daranmachte, den Rheinstaat (falls notwendig) gegen die Autoritäten der ohnehin verhassten sozialistischen Regierungen und der gerade gewählten verfassunggebenden Versammlungen durchzusetzen. An Adenauer, dem Westdeutschen Politischen Ausschuss und vor allem den übrigen rheinischen Parlamentariern kritisierte Dorten – offenbar ohne jedes Gespür für die Notwendigkeit politischer Konsensfindung – die Zögerlichkeit und Antriebslosigkeit, mit der diese seiner Ansicht nach die rheinische Frage behandelten. Die auf rasches Handeln drängenden Aktionisten um Dorten und die Kölnische Volkszeitung wandten sich infolgedessen von den parlamentarisch orientierten Legalisten ab und meinten, selbst außerparlamentarisch tätig werden zu müssen. Das Manifest dieser Strömung der Rheinlandbewegung wurde die Sechs- bzw. Fünf-Punkte-Erklärung vom 6. und 10. März 1919; ihre Instrumente zur Lösung der Rheinstaatsfrage waren nicht Parlamentsdebatten und -beschlüsse, sondern vor allem eine sofortige Volksabstimmung der betreffenden Bevölkerung, die unter Berufung auf das ohnehin virulente Selbstbestimmungsrecht der Völker eingefordert wurde. Die Resolution der Kasino-Versammlung vom 10. März 1919, aus der als Gegenmodell zum Westdeutschen Politischen Ausschuss der „Ausschuss für eine Volksabstimmung zur Errichtung der Westdeutschen Republik“ hervorging, wurde jedoch nicht wirkmächtig, was insbesondere an der zügigen und entschiedenen Reaktion
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
sowohl der Nationalversammlung (13. März 1919) als auch der Landesversammlung (24. März 1919) lag. Da sich die rheinischen Aktionisten mit ihrem Anliegen im Frühjahr 1919 von der deutschen Politik im Stich gelassen fühlten, nahmen sie Kontakt zu französischen Militärs auf. Konnte sich die französische Führung innerhalb der alliierten Siegermächte zwar nicht mit ihrem lange gehegten Vorhaben der französischen Rheingrenze durchsetzen, so hatte man doch nicht den Plan fallengelassen, entlang des Rheins einen Pufferstaat los vom Deutschen Reich zu etablieren, der naturgemäß unter dem wirtschaftlichen und militärischen Einfluss Frankreichs stehen würde. Zwischen Dorten sowie insbesondere den Aachener Aktivisten und dem französischen General Mangin fanden einige konspirative Gespräche statt; das berühmteste Treffen am 17. Mai 1919 in Mainz. Die Franzosen beharrten zunächst auf ihrer Pufferstaatslösung und machten deutlich, dass man an einer Rheinischen Republik im Reichsverband kein Interesse habe. Die rheinischen Aktionisten gaben den Wünschen der Besatzungsmacht jedoch nicht nach, sondern verwiesen auf den Umstand, dass in der rheinländischen Bevölkerung keine mehrheitsfähige Stimmung für eine Abtrennung vom Deutschen Reich vorhanden sei. Selbst gegenüber den Franzosen bestanden Dorten und die Übrigen also auf der Zugehörigkeit der Rheinrepublik zu Deutschland; eben in der staatsrechtlichen Form des Gliedstaates. Schließlich willigte Mangin, der erkannt haben musste, dass mit den Rheinstaatsanhänger kein (unabhängiger) Pufferstaat im französischen Interesse zu machen war, in die französische Unterstützung einer bevorstehenden Gliedstaatsproklamation ein. Als es Ende Mai 1919 aufgrund einer Indiskretion publik wurde, dass sich Rheinstaatsbefürworter mit hohen französischen Militärs konspirativ getroffen hatten, begannen sich die politischen Ereignisse zu überschlagen. Ein Ultimatum der Reichsregierung vom 28. Mai 1919 belegte sämtliche Betätigung für die Rheinische Republik mit dem Verdikt des Hochverrats. Die beiden Zentrumsabgeordneten in der Landesversammlung Kastert und Kuckhoff, die als einzige Parlamentarier in Mainz mit von der Partie waren, sahen sich aufgrund des öffentlichen Drucks gezwungen, die Zentrumsfraktion zu verlassen bzw. im Falle Kuckhoffs sogar ganz aus der Versammlung auszuscheiden. Adenauer berief zum ersten und gleichzeitig letzten Mal den Westdeutschen Politischen Ausschuss ein, und das im Grunde auch nur zu dem Zweck, festzustellen, dass man sich in nächster Zeit, jedenfalls bis zum Friedensschluss, jedes weiteren Engagements für den Rheinstaat enthalten wolle. Im Folgenden unterließ die parlamentarisch-legalistische Rheinstaatsinitiative tatsächlich jeden weiteren Vorstoß zur Schaffung eines rheinischen Freistaates im Reichsverband. Im Plenum sowie im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung hatte man sich intensiv in der Debatte über die Ausgestaltung des Neugliede-
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rungsartikels eingeschaltet, wobei es das Ziel sein musste, eine künftige Rheinstaatsgründung ex constitutione nicht per se unmöglich zu machen. Somit ist die parlamentarische Rheinstaatsinitiative, die stets eine legalistische gewesen ist, d. h. die illegale und konspirative Aktion stets abgelehnt hat, eher im Zusammenhang mit der zum Jahresbeginn 1919 ohnehin einsetzenden und nicht zuletzt von Preuß angeregten Diskussion um eine Neugliederung des Reiches, besonders durch die Auflösung des Freistaates Preußen in seinem damaligen übergroßen Umfang, zu sehen. Ihr konnte mithin nicht der Vorwurf der hochverräterischen Sonderbündelei angeheftet werden, jedenfalls sofern man sich als etablierter Politiker von dem diffus-aktionistischen Flügel der Rheinstaatsverfechter fern genug hielt, was Kastert und Kuckhoff durch ihre Beteiligung an der Unterredung mit General Mangin am 17. Mai 1919 gar nicht geglückt ist und auch Adenauer im Frühjahr 1919 in Bedrängnis gebracht hatte, nicht zuletzt durch die Kontakte zur Kasino-Versammlung Anfang März und zu Froberger, der im Hintergrund bei den vorwärts drängenden Aktivisten unentwegt die Fäden zog. Es ist historisch unrichtig, rheinischen Prominenten wie beispielsweise Trimborn und Kaas anzudichten, sie steckten mit dem Zirkel um Dorten unter einer Decke und machten zur Erreichung des Endziels „Rheinische Republik“ gemeinsame Sache mit den außerparlamentarischen Verschwörern. Für die politische Konkurrenz, allen voran für linksliberale Demokraten und Sozialdemokraten, waren diese Kompromittierungen Teil des parlamentarischen Alltagsgeschäfts, gerade um die Zentrumspartei, die wahlweise als klerikal und unaufgeklärt, national unzuverlässig oder konterrevolutionär angesehen wurde, attackieren zu können. Für die Zentrumsfraktionen in der National- wie der Landesversammlung war die Rheinstaatsbewegung im Frühjahr 1919 zunehmend zu einer politischen Bürde geworden. Was sich zum Jahreswechsel 1918/19 als identitätsstiftendes Argument und noch im Januar 1919 als „Wahlkampfschlager“ im Rheinland ausgenommen hatte, war danach in der praktischen Parlamentsarbeit zu einer Hypothek für das Zentrum und seine Spitzenleute geworden. Einerseits fühlte man sich wohl noch an die Wahlkampfversprechungen gegenüber der rheinischen Bevölkerung gebunden, andererseits verkomplizierte die Rheinstaatssache mehr und mehr die Debatte um die künftige Reichsverfassung. Auch wenn beharrlich von allen Rheinstaatsbefürwortern, hießen sie nun Dorten oder Adenauer, versucht worden war, die Rheinstaatsidee am Leben zu erhalten, so waren es letztlich die harten Friedensbedingungen, die am 7. Mai 1919 bekannt gegeben worden waren, die die gesamte Reichspolitik vor neue, ungeahnte Herausforderungen stellten und dem Gedanken an ein von Preußen unabhängiges Rheinland Ende Mai 1919 politisch einstweilen den Todesstoß versetzten. Die parlamentarischen Anhänger einer rheinischen oder westdeutschen Republik waren nun am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen. Zunehmend hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Rheinstaat auf verfassungsrechtlichem Wege nicht in nächster Zeit ins Werk gesetzt werden würde, da die Hürden für Länderneu-
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B. Die Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen
gliederungen in der Reichsverfassung schließlich hoch angesetzt waren und die Anwendung des Artikels 18 WRV überdies für zwei Jahre suspendiert war. Damit überließen sie letztlich wissend, wenn auch unfreiwillig, den aktionistischen Putschisten das Feld, das sie als Volksvertreter in den gegebenen Mehrheitsverhältnissen der Weimarer Koalition, dem Streit zwischen der Reichsebene und den Ländern sowie auch angesichts außenpolitischer Zwänge nicht zu bestellen vermocht hatten. Das Scheitern der Rheinstaatsproklamation in Wiesbaden am 1. Juni 1919 markiert das Ende der aktionistischen Rheinstaatsbewegung zwischen November 1918 und dem Sommer 1919. Nachdem die Bildung des rheinischen Freistaates parlamentarisch praktisch undurchführbar geworden war, fand die forschere, außerparlamentarische Aktion ihr tatsächliches Ende Anfang Juni. Indes misst Morsey dem verpatzten Putschversuch weniger Bedeutung zu, denn für ihn bedeutet vielmehr der Abschluss des Versailler Friedensvertrags am 28. Juni 1919 das Ende der Rheinstaatsbestrebungen aktionistischer respektive „separatistischer“ Prägung, da man fortan nicht mehr mit den Ängsten in der Bevölkerung vor der Annexion rheinischen Territoriums habe operieren können.977 Zum einen ist diese Feststellung jedoch zu relativieren, denn auch nach dem Friedensschluss bestanden diffuse Befürchtungen mit Blick auf die französische Besatzung bzw. die Bildung westlicher Pufferstaaten fort, sollten künftig die Reparationsforderungen nämlich nicht eingetrieben werden können.978 Zum anderen war eine möglicherweise schlagkräftige Rheinstaatsinitiative des aktionistischen Zirkels bereits Ende Juni 1919 derart verebbt, dass es auf die territorialen Festlegungen des Friedensvertrages nicht mehr politisch ankam. Der Zenit der öffentlichkeitswirksamen Loslösungsbestrebungen war bereits Anfang Juni überschritten worden, folglich – und das ist verfassungshistorisch festzuhalten – mit einem größeren zeitlichen Abstand zur Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 31. Juli 1919, als Morsey dies wahrnimmt. Schließlich sah selbst die französische Presse schon am 7. Juni 1919 das Experiment der Rheinischen Republik als gescheitert an. Die kommunistische Pariser Zeitung „L‘Humanité“ berichtete, der Proklamationsversuch sei für Frankreich eine schmähliche Tragödie gewesen und für das Rheinland eine Tragikomödie.979 Springer behauptet, trotz dieses Rückschlags hätten französische Militärs und insbesondere Mangin die Putschisten weiterhin unterstützt, nicht zuletzt mit der Zahlung von 250.000 Francs – wobei er jedoch Nachweise für weitere Konspirationen schuldig bleibt.980 977 Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 539. 978 Soutou, Deutschland, Frankreich und das System von Versailles, in: Franz Knipping, Ernst Weisenfeld (Hrsg.), Eine ungewöhnliche Geschichte. Deutschland – Frankreich seit 1870, 1988, S. 74. 979 Meinhardt, Adenauer und der rheinische Separatismus (Fn. 174), S. 18. 980 Springer, Loslösungsbestrebungen am Rhein (1918 – 1924) (Fn. 442), S. 10.
XXIV.
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Im Juli und August 1919 war den Rheinländern seitens der preußischen Regierung in Aussicht gestellt worden, die lokale Selbstverwaltung auszubauen, was das Loslösungsverlangen jedenfalls der politischen Entscheidungsträger des Rheinlandes entscheidend abmildern konnte. Mit Artikel 18 sah die Weimarer Reichsverfassung tatsächlich die jedenfalls abstrakte Möglichkeit zur territorialen Neuordnung vor, wenn auch mit Blick auf die außenpolitische Lage zunächst bis August 1921 ausdrücklich aufgeschoben. Der Versailler Friedensschluss sowie die Etablierung des parlamentarisch-semipräsidentiellen Regierungssystems nahmen den Rheinländern die Angst, von den Franzosen annektiert oder von Bolschewisten tyrannisiert zu werden. Bis 1923 kam die Rheinlandbewegung weitgehend zur Ruhe. Die preußische Führung zeigte eine zunehmende „Anpassungsbereitschaft der Ämterpolitik“, was dazu führte, dass verstärkt gebürtige Rheinländer Verwaltungsämter in der Rheinprovinz übernehmen konnten. Rheinische Vertreter in der Freistaatsregierung (etwa Carl Heinrich Becker und Hugo am Zehnhoff) und in den wechselnden Kabinetten der Reichsregierung (Bell, Brauns, Sollmann, Jarres, Luther, Marx und Moldenhauer) trugen dazu bei, dass die eigentümlichen Belange des größenteils besetzten rheinischen Gebietes in der preußischen und reichsdeutschen Politik gewahrt werden konnten.981 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang schließlich wiederum die Persönlichkeit Adenauers, der als Präsident des Preußischen Staatsrates zwischen 1921 und 1933 amtierte.
981 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 195.
C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen In der gebotenen Kürze werden in diesem Kapitel die vorherrschenden und tragenden Motive und Beweggründe der ersten Rheinstaatsinitiative schlaglichtartig dargestellt und zusammengefasst. Dadurch wird zum einen die politische Gemengelage im Rheinland sowie im Deutschen Reich 1918/19 herausgestellt, zum anderen wird deutlich, wie die uns heute fremd erscheinende rheinländische Loslösungsbewegung überhaupt derart relevant werden konnte in der Übergangszeit vom Kaiserreich zur Republik von Weimar.
I. Die Bedrohung einer Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich Bevor das linksrheinische Gebiet im Jahre 1815 zum preußischen Territorium wurde, war es lange Jahre durch die französische Revolutionsarmee besetzt und Frankreich de facto angegliedert gewesen. Bis zum Sturz Napoleons waren zwischen 1798 und 1814 auf den Gebieten links des Rheins die Départements Rhin-et-Moselle, Saar und Donnersberg eingerichtet gewesen. Nicht zuletzt seit Napoleon III. in den 1860er Jahren, versuchte Frankreich immer wieder, bald das linke Rheinufer, bald das Saargebiet, bald die Rheinpfalz oder Luxemburg sich anzugliedern.982 Im Verlaufe des italienischen Krieges von 1859 bot Napoleon seinem österreichischen Widersacher Kaiser Franz Joseph I. in Villafranca günstige Friedensbedingungen an, sofern Österreich Frankreich am Rhein freie Hand lasse. Die stolze Antwort Kaiser Franz Josephs auf dieses Angebot lautete jedoch: „Sire, ich bin ein deutscher Fürst!“983 Man muss für den Zeitpunkt 1918/19 also von einer zumindest latenten Bedrohung der Rheinlande und der rheinischen Bevölkerung durch französische Inbesitznahme seit über 60 Jahren ausgehen.984 Die Franzosen betrieben die Besatzung und Entmilitarisierung des Rheinlandes vor allem aus zwei Gründen: Zum einen sollte das Rheinland als „Pfand“ dienen, um 982
Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1955, S. 87 f. Zitat bei Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 322. 984 Vgl. hierzu eingehender Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 322. 983
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die Ausführung der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags und insbesondere hier die Reparationszahlungen zu sichern, und zum anderen diente ein besetztes bzw. entmilitarisiertes Rheinland dem Zwecke der militärstrategischen Sicherung gegen eine befürchtete deutsche Revanche. 985 Es ist nicht der Anspruch dieser Arbeit, die mannigfaltigen, oftmals diffusen und sich widersprechenden französischen Pläne zu einer künftig zu schaffenden Grenze entlang des Rheins en détail darzustellen,986 sondern es interessiert insbesondere, welchen Eingang die Furcht vor der französischen Annexion des linken Rheinufers in die (verfassungs-)politische Debatte in Deutschland gefunden hat und ob diese Angst begründet oder nur politisch durch die Rheinstaatsanhänger geschürt und letztlich übertrieben gewesen ist. Unter Annexion soll dabei „die gewaltsame Einverleibung eines fremden Staatsgebiets mit dem Willen, es als territorialer Souverän zu beherrschen“ verstanden werden.987 Den Stand der historischen Forschung zu den französischen Rheinstaatsplänen im und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg fasst Schlemmer wie folgt zusammen: „Sicher ist, dass die territorialen Vorstellungen der französischen Regierung nicht so weit gingen wie die ,weitgreifenden Forderungen mancher Pariser Publizisten‘ oder die während des Krieges auf deutscher Seite entworfenen Annexionspläne hinsichtlich französischer Gebiete. Dies ist neben dem wechselhaften Kriegsgeschick wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich die französische Regierung aus taktischen Gründen in Zurückhaltung üben musste, um sich durch vorschnell geäußerte Forderungen nicht selbst ihres Handlungsspielraumes bei späteren Friedensverhandlungen zu berauben. Daher ließen die französischen Kriegskabinette die Frage offen, ob sie eine Annexion des linken Rheinufers oder die Bildung eines selbständigen Rheinstaates favorisierten.“988 Georges-Henri Soutou hat dagegen nachgewiesen, dass trotz aller taktischen Zurückhaltung eine konsistente Absicht in der französischen Rheinlandpolitik zwischen 1915/16 und 1924 Bestand hatte, die darauf abzielte, als Minimallösung jedenfalls die Neutralisierung bei gleichzeitiger dauerhafter Besetzung des Rheinlandes anzustreben. Als Ideallösung habe aber gegolten, ein vom Deutschen Reich getrenntes französisches Protektorat zu errichten. Da die französische Politik ihre Ziele auf der Versailler Konferenz nur teilweise habe realisieren können, habe man sich im Frühsommer 1919 mit dem Gedanken beschäftigt, zumindest einen unter nachhaltigem französischen Einfluss stehen Rheinstaat als deutschen Gliedstaat im Reichsverband zu fördern.989 Dabei unterstützte man auch aktionistische Gruppierungen im Rheinland,990 wie etwa den Dorten-Zirkel in Wiesbaden.991 985 986 987
S. 20. 988 989
Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 322. Siehe hierzu etwa Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 680 ff. Nach Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 6 (1993), Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 682 m.w.N. Soutou, Deutschland, Frankreich und das System von Versailles (Fn. 978), S. 75 ff.
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Im Wesentlichen zum gleichen Befund ist Köhler gelangt: In der gesamten französischen Staats- und Militärführung habe insgeheim Einigkeit hinsichtlich der Rheingrenze als Kriegsziel geherrscht.992 Dieses sei umso dringlicher geworden, als nach dem Untergang des verbündeten russischen Zarenreichs 1917 Frankreich sich nicht mehr auf die Wehrkräfte bindende Zweifrontenkonstellation verlassen konnte und man damit rechnete, das Deutsche Reich werde weitere Truppen im Westen stationieren.993 Ein weiterer Grund lag darin, dass man mit dem zaristischen Russland zu Beginn des Weltkrieges Geheimverträge abgeschlossen hatte, die die „Festlegung der Reichsgrenze am Rhein“ vorsahen.994 Hier verloren die Franzosen also einen wichtigen Partner. Auch Jörg Fisch resümiert: „Solange Frankreich geglaubt hatte, Deutschland besiegen zu können, hatte es unbestritten [!] deutsche Gebiete, bis hin zur Rheingrenze, verlangt, ohne von einem Plebiszit zu reden.“995 Diese Ansicht findet sich auch in der ausländischen Geschichtsforschung bestätigt. Der Tscheche Jaromír Soukup schreibt: „The French general public and French politicians called for limiting Germany to the right bank of the Rhine.“996 Bis zum Abschluss des Friedensvertrages ergab sich für Kolb in Frankreich folgendes Stimmungsbild: „Regierung und öffentliche Meinung Frankreichs [sahen] den langersehnten Moment gekommen, in dem es möglich schien, den aggressiven Nachbar noch erheblich weiter zurückzudrängen, möglicherweise die Rheinlinie zu gewinnen. Die französischen Absichten zielten in erster Linie auf den Erwerb des Saargebiets, in zweiter Linie wenn schon nicht auf die Rheingrenze, so doch zumindest auf die ständige militärische Kontrolle des Flusses und der Brückenköpfe sowie die Bildung eines oder mehrerer vom Reich losgelöster Staaten auf dem linken Rheinufer.“997 Ob die neu zu schaffenden linksrheinischen Gebietskörperschaften tatsächlich reichsunabhängig hätten sein sollen, erscheint, wie schon gezeigt, zweifelhaft. Kolb differenziert nicht hinreichend zwischen der separatistischen Maximalforderung und der föderalistischen Lösung, nach der ein von Preußen losgelöster Freistaat gebildet worden wäre. Dies erklärt sich jedoch dadurch, dass auf französischer Seite, ebenso 990
Soutou, Deutschland, Frankreich und das System von Versailles (Fn. 978), S. 78. Vgl. hierzu Kapitel B.XVII. sowie B.XXII. 992 Köhler, Paul Tirard (1879 – 1945), in: Franz-Josef Heyen (Hrsg.), Rheinische Lebensbilder 1991, S. 261. 993 Köhler, Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschlandpolitik 1918 – 1919, 1980, S. 192. 994 Springer, Loslösungsbestrebungen am Rhein (1918 – 1924) (Fn. 442), S. 5. 995 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010, S. 129. 996 Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919, abrufbar unter: http://usd.ff.cuni.cz/?q=system/ files/Soukup.pdf, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018, S. 227. 997 Kolb, Die Weimarer Republik (Fn. 61), S. 29. 991
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wie innerhalb der Gruppe der Rheinstaatsbefürworter selbst, die Grenzen zwischen den verschiedenen angedachten Lösungen fließend waren und gerade kein einheitlicher Plan bestand, sondern ein Neben- und Übereinander verschiedener, teils unausgegorener, teils undefinierter und teils widersprüchlicher Ziele und Wünsche auszumachen war. Huber indessen hält es für erwiesen, dass Frankreich gemeinsam mit den „eigentlichen ,Separatisten‘“ die Pufferstaatslösung anstrebte, wobei dieser in die politische, wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit von Frankreich geraten wäre.998 Es war primär die im Weltkrieg radikalisierte nationalistische französische Presse, die in Permanenz die unverhohlene Annexion der linken Rheinseite von ihrer Regierung forderte. Hervorgehoben sei hier nur die Zeitschrift „Echo de Paris“ des prominenten Nationalisten Barrès, in der bereits im Frühjahr 1915 die Rheingrenze oder zumindest die Bildung eines selbständigen, auf ewige Zeiten neutralen Rheinstaates gefordert wurde.999 Später hatte Barrès sogar seinen Wohnort nach Straßburg verlegt, um konspirativ die Möglichkeiten einer Annexion in der deutschfranzösischen Grenzregion zu eruieren. Brüggemann nennt ihn den „Hauptagitator für die Annektion in Frankreich“.1000 Insbesondere hohe französische Militärs verfolgten mehr oder weniger fixe Annexionspläne. So hatte Marschall Foch Clemenceau noch am 27. November 1918 vorgeschlagen, die linksrheinischen Gebiete zu annektieren. Am 30. November 1918 sprachen beide bei britischen Politikern in London vor und versuchten, die Verbündeten von einer Loslösung der linksrheinischen Gebiete vom Deutschen Reich und einer dauerhaften Verwaltung durch Franzosen, Belgier, Luxemburger und Briten zu überzeugen. Diese lehnten die weitgehenden französischen Pläne indes ab.1001 In einer zweiten Note vom 10. Januar 1919 revidierte Foch seinen Vorschlag nur geringfügig: Der Rhein sollte die Westgrenze des Deutschen Reichs bilden und etwaige entstehende Rheinstaaten sollten einen völkerrechtlich anerkannten Autonomiestatus erhalten.1002 Es war David Lloyd George, der die französischen Pläne erneut rundheraus ablehnte, und auch die US-Amerikaner vertraten die Ansicht, dass die Errichtung von Rheinstaaten über die Köpfe der betreffenden Einwohner hinweg deren Selbstbestimmungsrecht verletze und den Rheinländern das Recht zuerkannt werden müsse, mit dem Deutschen Reich vereinigt zu bleiben.1003 Wilson schrieb persönlich an seinen Entente-Abgesandten Edward Mandell „Colonel“ House: „I know I can trust you and our colleagues to withstand such a programme immovably. 998
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1129. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 683. 1000 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 30. 1001 Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 233. 1002 Becker, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören (Fn. 676), S. 67 f. 1003 Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 233. 999
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
[…] The determination of the geographic boundaries of Germany involves the fortunes and interests of the other peoples, and we should not risk being hurried into a solution arrived [at] solely from the French official viewpoint.“1004 Bei einem Treffen mit House am 22. Februar 1919 erklärte Clemenceau, dass er an einer vom Reich unabhängigen Rheinischen Republik, die keine eigene Armee unterhalten, im Gegenzug aber von Reparationszahlungen befreit sein sollte, festhalte. Den Rheinländer müsste vor Augen geführt werden, dass es für sie enorme Vorteile habe, sich vom Deutschen Reich zu lösen.1005 Am 28. Februar 1919 äußerte sich Tardieu, der Vorsitzende der Kommission für die Gebietsfragen auf der Friedenskonferenz, welcher bereits eine Denkschrift zur „Festlegung der deutschen Westgrenze am Rhein“ erarbeitet hatte1006, gegenüber der amerikanischen Presse etwas moderater dahingehend, dass es Frankreich mit Blick auf die linksrheinischen Gebiete weniger um das konkrete politische Regime gehe, sondern in erster Linie darum, dass sie nicht erneut als Angriffsbasis gegen Frankreich genutzt werden könnten, so wie es in den letzten fünfzig Jahren immer wieder der Fall gewesen war. Frankreich strebe indessen keine Annexion des linken Rheinufers an, sondern wolle lediglich (militärische) Sicherungen.1007 Hiermit redete Tardieu einem demilitarisierten, neutralen Rheinland das Wort und stellte sich damit gegen die nationalistische Rechte im eigenen Land, teilweise aber auch gegen den eigenen Ministerpräsidenten Clemenceau. Dieser hielt zunächst am Plan eines rheinischen Pufferstaates unter französischem Protektorat fest; dieser Staat sollte den Rheinländern attraktiv gemacht werden durch Befreiung vom französischen Militärdienst – den man offenbar zunächst für die Rheinländer vorgesehen hatte! –, durch Steuererleichterungen und eine Handelsunion mit Frankreich.1008 Daneben ging auch die britische Seite offenbar von einer Entmilitarisierung des Rheinlandes aus. In einem Aufsatz in der „Times“ vom 25. Februar 1919 hieß es: „Die gegebene strategische Grenze Frankreichs ist der Rhein, aber es erscheint mehr als zweifelhaft, ob außer verhältnismäßig wenigen radikalen Nationalisten sonst noch jemand in Frankreich ernstlich damit rechnet, daß der Rhein in die westliche völkische Begrenzung Deutschlands verwandelt werde; denn diese Entscheidung würde eine sehr große Zahl von Deutschen unter französische Herrschaft bringen und damit in Zukunft eine ständige Quelle neuer Beunruhigung schaffen. Es gibt dagegen 1004 Zitat bei Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 234. 1005 Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 234. 1006 Becker, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören (Fn. 676), S. 68. 1007 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 60. 1008 Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 235.
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verschiedene andere Mittel, durch die den Franzosen die Sicherheit verbürgt werden könnte, die ihnen im Völkerbundvertrag zugesagt worden ist.“1009 Entschieden sprachen sich die Briten indessen gegen eine auf unbestimmte Zeit andauernde Besatzung aus, obwohl man die französischen Sicherheitsinteressen dem Grunde nach anerkannte. Noch entschiedener wandte sich Wilson weiterhin gegen das Pufferstaatsvorhaben Fochs und Clemenceaus: „These people [die Rheinländer, P.B.] want to live in Germany. If we take this area from Germany, we will only cause the hatred and animosity. They would like then to renew the warfare through the same bitterness which the French felt against Germany for their lost provinces.“1010 Das Frühjahr 1919 war mithin geprägt durch harte und komplizierte Verhandlungen zwischen Wilson, Lloyd George und Clemenceau. Erst am 30. April 1919, eine Woche vor der Übergabe der Friedensbedingungen an die Deutschen, einigten sich die Alliierten schließlich auf die Aufteilung des Rheinlandes in drei Besatzungszonen und eine Besatzungsdauer von insgesamt fünfzehn Jahren, wobei alle fünf Jahre eine Besatzungszone geräumt werden sollte. Während der deutschen Führung die Überlegungen und Planspiele der französischen Seite nicht gänzlich verborgen blieben, brachen sie sich in der rheinischen Bevölkerung bereits vor Kriegsende als entsprechend vage und erhitzte Gerüchte Bahn.1011 Man befürchtete allenthalben die (teilweise) Annexion des Rheinlands durch die Belgier oder Franzosen; eine Befürchtung, die in den letzten Kriegsmonaten von deutschen Militärs genährt worden war, um den militärischen Widerstandswillen aufrecht zu erhalten.1012 Später hieß es, die Franzosen selbst würden am 18. Januar 1919, dem Tag der Reichsproklamation in Versailles 1871, die Republik Rheinland in Köln ausrufen.1013 Insofern ist der einseitigen Feststellung Köhlers zu widersprechen, wonach alleinig die Kölnische Volkszeitung und Froberger derlei Befürchtungen bewusst lanciert hätten, um Pläne der französischen Geheimdiplomatie zu unterstützen.1014 Am 30. Oktober 1918 warnte die katholische „Rheinische Volkszeitung“, die ab November vehement für das Loslösungsziel warb, vor der Gefahr der Annexion des linken Rheinufers. Die Franzosen betrachteten hiernach den Rhein als natürliche Grenze und man wolle verhindern, dass sich künftig deutsches Militär linksrheinisch
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Abgedruckt bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 60 f. Zitat bei Soukup, The Entente Powers and the Rhineland Question in the Armistice Period and during the Paris Peace Conference of 1919 (Fn. 996), S. 236. 1011 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 691 und 695. 1012 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 119. 1013 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 32. 1014 So wohl Köhlers zentrale These in der Rheinstaatsangelegenheit. Siehe etwa Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 11 f. und 30 f. Diese Grundannahme kritisiert auch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 695. 1010
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
festsetze, um seine westlichen Nachbarn zu überfallen.1015 Es ist belesenen Rheinländern durchaus bewusst gewesen, dass das Schlagwort von der „natürlichen Grenze“ Frankreichs „ein eisernes Inventarstück der französischen Chauvinisten geblieben“ war.1016 Insgesamt glaubte man sich im Westen von den sozialistischen Kräften in Berlin im Stich gelassen, da diese nicht einmal das außenpolitische Chaos zu bannen vermochten.1017 An dieser Stelle mischten sich demnach außenpolitische antifranzösische Affekte mit innenpolitischen antisozialistischen Stimmungen, die seit November 1918 stark zutage getreten waren.1018 Nach Schlemmer kann das Motiv der Annexions- oder Trennungsfurcht nicht zuletzt in seiner Bedeutung für die Rheinstaatsbewegung kaum überschätzt werden und erreichte zu Beginn des Jahres 1919 seinen Höhepunkt.1019 Auch Köhler sieht die außenpolitische Behauptung, wonach man sich gegen französische Annexionsbestrebungen dadurch habe erwehren müssen, dass man sich selbst zu einem eigenen Rheinstaat zusammenschließt, als neben einem diffusen Los-von-Berlin-Gefühl zentrales Leitmotiv der Loslösungsbewegung an.1020 Demgegenüber relativiert Huber diese Einschätzung, der zu den Ursprüngen der Rheinstaatsinitiative schreibt: „Die ersten Pläne zur Errichtung einer Rheinischen Republik entstanden unmittelbar mit der Novemberrevolution, also noch vor dem Vollzug der im Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918 vorgesehenen Besetzung des linken Rheinufers durch die westlichen Besatzungsmächte.“1021 Hier scheint es, als sei die Rheinlandbewegung unabhängig von dem außenpolitischen Motiv der bevorstehenden Annexion entstanden. Dabei unterschätzt Huber jedoch die bereits früher einsetzenden Gerüchte und diffusen Befürchtungen in ihrer historischen Bedeutung. Er betrachtet stattdessen als zentrales Motiv der Rheinlandbewegung das antisozialistische Momentum, indem er den „Separatismus“ als eine Reaktion unmittelbar auf die Novemberrevolution darstellt. Insbesondere Adenauer erkannte früh, dass die drohende Annexion durch die Franzosen einen wirksamen Beweggrund für den unabhängigen Rheinstaat darstellte, denn bereits Anfang Dezember 1918 argumentierte er gegenüber rheinischen Politikern, er habe „untrügliche Mitteilungen“ und „Nachrichten aus vollkommen sicherer Quelle“, dass Frankreich sich mit Einverständnis der übrigen EntenteMächte das gesamte linke Rheinufer angliedern wolle. Diese Informationen habe er von Preuß persönlich erhalten, was Brüggemann jedoch wohl mit Recht anzwei1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021
Rheinische Volkszeitung Nr. 253 v. 30. Oktober 1918 („Wahnforderungen“). Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 322. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 119. Vgl. hierzu eingehender Kapitel C.V. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 691 f. Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 39. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1128.
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felt.1022 Dennoch hätten vor allem Adenauer und der Koblenzer Oberbürgermeister Bernhard Klostermann versucht, „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ unter Hinweis auf die Annexionsgefahr für die Loslösung zu gewinnen.1023 Schließlich musste indes auch Brüggemann trotz aller Kritik einräumen, dass „in Frankreich eine starke Propaganda für den Anschluß der Rheinlande an den Westen in die Wege geleitet“ worden war.1024 Der Realpolitiker Adenauer hatte verstanden, dass die Annexionsbedrohung das naheliegende und suggestiv motivierende Argument gewesen ist, das sich für die Rheinstaatsinitiative benutzen ließ. Hiernach hoffte man, durch die Schaffung eines westdeutschen Gliedstaates dauerhaft eine feste Bindung des Rheinlands an das Deutsche Reich und mithin den Schutz vor einer Annexion linksrheinischer Gebiete durch Frankreich und unter Umständen auch Belgien zu gewährleisten.1025 Der allgemeinen Einschätzung verlieh Kirchem Ausdruck: „Frankreich wird aber sicherlich an seiner Ostgrenze lieber einen republikanischen rheinischen Freistaat, wenn auch im Anschlusse an das deutsche Reich sehen, als eine Rheinprovinz, die in der bisherigen Form und in starrem Festhalten an dem vielgehaßten Preußen verharrt.“1026 Ein selbstbewusster Rheinstaat würde sich einerseits den westlichen Angliederungsversuchen entgegenstellen und andererseits würde Frankreich sich mit der Zerschlagung Preußens und seines Rückzugs vom Rhein gen Osten begnügen. In seiner bereits erwähnten Schrift „Los von Berlin“ warnte der Geschäftsführer des Trierischen Bauernvereins Faust 1919: „Wenn sich die Rheinlande nicht von Preußen trennen, so werden die Franzosen ganz bestimmt im Westen Amputationen größeren Umfangs vornehmen.“1027 Wenn sich auch mit Abschluss des Friedensvertrags am 28. Juni 1919 die weitgehenden Befürchtungen nicht bestätigt haben mochten, so beobachteten Rheinstaatsbefürworter wie auch Rheinstaatsgegner weiterhin die französische Seite sehr genau, da man unter dem Eindruck des Wiesbadener Dorten-Putsches1028 nach wie vor annehmen konnte, die von dem Versailler Vertrag enttäuschte französische Führung sei versucht, gewaltsam Tatsachen im Rheinland zu schaffen. So schätzt Soutou die Situation nach dem Vertragsabschluss wie folgt ein: „[…] die Besetzung kann verlängert werden oder sogar wieder in Kraft treten, wenn Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachkommt. Das bedeutete, und alle waren sich dessen bewusst, völlige Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft des Rheinlands: sollte
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Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 20. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 30. 1024 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 29 f. 1025 Vgl. hierzu Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 187. 1026 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 15 f. 1027 Faust, Los von Berlin, 1919, S. 22. 1028 Vgl. hierzu Kapitel B.XXII. 1023
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
es im Reich bleiben oder würde es nicht zu einer Art französischem Protektorat werden?“1029 Noch am 23. Juni 1919 wies ausgerechnet Dorten in Eltville auf die vermeintliche schleichende „Französisierung“ hin, wogegen die Rheinstaatsgründung das sicherste Mittel sei, da die Franzosen in diesem Fall „sofort das Land verlassen“ würden und das Rheinland seine deutsche Selbständigkeit behalten könnte.1030 Schlemmer folgert hieraus, dass das Annexionsproblem die Rheinländer mal mehr, mal weniger intensiv während der gesamten Phase der Rheinstaatsbestrebungen in den Jahren 1918/19 beschäftigte.1031 Es dürfte mit Stieve anzunehmen sein, dass ohne die westliche Bedrohung, das heißt ohne die Gefahr einer französischen Annexion, der rheinische Unabhängigkeitsgedanke nicht dieselbe Durchschlagskraft und Popularität erreicht hätte.1032 Tatsächlich war die Absicht der Rheinstaatsbewegung, den erwarteten westlichen Annexionsplänen gegenüber adäquat zu reagieren und insbesondere das linksrheinische Gebiet für Deutschland erhalten zu können, vielleicht das zentrale und treibende Motiv jedenfalls bis Mai 1919. Man übertreibt nicht, wenn man gerade mit Blick auf die Bevölkerung der linken Rheinseite von einem „Trauma“ spricht, verstanden als latente Angst oder jedenfalls Befürchtung, dass die Franzosen eines Tages mächtig genug sein könnten, um nach dem deutschen Rheinland zu greifen und somit ihr langgehegtes Vorhaben schließlich in die Tat umzusetzen. Diese schwelende Angst prägte die Rheinländer für Jahrzehnte; insbesondere nach jedem verlorenen Krieg erwachten diese Sorgen aufs Neue. So stellt Dietmar Willoweit noch mit Blick auf die Absichten der Franzosen selbst nach dem Zweiten Weltkrieg fest: „Auch die Idee eines linksrheinischen Rheinstaates war noch nicht endgültig verabschiedet.“1033
II. Antipreußische Ressentiments und rheinischer Lokalpatriotismus Wenn auch Ressentiments, Gefühle und Vorurteile noch keine ideengeschichtlich relevanten Verdichtungen hin zu einer weltanschaulichen Haltung darstellen, so ist doch Schlemmer recht zu geben, der feststellt: „Kommen bei den unterschiedlichen Gruppen und Akzentuierungen der Rheinstaatbefürworter – nicht zuletzt bedingt durch den historischen beziehungsweise situativen Kontext – auch weitere Motive
1029
Soutou, Deutschland, Frankreich und das System von Versailles (Fn. 978), S. 74. Coblenzer Zeitung Nr. 315 v. 26. Juni 1919 („Die Sonderbündler“). 1031 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 695. 1032 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 534. 1033 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. Aufl. 2001, S. 382. 1030
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hinzu, so sind die Rheinstaatsbestrebungen ohne den Affekt gegenüber „Berlin“ kaum vorstellbar.“1034 Mit Blick auf den (an sich) zurückliegenden Kulturkampf meint Morsey, diese Erfahrung habe die antipreußische Grundstimmung der überwiegend katholischen Rheinländer gegenüber dem protestantisch geprägten Hohenzollernstaat noch verstärkt.1035 Dem widerspricht Huber: Der „eingewurzelte[] antipreußische[] Affekt[]“, habe nur in einem „begrenzten rheinischen Kreis[]“ vorgelegen.1036 Dabei stützt er sich nicht auf einen soziologischen Befund, sondern vermutet ohne Weiteres die untergeordnete Rolle des antipreußischen Moments. Als einer der wenigen Zeitzeugen behauptet lediglich der rechtsliberale Rheinstaatsgegner Moldenhauer, dass der Gedanke an eine Trennung von Preußen bis in die letzten Jahre des Krieges allen Rheinländern vollkommen fern gelegen habe. Er meint, ein Mentalitätswandel der rheinischen Bevölkerung habe erst mit der Niederlage im Weltkrieg und der sozialistischen Revolution eingesetzt.1037 Schon eine oberflächliche Auswertung der zeitgenössischen Publikationen und insbesondere der Streit- und Kampfschriften zeigt jedoch unverkennbar, dass das antipreußische Motiv durchaus ein im Hintergrund schwelendes gewesen ist. So heißt es gleich zu Beginn einer Schrift aus dem Jahre 1919, „daß die dem rheinischen Volk und seiner Eigenart durchaus widersprechende, unglückliche Verbindung mit dem preußischen Staat, die dieser vor 100 Jahren sehr gegen seinen Willen übernahm, gelöst werde. Eine Verbindung, die im rheinischen Volk stets als eine wesensfremde, den Rechten und Wünschen des Volkes in selbstherrlichster Weise widerstrebende Vereinigung aufgefaßt wurde.“1038 Allgemein üblich unter den Rheinstaatsanhängern aller Schattierungen war im Sprachgebrauch der Terminus „Preußen-Deutschland“ oder „Preußen-Berlin“, den sowohl Separatisten wie auch der Zentrums-Föderalist Schmittmann gebrauchten.1039 Morsey umschreibt dieses Phänomen als „Rückgriff auf vorpreußische Traditionen im Rheinland“.1040 Brüggemann, der konstatiert, Rheinländer seien „im allgemeinen gute Deutsche, aber gute Preußen waren sie nie“, erklärt sich die Abneigung gegen Preußen mit der „fränkischen Stammesart“: „Als Franken haben die Rheinländer für die Wesensart 1034
Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 478. Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 536 f. 1036 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1129. 1037 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4. 1038 Anonym, Rheinländer, wachet auf!, 1919, S. 6. 1039 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 479; Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 532. 1040 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 119. 1035
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der Länder des europäischen Westens mit ihrer von jeher etwas fortgeschritteneren Kultur in Politik und Verwaltung oft mehr Verständnis gehabt als für die Wesensart der übrigen deutschen Stämme, die ihnen im Gegensatz zu dem westlichen Fortschritt leicht als rückständig erscheinen mußten.“1041 In dieselbe Richtung argumentierte markant der erwähnte Schmittmann 1915: „Ein Jahrhundert preußischer Erziehung und Beeinflussung liegt hinter uns. In dieser Zeit haben wir nur allzu sehr unsere abendländische Sendung vergessen und uns ,auf den Boden der gegebenen Tatsachen gestellt‘, in der Hoffnung, damit die Gunst Preußens zu erlangen. Aber wir vergaßen, daß man aus uns wohl schlechte Rheinländer machen kann, aber nie gute Preußen, einfach weil fränkisches und nicht slawisches Blut in unseren Adern fließt.“1042 Ebenso spricht eine Kampfschrift von 1919 von den Rheinländern als „Rheinfranken“, denen man von jeher nachgesagt habe, dass sie die „freiesten der deutschen Stämme“ seien.1043 Der Liberale Brüggemann und der Zentrumspolitiker Schmittmann stehen beispielhaft für eine Vielzahl von historischen und zeitgenössischen Publizisten, die insbesondere zur Erklärung des antipreußischen Gefühls auf eine vermeintlich offenere, aufgeklärtere Mentalität und fränkische Abstammung der rheinischen Bevölkerung hinweisen, die der reaktionären Gesinnung der „Altpreußen“ zu jeder Zeit entgegengestanden habe. Dass der Autor Brüggemann jedoch einerseits den liberalen Freigeist der Rheinländer rühmen, an anderer Stelle indes das Rheinland als klerikal-konservative Zentrumsbastion verspotten kann,1044 zeigt die begrenzte Tragfähigkeit und Plausibilität des mentalitätsgeschichtlichen Erklärungsansatzes, jedenfalls soweit man diesen als bestimmend für das Selbstbild der Rheinländer begreift. Zudem eher romantisch denn politisch erscheint der lokalpatriotische Verweis auf die herausragende Kulturgeschichte der rheinischen Lande: „Die Rheinlande sind zwar recht eigentlich das Mutterland der deutschen Kultur, die vom deutschen Westen im ersten christlichen Jahrtausend erst kolonisierend den deutschen Osten erobert hat. Kein anderer deutscher Volksstamm kann sich rühmen, daß die Quellen der deutschen Sage, Geschichte und Kunst auf seinem Boden so reichlich sprießen wie der rheinische. Die Burgen, Städte und Dome am Rhein sprechen eine überwältigende Sprache deutscher Erinnerungen. Dessen ist sich das rheinische Volk wohl bewußt.“1045 Diese Beobachtung führt Brüggemann zu dem Schluss: „Mit dem größeren Alter der rheinischen Kultur hängt es aber auch zusammen, daß sie bereits 1041
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 12 f. Zitat bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 182. 1043 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), Zur Einführung, S. 5. 1044 Vgl. hierzu sogleich Kapitel C.IV. 1045 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 13. 1042
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Entwicklungsstadien erreicht hat, bis zu denen die jüngere deutsche Kultur nicht in gleichem Maße vorgedrungen ist.“1046 Brüggemann machte diese weitschweifenden Ausführungen, um eine vermeintliche Nähe der Rheinländer zum westeuropäischen Kultur- und Traditionskreis zu begründen, die man mit dem Nationalismus preußischer Provenienz nicht nachhaltig in Berührung bringen konnte. Gewiss treffe der preußische Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit der rheinischen Bevölkerung mit Blick auf die Treue zu Preußen zu, nicht jedoch auf die Treue zum deutschen Vaterland. So habe man in der Rheinprovinz eher eine natürliche Nähe zu den demokratischen süddeutschen Ländern am Oberrhein empfunden, als zum Königreich Preußen.1047 In einer anderen Schrift heißt es, man hätte als Rheinländer 1815 aus konfessionellen Gründen lieber den Anschluss an Österreich gesehen.1048 Auch auf den volkswirtschaftlichen Unterschied zwischen dem weitergehend industrialisierten Rheinland und dem nach wie vor agrarisch geprägten Preußen hatte man stets hingewiesen. Insbesondere die rheinischen Kapitalisten hatten es im Verlauf der gemeinsamen Geschichte seit 1815 des Öfteren bedauert, dass man auf dem Wiener Kongress das Rheinland an Preußen zugeteilt und somit nach Osten hin orientiert hatte. Zu diesem wirtschaftlichen Gefälle gab es ein geflügeltes Wort, das dem Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen zugeschrieben wird: „Do sin mer aever en en ärm Familije erengeheerot!“1049 Oder auch: „Jesses, Maria, Josef! Do hierode mer in en ärm Famillich!“1050 So wird Preußen insgesamt zum „stammensfremde[n] Beherrscher“1051, der die industriell und kulturell hochstehende Westprovinz als bloße „Melkkuh“1052 ein Jahrhundert lang herabgewürdigt habe. Preußische Beamte hätten sich im Rheinland bei der Rechtsanwendung und -ausführung wie in einem „Kolonialland“ verhalten. Allgegenwärtig war das Gefühl der Rheinländer, von Fremden bevormundet und gegängelt zu werden, bis hin zur bloßen Schikane. So war den Rheinländern etwa die aus ihrer Sicht falsche Schreibweise „Cöln“ und „Coblenz“ aufgenötigt worden.1053 Der Rheinstaatsanhänger Klaus Kraemer drückte es 1919 drastisch aus: „Das Jahrhundert der Ostelbier am Rhein ist zu Ende. Die historische Mission der Junker und Feldwebel, die den weicher gearteten Volksgenossen des Westens zwar nicht 1046
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 14. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 14 f. 1048 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 8. 1049 Zitat bei Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 8. 1050 Hamerla, Als das Rheinland preußisch wurde, rp-online v. 8. Juni 2015, abrufbar unter: http://www.rp-online.de/nrw/panorama/200-jahre-wiener-kongress-als-das-rheinland-preus sisch-wurde-aid-1.5146639, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 1051 KV Nr. 953 v. 4. Dezember 1918. 1052 Schwarz, Die Weimarer Republik, 1958, S. 35. 1053 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 12. 1047
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Kultur, aber immerhin Eisen fürs Blut zuführten, ist erfüllt.“1054 Im preußischen Obrigkeitsstaat seien die Menschen nicht mehr als das „Objekt der Regierung“, jedoch nicht die „lebendigen Glieder des Staates“ und die Behörden hätten sich ausschließlich der Obrigkeit, nicht aber dem Volkswohl verpflichtet gefühlt. Dieser Zustand sei während des Krieges noch verschärft worden, als die Männer nahezu sämtlich an der Front standen und die preußischen Behörden die Zurückgebliebenen, vor allem Frauen, Alte und Kranke, schikaniert und übergebührlich in die Pflicht genommen hätten.1055 Über vage Ressentiments hinaus ging mithin eine allgemeine Unzufriedenheit über den preußischen Bürokratismus, gerade innerhalb der rheinischen Landbevölkerung. Diese habe Verbitterung über die „Behandlung“ durch die preußischen Behörden, die nichts weiter als „Drangsalierung“ sei,1056 gezeigt, schildert der Zeitzeuge und Rheinstaatsbefürworter Kirchem: „Verordnungen des Bundesrates wurden möglichst scharf ausgelegt und angewandt. Erläuternde und mildernde Erlasse der Minister blieben mehr oder weniger unberücksichtigt. Wenn Bundesratsverordnungen gewisse Anordnungen den örtlichen Behörden überließen, so wurden diese Anordnungen ganz gewiß in dem Sinne erlassen, daß der Bauer in seiner Bewegungsfreiheit möglichst eingeengt, ihm außerordentlich hohe Leistungen aufgebürdet und auffallend hohe Strafen angedroht wurden.“1057 Grundsätzliche Zweifel am bürokratischen System bestanden auch deshalb, weil die Behörden, insbesondere die Leitungsebene (Landräte, Landgendarmen, Landbürgermeister), größenteils mit landfremden, das heißt „aus den östlichen Provinzen überwiesenen“ Beamten besetzt waren. Diese hätten für „rheinische Art und rheinisches Wesen“ kein Verständnis aufbringen können.1058 Konfessionell waren diese nahezu ausschließlich Protestanten, und katholische Beamte wurden bei der Ämterbesetzung und Beförderung benachteiligend behandelt.1059 Noch im Jahre 1922 waren lediglich 39,7 Prozent der Staatsbeamten im Rheinland dort auch geboren.1060 Diesen (Quasi-)Kulturkampf in Permanenz schrieben die Rheinstaatsanhänger dem preußischen „Caesareopapismus“1061 zu, der gezielt auf die Bevorzugung von Protestanten in Verwaltung, Militär und Wissenschaft gerichtet gewesen sei. So erklärte Adenauer als Bundeskanzler einmal rückblickend auf seine Zeit als junger Mann in der Rheinprovinz: „Ich hätte z. B. nie den kühnen Wunsch haben dürfen,
1054
Kraemer, Die rheinische Bewegung (Fn. 668), S. 68. Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 8. 1056 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4. 1057 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 7. 1058 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 9. 1059 Ausführlich bei Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 15 f. 1060 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 532, Fn. 27. 1061 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 17. 1055
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einmal in eine Regierungsstelle zu kommen, weil ich katholisch war und Rheinländer, ganz aussichtslos!“1062 Vor diesem Hintergrund verbanden sich mit dem Rheinstaat auch Hoffnungen auf eine „freiheitliche, wirklich demokratische Landgemeinde-Verfassung“. Man strebte tatsächliche Selbstverwaltung an und ein „Wahlrecht […] für die Wahl des Gemeindevorstehers, des Bürgermeisters, des Bürgermeistereirates, des Landrates, des Kreistages und des Kreisausschusses.“1063 Allgemein sei die Regierung „in freiheitlichem, demokratischem Sinne“ zu führen, dies sei jedoch weder im reaktionären noch im sozialistischen Preußen der Fall.1064 Es zeigt sich, dass sich neben der bloß affektiven Ablehnung des ostelbischen Borussismus auch eine fundierte, strukturelle Kritik Bahn brach, die die Umbruchssituation nach der Revolution für staats- und verwaltungsorganisatorische Reformen nutzen wollte. Die Rheinstaatsbewegung wollte „Neues aufbauen“ und dafür „in der neuen Reichsverfassung eine Stütze finden“.1065 Es lässt sich bei alldem jedoch nicht verleugnen, dass es sich bei der Rheinstaatsfrage um eine stark affektive Angelegenheit handelte. So ist etwa regelmäßig die Rede davon, dass die rheinische „Volksseele“ dem Preußentum fremd geblieben sei.1066 Oft heißt es auch, es stehe „rheinischer Volksgeist“ gegen preußischen (Un-) Geist.1067 Mit Recht weist Stieve darauf hin, dass zuweilen überdies eine kulturchauvinistische, ethnisch-aufgeladene Borussophobie im Rheinland anzutreffen war, die von einem „halbslawischen“, niemals richtig „eingedeutschtem“ Osten des Reiches fabulierte und insbesondere auf die jüdische oder polnische Herkunft von preußischen Politikern der äußeren Linken verwies.1068 Im Dezember 1918 war etwa im „Volksfreund“ zu lesen: „Heute, nachdem ein neues Ostelbiertum seine slavisch-asiatische Tyrannis auf die Spitze zu treiben scheint, heißt es für jeden Nationaldenkenden biegen oder brechen. Will Ostelbien sich Deutschland nicht unterordnen, dann bilden wir ein Deutschland, das gegen Ostelbien regiert.“1069
1062
Zitat bei Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 538. 1063 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 10. 1064 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 12. 1065 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 6. 1066 Faust, Los von Berlin (Fn. 1027), S. 4. 1067 Vgl. nur Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 20. 1068 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 532. 1069 Zitat bei Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 533.
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Die Putschisten von Wiesbaden begründeten ihr „Los von Berlin“ so resolut wie grundsätzlich: „Denn immer wieder werden aus diesem halbslawischen Großstadthexenkessel die gleichen giftigen Dämpfe aufsteigen und Deutschlands Kultur und Freiheit mit Tod und Verderben bedrohen.“1070 Auch von Adenauer selbst stammen einige markante und teilweise als Bonmot bekannt gewordene Aussprüche über Ostdeutschland und Preußen. So ist aus seiner Zeit als Präsident des Preußischen Staatsrates seine Aussage überliefert, dass bei Braunschweig für ihn die asiatische Steppe beginne, er in Magdeburg immer die Vorhänge seines Zugabteils zuziehe und, wenn er über die Elbe fahre, jedesmal aus dem Fenster spucke.1071 Hans-Peter Schwarz meint insgesamt, es habe ein „spöttisches kulturelles Überlegenheitsgefühl“ geschichtsbewusster Rheinländer „gegenüber etwas tumbem Ostelbiertum und gegen die nouveau-riches“ im preußischen Berlin bestanden.1072 Festzuhalten ist, dass es trotz einer hundertjährigen Verbundenheit mit Preußen dessen Führung nicht gelungen war, die Rheinländer geistig in den preußischen Staatsverband zu integrieren. Da bereits die emotionale Bindung zwischen dem Rheinland und Preußen nicht bestand, war eine gegenseitige Dauerkritik und Abneigung vorprogrammiert. Trotz dieser Lage war man gleichwohl nicht auf die Idee gekommen, sich vom Reichsverband loszusagen. So proklamierte die sich volkstümlich gebärdende zentrumsnahe „Trierische Landeszeitung“ im November 1918: „Wir Rheinländer sind die besten Deutschen, die es geben kann.“1073 Es war auch 1919 allgegenwärtig, dass das Ziel die „Errichtung eines selbständigen, im Rahmen des Deutschen Reiches verbleibenden Staatswesens am Rhein“ sein müsse, also das „Los von Berlin“ lediglich eine Lossagung von Preußen bedeutete.1074 Morsey weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die Stärke und Eigenart eines spezifisch westdeutschen Regionalismus aus „föderalistischen und teilweise großdeutschen Wurzeln“ speisten.1075 Ein geläufiger Vorwurf an Preußen und seinen Militarismus lautete zusammengefasst so: „Das [Deutsche] Reich gespalten und verdorben, das österreichische Deutschtum arm und schwach in die Fremde hinausgestoßen, die heilige Sendung, die den Deutschen gegeben ward, 1070
Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 5. 1071 Morsey, Adenauer und Berlin 1901 – 1949. Ein spannungsreiches Verhältnis (Fn. 3), S. 535. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 1072 Schwarz, Die Bedeutung Adenauers für die deutsche und europäische Geschichte, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Nach-Denken, 1993, S. 39. 1073 Trierische Landeszeitung Nr. 282 v. 29. November 1918. 1074 Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 11. 1075 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 183.
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Westeuropa nach Osten hin zu vertreten und den Völkern den Frieden und Segnungen einer alten Kultur zu wahren, unmöglich gemacht. Diese Art ist allerdings himmelweit verschieden von deutschem Wesen. Deutsche Art war nie aggressives Vorgehen. Oesterreich [sic!], lange die Vormacht in Deutschland, hat fast nur gezwungen die Waffen ergriffen, um, meist im Bunde mit England, Europa vor den Angriffen des französischen, türkischen und preußischen Militarismus zu schützen.“1076 Dies war ein Bild, dass die Rheinstaatsanhänger am liebsten von sich selbst malten: Die Rheinländer als die eigentlichen, gleichsam deutschen wie europäischen Kulturträger und Friedensschützer, die dem kulturlosen, slawischen und ewiggestrigen Preußentum gegenüberstünden, diesem jedoch naturgemäß weit voraus seien.
III. Die kirchenfeindliche Politik des preußischen Kultusministers Adolph Hoffmann Neben einem liberal konnotierten Antiborussismus dürfte im Rheinland der katholisch-konfessionelle – quasi als klerikale „Spielart“ des allgemeinen antipreußischen Affekts – am nachhaltigsten gewirkt haben, besonders in den ländlichen Gebieten der Rheinprovinz.1077 Hier ging die konfessionell beförderte Abneigung gegen Preußen insbesondere von Landwirten, Winzern, dem gesamten Mittelstand und dem niederen Klerus aus; dies war auch die Gruppe, die Dorten nach seinem Wiesbadener Putschversuch die meisten Solidaritätsbekundungen zukommen ließ.1078 Ohne die gesamte (umfangreiche) Geschichte des katholisch-konfessionellen Antiborussismus im Rheinland als preußischer Provinz nachzeichnen zu wollen,1079 sei im Kontext der Rheinstaatsinitiative 1918/19 auf eine politische Begebenheit besonders hingewiesen. Eines der Schlüsselerlebnisse im Zuge der Novemberrevolution und sicherlich ein „Geburtshelfer“ der Rheinlandbewegung war die Kultur- und Schulpolitik des neu eingesetzten USPD-Ministers Adolph Hoffmann, der an den rheinischen Stammtischen besser bekannt war als „Zehn-Gebote-Hoffmann“. Diesen Spitznamen verdankte er seiner zwischen 1891 und 1920 in fünfzehn Auflagen erschienenen scharf antichristlichen Agitationsschrift „Die Zehn Gebote und die besitzende Klasse“, welche ihm prompt die Gegnerschaft aller kirchlich orientierten Gläubigen – Katholiken wie Protestanten1080 – einbrachte. Hoffmann war sich nicht zu fein gewesen, 1076
Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 22. So auch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 450. 1078 Vgl. hierzu eingehender Kapitel B.XXIII. 1079 Hierzu anschaulich Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 450 ff. 1080 Vgl. zur Haltung der Protestanten etwa Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 323 ff., 333 und 347 f. und Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 31. 1077
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mit Blick auf den politischen Katholizismus stets von einem „schwarzen Raubvögelgezücht“ zu sprechen und das bisherige konservative Kultusministerium als „Brutnest für systematische Gehirnlähmung“ zu verspotten.1081 Bereits seine Ernennung zum preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – das Amt, das seinerzeit Wilhelm von Humboldt innegehabt hatte – wirkte gegenüber der christlichen Bevölkerung als gezielte Provokation und wurde als „geschmackloser Treppenwitz der Weltgeschichte“ glossiert.1082 Morsey geht davon aus, dass die „denkbar unkluge[] Politik der neugebildeten sozialistischen preußischen Regierung“ ein Hauptgrund für das Aufkommen und den Widerhall der Rheinlandbewegung gewesen ist.1083 Nach eigenem Bekunden sah sich Hoffmann als neuer Kultusminister eher als „Ausmister“ denn als Minister und er beabsichtigte die Entkonfessionalisierung und Säkularisierung des Schulwesens vor dem Hintergrund einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche.1084 Bereits am 13. November 1919 sprach eine Verlautbarung zur Kulturpolitik der aus Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen Sozialdemokraten zusammengesetzten vorläufigen preußischen Regierung davon, dass Einheitsschulen unter Befreiung von „politischer und kirchlicher Bevormundung“ eingerichtet werden sollten und allgemein auf die Trennung zwischen dem Staat und den Kirchen hingearbeitet werden würde.1085 Hoffmanns erste bedeutsame Amtshandlungen waren zwei Verordnungen vom 27. und 29. November 1918,1086 die die Überreste der geistlichen Ortsschulaufsicht in der Volksschule aufhoben und zudem die Religionslehre als Schulfach praktisch entfallen ließen.1087 Die Aufgabe der bisherigen geistlichen Schulaufsicht wurde mit sofortiger Wirkung den (weltlichen) Kreisschulinspektoren übertragen. Bis zum 31. Dezember 1918 war diese Maßnahme verbindlich abzuschließen.1088 Gleichzeitig hatte er durch einen Erlass an die Kirchenbehörden sogar das Fürbittengebet
1081
Zitate bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 112 Anm. 11. KV Nr. 899 v. 14. November 1918. 1083 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 184. 1084 Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 34 f. 1085 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 111. 1086 Erlass über die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht sowie Erlass zur Sicherung der Religionsfreiheit im Schulwesen, vgl. eingehender Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 886 ff. 1087 Untersagt waren fortan etwa Schulgebete, religiöse Feiern in der Schule, häusliche Schularbeiten mit Religionsbezug, etwa Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Kirchenliedern. Ferner wurde die Religionslehre als Prüfungsfach abgeschafft und Lehrer wurden von der Pflicht der Erteilung von Religionsunterricht befreit, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 888. 1088 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 886. 1082
III.
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auf die neue republikanische Obrigkeit des Rates der Volksbeauftragten umformulieren lassen.1089 Vorher, am 16. November, hatte Hoffmann von der geistlichen Abteilung des Kultusministeriums im Alleingang eine Untersuchung über die „Wirkung der Einstellung der Staatszuschüsse in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung“ angefordert, die ihm bereits am 23. November (!) vorgelegt worden war.1090 Darauf gestoßen, hatte die katholische „Germania“ in einer erst später dementierten Meldung verlauten lassen, ab dem 1. April 1919 würden die bisherigen Staatszuschüsse an die Kirchen entfallen.1091 Daneben hatte Hoffmann angekündigt, sämtliche Konfessionsschulen aufzulösen und die theologischen Fakultäten an den Hochschulen abschaffen zu wollen.1092 Diese Nachrichten und Gerüchte befeuerten die Angst des christlichen Deutschlands vor einer bevorstehenden allgemeinen Säkularisierung des Kirchen- und Klostergutes und sie fanden auch in die oppositionelle Politik, insbesondere der Zentrumspartei und der Deutschnationalen, Eingang.1093 Noch war die für den im Rheinland maßgeblichen politischen Katholizismus prägende Epoche des sogenannten „Kulturkampfes“ seit den 1870er Jahren in der Erinnerung der katholischen Bevölkerung geblieben, wie ein Aufruf der Zentrumspartei vom 20. November 1918 zeigt: „Ost- und Westpreußen, Schlesier, Westfalen, Rheinländer, Hessen, Badener, Bayern, Württemberger, Thüringer: In den härtesten Zeiten des Kulturkampfes seit [sic!] Ihr uns treu gefolgt. Bei Beginn des Krieges habt Ihr Euch einmütig hinter uns gestellt. Wer verläßt jetzt die Fahne des Centrums [sic!]?“1094 Die katholische Presse begann bereits im November 1918 damit, die Berliner Reformmaßnahmen in den historischen Zusammenhang mit dem Kulturkampf zu setzen. Am 30. November 1918 veröffentlichte die katholische Zeitung „Tremonia“ eine vierspaltige Überschrift „Der neue Kulturkampf“1095 und Mitte Dezember sah die „Trierische Landeszeitung“ den „Kulturkampf in vollem Gange“1096. Auch Morsey beobachtet bei der Zentrumspartei eine „Sammlung aus Furcht vor einem neuen Kulturkampf“. Die Reformmaßnahmen Hoffmanns hätten hier „schlagartig“ zu einem „lange vermißte[n] Zusammengehörigkeitsgefühl“ geführt
1089
Düwell, Der Umbruch in Staat, Gesellschaft und Kirche 1918/19, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 51 (2002), S. 127. 1090 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 111. 1091 Germania Nr. 541 v. 19. November 1918. 1092 Ribhegge, Preussen im Westen (Fn. 46), S. 305. 1093 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 111. 1094 Abgedruckt in der Coblenzer Volkszeitung Nr. 364 v. 20. November 1918. Bemerkenswert hier auch der Rückgriff auf den „Stammesgedanken“. 1095 Tremonia Nr. 331 v. 30. November 1918. 1096 Trierische Landeszeitung Nr. 296 v. 16. Dezember 1918 („Der Kulturkampf in vollem Gange“).
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
und „innerparteiliche Gegensätze“ seien in den Hintergrund getreten.1097 Winkler konstatiert hierzu: „In der Abwehr seiner kirchenfeindlichen Politik befestigte sich das katholische Milieu, das seit längerem von Auflösungstendenzen bedroht war.“1098 Bezeichnend für die politische Bedeutung der neuen preußischen Kulturpolitik, deren weitläufige Ablehnung sich nahtlos in den allgemeinen rheinischen Antiborussismus einfügen ließ, ist ein Artikel in der Koblenzer „Rheinischen Volkszeitung“ vom November 1918 unter der vielsagenden Überschrift „Los von Berlin!“, in dem es heißt: „Und wenn wir uns das Regieren in Berlin ansehen, dann kann man den Gedanken einer westdeutschen Republik nicht ablehnen. Oder soll sich der Westen von dem Berliner Parteibudiker u. [sic!] jetzigen Kultusminister [Hoffmann, P.B.] vorschreiben lassen, wie das Verhältnis von Kirche, Staat und Schule zu regeln ist? Das kann und das darf wirklich nicht geschehen. Bleibt es bei der bisherigen Republik, dann werden aus der Grossstadt Berlin immer wieder jene Existenzen emporsteigen, die das wichtigste Kulturgebiet, auch das wichtigste Wirtschaftsgebiet Preussens und Deutschlands, nämlich den Westen, nach ihrem Geschmacke regieren.“1099 In Kirchems 1919 erschienener Schrift „Landvolk und Rheinische Republik“ wird die Stimmung der ländlichen Bevölkerung und die Hinwendung zum Loslösungsgedanken gut beschrieben, so dass diese Ausführungen es verdienen, hier in vollem Umfang wiedergegeben zu werden: „Nachdem aber die durch die Revolution ans Ruder gelangte sozialistische Regierung Ruhe und Ordnung nicht aufrecht zu erhalten vermochte, nachdem sich in der Reichshauptstadt und in anderen Städten des Reiches bolschewistische und anarchische Zustände entwickelt haben und nachdem endlich ganz besonders der gegenwärtig mit der Führung des Kultusministeriums beschäftigte Landtagsabgeordnete Adolph Hoffmann seine berüchtigten Erlasse über die Entfernung des Religionsunterrichts und des Schulgebetes aus der Schule, die Beseitigung der konfessionellen Schule und die Trennung von Kirche und Staat herausgegeben hat; nachdem dies alles geschehen, ist die ländliche Bevölkerung anderen Sinnes geworden und wird bei der Wahl zur Nationalversammlung ihre Stimme ausnahmslos für die in Kampfstellung gegen die Sozialdemokratie stehenden bürgerlichen Parteien abgeben. […] Das Landvolk ist durch und durch christlich gesinnt. Es verlangt vom Staate und von den staatlichen Einrichtungen die Berücksichtigung der christlichen Grundsätze und fordert, daß das ganze Staatswesen von den Grundsätzen des Christentums durchdrungen und nach ihnen geleitet werde. […] Es will nicht, daß die Erziehung seiner Kinder hinfür Lehrern anvertraut werden soll, die nach Hoffmann’schen Rezepten ausgebildet, selbst dem Christentum entfremdet und daher gar nicht in der Lage sind, eine christliche Erziehung der Landkinder zu gewährleisten. Die ländliche Bevölkerung steht daher entschieden auf dem Standpunkte, daß eine Trennung von der sogenannten Kulturzentrale Berlin 1097 1098 1099
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 110. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 69 f. Rheinische Volkszeitung Nr. 272 v. 22. November 1918 („Los von Berlin!“).
III.
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unbedingt notwendig ist, um all das Schlimme zu verhüten, was die gegenwärtige preußische Regierung mit dem christlichen Volke vor und zum Teil bereits in die Tat umgesetzt hat.“1100 Kirchem selbst zieht daher den Schluss: „Das Mißtrauen gegen die preußische Regierung ist einmal in dem christlichen Landvolke vorhanden und kann nicht anders beseitigt werden als durch die Verwirklichung des Rufes: ,Los von Berlin, Errichtung einer Rheinischen Republik.‘“1101 Die Hoffmannsche Schul- und Kulturpolitik erscheint zwar nicht als alleinige Ursache, jedoch als Katalysator und Beschleuniger für die Rheinstaatsidee, denn plausibel greifbar wird der Gedanke eines von Preußen unabhängigen Gliedstaates am Rhein als Bollwerk gegen die neue atheistisch-laizistische und mithin „gottentfremdete Kulturpolitik“1102 des revolutionären Berlins. Selbst der Kölner Kardinal Felix von Hartmann, ehemals treuer Anhänger der Hohenzollern-Dynastie und an sich Gegner eines unabhängigen Rheinstaates,1103 beklagte, dass es schwierig sei, den Rheinstaatsbestrebungen entgegenzuarbeiten, da die preußische Religionspolitik „der katholischen Bevölkerung ins Gesicht [schlage]“ und „Propaganda“ für die „Loslösung der Rheinlande von Preußen“ sei.1104 Nach Aussagen Trimborns vom 13. Dezember 1918 in Elberfeld hörte man im Rheinland nunmehr öfters den Satz: „Ehe wir uns unter Hoffmann beugen sollen, wollen wir lieber Franzosen werden.“1105 Ob die sicherlich bestehende Abwehrhaltung in diesen Fragen jedoch zu separatistischen Gedankenspielen geführt hat, muss für die Mehrheit der rheinischen Bevölkerung verneint werden. Warum sollte man sich einem kulturfremden Staate anschließen wollen, in welchem zudem die Trennung von Staat und Kirche bereits konsequent vollzogen war, also schon der Zustand gegeben war, den Hoffmann erst noch eintreten lassen wollte?1106 Selbst den eigenen Genossen musste die Politik ihres preußischen Kultusministers zunehmend ungeschickt, wenn nicht gar kontraproduktiv erscheinen. Der Provinzial-Arbeiter- und Soldatenrat für den Oberrhein, der die Regierungsbezirke Köln, Aachen, Koblenz und Trier umfasste, äußerte in einer Verlautbarung harsche Kritik: „[…] halten wir uns für verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, daß die Berufung des Genossen A. Hoffmann zum Kultusminister und dessen ministerielle Betätigung auf kirchlichem und schulpolitischem Gebiet die Stimmung für eine Loslösung der Rheinlande vom Reiche in einer nicht leicht zu überschätzenden 1100
Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4 f. Kirchem, Landvolk und Rheinische Republik (Fn. 7), S. 6. 1102 Hankamer, Preußen und die Rheinlande im Spiegelbild der Wahrheit (Fn. 658), S. 114. 1103 Vgl. hierzu Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 238 f. 1104 Zitate bei Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 240. 1105 Düsseldorfer Zeitung Nr. 654 v. 23. Dezember 1918. 1106 In diese Richtung – wenn auch etwas diffus – ebenso Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 49. 1101
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Weise vorbereitet hat. Wir beklagen es aufs tiefste [sic!] daß die maßgebenden Regierungsstellen […] den Gegnern der Revolution Waffen zur Bekämpfung der Reichseinheit in die Hände gedrückt haben.“1107 Erneut werden die schulpolitischen Erlasse in einen direkten Zusammenhang mit der Loslösungsinitiative gestellt, die als Gefahr für die „Reichseinheit“ angesehen wurde. Bereits auf einer Tagung der Vertreter der Arbeiter-, Bauern- und Bürgerräte der oberen Rheinprovinz am 3. Dezember 1918 in Köln hatte der Bonner Gewerkschaftsangestellte Ludwig Kuhnert kritisiert, dass die preußische Regierung die Rheinlandbewegung begünstigt habe: „Die Berliner verderben uns die ganze Arbeit. Besonders Adolph Hoffmann hat durch seine Politik viel zu den Bestrebungen auf Abtrennung der Rheinlande beigetragen.“1108 In den breiteren historischen Kontext der damaligen pädagogischen Reformbewegung ordnet Düwell die Maßnahmen Hoffmanns ein, die freilich auch unabhängig von der Rheinstaatsfrage und konfessionellen Befindlichkeiten als „schulpolitische[r] Fehlstart“ [der Weimarer Republik, P.B.] zu gelten hätten.1109 Insofern ist die Empörung weiter katholischer Volkskreise über den „Apostel des sozialdemokratischen Kultur- und Bildungsideals“1110 Hoffmann verständlich. Der Linksliberale Brüggemann etwa, der einer laizistischen Kulturpolitik weltanschaulich nicht allzu fern gestanden haben dürfte, kritisiert die Erlasse Hoffmanns in diesem Kontext jedenfalls als „töricht“.1111 So konnte der Rheinstaatsanhänger und Geschäftsführer des Trierischen Bauernvereins Raimund Faust in seiner 1919 erschienenen Streitschrift „Los von Berlin“ behaupten, dass „die radikale Sozialdemokratie [gemeint ist hier insbesondere die USPD, P.B.] einen neuen Kulturkampf entfacht, der heute die evangelische Kirche ebenso hart treffen würde wie die katholische“.1112 Selbst rückblickend geht Winkler in seiner Untersuchung so weit, festzustellen, es habe sich bei den antikirchlichen Erlassen um einen „kurzen, aber heftigen Kulturkampf“ gehandelt.1113 Davon ging auch die Kölnische Volkszeitung im November 1918 aus, die von einer „Vergewaltigung der Katholiken und Protestanten“1114 sprach und Hoffmanns „Jakobinermaßregeln“1115 unermüdlich anprangerte. 1107 Zitat bei Bockermann, „Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt.“, in: Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 1998, S. 148. 1108 Zitat bei Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 400. 1109 Düwell, Der Umbruch in Staat, Gesellschaft und Kirche 1918/19, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 51 (2002), S. 127. 1110 KV Nr. 948 v. 2. Dezember 1918. 1111 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 16. 1112 Faust, Los von Berlin (Fn. 1027), S. 28. Ohne weitere Belege vermutet Schlemmer, dass diese Schrift im Wesentlichen von Ludwig Kaas verfasst worden sei, vgl. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 460. 1113 Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 49. 1114 KV Nr. 912 v. 19. November 1918.
III.
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Mitte Dezember 1918 steigerte man sich in der KV-Redaktion zu folgender Beschimpfung Hoffmanns, die anschaulich die mitschwingende antipreußische bzw. antiöstliche Stoßrichtung illustriert: „Großschnäuziger ungebildeter Berliner Gottesleugner, widerwärtiger Zyniker, üble Blüte aus dem Berliner Großstadtsumpf, grinsender Wasserspeier vor einem Monumentalgebäude, geistiger Thersites.“1116 Ende Dezember 1918 konnte dieselbe Zeitung pointiert konstatieren: „So gehen wir ohne Zweifel einem neuen Kulturkampf entgegen.“1117 Die Stimmung, besonders in der katholischen Bevölkerung des Rheinlandes, wurde durch solche Vergleiche emotional angeheizt und bedeutete im Ergebnis Wasser auf die Mühlen sowohl der Zentrumspartei als auch der Selbständigkeitsinitiativen. In einem Hirtenbrief anlässlich des Weihnachtsfestes 1918 sollten die Gläubigen davon überzeugt werden, dass die Gefahr des drohenden Kulturkampfs keine bloße Erfindung kirchennaher Parteifunktionäre, sondern real sei und besonders das Rheinland betreffen würde.1118 Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen versammelten sich am 29. Dezember 1918 Gläubige aller Konfessionen in der Elberfelder Stadthalle zu einer Großkundgebung gegen die „radikal kirchenfeindliche“1119 Schulpolitik Hoffmanns. Die Berliner Führung sah sich zum Jahreswechsel 1918/19 gezwungen, in der Kultur- und Schulpolitik einzulenken. Hoffmann wurde abberufen und auf ihn folgte der gemäßigte MSPD-Politiker Konrad Haenisch als Kultusminister.1120 Später sollte Hoffmann Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) werden.1121 Haenisch hatte bereits Ende November 1918 erklärt, er bremse in der Frage Kirche und Staat „tagtäglich nach Kräften“ im Kultusministerium.1122 Am 18. Dezember hatte er an das Staatsministerium geschrieben, es drohten „schwerstwiegende[]“ politische Konsequenzen durch die Hoffmannschen Alleingänge: „Insbesondere würden die separatistischen Tendenzen in den östlichen und westlichen Provinzen Preußens dadurch auf das wirksamste gefördert werden.“1123 Haenisch sicherte im Folgenden demonstrativ die Bekenntnisschule als Schulform, hob am 28. Dezember 1918 – unter dem politischen Druck der „christlichen
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KV Nr. 928 v. 25. November 1918. KV Nr. 991 v. 17. Dezember 1918. 1117 KV Nr. 1015 v. 28. Dezember 1918 („Berliner Brillen“). 1118 Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik (Fn. 97), S. 31. 1119 Düwell, Der Umbruch in Staat, Gesellschaft und Kirche 1918/19, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 51 (2002), S. 127. 1120 Überliefert ist das „prophetische“ Abschiedswort Hoffmanns an die Adresse des Ministeriums: „Hier sieht mir keener wieder.“, vgl. Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 186. 1121 Ribhegge, Preussen im Westen (Fn. 46), S. 305. 1122 Zitat bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 115. 1123 Zitat nach Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 117. 1116
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Proteste“1124 – die Erlasse Hoffmanns auf und konnte den schwelenden Konflikt damit vorerst entschärfen. Morsey weist darauf hin, dass sich jedoch erst mit der Einberufung der Nationalversammlung und der Preußischen Landesversammlung die „Berliner ,Kulturdiktatur‘“ erledigt und sich der Kampf in die Parlamente verlagert habe. In der Tat lautete die ministerielle Anweisung Ende Dezember 1918, „überall dort, wo sie [die Durchführung der Erlasse, P.B.] auf ernste Schwierigkeiten stößt“, habe ein Tätigwerden bis zur Entscheidung der preußischen Landesversammlung zu unterbleiben.1125 Nach Morsey hat Haenisch, den Winkler etwas kryptisch als „sehr viel weniger agil[]“ als Hoffmann charakterisiert,1126 jedoch nicht etwa mit Rücksicht auf die religiösen Gefühle der gläubigen Bevölkerung den politischen Rückzug in Schulund Kulturfragen angetreten, sondern aus Besorgnis vor „ernstzunehmenden Absonderungsbestrebungen“ in den Grenzprovinzen Preußens, die er bedingt sah durch „Hoffmanns Politik“.1127 Als einigendes Momentum für alle Rheinländer, insbesondere solcher katholischer Konfession, gegen die „atheistischen Sozialisten in Berlin“ darf die laizistische Politik Hoffmanns nicht unterschätzt werden. Für die aufkommende Unabhängigkeitsbewegung war sie ein zeitgeschichtliches Grundmotiv, welches sich emotionalpropagandistisch in breiten Bevölkerungskreisen für die Rheinstaatsidee nutzen ließ. Zwar war der kulturpolitische Affront der Sozialisten im preußischen Berlin nicht die gesamte Phase der ersten Rheinstaatsbewegung stark prägend gewesen, hatte er sich doch im Frühjahr 1919 abgeschwächt, dennoch waren die Skepsis wenn nicht gar die schroffe Abwehrstellung in das kollektive Gedächtnis der Rheinländer aufgenommen worden und blieben mindestens bis Juli 1919, also bis zur Verabschiedung der Reichsverfassung, präsent. Für Köhler indes scheint die gemeinsame Abwehrhaltung gegen die revolutionäre Kultur- und Schulpolitik isoliert betrachtet weniger bedeutsam für die frühe Rheinstaatsbewegung gewesen zu sein, denn sie habe lediglich in einem allgemeinen Los-von-Berlin-Kontext gestanden, der sogar noch weiter gereicht habe als ein bloßes „Los von Preußen“. Man sei durchaus bereit gewesen, ein „Los von der Reichszentrale“ zu fordern, also den rheinischen Staat im Wege der Sezession durchzusetzen.1128 Die antikirchliche preußische Politik sieht Köhler vielmehr als Vorwand an, um sich nachhaltiger gegen die Berliner Regierung auflehnen zu können.
1124 1125 1126 1127 1128
Germania Nr. 604 v. 28. Dezember 1918. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 116. Winkler, Weimar 1918 – 1933 (Fn. 62), S. 49. Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 117. Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 39.
IV.
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Für seine Separatismus-These bleibt Köhler einmal mehr Belege und Nachweise schuldig. Er beruft sich zwar auf einen Artikel der Kölnischen Volkszeitung, in dem es heißt: „Mit organischer und orkanischer Gewalt und Folgerichtigkeit bereitet sich in allen Kreisen des rheinischen, westfälischen und hannoverschen Volkes die Trennung von Berlin und vom alten Preußen [Hervorhebung durch Verf.] vor. Schon jetzt geht in diesen alten Stammländern der einhellige Wille und die einmütige Überzeugung des Volkes dahin: Die Berliner Regierung hat uns nichts mehr zu sagen. Los von Berlin!“1129 Es ist vermutlich die Aufzählung „Trennung von Berlin und vom alten Preußen“, die Köhler veranlasst, davon auszugehen, man habe sich als Rheinländer nicht bloß vom Freistaat Preußen, sondern vom Deutschen Reich („Berlin“) separieren wollen. Naheliegender ist jedoch, dass der Autor des Artikels mit „Berlin“ die aktuelle sozialistische Landesregierung umschrieben und mit „alten Preußen“ tatsächlich das ostelbische Kernland des preußischen Staates gemeint haben dürfte. So erklärt es sich auch, dass der Verfasser des KV-Artikels auf Rheinländer, Westfalen und Hannoveraner Bezug nimmt, also allein auf preußische Provinzbewohner und nicht beispielsweise auf die ebenfalls um Selbständigkeit bemühten nicht-preußischen, sondern bayerischen Pfälzer. Hömig geht ebenfalls davon aus, dass sich der Zorn der katholischen Rheinländer nicht (oder jedenfalls weniger) gegen die Reichszentrale richtete, sondern gegen die preußische Regierung: „Weniger der sachliche Inhalt der politischen Entscheidungen der Regierung als die Taktik Hoffmanns hatte die Aufmerksamkeit der Katholiken auf die Vorgänge in Preußen gelenkt.“1130 Und weiter schreibt er: „Die Kritik, die seit Mitte November allenthalben in katholischen Kreisen an der ,sozialistischen Diktatur‘ in Berlin geäußert wurde, richtete sich im Grunde weniger gegen die Volksbeauftragten als gegen die preußische Regierung.“1131
IV. Parteipolitische Interessen des Zentrums Die Jahre 1918 und 1919 waren auch für die deutschen Parteien eine Umbruchsphase und der Übergang vom monarchisch-militärischen Obrigkeitsstaat zum republikanischen Parteienstaat gelang den politischen Gruppierungen und Strömungen unterschiedlich erfolgreich. Während die „klassischen“ Bürgerlichen, also Linksliberale, Nationalliberale und Konservative, nur schwer die überkommenen lockeren Strukturen der Honoratiorenzirkel abstreifen konnten und sich erst allmählich zu den Mitgliederparteien DDP, DVP und DNVP organisierten, gelang diese Zeitenwende vor allem der SPD aber auch der Zentrumspartei besser. 1129 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 50, verweist auf KV Nr. 947 v. 2. Dezember 1918. Hervorhebung durch Verf. 1130 Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik (Fn. 97), S. 31. 1131 Hömig, Das Preussische Zentrum in der Weimarer Republik (Fn. 97), S. 32 m.w.N.
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Der Hauptgrund hierfür lag in der eingeläuteten Ära der Massenintegrationsparteien, in der ein Gleichklang von starker gesellschaftlicher Verwurzelung und ideologischer Polarisierung auszumachen war.1132 Die modernen Massenparteien SPD und Zentrum hatten einen festen Rückhalt in bestimmten sozialen Milieus, etwa in der (Industrie-)Arbeiterschaft und der katholischen (Land-)Bevölkerung, und repräsentierten diese Bevölkerungsgruppen tatsächlich. Pflegten sie diesen sozioökonomischen bzw. soziokulturellen Rückhalt, konnten sie sich der Unterstützung ihrer natürlichen Anhängerschaft sicher sein. Das Verhältnis dieser stärker ideologisierten Parteien zueinander war zwar konfrontativ und weniger konsensual als in unserer heutigen Parteienlandschaft, der Wettbewerb zwischen ihnen blieb jedoch tatsächlich begrenzt, da die Parteien kaum um dieselben Wählergruppen konkurrierten.1133 Die betonte ideologische Abgrenzung richtete sich weniger nach außen, sondern nach innen und diente der Mobilisierung des eigenen weltanschaulichen Lagers. Für die Zentrumspartei bedeutete dies etwa, dass ihr die Anfeindungen anderer Parteien, insbesondere der SPD, im Grunde gleichgültig sein konnten, solange sie ihr eigenes konfessionell gebundenes Milieu programmatisch bedienen konnte. Da sie vor allem im ländlichen, katholischen Rheinland ihre „Wählerhochburgen“ hatte, war es naheliegend, dass sie das virulente Thema der rheinischen Unabhängigkeit aufgriff und parteilich besetzte. Die Konfliktlinie in der Rheinstaatsfrage verlief nicht zuletzt zwischen den Konfessionen. So schreibt der Zeitzeuge Faßbender: „Die Katholiken am Rhein sind für die Zerschlagung Preußens, die Protestanten für die Erhaltung.“1134 Während sich die Katholiken der Rheinprovinz stets von der preußischen Bürokratie und Politik gegängelt gefühlt hätten, seien den rheinischen Protestanten gewisse Vorrechte zugekommen, womit sich die Anhänglichkeit der Letzteren an Preußen erkläre.1135 Dass die Zentrumspartei als die maßgebliche Vertretung des politischen Katholizismus diese konfessionelle Stimmungslage nicht außer Acht lassen durfte, sondern diese vielmehr erfassen musste, erscheint nachvollziehbar und zeugt nicht zuletzt von einer politischen Klugheit der rheinischen Parteiorganisation. Wie bereits dargestellt worden ist, spielte die rheinische und insbesondere die kölnische Zentrumspartei in der ersten Rheinstaatsinitiative eine herausragende Rolle. Pointiert fasste der Kölner DVP-Abgeordnete und spätere Reichsminister Moldenhauer 1919 die Ansicht zusammen, die außerhalb des Zentrums selbst als communis opinio galt: „Die rheinische Zentrumspartei will […] unter allen Umständen eine rheinische Republik innerhalb des Rahmens des Deutschen Rei1132 Siehe hierzu insgesamt Decker, Parteiendemokratie im Wandel, in: Frank Decker, Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, 2. Aufl. 2013, S. 48. 1133 Decker, Parteiendemokratie im Wandel (Fn. 1132), S. 48. 1134 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 8. 1135 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 8 f.
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ches.“1136 Allgemein wurde – nicht zu Unrecht – angenommen, dass ein neu zu bildender Rheinstaat, insbesondere mit dem ganzen linksrheinischen Gebiet, eine starke Zentrumsmehrheit bei Wahlen aufweisen würde. Man unterstellte der Zentrumspartei also, sich mit dem rheinischen Gliedstaat in erster Linie eine „schwarze“ Parteibastion einrichten zu wollen. Jedenfalls habe „die große Masse“ des Zentrums „nur das parteipolitische Ziel“ gesehen, so Moldenhauer weiter.1137 Auch Hans Volz behauptete im Jahre 1942 rückblickend, dass „es sich bei den Loslösungsbestrebungen vor allem um ein Werk des politischen Katholizismus handelte“ und dass es die Zentrumspartei gewesen sei, „die diesen Gedanken vielfach erst überhaupt in die Massen hineintrug“.1138 Bereits zum Anfang Dezember 1918 glaubte die Kölnische Volkszeitung zu beobachten, dass die Ablehnung der Rheinstaatsidee durch die Liberalen insbesondere der parteipolitischen Abneigung gegen die Zentrumspartei, die prima facie als ihr Urheber galt, geschuldet war. Erneut spielte das einigende Moment des Kulturkampfs eine zentrale Rolle: „Aber gewisse Kreise der liberalen Parteien haben noch aus der Kulturkampfzeit ihr tiefeingewurzeltes Mißtrauen gegen alles und jedes, was vom Zentrum kommt, und die einzigen Kategorien ihres politischen Denkens sind 1. Klerikalismus, 2. Ultramontanismus, 3. das konfessionelle Zentrum. Sie brauchen nur eines dieser Leitmotive anzuschlagen, und das in den ausgefahrenen Gleisen sich bewegende politische Denken ihrer Gesinnungsgenossen taucht sofort in diesen Vorurteilen unter.“1139 Es war allerdings in gewisser Hinsicht nachvollziehbar, die junge Rheinstaatsbewegung parteipolitisch in einem Zusammenhang mit der Zentrumspartei, der stärksten Partei des Rheinlandes, zu sehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die beiden Initialereignisse der ersten Rheinstaatsbestrebungen, nämlich der Besuch bei Oberbürgermeister Adenauer vom 9. November 1918, der von einem ZentrumsZirkel um Hoeber, Kastert und einige Stadtverordnete ausgegangen war, und die Kölner Bürgerversammlung vom 4. Dezember 1918 einen parteipolitischen Charakter trugen. Letztere verlor ihren Zentrumscharakter nicht dadurch, dass sich die prominenten Referenten Marx und Trimborn gegenüber der verabschiedeten Resolution „ostentativ in Schweigen hüllten“.1140 Etwa parallel zur Kölner Initiative bildeten sich auch in anderen Städten des Rheinlandes in Richtung Selbständigkeit strebende Zirkel, oftmals im Umkreis der Zentrumspartei. In Trier etwa drängten Monsignore Kaas und die zentrumsnahe „Trierische Landeszeitung“ zur westdeutschen Republik. Das eher agrarisch-kon1136
Moldenhauer, Von der Revolution zur Nationalversammlung: Die Frage der rheinischwestfälischen Republik (Fn. 950), S. 18. 1137 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 5. 1138 Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 446. 1139 KV Nr. 961 v. 6. Dezember 1918. Hervorhebung im Original. 1140 Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 121. Vgl. hierzu auch Kapitel B.IV.
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
servative Trierer Zentrum kooperierte dabei mit katholischen adeligen Großgrundbesitzern, die in der „Deutschen Vereinigung“ organisiert waren.1141 In Aachen wurde eine künftige Rheinlandpolitik erst ab Ende November 1918 diskutiert. Am 23. November 1918 hieß es in einem Leitartikel vage, man fordere „größere gesetzlich garantierte Selbständigkeit der preußischen Provinzen gegenüber Berlin“.1142 Auch war die lokale Zentrumsorganisation eng mit den Rheinstaatsanhängern verbunden gewesen. Bereits recht früh nach der Novemberrevolution, nämlich am 16. November 1918, war auf einer Veranstaltung des Kölner Zentrums beschlossen worden, zur Gestaltung der religiösen, politischen und kulturellen Zukunft des Rheinlands den „Rheinischen Freiheitsbund“1143 bzw. „Bund zum Schutze der rheinischen Freiheit“1144 zu gründen. Der bekannte Kölner Zentrumspolitiker und Rheinstaatsbefürworter der ersten Stunde Kuckhoff wurde kommissarisch mit der Leitung und Organisation beauftragt, wobei im Hintergrund Froberger und Hoeber ihren Einfluss ausübten.1145 Zweifelsohne war angedacht gewesen, dass Unabhängigkeitsideen ihren politisch-personellen Hort in diesem Freiheitsbund haben sollten. Reimer bemerkt in nachvollziehbarer Weise, dass der Rheinische Freiheitsbund sich deswegen parteiübergreifend gebärdete und alle politischen Parteien zum Beitritt aufgefordert wurden, um von dem eigentlichen Zentrumscharakter ablenken zu können.1146 Dies gelang jedoch nicht nachhaltig. Zwar traten andere relevante Parteien wie etwa SPD, DDP und DVP dem Freiheitsbund mit einem gewissen Zögern bei, jedoch wohl nur, um die weitere Entwicklung des Vereins in ihrem Sinne beeinflussen zu können.1147 Brüggemann spricht sogar davon, die DDP sei nur deshalb beigetreten, „um den Drahtziehern [des Zentrums, P.B.] das Konzept zu verderben“.1148 Nur die USPD war seit jeher außen vor geblieben. Bei der offiziellen Gründungsversammlung am 27. November 1918 erreichten die nicht dem Zentrum angehörigen Mitglieder denn auch eine Namensänderung in „Freiheitsbund für die deutschen Rheinlande“, so dass die Betonung auf der weiteren
1141 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 527. 1142 Trierischer Volksfreund v. 23. November 1918 („West- und Süddeutschland zu Ostdeutschland“). 1143 So der Name bei Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. 1144 So der Name bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 20. 1145 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 20. 1146 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. In dieser Richtung auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 20. 1147 So auch Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. 1148 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21.
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Zugehörigkeit des Rheinlandes zum Deutschen Reich und insgesamt auf dem „deutschen Charakter“1149 lag und der Name somit weniger bedenklich erschien. Gemeinsam beschloss man, dass die Aufgabe des Freiheitsbundes darin bestehen sollte, die Verteidigung des Deutschtums in den linksrheinischen Gebieten auf überparteilicher Grundlage zu betreiben. Damit hatte der Bund in erster Linie eine antifranzösische Stoßrichtung eingenommen. Das Voranbringen der Loslösungspläne konnte seine Sache nicht mehr, jedenfalls nicht mehr auf überparteilicher Basis, sein. Der Vorstand setzte sich aus dem Rechtsanwalt Custodis, der damit an die Stelle Frobergers trat, sowie Karl Hoeber, Justizrat Weber, dem Gründungsrektor der Kölner Universität und Adenauer-Vertrauten Professor Eckert und dem Sozialdemokraten Meerfeld zusammen.1150 Wenig später warfen radikale Rheinstaatsanhänger aus der Aachener Ortsgruppe dem Freiheitsbund vor, „verpreußt“ zu sein.1151 Als organisatorische „Speerspitze“ der Rheinstaatsbewegung taugte der Freiheitsbund somit bereits ab Ende November 1918 nicht mehr,1152 so dass sich die rheinischen Protagonisten anderweitig zusammenfinden und sammeln mussten. Zumindest behelfsweise und eher inoffiziell sollte nunmehr die Parteiorganisation des rheinischen Zentrums dafür herhalten, welches auch deshalb immer mehr mit den Loslösungsbestrebungen – oftmals allzu undifferenziert – verquickt worden ist. Die fehlende oder lediglich unzureichende personelle wie programmatische Organisation der frühen Rheinstaatsbewegung dürfte eines ihrer hauptsächlichen politischen Mankos gewesen sein. Der parteipolitische Gesichtspunkt musste also hinzutreten, denn ohne ihn wäre die Bewegung nicht zustande gekommen.1153 Erwähnenswert in diesem parteipolitischen Kontext ist die fokussierte Darstellung des Zentrum-Kritikers Brüggemann, der die „rheinische Abfallbewegung“1154 (!) im Kern als reine Effekthascherei der Zentrumspartei abtut, bei der er meint, eine „Identifikation der parteipolitischen Interessen […] mit diesem Plan [der Rheinischen Republik, P.B.]“ ausgemacht zu haben.1155 Es sei offensichtlich, „daß der linksrheinische Pufferstaat nach dem konfessionellen Charakter der Zusammensetzung seiner Bevölkerung die Zentrumsrepublik sei, ja sogar in viel vollkommenerer Form, als ein westdeutscher Freistaat im Verbande des Deutschen Reiches mit nur begrenzten Reservatrechten das jemals sein würde“. Und weiter: „Wie konnte es Leute geben, die allen Ernstes sagten, im Zentrum habe man dieses Ideal nicht angestrebt? Das Zentrum setzte sich doch nicht aus Männern von solch einer beschränkten politischen Urteilsfähigkeit zusammen, daß sie die Vorteile, die sich ihrer 1149
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6) S. 21. Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 80. 1151 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 527. 1152 So auch Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 21. 1153 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 15. 1154 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), Vorwort, S. 3. 1155 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 9. 1150
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
Partei hier bei einer solchen Gründung geboten hätten, nicht zu erfassen vermocht hätten.“1156 Brüggemann geht sogar so weit, dem Zentrum separatistische Absichten zu unterstellen, und zwar, um einen klerikal-katholischen Staat schaffen zu können. Hier verliert sich der politische Zeitzeuge nicht das einzige Mal in parteipolitischer Polemik gegen den katholischen Konkurrenten.1157 Zwar seien, so Brüggemann, parteipolitische Interessen nicht der eigentliche Beweggrund der Rheinstaatsinitiative gewesen, aber das „parteipolitische Moment“ habe man nicht ausschalten wollen. Einige Mitglieder hätten sich dieses Interesse selbst nicht ehrlich eingestanden. Wichtige Rheinstaatsbefürworter aber seien die prominenten Zentrumsleute Oberpfarrer Kastert und Trimborn gewesen, wobei Letzterer sogar als „präsumptiver Präsident der zu schaffenden Republik“ gegolten habe.1158 Die pauschale de facto Gleichsetzung, nach der die Rheinstaatsbewegung zwar im Ganzen größer als die Zentrumspartei gewesen, das Zentrum aber in toto in die Bewegung integriert gewesen sei, verfehlt aber die notwendige Differenzierung. Es muss zum einen zwischen der Reichsorganisation der Partei und – sofern überhaupt hinreichend organisiert vorhanden – der Zentrumspartei des Rheinlandes als Untergliederung unterschieden werden. So waren die Reichsebene und die Parteiführung im Generellen gegen sämtliche Loslösungsbestrebungen, im Westen wie im Osten des Reichs, eingestellt und ideologisch mehr „reichsfreundlich“ gesinnt. Auf unterer Gliederungsebene ist speziell das Kölner Zentrum zu würdigen, das stark unter dem Einfluss Kasterts und der Gruppe um die Redaktion der Kölnischen Volkszeitung stand. Hier bestand traditionell eine gewisse Frontstellung zur Reichsebene, nicht zuletzt in der Unitarismus-/Föderalismus-Debatte. Selbst der Zentrumskritiker Moldenhauer gesteht ein, dass schon innerhalb der Zentrumspartei die Stimmung nicht einheitlich gewesen sei. Gewerkschaftlich organisierte „Zentrumsarbeiter“ hätten etwa dem Gedanken vom Rheinstaat von Vornherein ablehnend gegenübergestanden.1159 Geht man der exakten „Geburtsstunde“ der Rheinstaatsidee während des oder nach dem Ersten Weltkrieg nach, so wird die These von dem Rheinstaatsgedanken als einer rein parteipolitischen Idee des Zentrums erschüttert. Es war die wenig zentrumsnahe „Essener Volks-Zeitung“ vom 6. Februar 1919,1160 die Anspruch darauf erhob, sie habe zuerst die Forderung „Los von Berlin“ ausgegeben und zwar in einem Aufsatz, den weder ein Zentrumsmann noch ein Katholik verfasst hatte.1161
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Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 10. So auch Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 124 („polemisch zugespitzt“). 1158 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 12. 1159 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 6. 1160 Essener Volks-Zeitung Nr. 30 v. 6. Februar 1919. 1161 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 30. 1157
IV.
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In der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 14. Dezember 1918 erklärte der Zentrumspolitiker und Loslösungsgegner Marx, der Rheinstaatsgedanke habe „in den weitesten Kreisen“ auch außerhalb des Zentrums „stürmische und enthusiastische Zustimmung“ gefunden.1162 Und der Rheinstaatsgegner und Zentrumsangehörige Stegerwald verteidigte seine Partei gegen Vorwürfe von Meerfeld am 21. Februar 1919 in der Nationalversammlung mit der Begründung, die rheinische Frage sei für seine politischen Freunde niemals eine Parteifrage gewesen.1163 Auch in der Preußischen Landesversammlung war der Vorwurf omnipräsent. So sah sich der Zentrumsabgeordnete Faßbender in seiner Denkschrift von 1919 dazu gezwungen, darzulegen: „Das Eintreten für die Gründung eines westdeutschen Freistaates ist nicht Fraktionssache des Zentrums, vielmehr sind die Ansichten unter den Zentrumsanhängern geteilt.“1164 Man blendete in der Tat wichtige Fakten aus, ließe man etwa das Engagement der übrigen rheinischen Parteiorganisationen in seiner Untersuchung außen vor. Nicht zuletzt dem politischen Gespür und der Weitsicht Adenauers hatten es die Rheinstaatsbefürworter nämlich zu verdanken, dass die Neugliederungsforderungen zum Jahreswechsel 1918/19 nicht sogleich wieder als Wahlkampfgetöse der Zentrumspartei abgetan werden konnten. Adenauer hatte bereits Ende November 1918 damit begonnen, eine „Komitologie“ in der Rheinstaatsangelegenheit zu etablieren, jenseits des „Freiheitsbundes für die deutschen Rheinlande“, wobei er strikt auf Überparteilichkeit und parteipolitische Parität bedacht gewesen ist. Über die Bedeutung, den Umfang oder den Fortbestand dieser Adenauerschen Runden und damit zusammenhängend über die entscheidende Frage der Über- oder Mehrparteilichkeit der frühen Rheinstaatsinitiative besteht indessen keine historische Klarheit. Der Zeitzeuge Brüggemann, sowie – diesem unkritisch folgend – Reimer schildern, nach Rücksprache mit dem Fraktionsvorsitzenden der DDP im Kölner Rathaus, Falk, und den Sozialdemokraten Sollmann und Meerfeld, habe Adenauer am 22. November 1918 einen interparteilichen Ausschuss eingerichtet, in den die drei Rathausfraktionen Zentrum, DDP und MSPD je zwei Vertreter entsandten. Den Vorsitz habe Adenauer selbst übernommen.1165 Morsey hingegen berichtet, der zwischenparteiliche Ausschuss sei am 7. Januar 1919 mit 12 Mitgliedern gegründet worden, dabei wiederum unter Beteiligung von Mitgliedern der MSPD und DDP. Man sei in diesem Gremium einhellig der Meinung gewesen, „daß die Rheinisch-Westfälische Republik kommen müsse“, man benötige jedoch eine eigene und selbständige militärische Macht (!), die nur mit dem Einverständnis der Entente aufgestellt werden könne. Keine Einigkeit habe lediglich 1162
Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 645 v. 14. Dezember 1918. Zitat bei Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 128. 1164 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 5. 1165 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 19 f.; Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. 1163
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
in der Frage der räumlichen Ausdehnung der zu schaffenden Republik bestanden und darin, wann man mit dem Plan an die Öffentlichkeit treten sollte.1166 Erhellend sind Adenauers Aufzeichnungen in seiner Denkschrift aus dem Frühjahr 1919. Er erinnert sich hierin an eine „politische Kommission“ unter seinem Vorsitz, paritätisch bestehend aus den Herren Mönnig, Trimborn, Froberger (Zentrum), Falk, von Wiese, Ott (DDP) und Sollmann, Meerfeld, Haas (MSPD).1167 Zwar gibt Adenauer kein genaues Datum der Gründung dieses Ausschusses an, in der Chronologie seiner Denkschrift findet dieser Schritt indes eher vor dem Januar 1919 statt.1168 Allerdings habe das Gremium aus zehn Personen bestanden, denn die Fraktionen hätten tatsächlich jeweils drei und nicht bloß zwei Vertreter entsandt, wie es Brüggemann und Reimer angeben. Von diesem Gremium geht auch Huber aus, wobei nicht nachvollziehbar ist, wie er auf den vermeintlich offiziellen Namen „Rheinischer Ausschuss für die Errichtung einer Westdeutschen Republik“1169 kommt. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich etwa die skeptischen Sozialdemokraten einem Ausschuss mit solch einem eindeutigen Namen angeschlossen haben würden. Dennoch erwähnt auch Adenauer den 7. Januar 1919 in seinen Erinnerungen, denn an diesem Datum sei er „zu einer Besprechung über die Zukunft der Rheinlande“ in das Kölner Bankhaus Stein eingeladen worden und zwar von einem „Ausschuss[], der sich gebildet hatte“.1170 Es wird deutlich, dass damit nicht der in Rede stehende interfraktionelle politische Ausschuss gemeint sein konnte, denn diesen hätte Adenauer nicht mit diesen beiläufigen Worten beschrieben. Jedoch waren bei dieser Besprechung wohl auch Mitglieder der DDP anwesend, denn Adenauer berichtet, er habe überdies darauf bestanden, dass neben Zentrumsund DDP-Leuten auch Vertreter der Sozialdemokratie eingeladen würden. So hatte
1166
Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923 (Fn. 38), S. 127 f. Morsey bezieht sich auf ein Kurzprotokoll der Sitzung vom 7. Januar 1919, in: HAStK 902/253/2. 1167 Adenauer, Denkschrift über sein Verhältnis zu den Rheinstaatbestrebungen 1918/1919, abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 239. 1168 Andererseits spricht Adenauer an anderer Stelle beiläufig von einem Zeitpunkt „nach Bildung dieses politischen Komitees in Köln“ und hier erscheint es so, als könne ein Termin Anfang oder Mitte Januar gemeint sein, somit also Morseys 7. Januar 1919, vgl. Adenauer, Denkschrift über sein Verhältnis zu den Rheinstaatbestrebungen 1918/1919, abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 241. 1169 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1132. 1170 Adenauer, Denkschrift über sein Verhältnis zu den Rheinstaatbestrebungen 1918/1919, abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 243.
IV.
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man Meerfeld eingeladen, dieser aber nahm seine anfängliche Zusage zurück, weil er „verhindert“ gewesen sei.1171 Aus diesem Treffen heraus, dem etwa „20 bis 30 Herren aus der ganzen Rheinprovinz“ beiwohnten, kam es schließlich zu der Gründung eines sogenannten „wirtschaftlichen Ausschusses“: „Man wollte aber die Versammlung nicht ganz ergebnislos auseinandergehen lassen und schlug daher vor, einen wirtschaftlichen Ausschuß für die Frage der Zukunft der Rheinlande zu bilden, und bat mich, den Vorsitz in diesem Ausschusse zu übernehmen, um auf diese Weise die nötige Verbindung mit dem oben erwähnten politischen Ausschuß, in dem alle Parteien vertreten seien, herbeizuführen. Ich nahm das Amt an, um zu verhüten, daß unkontrollierte Bestrebungen und Ausschüsse Schaden anrichten.“ Somit entstand am 7. Januar 1919 mit dem „wirtschaftlichen Ausschuss“ ein weiteres Komitee neben der bereits bestehenden interparteilichen Kommission, die mithin zeitlich früher etabliert worden sein muss. Auch Huber spricht von einem „wirtschaftlichen Ausschuss“, der ab Januar 1919 neben den „politischen Ausschuss“ getreten sei.1172 Demgegenüber verwechselt Morsey den „wirtschaftlichen“ mit dem „politischen“ Ausschuss, was zumindest aufgrund Adenauers sprunghafter und ungenauer Darstellung in seiner Denkschrift nicht verwundert. So erklärt sich auch die relative Einmütigkeit, die Morsey für die Versammlung vom 7. Januar 1919 ausmacht. Tatsächlich nahmen an diesem Treffen wohl nahezu ausschließlich Rheinstaatsbefürworter teil.1173 Wenn nämlich tatsächlich Sozialdemokraten anwesend gewesen wären, hätte man sich kaum rundheraus für die neue Republik aussprechen können und schon gar nicht für die Aufstellung eigener Streitkräfte mit Billigung der Feindmächte. Unter Wirtschaftsleuten und der diesen nahestehenden DDP sowie dem Zentrum konnte man in diesen Fragen wohl eine Einigkeit herstellen. So aber war der wirtschaftliche Ausschuss gerade nicht paritätisch bzw. überparteilich, sondern insgesamt eine Veranstaltung, in der die Parteizugehörigkeit in den Hintergrund trat. Es ist davon auszugehen, dass Reimer mit dem exakt benannten 22. November 1918 richtig liegen dürfte, wenn er dieses Datum für die Gründung des Parteien-Ausschusses angibt.1174 Es zeigt sich aber, dass es mit der Überparteilichkeit und einem überparteilichen Engagement in der Rheinstaatsfrage nicht allzu weit her gewesen sein dürfte. Wäre 1171
Adenauer, Denkschrift über sein Verhältnis zu den Rheinstaatbestrebungen 1918/1919, abgedruckt in: Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), Dokument Nr. 4, S. 243. Hier auch das nachfolgende Zitat. 1172 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135. 1173 Köhler, Autonomiebewegung oder Separatismus? (Fn. 17), S. 68. 1174 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 79. Zwar spricht Huber von einer Gründung im Dezember, letztlich ist das genaue Gründungsdatum für diese Untersuchung aber von nachrangiger Bedeutung, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135.
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
nämlich der frühere, politische Ausschuss unter Beteiligung aller relevanter Parteien tatkräftig für eine rheinische Selbständigkeit eingetreten, hätte es der Gründung eines weiteren, wirtschaftlich orientierten Komitees im Januar 1919 wohl nicht bedurft. Letzteres aber war jedenfalls ohne irgendeine Beteiligung der SPD gebildet worden. Huber stellt fest, dass auch rheinische Liberale und sogar Deutschnationale an den rheinischen Selbständigkeitsbestrebungen teilgehabt hätten, vor allem um den Berliner Bolschewismus abzuwehren.1175 Wenn sicherlich auch in DDP-, DVP- und mitunter sogar in DNVP-Kreisen die eine oder andere Sympathie für ein „Los von Berlin“ bestanden haben dürfte, so kann man die enge inhaltliche wie personale Verquickung des rheinischen Zentrums mit dem größeren Kreis der Loslösungsbewegung nicht leugnen.1176 Gerade die protestantischen „Preußen-Parteien“ DVP und DNVP dürften es nicht darauf angelegt haben, die Rheinprovinz als unabhängigen, reichsunmittelbaren Gliedstaat aus Preußen zu entlassen. Mit Recht verweist Stieve darauf, dass die Vertreter der liberalbürgerlichen Parteien und der SPD schlicht keinen nachvollziehbaren Grund hatten, „Los von Berlin“ zu rufen, denn „[i]n der Reichshauptstadt besaßen sie einen geistigen und organisatorischen Mittelpunkt, außerdem hatten sie traditionell in vielen preußischen Regionen einen weit stärkeren Rückhalt als auf dem linken Rheinufer“.1177
V. Antisozialismus und Antibolschewismus Ein weiteres markantes Motiv der Rheinlandbewegung, das insbesondere zu Beginn der Bewegung, also seit November 1918 antreibend wirkte, lag in der Ablehnung der erst vor kurzem installierten deutschen und preußischen Revolutionsregierungen und in dem Widerstand gegen deren sozialistische Ideologie im Grundsätzlichen. Noch am 22. März 1919 bezeichnete Kastert die Revolution in einer Rede in der Preußischen Landesversammlung als „höchst überflüssig und unnötig“.1178 Antisozialismus und Antikommunismus waren bedeutende Beweggründe für die Aktionisten um Dorten und den Aachener Arbeitskreis, denn das Feindbild, das durch die Rheinische Republik zurückgedrängt werden sollte, war „das slavische [sic!]
1175
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1129. So auch Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 189 f. 1177 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 530. 1178 Preußische Landesversammlung, Sitzungsberichte der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung (Fn. 177), Bd. 1, Sp. 492. 1176
V.
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Kommunistentum, das uns nach dem verhängnisvollen Krieg den völligen Zusammenbruch zu bringen droht“.1179 In diesem Zusammenhang malten die Rheinstaatsanhänger das Bild einer Seuche, einer Flamme oder gar eines Flächenbrandes, der sich von Osten her über ganz Deutschland ausbreite und gegen den der unabhängige rheinische (Frei-)Staat einen Schutzwall formen müsse: „Einige Häuflein preußischer Spartakiden, denen es an Zulauf aus den Großstädten natürlich auch im Rheinland nicht fehlen wird, werden mit dem Argument des Maschinengewehrs und der Handgranate beweisen, daß die Diktatur des Proletariats nun die geltende Staatsverfassung ist. […] Die einzige Schutzmauer, die es [das rheinische Bürgertum, P.B.] sich rechtzeitig errichten kann, ist der selbständige rheinische Staat.“1180 Pathetisch beschreibt Huber den Antisozialismus als das vermeintlich zentrale Motiv der Rheinlandbewegung: „Das Hauptmoment aber war in den ersten turbulenten Monaten nach dem Umsturz der Widerstand der Mehrheit der rheinischen Bevölkerung gegen die radikale Revolution, gegen die Räteherrschaft, gegen die drohende Sozialisierung und gegen die eingeleitete Entchristlichung der Schule und des öffentlichen Lebens. Nichts gab der rheinischen Selbständigkeitsbewegung der Anfangszeit mehr Auftrieb, als der von der Berliner radikalen Richtung ausgehende Angriff gegen Autorität und Ordnung, gegen Freiheit und Eigentum, gegen christliche Kirche und Schule.“ So sei erklärlich, warum die Idee der Loslösung von dem nunmehr sozialistischen Preußen auch zunächst Anklang bei rheinischen Deutschnationalen und Liberalen, also bei vornehmlich Protestanten, gefunden habe.1181 Für Brüggemann ist das antisozialistische Argument nicht mehr als „der alte Popanz von der sozialistischen Gefahr als Grund für die Loslösungsbestrebungen der Rheinlande“, der von den rheinischen Zentrumspolitikern gerade dann betont worden sei, als die suggestivere Angst vor der französischen Annexion im Frühjahr 1919 nach und nach entkräftet worden sei.1182 Dieses „Hilfsargument“ sei jedoch nicht glaubhaft gewesen und auch schnell durchschaut worden: „Als ob die westdeutsche Republik einen Schutz vor der bolschewistischen Bewegung zu bieten vermocht hätte. Der Bolschewismus hatte, von Rußland kommend, vor der deutschen Grenze nicht Halt gemacht, er hätte dann auch vor der rheinischen Grenze nicht Halt gemacht, selbst wenn man die rheinische Republik auf der neuen Karte Deutschlands pechrabenschwarz gemalt hätte [als genuin katholisch-klerikaler Zentrumsstaat, so Brüggemanns durchgängiger Vorwurf, P.B.].“ In einer Abhandlung aus dem Jahr 2018 behauptet Holste in der Manier eines Klassenkämpfers, die Angst der bürgerlichen Rheinländer vor dem östlichen So1179
Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), Einführung. 1180 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 12. 1181 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1129. 1182 Siehe hierzu und im Folgenden Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 61 f.
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C. Vorherrschende Motive der ersten Rheinstaatsbestrebungen
zialismus sei primär von den Franzosen geschürt und instrumentalisiert worden. Gemeinsam mit der Besatzungsmacht hätte die rheinländische Bourgeoisie in der Frontstellung gegen den Sozialismus handfeste materielle Interessen verfolgt.1183 In der Forderung nach einem rheinischen Gliedstaat schwang immer wieder die Gleichsetzung zwischen „neuem“ Preußen und Sozialismus mit. Es war nicht nur die Rede von einer „Diktaturzeit der ,Volksbeauftragten‘ von eignen Gnaden“, sondern man strebte die Unabhängigkeit von einem „von sozialistischem Despotismus beherrschten Preußen“ an.1184 Dabei wurde der Sozialismus grundsätzlich als „slavisches [sic!] Joch“ empfunden, das man dem Rheinland von Osten her aufzuzwingen versuche.1185 Es ging indessen nicht bloß geographisch West gegen Ost, sondern auch ideologisch sah man einen kulturkämpferischen Gegensatz zwischen gottlosen Sozialisten und frommen Rheinländern. Die deutsche Sozialdemokratie war im katholischen Rheinland rasch als Hauptschuldige für den allgemeinen Zustand ausgemacht. So hieß es in der Aachener Zeitung „Echo“ vom 30. November 1918: „Die Sozialdemokratie, die in Berlin tonangebend ist, hat es ja selbst in der Hand, zu verhindern, daß die Rheinländer durch ein längeres Fortdauern der Berliner Diktatur und die drohende Gefahr einer Vergewaltigung ihrer religiös-christlichen Kultur sich aus Preußen herausgeekelt fühlen und zur Selbsthilfe schreiten.“1186 Während sich der Protest der Rheinländer einerseits konkret gegen die Erlasse Hoffmanns richtete, bestand im Allgemeinen eine antirevolutionäre Abneigung, die naturgemäß in den bürgerlichen Kreisen des Rheinlandes ausgeprägter und grundsätzlicher bestand. Wenn es auch sicherlich richtig ist, dass katholische, bürgerliche und konservative Rheinländer die sozialistische Ideologie insgesamt abgelehnt haben dürften, so ist dennoch Huber nicht in seiner These zu folgen, dass die antisozialistische Motivation und die Angst vor weitergehender Revolution im Kern maßgeblich für die junge Rheinstaatsidee waren. Entscheidend für die Volksbewegung im Rheinland und deren Agitation war die konkrete Ablehnung der schulpolitischen Maßnahmen Hoffmanns; hier waren Ängste und Ablehnung tatsächlich fassbar. Eine abstrakte Ablehnung von Sozialismus und Bolschewismus war daneben in der Tat ein Begleitmoment, jedoch kein maßgeblicher Ursprung der Loslösungsbewegung. Und selbst als hinzutretendes Motiv konnte der antisozialistische Affekt nur bis zur Wahl der repräsentativen Nationalversammlung im Januar 1919 schlagend sein, denn spätestens ab diesem Zeitpunkt war das Schreckensszenario der „Diktatur des Proletariats“ bzw. des Anarchismus (zunächst) abgewendet. 1183
Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 59 f. 1184 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 31. 1185 Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 31. 1186 Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 529.
D. Völker- und staatsrechtliche Formen rheinländischer Eigenständigkeit Einleitend zu einer eingehenderen rechtshistorischen Untersuchung soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche völker- und staatsrechtlich relevanten Möglichkeiten für die Verwirklichung einer Eigen- bzw. Selbständigkeit des Rheinlandes 1918/19 überhaupt denkbar waren.
I. Separatismus: Das Rheinland als Pufferstaat außerhalb des Reichsverbands Wie in der Geschichte der ersten Rheinstaatsbestrebungen bereits herauszulesen war, waren zur Verwirklichung einer staatlichen Unabhängigkeit bzw. Selbständigkeit des Rheinlandes – unabhängig von der Frage, ob dies von den Rheinstaatsanhängern überhaupt angestrebt wurde – zwei Pfade denkbar: Zum einen ein separatistischer oder sezessionistischer, der eine völlige Loslösung des Rheinlands nicht nur von Preußen, sondern auch vom Deutschen Reich durch das Mittel der Sezession umfasst hätte und zum anderen der Weg der Gewährung von gegebenenfalls international garantierter Autonomie, wobei das Rheinland staatsrechtlich im Reichsverband verblieben wäre. Wie die Überschrift bereits sagt, soll unter dem Begriff „Separatismus“ eine Lösung für die Rheinprovinz verstanden werden, die einen rheinischen Staat als vollkommen souveränen (Puffer-)Staat außerhalb des bundesstaatlich verfassten Deutschen Reiches bedeutet hätte. Die Rheinlandbewegung wäre separatistisch gewesen, wenn ihre Bestrebungen darauf gerichtet gewesen wären, den Gebietsteil des Rheinlands aus dem bisherigen Staatsganzen des Deutschen Reiches herauszutrennen – etwa unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker –, um einen eigenen, vollkommen souveränen Staat zu bilden oder sich einem anderen existenten souveränen Staat, etwa Frankreich, anzuschließen. Im Kern einer validen Separatismusdefinition muss die völkerrechtlich relevante Änderung des Status quo eines betreffenden Gebietes durch das Mittel der Sezession stehen. Wie dargelegt worden ist, war dies der jedenfalls ursprüngliche Wunsch der Franzosen und hier insbesondere des Generals Mangin: „[…] einen Pufferstaat, d. h.
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D. Formen rheinländischer Eigenständigkeit
einen vom Deutschen Reich losgelösten, angeblich neutralen, in Wirklichkeit unter französischer Oberhoheit stehenden Vasallenstaat“1187 zu schaffen. In der nationalistischen Kampfschrift „Hochverrat des Zentrums am Rhein“ aus dem Jahr 1934 bietet Hermann Schmid dagegen eine eigene Separatismusdefinition: „Separatismus heißt Loslösung und umfaßt alle Bestrebungen nach dem 9. 11. 1918 in Deutschland, Bundesstaaten oder selbständige Staaten durch Abtrennung von Gebietsteilen vom Reich oder von einem Bundesstaat zu gründen.“1188 Dass selbst die Gründung und Umbildung von Gliedstaaten im Reichsverband unter den Begriff zu subsumieren sein soll, erscheint aber unhaltbar; insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen territorialen Reichsreformdiskussion ab dem Dezember 1918. So verstanden, hätte die überwiegend geforderte Aufteilung Preußens in neue, mittelgroße Gliedstaaten den Tatbestand des Separatismus erfüllt. Niemand aber wäre 1918/19 auf die Idee gekommen, Preuß und anderen Reformern Separatismus vorzuwerfen. Nicht jede territoriale Loslösung und Etablierung eigener Staatlichkeit ist ein separatistischer Akt, sondern von Relevanz sind die völkerrechtliche Sezession und die avisierte Gründung eines souveränen Staates, der eine übergeordnete staatliche Souveränität nicht länger anerkennt. Dies aber ist bei der Neuerrichtung von Gliedstaaten im Bundesstaat gerade nicht der Fall. Zugegebenermaßen ist der eher politische Begriff „Separatismus“ nicht abschließend rechtlich erfasst, vielmehr gewinnt er rechtliche Konturen mit Bezug auf den Begriff der völkerrechtlichen Sezession. Eine wie von Schmid vorgeschlagene extensive Separatismusdefinition, konnte vor diesem Hintergrund selbst für Zeitgenossen nicht ernstlich überzeugend wirken. Wie im Folgenden konkret aufgezeigt werden soll, besteht für die nahezu gesamte bisherige historische Forschung offenbar keinerlei Zweifel daran, dass bereits im Zuge der ersten Rheinstaatsinitiative 1918/19 (jedenfalls auch) separatistische Kräfte hervortraten, und nicht erst im späteren Krisenjahr 1923, in dem separatistische Bewegungen offensichtlich am Werk waren. Bereits in Untersuchungen aus der Zeit unmittelbar nach dem Waffenstillstand liest man allenthalben von „Sonderbündlerei“, „Separatismus“ und „Hochverrat“. Es fragt sich jedoch, ob man mit Blick auf die Bestrebungen zwischen November 1918 und August 1919 tatsächlich von einer separatistischen Bewegung sprechen kann und ob das Schlag- und Kampfwort des „rheinischen Separatismus“ wirklich begründet ist oder nicht eher ein verfälschender und verzerrender Mythos, den die Gegner einer von Preußen losgelösten Rheinischen Republik eigens erschaffen und genährt haben.
1187
S. 4 f. 1188
Mangins Ziel zusammengefasst bei Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 155.
I.
261
Als einer der ersten Historiker betont Morsey, dass der eigentliche rheinische „Separatismus“ sowohl 1919 als auch 1923 die Angelegenheit einer kleinen, fast ausschließlich von den französischen Besatzungsmächten abhängigen Minderheit gewesen sei.1189 Er geht also davon aus, dass es eine separatistische Minderheit gegeben habe, die sich im Zuge der ersten Rheinstaatsinitiative etwa ab Mai 1919 herausbildete, jedoch zahlenmäßig verschwindend gering und intern unorganisiert gewesen sei. Es habe also sehr wohl einen rheinischen Separatismus gegeben, es sei jedoch verfehlt, immerzu von dem rheinischen Separatismus zu sprechen und damit auch die gemäßigte, föderalistische Rheinstaatsbewegung der Sonderbündlerei zu bezichtigen. Der Zeitzeuge Apelt beschreibt „separatistische[] Strömungen […] in der Rheinprovinz“, was zwar differenzierend erscheint, weil er ebenfalls nicht verallgemeinernd vom rheinischen Separatismus ausgeht, sondern auf einzelne, angeblich separatistische Strömungen verweist.1190 Den Raum für solcherlei Feingliedrigkeit lassen auch Kohte, der von „verschiedenartigsten Richtungen des Partikularismus bis zum Separatismus hin“ schreibt,1191 und Rürup, der von „separatistische[n] Bestrebungen“ ausgeht, „die sich freilich größenteils weniger gegen das Reich als gegen Preußen richteten“.1192 Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob es überhaupt irgendwelche Separatisten oder separatistische Zirkel im Rheinland der Jahre 1918/19 gegeben hat. Morsey und andere machen zwar den Versuch einer Differenzierung, bejahen aber im Ergebnis das Vorhandensein separatistischer Umtriebe. Am 19. Februar 1919 sprach der Rheinstaatsskeptiker Falk in der Nationalversammlung davon, dass „Behauptungen“ aufgestellt worden seien, wonach „separatistische Strömungen“ im Rheinland bestünden.1193 Wohlgemerkt spricht selbst der liberale Abgeordnete lediglich zurückhaltend von „Behauptungen“ und er stellt klar, dass die Rheinländer treue Deutsche seien und Separatismus dort bisher nicht in Erscheinung getreten sei. Ebenso erklärte der Rheinstaatsgegner Sollmann noch am 6. November 1920 rückblickend im Reichstag: „Eine Bewegung zur Loslösung vom Reiche gibt es im Rheinland überhaupt nicht. Es gibt […] einige vereinzelte Subjekte, die die allgemeine Verachtung genießen, hinter denen aber keine Bewegung zur Loslösung vom Reiche steht.“1194 1189
Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 189. 1190 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 63 f. 1191 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6 (1953), S. 183. 1192 Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19 (Fn. 91), S. 32. 1193 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 11. Sitzung v. 19. Februar 1919, S. 190 (D). 1194 Zitat bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 189.
262
D. Formen rheinländischer Eigenständigkeit
Als die Hauptfiguren des frühen rheinländischen „Separatismus“ galten gemeinhin, wie bereits dargetan ist, Dorten und einzelne Vertreter des Aachener Aktivistenkreises, später, ab August 1919, dann auch zunehmend Joseph Smeets. Wenn der Dorten-Zirkel auch immerzu betonte, man wolle als Rheinländer deutsch bleiben und sich nicht vom Reichsverband lossagen, so besagten diese Bekundungen nach Erdmann „nicht viel“: Entscheidend sei vielmehr, dass jedenfalls nach dem Interregnum des Rats der Volksbeauftragten mit der Weimarer Nationalversammlung im Februar 1919 eine legale verfassunggebende Autorität in Erscheinung getreten war, die allein zur Klärung dieser und anderer staatsorganisationsrechtlicher Fragen berufen gewesen sei. Der Versuch der Schaffung vollendeter Tatsachen im Rheinland, habe gegen den Willen der beiden verfassunggebenden Versammlungen1195 nur gelingen können, wenn man bereit gewesen sei, sich auf die bewaffnete französische Besatzungsmacht, die überdies die militärisch stärkste der drei Westmächte zu dem Zeitpunkt gewesen war,1196 zu stützen. Mit einer fremden, ja sogar feindlichen und bewaffneten Macht gegen den eigenen, unmittelbar durch allgemeine Wahl legitimierten Verfassunggeber vorzugehen – darin erblickt Erdmann das separatistische Moment. „Ob sie wollten oder nicht, wurden die Separatisten daher zum Instrument in der Hand französischer Militärs und Politiker, die als Endziel auf eine Lostrennung des linken Rheinufers vom Reich hinsteuerten.“1197 Es ist richtig, dass die Gruppe um Dorten dem Ziel nachging, eine Rheinische Republik zu einem Zeitpunkt zwischen Wahl und Zusammentreten der Nationalversammlung auszurufen, so dass der Verfassunggeber bereits vor Aufnahme der Verfassungsdiskussionen vor eine faktische, politische Tatsache gestellt worden wäre, die er letztlich nur noch durch den Verfassungstext hätte positivieren, jedoch nicht mehr – jedenfalls nicht ohne enorme politische Flurschäden – hätte ändern können. Huber spricht hierbei von einem „Staatsstreich“.1198 Es war letztlich der zurückhaltenden und zögernden Taktik Adenauers zu verdanken, dass Dorten sein Vorhaben immer wieder aufschieben musste und es am Ende ganz scheiterte.1199 Auch die Resolution der Kasino-Versammlung vom 10. März 1919, die einen Aufruf zur sofortigen Errichtung der Rheinischen Republik auf dem Weg einer Volksabstimmung in den beteiligten Gebieten enthielt und durch Dorten auch den
1195
Zeitgleich zur Nationalversammlung in Weimar hatte sich auch die Preußische Landesversammlung in Berlin konstituiert, die die preußische Landesverfassung ausarbeiten und verabschieden sollte. 1196 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 15. 1197 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 27. 1198 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135 f. 1199 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1136.
I.
263
Besatzungsmächten zugeleitet worden war,1200 zielte darauf ab, nach vollzogenem Plebiszit gemeinsam mit den Feindmächten „gegen die eigene Regierung und die eigene Volksvertretung“ vorzugehen.1201 In der Kollaboration mit der Ententemacht Frankreich und der Verweigerung der staatsbürgerlichen Loyalität gegenüber der deutschen sowie auch der preußischen Regierung, liegt der Vorwurf separatistischer Absichten begründet. Anders als Erdmann, der die gemäßigte Rheinstaatsbewegung jedenfalls im Ursprung als „rheinische Initiative“1202 innerhalb der allgemeinen Verfassungsdebatte ansieht, behandelt Köhler die Selbständigkeitsbestrebungen davon getrennt, weil diese niemals einen ernstzunehmenden Beitrag zur allgemeinen Reichsreformdiskussion hätten leisten wollen, sondern einen „ganz anderen Motivationszusammenhang“ aufgewiesen hätten. Vor allem getrieben von antisozialistischen Weltanschauungen, seien „Tendenzen oder Äußerungen eines handfesten Separatismus“ bestimmend gewesen; man habe nur irgendwie „los von Berlin“ gewollt.1203 In diese Richtung argumentiert auch Huber, der ebenfalls das antibolschewistische Element hervorhebt1204 und erklärt, zumindest die zahlenmäßig schwache Gruppe um Dorten habe auf die Begünstigung der Besatzungsmächte gezählt und die „staatliche Absonderung“ als „Hauptanliegen“ verfolgt. Dabei sei das Bekenntnis zur Reichseinheit nur ein der Täuschung der Öffentlichkeit dienender taktischer Schachzug gewesen.1205 Die „Reichsverbundenheit des geplanten Rheinstaats“ sei nur zum Schein betont worden, in Wirklichkeit sei „eine so weitgehende Autonomie“ angestrebt worden, „daß in Wahrheit ein ,Pufferstaat‘ unter französischer Schutzherrschaft entstanden wäre“.1206 Den Grundstein für diese Skepsis hatte schon Erich Eyck im Jahre 1954 gelegt: „Aber allgemein war der Verdacht, daß dies Ziel [Loslösung von Preußen, P.B.] nur vorgeschoben war und daß Dortens eigentliches Ziel eine Rheinrepublik außerhalb des Reiches war, d. h. jener neutrale Pufferstaat, der den heißen Wünschen zahlreicher Franzosen, nicht zum wenigsten Fochs und Poincarés, entsprach […].“1207 Woraus sich dieser Verdacht gegenüber Dorten und seinen Verbündeten 1919 konket ergeben haben soll, wird leider weder bei Eyck, noch – diesem vermutlich inhaltlich folgend – bei Huber klargestellt.
1200
S. hierzu ausführlich Kapitel B.XII. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1139. 1202 So die einschlägige Kapitelüberschrift bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 28. 1203 Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 18 f. 1204 Siehe hierzu bereits Kapitel C.V. 1205 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1132. 1206 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1135. 1207 Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, 1954, S. 335. 1201
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D. Formen rheinländischer Eigenständigkeit
Unkritisch und im Wesentlichen sich Huber anschließend, spricht Karin Dubben von einer „umtriebigen Separatistenbewegung“, deren Ziel die „Autonomie des Rheinlands“ gewesen sei.1208 Dabei spricht sie auch von „Separationstendenzen in Preußen“1209, so dass nicht deutlich wird, von welchem Separatismusbegriff sie ausgeht. Ohne nähere Darlegung meint auch Günther Gillessen, die außenpolitische Lage habe „Separatismus“ ermuntert.1210 Volz gibt seinem Kapitel VII über die erste Rheinstaatsbewegung in „Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919“ die Überschrift „Der Separatismus“.1211 Er ist der Meinung: „Das Endziel der Separatisten war fast durchweg eine völlige Loslösung vom Reich, wenn auch – wie im Rheinland – zur Tarnung vorgeschützt wurde, es handle sich nur um eine Trennung von Preußen und um die Bildung einer selbständigen Republik ,im Verbande des Deutschen Reiches‘.“1212 Brüggemann geht ebenfalls davon aus, dass man ursprünglich die Sezession vom Reich angestrebt habe und zieht hierfür ein chronologisches Argument heran. Im November 1918, zum Zeitpunkt der Revolution, sei von etwaigen Reichsneugliederungsplänen noch nichts bekannt gewesen. „Die rheinische Republik konnte damals gar nicht durch eine Loslösung von Preußen im Verbande des Deutschen Reiches verwirklicht werden, sondern nur durch eine Loslösung vom Reiche selber mit Hilfe der Entente.“1213 Dieser Schluss überzeugt indes weder logisch noch historisch: Selbst wenn im Allgemeinen die Reichsreformdiskussion noch nicht angestoßen worden wäre, bedeutet dieser Umstand nicht, dass nur die Absicht einer Staatsneugründung außerhalb des Reichsverbands in Betracht gekommen wäre. Es waren vielmehr verschiedene Lösungen auf der Reichsebene denkbar. Zudem vermengt Brüggemann unzulässigerweise die Frage der territorialen Neugliederung mit dem Problem der anwachsenden Selbständigkeitsbestrebungen nach dem Ende des Weltkriegs insgesamt. So verfolgte etwa der sozialistische Ministerpräsident Kurt Eisner in Bayern eine strikt partikularistische Friedens- und Außenpolitik, indem er, ganz in der Tradition des Königreichs stehend, einen eigenen Gesandten nach Bern schickte und eigene diplomatische Beziehungen unterhielt.1214 Währenddessen kündigte Baden die Militärkonvention mit Preußen und begann mit der Aufstellung einer eigenen Armee.1215 Eigenständigkeitsbestrebungen und Re1208
Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 15. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 57. 1210 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 105. 1211 Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 446. 1212 Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 447. 1213 Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 18. 1214 Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 34. 1215 Becker, Fo¨ deralistische Tendenzen im deutschen Staatsleben seit dem Umsturze der Bismarckschen Verfassung, 1928, S. 40 f. 1209
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gionalbewusstsein waren mithin merkliche innerdeutsche politische Phänomene dieser Zeit, ganz unabhängig von konkreten Länderneugliederungsreformen, die nicht zuletzt in der Rheinprovinz ihren Anklang gefunden hatten. Die Rheinstaatsbewegung war weder aus dem ideologischen Nichts erwachsen, noch konnte mit Recht behauptet werden, die völkerrechtlich relevante Sezession sei ihr das einzig denkbare Ziel gewesen. Gerhard Anschütz meint verallgemeinernd, im Rheinland seien „separatistische Bewegungen“ vorherrschend gewesen, die auch Einfluss auf die Reichsverfassunggebung genommen hätten.1216 Derart pauschal und unkritisch sprach auch Walter Först von der „Separatistenbewegung“ und er ergänzte, diese sei „teilweise mit der Besatzungspolitik der Franzosen verzahnt“ gewesen.1217 Dies deutet an, dass Först die Rheinlandbewegung in Gänze als separatistisch betrachtete, da er gesondert auf die einzelnen Initiativen hinweist („teilweise“), die überdies – also neben ihrem „allgemeinen“ Separatismus – zudem mit den Franzosen gemeinsame Sache gemacht hätten. Generalisierend schrieb auch Recker im Jahre 1976 mit Blick auf die Reichsneugliederungsdebatten und Friedensverhandlungen schlicht von „Separatisten“ und nennt dabei Personen wie Smeets und Joseph Friedrich Matthes, die jedoch erst 1923 prominenter aktiv werden sollten.1218 Für Wolfgang Stumpf steht wiederum fest, dass es schon 1919 eine Gruppe von „mit der französischen Besatzungsmacht zusammenarbeitenden Separatisten (Dorten u. a.), die auf eine Lostrennung des Rheinlands vom Reich hinzuwirken begonnen hatten“ gegeben habe.1219 Ausdrücklich verweist er hierbei auf Dorten. Sachlich zumindest differenzierender und historisch insofern angemessener, weist Christoph Gusy darauf hin, dass „Separatismusdrohungen im Süden und Westen“ von den Gliedstaaten in der Verfassungsdiskussion wirkungsvoll eingesetzt worden wären, um weitgehende Neugliederungspläne zu diskreditieren.1220 An anderer Stelle zählt er jedoch die vermeintlichen drei „Grundübel“ der Zeit auf, nämlich „Kriegsfolgen, Separatismus und innere Unruhen“1221 und legt sich insofern selbst wiederum nicht eindeutig fest, von welchem politischen Phänomen er ausgeht. Die besetzten Gebiete im Westen seien zwar nicht unmittelbar von Annexion bedroht gewesen, dennoch habe es dort „separatistische Bestrebungen“ gegeben, vor allem in
1216 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Neudruck 1987, Art. 18, S. 142. 1217 Först, Rheinische Städte und ihre Oberbürgermeister während der Weimarer Zeit (Fn. 64), S. 551. 1218 Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926) (Fn. 40), S. 99 f., 104 und 106. 1219 Stump, Konrad Adenauers Beziehungen zur Zentrumspartei (Fn. 941), S. 437. 1220 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 72. 1221 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 77. Hervorhebungen im Original.
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Hessen und in der Pfalz. Im Rheinland habe es immerhin „Tendenzen“ gegeben.1222 Mit Blick auf diese habe in Preußen die Befürchtung bestanden, dass die Auflösung des Landes dazu führen werde, dass es zum Austritt rheinischer und schlesischer Gebiete nicht nur aus Preußen, sondern auch aus Deutschland kommen werde.1223 Ähnlich schreibt Herbert Müller-Werth, dass es zur Zeit der „Problematik der Neugliederung des Reiches“ (zumindest) eine „Separatismusgefahr“ gegeben habe.1224 Zwar geht also auch Müller-Werth immerhin von einem gewissen Separatismus aus, es ist jedoch sein großes Verdienst, nicht bei dieser pauschalen Feststellung zu verharren, sondern das Grundproblem in der Betrachtung der Rheinstaatsiniative 1918/19 auf den Punkt zu bringen: „Wer sich eingehender mit dieser verworrenen Zeit befaßt hat, muß aber hinzufügen, daß es nicht zu jedem Zeitpunkt einwandfrei feststand oder zu erkennen war, wo die Grenzlinie zwischen den politisch einwandfreien Bestrebungen zu einer Neugliederung des Reiches, vielleicht unter Auflösung Preußens, und den die Einheit des Reiches bedrohenden oder zerstörenden [!] Plänen der ,eigentlichen‘ Separatisten lag. Dies trifft besonders für die erste Zeit der politischen Tätigkeit Dortens zu, in der ihn manche unterstützen zu können glaubten, die sich später von seiner politischen Abenteurerpolitik abwandten.“1225 Offensichtlich tritt der Separatismusvorwurf jedoch bei Klaus hervor, der behauptet, es sei das Ziel sowohl der preußischen wie auch der reichsdeutschen Politik gewesen, den 1919 „wieder [!] erstarkenden rheinischen Separatismus“ abzuwehren. „Der Kampfruf ,Los von Berlin‘ hatte eine doppelte politische Qualität. Er bedeutete den Austritt sowohl aus dem preußischen Staat als auch aus dem Reichsverband.“1226 Prägnant findet sich in diesen Worten Klaus‘ die Auffassung, die in der wissenschaftlichen Literatur zur Rheinstaatsbewegung, zur Verfassunggebung nach dem Ersten Weltkrieg und zur Weimarer Republik wohl als die vorherrschende zu bezeichnen ist. Es wird kaum oder nur unzureichend zwischen den rheinländischen Erscheinungen der Jahre 1918/19 und 1923 differenziert, sondern man stellt pauschal auf separatistische Umtriebe oder eine konsistente separatistische Bewegung, quasi in einer Gesamtbetrachtung, ab. Fast schon als historisch schlampig zu bezeichnen ist die Aussage Golo Manns in seinem bekannten Werk „Deutsche Geschichte 1919 – 1945“: „Ein paar Abenteurer versuchten das Land [westlich des Rheins, P.B.] ganz von Deutschland zu trennen
1222
Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 21. Hervorhebungen im Original. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 225. 1224 Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 246. 1225 Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 250. 1226 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 84. 1223
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und so noch den Wunsch Clemenceaus zu erfüllen […].“1227 Hier wird gänzlich auf jedweden Ansatz einer Differenzierung sowie begrifflichen Klärung verzichtet. Kaum wissenschaftlich ernst zu nehmen sind die ideologischen Kampfschriften der Nationalsozialisten Walther Ilges und Schmid1228 und des DDR-Kommunisten Peter Klein1229, die insbesondere von „Hochverrat“ und „Separatismus“ schreiben, um die Zentrumspartei sowie den Zentrumspolitiker und späteren Bundeskanzler Adenauer historisch in Verruf zu bringen. In dieser Kontinuität der Diskreditierung steht die neuere Abhandlung Holstes über die Weimarer Nationalversammlung aus dem Jahre 2018, der sich zwar offensichtlich nicht hinreichend mit den ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 beschäftigt, ihnen aber dennoch ein kurzes Kapitel einräumt.1230 Holste meint, „die größte Gefahr für die Reichseinheit“ sei vom „Umfeld der rheinischen Zentrumspartei“ ausgegangen und es sei ein „aggressive[r] Separatismus“ sichtbar geworden. Auch der völlig neben der Sache liegende Ausdruck „Anti-Berlin-Hetze“ darf bei Holste nicht fehlen, greift er doch mit „Hetze“ ein beliebtes Modewort auf, das es dem Autor bequem ermöglicht, sich nicht tiefschürfender mit einer Angelegenheit beschäftigen zu müssen. Insgesamt sei die erste Rheinstaatsinitiative ihrem Wesen nach „rheinisch-reaktionär“ gewesen und der mehr oder weniger heimliche Führer der Bewegung sei Adenauer gewesen, der bei Holste dadurch in die Nähe des Hochverrats gerückt ist. Ebenso wie Ilges, Schmid und Klein scheint auch Holste noch Jahrzehnte später von dem Gedanken angespornt zu sein, die rheinische Zentrumspartei und Adenauer ins Zwielicht zu drängen. Nach eingehender Untersuchung und quellenkritischer Würdigung lässt sich die Annahme irgendeiner Form von „rheinischem Separatismus“ für die Jahre 1918/19 nicht bestätigen; ja noch nicht einmal separatistische Tendenzen oder Stimmungen sind auszumachen. Die Anhänger einer weitgehenden rheinischen Selbständigkeit beharrten ganz im Gegenteil auf der unversehrten Reichseinheit. Dies haben auch die Zeitzeugen ohne Weiteres erkannt, denen es nicht bloß um die polemisch-politische Diskreditierung der Rheinstaatsbestrebungen ging. So schrieb Klemens Freiherr von der Kettenburg rückblickend im Jahre 1923, dass sich die „ursprünglichen“ Vertreter der Bewegung „durchaus nicht gegen das Reich, sondern ausschließlich gegen Preußen“ wandten.1231 Pointiert fasst Faßbender die Stimmung zusammen: „Es unterliegt keinem Zweifel: Alle echten Rheinländer sind einig in der Liebe und Anhänglichkeit zum 1227
Mann, Deutsche Geschichte 1919 – 1945, 1961, S. 18. Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27). 1229 Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29). 1230 Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55 ff. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 1231 Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 323. Vgl. auch S. 324. 1228
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deutschen Vaterlande. Nicht aber sind sie einig in der Frage, was mit dem preußischen Freistaate bei der Neuordnung des deutschen Staatenbundes [sic!] geschehen soll.“1232 Dass er anstatt vom Bundesstaat fälschlicherweise von einem Staatenbund spricht, muss man dem juristischen Laien hier wohl nachsehen. An anderer Stelle weist Faßbender auch zutreffend darauf hin, dass die Frage der Schaffung eines westdeutschen Freistaates nicht für sich, sondern „nur in Verbindung mit der Gesamterörterung der bundesstaatlichen Neugestaltung Deutschlands“ gewürdigt werden könne. Dabei bemüht er sich, die Rheinstaatsfrage in den allgemeinen politischen Kontext eines Mehr oder Weniger an Zentralismus und Einheitsstaat zu setzen, innerhalb dessen auch die Frage nach einem „Los von Berlin“ zu beantworten war.1233 Drängend sei vor allem der Wunsch nach einer Beseitigung der bisherigen „Hegemonie“ Preußens im Deutschen Reich gewesen.1234 Mithin fehlt es nicht an Zeitzeugenaussagen, die das Ziel der ersten Rheinstaatsinitiative 1918/19 inhaltlich richtig als rheinischer Gliedstaat im Reichsverband identifiziert haben. Umso mehr überrascht es, wie leichtfertig noch in vielen nachfolgenden Jahrzehnten der Vorwurf des „rheinischen Separatismus“ erhoben worden ist. Eine mögliche Erklärung für das allzu frühe Separatismusverdikt, aber auch für die tatsächliche historische Entwicklung hin zum offenkundigen Separatismus von 1923, die wohl teilweise mit dem Gedanken der „self-fulfilling prophecy“ erklärbar ist, lieferte wiederum Freiherr von der Kettenburg 1923: „Seither [nach der Verabschiedung der Reichsverfassung im August 1919, P.B.] hat das beständige, von Berlin aus systematisch genährte Gerede von der ,verräterischen Sonderbündlerei‘ der ,rheinischen Separatisten‘ auf die ganze Bewegung derart zersetzend gewirkt, daß die ursprünglichen geistigen Führer bedenklich wurden und sich mehr und mehr zurückzogen im Bestreben, der Reichsregierung keine Verlegenheiten zu bereiten und dem Feinde nicht in die Hände zu arbeiten. Infolgedessen war es unausbleiblich, daß die Smeets, Matthes und Genossen später das Heft in die Hand bekamen und sich zu Führern einer Bewegung aufschwangen, die in der nunmehrigen Form mit der reinen, ursprünglichen Rheinlandsidee nur noch den Namen gemein hat.“1235 Hiernach habe erst der gebetsmühlenartig wiederholte Separatismus- und Sonderbündlereivorwurf seitens der Regierungen und der „veröffentlichen Meinung“ bewirkt, dass sich gemäßigtere, besonnene Kräfte aus den Rheinstaatsbestrebungen verabschiedeten und gleichzeitig tatsächliche Separatisten und Hochverräter angezogen wurden und das Heft in die Hand nahmen. Das zunächst sachlich unbe1232 1233
Verf.
Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 8. Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 9. Hervorhebung durch
1234 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 10. Der Autor setzt den Begriff der Hegemonie selbst in Anführungszeichen. 1235 Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 324.
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gründete, ausschließlich abwehrende und ablehnende Gerede vom rheinischen Separatismus, sei im Ergebnis der eigentliche und beste Geburtshelfer ebendieses Separatismus geworden. Es ist ein überfälliger Schritt der Geschichtswissenschaft, die Mär von der „Sonderbündlerei im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg“ endgültig aufzuklären und auf diesem Wege zu notwendigen Differenzierungen zu kommen.1236 Die erste Rheinstaatsinitiative der Jahre 1918 und insbesondere 1919 war weit überwiegend eine legalistisch-konstitutionelle Bewegung, jedenfalls aber insgesamt eine Bewegung, deren Ziel der rheinische Gliedstaat los von Preußen, aber innerhalb des Reichsverbands war. Selbst die aktionistischen Zirkel um die Person Dortens verfolgten zumindest unmittelbar nach dem Weltkrieg, in dem hier in Rede stehenden Zeitraum, nicht die Loslösung vom Deutschen Reich und Pufferstaatsgründung, sondern hielten an der Reichseinheit und –integrität fest. Durch ihre Kollaboration mit den französischen Besatzungsmächten im Frühjahr 1919 diskreditierten sie indes die gemäßigten Rheinstaatsbefürworter und erwiesen der Rheinstaatsinitiative damit insgesamt einen „Bärendienst“. Es ist zuzugeben, dass es einige widersprüchliche oder mehrdeutig erscheinende Zeugnisse gibt, die auf den ersten oder oberflächlichen Blick an separatistische Haltungen denken lassen. Man liest etwa die Forderung „Rheinland den Rheinländern, los von Berlin und Preußen“1237 und ist daraufhin versucht, „Berlin“ mit dem Deutschen Reich gleichzusetzen, um so einen vermeintlichen Beleg für Sezession und Separatismus zu haben. Tatsächlich war „Preußen-Berlin“ gemeint, wo man insbesondere die sozialistische Gefahr für den Westen und das Rheinland verortete. Zu lesen ist diese Parole der Rheinstaatsanhänger treffender als: Los von Berlin („Bolschewismus“) und Preußen (protestantisches Ostelbiertum). Zur Verwirklichung des Zwecks des rheinischen Gliedstaats setzte die überwiegende Mehrheit in den Rheinstaatsbestrebungen auf das Mittel der Neugliederung, die ein wesentlicher Bestandteil der Verfassungsberatungen seit Januar 1919 gewesen ist und gerade kein Separatismus. Der Rheinstaat wurde hartnäckig angestrebt, sollte aber nicht gegen die revolutionären bzw. repräsentativen Autoritäten erfolgen, sondern im weitestgehenden Einklang mit ihnen. Insbesondere war es Konsens, dass der Rheinstaat entweder unmittelbar in der Verfassung festgeschrieben oder jedenfalls eine Möglichkeit zu seiner späteren Bildung auf verfassungsmäßigem Wege vorgesehen sein müsste. Dieses Anliegen hatte mit „Separatismus“ nichts gemein.
1236
Wegweisend in diesem Punkt ist jedoch Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5). Spectator Rhenanus, Die Geschichte der Rheinlandbewegung, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 365. 1237
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II. Autonomie: Das Rheinland als autonomer Verband? Zwischen einer originären und souveränen Staatlichkeit des Rheinlandes, etwa als „Pufferstaat“ zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, und einer (bloß) weitreichenden rheinländischen Selbstverwaltung im preußischen Freistaat, hier verstanden als „Provinzialismus“1238, rangierten Vorstellungen von der Rheinprovinz als „autonomer Verband“. Es deutet sich an, dass dieses Autonomie-Verständnis vom Phänomen des Föderalismus abzugrenzen ist.1239 Zumeist im Zusammenhang mit alternativen Ausübungsformen des Selbstbestimmungsrechts der Völker werden unter dem Oberbegriff „Autonomie“ im Völkerrecht solche Konzepte verstanden, die einem Volk, einer Volksgruppe oder möglicherweise auch einer Minderheit „im Rahmen eines bestehenden Staatsverbandes einen angemessenen Freiraum zur Entfaltung und Bewahrung ihrer Eigenständigkeit gewährleisten“ sollen.1240 Gemeint ist die Gewährung eines rechtlich konturierten Selbstgestaltungsrechtes im Bereich der verschiedenen Staatsaufgaben an eine territorial oder personal konstituierte Einheit, die nicht im Sinne der völkerrechtlichen Souveränitätslehren unabhängig, also nach außen souverän, sein darf. Das Autonomiesubjekt muss stets mit einem bestehenden Staat in einer staatsrechtlichen Verbindung stehen.1241 Mit Recht nennt Stefan Simon die Gewährung von Autonomie „das mildeste und flexibelste Instrumentarium“ zur Begegnung mit Unabhängigkeitsforderungen, auch oder gerade weil der Autonomiebegriff inhaltlich unbestimmt ist.1242 Aus Sicht bestehender Staaten sind Konzeptionen von Autonomie zumeist akzeptabler als Sezessionsforderungen, weil die Gewährung von Autonomie staatserhaltend und integrierend wirkt bzw. wirken kann. Hieran wird bereits deutlich, dass „Autonomie“ zwischen den Sphären des Völker- und des Staatsrechts oszilliert. Der Austromarxist Karl Renner definierte im Jahre 1918 den Autonomiebegriff indes so: „Ich verstehe unter nationaler Autonomie die staatsgleiche Konstitution der Nation, ihre Einrichtung als Gliedstaat und die Ordnung des gesamten Staates als Nationalitätenbundesstaat.“1243 Danach war Autonomie gleichgesetzt mit Bundesstaatlichkeit, was auch zum damaligen Zeitpunkt nicht der herrschenden Meinung zum Autonomiebegriff entsprach, aber die Begriffsverwirrung deutlich werden lässt
1238
Vgl. hierzu eingehender Kapitel D.IV. („Provinzialismus“). Vgl. hierzu sogleich Kapitel D.III. („Föderalismus“). 1240 So ein Definitionsversuch bei Simon, Autonomie im Völkerrecht, 2000, S. 18. 1241 Simon, Autonomie im Völkerrecht (Fn. 1240), S. 24. 1242 Simon, Autonomie im Völkerrecht (Fn. 1240), S. 18. 1243 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, 1918, S. 84. 1239
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und zeigt, dass eine taugliche Differenzierung zwischen Autonomie und Föderalismus nötig ist. Nach dem Weltkrieg und den Friedensverträgen mit ihren Nachtragsverträgen, insbesondere zum Minderheitenschutz, sprach man auf dem europäischen Kontinent von „autonomen Verbänden“, die man als etwas gänzlich Neues betrachtete und die sich nicht ohne weiteres mit dem bisherigen Verständnis von Autonomie deckten. Dies zeigt Heinrich Dörges eher semantischer Ansatz, mit dem er den autonomen Verband „im technischen Sinne“ als ein politisches Gebilde beschreibt, das das positive Staats- und Völkerrecht der Nachkriegszeit als autonom zu bezeichnen pflegte.1244 Er sprach dabei ausdrücklich von der Autonomie als „Rechtsform“ oder sogar „Rechtsordnung“, nach der sich das Eigenleben einer bestimmten Menschengruppe durch Pflege ihrer besonderen Gemeinschaftswerte vollziehe und erneuere. Deswegen handele es sich bei der Gewährung von Autonomie um eine „Spezifizierung des Selbstbestimmungsrechtes“.1245 Dabei taten sich Staats- und Völkerrechtslehre schwer damit, die neu entstehenden autonomen Gebietskörperschaften (Territorialverbände) und autonomen Personalverbände dogmatisch einzuordnen und fassbar zu machen. Konkret behandelt Dörge die „autonomen“, weil als solche bezeichneten, Territorialverbände Memelland, Karpathorussland (Ruthenien) und die Åland-Inseln sowie die autonomen Personalverbände in Estland, Lettland und Litauen und muss feststellen: „Das Eigentümliche dieser politischen Gebilde besteht darin, daß sie mit den Begriffen der kontinentalen Staatslehre nicht zu erfassen sind, daß eine Einordnung in die überkommenen Denkformen der modernen Staatstheorie nicht möglich ist, ohne den realen Verhältnissen, vor allem dem positiven Recht, Gewalt anzutun. Überall lassen sich bei Anwendung der modernen Theorie Merkmale nachweisen, die nur einem Staat eigentümlich sind, anderseits aber mangelt es an Momenten, die zur Bejahung des Staatscharakters unerläßlich sind.“1246 Autonome Verbände übten zunehmend Rechte aus und nahmen Befugnisse in Anspruch, die weit über das hinausgingen, was anderen, dem Staat eingliederten Verbänden (z. B. kommunalen Gebietskörperschaften) eingeräumt war, so etwa durchaus auch gesetzgebende und rechtsprechende neben administrativer Gewalt. Man hatte mithin das Bewusstsein, dass autonome Verbände phänomenologisch etwas anderes waren als (bloße) substaatliche Selbstverwaltungskörperschaften, wobei die Substaatlichkeit jedoch beiden rechtlichen Entitäten gemeinsam war. Völkerrechtlich führten diese Gebiets- und Personalverbände indessen kein vom Gesamtstaat, dem sie territorial eingegliedert waren, unterschiedenes Dasein. Dörge wies auf deren „Zwiespältigkeit und Doppelnatur“ hin, die durch die Wissenschaft 1244 1245 1246
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht, 1931, S. 1. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 72 f. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 1.
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und ihre überkommenen Begriffe nicht gänzlich zu erklären waren. So kenne man bei der Frage der staatsrechtlichen Einordnung der autonomen Verbände immer bloß die Alternativen „Staat“ oder „Kommunalverband“ und eine dritte Möglichkeit werde nicht gesehen.1247
1. Die Entwicklung des Autonomiebegriffs in der deutschen Staatstheorie seit dem 19. Jahrhundert Der Begriff der Autonomie war im deutschen Rechtskreis durchaus bekannt und ist insbesondere von der Pandekten- und Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet worden,1248 dabei war das Recht bestimmter landsässiger Korporationen zum Erlass partikularrechtlicher Normen im Gegensatz zur ursprünglichen Gesetzgebungsgewalt von Kaiser und Papst (potestas leges ferendi) als potestas statuendi seit dem Mittelalter bekannt. Im Privatrecht galt Autonomie seitdem als eine originäre Rechtsquelle, nämlich „die Befugnis gewisser Korporationen, zur Regelung ihrer inneren Angelegenheiten verbindliche Rechtsnormen aufzustellen“.1249 Georg Beseler begrenzte den Autonomiebegriff dabei früh auf „das durch die Staatsgewalt beschränkte Recht gewisser Korporationen“,1250 womit Autonomie als abgeleitetes Recht definiert war. Ging es daneben um die Gestaltung von Rechtsverhältnissen durch Verträge oder einseitige Willenserklärungen im Rahmen der Rechtsordnung, sprach man ausdrücklich von „Privatautonomie“1251, um eine Differenzierung zu der korporatistischen Autonomie, verstanden als Rechtsetzungsquelle, vornehmen zu können. In der der Privatrechtsentwicklung folgenden Wissenschaft vom öffentlichen Recht wurde die Autonomie als Befugnis zur Selbstgesetzgebung wie selbstverständlich auch öffentlich-rechtlichen Körperschaften zugestanden; gefordert wurde aber, dass es sich dabei nicht um Verbände handeln dürfe, die Staat sind.1252 Praktisch war diese öffentlich-rechtliche Ermächtigung der Körperschaften, „innerhalb des von ihnen beherrschten Kreises und im Rahmen der Staatsgesetze zur Regelung ihrer
1247
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 2. Siehe etwa Gierke, Deutsches Privatrecht, 1895, S. 142 ff.; Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 4. Aufl. 1885, S. 74 ff.; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 3. Aufl. 1870, S. 95 ff.; Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts, 3. Aufl. 1893, S. 144 ff.; Brunner, Autonomie, in: Franz von Holtzendorff (Hrsg.), Rechtslexikon, 3. Aufl. 1880, S. 218 f. 1249 Brunner, Autonomie (Fn. 1248), S. 218. 1250 Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts (Fn. 1248), S. 75. 1251 Siehe etwa Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts (Fn. 1248), S. 149. 1252 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 13. 1248
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besonderen Verhältnisse verbindliche Rechtsnormen aufzustellen“1253, sogar ungleich häufiger anzutreffen als bei Verbänden des Privatrechts. Notwendig für die Annahme einer Selbstverwaltung erschien diese autonome Rechtssetzungsbefugnis freilich nicht. „Es ist durchaus denkbar, daß Selbstverwaltung geübt wird, ohne daß gleichzeitig in Erledigung der Selbstverwaltungsangelegenheiten Rechtsnormen erzeugt werden müßten.“1254 Als derivatives Recht musste die Autonomie allerdings aufgrund ausdrücklicher Rechtsgrundlage verliehen werden, was historisch konsequent erscheint und rechtstechnisch auch stets Beachtung gefunden hat.1255 Otto von Gierke und ihm folgend später Hugo Preuß waren mit ihrer Opposition zu der Auffassung von Autonomie als einer vom Staat abgeleiteten Rechtsetzungsgewalt vereinzelt geblieben.1256 Nach Preuß ist die von gewissen Körperschaften, insbesondere von den kommunalen Gebietskörperschaften, ausgeübte hoheitliche Gewalt eine originäre, vom übergeordneten Staat nicht übertragene. Den Gemeinden komme eine ursprüngliche Autonomie, etwa in Form einer Satzungsautonomie, zu.1257 Diese Ansicht von der originären Herrschergewalt der Kommune liegt begründet in der Preußschen Ablehnung des vorherrschenden, historisch auf Jean Bodin zurückgehenden Souveränitätsbegriffs1258 und stellt einen „staatsfernen“ Rückgriff auf die historische germanistische Genossenschaftstheorie dar,1259 der zufolge Verbände und Körperschaften ursprünglich berechtigt zur Selbstgesetzgebung in eigenen Angelegenheiten waren. Die Lehre von der zwischen dem Reich und den Bundesstaaten geteilten Souveränität hatte sich nach Preuß als rechtslogisch unhaltbar erwiesen.1260 Eine moderne Staatstheorie müsse demnach ohne den tradierten Souveränitätsbegriff auskommen und dennoch begründen können, warum nichtsouveräne Gliedstaaten dogmatisch von (sonstigen) Selbstverwaltungskörperschaften zu unterscheiden sind.1261 Die Genossenschaftstheorie sei hierfür geeignet, weil sie ein Gemeinwesen „von unten nach oben“ denke und denselben Ursprung habe wie die
1253
Kinne, Die Autonomie der Kommunalverbände in Preussen, 1908, S. 18. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 14. 1255 So heißt es etwa in § 11 der Preussischen Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen vom 30. Mai 1853: „Jede Stadt ist befugt, besondere statutarische Anordnungen zu treffen […].“ 1256 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 14 f. 1257 Vgl. hierzu Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen, 1902, S. 131 ff. 1258 Bodin, Les six livres de la république, 1577. 1259 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 15. 1260 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, 1991, S. 18. 1261 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 91 f. 1254
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„neuen Formen der altgermanischen, in England erhaltenen und entwickelten Idee der Selbstverwaltung“.1262 Genossenschaften als „Personenverbände“ könnten sich rechtlich zu „Verbandspersonen“ entwickeln, die wiederum dann zu Körperschaften werden, wenn es „zur völligen Heraushebung einer wirklichen Verbandsperson über die Einzelpersonen gekommen“ sei; erst die Körperschaft bildete eine „Person höherer Ordnung“.1263 Nach diesem germanistischen Rechtsdenken kann es keine souveräne, weil „absolute“ Staatsgewalt in der Moderne geben, zumal nicht im Bundesstaat. Der letztlich auf Bodin zurückgehende Souveränitätsbegriff zeichnet sich gerade durch seine Einheit, Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Unteilbarkeit aus. Preuß sah in ihm nicht viel mehr als das „Charakteristikum des absolutistischen Fürstenstaates“.1264 Souveränität sei überhaupt keine taugliche Kategorie des Rechts. Dabei begründete Preuß seine Ablehnung des Souveränitätsbegriffs rechtlich: „Eine absolute Macht, welche den mit ihr bekleideten Willen zum schlechthin allgemeinen, zum souveränen Willen erhebt, kann es im Gebiete des Rechts nicht geben; denn dadurch würde eben das in der Abgrenzung [der Willensmacht/Willenssphären der Persönlichkeiten, P.B.] beruhende Wesen des Rechts negiert. Das Recht aber kann sich nicht selbst negieren.“1265 Der Begriff der Souveränität musste hiernach strikt von dem des Staates getrennt werden. Es konnte keine „Staatssouveränität“ geben. Preuß war jedoch klargeworden, dass es durchaus eine nicht-souveräne Staatlichkeit geben musste, wenn die deutschen Gliedstaaten mehr als bloße autonome Provinzen und das Reich ein wahrhaftiger Bundesstaat sein sollten.1266 Dass Souveränität für die Annahme von Staatlichkeit nicht mehr als konstitutiv angesehen wurde, war das Verdienst der Lehre von den Hoheitsrechten Georg Liebes, der insoweit ein Vordenker für Preuß gewesen sein muss.1267 Preuß und die germanistische Genossenschaftstheorie konnten letztlich auf den Souveränitätsbegriff in der Staatstheorie verzichten, weil der Gedanke eines aus Genossenschaften konstituierten Staatswesens das absolut verstandene Herrschaftsmonopol des Staates schlichtweg nicht benötigte.1268 Dahingegen verneinte das Konzept staatlicher Souveränität prinzipiell jedes originäre Eigenrecht der im Staat eingegliederten Körperschaften. Nach Dörge hat indes die tatsächliche Entwicklung der einheitlichen und effektivexekutiven modernen Staatsgewalt die Autonomie der einzelnen Verbände immer 1262 1263 1264 1265 1266 1267 1268
Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 136. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 246 f. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 23. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 133. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 22. Liebe, Sind die zu einem Bundesstaate vereinigten Staaten souverän?, 1880. Vgl. hierzu ausführlicher Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. 124 f.
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weiter eingeschränkt und zurückgedrängt, „so daß die Befugnis der Autonomie nur noch da vorhanden ist, wo sie der Staat ausdrücklich anerkennt oder stillschweigend duldet“.1269 Dies führte dazu, dass es dem modernen Staat mit seiner expandierenden Bürokratie vorbehalten war, die Autonomie von substaatlichen Körperschaften zu erweitern, einzuschränken oder sogar vollkommen zu entziehen, sodass der Autonomie als eigenständiger Kategorie im deutschen öffentlichen Recht zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine nur untergeordnete Rolle zukam.1270 In der vorherrschenden Staatstheorie wurde der Begriff der Autonomie in einem umfassenderen Sinn gebraucht, nämlich nicht nur eng verknüpft mit dem Selbstgesetzgebungsrecht im Rahmen der körperschaftlichen Selbstverwaltung, sondern sowohl als legislative wie auch judikative und exekutive Autonomie. Dies bedeutete einen Bruch mit der germanistischen Rechtsgeschichte, ging doch mit einer Erweiterung des Begriffs ein Verlust an definitorischer Klarheit einher. Ferner verlor die Autonomie ihren exklusiven Charakter als Rechtsquelle.1271 Im Ergebnis führte diese unscharfe Begriffsverwendung zu dem bereits angedeuteten Befund, dass Autonomie in sämtlichen Kontexten von Selbständigkeit und Unabhängigkeit angenommen und als Etikett gebraucht worden ist, was nicht zuletzt in der Erforschung der ersten Rheinstaatsbestrebungen Verwirrung bis heute hervorruft. Bestimmend für die Autonomie-Diskussion in Deutschland waren sodann Georg Jellinek und Paul Laband. Der Autonomiebegriff bei Jellinek hat den Staat zum Gegenstand, nicht aber die dem Staat eingegliederten nichtstaatlichen oder „unterstaatlichen“ Verbände. Aus der dem Staat eigentümlichen Herrschergewalt folge, dass „jeder Staat durch seine Gesetze über die ihm zustehende Herrschermacht disponiert“.1272 Diese staatliche Selbstbestimmung nennt er „Autonomie“ und sie ist für Jellinek eine notwendige Eigenschaft der Staatsgewalt, die jedem eingegliederten Verband, der sein Imperium von der übergeordneten Herrschaftsgewalt ableitet, fehle.1273 Der Autonomiebegriff Jellineks rückte damit an den der Souveränität bei Bodin heran. Demgegenüber meint Laband treffender, dass ein als souverän zu bezeichnender Staat nicht gleichzeitig als autonom bezeichnet werden könne.1274 Die staatliche Souveränität ist für ihn etwas fundamental Anderes als die Autonomie der Selbstgesetzgebung. Letztere sei nur dann anzunehmen, wenn es sich um untergeordnete politische Gemeinwesen handelte, für die gleichsam durch eine übergeordnete 1269
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 15. Vgl. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 16: „Sie [die Autonomie, P.B.] findet insbesondere zur Ausgestaltung der Verfassung kommunaler Körperschaften Anwendung.“ 1271 So auch Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 16. 1272 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1905 , S. 493. 1273 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 16. 1274 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911, S. 107. 1270
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Gewalt Gesetze erlassen werden könnten. Dieser Umstand sei bei einer souveränen Gewalt ausgeschlossen. So meint „Autonomie“ bei Laband die kompetenzielle Möglichkeit zur Selbstgesetzgebung nichtsouveräner, öffentlich-rechtlicher Verbände, die kraft eigenen Rechts nicht etwa aufgrund staatlicher Delegation existiert. Dabei dachte er in erster Linie an die nichtsouveränen Einzelstaaten im Bundesstaat, die er mithin als autonom in der Landesgesetzgebung beschreibt. Einerseits präzisiert Laband damit den historischen Autonomiebegriff, wenn er darunter ausschließlich das Recht der Selbstgesetzgebung versteht, andererseits wendet er ihn auf Gliedstaaten an, während die herrschende Lehre eine Autonomie ausdrücklich nur bei nichtstaatlichen Körperschaften annahm.1275 Labands Lehrmeinung trat prominent hervor bei der reichsweiten Diskussion um den Status Elsass-Lothringens nach 1871, nicht zuletzt bedingt durch seine Autorität als Mitglied des Staatsrates für das Reichsland. In diesem Fall wurde der Begriff der Autonomie im Sinne von Staatsgleichheit und bundesstaatlicher Selbständigkeit verstanden.1276 So war der Straßburger Bürgermeister Rudolf Schwander mit Blick auf das Reichsgesetz vom 31. Mai 1911 enttäuscht, dass „die Verfassung [sic!] die erhoffte Autonomie nicht gebracht“ habe.1277 Die Forderungen der Elsässer und Lothringer nach Autonomie waren hierbei sehr weitgehend und im Grunde auf Beseitigung der noch bestehenden rechtlichen Bindungen an die zentrale Reichsgewalt in Berlin gerichtet. Diese fasst Dörge treffend zusammen: „Als wesentlich erschien in diesem Zusammenhang die Bestallung des Statthalters auf Lebenszeit, Aufhebung der Einschränkung des Stimmrechts Elsaß-Lothringens im Bundesrat, Beseitigung des bundesratlichen Vorschlagrechts für einen Teil der Mitglieder der ersten Kammer und des Landtages [sic!]1278, Verzicht auf die dem Kaiser als Vertreter der Gesamtheit der Bundesstaaten im Reichslande zukommenden Regierungsrechte und die hierbei vorgesehene Mitwirkung und Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, Übertragung des Rechtes zur Verfassungsänderung vom Reich auf das Reichsland selbst, Bestellung einer Dynastie oder Verleihung einer republikanischen Verfassung für Elsaß-Lothringen. […] jede über das übliche Maß hinausgehende [staatliche, P.B.] Aufsicht [wurde] als der Autonomie zuwider bezeichnet.“1279 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zur Zeit des Ersten Weltkriegs wurde von „Autonomie“ mithin nicht mehr nur im Zusammenhang von untergeordneten, nichtstaatlichen öffentlich-rechtlichen juristischen Personen gesprochen, sondern 1275
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 17. Hierzu näher Pohl, Die elsaß-lothringische Frage, 1927, S. 18 ff. 1277 Zitat bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 17. 1278 Diese Darstellung Dörges ist falsch bzw. missverständlich. Gemeint ist die erste Kammer des Landtages des Reichslandes Elsass-Lothringen, welche auf der Grundlage des Ernennungsrechts des Kaisers besetzt wurde. 1279 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 18. 1276
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der Begriff wurde ausdrücklich auf staatliche Körperschaften, vor allem auf Gliedstaaten im Bundesstaat, bezogen. Dies erscheint als unmittelbare Folge der Lehrmeinung Labands und den staatsrechtlichen Diskussionen rund um ElsassLothringen. Man kann sagen, die Definition von rechtlicher Autonomie „vergröberte“ sich. Gleichzeitig war sein Begriffsinhalt über die ursprüngliche Selbstgesetzgebung im Rahmen der vorgegebenen Rechtsordnung hinaus erweitert worden, nämlich um die judikative und insbesondere exekutive Gewalt. Man hatte im Allgemeinen ein extensives Verständnis der Autonomie, was die rechtlich handhabbare Definition schwierig, wenn nicht nahezu unmöglich machte. Den mitunter rein politischen Beschreibungen von Selbständigkeit und Selbstverwaltung mit rechtlich konturierten Kategorien beikommen zu wollen, gleicht oftmals dem Versuch, Wasser mit einem Messer zu sezieren.
2. Der „autonome Verband“ als Ziel der ersten Rheinstaatsbestrebungen? An die Lehren Jellineks1280 und Robert Redslobs1281 zur Phänomenologie staatsähnlicher, moderner Gebilde schloss Dörge im Jahr 1931 seine Abhandlung über „autonome Verbände“ an und konstatierte historisch Bemerkenswertes: „Im Gegensatz zu der von Jellinek sowie von Redslob verfochtenen These, daß es sich bei den staatsähnlichen Gebilden um staatsrechtliche Abnormitäten handle, kann für die autonomen Verbände der Jetztzeit der Nachweis geführt werden, daß sie staatsrechtliche Erscheinungsformen rationaler Art sind, die bewußt als Verwirklichung bestimmter staatsrechtlicher Formprinzipien unter Anpassung an eigenartige Verhältnisse geschaffen worden sind, und daß die Rechtsform der Autonomie die positive Lösung für das Rationale dieser Neuschöpfungen moderner Staatskunst ist.“1282 Im Gegensatz zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen bzw. Völker, für dessen Bejahung es zumindest im zentraleuropäischen Rechtskreis auf das Vorliegen objektiv-gewachsener Merkmale wie etwa Sprache, Religion und (Kultur-)Geschichte ankam, ist Autonomie nicht entwicklungsgeschichtlich zu erklären, geschweigen denn zu definieren. So waren etwa die modernen Staatsgebilde nach dem Ersten Weltkrieg, die autonome Gebiete umfassten, etwa die Tschechoslowakei (Karpathorussland) und Finnland (Åland), nur teilweise historisch gewachsen und eben teilweise konstruiert. Autonomie ist hierbei keine evolutiv-gewachsene Rechtsform
1280 1281 1282
Jellinek, Ueber Staatsfragmente, 1896. Redslob, Abhängige Länder, 1914. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 11.
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für diese Gebietskörperschaften, sondern eine entlehnte, rational-juristische Konstruktion.1283 Wollte man jedoch den Versuch unternehmen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Autonomie als Rechtsform im positiven Staats- und Völkerrecht Kontinentaleuropas zu definieren, so ergaben sich unlösbare Widersprüche mit der vorherrschenden Dogmatik. Grundsätzlich von einer inneren Einheit des Staates ausgehend und auf den Souveränitätsbegriff fixiert, erkannte man nur eine einheitliche Staatsgewalt an und führte alle öffentliche Gewalt hierauf mittelbar oder unmittelbar zurück.1284 Dies führte dazu, dass man lange Zeit nur die Alternative Staat oder Kommunalverband kannte und mit einem staatsrechtlichen Verständnis von Autonomie überfordert war. Ein Beispiel mag das Gutachten Richard Thomas über die Gnadenhoheit im Memelgebiet sein, in dem er davon ausging, dass das Memelgebiet ein „Kommunalverband mit höchstpotenzierter Selbstverwaltung“ sei.1285 Jellineks „Staatsfragmente“ und Redslobs „abhängige Länder“ waren sodann erste, jedenfalls terminologische Versuche der theoretischen Annäherung an die faktisch neuen Gebilde. Dem folgend meinte etwa Frantisˇek Weyr im Jahre 1921, der autonome Verband Karpathorussland sei ein Staatsfragment. Gleichzeitig kritisierte er mit den genannten Gründen die herrschende staats- und völkerrechtliche Meinung und forderte eine Vertiefung und Erweiterung der Lehre vom Staat und den Staatenverbindungen.1286 Dies geschah dann allmählich durch die Beiträge Hans Gerbers1287 und eben Dörges. Insbesondere durch Gerber wurde 1926 der Gedanke in Deutschland befördert, dass staatsrechtliche Autonomie nicht auf obrigkeitsstaatlicher Verleihung beruhe, sondern ihre Macht aus eigener Kraft der in Rede stehenden Gebietskörperschaft schöpfe. Man erkennt sogleich den Rückgriff auf Preuß‘ genossenschaftsrechtliche Konstruktion. Bestehe innerhalb einer Menschengruppe ein Bewusstsein des inneren Zusammenhangs, dann möchte sie ihr Teilleben selbst ordnen. Diese Eigenordnung beruhe dann auf den gleichen Gründen, aus denen die Mehrheit im Staat ihre Volksindividualität – verstanden als Voraussetzung der Volkssouveränität – zu verwirklichen suche, sei also gleichsam „ursprünglich“, wie es der Staat selbst sei. „Autonomie ist Eigenart einer Teilverfassung innerhalb des Verfassungsbaues einer
1283 Vgl. hierzu Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 78. 1284 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 82. 1285 Thoma, Die Gnadenhoheit im Memelgebiet, 1926, S. 6. 1286 Weyr, Das Verfassungsrecht der tschechoslowakischen Republik, in: Zeitschrift für österreichisches Recht, 1921, S. 9. 1287 Gerber, Kulturautonomie als Eigenart minderheitenrechtlicher Ordnung und ihre Verwirklichung nach der estnischen Verfassung, 1926; Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 393 ff.
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staatlichen Gemeinschaft. […] Der autonome Zusammenhang stützt sein gliedhaftes Dasein ebenso auf ,eigenes Recht‘ wie der Staat überhaupt.“1288 Somit erscheint Autonomie als eine Teilverwirklichung des Nationalstaates und bedeutet niemals abstrakte Freiheit und Unabhängigkeit vom Staate, sondern die autonomen Verbände bejahen den Gesamtstaat, eben weil er ein „richtig“ verstandener Nationalstaat sei: „Autonomie als Selbstordnung seiner Angelegenheiten durch ein Teil-Gemeinwesen ist niemals im Sinne absoluter Loslösung dieses Teiles von seinem Ganzen zu deuten.“1289 Der Autonomiebegriff Gerbers beinhaltete mithin eine Ablehnung der Sezession und eine Absage an Separatismus, gleichzeitig aber auch eine Ablehnung oder jedenfalls Skepsis gegenüber zeitgenössischen völkerrechtlichen Autonomiekonzeptionen, die eine weitergehende „Staatsfreiheit“ als Prämisse zugrunde legten. Anders als Gerber schließt sich Dörge einer extensiven, eher angelsächsischen Auslegung1290 des Autonomiebegriffs an, der mit dem engeren historischen Inhalt von (derivativer oder originärer) Selbstgesetzgebung in eigenen Angelegenheiten kaum zu vereinbaren ist, wenn er schreibt: „Bei den autonomen Territorialverbänden etwa schließt die Autonomie alle wesentlichen Attribute einer Staatsgewalt, wie Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung, in sich. Weiterhin sind die einer autonomen Regelung unterliegenden Sachgebiete ein für allemal der Staatsgesetzgebung entzogen, es sei denn, daß der autonome Verband mit einer andersartigen Regelung ausdrücklich einverstanden ist.“1291 So verstanden, sind autonome Länder keine Staaten und nur als Teile eines Staates denkbar, der sich durch den Mangel einer umfassenden Staatsgewalt auszeichnet, das heißt, dem die von der modernen Staatstheorie geforderte durchgehende innere Einheit fehlt.1292 Dabei unterscheidet er Autonomie von Föderalismus, wenn er die Pläne der österreichischen Sozialisten zur Schaffung eines „Nationalitätenbundesstaats“ föderalistisch nennt und ausdrücklich nicht autonomistisch. Der autonome Verband Dörges reicht nämlich weiter als die Eigenständigkeit eines Gliedstaates im föderalen Staatsaufbau. Dies war zunächst, jedenfalls in Anlehnung an Jellinek und Redslob, auch rechtshistorisch korrekt, sieht man von den dogmatischen Verwerfungen und dem politisch-extensiven Autonomiebegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund um die Frage der Situation Elsass-Lothringens einmal ab.
1288 Gerber, Kulturautonomie als Eigenart minderheitenrechtlicher Ordnung und ihre Verwirklichung nach der estnischen Verfassung (Fn. 1287), S. 18. 1289 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 395. 1290 Ausführliche ideengeschichtliche Darlegung bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 86 ff. 1291 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 18. 1292 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 96.
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Die Unabhängigkeit des modernen autonomen Verbands ist hiernach gekennzeichnet durch die Autonomie aller drei Gewalten: Legislative, Judikative und Exekutive. Nicht zuletzt die wiederholten Forderungen und Aussagen Wilsons seit 1918 zeigten, dass der zeitgenössische (angelsächsische) Autonomiebegriff anders zu verstehen war als der historische der germanistischen Rechtslehre und der Staatslehre um die Jahrhundertwende.1293 Bereits während des Weltkrieges und insbesondere während der Friedensverhandlungen, war ein „typisch englische[r] Begriff“ von Autonomie in den kontinentalen Rechtskreis hineingetragen worden, der indessen niemals dogmatisch näher bestimmt bzw. systematisiert wurde.1294 Dennoch legt Dörge dieses Autonomieverständnis seiner Abhandlungen über die autonomen Verbände zugrunde und bricht auf diese Weise mit der kontinentalen und insbesondere deutschen Rechtslehre über Souveränität, Autonomie und Selbstverwaltung. Es bleibt dabei offen, warum Dörge sich dem angelsächsischen Begriffsverständnis von „autonomy“ anschließt, obwohl er feststellt, dass etwa Wilson selbst nicht zu einer Klärung und Bestimmheit seiner verwendeten Begrifflichkeiten beigetragen habe, es vielleicht auch nicht konnte. So heißt es in einer Rede des Präsidenten vom 14. Juni 1917 zur Situation der Völker Österreich-Ungarns: „It contemplated binding together racial and political units which could be kept together only by force – Czechs, Magyars, Croats, Serbs, Rumanians, Turks, Armenians – the proud states of Bohemia and Hungary, the stout little commonwealths of the Balkans, the indomitable Turks, the subtle peoples of the East. These peoples did not wish to be united. They ardently desired to direct their own affairs, would be satisfied only by undisputed independence.“ Ein halbes Jahr später hieß es dann in Wilsons Erklärung der Vierzehn Punkte unter Punkt zehn: „The peoples of Austria-Hungary, whose place among the nations we wish to see safeguarded and assured, should be accorded the freest opportunity of autonomous development.“1295 Warum für die verschiedenen Völker Österreich-Ungarns mal eine „unangefochtene Unabhängigkeit“ im umfassenden Sinne und mal lediglich eine „autonome Entwicklung“ gefordert worden ist, ist jedenfalls rechtsdogmatisch nicht zu klären. Zwar verdeutlicht dies – in Übereinstimmung mit Dörge – die vorherrschende extensive Auslegung des Autonomiebegriffs. Für eine möglichst exakte Definition und eine Systematisierung in kontinentaleuropäischer Manier ist dagegen wenig gewonnen. Was aber ist, als eine Art Zwischenergebnis, für die Einordnung des Autonomiebegriffs nach dem Ersten Weltkrieg nach alldem festzuhalten? Neben einiger 1293
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 25 f. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 30 f. 1295 Zitate bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 31. Hervorhebungen durch Verf. 1294
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Verwirrung rund um den Begriff lässt sich feststellen, dass nach anfänglichen, dogmatisch feingeistigen Analysen im 19. Jahrhundert es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem extensiven und recht konturlosen Verständnis von Autonomie gekommen ist. Vereinfacht gesagt: Immer dort, wo die Rede um Selb- und Eigenständigkeit von substaatlichen Personal- oder Territorialverbänden kreiste, sprach man von „Autonomie“; egal ob der Blick auf Kommunal- bzw. Provinzialverbände oder Gliedstaaten im Bundesstaat gerichtet war. Autonomie erscheint degeneriert zu einem bloßen Gegenbegriff zu überkommener staatlicher Souveränität. Feststellbar ist, dass der deutsche Autonomiebegriff seit jeher ein rein staatsorganisationsrechtlicher geblieben ist, während das – ebenso extensive und vage – angloamerikanische Verständnis völkerrechtlich orientiert war und jedenfalls klar differenzierte zwischen Autonomie und Föderalismus. Diese an sich notwendige Unterscheidung leistete der deutsche Autonomiebegriff nicht mehr präzise. Erst in den 1920er Jahren ist eine dogmatische Annäherung an eine völkerrechtliche Begriffsdimension erkennbar; offenbar wurde die deutsche Rechtslehre insoweit durch Versailles „wachgerüttelt“. Maßgebliche deutsche Vorarbeiten für die Völkerrechtsentwicklung wie diejenigen Jellineks und Redslobs, wurden nicht mit dem Autonomiebegriff verbunden, obwohl dies dogmatisch naheliegend war. Es darf vermutet werden, dass Dörge das Vorhaben der ersten Rheinstaatsinitiative, die Rheinprovinz zu einem gleichberechtigten Gliedstaat im Reichsverband zu befördern, als föderalistisches Programm bewertet hätte. Das angestrebte rheinische Bundesland wäre kein autonomer Verband geworden, weil dieser Status ein Mehr an Unabhängigkeit eingefordert hätte. Während es im föderalen Bundesstaat möglich und Gang und Gäbe sei, dass das Bundesparlament (Reichstag) die Rechtsgewalt der Gliedstaaten gegen oder ohne ihren Willen einschränke oder erweitere, sei dies – so Dörge – bei den autonomen Ländern gerade unmöglich. Die Macht der Staatsgewalt scheitere am Willen des autonomen Landes, das für die ihm einmal übertragenen Materien ausschließlich rechtssetzungskompetent sei und bleibe.1296 Zwar muss man Dörge in seiner Pauschalität der Aussagen zum Bundesstaat nicht zustimmen, dennoch wird für die Rechtslehre nach dem Ersten Weltkrieg auch hier deutlich, dass der autonome Verband etwas qualitativ, nicht bloß quantitativ Anderes meinte, als der Gliedstaat im Föderalismus. Dieser aber war das stets erklärte Idealziel der Rheinstaatsbestrebungen 1918/19. Aus Dörges Sicht wäre eine Autonomie des zu schaffenden Rheinstaats wohl auch nicht zielführend gewesen. Die historische Notwendigkeit zur Schaffung von autonomen Gebietskörperschaften in den Friedensverträgen bestand nach Dörge immer dann, wenn man es mit territorial geschlossen siedelnden Minderheitengruppen zu tun hatte, die sich durch eine „stärkere Intensität des inneren Zusammenhanges, 1296
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 99.
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erwachsen aus geographischer Abgeschlossenheit“ auszeichneten, wobei er bespielhaft das durch Gebirgszüge von der eigentlichen Tschechoslowakei abgeschottete Karpathorussland nennt.1297 In gleicher Weise wird das besondere Merkmal der territorial-geographischen Abgeschlossenheit im Fall der Åland-Inseln nachvollziehbar. Wenn auch territorial zusammenhängend, kann mit Blick auf die Rheinprovinz bzw. das Rheinland nicht von einer gewissen Abgeschlossenheit oder Abgeschiedenheit die Rede sein, was schon die zum Teil stark divergierenden Konzeptionen von dem Gebiet des zu schaffenden Rheinstaats zeigen, der sich mal weit bis nach Hessen, mal bis nach Oldenburg oder gar bis an die Nordsee erstrecken sollte. Leitgedanke bei der Einrichtung eines autonomen Gebietsverbands ist es, eine geschlossene Gruppe ein vom Gesamtstaat unterschiedenes „Eigenleben“1298 führen zu lassen, ohne sie aus dem existenten Staatsverband zu entlassen. Es ging den frühen Rheinstaatsbestrebungen indessen um die Bildung eines rheinländischen Gliedstaates im föderalen Reichsverband, das heißt die Rheinstaatsbewegung suchte selbst nicht die etwas diffuse Form eines so verstandenen autonomen Verbands. Zwar stritt man um die Bewahrung, den Respekt und die Pflege rheinischer Eigenheiten, aber zu keiner Zeit war man bestrebt, ein weitgehend isoliertes Eigenleben als abgeschirmtes Territorium führen zu können. Bedeutsam für die vorliegende Untersuchung ist bei alldem, ob man die ersten Rheinstaatsbestrebungen rechtshistorisch korrekt beschreibt, wenn man angibt, ihr Ziel seien „Autonomie“ bzw. ein „autonomer Rheinstaat“ gewesen. Schlemmers Werk zur Rheinstaatsinitiative 1918/19 nach, scheint genau diese Feststellung das gegenwärtige Ergebnis der bisherigen Geschichtsforschung zu sein. Im Gegensatz zum oft unterstellten „eigentliche[n] Separatismus“ hätten die diversen Rheinstaatsbestrebungen, seien sie gesetzlich oder aktionistisch gewesen, für die „Autonomie“ des Rheinstaates gestritten, also einen „autonomen Weststaat im Reichsverband“ angestrebt.1299 Mit Blick auf die hier dargestellte Konfusion um den Autonomiebegriff im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die extensive Lesart im Deutschen Reich ist Schlemmers Schlussfolgerung erklärlich und selbstredend nicht als historisch „falsch“ abzutun. Er setzt, ebenso wie dies jedenfalls am Anfang des Jahrhunderts viele Zeitgenossen taten, „Autonomie“ mit „Gliedstaatlichkeit“ gleich und kommt auf diesem Wege zu dem genannten Ergebnis, dass die erste Rheinstaatsinitiative die autonome Rheinrepublik zum Ziel gehabt habe. Dies aber würde einen gewissen Bruch in der deutschen Rechtsgeschichte des Autonomiebegriffs bedeuten, jedenfalls aber einen Bruch – oder besser einen „verpassten Anschluss“ – an die mit den Friedensverhandlungen heraufziehende völkerrechtlich verstandene Lesart. 1297 1298 1299
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 71. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 80. Schlemmer, Los von Berlin (Fn. 5), S. 13 f.
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Tatsächlich scheinen prominente Stimmen in der Rheinstaatsbewegung in ihrer Einordnung des zu schaffenden Staatsgebildes am Rhein rechtlich präziser gewesen zu sein, sodass selbst Schlemmers um Differenzierung bemühtes Ergebnis noch zu pauschal erscheint. Beispielhaft nutzte der Rheinstaatsbefürworter Kaas im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung den Autonomiebegriff: „In welcher Form die Selbständigkeitsbestrebungen im Westen […] letzten Endes ihre Erfüllung finden, […] in der Form von deutschen Bundesstaaten oder von autonomen Reichsländern, das ist für mich eine Frage zweiter Ordnung. Meinem persönlichen Ideal und zweifellos auch dem vieler meiner Freunde würde die zweite Lösung, ein deutscher Einheitsstaat mit autonomen Stammesländern, wenigstens als Endpunkt der Entwicklung, mindestens ebenso entsprechen.“1300 Noch einmal sei hier auch an die Forderung Kuckhoffs erinnert: „Deshalb muß Rheinland ein gleichberechtigtes Glied in der deutschen Bundesrepublik werden, gleichgültig, ob als Bundesstaat oder als autonome Reichsprovinz.“1301 Beide Rheinstaatsanhänger unterschieden demnach explizit zwischen der Gliedbzw. Bundesstaatslösung (in dieser Arbeit als „Föderalismus“ bezeichnet) und Autonomie. Ihnen zufolge sollte also ein Rheinstaat, der ein Gliedstaat im bundesstaatlichen Reichsverband sein würde, nicht als „autonomes“ Gebilde klassifiziert werden. Lediglich für den Fall der Schaffung eines dezentralen Einheitsstaates erschien die „Rheinische Republik“ als autonome Gebietskörperschaft denkbar. Daneben wurde nicht klar unterschieden zwischen autonomen Verbänden innerhalb des (unitarischen) Reichsverbands, wie sie Kaas anspricht, und „autonomen“ Gebietskörperschaften innerhalb des preußischen Freistaates. Für letztere sprach sich etwa Koch-Weser aus, der von Preußen erwartete, dass es „innerhalb seines Staates dem Einheitsgedanken dadurch die Wege ebnet, daß es vorangeht mit der Autonomie seiner Provinzen“. Es sei dringend erforderlich, dass die preußischen Provinzen selbständiger gestaltet würden und somit ihr „eigenes Leben“ bekämen, nahezu gleich den süddeutschen Gliedstaaten.1302 In gleicher Richtung erklärte Preuß, konkret mit Blick auf die Rheinlandbewegung: „Es wird jetzt Aufgabe der preußischen Regierung und Gesetzgebung sein, auf Grundlage und nach den Richtlinien der neuen preußischen Verfassung die autonome Selbständigkeit der Provinzen so zu entwickeln, daß die Bewegung nach Ablauf der Sperrfrist [in Artikel 167 WRV, P.B.] sich in ruhigen und geordneten Bahnen hält und die Lebensinteressen des Reiches nicht gefährdet.“1303 Auch diese Ansichten vermengten bei aller sonstigen Unklarheit jedoch nicht Autonomie mit Föderalismus, sondern benutzten den Begriff für substaatliche 1300 1301 1302 1303
Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 26. Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 515. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 29. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 36.
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Verwaltungsentitäten, die unterhalb der Ebene des Gliedstaats existierten, diesem vielmehr organisationsrechtlich angeschlossen waren. Die beiden letztgenannten Auffassungen entsprachen wohl der zeitgenössischen Mehrheitsmeinung darüber, was unter „rheinländischer Autonomie“ zu verstehen sei, nämlich ein Mehr an Autonomie der Rheinprovinz im preußischen Freistaat. Dies war im Ergebnis auch die Lösung etwa des Artikels 63 der Reichsverfassung, der schließlich festlegte, dass die Hälfte der preußischen Stimmen im Reichsrat von den preußischen Provinzialverwaltungen zu bestellen sein sollte. Gerber nennt dies „Provinzialautonomie“, die vorliegende Abhandlung jedoch spricht hierbei bewusst von „Provinzialismus“1304 und gerade nicht von Autonomie, um die bestehende Verwirrung nicht fortzuschreiben und um deutlich zu machen, dass auch 1918/19 der schillernde Autonomiebegriff bereits eine weitergehende Bedeutung erlangt hatte. Preuß selbst übrigens scheint seiner genossenschaftsrechtlich inspirierten Autonomietheorie wohl nicht ganz treu geblieben zu sein, wenn er fordert, dass der preußische Freistaat die „autonome Selbständigkeit der Provinzen“ entwickeln müsse. Ursprünglich hatte er doch eine originäre Autonomie dieser Körperschaften angenommen und gerade keine derivative, die erst vom übergeordneten Staat „entwickelt“ werden musste. Der preußische Innenminister Heine konnte den Gedanken der Verbesserung provinzialer Selbstverantwortung im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung – aus seiner Sicht recht „ungefährlich“ – aufgreifen: „Den Provinzen wollen wir eine gewisse weitgehende Autonomie geben.“1305 Was unter einer „gewissen weitgehenden Autonomie“ staatsrechtlich zu verstehen war, konnte und sollte wohl offen bleiben. Eine Äußerung des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau in der Nationalversammlung verdeutlicht jedoch, dass Anfang 1919 durchaus bereits die Unterscheidung zwischen „volle[r] Selbständigkeit“ und Autonomie in der politischen Führung des Reiches geläufig war.1306 Deutlich wird, dass die Zeitgenossen mit Blick auf das Rheinland durchaus zwischen Gliedstaats-/Föderalismus- und Autonomielösungen unterschieden und „Autonomie“ vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Entscheidung für den Einheits- oder den Bundesstaat auslegten: Im (dezentralisierten) Einheitsstaat sollte das Rheinland autonome „Reichsprovinz“, autonomes „Stammesland“ oder jedenfalls substaatliche aber reichsunmittelbare, „autonome“ Gebietskörperschaft werden, im Bundesstaat jedoch ein Gliedstaat mit originärer Staatsqualität. Sollte die Bundesstaatlichkeit und mit ihr der Freistaat Preußen bestehen bleiben, verstand man unter „Autonomie“ hingegen nicht viel mehr als erweiterte Selbstverwaltungskompetenzen der Provinzen Preußens. Eine bloß „autonome“ Rheinprovinz in 1304
Vgl. Kapitel D.IV. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 30. Hervorhebung im Original. 1306 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 68 (B). 1305
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diesem Sinne war jedoch erklärtermaßen nicht das Anliegen der Rheinstaatsanhänger – jedenfalls nicht ihr ursprüngliches Anliegen. Eines aber war „Autonomie“ nach nahezu sämtlichen zeitgenössischen Auffassungen gerade nicht, nämlich föderale Gliedstaatlichkeit. Nur mit einem allzu groben (eher kompetenziellen denn statusrechtlichen) Rechtsbegriff konnte man von „Autonomie der deutschen Länder“1307 sprechen. Gerber kritisierte im Jahre 1927 ausdrücklich die Auffassung, wonach die deutschen Länder „autonom“ seien und Gliedstaatlichkeit mit Autonomie gleichgesetzt sei: „Die Ansicht, daß die verfassungsmäßige Stellung der Länder ,autonom‘ zu sein habe und daß Autonomie eine, wenn auch begrenzte Freiheit vom Reiche bedeute, ist als bedenklicher und gefährlicher Irrtum zu verwerfen.“1308 Es findet sich selbstredend der Begriff „Autonomiebestrebungen der preußischen Provinzen“1309, damit ist jedoch der „Provinzialismus“ gemeint, der ab Juli 1919 verfolgt worden ist, und gerade nicht das eigentlich historisch maßgebliche „Los von Preußen“, was für die erste Rheinstaatsinitiative prägend geworden ist. Der allgemein gehaltene Autonomiebegriff Schlemmers bedarf zumindest aus rechtshistorischer Sicht dieser weiteren Differenzierung und insbesondere der Abgrenzung gegenüber der föderalistischen Lösung, die das anfängliche und eigentliche Ziel der Rheinstaatsbestrebungen nach dem Weltkrieg gewesen ist. Ferner ist festzustellen, dass das Autonomieverständnis in der Rheinstaatsfrage rein staatsrechtlich geprägt war und somit enger gefasst als dies in der zugegebenermaßen noch jungen Völkerrechtsentwicklung der Fall war. Der Autonomiebegriff der Rheinstaatsanhänger besaß keinerlei völkerrechtlich relevanten Inhalt. Hier war die Staatsrechtswissenschaft und Völkerrechtspraxis indes 1918/19 nicht zuletzt mit Jellinek, Redslob und den Pariser Friedensverhandlungen schon weiter fortgeschritten und hatte sich „geöffnet“, subsumierte sie doch unter „Autonomie“ bereits neuartige territoriale und personale Phänomene, die mit staatsrechtlichen Instrumenten nicht recht fassbar waren. Ebenso differenzierte der Reichsminister des Auswärtigen Graf BrockdorffRantzau bereits am 14. Februar 1919 in der Nationalversammlung unter Bezugnahme auf Elsass-Lothringen genau zwischen Föderalismus und Autonomie einerseits, aber auch andererseits zwischen Autonomie und (vollumfänglicher) Souveränität im völkerrechtlichen Sinne, als er sagte: „Mögen sie [die Elsässer und Lothringer, P.B.] französische Departements werden wollen oder ein deutscher 1307 Ausnahmsweise als politischer Begriff zur Umschreibung von „Eigenständigkeit“ der Länder bei Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 394. Ansonsten spricht er, rechtlich insoweit korrekt, von „Selbständigkeit der Länder“, vgl. S. 395. 1308 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 395. 1309 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 397.
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Freistaat, mögen sie die Autonomie vorziehen oder die volle Selbständigkeit […].“1310 Innerhalb der Reichsführung bestand also zumindest ein rudimentäres Bewusstsein dafür, dass sich der zeitgenössische Begriff von Autonomie bereits aus der (rein) staatsrechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Sphäre gelöst hatte und eine gewisse, wenn auch noch unbestimmte Dimension im internationalen Recht aufwies. Zu dieser Erkenntnis waren die maßgeblichen Protagonisten in den Rheinstaatsbestrebungen allerdings noch nicht durchgedrungen.
III. Föderalismus: Das Rheinland als Gliedstaat innerhalb des Reichsverbands Unter der föderalistischen Richtung sollen diejenigen Bestrebungen zusammengefasst werden, die in der Situation des „Verfassungsvakuums nach dem Zusammenbruch der Dynastien“1311 darauf abzielten, in einen tatsächlich diskutierten föderalen Neubau des Reiches eine selbständige, also von Preußen unabhängige Rheinische Republik als reichsunmittelbaren Gliedstaat einzubringen. Der Rheinstaatsanhänger Kuckhoff beschrieb dies so: „Deshalb muß Rheinland ein gleichberechtigtes Glied in der deutschen Bundesrepublik werden, gleichgültig, ob als Bundesstaat oder als autonome Reichsprovinz.“1312 Damit waren die beiden Alternativen, die die überwiegende Mehrheit der Rheinstaatsbefürworter verfolgten, deutlich angesprochen: Entweder eine föderale oder eine autonome Lösung. Die gliedstaatliche Lösung, mit dem Ziel originärer rheinischer Staatlichkeit, wurde für den Fall angestrebt, dass das Deutsche Reich insgesamt bundesstaatlich organisiert bleiben würde, wohingegen die autonome „Rheinprovinz“, losgelöst von Preußen, die Lösung für den Fall des Einheitsstaates de constitutione ferenda lautete. Im diesem Rahmen bewegten sich die Rheinstaatsanhänger in den Jahren 1918 und 1919, die gerade nicht an Loslösung vom Reich und Separatismus dachten. Dies anerkannte selbst der Kölner Rheinstaatskritiker Moldenhauer: „Wer die Stimmungen im Rheinland kennt, weiß, daß die große Masse mehr deutsch als preußisch denkt. Sie wollen unter allen Umständen deutsch bleiben, sie wollen ein Deutsches Reich [!], darüber hat auch das Zentrum keinen Zweifel gelassen, aber Deutschland
1310
Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 7. Sitzung v. 14. Februar 1919, S. 68 (B). 1311 Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 25. 1312 Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 515.
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geht ihnen über Preußen, die deutsche Einheit steht ihnen über der Zugehörigkeit zum preußischen Staat.“1313 Neben die allgemeine föderalistische Ausrichtung der Rheinlandbewegung trat eine spezifisch regionalistische und man betonte das eigenständige Gruppenbewusstsein der Rheinländer. Es ging ihnen bei der rheinischen oder westdeutschen Republik um nicht weniger als eine regionale Staatsgründung und die Bewahrung eigenständiger historischer, konfessioneller und kultureller Traditionen in gerade diesem Staat. Insbesondere vor den im Winter 1918/19 angekündigten Konzepten eines „dezentralisierten Einheitsstaates“ ist der betonte Regionalismus der Rheinlandbewegung einzuordnen, ist doch Regionalismus im Allgemeinen eher ein Phänomen von zentralistisch-unitarischen Nationalstaaten,1314 wie beispielsweise Frankreich und Spanien. Unbestimmt in diesem Punkt ist Morsey, wenn er schreibt, die gemäßigten Rheinstaatsanhänger seien diejenigen gewesen, „die im Rahmen einer föderalistischen Neugliederung des Reiches für regionale Selbständigkeit eintraten“.1315 Eine Annahme regionalistischer Strukturen im (ansonsten) föderalen Staatsaufbau läuft Gefahr, die definitorischen Linien zwischen Föderalismus und Provinzialismus1316 einerseits und Unitarismus und Regionalismus andererseits zu verwischen. Es dient jedoch einem Erkenntnisgewinn, begrifflich strikt zwischen Föderalismus und Regionalismus zu trennen. Autonomie wiederum kann dem Regionalismus Mittel oder sogar Zweck sein, kann also phänotypisch dem Regionalismus zugeordnet werden und ist, wie bereits gesagt worden ist, gerade keine Erscheinung im Föderalismus. Bewusst ist in dieser Abhandlung nicht die Rede von „Autonomismus“ neben dem gefestigteren Topos „Regionalismus“. Es muss an dieser Stelle bei dem Zwischenergebnis bleiben, dass sich die Begriffe „Regionalismus“ und „Autonomie“ nicht entschieden und dogmatisch befriedigend in die binäre Codierung von Völker- und Staatsrecht einordnen lassen. Neben diesen Begriffen beschreiben Separatismus, Föderalismus und Provinzialismus graduell absteigend die denkbaren Dimensionen rheinländischer Eigenständigkeit als politische Programme. Es zeichnete sich also ab, dass je mehr die Verfassungsdiskussionen unter föderalistischen Vorzeichen geführt würden, desto föderalistischer, das heißt gliedstaatsorientierter, würde sich die Rheinstaatsbewegung positionieren. Sollten sich jedoch zentralistische, einheitsstaatliche Stimmen durchsetzen, desto verstärkter würden die Rheinstaatsanhänger auf einer regionalistischen Lösung der Rhein1313 Moldenhauer, Von der Revolution zur Nationalversammlung: Die Frage der rheinischwestfälischen Republik (Fn. 950), S. 19. 1314 Dann, Das Selbstbestimmungsrecht in Westeuropa, in: Politische Studien 6 (1993), S. 9. 1315 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S 194. 1316 Dazu sogleich in Kapitel D.IV.
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landfrage bestehen, also auf den Status einer jedenfalls eigenständigen, aber reichsunmittelbaren Verwaltungskörperschaft, sei sie als Region, Gau, Kanton oder wie auch immer bezeichnet. Der Gedanke an eine Zerlegung des großen Freistaates Preußen in mehrere neue Gliedstaaten hatte im Zuge der Reichsreformdiskussion viel Anhängerschaft, auch über Parteigrenzen hinweg, gefunden.1317 Dabei entzündete sich gerade an der Frage des unangetasteten Fortbestands Preußens eine harte Auseinandersetzung, wobei Befürworter einer weitergehenden Bundesstaatlichkeit denjenigen gegenüberstanden, die den modernen, starken Staat ausschließlich als Einheitsstaat verstehen wollten; Föderalismus stand gegen Unitarismus.1318 Unitarier konnten sowohl dem Lager der republikanischen Nationalbewegung, die einen möglichst zentralistischen Einheitsstaat ohne Monarchie anstrebte, als auch dem Lager der dynastischen Reaktion, die den „starken“ Einheitsstaat Preußen nicht preisgeben wollte, entstammen. Bemerkenswert ist, dass zwar der deutsche Kaiser als unitarisches Reichsorgan konzipiert war, der staatsrechtliche Unitarismus der Nachkriegszeit jedoch die meisten Anhänger im linken bzw. linksliberalen politischen Spektrum hatte. Unvollständig unitarisch stellte sich die deutsche Monarchie, also die Personalunion zwischen dem deutschen Kaiser und dem König von Preußen, dar; ihr haftete in den Augen der unitarisch gesinnten Linken „zu viel Föderalismus“ an.1319 Der überwiegende Unitarismus der Weimarer Zeit („Neo-Unitarismus“) war mithin etwas anderes als der reaktionär-monarchistische Unitarismus. Man wird diesen Unitarismus in der Zeit nach der Novemberrevolution als „vorherrschend“ bezeichnen müssen, was allerdings auch auf die relativ vagen Vorstellungen von Bundesstaatlichkeit zurückzuführen ist. So definierte noch im Jahr 1927 Karl Buchegger einigermaßen schemenhaft: „Der Bundesstaat vereinigt verfassungsrechtlich gegensätzliche Elemente. Er ist wie Triepel sagt ,ein Mittelding zwischen Staatenbund und Einheitsstaat‘, eine Organisation, die ihre Elemente teils dem Staatenbund, teils dem Einheitsstaate entnimmt, die einen Ausgleich anstrebt zwischen den beiden Tendenzen ,Föderalismus und Unitarismus‘.“1320 Diejenigen, die aus Bundesstaaten politische Einheitsstaaten formen und dabei das staatliche Sonderdasein der Gliedstaaten auf vielen oder gar auf allen Gebieten staatlicher Betätigung möglichst abschaffen wollten, waren hiernach Unitarier. Föderalisten waren demgegenüber diejenigen, die die Kompetenzen im Bundesstaat
1317
Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 8. So die geläufige begriffliche, auch zeitgenössische Gegenüberstellung. Vgl. etwa Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung, 1927. 1319 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 8. 1320 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 6. 1318
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so regulieren wollten, „wie sie im Staatenbunde den einzelnen Staatengliedern zukommen“.1321 Diese unpräzise, wenn nicht gar fehlerhafte Auffassung von Föderalismus verdeutlicht, wie sehr föderalistische Bestrebungen unter definitorischer Unklarheit zu leiden hatten und wie wenig staatsrechtliches Verständnis ihnen zuteil wurde; vom politischen Verständnis in der Epoche des dezentralisierten Einheitsstaates ganz zu schweigen. Hier bestand weitgehende Einigkeit innerhalb der „Weimarer Koalition“ aus SPD, DDP und Zentrum, wobei die letztgenannte Partei bedeutsame föderalistische Strömungen aufwies, blickt man etwa auf die Schlesier, Bayern und eben Rheinländer. In dieser Konstellation wird deutlich, dass etwa die föderalistische rheinländische Zentrumspartei stets darum ringen musste, in der eigenen Parteiorganisation und erst recht in der Drei-Parteien-Koalition mit ihren Vorstellungen gehört zu werden. Die Mehrheitsverhältnisse in der verfassunggebenden Nationalversammlung waren denn auch so, dass dem Unitarismus und seinen Anhängern in USPD, MSPD, DDP und größenteils auch in der Zentrumspartei große Zugeständnisse gemacht werden mussten. Zu diesem Entgegenkommen waren die eher konservativen Föderalisten, insbesondere aus DVP und DNVP, jedoch nur bereit, wenn man trotz aller Einheitsstaatlichkeit gleichzeitig an einem starken preußischen Gliedstaat festhielt. Hinzu trat der Umstand, dass auch der Freistaat Preußen von einer SPD/Zentrum/DDPKoalition regiert wurde, so dass auch innerhalb der an sich unitarischen Parteien um die Zukunft eines „demokratischen“ Preußens heftig gestritten wurde. Zwischen den Stühlen saßen gewissermaßen die rheinischen Zentrumspolitiker wie Trimborn, Schmittmann, Kastert, Kuckhoff und andere, die weder einem entschiedenen Unitarismus das Wort redeten, noch die staatliche Integrität Preußens für unantastbar halten konnten. Gleichzeitig grenzte Buchegger den Föderalismus vom – wie er es nennt – „Partikularismus“, in dieser Abhandlung verstanden als „Separatismus“, ab: Der Partikularismus strebe die volle Souveränität der Einzelstaaten und mithin die staatsrechtliche Loslösung dieser Einzelstaaten vom politischen Gemeinwesen an, während der Föderalismus die Abgrenzung der Zuständigkeiten des Gesamtstaates gegenüber seinen Gliedern klären wolle und zwar möglichst so, dass das Schwergewicht staatlicher Aufgabenwahrnehmung bei den Gliedstaaten liegt. Der Föderalismus wahre in letzter Konsequenz die nationalstaatliche Einheit.1322 Dabei gibt er in historischer Rückschau zu, dass man zu oft politisch von Partikularisten gesprochen habe, wenn es sich doch eigentlich um Föderalisten gehandelt 1321
Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 7. 1322 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 7.
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habe. Ein Reflex, der sich nicht zuletzt in der ersten Rheinstaatsdiskussion beobachten lässt, in der den Rheinstaatsbefürwortern immer wieder partikularistisches „Kirchturmsdenken“ und „Stammeseigenbrödlerei“ vorgeworfen worden ist.1323 So bezichtigte etwa Schmid im Jahr 1934 die Rheinstaatsbestrebungen des „unleugbaren Partikularismus“ und meinte, föderalistische Absichten seien nur vorgeschoben worden.1324 Eine vielmehr politische Definition vom „Geist des Partikularismus“ nimmt Gerber vor. Partikularismus sei nichts anderes als die „individualistische Verfälschung des föderalistischen Reichsgedankens“ und deshalb durchaus „anarchischer“ Natur. Dieser anarchische Partikularismus verneine das Reich als unbedingte Notwendigkeit des deutschen Volkslebens und bekämpfe die moderne Nationalstaatsidee insgesamt.1325 Im Ergebnis liegen also Buchegger und Gerber in ihrer Beschreibung des „Partikularismus“ nah beieinander, indem sie beschreiben, was in dieser Abhandlung unter dem Schlagwort „Separatismus“ gewürdigt wird. Beiden Autoren in ihrer Begrifflichkeit folgend, konnten also die ersten Rheinstaatsbestrebungen nicht als „partikularistisch“ charakterisiert werden, weil sie die Existenzberechtigung des Deutschen Reichs nicht negierten, sondern das Reich als staatlichen Hort des Deutschtums, verstanden als die Gemeinschaft der deutschen Stämme, ausdrücklich anerkannten. Somit waren die Rheinstaatsbestrebungen nach dem Weltkrieg föderalistisch und – Gerber folgend – „berechtigt“, weil sie von „der Grundeinsicht einer notwendigen Beziehung des Teiles zum Ganzen und des Ganzen zum Teile“ ausgingen.1326 Nach Buchegger kommt jedoch auch den Gliedstaaten – außerhalb des Partikularismus – ein „Selbstbestimmungsrecht“ zu, was durch die Zurückdrängung der Zentralgewalt und die „möglichst ausgreifende Stärkung der […] Gewalten in den zu ihnen gehörigen Staatsgebieten“ zu erreichen versucht werde. Diesem föderalen Selbstbestimmungsrecht werde etwa entsprochen, wenn den einzelnen Ländern kompetenzielle Sonderrechte in Gesetzgebung und Verwaltung eingeräumt würden oder wenn grundsätzlich die Reichsgewalt gegenüber dem Rechtsbestand der Gliedstaaten beschränkt werde.1327 Dabei sei die Bismarcksche Reichsverfassung den Weg einer Gewährung umfangreicher Sonderrechte gegangen, während der Weimarer Verfassunggeber, insbesondere der Verfassungsausschuss, „sämtliche Sonderrechte und natürlich auch deren Schutzbestimmungen“ beseitigt habe. Der 1323 Vgl. Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 26. 1324 Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 157 f. 1325 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 395. 1326 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 396 f. 1327 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 16.
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Föderalismus habe dabei de facto völlig an Boden verloren.1328 Das eigentliche Ziel der Föderalisten sei jedoch die eigene Verfassung und die originäre Staatlichkeit der einzelnen Gliedstaaten, es komme weniger auf konkrete Sonderrechte an.1329 Anspruch und Ziel der föderalistischen Rheinstaatsbefürworter war es vor diesem Hintergrund, im Sinne geteilter Staatlichkeit,1330 die Rheinprovinz Preußens (neben gegebenenfalls weiteren Territorien) „bundesunmittelbar“ werden zu lassen, also einen rheinländischen Gliedstaat zu schaffen, dem neben dem Zentralstaat eine originäre, nicht von diesem abgeleitete Staatlichkeit zukommen sollte. Hiernach erfolgt im Übrigen auch die Abgrenzung zu dezentralen Verwaltungsstrukturen regionaler Prägung, die gerade nicht originär staatlich sind, sondern einem Gliedstaat im bundesstaatlichen Gefüge untergliedert sind und auch prinzipiell rechtlich unterstehen. Es ist missverständlich, wenn Simon sowohl Körperschaften einer dezentralen Einheitsstaatsstruktur (Provinzen, Regionen, Gaue, Départements) als auch föderale Gliedstaaten als „autonome Einheiten“ bezeichnet,1331 denn die Schlagworte „Föderalismus“ und „Autonomie“ meinen eben doch vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten1332 Verschiedenes und insbesondere verschiedene Qualitäten möglicher Selbst- bzw. Eigenständigkeit. Die Berufung der Rheinländer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beziehungsweise eine wie auch immer geartete entsprechende Anwendung dieses internationalen Prinzips im Innern, änderte nichts an der Tatsache, dass es sich bei der Rheinstaatsangelegenheit in erster Linie um einen innerdeutschen (verfassungs-) politischen Konflikt handelte, nämlich um den künftigen Aufbau des Deutschen Reiches und seiner föderalen Ordnung. Der Rheinstaatsanhänger Kuckhoff beschrieb es so: „Was übrig bleibt, ist eine durchaus innere deutsche Angelegenheit, die nur im Gesamtkomplex der Fragen der bundesstaatlichen Gliederung des Reiches gelöst werden kann, an der nicht etwa nur die Rheinländer, sondern in gleicher Weise auch die Hessen, Hannoveraner, Schlesier beteiligt sind, die heute nach Lage der Dinge im Rahmen der Reichsverfassung zu lösen ist.“1333
1328 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 16 f. 1329 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 17. 1330 Vgl. hierzu etwa Maunz, Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 94 Rn. 2 ff. 1331 So auch die Begriffsklärung bei Simon, Autonomie im Völkerrecht (Fn. 1240), S. 26. 1332 Vgl. Kapitel D.II. 1333 Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 33.
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IV. Provinzialismus: Das Rheinland als sich selbstverwaltende preußische Provinz Was im Folgenden unter dem Schlagwort „Provinzialismus“ behandelt werden soll, hängt eng mit dem deutschen zeitgenössischen Verständnis von Autonomie zusammen, was jedoch aus völkerrechtshistorischer Sicht bereits 1919 in gewisser Weise rückständig war, wie der Blick auf bedeutsame Phänomene von (nationaler) Autonomie in der Nachkriegsordnung wie das Memelland, Karpathorussland und später Åland zeigt. In der deutschen Lesart hatte sich im 19. Jahrhundert ein eigentümlicher Autonomiebegriff herausgebildet, der nicht- bzw. unterstaatliche Verwaltungseinheiten in den Fokus rückte. Diesen nicht-staatlichen Verwaltungsentitäten konnte Autonomie zukommen, die entweder als derivatives Recht vom übergeordneten Staat verliehen wurde oder, mit der genossenschaftlichen Rechtstheorie gesprochen, ursprünglich und durch Organisation von Gemeinschaften „von unten nach oben“ erwachsen konnte.1334 Überspitzt könnte man sagen, der Autonomiebegriff deutscher Provenienz war eher ein staats-, wenn nicht gar ein verwaltungsrechtlicher. Regelmäßig war die Rede von „Provinzialautonomie“1335, wobei die vorliegende Abhandlung von der Verwendung des Autonomiebegriffs in diesem Kontext absehen möchte und allgemeiner von Provinzialismus spricht. Preuß meinte nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung: „Es wird jetzt Aufgabe der preußischen Regierung und Gesetzgebung sein, auf Grundlage und nach den Richtlinien der neuen preußischen Verfassung die autonome Selbständigkeit der Provinzen so zu entwickeln, daß die Bewegung nach Ablauf der Sperrfrist [in Artikel 167 WRV, P.B.] sich in ruhigen und geordneten Bahnen hält und die Lebensinteressen des Reiches nicht gefährdet.“1336 Unter „Autonomie“ verstand Preuß also – stellvertretend für viele – die „autonome Selbständigkeit der [preußischen, P.B.] Provinzen“. Mit keinem Wort ist damit jedoch gesagt, von welcher Qualität bzw. von welchem Grad von Autonomie man ausging und wie sich in diesem Kontext Autonomie von bloßer (kommunaler) Selbstverwaltung unterscheiden ließ. Als Unterformen oder – vielleicht präziser – Ausformungen von Autonomie werden etwa „Provinzialismus“1337 und dezentrale Verwaltungsstrukturen genannt,1338 wobei eine genaue Abgrenzung dieser Ausprägungen weithin unklar ist. 1334
Vgl. hierzu eingehender Kapitel D.II.1. Vgl. etwa Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 158. 1336 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 36. 1337 Als Synonyme sollen Begriffe wie „Regionalismus“ und „Provinzialautonomie“ verstanden werden, wobei letztere gerade keine Autonomie nach der in dieser Arbeit zugrundeliegenden Definition sein soll. 1338 Simon, Autonomie im Völkerrecht (Fn. 1240), S. 24. 1335
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Einen originellen Ansatz verfolgt Dörge, der Autonomie und Provinzialismus teleologisch abgrenzt.1339 Hiernach ist das Recht der Autonomie, übrigens ebenso wie das Verfassungsrecht, „Integrationsrecht“ im demokratischen Staat, während provinziale Selbstverwaltung (Provinzialismus) „Verwaltungsrecht“ ist, also (bloß) technisches Recht, das nicht integrierend wirke, sondern sich mit dem „An-sich der Verwaltung, der technischen Erreichung ihrer einzelnen Wohlfahrtszwecke“ befasse. Autonomierecht fördere hingegen keine Wohlfahrtszwecke, sondern wirke für Menschengruppen und den Staat im Ganzen integrierend und mithin konstituierend. Die Gewährung von Autonomie könne, so verstanden, die „Spezifizierung des Selbstbestimmungsrechts“ sein.1340 Zum einen zeigt sich in dem Vorschlag Dörges erneut die zeitgenössische Konfusion rund um die Begriffe „Autonomie“ und „Selbstbestimmungsrecht“,1341 zum anderen jedoch veranschaulicht er, dass unter „Provinzialismus“ im Ergebnis (technisches) Verwaltungsrecht zu verstehen sei. Dezentrale Verwaltungsstrukturen sollen vorliegend nicht als Gegensatz, sondern gerade als kennzeichnendes Element des Provinzialismus verstanden werden; insofern werden die beiden Begriffe mit Blick auf die Frage nach der rheinischen Lösung ab 1919 gleichgesetzt. Angestrebt wurde unmissverständlich eine selbständige staatliche Aufgabenwahrnehmung durch die Rheinländer selbst. Der Wunsch der Rheinstaatsanhänger lautete (zunächst) nicht bloß, als weiterhin preußische Rheinprovinz eine eigene Selbstverwaltung auf gewissen Sachgebieten einrichten zu können, sondern allgemeines Ziel war der rheinländische Gliedstaat. Insoweit wurde nicht lediglich eine administrative Aufgabenwahrnehmung, etwa auf den Gebieten Schule, Kultur oder Daseinsvorsorge verfolgt, sondern die Unabhängigkeit von Preußen und die Reichsunmittelbarkeit als bundesdeutsches Land. „Provinzialismus“ war ein denkbarer Weg für ein Mehr an Eigenverantwortung und Eigenständigkeit, aber eben nicht der primäre Wunsch der ersten Rheinstaatsbewegung. Das „Echo der Gegenwart“ in Aachen schrieb noch am 19. Juli 1919, als sich bereits eine kompetenzielle Aufwertung der Rheinprovinz als mögliche Lösung abzeichnete: „Die in Aussicht genommene Verleihung erweiterter Selbständigkeitsrechte an die Provinzen kann unmöglich als ausreichend für die besonders gearteten Verhältnisse des besetzten Gebietes angesehen werden.“1342 1339
Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 73. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 73. 1341 Diese Gleichsetzung führt dazu, dass in dieser Abhandlung der Autonomiebegriff eher im völkerrechtlichen Kontext behandelt wird, denn es bleibt schlichtweg unklar und diffus, ob die Zeitgenossen jeweils in einem völker- oder staatsrechtlichen Sinne von „Autonomie“ ausgingen. Man kann zusammenfassend sagen, die komplexe Gedankenführung zur Autonomie in dieser Arbeit folgt letztlich zeitdiagnostisch aus der Verwirrung rund um den Autonomiebegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1342 Zitat bei Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 158. 1340
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Im Ergebnis ist die provinziale Selbst- oder Eigenverwaltung jedoch die typische Lösung des preußischen, zentralistisch-etatistischen Staatsverständnisses, die von einer strikten inneren Einheit des Staates ausgeht und Gedankenspiele zu einer weiterreichenden Autonomie als staatsgefährdend verwirft. Eine gewisse Dezentralisation und Selbstverwaltung wird – wenn überhaupt – paternalistisch nur „von oben“ gewährt, um den augenscheinlichsten geographischen oder kulturellen Sonderheiten Rechnung tragen zu können. Im Preußen der Jahre 1918/19 spielten indes weniger (alt-)preußischer, reaktionärer Zentralismus eine Rolle, sondern vielmehr politischer Unitarismus und die (linksliberale) Idee des „dezentralisierten Einheitsstaates“, die sich ebenso für die Reichsebene herausbildete. Der Gedanke eines einheitlichen Volksstaats erschien so lange nicht gefährdet, wie es sich seitens der einzelnen deutschen Stämme lediglich um die Forderung nach Selbstständigkeit auf kulturellem Gebiet und damit einhergehender Selbstverwaltung handelte.1343 Insofern war die provinziale Lösung halbwegs unproblematisch, auch aus Sicht des republikanisch gewandelten Preußens.
1343 Vgl. hierzu Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf, in: Detlef Lehnert, Christoph Müller, Dian Schefold (Hrsg.), Hugo Preuss. Gesammelte Schriften, 2015, S. 137.
E. Die ersten Rheinstaatsbestrebungen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker Anknüpfend an die chronologische Wiedergabe der Geschichte der ersten Rheinstaatsbewegung soll in diesem Kapitel eine zeitanalytische und auch problemdiagnostische Würdigung der rheinischen Initiative im Lichte des Völkerrechts und der Völkerrechtstheorie erfolgen. Wenn es vielleicht auf den ersten Blick überraschen mag, warum eine völkerrechtliche Betrachtung der ersten Rheinstaatsinitiative nach dem Ersten Weltkrieg ertragreich sein soll, so wird sich herausstellen, dass internationalrechtliche Argumente und Umstände durchaus auch für die Rheinlandfrage von Bedeutung gewesen sind. Anhänger wie auch Gegner einer rheinländischen Staatlichkeit beriefen sich – jeweils für „ihre Sache“ – auf völkerrechtliche Prinzipien. Ein in der Rheinstaatsdebatte immer wiederkehrendes und demnach bedeutendes Argument war das Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes,1344 welches seine (glied-)staatliche Zukunft eigenverantwortlich und unabhängig sollte gestalten dürfen. Unter dem Recht auf Selbstbestimmung wird der Anspruch von Individuen, Gruppen oder Nationen verstanden, eigene Angelegenheiten selbstverantwortlich und ohne äußeren Zwang regeln zu können.1345 Bei der Frage der Selbstbestimmung geht es einerseits um staatliche Gebietsveränderungen, um die Aufteilung und Neubildung von staatlichen Gebilden, aber es geht vor allem um die individuelle oder kollektive Rolle der von solchen Vorgängen betroffenen Menschen, wie Jörg Fisch treffend herausarbeitet: „Ist ihre Einwilligung erforderlich? Können sie letztlich über die staatliche Zugehörigkeit der von ihnen bewohnten Gebiete selbst entscheiden, oder haben sie gar ein Recht darauf? Wenn ja: Wie lässt sich ein solches Recht verwirklichen? Mit anderen Worten: Bestimmen die Bewohner eines Gebietes selbst über dessen staatliche Zugehörigkeit, oder bestimmen andere über sie – haben sie Selbst- oder Fremdbestimmung? Und gilt dergleichen nur in der Theorie, oder vermag es sich auch in der Praxis durchzusetzen?“1346 In einer Kampfschrift aus dem Jahre 1919 heißt es hierzu: „Seitdem das Band, das uns mit Ostelbien zusammenhielt, das der Monarchie, zerrissen ist, seitdem uns das 1344
Vgl. auch Ilges/Schmid, Hochverrat des Zentrums am Rhein (Fn. 27), S. 167. Salzborn, Ethnischer Selbstbestimmungsanspruch contra demokratisches Selbstbestimmungsrecht, in: Peter Hilpold (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010, S. 110. 1346 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 16. 1345
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Selbstbestimmungsrecht in Aussicht steht, erheben wir […] um so [sic!] ungestümer den Ruf: ,Los von Berlin‘!“1347 Das „rheinische Volk“ [!] verlange „gerade von einer Regierung, die die Demokratie in sich verkörpert, in einem Zeitalter der Selbstbestimmung weitestgehende Berücksichtigung seiner Wünsche, die in staatlicher Selbständigkeit gipfeln.“1348 Mit den Worten des österreichischen Sozialisten Renner, die dieser im Jahr 1918 freilich nicht dezidiert auf die Rheinländer bezog, könnte man sagen, die Rheinländer traten plötzlich aus „ihrer politischen Passivität heraus, fühl[t]en sich als geschichtlich berufene Macht, verlang[t]en nach der Verfügung über den Staat als das höchste gegebene Werkzeug der Macht und erstreb[t]en zunächst ihre politische Selbstbestimmung“.1349 Hiernach bedeutet die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts den Griff nach der politischen Macht, d. h. der Staatsgewalt oder jedenfalls einem Teil derselben als eines Machtwerkzeugs, das man bisher als Menschengruppe nicht gebrauchen durfte. Dieser Gedanke knüpft an Max Webers Definition des Nationalstaats an, wonach dieser „die weltliche Machtorganisation der Nation“ sei.1350 Nach dieser Lesart bedeutet das Selbstbestimmungsrecht den Kampf um die Gewinnung von Staatlichkeit oder mutatis mutandis die Gewinnung von staatlichen Funktionen, Hoheiten oder Aufgaben als Ausfluss von eigener Macht. Das Ziel des Selbstbestimmungsrechtes ist verbunden mit dem Anspruch der Menschen, sich in ihrem jeweils eigenen Staat selbst zu verwirklichen und zu regieren und dabei frei von „volksfremder“ Herrschaft zu sein. In den genannten Zitaten finden sich bereits einige Elemente, die im Rahmen einer zeitdiagnostischen Untersuchung des Selbstbestimmungsrechts in der Rheinstaatsfrage von Bedeutung sind. Man war sich des epochalen Übergangs von der Autokratie in die Demokratie bewusst und sah auch, dass der Gedanke der Selbstbestimmung Hand in Hand mit demokratischen Zielen Einzug hielt. Es zeigte sich ein Gespür für die historische Dimension des Augenblicks, in dem der Selbstbestimmungsgedanke politische Aktualität erhielt. Man ging als Rheinstaatsanhänger davon aus, sich als Träger eines wie auch immer gearteten Selbstbestimmungsrechts bestimmen zu können und dass die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht konsequenterweise die originäre Staatlichkeit zur Folge haben müsse. Das musste zwar nicht völlige staatliche Souveränität, also außerhalb des Deutschen Reiches, bedeuten, mindestens jedoch Staatlichkeit als Gliedstaat. Die Forderung nach einer Selbstbestimmung der Rheinländer hatte dabei zwei Spitzen, nämlich zum einen gerichtet gegen den Freistaat Preußen und seine Führung 1347
Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 33. Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 38. 1349 Vgl. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 15. 1350 Zitat bei Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, 2. Aufl. 1994, S. 209. 1348
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und zum zweiten gegen das Reich, genauer gesagt gegen die verfassunggebende Nationalversammlung. Stellenweise begegnet uns überdies eine Auslegung, wonach man als Rheinländer sein Recht auf Selbstbestimmung als deutscher Volksstamm gegenüber den Annexionsabsichten der Franzosen behaupten wollte. Paul Kluke spricht von dem Selbstbestimmungsrecht als einer der „großen treibenden und umformenden Kräfte unserer Zeit“; Selbstbestimmung stelle kein „hohles Schlagwort“ dar.1351 Ausdrücklich anders Fisch, der – nicht ohne Anerkennung – das Selbstbestimmungsrecht der Völker als „eines der erfolgreichsten politischen Schlagworte des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.1352 Für Daniel Thürer stellt das Selbstbestimmungsrecht der Völker „vielleicht das dynamischste und zugleich eines der umstrittensten Prinzipien des modernen Völkerrechts“ dar.1353 Mit Blick auf die Rheinlandbewegung ist nach dieser Einführung in das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu fragen, welchen Vorstellungen man zum Selbstbestimmungsprinzip bzw. Selbstbestimmungsrecht anhing und welche Auslegung das Selbstbestimmungsrecht mit Blick auf die rheinische Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg erfahren hat – nicht zuletzt durch die Rheinstaatsanhänger selbst.
I. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Rheinstaatsfrage Wenn es auch, anders als 1919/20 im Åland-Streitfall, tatsächlich nicht zu einer völkerrechtlichen Untersuchung der Rheinstaatsangelegenheit vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker kam, so maßen die Zeitgenossen diesem Prinzip auch mit Blick auf das Rheinland eine große Bedeutung zu. In den alliierten Geheimverträgen während des Ersten Weltkriegs1354 war – ohne Beteiligung der Vereinigten Staaten – festgelegt worden, dass aus den linksrheinischen deutschen Gebieten ein „autonomes und neutrales Staatswesen“ geformt
1351
Kluke, Selbstbestimmung, 1963, S. 15. Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen, in: Peter Hilpold (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker 2010, S. 45. Ebenso Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 17: „[…] erfolgreichsten rechtlich-politischen Schlagworte des 20. und 21. Jahrhunderts“. Ferner spricht Georg E. Schmid von einem „politischen Schlagwort“, in: Schmid, Selbstbestimmung 1919, in: Karl Bosl (Hrsg.), Versailles – St. Germain – Trianon, 1971, S. 127. 1353 Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 113. 1354 Vgl. etwa britisch-französisch-russisch-italienischer Vertrag v. 26. April 1915; britischfranzösisch-russisches Abkommen über die Türkei (1915 und 1916); französisch-russisches Abkommen v. 14. Februar 1917 über Deutschland. 1352
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
werden sollte.1355 Es konnte hierbei nur um eine Pufferstaatslösung gehen, denn das neue rheinische Staatsgebilde sollte nicht länger integraler Bestandteil des Deutschen Reiches bleiben. Aus Sicht der Franzosen war das wichtigste dieser Geheimabkommen jenes mit dem zaristischen Russland gewesen, in welchem Russland zusicherte, die französischen Ziele der Wiederangliederung Elsass-Lothringens und die jedenfalls mittelfristige französische Expansion ins Rheinland zu unterstützen.1356 Nachdem die revolutionäre bolschewistische Regierung sich 1917 von allen Geheimverträgen losgesagt hatte, zögerte die französische politische und militärische Führung mit ihren Rheinlandplänen. Woodrow Wilson hatte lediglich die Rückgewinnung ElsassLothringens zugesichert. Es lag eine unübersichtliche politische Gemengelage vor: Machtpolitisches und militärisches Siegerrecht konkurrierte mit dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker um die praktische Durchsetzung in der Nachkriegsordnung. Aus Sicht der deutschen Führung war der Fall eines proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Rheinländer gerade deshalb so gefährlich, weil hier ausnahmsweise Selbstbestimmungs- und Siegerrecht zusammenfallen konnten: Wäre eine wie auch immer geartete Loslösung der Rheinlande unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht begründbar gewesen, so hätte das Ergebnis gleichzeitig dem Siegerrecht entsprochen, mit welchem insbesondere die Franzosen die Abtrennung oder Neutralisierung (links-)rheinischen Gebietes seit langem gefordert hatten. Dies hatten die französischen Militärs im Übrigen auch erkannt, versuchte man doch im Frühjahr 1919 durch Initiativen und Appelle an die rheinländische Selbstbestimmung das eigene Siegerrecht durchzusetzen. Gerade dieses kumulative Zusammenwirken von Franzosen und rheinischen Unabhängigkeitsbefürwortern war es, was aus der Sicht Berlins um jeden Preis verhindert werden musste. So erklärt sich die schroffe Ablehnung, mit der preußische und reichsdeutsche Politiker auf die Rheinlandbewegung reagierten. In wenigen Fällen führte der Selbstbestimmungsgedanke in der Tat dazu, dass sich selbst mächtige Siegerstaaten mit ihren territorialen Ansprüchen zügeln mussten, selbst wenn sie ihnen zuvor geheimvertraglich zugesichert worden waren. Was zwar in Italien mit Südtirol nicht möglich war, setzte sich indes im Falle des Rheinlandes durch: Insbesondere die US-Amerikaner – Wilson war ohnehin durch die Geheimdiplomatie der europäischen Alliierten düpiert worden – konterkarierten den traditionellen französischen Expansionswunsch nach Osten, in Richtung des Rheins. Das war bemerkenswert, war doch gerade Frankreich die Siegermacht par excellence
1355 1356
Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 75. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 119.
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des Ersten Weltkrieges, denn es hatte sicherlich mehr zum Sieg beigetragen als jeder andere Alliierte.1357 Gerade in diesem Fall jedoch, in dem rhetorisch vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Rheinländer Bezug genommen wurde, reichte das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker alleine nicht aus, sondern wurde flankiert von der seit jeher bestehenden Gleichgewichtspolitik der europäischen Großmächte, wie sie in erster Linie Großbritannien mit Blick auf Frankreich vertrat. Darin liegt im Übrigen der Unterschied zur Causa Südtirol begründet, in der die italienische Expansion für das kontinentaleuropäische Mächtegleichgewicht unbedeutend genug erschien, sodass nicht interveniert werden musste. Bezüglich der von den Franzosen avisierten Rheingrenze wurde jedoch ein Kompromiss geschlossen, wonach „lediglich“ das Saargebiet wirtschaftlich angeschlossen werden durfte, aber ohne dass Frankreich die volle Souveränität über das Gebiet erhielt. Über einen vollumfänglichen Anschluss an Frankreich sollte erst fünfzehn Jahre später in einer Volksabstimmung im Saarland entschieden werden.1358 Das Rheinland wurde bis ins Ruhrgebiet hinein entmilitarisiert, das heißt militärische Mobilmachungen der deutschen Truppen wurden in Artikel 43 des Versailler Vertrags verboten und in Artikel 42 wurde „untersagt, Befestigungen, sowohl auf dem linken Ufer des Rheins wie auch auf dem rechten Ufer westlich einer 50 Kilometer östlich dieses Flusses gezogenen Linie beizubehalten oder zu errichten.“ Diese Entmilitarisierung endete bekanntlich erst mit dem Einmarsch von drei Bataillonen der Wehrmacht am 7. März 1936 und dem Errichten von drei Garnisonen in Aachen, Trier und Saarbrücken. Es ist nachvollziehbar, dass die Einmischung der US-Amerikaner in die Pläne der Franzosen, von der die interessierte rheinische Bevölkerung jedenfalls teilweise erfahren haben dürfte,1359 Wilson und „sein“ Selbstbestimmungsrecht im Rheinland populär gemacht haben. Dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, warum man sich im Rheinland mit dem insgesamt prominenten Selbstbestimmungsrecht der Völker näher beschäftigt hatte; war es doch zumindest auch das Selbstbestimmungsrecht, das die feindlich gesonnenen Franzosen und ihre weitergehenden Annexionswünsche fernhielt. So formulierte Trimborn im Januar 1918: „Immer wieder müssen wir unser gutes Recht betonen, das Recht eines mündigen Volkes, sein politisches Geschick selbst zu bestimmen und mit allem Nachdruck für seine Stammeszugehörigkeit Zeugnis abzulegen […]. Wenn Völker wie dem polnischen, tschechischen, slowakischen und vielen anderen dieses Recht von den Alliierten zugebilligt wird, […] dann kann dieses Recht dem rheinischen Volke von 8 Millionen mit seiner uralten und glän1357
So auch Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 170. Vgl. Artikel 45 bis 50 Versailler Friedensvertrag v. 28. Juni 1919, RGBl. Nr. 140, S. 769 – 803. 1359 Vgl. nur etwa Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 516. 1358
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zenden Kultur, mit seiner blühenden Wirtschaftsorganisation, nicht versagt werden. Würde es geschehen, so würde man die schlimmste Irredenta schaffen, die es je gegeben hat. Niemals würden wir uns bei einem solchen Zustande beruhigen.“1360 Trimborn nimmt hier implizit Bezug auf die Selbstbestimmungskonzeption Wilsons, der verstärkt für die autonome Entwicklung der ost- und südosteuropäischen Nationalitäten eintrat und sich gegen Österreich-Ungarn wandte. Wie selbstverständlich stellt Trimborn überdies die Bevölkerung des Rheinlandes auf eine Stufe mit den Völkern der Polen, Tschechen und Slowaken, woraus zu folgen habe, dass den Rheinländern ihre prinzipielle Rechtsträgereigenschaft nicht versagt werden dürfe, weil man – in letzter Konsequenz wohl auch völkerrechtlich – zur Gleichbehandlung aller Völkerschaften verpflichtet sei. Interessant ist ferner der Hinweis darauf, dass man als Rheinländer „sein politisches Geschick selbst zu bestimmen“ habe. Gerade in Zeiten des staatlichen Neuaufbaus nach dem verlorenen Weltkrieg fühlte sich das „rheinische Volk selbst“ dazu berufen, sich auf das „allgemein anerkannte[] Selbstbestimmungsrecht“ zu beziehen,1361 um so seine (glied-)staatliche Zukunft eigenverantwortlich und von Preußen unabhängig zu bestimmen. Die Berufung der Rheinstaatsanhänger auf das Selbstbestimmungsrecht fußte vor allem auf drei Überlegungen: Die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts sei unter Beachtung der Rechtsträgerschaft der Rheinländer legitim, sie sei vor dem Hintergrund der Gleichbehandlung der Völker auch geboten und letztlich sogar erforderlich, um Rechtsfrieden im Rheinland zu schaffen und somit einem Reichsinteresse genügen zu können, zumal staatsrechtlich eine Art „Stunde Null“ eingetreten sei und man seine politische Zukunft als Rheinländer selbst in die Hand nehmen müsse. Vor allem mit dem Kriegsdienst war vielen Rheinländern bewusst geworden, dass eine strikte Gehorsamspflicht gegenüber dem unbeliebten preußisch dominierten Militär und der preußischen Staatsverwaltung bestand, obwohl man andererseits für das deutsche Vaterland in den Kampf zog. Man fühlte sich selbstredend als Deutsche, konnte und wollte indessen wenig staatsbürgerlichen Gehorsam gegenüber dem im Reich vorherrschenden Preußen aufbringen. Hier zeigen sich gewisse, jedenfalls emotionale Parallelen zur irisch-republikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegenüber dem Vereinigten Königreich, deren Entwicklung man im Rheinland nicht zuletzt durch katholische Presse und Medien wohl aufmerksam verfolgt haben wird.1362 So hatten auch irische Männer Kriegsdienst nicht für ihre eigene Insel und deren Bevölkerung geleistet, sondern faktisch für das englische Militär und somit für eine Besatzungsmacht, die den Iren immer 1360
Eigenhändiges Manuskript Trimborns in: HAStK 1256/303, Bl. 35 – 66. Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 30. 1362 Vgl. etwa den Bezug zur irischen Lage bei Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 5. 1361
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schon wesensfremd erschien. Ähnlich beurteilte die Bevölkerung des Rheinlandes das preußische Militär. Bis hin zum Ersten Weltkrieg hieß es nämlich im Rheinland immer, wenn jemand zum Militärdienst eingezogen wurde: „Dä muss zo de Preusse!“1363 Immerhin einte Rheinländer und Preußen die deutsche Nationalität, die auch die Rheinstaatsbefürworter ja nicht leugneten. Demgegenüber fühlten sich die Iren gerade nicht als Briten oder Angehörige des Vereinigten Königreichs Großbritannien, sondern als irische Republikaner. Dennoch erscheint es nicht übertrieben, anzunehmen, dass die Anhänger der freien irischen Republik jedenfalls mittelbar einen Einfluss auf die Rheinlandbewegung gehabt haben werden. So heißt es in einer Kampfschrift der Putschisten aus Wiesbaden, es sei der preußische Partikularismus, der „den Rheinländern ihr Home rule nicht bewilligen will“.1364 Hierfür spricht auch die zeitliche Koinzidenz: Am 21. Januar 1919 bestätigte das in Dublin zusammengetretene irische republikanisch-revolutionäre Parlament die von den Rebellen des Osteraufstands 1916 erlassene Unabhängigkeitserklärung und bekundete durch Beschluss, das „im Land alteingesessene“ irische Volk sei „entschlossen, seine völlige Unabhängigkeit zu sichern und aufrechtzuerhalten […] und ein nationales Staatswesen zu errichten, das sich auf dem Volkswillen aufbaut […]“, ferner dass „die Aufrichtung jeglicher Fremdherrschaft in Irland ein Eingriff ins nationale Recht“ sei, den man „niemals dulden“ werde. Man ergänzte, „daß die staatliche Unabhängigkeit [für alle Völker, die diese aufgrund des Selbstbestimmungsrechts forderten, P.B.] künftig eine Vorbedingung für die Erhaltung des Weltfriedens sein“ werde.1365 Sowohl in der Rheinstaatsbewegung als auch in den Verfassungsberatungen der Nationalversammlung, wird man die irischen Ereignisse im Auge oder zumindest im Hinterkopf gehabt haben. Die Berufung der Rheinstaatsanhänger auf ein wie auch immer konkret geartetes Selbstbestimmungsrecht erschien dabei nicht aus der Luft gegriffen, sondern es wurde durchaus 1918/19 nicht nur als völkerrechtliches Prinzip, sondern auch in der staatsrechtlichen Sphäre diskutiert. In seiner Denkschrift zum Verfassungsentwurf vom 3. Januar 1919 entwarf Preuß das Ideal des „einheitlichen Volksstaat[s]“, der gegründet sei „auf die freie Selbstbestimmung der ganzen [sic!] Nation“.1366 Die Grundfragen der Bildung einer Nation und ihres einzurichtenden Umfangs werden nach Preuß somit bestimmt durch ein eher staatsorganisationsrechtlich verstandenes
1363
Zitat bei Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 28. Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 11. Hervorhebung durch Verf. 1365 Zitate bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 89. 1366 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 135. 1364
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Selbstbestimmungsrecht des betroffenen Volkes. Dabei sprach er ausdrücklich von „einzelnen Freistaatsvölker[n]“.1367 Das plebiszitäre Element, also die Neuordnung „von unten“ her, hat Preuß im Folgenden immer wieder besonders betont, so etwa auf der Konferenz der Länderregierungen am 25. Januar 1919: „Es entspricht nicht dem Geiste, der jetzt herrschen soll, daß wir von oben her etwa die Karte Deutschlands vornehmen und mit Rotstift die Grenzen der neuen Territorien ziehen. Wir stehen auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung nicht nur der Völker, sondern auch der Volksteile. Die Umgruppierung muß aus der Initiative der Bevölkerung selbst hervorgehen.“1368 Ganz ähnlich, ja fast parallel hierzu, hatte er kurz zuvor in seiner Denkschrift zum Verfassungsentwurf formuliert: „Diese Umgestaltung der territorialen Gliederung des Reichs kann freilich nicht einfach von oben her dekretiert werden, vielmehr muß die freie Selbstbestimmung der Bevölkerungen […] die Initiative ergreifen, das Reich nur leitend, vermittelnd und schließlich sanktionierend wirken.“1369 Es zeigt sich hier ein weit verstandenes Selbstbestimmungsrecht, was neben Völkern auch Volksteile und Bevölkerungen als Rechtsträger prinzipiell anerkannte. Als Kommentar zu den Ereignissen vom 1. Februar 1919, an welchem die Versammlung der rheinischen Abgeordneten der Nationalversammlung und der Landesversammlung mit den Oberbürgermeistern des besetzten Gebiets im Kölner Rathaus stattgefunden hatte, schrieb die Kölnische Volkszeitung, diese Versammlung sei die „erste große Tatsache, in der das Selbstbestimmungsrecht der Völker am Rhein zu einem starken Ausdruck gelangt“.1370 Das Selbstbestimmungsrecht wurde nur undeutlich abgegrenzt von allgemeinen Vorstellungen der Volkssouveränität und sogar in Frontstellung gebracht gegen die Nationalversammlung. Durch ein forsches Voranschreiten der rheinischen Initiative sollten unabänderliche Tatsachen geschaffen werden, so dass in der Nationalversammlung „keine parteimäßige Mehrheit den Volkswillen der Rheinländer mehr umstoßen kann“. Überdies werden die rheinischen Abgeordneten aufgefordert, bei dem Zusammentritt der Nationalversammlung „sofort […] mit entsprechenden Anträgen hervorzutreten“ und im Fall der Ablehnung „müßte auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Volksabstimmung in den beteiligten Gebieten die nötige Klarheit schaffen“.1371 In seinem Kritikbrief an Adenauer vom 5. Februar 1919 vertrat Dorten als Vertreter der außerparlamentarischen Loslösungsbefürworter die Auffassung, das „rheinische Volk“ sei ausschließlich selbst dazu berufen, über seine staatliche Zu1367 1368 1369
Verf. 1370 1371
Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 151. Preuß/Anschütz, Reich und Länder (Fn. 325), S. 167. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 142. Hervorhebung durch KV Nr. 95 v. 3. Februar 1919. Hier auch das nachfolgende Zitat. KV Nr. 100 v. 5. Februar 1919.
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kunft zu entscheiden und sie zu gestalten: „Hierüber [die Auflösung Preußens, P.B.], sowie über die Zusammenfassung einzelner Teile zu neuen Freistaaten die endgültige Entscheidung zu treffen, ist lediglich Sache der Selbstbestimmung der betreffenden Volksstämme, nicht aber der preußischen Regierung oder Nationalversammlung.“1372 Allgemein war in den Erklärungen der aktionistischen Strömung stets die Rede von einem „Selbstbestimmungsrecht der deutschen Stämme“.1373 Der gerade erst gewählten verfassunggebenden Nationalversammlung als gesamtdeutschem Organ wurde somit im Grunde jede Vertretungsberechtigung für die Bewohner des Rheinlandes abgesprochen, so dass man sagen kann, Dorten brachte das rheinländische „Volk“ gegen das deutsche Volk in Stellung. Die Aktivisten opponierten gegen das Repräsentationsprinzip und beharrten auf der plebiszitären Abstimmung der betreffenden Bevölkerung. Ausdrücklich angesprochen war das Selbstbestimmungsrecht der Völker gleich im ersten Punkt der Sechs-Punkte-Erklärung der Rheinstaatsaktionisten vom 6. März 1919: „Wir verlangen, daß unser Geschick lediglich durch unsere Selbstbestimmung entschieden wird.“1374 Ferner trat das Selbstbestimmungsrecht hervor im fünften Punkt. Hierin hieß es unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht: „Daher wollen wir die sofortige Errichtung der Westdeutschen Republik und erwarten von den zuständigen Stellen die unverzügliche Zulassung einer Volksabstimmung in den beteiligten Gebieten.“1375 Volksabstimmungen über Gebietsveränderungen waren den Rheinländern historisch nicht neu. In den von Frankreich ausgehenden revolutionären Umbrüchen und Wirren hatten 1793 vereinzelte Territorialplebiszite dazu geführt, dass linksrheinische deutsche Gebiete sich dem jakobinischen Frankreich angliederten. Bei diesen „Volksabstimmungen“ war es indessen weniger um basisdemokratische Entscheidungen über die territoriale Zugehörigkeit der rheinischen Bevölkerung gegangen, sondern darum, militärische Gebietsgewinne der französischen Revolutionsarmee im Ersten Koalitionskrieg nachträglich absegnen und pseudodemokratisch legitimieren zu lassen.1376 Die Rheinstaatsbewegung brachte über ihre (partei-)politischen Vertreter und Abgeordneten durchaus ihre Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Prozess der Verfassunggebung ein; insbesondere in den Debatten darüber, ob das 1372
Zitat bei Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. 1373 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4. 1374 Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 490. 1375 Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 61. 1376 Siehe hierzu Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 100 f.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Rheinland als selbständiger Gliedstaat los von Preußen gebildet und durch die Verfassung festgeschrieben werden sollte. Im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung erklärte wiederum Trimborn: „Die Bevölkerung der Rheinlande empfindet es bitter, daß sie diese Wohltaten durch die Zugehörigkeit zu dem großen Preußen nicht in dem Maße genießt, wie die Bayern, Württemberger, Badenser. Insbesondere ist es die Bodenständigkeit der inneren Verwaltung, die sie schmerzlich entbehrt.“1377 Und weiter: „Auch das empfinden die Rheinlande als eine schwere Beeinträchtigung ihrer Stellung in Deutschland, daß sie durch Preußen nur in einem mittelbaren, statt wie die Bayern, Württemberger, Badenser in einem unmittelbaren Verhältnis zum Reiche stehen.“1378 Dabei brachte er die Ansicht und das politische Ziel der gemäßigten Rheinstaatsbewegung im Grunde für alle unmissverständlich auf den Punkt: „Die Behauptung, daß die Loslösung des Rheinlandes von Preußen auch die Gefahr der Loslösung vom Reich mit sich bringt, ist unzutreffend, weil es eine bessere und innigere Verklammerung des Rheinlandes mit dem Reich bedeutet, wenn es reichsunmittelbar, als wenn es auf dem Umwege über Preußen nur reichsmittelbar ist.“1379 Dabei äußerte Trimborn: „Ohne mich dafür unmittelbar auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das nach meiner Ansicht nur für die auswärtige Politik Geltung hat, berufen zu wollen, möchte ich doch eine gewisse analoge Anwendung im Innern gelten lassen.“1380 Ähnlich argumentierte Kuckhoff, der mit Blick auf französische Rheinlandpläne meinte, gerade das Eigenbewusstsein der rheinischen Bevölkerung als Rheinländer und Deutsche, könne die französischen Absichten am wirkungsvollsten verhindern: „Allerdings kann das Rheinland gegen die Einflüsse von Westen nicht etwa durch ,Preußen‘ geschützt werden. Denn die Berliner Kultur ist nicht rheinische Art, sie ist uns fremd geblieben durch hundert Jahre. Wohl aber schützt den Rheinländer gegen den Westen das deutsche Bewusstsein, und das wird sich stark erhalten trotz ,Preußen‘.“1381 Schließlich forderte er: „Deshalb muß Rheinland ein gleichberechtigtes Glied in der deutschen Bundesrepublik werden, gleichgültig, ob als Bundesstaat oder als autonome Reichsprovinz.“1382
1377
Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 17. Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 92. 1379 Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 17. 1380 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 92. 1381 Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 515. Hervorhebungen im Original. 1382 Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 515. 1378
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Die Berufung der Rheinländer auf das Selbstbestimmungsrecht hatte also zwei Stoßrichtungen: Einerseits, dezidiert verstanden als „nationale Selbstbestimmung“1383, gegen die Franzosen im Westen und andererseits gegen die Preußen im Osten, hier vielmehr im Sinne eines kulturellen Selbstbestimmungsrechtes. Das äußere Selbstbestimmungsrecht, verstanden als das Recht der Abwehr ausländischer Gefahren für die eigene territoriale wie ethnische Integrität, wollte den Rheinländer dabei freilich niemand, auch nicht die preußische Regierung, absprechen. Dass das Problem der Rechtsträgerqualität der rheinländischen Bevölkerung dabei nicht ganz so einfach zu lösen war, wie es von Trimborn unter Hinweis auf die Gleichstellung mit Polen, Tschechen und Slowaken versucht worden war, wurde den Rheinstaatsanhängern zunehmend bewusst. Sie erkannten selbst, dass in diesem Punkt eine Schwäche ihres Vorbringens lag und relativ aufwendig versuchte man sodann, argumentativ „nachzurüsten“. Vielfach begegnet einem in den Quellen die Rede vom „rheinischen Volk“.1384 Die Loslösungsbefürworter zeigten durchaus ein Gespür dafür, dass es ein Problem der konkreten Anwendung des Selbstbestimmungsrechts seit jeher gewesen ist, bestimmen zu müssen, welche Entität sich auf dieses Recht im Einzelnen berufen kann, wer also insoweit als Rechtsträger infrage kommt. Dass der Verweis auf eine Volksqualität der Bewohner des Rheinlandes nicht unproblematisch war, zeigt etwa eine Aussage Dortens, der von einer „Selbstbestimmung der betreffenden Volksstämme“1385 sprach. Die Berufung auf das „altehrwürdige“ Verfassungsprinzip der deutschen Stämme und der Versuch einer Gleichsetzung von Volk und Stamm im Begriff „Volksstamm“ erscheint dabei als eine verfassungshistorische deutsche Eigenart, die im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker indessen bedeutsam ist. Auch Preuß verkannte die Problematik nicht, als er von „Freistaatsvölkern“ sprach.1386 Nur vermied er dabei den Rückgriff auf das Stammesprinzip und knüpfte an die Einwohnerschaft in bereits existenten Ländern an, vermutlich gerade im Hinblick auf die Rheinländer. An anderer Stelle sprach er indes von „Volksteilen“1387, wobei bei dieser Begrifflichkeit nicht mit Klarheit zu bestimmen ist, ob die Rheinländer hierunter subsumiert werden konnten oder wiederum bloß die Bevölkerungen der Gliedstaaten (Preußen, Bayern, Württemberger usw.) als Teile des deutschen Volkes angesehen werden konnten. Zu beachten ist dabei, dass selbst überzeugte Gegner des Rheinstaates die Berufung auf das „anerkannte[] Selbstbestimmungsrecht der Völker“1388 nicht rund1383 1384 1385 1386 1387 1388
Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 7. Vgl. etwa Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 6. Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg (Fn. 8), S. 235. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 151. Preuß/Anschütz, Reich und Länder (Fn. 325), S. 167. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 22.
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heraus ablehnten, sondern sich ernsthaft und ausgiebig mit der tatsächlichen Frage auseinandersetzten, ob die Rheinländer legitime Träger eben jenes Selbstbestimmungsrechts sein könnten. So schrieb Brüggemann: „Mit Recht wurde damals die Frage aufgeworfen: Sind wir Rheinländer denn eine Nation für uns oder bilden wir eine besondere Nation mit den Westfalen zusammen? Sind wir nicht mehr von deutscher Nationalität, von deutscher ganz allein?“1389 Das zentrumsnahe „Düsseldorfer Tageblatt“ vertrat zwar eine durchaus föderalistische Position, denn hinsichtlich der Frage der Aufteilung Preußens unterstrich man das vitale Interesse an einem „Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht der deutschen Stämme“. Über allem müsse jedoch die Reichstreue stehen, denn „nur als einiges Reich werden wir das furchtbare Unglück des Weltkrieges überwinden können“.1390 Anknüpfend an die deutschen Stämme, wurde Selbstbestimmung durchaus als staatsorganisationsrechtliches Ordnungs- und Gestaltungsprinzip diskutiert, jedoch trug dieses naturgemäß einen rein innerstaatlichen Charakter. Grundsätzlich ablehnend gegenüber den rheinländischen Selbstbestimmungsforderungen waren erwartungsgemäß die Reichsregierung und insbesondere die Staatsregierung Preußens, die indessen den Rheinstaatsanhängern einen latenten Separatismus vorwarfen, der letztlich auf Sezession des Rheinlands vom Deutschen Reich gerichtet sei. Die Stellungnahme der Reichsregierung vom 13. März 1919 verwarf den Gedanken der rheinischen Selbstbestimmung als „Vorwand“, der die „Vergewaltigung des einheitlich fühlenden deutschen Volkes“ beschönigen solle. Vielmehr sei die Rheinstaatsfrage „eine rein innere Angelegenheit Deutschlands.“1391 Hier muss hineingelesen werden, dass diese Angelegenheit eine des gesamten Deutschlands zu sein habe, wonach sich also die rheinische Bevölkerung nicht eigenmächtig von Preußen oder sogar dem Reichsverband lossagen könne. Grundsätzlich beschied die Regierungserklärung: „Die Reichsregierung sieht in jedem Versuch der Loslösung links- und rechtsrheinischer Länder einen durch keinen Vorwand zu beschönigenden Verstoß gegen das allgemein anerkannte Nationalitätenprinzip.“ Die Reichsregierung bestritt den rheinischen Anspruch auf Selbstbestimmung und setzte diesem „das allgemein anerkannte Nationalitätenprinzip“ entgegen, denn letztlich seien die Bewohner des Rheinlandes Teil des „einheitlich fühlenden deutschen Volkes“ und nicht etwa ein genuin eigenes Volk oder ein sonstiges Subjekt, das zur Staatsbildung berufen sei. Hiernach sei am Bestand der einen deutschen Nation festzuhalten und die Rheinländer seien eben Angehörige der deutschen Nation. 1389
Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 59. Düsseldorfer Tageblatt Nr. 333 v. 1. Dezember 1918. 1391 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), Bd. 327, S. 776. Hier auch im Folgenden. 1390
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In den Diskussionen der Neugliederungs- und Loslösungsfrage in der Nationalversammlung, in denen handfesten rechtlichen Argumenten die größte Validität zukam, gingen die Rheinstaatsgegner dazu über, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der berühmten „Vierzehn Punkte“ Wilsons vom Januar 1918 zu berufen. In dieser rechtlich nicht eindeutigen Gemengelage wird das nahezu unauflösliche Grunddilemma eines ethnischen, nationalen oder kulturellen Selbstbestimmungsrechtes offensichtlich, welches darin besteht, dass man sich ohne großen Argumentationsaufwand auf beiden Seiten eines bestehenden Konflikts um fortbestehende territoriale Integration oder Desintegration auf den Selbstbestimmungsgedanken berufen kann. So führte der Kölner Liberale Falk im März 1919 aus, dass die Grundlagen der Friedensverhandlungen zwischen dem Deutschen Reich und den Ententemächten auch die Erklärungen Wilsons seien, demnach auch seine VierzehnPunkte-Erklärung. Man habe eine Art „völkerrechtlichen Vorvertrag“ sicher, auf dessen Unverletzlichkeit man sich seitens des Reiches lediglich berufen müsse. Eine Abtrennung des linksrheinischen Gebietes vom „alten Deutschland“ würde indes gerade dem in der Botschaft Wilsons aufgestellten Nationalitätenprinzip widersprechen.1392 Den Rheinstaatsbefürwortern war es nach dieser Lesart verwehrt, ihr Anliegen auf den Wilsonschen Selbstbestimmungsgedanken zu fußen, da sie das Nationalitätenprinzip nicht auf ihrer Seite hatten. Jedoch verkannte Falk, ebenso wie die Reichsregierung, dass es der Rheinstaatsbewegung nicht darum ging, eine rheinländische Nationalität an die Stelle der deutschen zu setzen und rheinisches Territorium aus dem Reich loszulösen. Auch er unterstellte den Rheinstaatsanhängern, sich in letzter Konsequenz gegen das (noch) vorherrschende Nationalitätsprinzip mit seinem Postulat der unbedingten territorialen Integrität zu stellen. Dabei versagte die Reichsregierung dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf internationaler Ebene nicht prinzipiell die Gefolgschaft, sondern passte sich an die politische „Großwetterlage“, die auf den Friedenskonferenzen herrschte, an. Außenminister Graf von Brockdorff-Rantzau etwa sprach nahezu ununterbrochen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, war sich indessen weder der Dimension noch der Anwendbarkeit und Zielsetzung des Prinzips bewusst,1393 sondern verwendete es rein situationsabhängig. In seiner „Programmatischen Erklärung“ beim Amtsantritt am 2. Januar 1919 findet sich etwa die Passage: „Ein Grundrecht der Völker ist das Recht der Selbstbestimmung.“1394 Dabei dachte er jedoch ausschließlich in der Sphäre der bereits existenten und etablierten Staaten, namentlich bei der Frage des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Nach dieser Lesart gab es keine Reichsdeutschen und 1392 Die Ausführungen Falks sind wiedergegeben bei Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 59. 1393 So Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 131. 1394 Brockdorff-Rantzau, Dokumente, 1920, S. 17.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Deutschösterreicher oder etwa Sudetendeutschen, sondern ein einziges Volk von Deutschen, welches selbstbestimmt zu vereinigen sei. Genauso wenig aber konnte in Kategorien wie etwa „Rheindeutsche“ oder „Preußen“ gedacht werden. Man war sich in der Berliner Führung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker also durchaus bewusst, berief sich indessen eher zurückhaltend darauf und wenn überhaupt, dann zögerlich gegen französische Annexionsabsichten im Westen gerichtet. So monierte Kuckhoff: „Deutschland konnte das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegenüber Frankreich für seine Westmark in Anspruch nehmen, anstatt durch seine abwartende Haltung mit leeren Protesten immer wieder dem Vorwand Frankreichs Vorschub zu leisten, da es nur mit Gewaltmitteln zum Frieden gezwungen werden könne.“1395 Prägnant fasst Brüggemann die im Reich gängige Idee des Selbstbestimmungsrechtes respektive des Nationalitätenprinzips so zusammen: „Selbstbestimmungsrecht der Völker! Hatte man je darunter etwas anderes verstanden als die Selbstbestimmung der Nationen?“1396
II. Ursprünge und ideelle Grundlagen des Selbstbestimmungsrechts der Völker An welchem Punkt befand sich die ideengeschichtliche und rechtliche Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker 1918/19? Welchen Inhalt und welche Ausformung hatte es erreicht? Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker als einem Grundprinzip des Völkerrechts gilt im besonderen Maße, dass es nur geschichtlich erfasst und eingeordnet werden kann. Zumal eine allgemein befriedigende juristische Definition bis zum heutigen Tage nicht gefunden ist.1397 Ohne dem deutschen Sprachgebrauch allzu weit bis in die „Weimarer Klassik“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts, geschweige denn in die Philosophie der Aufklärung oder gar in der Reformation nachspüren zu wollen,1398 erscheint jedenfalls der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes in konkreter Erscheinung erstmalig im Kontext der schleswig-holsteinischen Frage 1863 bis 1867,1399 die bereits seit 1848 zu einem 1395
Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 520. Brüggemann, Die Rheinische Republik (Fn. 6), S. 59. 1397 So auch Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 114. 1398 Siehe hierzu Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 11; Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 31 ff. 1399 So spricht Theodor Mommsen 1865 vom „Selbstbestimmungsrecht des schleswigholsteinischen Volkes“ und vom „Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes“, vgl. Mommsen, Die Annexion Schleswig-Holsteins, in: Ders. (Hrsg.), Reden und Aufsätze, 1905, S. 386. Die gängige Formel „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ findet sich im Jahre 1870 bei 1396
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Konflikt zwischen Dänemark, Preußen und Österreich-Ungarn geführt hatte, aber auch für die überwiegend nationalliberal gesinnte Einheitsbewegung Deutschlands grundsätzliche Probleme aufwarf.1400 Im Prager Frieden von 1866 hieß es in Artikel V: „Seine Majestät, der Kaiser von Österreich, überträgt auf seine Majestät, den König von Preußen, alle seine im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 erworbenen Rechte auf die Herzogtümer Holstein und Schleswig mit der Maßgabe, daß die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen.“1401 Ohne jedoch ein solches Territorialplebiszit abzuhalten, annektierte Preußen 1867 Nord-Schleswig. Das Phänomen „Selbstbestimmungsrecht“ – avant la lettre – auf die Vormoderne applizieren zu wollen, geht fehl. Allenfalls in der Variante eines konditionalen Rechts im Sinne eines Widerstandsrechts gegen tatsächliches oder vermeintliches Unrechtshandeln der Obrigkeit, etwa religiösen Zwang, konfiskatorische Steuerlast, defizitäre Rechtsstaatlichkeit oder Ähnliches, bzw. eines Abwehrrechts gegen äußere Feinde, erkennt man zarte Wurzeln einer Selbstbestimmungsidee.1402 Richtigerweise schreibt Heinz Duchhardt: „Vom modernen Verständnis von ,Selbstbestimmungsrecht‘ im Sinne der Forderung nach Unabhängigkeit […], trennen dieses vormoderne Verständnis Welten.“1403 Für die Revolutionsjahre 1848/49 sind bislang keine Belege zum Selbstbestimmungsrecht der Völker beigebracht worden.1404 Duchhardt weist ebenfalls nach, dass sich früheste Belege des Begriffs „Selbstbestimmungsrecht“ erst in den 1860er Jahren finden lassen.1405 Ebenso erklärt Fisch, die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker sei erst „in der Mitte des 19. Jahrhunderts“ entstanden.1406 Innerhalb des politischen Liberalismus war der Gedanke aufgekommen, dass sich Loslösungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen unter dem Aspekt der Selbstbe-
Zeller, Das Recht der Nationalität und die freie Selbstbestimmung der Völker, in: Preussische Jahrbücher 26 (1870), S. 627 ff. 1400 Im Friedensvertrag von Wien vom 30. Oktober 1864 wurde Dänemark verpflichtet, ganz Schleswig-Holstein an Preußen und Österreich abzutreten, vgl. hierzu Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 55. 1401 Zitat bei Ermacora, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht, in: Felix Ermacora, Dieter Blumenwitz, Jens Hacker; Herbert Czaja (Hrsg.), Menschenrechte und Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der Ostdeutschen, 1980, S. 10. 1402 Vgl. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 20 ff. 1403 Duchhardt, Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung, in: Jörg Fisch (Hrsg.), Die Verteilung der Welt 2011, S. 42. 1404 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 134. 1405 Duchhardt, Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung (Fn. 1403), S. 41. 1406 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 17.
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stimmung rechtfertigen könnten. Erst einige Zeit später erhielt der Selbstbestimmungsgedanke in Deutschland seine normative Dimension.1407 Etwa zur selben Zeit entdeckte auch der internationalistische Sozialismus die Idee der Selbstbestimmung von Kollektiven, so fand sich der Begriff im Programm der Ersten Sozialistischen Internationale aus dem Jahre 1865,1408 hier noch konkret bezogen auf die Polen.1409 Inhaltlich findet man bei den Sozialisten den Selbstbestimmungsgedanken explizit mit Blick auf unterdrückte Völker wieder in einer Resolution aus dem Jahre 1896, beschlossen auf dem Kongress der Zweiten Internationale in London. In der deutschsprachigen Fassung war bereits von „Selbstbestimmung“ die Rede, während die englische Version von „autonomy“ sprach.1410 Über diesen Weg wurde der Terminus des Selbstbestimmungsrechts in die russische Sprache integriert und unter russischen Sozialisten diskutiert.1411 Wenn auch der genuin deutsche Terminus „Selbstbestimmungsrecht“1412 ideengeschichtlich auf diese Weise geboren war, so verschwand er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem politischen Denken und der politischen oder akademischen Sprache.1413 Jedenfalls sucht man den Begriff in einem zeitgenössischen Konversationslexikon sowie in dem damals erschienenen „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ vergebens.1414 Zum prominenten Schlagwort wurde die Formel vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ erst am Ende des Ersten Weltkrieges.1415 Dabei war dieses „Recht“ zum damaligen Zeitpunkt kein tatsächlich einklagbares, sondern bestenfalls ein Prinzip,
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Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 11 f. Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz, 1994, S. 3. 1409 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 52. 1410 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 137. 1411 „Pravo na samoopredelenie“ heißt aus dem Russischen übersetzt „Recht auf Selbstbestimmung“, siehe Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 12. 1412 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 135, geht davon aus, dass der Begriff im deutschen Sprachraum geprägt worden ist, da sich im Deutschen besonders leicht Komposita bilden ließen. 1413 So auch Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 55, wonach seit 1870 weder das Schlagwort vom Selbstbestimmungsrecht noch Plebiszite eine nennenswerte Erwähnung gefunden hätten. 1414 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 12 mit Hinweis auf die 13. Auflage des Brockhaus vom Ende der 1880er Jahre und das Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. von Conrad/Elster/Lexis/Loenig, Bd. 5, Jena 1893. 1415 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 52. 1408
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auf das sich mehr oder weniger emanzipierte Völker oder Nationen berufen konnten, ohne dass die Adressaten zu dessen Beachtung verpflichtet gewesen wären.1416 In der englischen Sprache zeigt sich der Begriff „self-determination“ erst in den Jahren 1918/19,1417 hier indes vorwiegend in literarischen Zeugnissen, nicht in praktisch-politischer Verwendung.1418 Man war mit der Zuordnung eines Rechtscharakters zurückhaltender und im Vordergrund erscheint ein pragmatisches, nüchternes, viel eher beschreibendes Wortverständnis, wonach faktische Aktionen als selbstbestimmt beschrieben werden konnten, indessen kein (natur-)rechtlicher Anspruch damit verbunden war.1419 Parallel zum Ausdruck „self-determination“ fanden sich ungefähre Umschreibungen des Postulats wie etwa „right of peoples to decide their own destinies“ oder „peoples‘ right of auto-decision“1420, was generell auf eine vieldeutige und ungesicherte Begriffsverwendung zu dieser Zeit hinweist. Dabei war zwar die Begriffsbildung eine Leistung deutscher politischer Rhetorik, programmatisch aber beruht das Selbstbestimmungsrecht auf älteren Ursprüngen westlich-liberaler Staatsphilosophie. Das theoretische Dogma ist das der Freiheit und Gleichheit der Menschen,1421 wie von den Aufklärern John Locke, Charles de Montesquieu und Jean-Jacques Rousseau gelehrt.1422 Als allgemeine Freiheitsidee, in erster Linie wurzelnd im Menschenrechtsgedanken selbst, entfaltete das Selbstbestimmungsprinzip im ausgehenden 18. Jahrhundert in der amerikanischen1423 und französischen Revolution eine erste welthistorische Ausprägung.1424 Bedingt war der Selbstbestimmungsgedanke mithin durch „den Geburtstag der Idee der politischen Nation“ im Jahre 1789.1425
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Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 17. Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 137. 1418 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 13. 1419 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 14. 1420 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 139. 1421 Salzborn, Ethnischer Selbstbestimmungsanspruch contra demokratisches Selbstbestimmungsrecht (Fn. 1345), S. 110. 1422 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 3. 1423 Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 nennt ein demokratisches Selbstbestimmungsrecht, wonach die britische Fremdherrschaft deshalb abgelehnt werde, weil sie nicht mehr vom „consent of the governed“ getragen sei, vgl. hierzu Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 115. 1424 Zum Vergleich der beiden Revolutionen vgl. Hillgruber, Über die Legitimität von Revolutionen, in: Burkhardt Ziemske, Theo Langheid, Heinrich Wilms, Görg Haverkate (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, 1997, S. 1085 ff. 1425 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 89. 1417
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Der Weg vom freiheitlich-partizipatorischen Individualrecht des mündigen Bürgers zum Kollektivrecht1426 führte ideengeschichtlich über die Forderung nach „self-government“ in der Verfassungsfortbildung des ursprünglichen englischen Kolonialreiches zum „Commonwealth of Nations“.1427 Dabei weist Falk Schöning mit Recht darauf hin, dass sich im Vergleich der amerikanischen und französischen Selbstbestimmungsidee gewisse Unterschiede finden lassen: Während in den amerikanischen Staaten die Freiheit des Individuums und seine Autonomie im Vordergrund stand, wurde in Frankreich bereits kollektiver der gemeinsame Wille des gesamten Volkes betont und somit stärker auf Rousseaus Konzeption des „volonté générale“ zurückgegriffen.1428 Die Franzosen betonten das Prinzip der Volkssouveränität, jedenfalls als Erfordernis einer durch den Volkswillen legitimierten staatlichen Ordnung, womit ein engerer Zusammenhang zwischen der Selbstbestimmungsidee und der Demokratie hergestellt wurde.1429 Nach Sarah Wambaugh bildet die französische Revolution sogar den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Selbstbestimmungsdoktrin: „Le principe du droit des peuples à disposer d’eux-mêmes est basé sur celui de la souveraineté populaire, et en est inséparable. Il est donc naturel que l’histoire de cette doctrine commence à la Révolution francaise.“1430 Für die französischen Revolutionäre stellte das Territorialplebiszit sodann das einzig anzuerkennende Instrument dar, um die Zustimmung der Betroffenen zu ermitteln und es entwickelte sich die Doktrin „pas d’annexion sans consultation populaire“.1431 Zunächst dienten die Plebiszite tatsächlich dazu, den jeweiligen Volkswillen zu ergründen, etwa die Abstimmungen in Avignon (1791), Comtat Venaissin (1791), Savoyen (1792) und Nizza (1793). Im weiteren Verlauf der Revolutionsjahre wurden die Plebiszite jedoch immer mehr zur Konsolidierung expansionistischer Ziele des französischen Revolutionsheeres missbraucht, indem die Bevölkerung etwa nur durch militärischen Druck der französischen Truppen dem Anschluss an das revolutionäre Frankreich zustimmte.1432
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Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 40. Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 14. 1428 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates, 2008, S. 34. 1429 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 4. 1430 Wambaugh, La pratique des plébiscites internationaux, in: Recueil des cours 18 (1927), S. 152. 1431 Wambaugh, La pratique des plébiscites internationaux, in: Recueil des cours 18 (1927), S. 153. 1432 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 5. 1427
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Auch der angelsächsische Sprachgebrauch ging von einem innen- oder verfassungspolitischen Bedeutungsgehalt aus. So heißt es in dem bekannten Wörterbuch von James A. H. Murray zum Selbstbestimmungsrecht: „[…] action of a people in deciding its own form of government.“1433 Ganz der liberalen Tradition folgend, tritt das kennzeichnende Element eines demokratischen, staatsorganisatorischen Verständnisses von Selbstbestimmung hervor, gleichzeitig ein enger Bezug zum demokratischen Selbstverwaltungsgedanken und zum Prinzip der Volkssouveränität. Schmid verweist auf den Eintrag in der „Encyclopedia Britannica“ aus dem Jahre 1964, in dem es ganz ähnlich heißt: „Historically it meant the right of people in a state to choose their own government […].“1434 Hierin liegt die Wurzel der Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes als „innere“ Selbstbestimmung. Andererseits habe die Encyclopedia Britannica unter “national self-determination” nicht mehr als ein Nebenprodukt der Doktrin des Nationalismus verstanden.1435 Da im englischen Sprachgebrauch „nation“ im Grunde gleichbedeutend dem deutschen „Staat“ verwandt wird, erscheint den Angloamerikanern der Ausdruck „nationale Selbstbestimmung“ zumindest als überflüssige Doppelung, wenn nicht gar als nationalistische Überhöhung. Subjekt der Selbstbestimmungsidee angelsächsischer Prägung ist a priori das denkende und handelnde Individuum; apostrophiert wird der freie Handlungswille des Einzelmenschen.1436 Selbstbestimmung kommt demnach folgerichtig auch einer Summe von Individuen zu, die als souveränes Volk die Möglichkeit haben, nach festgelegten Modi als Angehörige eines Staates über dessen politische Organisation zu entscheiden, etwa durch Wahlen und Abstimmungen in einer Demokratie. Das gesamte Staatsvolk innerhalb bestehender Staatsgrenzen, unabhängig von Rasse, Religion oder kultureller Identität, sollte bestmöglich an den Entscheidungen des Gemeinwesens „Staat“ teilhaben. Somit kennzeichnete gerade diese demokratische Komponente den Selbstbestimmungsgedanken im 18. und 19. Jahrhundert, war doch der Ruf nach Selbstbestimmung weniger gegen fremde Mächte gerichtet, sondern gegen die eigene monarchisch-absolutistische Regierung, vor allem in den Jahren der Französischen Revolution.1437 Daneben ist ein Volk selbstredend nur dann selbstbestimmt, wenn es kein anderes Volk über sich hat und seine Verfügungsgewalt über sich selbst unbegrenzt ist – wenn es also souverän ist.1438 Kollektive Selbstbestimmung ist zwar gedanklich gerichtet 1433
Murray, A new English dictionary on historical principles, Bd. 8, 1933, S. 419. Nach Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 129. 1435 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 129. 1436 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 133. 1437 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 35. 1438 So auch Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 47. Siehe auch Fisch, Das 1434
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auf zwischenstaatliche Verhältnisse, nämlich auf die Schaffung von unabhängigen Staaten und deren Beziehungen untereinander.1439 Durch das Selbstbestimmungsrecht soll ein Volk jedoch zu aller erst in die Lage versetzt werden, sich selbst als verfassunggebende Gewalt zu konstituieren, um so zu der Legitimationsgrundlage für ein modernes Verfassungsrecht zu kommen.1440 Insofern sind auch die Staatsgrenzen von Bedeutung, konstituieren sie doch erst das territorial eingehegte Staatsvolk als Rechtssubjekt. Diese Innenbezogenheit des Selbstbestimmungsrechtes findet sich in erster Linie in der Auffassung Großbritanniens, wonach sich Selbstbestimmung innerhalb der gegebenen Staatsgrenzen abspielen könne und prinzipiell staatserhaltend wirke.1441 Dagegen hat Alfred Verdross hervorgehoben, dass der von der (ersten) französischen Revolution proklamierte Grundsatz der Volkssouveränität nicht lediglich eine innerstaatliche, sondern auch eine internationale Bedeutung gehabt habe. Im Grunde hätten alle historischen Staatsgrenzen in Frage gestellt werden müssen, da nur solche weiter hätten bestehen können, die auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker abgesteckt worden seien. In Zeiten des Machtkampfes um ein europäisches Gleichgewicht sei dies eine revolutionäre gestaltende Idee gewesen.1442 In gleicher Richtung geht Fisch sogar einen Schritt weiter, wenn er feststellt, dass die Volkssouveränität, logisch betrachtet, dem Selbstbestimmungsrecht entspreche.1443 Diese Ansicht entspricht der bereits erwähnten Doktrin der französischen Revolutionäre und letztendlich Rousseaus „volonté générale“. Fisch beschreibt indes eine an sich überlebte Idealvorstellung, denn die weitere Geschichte sollte zeigen, dass einerseits Selbstbestimmung und vollständige (äußere) Souveränität andererseits auseinanderfallen konnten.1444 Nicht zuletzt in der Rheinstaatsdebatte sollte diese Unterscheidung eine Rolle spielen. Auch Thürer spricht, in Anlehnung an Eberhard Menzel, von dem Selbstbestimmungsrecht als „internationales Korrelat zum Prinzip der Volkssouveränität“1445. Prägnant meint Günter Decker, dass sich Selbstbestimmung und Demokratie wohl begrifflich identifizieren ließen.1446 Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 66: „Selbstbestimmt ist letztlich das Kollektiv, das keinen Höheren über sich akzeptiert oder zu akzeptieren braucht (und dadurch auch im Inneren frei ist).“ 1439 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 66. 1440 Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 115. 1441 Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung, 2008, S. 40. 1442 Verdross, Völkerrecht, 1937, S. 10. 1443 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 71. 1444 Dies wiederum erkennt auch Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 66. 1445 Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Archiv des Völkerrechts 22 (1984), S. 115. Menzel nannte das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht „das Korrelat zu dem innerstaatlichen Begriff der Volkssouveränität“, vgl. Menzel, Das Selbstbestimmungsrecht
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Als Ausgangspunkt für die Frage, was unter „Volk“ bzw. „Nation“ zu verstehen ist, gilt wiederum die rationale Staatsphilosophie der Aufklärungsepoche, wonach Staat und Nation (noch) vorbehaltlos gleichgesetzt waren. In dieser Ideenwelt gab es keinen Unterschied zwischen der politischen Gemeinschaft der Staatsbürger und der Nation, denn als pouvoir constituant haben sich die sodann Rechtsunterworfenen mit der Verfassunggebung die Nation geschaffen. Erst der konstitutionelle Staat der Bürger war derjenige, den man als Nation bezeichnete.1447 Die Gesamtheit der auf einem Gebiet zusammenlebenden Bürger bildet hiernach die sogenannte „Staatsnation“.1448 Der angelsächsische Rechtskreis setzt unter diesem Aspekt die Begriffe „citizenship“ und „nationality“ gleich.1449 Hier wirkte deutlich die Ideengeschichte der rationalen Kontraktualisten Thomas Hobbes, Locke und Rousseau, wonach Staatlichkeit und letztlich konstitutionelle Nation durch den Abschluss eines vernunftvermittelten, wenn auch fingierten Gesellschaftsvertrages entstünden. Das Nationalitätsprinzip ist in seiner Wechselwirkung zur Lehre vom Sozialkontrakt zu würdigen; die demokratisch verfasste Nation fußt auf dem Grundsatz der „Zustimmung der Regierten“.1450 Für die französischen Revolutionäre bedeutete Selbstbestimmung in erster Linie die Souveränität des Volkes, mit welcher die interne Verfassungswirklichkeit umgestaltet werden sollte. Die Frage der konkreten Staatlichkeit einer gegebenen Nation war für die Revolution unbedeutend, denn die französische Nation hatte ihre Einheit im Staat bereits gefunden.1451 Diese Lesart der Selbstbestimmungsgeschichte ist wiederum gerichtet auf den Aspekt, den man mittlerweile als „innere Selbstbestimmung“ oder „innerstaatliches Selbstbestimmungsrecht“1452 bezeichnet. Die „äußere Selbstbestimmung“1453, also die staatliche Unabhängigkeit von fremden Mächten, trat in den gefestigten Staaten England und Frankreich in den Hintergrund. Hier bestanden bereits staatlich integrierte Gesellschaften, so dass sich eher die Frage politischer Mit- und Selbstbestimmung des einzelnen Staatsbürgers stellte. Diesem westlichen Begriff von Nation folgend, könnte eine solche laufend ihren physischen Bestand, das heißt ihre Bevölkerung, verändern oder gar austauschen, ohne dass sich für die geistigen Grundlagen der nationalen Gemeinschaft Schwieder Völker und das Annexionsverbot, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg/Pr., 1954, S. 178. 1446 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 22. 1447 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 22. 1448 Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 90. 1449 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 137. 1450 Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1973, S. 10. 1451 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 79. 1452 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 142. 1453 Begriffe etwa bei Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 48.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
rigkeiten ergeben würden. Hierzu bemerkt Kluke treffend: „[…] denn nicht objektive Gegebenheiten, sondern die individuelle Entscheidung freier Individuen, die persönliche Entscheidung über die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft, gaben den Ausschlag.“1454 Dörge weist darauf hin, dass bei der Verkündung der Lehre von der Volkssouveränität der Begriff der Nation im ethnischen Sinne noch unbekannt gewesen sei: „Unter Volk verstand man die Gesamtheit der Staatsangehörigen, gleichgültig welcher Art und Abstammung.“1455 Phänotypisch für ein solches Verständnis von Nation stehen die Vereinigten Staaten von Amerika als klassisches Einwanderungsland. Danach ist eine Nation nicht mehr als die Summe derjenigen, die sich für den Beitritt oder die fortlaufende Zugehörigkeit zu einer konstitutionellen, das heißt verfassten Gemeinschaft von mit eigenen Rechten ausgestatteten Menschen entscheiden. Der angelsächsische wie auch der französische Nationsbegriff sind somit subjektiv-voluntativ; die „Staatsnation“ ist prinzipiell offen auch für Menschen fremder Volkszugehörigkeit, sofern sie Staatsbürger werden wollen und dies auch bekunden.1456 Ein strikt nationales Begriffsverständnis von Selbstbestimmung ist in der westlichen Tradition entweder bereits im republikanischen Hintergrund mitgedacht oder es stellt eine Nebensächlichkeit dar, wobei dies umso mehr für ethnische Merkmale gilt. Letzteren kommt in der reflexiv verstandenen Innenbezogenheit der ursprünglichen angelsächsischen Begriffsdefinition keine eigenständige Rolle zu. Zu Recht weist Christian Hillgruber überdies darauf hin, dass das vor allem durch Rousseaus „volonté générale“ verklärte und mystifizierte demokratisch-unitarische Konzept der „Staatsnation“ im Ergebnis „minderheitenblind“ und potentiell „minderheitenfeindlich“ sei, weil es Volksgruppen und partikulare Gemeinschaften mit ihren Sonderinteressen zur politischen Bedeutungslosigkeit verdamme.1457 Als Beispiel für diese These möge etwa der Umgang des französischen Zentralstaates mit den Minderheiten der Bretonen, Basken, Elsässern und Korsen dienen. Dagegen ist die Berufung auf das Recht zur Selbstbestimmung ab dem 19. Jahrhundert in Deutschland1458, aber auch insgesamt in Mittel- bzw. Osteuropa, historisch zumeist außenpolitisch zu deuten, nämlich als Argumentation gegen äußeren Zwang oder eine „fremdnationale Einflussnahme“. In einer vielmehr idealistisch-naturrechtlichen Dimension, „wenn nicht gar ressentimentgeladen“, neigte die deutschsprachige Staatslehre zu einer nationalen bzw. ethnischen Begriffsver1454
Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 22. Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 67. 1456 Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion, in: Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig, Dietrich Murswiek (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 35. 1457 Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 35. 1458 Vgl. insgesamt zum Vergleich des deutschen und französischen Volksbegriffs Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 21 – 40. 1455
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wendung, oftmals im Sinne eines quasi-naturgegebenen Anspruches gegen eine zunehmend positivierte Ordnung internationaler Rechtsverhältnisse.1459 Die zentraleuropäische Kulturnation1460 war im Gegensatz zur bereits behandelten Staatsnation gerade eine vorstaatliche Entität, die losgelöst von der jeweiligen staatlichen Organisationsform durch bestimmte Eigenschaften wie insbesondere Abstammung und Sprache charakterisiert wurde. Dieser Dimensionswandel wurde insbesondere durch die von der Romantik beeinflusste Staatsphilosophie Johann Gottlieb Fichtes, Johann Gottfried Herders, Adam Müllers und Friedrich Wilhelm Joseph Schellings unterstützt,1461 ferner von der Dogmatik der historischen Rechtsschule.1462 Im Vordergrund der romantischen Philosophie stand das beförderte Bewusstsein der eigenen Art und der eigenen und eigentümlichen Sendung.1463 Die gesamte Menschheit erschien hierbei als in natürliche Nationen gegliedert und noch stärker als in der französischen Revolution wurde der Selbstbestimmungsgedanke vom Individuum auf das Kollektiv der „Nation“ übertragen. Der aufkommende Nationalismus beförderte die Auffassung, eine in vielerlei Hinsicht möglichst homogene Bevölkerung garantiere einen starken, stabilen und leistungsfähigen Staat. Die Forderung nach Nationalstaaten ging nicht unbedingt von einer vorausgesetzten individuellen Selbstbestimmung aus, sondern vom Ideal eines modernen, vitalen Staatswesens.1464 Dörge fasst die vorherrschende Mentalität und Denkrichtung wie folgt zusammen: „Es ist die Zeit der Selbstbesinnung des Volkes auf sich selbst, des Kampfes gegen das Naturrecht [sic!]; geschichtlich bedingt durch die napoleonischen Kriege, die als eine Selbstbefreiung gewollt und gekämpft wurden, durch den Aufschwung der nationalen Literatur, die Besinnung auf eigene Kultur, eigene Sprache und eigenes Recht. Das Volk empfand sich selbst als eine besonders geartete, geschichtlich bedingte, kulturell geschlossene Einheit, und als solche unterschieden von anderen Artgemeinschaften, den anderen Nationen.“1465 In den Jahren des von den napoleonischen Franzosen besetzten Berlins 1807/08 erklärte etwa Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“: „Die geistige Natur 1459
Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 14. Begriff etwa bei Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 13. Sehr anschaulich aufbereitet bei Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 6. Aufl. 1922. 1461 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 36; Armbruster, Selbstbestimmungsrecht, in: Karl Strupp, Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl. 1962, S. 251; Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 84. 1462 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 67. 1463 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 6. 1464 So auch Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 120. 1465 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 67. 1460
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vermochte das Wesen der Menschheit nur in höchst mannigfaltigen Abstufungen an Einzelnen und an der Einzelheit im Großen und Ganzen, an Völkern, darzustellen. Nur wie jedes dieser letzten, sich selbst überlassen, seiner Eigenheit gemäß […] sich entwickelt und gestaltet, tritt die Erscheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus.“ Dabei betont Fichte die Bedeutung des historisch, vom Individuum völlig losgelösten Gewachsenen: „Gemeinschaftliche Geschichte oder trennende entscheidet also für die Bildung zum Volke.“1466 Historisch prägend für die deutsche Ideengeschichte rund um das Selbstbestimmungsrecht war sodann die Zeit zwischen 1820 und 1848 als Epoche zahlreicher Befreiungs- und Nationalitätenkämpfe, etwa in Griechenland, Lateinamerika, Belgien, Italien und Polen. Hier zeigte sich deutlich, dass das ganze dynastische Staatensystem der „Heiligen Allianz“ vom Wiener Kongress 1815, das die territorialen Verhältnisse alleinig nach dem monarchischen Legitimätsprinzip ordnete, in Wirklichkeit längst ein politischer Anachronismus geworden war, den die Völker Europas nicht mehr mittragen wollten. Insbesondere in Mittel- und Osteuropa waren Nation, Nationalität und Volk zu immer wesentlicheren Identifikations- und Abgrenzungsmerkmalen geworden und bestimmten letztlich die Grundkategorien des politischen Denkens.1467 Im Jahr 1848 zerschlug das revolutionäre Aufbegehren der Völker das Legitimätsprinzip, und der Pariser Friedensvertrag von 1856 brachte schließlich das Ende der konservativen „Heiligen Allianz“.1468 In der Lesart der Deutschen ist der Impetus ethnischen Denkens stärker zu spüren als in der liberalen westlichen Auffassung von Selbstbestimmung. Wohl aus diesem Grund erschien dem britischen Historiker John Lord Acton im Jahre 1861 das zentraleuropäische Verständnis von Selbstbestimmung gar als undemokratisch: „In proclaiming the supremacy of the rights of nationality, the system of democratic equality goes beyond its own extreme boundary, and falls into contradiction with itself.“1469 Gemeint sein konnte damit nur die Befürchtung, objektiv-kollektiv verstandene Selbstbestimmung könne über individuelle Selbstbestimmung hinwegschreiten, letztere also übergehen. Danach las sich die zentraleuropäische Konzeption von Selbstbestimmung eher wie kollektive Fremdbestimmung. Schmid stellte infolgedessen fest, die US-amerikanische und die deutschösterreichische Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht seien „deutliche Kristallisationspunkte der diversen Anschauungen“.1470 1466
Zitate bei Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 31 f. 1467 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 569 f. 1468 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart, 1966, S. 21. 1469 Zitat bei Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 127. 1470 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 129.
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Im deutschen, slawischen und insbesondere auch im italienischen Sprachraum war seit Anfang des 19. Jahrhunderts mithin ein Nationsbegriff hervorgetreten, für den objektive Kriterien wie gemeinsames Gebiet, Sprache, Kulturgeschichte, Rasse, Religion, Sitte und gemeinschaftliche Überlieferung maßgeblich waren.1471 Decker nennt als eines der ersten historischen Beispiele die Teilung Polens 1772, die von der europäischen Öffentlichkeit überwiegend als Unrecht gegenüber dem polnischen Volke angesehen worden war.1472 Auch in den „verspäteten Nationen“1473 Italien und Deutschland bestand eine starke, teils emotional aufgeladene Selbstbestimmungsidee, die sich nicht in die nüchterne Tradition der westlichen, kontraktualistischsubjektivistisch geprägten Verfassungsstaaten stellen konnte. So hieß es in Giuseppe Mazzinis Bruderschaftspakt des „Jungen Europa“ bereits 1834 plakativ: „Nationalität ist heilig.“1474 Im Deutschen Bund bestand die Besonderheit einer doppelten Zielrichtung des Selbstbestimmungsrechtes: Einerseits gegen vermeintlich drohende Interventionen nicht-deutscher europäischer Großmächte, andererseits in der Abwehr partikularistischer Bewegungen im Inneren. In dieser Auffassung vom Telos des Selbstbestimmungsrechts waren sich die dynastischen Regierungen der deutschen Einzelstaaten mit dem noch nicht im Nationalstaat geeinten deutschen Volk einig. So standen in der Debatte um das Selbstbestimmungsrecht nicht oder jedenfalls nicht prominent die bürgerlich-demokratischen Begriffe „Nation“ oder „Minderheit“ im Fokus, sondern das sowohl integrierende wie exkludierende „Volk“ oder jedenfalls „Volksgruppe“.1475 Martin Broszat hat hierin eine gewisse „innere Abwendung“ vom „westlichen, durch die Französische Revolution geprägten demokratisch-liberalen Begriff ,Nation‘“ gesehen.1476 Ebenso geht Sigrid Boysen in ihrer Bewertung davon aus, dass sich „Demokratie und Nationalstaatsidee“ in Deutschland nicht in Übereinstimmung bringen ließen.1477 Dagegen erläutert richtigerweise Hillgruber, dass die Konzentration der deutschen Aufklärung und Romantik auf das Volk als Sprach-, Abstammungs- und Kulturgemeinschaft gerade nicht einem antiaufklärerischen, antifranzösischen oder 1471
Vgl. etwa den Nationsbegriff bei Giuseppe Mazzini und Pasquale Mancini, hierzu Valsecchi, Idee und Mythos der Nationalität im Risorgimento, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Zur italienischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, 1961, S. 100 ff. 1472 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 17. 1473 Terminus nach Plessner, Die verspätete Nation, 1935. 1474 Abgedruckt bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 351 f. 1475 Salzborn, Ethnischer Selbstbestimmungsanspruch contra demokratisches Selbstbestimmungsrecht (Fn. 1345), S. 107. 1476 Broszat, Die völkische Ideologie und der Nationalsozialismus, in: Deutsche Rundschau, 1958, S. 58. 1477 Boysen, Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Demokratie, in: Peter Hilpold (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010, S. 77 f.
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antidemokratischen Affekt entsprungen, sondern vielmehr aus der politischen „Not“ des staatenlosen deutschen Volkes erfolgt sei.1478 In dieser Richtung hält auch Huber fest: „Die deutsche Erneuerungsbewegung des 18. Jahrhunderts steht auf den Schultern der Aufklärung; sie ist ohne die Aufklärung nicht denkbar.“1479 Gleichwohl ist festzustellen, dass der deutsche Nationalismus das Volk als Träger des Staatswesens angesehen hat, ohne sich zugleich für die Idee der Volkssouveränität zu öffnen.1480 Die Nation ist hiernach mehr als ein von demokratischen Mehrheitsentscheidungen errichtetes, im Grunde jedoch artifizielles Gebilde, da sie eine höhere Originalität und Individualität durch Eigenarten besitze.1481 Das Nationalitätsprinzip wandelte sich insofern, als man verstärkt auf die politische Eigennatur von Nationen hinwies, die nicht per se mit den bestehenden Staatsgebilden in Einklang zu bringen waren. Eine bereits geleistete staats- und verfassungsrechtliche Integration trat dabei in den Hintergrund und es entstand die Forderung, die Staatenkarte der Nationalitätenkarte anzupassen1482 : „Jede Nationalität ein Staat, die ganze Nationalität ein Staat!“1483 Es war die Rede von einem „natürlichen Recht der Nationen“1484, sich selbstbestimmt staatlich zu gestalten. Hierzu resümierte Alfred Cobban: „The history of self-determination is a history of the making of nations and the breaking of States.“1485 Dabei hatte die deutsche Nationalversammlung, noch stärker beeinflusst von der westlichen, liberal-konstitutionellen Ursprungsidee, in ihrer „Nationalitätenschutzerklärung“ vom 31. Mai 1848 dargelegt,1486 dass ein nach Selbständigkeit strebendes Volk Befriedigung auch im Innern eines bestehenden Staats finden könne, und zwar dadurch, dass seine Sprache in Verwaltung, Kirche, Rechts- und Kultur1478 Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 30. 1479 Huber, Lessing, Klopstock, Möser und die Wendung vom aufgeklärten zum historischindividuellen Volksbegriff, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 104 (1943), S. 122. 1480 Boysen, Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Demokratie (Fn. 1477), S. 77. 1481 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 25. 1482 Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn.1450), S. 13. 1483 Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 1907, S. 151. So schon Johann Caspar Bluntschli, Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. 1866, S. 107: „Jede Nation sei ein Staat, jeder Staat eine Nation“. Leicht abgewandelt bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 34: „Jede Nation ein Staat, jeder Staat – ein nationales Wesen.“ Bluntschli selbst aber schränkte sein Prinzip ganz grundsätzlich ein, denn nur „politisch befähigte Nationen“ sollten berechtigt sein, ein selbständiges Volk [!] zu werden und die „unfähigen“ sollten durch andere „begabtere Völker“ geleitet werden. Siehe hierzu Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 120. 1484 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 120. 1485 Cobban, The Nation State and National Self-Determination, 1970, S. 42 f. 1486 Verabschiedet von der Frankfurter Nationalversammlung, vgl. hierzu Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 18.
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pflege gleichberechtigt angewandt wird und jeder einzelne Bürger, ohne Rücksicht auf seine Volkszugehörigkeit, gleichberechtigt ist1487: „Das fortan einige und freie Deutschland ist groß und mächtig genug, um den in seinem Schooße [sic!] erwachsenen andersredenden Stämmen eifersuchtslos in vollem Maaß [sic!] gewähren zu können, was Natur und Geschichte ihnen zuspricht, und niemals soll auf seinem Boden […], wer […] uns angehörig, in fremder Zunge spricht, zu klagen haben, daß ihm seine Stammesart verkümmert werde oder die deutsche Bruderhand sich ihm entziehe, wo es gilt.“1488 Gleichzeitig legte § 188 der Paulskirchenverfassung fest, wen man gegebenenfalls als schützenswerte Nationen anerkennen werde, nämlich die „nicht Deutsch redenden Volksstämme[] Deutschlands“. Dabei war an die polyethnische Situation des österreichischen Vielvölkerstaates gedacht,1489 aber eben nicht an die deutschsprachigen Rheinländer oder andere eigengeartete deutsche Volksstämme. Bemerkenswert ist, dass die deutsche Realpolitik also seit Mitte des 19. Jahrhunderts den Gedanken von Vielvölkerstaaten beibehielt – man dürfte hierbei vor allem an Dänen (Nordschleswig), Polen (Westpreußen), Tschechen und Italiener (Südtirol) gedacht haben –, jedoch unter der Bedingung, dass innenpolitisch nach Stämmen und Sprachgrenzen eine weitgehende Autonomie oder kulturelle Selbstverwaltung eingeräumt wird. Damit verbindet die deutsche Lehre des Nationalitätsprinzips den voluntativen Ansatz des westlichen Konstitutionalismus mit objektiv-ethnischen Merkmalen, ohne indes so weit zu gehen, jeder (ethnischen) Nation ein völlig unabhängiges Staatsgebilde zuzubilligen. So resümiert Kurt Rabl: „Das politische Bewußtsein der Zeit wird vom Doppelgedanken der Jahre 1848/49 geprägt: Verfassungsumbau als Mittel, das Zerbrechen überkommener staatlicher Formen und Grenzen zu hindern – ihr Zerbrechen, wenn jener Umbau versäumt wird.“1490 Vor diesem Hintergrund ist auch die sogenannte „Dezemberverfassung“ der k.u.k.-Monarchie aus dem Jahre 1867, das „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ (StGG), zu verstehen, in welchem es in Artikel 19 Absatz 1 hieß: „Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“1491 Bis 1919 freilich kam dieser Garantie keine praktische Bedeutung zu, da
1487
Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 41. Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 1848, Bd. 1, 10. Sitzung v. 31. Mai 1848, S. 183. 1489 Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 35. 1490 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 45. Hervorhebung im Original. 1491 Zitat bei Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 15. 1488
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man sich über die konkrete Auslegung, die Durchführbarkeit und den Umfang im jeweiligen Einzelfall niemals einigen konnte. Italienische Gedanken zur Nationalität reichten weiter und beinhalteten „natürlich und zwingend“ das Recht eines jeden Volkes, „Staatsgrenzen zu ändern, Staatsverfassungen umzustülpen“, mithin ohne jede Rücksicht auf staatlich verfasste Obrigkeit.1492 Die nachgerade revolutionäre Konsequenz dieses ethnischen Denkens bestand darin, dass die natürlich und geschichtlich gewordene Schöpfung der Nation nicht nur per se vorstaatlich zu verstehen sei, sondern dass Nation und Staat auseinanderfallen können und lediglich die Nation Anknüpfungspunkt für das Völkerrecht sein könne. So wurde das Nationalitätsprinzip als Grundlage des Völkerrechts angesehen, welches ein im engen Sinne internationales Recht, also ein Recht ausschließlich zwischen Nationen, werden sollte. In seiner Turiner Vorlesung im Jahre 1851 zum Thema „altes und neues Völkerrecht“ meinte Pasquale Stanislao Mancini, dass ein Staat, der kraftvolle Nationalitäten zu einer künstlichen Einheit zusammenzwinge, kein „corpo politico, ma un mostro incapace di vita“ sei, also ein nicht lebensfähiges Ungeheuer.1493 Lebendige Volkskörper, nicht historisch mehr oder minder zufällige monarchische Territorien, seien die natürlichen Subjekte des Völkerrechts und damit im eigentliche Sinne Nationen (nazionalità1494).1495 Eine Nation sei eine natürliche menschliche Gemeinschaft, die, auf Einheit des Territoriums, der Herkunft, der Sitten und Sprache gegründet, sich zu einer Entität des sozialen Lebens und Bewusstseins geformt habe.1496 Zwar ist von diesem Nationalgedanken des italienischen Risorgimento noch kein Bogen zum Selbstbestimmungsrecht geschlagen, jedoch bleibt die Diskussion um die Definition der Nation bzw. um das Nationalitätsprinzip bedeutsam für die weitere Entwicklung. Mancinis Beitrag bestand primär darin, den demokratietheoretischen Begriff der Souveränität eines „Volkes“ in dem Sinne zu erweitern, dass es eine natürliche Souveränität von gewachsenen, in Raum und Zeit bestimmbaren „Nationen“ geben müsse.1497 Insgesamt blieb der Gedanke der Selbstbestimmung eher ein politisches, quasi vorstaatliches Prinzip und die mögliche Verrechtlichung der Selbstbestimmungsidee blieb außer Betracht. Als politische Idee spielte der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung aber in Gestalt des Nationalitäten1492
Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 46. Zitat bei Schieder, Idee und Gestalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), S. 336 f. 1494 „Nation“ hierbei im tatsächlichen Wortsinne von „natio“, lat. für „Volk“ oder „Sippschaft“, auch „Geburt“. Gerade mit Blick auf den letzten Wortsinn wird die Ursprünglichkeit deutlich, die die mitteleuropäische und vor allem italienische Staatsphilosophie dem Begriff der Nation zugrunde legte. 1495 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 46. 1496 Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 86. 1497 Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 13. 1493
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prinzips eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der bürgerlich-demokratischen Bewegungen, die stets auch national gesinnt waren.1498 Neue Aspekte brachte die politische Debatte in Deutschland, die die Reichsgründung begleitete und maßgeblich von der nationalliberalen Bewegung bestimmt worden ist. Die deutsche Nationalbewegung hatte sich dabei primär mit dem Partikularismus der einzelnen, dynastisch beherrschten Gliedstaaten auseinanderzusetzen, die sich auf einen gefestigten Legitimismus und das Gottesgnadentum beriefen. Ihnen zur Seite stand eine lange, wohldefinierte Tradition deutschen Reichsund Staatsrechts.1499 Dadurch bedingt, musste die liberale Einheitsbewegung den Schritt gehen, die Idee der Selbstbestimmung aus dem international üblichen, bislang rein politischen Sprachgebrauch in die Sphäre des Rechts zu transformieren. Die bis dato politisch angedachte möglichst freie Entfaltung und Entwicklung der ursprünglichen Nationalität wandelte sich im deutschen Verständnis zu einem Naturrecht, nach dem es verboten sei, geschlossene Nationalstaaten durch Loslösung, Annexion von Teilen oder – konkret auf den Deutschen Bund bezogen – die Blockade der territorialen Integration zu zerreißen oder zu behindern. Die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht hatte innerhalb der deutschen Nationalbewegung zuvörderst zwei Beweggründe. Den ersten und historisch bedeutsameren Beweggrund kennzeichnete im Deutschen Bund eine außenpolitische Stoßrichtung: Unter Hinweis auf deutsche Selbstbestimmung sollten Interventionen der übrigen europäischen Großmächte für den Fall abgewehrt werden, dass es zur Auflösung der kleineren dynastischen Gebilde – insbesondere der Elbherzogtümer – im Zuge der Vollendung der nationalen Einheit käme.1500 Gleichzeitig bestand der Wunsch nach einem starken deutschen Einheitsstaat, der jedwedem innerdeutschen Partikularismus eine Bezugnahme auf Selbstbestimmungsgedanken versagte. Die Konflikte, die zwangsläufig dadurch entstehen mussten, dass man das internationale Prinzip der Selbstbestimmung in die nationale, innerstaatliche Sphäre übertrug, sollte im Sinne des nationalen Einheitsgedankens tunlichst vermieden werden. Ebenso wird erklärlich, aus welchem Grund die deutsche Nationalbewegung die westliche Konzeption vom inneren Selbstbestimmungsrecht ablehnte. So war etwa der Liberale Theodor Mommsen ein strenger Unitarier, der zwar das (äußere) Selbstbestimmungsrecht anerkannte, jedoch in der Schleswig-Holstein-Frage eine eindeutige Position einnahm: Es gebe „kein schleswig-holsteinisches Volk […], sondern nur ein deutsches, und wo dieses spricht, hat jenes zu gehorchen“.1501 1498 Vgl. hierzu ausführlicher Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 19 ff. 1499 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 30. 1500 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 30. 1501 Mommsen, Die Annexion Schleswig-Holsteins (Fn. 1399), S. 386.
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Schärfer als etwa die italienische Nationalbewegung, die stark plebiszitär inspiriert gewesen ist, konturierte die deutsche das Recht auf Selbstbestimmung in Abgrenzung zu partikularistischen Bestrebungen, denen unter Verweis auf den einheitlich deutschen Volkscharakter jeder Drang nach Selbstbestimmung untersagt wurde. Nach dieser strikten Lesart waren etwa deutsche Dänen, Friesen, Schwaben, Thüringer oder eben Rheinländer nicht zu Bildung eigener Nationen berufen, weil man unterhalb der Gemeinschaft „Deutsche“ keine relevanten staatlichen Bezugsgruppen gelten lassen wollte. Anders als im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, war man jedoch im Deutschen Reich nicht seit Jahrzehnten mit ständigen Nationalitätenproblemen konfrontiert gewesen und man sah sich nicht gezwungen, die europäische Nationalitätenfrage grundsätzlich anzugehen. Die überwiegende Bevölkerungsmehrheit betrachtete Deutschland seit der Reichsgründung 1871 als einen ethnisch, sprachlich und kulturell im Wesentlichen homogenen Nationalstaat.1502 Rudolf Arzinger weist mit Recht darauf hin, dass die deutsche Völkerrechtslehre, zurückgehend insofern vor allem auf Bluntschli, im Grunde genommen das Nationalitätenprinzip mit dem Prinzip der staatlichen Souveränität identifizierte. Der Grundsatz der europäischen Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts war demnach die Gleichberechtigung souveräner Staaten, wobei das Nationalitätenprinzip auf die staatlich bereits selbständig organisierten Nationen beschränkt worden sei.1503 In Franz von Holtzendorffs „Handbuch des Völkerrechts“ heißt es zu dem Stichwort „Nationalität“, man verstehe darunter „nicht die Besonderheit ethnographisch geschiedener, nach politischer Gestaltung ringender gesellschaftlicher Kräfte, […] sondern die Eigenart staatlicher Selbständigkeit, in welcher sich der Inhalt völkerschaftlicher Gruppen auf räumlich abgegrenzter Basis politisch organisiert hat“.1504 In der Auslegung des Selbstbestimmungsrechts bildete sich in Deutschland somit eine herrschende Meinung heraus, die den Begriff der Nation aus der verselbständigten „Volksgeistidee der organischen Geschlechterfolge“1505 heraus definierte, mit all ihren objektiven, überpersönlichen Merkmalen. So schenkten die deutsche Politik und Wissenschaft im Zuge der Angliederung von Elsass-Lothringen nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 den Einwendungen von elsässischen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung keine Aufmerksamkeit, wonach man stellvertretend für die Wählerschaft gegen die Annexion protestiere und weiterhin dem französischen Verfassungsstaat angehören wolle. Dieser Protest wurde von den späteren Vertretern Elsass-Lothringens im
1502
Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 21. Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 22 f. 1504 Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts, 1855 – 1889, Bd. 1, S. 11 f. 1505 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 33. 1503
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Reichstag wiederholt.1506 Hier trat die angelsächsisch respektive französisch geprägte, eher liberal-konstitutionelle Komponente des Selbstbestimmungsgedankens in einen scharfen Gegensatz zur zentraleuropäischen nationalen Auslegung dieser Idee.1507 Selbstbestimmung gab es nur „in großer Münze“, nämlich als höheres, unitarisches Recht der Gesamtnation. Überlegungen zur Demokratie und Souveränität von Völkern oder Volksgruppen wurden verworfen. Allzu eng ausgerichtet an kulturellen oder religiösen Eigenarten durfte man den Nationalitätsbegriff freilich auch nicht fassen, um bestehende europäische Großstaaten nicht zu gefährden. Neben die Realpolitik traten Rationalitätsargumente, die den Nationsbegriff in gewisser Weise „ent-emotionalisieren“ wollten. Damit lag man indes ganz auf der Linie des französischen Nationalisten Barrès, der für die „Grande Nation“ die Rheingrenze forderte, weil „sie allein die Vernunft befriedige“.1508 Die vorherrschende Auffassung im Deutschen Reich zur Polenfrage wird durch ein derb pointiertes Zitat Walther Schückings aus dem Jahre 1908 treffend charakterisiert, das ausschließlich von Macht- und Realpolitik zeugt: „Der Nationalitätsgedanke läßt sich für die Polen nun schlechterdings nicht verwirklichen. Es gibt im Leben des einzelnen [sic!] wie der Nationen Ereignisse, die sich nicht auslöschen lassen. Und wie niemand dem Mädchen, das einmal eines kräftigen Knäbleins genesen, seine Jungfernschaft wiedergeben kann, so kann die politische Einheit in einem Volke nicht wiederhergestellt werden, dessen Staatsgebiet die stärksten Großmächte unter sich geteilt haben. Ebenso unmöglich wie die Ausübung des Nationalitätsgedankens für die Polen, ebenso kulturhemmend wäre sie für Österreich-Ungarn mit seinen zahlreichen kleinen Nationen.“1509 Decker weist im Zusammenhang der Begründung von Selbstbestimmung darauf hin, dass sich die Staatsmänner Deutschlands der „nationalliberalen Idee zwar bedienten, ihre Erfolge aber der Anwendung traditioneller machtstaatlicher Methoden verdankten“, weshalb der Selbstbestimmungsgedanke nicht zum Grundprinzip der reichsdeutschen und deutschösterreichischen Politik werden konnte.1510 Die Großmächte und Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Preußen konnten sich in ihrer europäischen Machtpolitik eine großzügigere Interpretation des Rechts auf Selbstbestimmung schlichtweg nicht erlauben. Mehr aber als etwa der Deutsche Bund oder Preußen, hatte die Habsburgermonarchie mit inneren Spannungen zu kämpfen, so besonders durch den halbautonomen Zustand des austro-ungarischen Dualismus seit 1867, den Autonomie-Durchbruch der 1506
Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 89. Die Unterscheidung nach „konstitutionell“ und „national“ findet sich bei Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 32. 1508 Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 56. 1509 Schücking, Das Nationalitätenproblem, 1908, S. 21. 1510 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 88. 1507
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kroatischen Minderheit aufgrund des Kompromisses von 1868 und des Zagreber Separatistenprozesses von 1909.1511 Aber auch das Königreich Preußen hatte, bedingt durch den Selbstbestimmungsund Nationalitätsgedanken, mit Problemen zu ringen. Dabei hatte der preußischprotestantisch initiierte „Kulturkampf“ zwischen 1871 und 1878 nicht nur die katholischen Rheinländer verprellt, sondern insbesondere die polnische katholische Kirche warb daraufhin aktiv für die Loslösung und Unabhängigkeit polnischer Gebiete von der preußischen Krone. Das Nationalitätsprinzip war zum wesentlichen Programmpunkt und gleichsam zum Schlagwort des europäischen Nationalismus geworden. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn weigerten sich jedoch grundsätzlich, dieses Prinzip mit direktdemokratischen, plebiszitären Instrumenten in Verbindung zu bringen, was mit Blick auf die Ablehnung des subjektivistisch-demokratischen Nationsbegriffs nur folgerichtig war. Andere europäische Nationen, die eine stärkere westlich-konstitutionelle Ausrichtung aufwiesen, hatten das Plebiszit indessen als Möglichkeit für Selbstbestimmungsforderungen erkannt und aufgegriffen. So war es eine norwegische Volksabstimmung, die 1905 die seit 91 Jahren währende schwedisch-norwegische Personalunion auflöste.1512 Im März 1882 hielt der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan in der Sorbonne einen Vortrag mit dem Titel „Qu‘est-ce qu’une nation?“, in dem er methodisch darlegte, dass Nation nicht gleichbedeutend mit Rasse sein könne und auch nicht alleinig durch gemeinsame Sprache zu verstehen sei. Eine Nation könne auch nicht ausschließlich durch gemeinsame Religion der Nationsangehörigen gegründet werden oder durch den Zufall geographischer Begebenheiten. Schließlich sei eine Nation niemals bloß eine Interessengemeinschaft, denn, so Renan, „ein Zollverein ist kein Vaterland“.1513 Er schlussfolgert, dass der Nationsbegriff nicht durch objektiv-materielle Umstände hinreichend beschrieben und begründet werden kann. Sein pastoral anmutender Ansatz lautet vielmehr: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eins davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzuleben. […] Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Ver1511
S. 14 f. 1512
Aufzählung bei Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450),
Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 15. Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte (Fn. 1350), S. 110. Hier auch das nachfolgende Zitat. 1513
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gangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ Das Dasein der Nation sei nicht zuletzt eine tägliche Volksabstimmung: „L’existence d’une nation est un plébiscite de tous les jours […].“1514 Im Anschluss daran spricht Schöning von einer „französischen Schule“, die in erster Linie auf den theoretischen subjektiven Willen jedes Einzelnen im Volke abstellte, und einer entgegengesetzten „deutschen Schule“, die die Nation als überindividuelles Ganzes ohne subjektiv-voluntatives Zutun darstellte.1515 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war der Ausdruck „Selbstbestimmung“ weitgehend aus der deutschen wissenschaftlichen Literatur und erst recht aus der praktischen Politik verschwunden. In der Sache aber war die, wenn auch eher akademische, Diskussion selbst im deutschen Sprachraum nicht zum Erliegen gekommen. Es waren um die Jahrhundertwende die österreichischen Sozialdemokraten, die eine nicht-völkische, eher kulturelle und letztlich fakultative Nationalitätenideologie, gestützt auf das Personalitätsprinzip, entwickelten. Die Austromarxisten waren ohnehin internationalistisch eingestellt und standen dem Konzept des Vielvölkerstaates nicht per se ablehnend gegenüber. Prominente Vertreter waren die Sozialdemokraten Otto Bauer und Karl Renner, die Selbstbestimmung in erster Linie als ein individuelles Recht auf Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität ansahen.1516 Im „Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie“1517 setzten sie auf die Grundpositionen von 1848/49, wonach Verfassungsänderungen gewaltsamen Grenzänderungen oder Sezessionen vorbeugen sollten. Es sollte jedem Einwohner der Donaumonarchie freistehen, seine Nationalität in einem zentralen „Personenkataster“ zu bekennen, so dass sich Nationalitäten als Personenverbände dargestellt hätten, die staatsrechtlich anerkannt worden wären und etwa eine weitgehende kulturelle Autonomie erhalten hätten, ohne indes zu Territorien beherrschenden oder regierenden Entitäten zu werden.1518 Das Individuum hätte seine Nationalität gewissermaßen mit sich getragen.1519 Als Kroate oder Slowake wäre man hiernach „Mitglied“ einer Nation geworden, ohne gleichsam ihr Einwohner zu sein. Gleichwohl hätte man sich in „national 1514
Renan, Qu’est-ce qu’une nation?, 1882, S. 27. Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 36. 1516 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 136. 1517 Abgedruckt bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), Anhang A, Nr. 1, S. 177 f. 1518 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 36 f. 1519 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 56. 1515
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abgegrenzten Selbstverwaltungskörpern“1520 organisieren können. So sprach Renner von der „Selbstbestimmung als Autonomie, nicht als Souveränität“.1521 Und ferner: „Die Nationen müssen staatliche Rechtsfaktoren […] oder, um das gefürchtete Wort auszusprechen, Staaten im Staat sein.“1522 Die Idee von Nationen ohne Staatsgebiet, fußend lediglich auf einer Personalautonomie und Personalitätsprinzip, bestach zwar durch ihren innovativen Gehalt, hatte jedoch sowohl mit dem vorherrschenden Staatsbegriff nach Jellinek als auch mit der nationalistischen Realpolitik der Großmächte wenig gemein.1523 Die deutschösterreichischen Sozialisten setzten sich nicht einmal innerhalb der sozialistischen Bewegung durch, weil diese bereits enge Verbindungen mit den weitergehenden, auch territorialen Ansprüchen der verschiedenen Völker eingegangen waren.1524 Andererseits war die Überzeugung gereift, dass die nationalen Selbstbestimmungsansprüche mehrerer, territorial gemeinsam siedelnder Völker unter Aufrechterhaltung des gegebenen staatlichen Rahmens in gegenseitige Übereinstimmung zu bringen sein müssten.1525 Als der europäische Vielvölkerstaat des Osmanischen Reichs in den Balkankriegen von 1911 bis 1913 zusammenbrach, beförderte der Sieg der jungen Balkannationen auch den Ruf nach nationalstaatlicher Selbstbestimmung in ganz Europa, insbesondere auch in Österreich-Ungarn. Jedenfalls in dieser Region war die Idee des Vielvölkerstaats gescheitert. Im Deutschen Reich waren es vor allem die beiden Völkerrechtler Schücking und Kurt Wolzendorff, die sich der Nationalitätenproblematik vor dem Hintergrund des (innerstaatlichen) Autonomiegedankens annahmen. Anders als etwa die österreichischen Sozialisten mit ihrem weitgehenden Personalitätsprinzip, erachtete Schücking in seiner Schrift „Das Nationalitätenproblem“ von 1908 einen Einheitsstaat mit ausgedehnter kommunaler Selbstverwaltung für ausreichend. Ausdrücklich lehnte er auch eine Bundesstaatslösung als übertrieben kompliziert ab.1526 Hieran knüpfte 1918 sein Schüler Wolzendorff an, der zwar die Konstituierung aller Nationen im Staat als besondere Körperschaften des öffentlichen Rechts empfahl, allerdings nur, damit sich diese Selbstverwaltungskörper effektiver um ihr kulturelles Eigenleben kümmern konnten.1527 Damit waren innerstaatliche Nationen auf eine lediglich 1520
Abgedruckt bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), Anhang A, Nr. 1, S. 177. 1521 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 94. 1522 Zitat bei Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 59 f. Hervorhebungen im Original. 1523 Vgl. hierzu seine „Drei-Elemente-Lehre“, Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 1272), S. 381 ff. 1524 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 94. 1525 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 60. 1526 Schücking, Das Nationalitätenproblem (Fn. 1509), S. 70 f. 1527 Wolzendorff, Nationalkataster, 1918, S. 26 ff.
II.
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kulturelle Selbstverwaltung verwiesen, sonstige staatliche, insbesondere obrigkeitliche Aufgaben und Zuständigkeiten blieben versagt. Beide Wissenschaftler stimmten darin überein, dass die Regelung von Nationalitätenfragen eine rein innerstaatliche Angelegenheit bleiben müsse und die Integrität der Staaten nicht angetastet werden dürfe. Eine Lösung sei ausschließlich im Staatsrecht zu finden. Wolzendorff machte deutlich, dass die Höchstgrenze nationaler Ansprüche von Vornherein durch die bestehende Staatsordnung gezogen sei. Das Recht einer Nation lautete demnach niemals Eigenstaatlichkeit, sondern Eigenleben innerhalb vorhandener Staatlichkeit und Ausgleich mit ihr.1528 Die Nationen seien danach „jur. Personen des Staats- nicht: Völkerrechts“.1529 Als oberstes Prinzip nicht zuletzt des Völkerrechtes galt Wolzendorff die Rechtssicherheit, woraus folge, dass als „unanfechtbarer Grundsatz des Völkerrechts zur Anerkennung gebracht werden [muss, P.B.], dass der Volksbestand eines Staates nicht unter dem Gesichtspunkt seiner nationalen Zusammensetzung einer Revision unterworfen werden kann.“1530 Auf dieser uneingeschränkten völkerrechtlichen Souveränität der Staaten beharrte die überwiegende deutsche Völkerrechtslehre, geprägt durch den Rechtspositivismus der Jahrhundertwende.1531 Auch der prominente Rheinstaatsanhänger und Völkerrechtler Stier-Somlo stand auf dem Grundsatz der Integrität der Staaten, verneinte ein Sezessionsrecht staatsinterner Nationen und stellte für eine denkbare staatliche Unabhängigkeit hohe materielle Hürden auf: Er stellte auf die tatsächliche Fähigkeit der entsprechenden Nationen ab, das heißt einen Staat sollten nur solche bilden können, die wirtschaftlich, kulturell und militärisch die Kraft dazu hätten. Für ihn zählten etwa die slawischen Nationen der k.u.k.-Monarchie gerade nicht dazu.1532 Der Selbstbestimmungsgedanke blieb weiterhin eng mit dem Begriff der Nation verbunden, faktisch blieb jedoch die Definition, welche Einheit als Nation anerkannt werden könne und welche eben nicht, eine rein real- und mithin machtpolitische. Zwar hatte ein national verstandenes Selbstbestimmungsrecht die Entstehung neuer Nationalstaaten wie Belgien (1830), Italien (1861) und nicht zuletzt des Deutschen Reiches (1871) begünstigt. Andererseits brachte das erwachte und plötzlich allgegenwärtige nationale Selbstbewusstsein Probleme für die europäischen Großmächte mit sich. Als Zurechnungsobjekt von Selbstbestimmungsüberlegungen war neben den originären Nationalstaat der „Nationalitätenstaat“1533 getreten, in erster Linie gegründet auf rationalistischen Erwägungen, nämlich Lebens- und Leistungsfähigkeit, 1528 1529 1530 1531 1532 1533
Wolzendorff, Nationalkataster (Fn. 1527), S. 11 f. Wolzendorff, Nationalkataster (Fn. 1527), S. 45. Wolzendorff, Nationalkataster (Fn. 1527), S. 4. Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 24. Stier-Somlo, Grund- und Zukunftsfragen deutscher Politik, 1917, S. 308 ff. Begriff bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 60.
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was in der Diskussion für einige Konfusion gesorgt hat. Heinrich von Sybel meinte sogar Ende des 19. Jahrhunderts: „[…] im Prinzip der Selbstbestimmung vermögen wir nichts zu erkennen als inhaltsleere Trivialität oder eine Lüge. […] Wenn zwei große Nationen ihre Konflikte nicht anders zu ordnen vermögen als durch eine Verbesserung ihrer bisherigen Grenzen, so müssen die Grenzbewohner ihre eigenen Gefühle zum Wohl der Gesamtheit opfern.“1534
III. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach dem Ersten Weltkrieg Das lange Jahrzehnte austarierte Gleichgewicht der europäischen zwischenstaatlichen Ordnung war durch den Weltkrieg zerstört worden. Es bestand ein Bedürfnis – nicht nur der Europäer –, nach internationaler Neuorientierung. An die Stelle des alten, dynastisch zusammenhängenden Staatensystems traten zunehmend sich neu etablierende Nationalstaaten, die untereinander in gegnerische Bündnisse, Pakte und Abkommen zerfielen; „[k]aum eine Grenze, die nicht umstritten war […].“1535 Die Ursachen des Krieges waren zwar unübersichtlich und vielgestaltig, dennoch traten in den Proklamationen und Darstellungen der Kriegs- und Friedensziele bei den kämpfenden Parteien die Fragen des Nationalitätsprinzips und des ethnischen Selbstbestimmungsrechts alsbald in den Vordergrund.1536 Zeitgleich wurde die militärstrategische Bedeutung dieser Grundsätze erkannt. In der Staatenpraxis war das Selbstbestimmungsrecht der Völker bis 1914 nahezu bedeutungslos geblieben;1537 es war schon gar nicht zu einem Prinzip des Völkergewohnheitsrechts erwachsen.1538 Bereits im August 1914 erklärte der britische Premierminister Herbert Henry Asquith, Großbritannien kämpfe für das Prinzip, dass „kleine Nationalitäten nicht unter Herausforderung des internationalen guten Glaubens durch den eigenmächtigen Willen einer überwältigenden Macht zermalmt werden dürften“.1539 Dabei dürfte Asquith in erster Linie an Belgien und Serbien gedacht haben. Die Prinzipiendeklaration von Winston Churchill vom 11. September 1914 ging inhaltlich nicht über die Erklärung Asquiths hinaus.
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Sybel, Kleine historische Schriften, 1880, S. 532. Vgl. Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte (Fn. 1350), S. 295. 1536 So auch Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 97. 1537 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 133. 1538 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 10 f. 1539 Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 97. 1535
III.
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Auf deutscher Seite wurde vor allem publizistisch zwar auf die versagte Selbstbestimmung der Iren, Flamen, Buren, Inder und anderer Völker unter britischer Herrschaft hingewiesen, doch fehlten offizielle Äußerungen,1540 geschweige denn ein einheitliches Konzept von dem, was ein Selbstbestimmungsrecht ausmachen könnte. Gewiss ging man seitens der Reichsführung nicht davon aus, dass der Selbstbestimmungsgedanke zu einem prominenten Prinzip in späteren Friedensverhandlungen werden würde. Erst das Jahr 1918 brachte den „Durchbruch des Selbstbestimmungsgedankens“.1541 Als mögliches gestaltendes Prinzip der internationalen Ordnung erlangte die Idee des Selbstbestimmungsrechts eine Bedeutung in den Friedensschlüssen nach dem Weltkrieg. Es empfahl sich vor allem als innovative, zugleich demokratische Neuordnungsidee für das postimperiale Europa; die Lage der überseeischen Kolonien der europäischen Mächte übersah man dabei stets geflissentlich.1542 Die Führer gleich zweier Großmächte, nämlich der Vereinigten Staaten und des nunmehr bolschewistischen Russlands, entwickelten eigene Konzeptionen für eine neue Weltordnung.1543 Selbstbestimmung schien dabei die Verheißung zu sein, eine vernünftige und andauernde Neuregelung der staatlichen Verhältnisse im europäischen Mächtesystem zu ermöglichen.1544 Hierbei zielte gerade die westliche Konzeption Wilsons, jedenfalls in ihrer Rhetorik, darauf ab, die Grundlage für eine friedliche Neuordnung Europas zu schaffen.1545 Und ein Memorandum des britischen Foreign Office aus dem Jahr 1916 sprach davon, dass das Nationalitätsprinzip (principle of nationality) einer der bestimmenden Faktoren bei der Erörterung territorialer Abmachungen nach dem Krieg sein solle.1546 Überhaupt schienen im Ersten Weltkrieg die idealistischen Kriegszielvorstellungen dahin zu gehen, dass der künftige Frieden am besten gewahrt werde durch einen weitgehenden Verzicht auf übermäßige Belastungen der militärisch Unterle-
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Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 97. Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 17; ähnlich Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 137. 1542 Vgl. Bredow, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwischen Politik und Recht, in: Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn, Dietrich Murswiek (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau, 2013, S. 22. 1543 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1544 Kluke, Selbstbestimmung (Fn. 1351), S. 15. 1545 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 58 f.; Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 18: „Das Selbstbestimmungsrecht wurde zum obersten Prinzip des Friedensschlusses […].“ 1546 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 98 f. 1541
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genen. So waren Lenins und Wilsons Friedensprogramme und die Forderung eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen hierfür charakteristisch.1547 Gleichzeitig erwies sich der Ruf nach selbstbestimmter nationaler Einigung jedoch als probates Mittel, um den Kriegsgegner innenpolitisch in Bedrängnis zu bringen.1548 Die hegemonialen Großmächte Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Russland waren militärisch geschlagen worden und damit waren stets auch die Hoffnungen nationalistischer Revolutionäre verbunden gewesen. Am 22. März 1915 beschrieb der britische Außenminister Sir Edward Grey das (jedenfalls) angloamerikanische Leitbild für ein Nachkriegseuropa wie folgt: „Wir wollen, daß die Nationen Europas frei sind, ein unabhängiges Leben zu führen, ihre eigene Regierungsform zu bilden wie ihre nationale Entwicklung in voller Freiheit zu bestimmen, gleich ob als große Nationen oder kleine Staaten. Dies ist unser Ideal. Wir nehmen für uns ebenso wie unsere Alliierten für sich das Recht in Anspruch, eine nationale Existenz zu haben, und wir werden gemeinsam für Europa das Recht unabhängiger Souveränität der verschiedenen Nationen sichern, nicht im Schatten der Preußischen [sic!] Hegemonie und Suprematie, sondern im Licht der Freiheit und Gleichheit.“1549 Mit Recht sieht Boysen – in Parallele zum Prinzip der Volkssouveränität – das Recht auf Selbstbestimmung als „Ableitungskonstruktion“ für die Legitimation von Herrschaft nach innen und außen: „Es erstaunt insoweit nicht, dass das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht zu einem Zeitpunkt auf die Agenda trat, in dem die legitimatorische Kraft des Krieges als Rechtfertigung sowohl von Veränderung als auch der Beständigkeit der Staatenordnung immer mehr schwand.“1550 Bereits bekannte Ideen und vage Prinzipien von Selbstbestimmung und ethnischer bzw. nationaler Autonomie erfuhren am Ende des Ersten Weltkriegs der Sache nach eine „naturrechtliche Überlagerung“, als man sich an der Idee des Rechts orientierte, um universelle Grundsätze in einer internationalen Friedensordnung dauerhaft durchzusetzen.1551 Gleichwohl blieb „Selbstbestimmung“ lediglich ein Prinzip, das es noch nicht zum Rang geltenden Völkerrechts brachte.1552 Dennoch darf die gleichzeitige Internationalisierung der Verhältnisse nicht übersehen werden, die durch den Weltkrieg eine kurzzeitige Versteinerung erfahren 1547
Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, 2001, S. 27. Fisch meint jedoch, dass es stets nur beim „Schlagwort“ geblieben sei, vgl. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 18. 1548 So auch Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1549 Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 98. 1550 Boysen, Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Demokratie (Fn. 1477), S. 81. 1551 Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, 2001, S. 35. 1552 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 166.
III.
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hatte. Renner schrieb 1918: „Die Welt ist heute ebenso international wie national, ja sie wird faktisch täglich internationaler, je moderner sie wird.“1553 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatte durch seine Prominenz selbst für die Rheinlandbewegung an Anziehungskraft gewonnen. Es fragte sich nur, was man im Rheinland unter dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verstand.
1. Das Selbstbestimmungsrecht nach Lenin und die sozialistische Konzeption Seit 1848 war mit der Verbreitung des „Kommunistischen Manifests“ von Karl Marx die Grundannahme geprägt worden, dass der Arbeiter kein Vaterland habe und man ihm daher nicht entziehen könne, was er ohnehin nicht besitze. Bereits im Jahre 1845 hatte Friedrich Engels geschrieben: „Die Bourgeoisie hat in jedem Lande ihre Spezialinteressen und kann, da ihr das Interesse das Höchste ist, nie über die Nationalität herauskommen. Die Proletarier aber haben in allen Ländern ein und dasselbe Interesse, einen und denselben Feind […] vor sich; die Proletarier sind der großen Masse nach schon von Natur ohne Nationalvorurteile und ihre ganze Bildung und Bewegung ist wesentlich humanitär, antinational. Die Proletarier allein können die Nationalität vernichten […].“1554 Weil die Nation eine „bourgeoise“ Erfindung bzw. eine Folge des kapitalistischen Systems sei, komme ein Selbstbestimmungsrecht niemals dieser, sondern nur dem weltweiten Proletariat zu.1555 Marx und Engels entwickelten ein Selbstbestimmungsrecht demnach auf der Grundlage des proletarischen Klassenstandpunktes.1556 Diese Feststellung allein bleibt für ein weitergehendes Verständnis der marxistisch-leninistischen Lesart des Nationalitätsprinzips jedoch irreführend. Zwei Thesen knüpfen an dieses Dogma der proletarischen „Vaterlandslosigkeit“ an: Zum einen, dass sich nationale Unterschiede und Gegensätze im Zuge der allgemeinen Entwicklung – das heißt, des Klassenkampfes – nach und nach auflösen würden. Zum anderen, als Kern der marxistischen Klassenkampfannahme, dass es die eigentliche Aufgabe des Proletariats sei, sich durch die Eroberung der Herrschaftsgewalt, vor allem durch Ausübung der Diktatur, zu einem nationalen Element zu machen: „Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch 1553 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 34. 1554 Zitat nach Mehring, Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, Engels und Lasalle, 1902, S. 406. 1555 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1556 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 33.
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national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“1557 Der sozialistische Völkerrechtler Arzinger stellt hierzu fest: „Keine Klasse kann die ihr historisch übertragenen Aufgaben lösen, ohne ihre politische Herrschaft, ihre staatliche Macht zu konstituieren.“1558 Im Grunde lässt sich sagen, das kurzfristige Ziel der marxistischen Bewegung war tatsächlich eine Mobilisierung aller, auch der kleinsten Nationen gegen hegemoniale Herrschaftsordnungen, wobei es längerfristig um die Aktivierung der alle Nationalitäten übergreifenden Arbeiterklasse ging. Gerade die sozialdemokratisch-marxistischen Kreise beteiligten sich daher intensiv an der Nationalitäten- und Selbstbestimmungsdebatte, insbesondere in den Vielvölkerstaaten Russland und Österreich-Ungarn. Weil sie internationalistisch dachten, strebten sie nach einem Ausgleich zwischen den Nationalitäten. Fisch stellt fest: „Wer die Einheit der Arbeiterklasse und den Sieg der Revolution wollte, musste die Nationalitäten miteinander versöhnen.“1559 Hiernach wurde das Gebilde der Nation nicht per se geleugnet, sondern in seiner historischen Bedeutung relativiert und auf eben dieses Gebiet eingeengt, dessen Grenze sozioökonomisch, da durch den Klassenbegriff „Proletariat“, definiert war. „Volk“ meinte nunmehr ausschließlich die Proletarier, denn die Bourgeoisie habe sich faktisch selbst aus dem Volke ausgeschlossen. Das so entstandene klassenlose „Volk“ aber, das rein proletarisch sei und innerhalb dessen mithin die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ abgeschafft sei, galt als Abbild ein und derselben großen „Menschheitsfamilie“: „[…] die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker [sind verschwunden, P.B.]. Mit dem Gegensatz der Klassen im Inneren der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“1560 Unter „Separatismus“ wurde hiernach das Ausscheiden aus der „Klassenfront“ verstanden.1561 Diesem marxistischen Theorem folgte die deutsche Sozialdemokratie bis in den Ersten Weltkrieg hinein.1562 In den polyethnischen Staaten Österreich-Ungarn und Russland hingegen fand sich auch die sozialistische Bewegung dem Nationalitätenproblem gegenüber und man überlegte, wie der sozialistische Zukunftsstaat die nationale Frage dogmatisch stimmig lösen konnte. Es ist bereits beschrieben worden, wie die Austromarxisten Bauer und Renner auf dem Wege der kulturellen Autonomie der Nationen innerhalb des gewordenen Gesamtstaates der Donaumonarchie vorangehen wollten.1563 1557 Engels/Marx, Manifest der kommunistischen Partei, in: Manfred Kliem, Horst Merbach, Richard Sperl (Hrsg.), Marx-Engels-Verzeichnis, 1974, S. 459 ff., Kap. II. 1558 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 14. 1559 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 134. 1560 Zitate bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 45. 1561 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 61. 1562 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 25. 1563 Siehe hierzu eingehender Kapitel E.II.
III.
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Die Gegenposition zum eher kulturellen Personalprinzip austromarxistischer Prägung nahmen die russischen Bolschewiki um Wladimir lljitsch Lenin und Josef Stalin ein. Sie formulierten ein weitgehendes Kollektivrecht von Völkern auf nationale Souveränität im Sinne einer völligen Unabhängigkeit. Bereits 1903 hatte Lenin im sozialdemokratischen Parteiprogramm in Artikel neun „das Selbstbestimmungsrecht für alle Völker, die zum Staatsverband [des russischen Reiches, P.B.] gehören“, gefordert.1564 Damit waren die russischen Sozialisten sehr früh von einem normativen Gehalt der Selbstbestimmungsidee ausgegangen, gleichwohl ohne sich um die praktische Verwirklichung allzu viele Gedanken zu machen. Deutlich unterschieden wurde zwischen einem (abstrakten) Recht auf Selbstbestimmung und dessen Wahrnehmung. So schrieb Lenin: „Die bedingungslose Anerkennung des Kampfes für die Freiheit der Selbstbestimmung verpflichtet uns keineswegs, jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung zu unterstützen.“ Es ging ihm vielmehr darum, „die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nationalität zu fördern.“1565 Der Zar hatte sich stets gegen eine Föderalisierung des Großreiches gewehrt, wogegen sich unter den eingegliederten Völkern Widerstand regte. In dem Wissen um dieses Konfliktpotenzial hatten sich Lenin und Stalin mit dem Nationalitätenproblem auseinandergesetzt und ein vergleichsweise simples Konzept zum Selbstbestimmungsrecht ausgearbeitet, welches zunächst an die theoretischen Vorlagen der österreichischen Linken anknüpfte.1566 Bereits im Jahre 1913 hatte Lenin seinen Genossen Stalin nach Wien entsandt, um Informationen und Stimmungen zur Nationalitätenfrage zu recherchieren, die bereits seit Jahren virulent geworden war. In einer intellektuellen Auseinandersetzung insbesondere mit der jüdischen sozialdemokratischen Organisation „Bund“ formten Lenin und Stalin vor 1917 ein kommunistisches Selbstbestimmungspostulat.1567 Dabei gingen sie von den existierenden Staaten als einer realen Bedingung aus, sie entwarfen also keine staatenlose, idealistische Konzeption. Lenin machte das nationale Selbstbestimmungsrecht vielmehr zur Vorbedingung einer erfolgreichen Weltrevolution.1568 Die russische Revolution schrieb sich sodann 1917 – und damit zeitlich etwas früher als die Westalliierten – das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung auf ihre Fahnen.1569 So hieß es in der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“, die der Rat der Volkskommissare am 15. November 1917 verabschiedete: „1. Gleichheit 1564
Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 136. Zitate bei Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 138. 1566 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 75. 1567 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 95. 1568 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 17. 1569 Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 17. 1565
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und Souveränität der Völker Rußlands; 2. Das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung, die bis zur Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates gehen kann; 3. Abschaffung aller nationalen und national-religiösen Vorrechte; 4. Freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnischen Gruppen, die auf russischem Gebiet leben.“1570 Das in Punkt zwei dieser Deklaration anerkannte „Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung“, das bis zur völligen Lostrennung und Bildung eines unabhängigen Staates reichen konnte, schlug sich später in der Verfassung der UdSSR als zumindest theoretisch verbürgtes Sezessionsrecht für jede Unionsrepublik nieder.1571 Dieser Erklärung vorausgegangen war im Mai 1917 ein Appell des Petersburger Sowjets an die Sozialisten aller Länder, wonach man gemeinsam für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker streiten wolle. „Damit war die Formel des Selbstbestimmungsrechts zu einer revolutionären Parole geworden.“1572 Ganz im Sinne des Internationalismus fand die russische Erklärung von 1917 auch Beachtung bei den deutschen Unabhängigen Sozialdemokraten, die am 11. Juli 1917 einen Beschlussvorschlag in den Reichstag einbrachten, in dem es hieß: „Der Reichstag erstrebt einen Frieden ohne Annexionen irgendwelcher Art und ohne Kriegsentschädigung auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Er erwartet insbesondere die Wiederherstellung Belgiens und die Wiedergutmachung des ihm zugefügten Unrechts.“1573 Wie zu erwarten war, wurde diese USPD-Entschließungsvorlage von der Mehrheit abgelehnt. Indes zeigte sich in dieser Initiative, dass die russischen Bolschewisten für den Unabhängigkeitswillen der Völker eine wirksame „Propagandaformel“ gefunden hatten.1574 Anders als seine österreichischen Genossen, setzte Lenin nicht auf das Personalitätsprinzip, sondern legte seiner Selbstbestimmungsidee ein konsequentes Territorialprinzip zugrunde.1575 Dies hatte zumindest den Vorteil der Verständlichkeit und Klarheit, etwa im Gegensatz zu den wenig präzisen Formulierungen der westlichen Ententemächte und insbesondere Wilsons.1576 Vor allem für die Einzelnationalitäten des Russischen Reiches forderte er ein Recht auf Eigenstaatlichkeit.1577 1570
Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 78. Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1572 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 101. 1573 Anonym, Achte Kriegstagung des Reichstags, in: Deutscher Geschichtskalender 32 (1917), S. 75. 1574 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 26. 1575 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 56. Lenins einschlägige Schriften sind zusammengestellt in Lenin, Über die nationale und die koloniale Frage, 1960. 1576 So auch Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 151. 1571
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Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bestand für Lenin ausschließlich mit dem Inhalt, selbständige Nationalstaaten bilden zu können. Er wandte sich gegen alle Versuche, dem Selbstbestimmungsprinzip einen anderen Inhalt, der nicht den aus seiner Sicht entscheidenden ökonomischen Faktoren gerecht werden würde, zu geben. Dabei lehnte er es insbesondere ab, das Selbstbestimmungsrecht als Recht auf bloße kulturelle Autonomie umzudeuten.1578 Gleichzeitig forderte er ein mit der Selbstbestimmung korrelierendes und damit weitreichendes Sezessionsrecht. Damit kommt im Grunde Lenin die Pionierrolle in der Sache des Selbstbestimmungsrechtes zu1579 und nicht, wie gemeinhin angenommen, Wilson. Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht stand im Grunde schon vor 1914 fest, während Wilson wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal von einem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gehört hatte.1580 Auch Rabl schreibt: „Das Schlagwort vom ,Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ ist ursprünglich ein antidynastisch-revolutionärer Kriegsruf des Marxismus.“1581 Inhaltlich war die sozialistische Konzeption des Selbstbestimmungsrechts sogar weiter und universalistischer gedacht, als die westliche Ausformung. So hatte Lenin 1916 die „sofortige bedingungslose und entschädigungslose Befreiung der Kolonien“ gefordert,1582 was Wilson mit Rücksicht auf die europäischen Verbündeten nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres, mittragen konnte. Dieser weigerte sich beständig, überhaupt Delegationen der Kolonialvölker offiziell zu empfangen.1583 Eine der bekanntesten, an objektiven Merkmalen orientierten Definitionen des Rechtsträgers des Selbstbestimmungsrechts stammt von Stalin aus dem Jahr 1913. Hiernach sei eine Nation „eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“1584 Diese objektive Definition bedeutete eine teilweise Abkehr von der Auffassung Engels und eine Einschränkung derselben, hatte doch Engels noch von „wirklichen 1577 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 57. 1578 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 49. 1579 So auch Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 57; Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 151. 1580 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 138. 1581 Rabl, Woodrow Wilson und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 98 (1938), S. 125. 1582 Lenin, Über die nationale und die koloniale nationale Frage, 1960, S. 321. 1583 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 58. 1584 Stalin, Marxismus und nationale Frage, in: Ders. (Hrsg.), Werke 1951, S. 272.
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natürlichen Grenzen“ gesprochen, die „durch Sprache und Sympathien“ definiert seien.1585 Der Hinweis auf Sympathien spricht für eine ursprünglich subjektive Bestimmung des Rechtsträgers. Weniger antinational als nach der sozialistischen Tradition zu vermuten, befürworteten Lenin und Stalin jedoch die organisatorische Verselbständigung geschlossener Volksgebiete. Zentral war dabei das Recht auf Gebrauch der eigenen Sprache im öffentlichen Leben innerhalb eines solchen Gebiets.1586 Lenin in seiner Sezessionskonzeption folgend, geht auch Stalin davon aus, dass es diesen geschlossenen Einheiten nach außen hin freistehen muss, sich in ein föderatives System einzugliedern oder einen gänzlich eigenen Staat zu bilden: „Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten […]. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen.“1587 Diesem weitgehenden Sezessionsrecht entsprach indessen ein enges Verständnis territorialer Verbundenheit und Integrität, in der obigen Definition Stalins „Gemeinschaft […] des Territoriums“ genannt. So verwarf der Leninismus extraterritoriale Minderheitenrechte, denn nur das geschlossen siedelnde Volk solle sich auf das Nationalitätenprinzip berufen können und nur so weit, wie sich sein Siedlungsgebiet erstreckte.1588 Wohl die Tragweite ihrer eigenen Ausformung des Selbstbestimmungsgedankens erfassend, präzisierte eine nach einem Referat Stalins gefasste Entschließung der bolschewistischen Partei vom Frühjahr 1917: „Die Frage des Rechts auf freie Lostrennung darf nicht verwechselt werden mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Lostrennung dieser oder jener Nation in diesem oder jenem Augenblick. Diese letztere Frage muss von der Partei des Proletariats in jedem einzelnen Fall vollkommen selbständig gelöst werden – und zwar vom Standpunkt der Interessen der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfs des Proletariats zur Verwirklichung des Sozialismus […].“ Somit bestand das grundsätzlich anerkannte Recht auf Selbstbestimmung und Sezession nur unter dem Vorbehalt der Einzelfallgenehmigung durch die bolschewistische Staatspartei. Der weitreichende ursprünglich idealistisch-naturrechtliche Ausgangspunkt der Stalinschen Staatsdefinition war letztlich einer realistischen Staats- bzw. Klassenräson gewichen. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes stand als Mittel zum Zweck der Weltrevolution unter dem immanenten ideologischen Vorbehalt, dass es niemals als Recht der Bourgeoisie ausgelegt werden durfte, sondern ausschließlich als Recht der werktätigen Massen im jeweiligen
1585 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 35. 1586 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 61. 1587 Stalin, Marxismus und nationale Frage (Fn. 1584), S. 330. 1588 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 61.
III.
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Einzelfall.1589 Das Dogma der Volkssouveränität konnte die kommunistische Partei um ihrer selbst willen nicht anerkennen. Stalin erklärte hierzu: „Wer von der Selbstbestimmung der Völker spricht, der hat die Fiktion des Volkswillens vor den Augen, die zu einer Anfrage der Gesamtbevölkerung einschließlich der besitzenden Klasse ausartet. Wir aber stehen auf dem Standpunkt der Diktatur des Proletariats.“1590 In den Beratungen über das kommunistische Parteiprogramm im Januar 1918 erklärte Nikolai Bucharin, man solle der Genauigkeit halber vom „Selbstbestimmungsrecht der werktätigen Klassen jeder Nationalität“ sprechen.1591 Auf diesem Weg ließ sich der Deutungsvorbehalt der kommunistischen Partei ebendieser „Werktätigen“ konstruieren. Ob ein Volk seinen eigenen Staat erhalten oder behalten, ob es sich zu staatlicher Einheit fügen dürfe oder nicht, unterlag nicht mehr seiner eigenen Entscheidungsfreiheit, sondern wurde im Gesamtzusammenhang des sozialrevolutionären Weltprogrammes gesehen – und letztendlich von der bolschewistischen Parteiführung bewertet.1592 In Punkt neun des Parteiprogramms der Kommunistischen Partei vom 22. März 1919 war bereits nicht mehr vom Recht aller Völker auf Selbständigkeit die Rede, sondern nur mehr von der „Anerkennung des Rechts der Kolonien und der nicht gleichberechtigten Nationen auf staatliche Lostrennung“. Bei der Frage, „wer als Träger des auf Lostrennung gerichteten Volkswillens“ anzusehen sei, vertrete die KP den „historisch-klassenmäßig bestimmten Standpunkt“.1593 Dies konnte nur bedeuten, dass nicht mehr das gesamte betroffene Volk heranzuziehen sein würde, sondern nur ein Entscheidungsrecht des „Proletariats“ bestehe, also letztlich wieder der Kommunistischen Partei als dessen Vorkämpferin. In der Diktatur des Proletariats war demnach die Kommunistische Partei alleinig befugt, den „wahren Volkswillen“ zu artikulieren.1594 Offenbar ohne jede Skepsis beschreibt Arzinger präzise dieses sowjetische Selbstbestimmungsverständnis: „Da die Arbeiterklasse grundsätzlich nicht an der Lostrennung jeder einzelnen Nation und an der Bildung einer Vielzahl kleiner Staaten, sondern an der Vereinigung der Nationen in möglichst großen, von der Arbeiterklasse geführten Staaten interessiert ist [!], muß sie jeweils vom Standpunkt der sozialistischen Revolution aus entscheiden, ob die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch die Bildung eines Nationalstaates für diese oder jene 1589
S. 432. 1590
Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1998,
Zitat bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 74. 1591 Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 62. Hervorhebung durch Verf. 1592 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 63. 1593 Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 94. 1594 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 81.
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Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt zweckmäßig ist. Dieser Entscheidung sind die Interessen des proletarischen Kampfes für den Sozialismus in dem betreffenden Land und in der ganzen Welt zugrunde zu legen.“1595 Damit wurde die Konzeption des Selbstbestimmungsrechts dem Sozialismus untergeordnet und zu einem bloßen Mittel im Kampf für dessen Durchsetzung.1596 Arzinger formuliert es wiederum so: „Sie [Marx und Engels, P.B.] formulierten es [das Selbstbestimmugsrecht, P.B.] als politisches Prinzip für den Kampf der Arbeiterklasse, das heißt, es wurde von ihnen inhaltlich den auf den Sieg des Sozialismus gerichteten Interessen dieser Klasse untergeordnet.“1597 Dieser rein utilitaristische Standpunkt trat denn auch bei Lenin zutage, der im Januar 1918 schrieb: „[…] kein einziger Marxist kann, ohne mit den Grundsätzen und dem Sozialismus überhaupt zu brechen, bestreiten, daß die Interessen des Sozialismus höher stehen als die Interessen des Selbstbestimmungsrechts der Völker.“1598 Dieser Nihilismus ging so weit, dass Stalin einige Zeit später unumwunden eingestehen musste: „Von dem Grundsatz der Selbstbestimmung haben wir uns seit geraumer Zeit verabschiedet.“1599 Infolgedessen waren die damaligen neun autonomen Sowjetrepubliken und die vierzehn autonomen Gebiete der UdSSR keine politischen Gebilde, die der Integration und gegebenenfalls Emanzipation geschlossener Völker oder Volksgruppen dienten. Sie galten als bloße Übergangsstufe hin zum „sozialistischen Einheitsstaat“.1600 All dies führt Dörge zu dem Fazit, dass in der russischen Ideenwelt die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Autonomie“ nicht mehr als „politische Schlagworte“ gewesen sind.1601 Es ist daher nicht richtig, wenn Winrich Freiherr von Blittersdorf meint, die sowjetische Völkerrechtspraxis sei bei der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes eine „getreue Kopie […] theoretische[r] Erörterungen“ gewesen.1602 Jedenfalls von den ursprünglichen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzenden extensiven und objektiven Konzeptionen Lenins und Stalins hatte sich die Sowjetunion nach und nach entfernt.
1595 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 51. 1596 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1597 Arzinger, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart (Fn. 1468), S. 33. 1598 Zitat bei Kennan, Amerika und die Sowjetmacht, 1956, S. 258. 1599 Zitat bei Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 74. 1600 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 74. 1601 Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 75. 1602 Blittersdorf, Das internationale Plebiszit, 1965, S. 10.
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Ursprünglich dachte Lenin bei seinem Sezessionsrecht vor allem daran, dass die Randvölker Russlands das Joch des zaristischen Regimes durch Lostrennung würden abschütteln können, um sich sogleich der revolutionären Sache anzuschließen. Insofern stand das Loslösungsrecht auf derselben Stufe wie das Recht zur freien Vereinigung.1603 Dass sich indes eines Tages Subjekte aus der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken lossagen könnten, stand nicht zur Debatte, da eben in einem solchen Fall die Zweckmäßigkeit für die Verfolgung der Weltrevolution nicht gegeben war. Parallelen sieht Decker zwischen der Selbstbestimmungsdoktrin der sowjetischen und der ersten französischen Revolution von 1789. In beiden Fällen sei die nationale Selbstbestimmung zunächst als absolutes Recht proklamiert worden, in der konkreten, realpolitischen Anwendung jedoch seien zahlreiche Einschränkungen gemacht worden; stets begründet mit dem Vorrang des revolutionären Dogmas und des nationalen Interesses.1604 Nicht wie die sowjetrussischen Kommunisten unter realpolitischen Zwängen stehend, schrieb Karl Kautsky 1918, ganz der „reinen Lehre“ des ursprünglichen sozialistischen Selbstbestimmungskonzepts folgend: „Was ist aber der Kampf um die Demokratie anders als der Kampf um die Selbstbestimmung des Volkes, und wie ist eine internationale Demokratie anders möglich als dadurch, daß die Selbstbestimmung nicht nur für das Volk, dem man angehört, sondern für alle Völker in gleichem Maße gefordert wird?“1605 Dies deutet darauf hin, dass sich unter deutschen Sozialisten, jedenfalls in intellektuellen Kreisen, der Selbstbestimmungsgedanke verstärkt mit der allgemeinen Demokratiebewegung verband. Schon 1859 hatte Ferdinand Lassalle dargelegt: „Der Begriff der Demokratie bedeutet nichts anderes als Selbstgesetzgebung des Volkes nach innen. Woher aber sollte das Recht der Autonomie nach innen kommen, wenn nicht zuvor das Recht auf Autonomie nach außen, auf freie, vom Ausland unabhängige Selbstgesetzgebung eines Volkslebens vorausginge? Das Prinzip der freien, unabhängigen Nationalitäten ist also die Basis und die Quelle der Demokratie überhaupt.“1606 Wenn auch nicht inhaltlich, so konnte sich der Leninsche Begriff vom Selbstbestimmungsrecht jedoch sprachlich durchsetzen. Dies lag insbesondere daran, dass die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption im Gegensatz zu anderen, höchst abstrakten Ansätzen eine „fassbare Klarheit“ aufwies, sowie verständlich und einprägsam war.1607 1603
Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 11. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 79. 1605 Kautsky, Die Befreiung der Nationen, 4. Aufl. 1918, S. 5. 1606 Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 90. 1607 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 12. 1604
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Die Mittelmächte sahen sich gezwungen, die populäre Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker aufzunehmen, weil es einen enormen politischen Prestigeverlust bedeutet hätte, sich ihr zu widersetzen. Man konnte nach dem Ersten Weltkrieg das Selbstbestimmungsrecht nicht mehr zurückweisen und negieren; man konnte lediglich versuchen, es zugunsten der eigenen Ziele in Stellung zu bringen. Gerade weil sie weitgehend und radikal gewesen ist, konnte die Konzeption Lenins und der Bolschewisten zu Popularität gelangen. Sie setzte sich im allgemeinen Verständnis durch und so wurde das Selbstbestimmungsrecht als ein Recht auf völlige nationale Unabhängigkeit und Sezession verstanden, nicht nur auf gewisse Autonomie oder bloße Selbstregierung.1608 Auf diese „zündende Formel“1609 Lenins musste der Westen reagieren, wollte er mit Blick auf die anstehenden Friedensverhandlungen nicht moralisch und konzeptionell ins Hintertreffen geraten.
2. Das Selbstbestimmungsrecht im Wilson-Programm und die westliche Konzeption Bereits am 10. Januar 1917 hatten die Alliierten in einer von Philippe Berthelot entworfenen Note an den amerikanischen Präsidenten Wilson den Plan entworfen, eine Reorganisation Europas auf der Grundlage der Achtung der Nationen herbeizuführen.1610 Dabei griffen sie Gedanken des britischen Außenministers Grey auf, der am 23. Oktober 1916 von einem „Recht auf freie Entwicklung [der Staaten, P.B.] unter gleichen Bedingungen“ gesprochen hatte.1611 Noch lange vor dem Waffenstillstand, nämlich am 2. März 1918, erklärten die alliierten und assoziierten Mächte gegenüber Delegierten des polnischen „Comité superieur du 2ième Corps Polonais“: „Die Unterzeichner erklären auf der Grundlage feierlicher Zusicherungen der Regierungschefs der Entente […], daß jeder hinter dem Rücken der Entente und im Widerspruch zum Nationalitätsprinzip geschlossene Friedensvertrag null und nichtig ist […].“1612 Als eine solche „feierliche Zusicherung“ ist das Friedensprogramm der Vierzehn Punkte von Wilson einzuordnen. Er selbst hat das Selbstbestimmungsrecht, das heute insbesondere mit seinem Namen verbunden wird, freilich nicht selbst „erfunden“,
1608
Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 150 f. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 151. 1610 Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 16 f. 1611 Zitate bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 98. 1612 Rec. Act. Dipl. Dokument No. 196, S. 400, Auszug bei Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 17. 1609
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sondern er hat sich relativ spät dazu bekannt. Es ist anzunehmen, dass ihm der Selbstbestimmungsgedanke noch 1917 fremd gewesen sein dürfte.1613 Schöning meint, dass Wilson das Thema „unter dem Eindruck der russischen Ereignisse“ aufgegriffen habe.1614 Es ist in der Tat davon auszugehen, dass dem USamerikanischen Präsidenten die populäre bolschewistische Konzeption des Selbstbestimmungs- und Sezessionsrechts bekannt war.1615 Nach Decker war die spätere Vierzehn-Punkte-Erklärung Wilsons ein „Ersatz“ für ein gescheitertes gemeinsames westliches Gesamtfriedensprogramm, das man Lenin entgegenhalten wollte.1616 Jedenfalls nicht zutreffend – insbesondere vor dem Hintergrund der marxistischleninistischen Ausarbeitungen – ist die Einschätzung Freiherr von Blittersdorfs, wonach Wilson „der im letzten Jahrhundert theoretisch und praktisch maßgebende Verfechter des Selbstbestimmungsrechts“ gewesen sei.1617 Der Zeitgenosse und Reichstagsabgeordnete Ernst Müller-Meiningen schrieb 1918, dass „jetzt für die Fremdvölker im Osten durch die große russische Revolution das ,Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ aus dem phraseologischen in den Wirklichkeitsbereich gebracht wurde“.1618 Hieran zeigt sich, dass die reichsdeutsche Politik im Grunde zum ersten Mal durch die bolschewistischen Revolutionäre mit dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts konkret-politisch in Berührung kam, womit sich womöglich die grundsätzliche Skepsis der Deutschen gegenüber Wilsons nachfolgenden Konzeptionen erklärt. Der früheste bekannte Beleg stammt aus einer Kongressrede („Four Principles“) vom 11. Februar 1918: „Self-determination is not a mere phrase. It is an imperative principle of action.“1619 Am 6. April 1918 proklamierte er, dass “das freie Selbst1613
Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 151. Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1615 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 154. Noch einen Schritt weiter geht Klaus Schwabe, wenn er meint, Wilson habe seine Vierzehn Punkte unausgesprochen an Lenin gerichtet, vgl. Schwabe, Die deutsche Friedensstrategie in Versailles, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, 2001, S. 73. 1616 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 101. 1617 Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 1. In der US-amerikanischen Geschichtswissenschaft ist von einem „Wilsonian Moment“ die Rede, der die Periode vom Kriegseintritt der USA im April 1917 bis in die unmittelbare Nachkriegszeit maßgeblich kennzeichne, vgl. Frey, Selbstbestimmung und Zivilisationsdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik 1917 – 1950, in: Jörg Fisch (Hrsg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2011, S. 158. 1618 Müller-Meiningen, Der Reichstag und der Friedensschluß, 1918, S. 33. 1619 Zitat bei Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 57. Der ganze hier interessierende Redeauszug findet sich übersetzt bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 82: „[…] Nationale Bestrebungen müssen berücksichtigt werden, Völker können von nun an nur mehr mit ihrer Zustimmung [by their own consent, P.B.] beherrscht werden. ,Selbstbestimmung‘ ist kein bloßes Wort, sondern ein zwingender Grundsatz des Handelns 1614
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bestimmungsrecht der Nationen” der Grundsatz sei, auf dem die ganze moderne Welt ruhe.1620 In seiner wirkungsvollsten und populären Friedensbotschaft, der besagten Vierzehn-Punkte-Erklärung vom 8. Januar 1918,1621 in der zu fast allen betroffenen europäischen Staaten und Völkern Aussagen aufgeführt waren, fand sich der Ausdruck „Selbstbestimmung“ allerdings noch nicht, obwohl er in der sozialistischen Ideengeschichte längst geläufig war. Zwar ist in Punkt zehn die Rede von „autonomous development“ der „peoples of Austria-Hungary“ und es wird eine Grenzziehung zwischen Italien und Österreich gefordert, die „clearly recognizable lines of nationality“1622 (neunter Punkt) folgen solle, aber ein ausdrückliches Recht auf Selbstbestimmung war hierin nicht zu erblicken.1623 Nicht nur gegenüber Lenin, auch gegenüber seinen alliierten und assoziierten Verbündeten Großbritannien, Frankreich und Italien sah sich Wilson zur Reaktion veranlasst. Die europäischen Mächte hatten sich nämlich in fünf Geheimverträgen zwischen 1915 und 19171624 allerlei Gebietszusagen gemacht, die eklatant gegen das Nationalitäts- und Selbstbestimmungsprinzip verstießen. Es waren Gebiete an Italien, Russland und Rumänien versprochen, sowie die Aufteilung Kleinasiens, Syriens und Mesopotamiens vorgesehen worden.1625 Vorsorglich hatten die Europäer indes darauf verzichtet, Wilson über den Inhalt ihrer Abkommen zu unterrichten, so dass dieser bezeichnenderweise erst Ende 1917 durch die Moskauer „Prawda“ davon erfuhr.1626 Damit war der amerikanische Präsident mit seinen hehren Zielen brüskiert worden und es deutete sich an, dass die Alliierten und Assoziierten keine gemeinsame Konzeption verfolgten. Wollte Wilson also einen nach seinen Maßstäben dauerhaften Frieden in Europa erreichen, musste er nun konzeptionell nachziehen und seine Verbündeten auf diese Pläne verpflichten. Er hoffte dabei, den offensichtlichen Widerspruch zwischen seinen idealistischen Prinzipienerklärungen und den geheimen Abmachungen seiner europäischen Verbündeten auf einer zukünftigen Friedenskonferenz überwinden zu können, wenn sie sich nicht gar schon im Verlaufe des Krieges den amerikanischen [imperative principle of actions, P.B.], den Staatsmänner jetzt nur mehr auf eigene Gefahr mißachten werden.“ 1620 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 111. 1621 Vgl. Wilson, The Fourteen Points Speech, in: Frances Farmer (Hrsg.), The Wilson Reader, 1956, S. 179. Die hier interessierenden Punkte auch bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 80 f. 1622 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 80: „Die italienischen Grenzen sind entsprechend klar erkennbarer Volkstumslinien zu berichtigen.“ 1623 So auch Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 137. 1624 Vgl. etwa britisch-französisch-russisch-italienischer Vertrag v. 26. April 1915; britischfranzösisch-russisches Abkommen über die Türkei (1915 und 1916); französisch-russisches Abkommen v. 14. Februar 1917 über Deutschland. 1625 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 100. 1626 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 75.
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Friedensplänen unterordnen ließen.1627 Unmittelbar gerichtet waren Wilsons Selbstbestimmungsforderungen jedoch an die reichsdeutsche und deutsch-österreichische Adresse.1628 Ganz in der westlich-konstitutionellen Tradition verhaftet, verstand Wilson das Selbstbestimmungsrecht zunächst als (eingeschränktes) Recht auf rein innenbezogene Selbstregierung („self-government“) und nicht in erster Linie als Recht auf staatliche Selbständigkeit, auf äußere Souveränität.1629 Anders als die Ost- und Mitteleuropäer kannten die US-Amerikaner keine Nationalitätenprobleme, und die Vereinigten Staaten waren kein Vielvölkerstaat wie etwa Österreich-Ungarn oder Russland – die amerikanischen Ureinwohner als potenzielle „Nationalitäten“ einmal ausgeklammert. Im Januar 1917 sprach Wilson von dem Grundsatz, „dass alle gerechten Machtbefugnisse der Regierungen aus der Zustimmung der Regierten abzuleiten sind“ und davon, dass jedes Volk die Freiheit besitzen solle, „seine eigene politische Ordnung […] zu bestimmen“.1630 In seiner Rede zum Kriegseintritt vom 2. April 1917 hieß es: „We will fight for […] the right of all those who were subjected to superior domination to have a voice in the governance of their country.“1631 Wilson folgte dabei dem amerikanischen Verfassungsideal des „consent of the governed“, wonach ein Recht zur Ablösung einer Regierung bestehe, wenn diese nicht mehr zum Wohl des Volkes wirke.1632 Im Kern war somit die „Legitimationsbedürftigkeit aller öffentlichen Gewalt“1633 angesprochen und das Recht der inneren Selbstbestimmung, nämlich der demokratischen Mitbestimmung, zum Thema gemacht. Ein Selbstbestimmungsrecht der Völker konnte nur unter der Prämisse demokratischer Verhältnisse bestehen. So lag die Ursache des in Europa ausgebrochenen Weltkrieges für Wilson nicht zuletzt in der Herrschaft der undemokratischen, verdorbenen Regierungen, die das Volk verführt hätten.1634 Aus diesem Grund hatte sich der Präsident im Oktober 1918 geweigert, mit dem deutschen Kaiser Waffenstillstandsverhandlungen zu führen. Freiherr von Blittersdorf geht davon aus, dass sich Wilsons Angriffe im Wesentlichen 1627 1628
S. 10.
Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 100. Ermacora, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts im Völkerrecht (Fn. 1401),
1629 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 57. 1630 Zitate bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 109. 1631 Zitat bei Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 132. 1632 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1633 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 75. 1634 Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 3.
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gegen die Regierungsform monarchischer oder sonst autokratischer Staaten richteten.1635 Wilson bediente sich der Begrifflichkeiten „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, „Zustimmung der Regierten“ und „freie Annahme durch das unmittelbar betroffene Volk“ letztlich mit inhaltlich gleicher Bedeutung. Revolutionär war der für die Nationalitätenfrage wichtige völkerrechtlich gedachte Grundsatz der „Gleichberechtigung der Völker“ („equal rights“), unabhängig von deren staatlicher Organisation. Hier klang an, dass neben den existierenden Staaten auch Völker und Nationen prinzipiell als Völkerrechtssubjekte anerkannt werden könnten.1636 Das Selbstbestimmungsrecht bestand nach der westlichen Auffassung zunächst individuell, nicht kollektiv. Nämlich als Recht des Individuums auf Schutz seiner freien Entfaltung, der gleichberechtigten Mitwirkung am staatlichen Leben; woraus aber auch eine Mitverantwortung erwuchs und eine grundsätzliche Loyalität zum Staat, jedenfalls solange dieser die „Rule of Law“ achtete.1637 Daraus erklärt sich Wilsons Skepsis und seine spätere Ablehnung gegenüber einem Sezessionsrecht. Verstärkt worden war diese Haltung nicht zuletzt durch den Eindruck des amerikanischen Bürgerkriegs von 1861 bis 1865, in dem die Lostrennung der Südstaaten nur durch einen hohen Blutzoll abgewendet werden konnte. Es lässt sich der Grundzug beobachten, dass der US-Präsident unter „Selbstbestimmungsrecht“ nicht das Recht verstand, sich als Bevölkerungsteil von einem bestehenden, etablierten Staat abtrennen und selbständig machen zu können.1638 Dies ist der Grund, warum er etwa im Falle Österreich-Ungarns stets nur von „Autonomie“ sprach und nicht etwa ein Sezessionsrecht anerkannte, wie dies in der bolschewistischen Konzeption in Erscheinung getreten war. Erst allmählich übertrug er diesen an sich innerstaatlichen demokratischen Ordnungsgrundsatz auf die universale Ebene der Staatengemeinschaft. Er verknüpfte das geistesgeschichtlich eher europäische Nationalitätsprinzip und Widerstandsrecht auf der einen Seite mit dem von den amerikanischen Unabhängigkeitskämpfern entwickelten Grundsatz der demokratischen Legitimierung bzw. Legitimationsbedürftigkeit aller öffentlichen Gewalt.1639 Damit folgte der Präsident gleichzeitig dem US-amerikanischen politischen Zeitgeist, der ganz im Zeichen eines universalistischen Progressivismus stand und verstärkt von progressiven Intellektuellen beeinflusst worden war.1640 1635
Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 4. Wetz, Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkerrechtlicher Schutz nationaler Minderheiten in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain en Lay, 1929, S. 16. 1637 Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 41. 1638 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 112. 1639 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 75. 1640 Vgl. hierzu Waechter, Versailles und der amerikanische Liberalismus, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919, 2001, S. 106 ff. 1636
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In diesem Sinne hatte Wilson bereits am 29. August 1916 das Gesetz über die philippinische Autonomie unterzeichnet, welches in die Richtung völliger staatlicher Unabhängigkeit wies. In Artikel 3 erklärte es als „wünschenswert, ein so großes Ausmaß von Zuständigkeiten hinsichtlich ihrer eigenen inneren Angelegenheiten [!], wie dies derzeit ohne Beeinträchtigung der Hoheitsrechte des Volkes der Vereinigten Staaten geschehen kann, in die Hände des philippinischen Volkes zu legen, damit es durch Handhabung eigener, auf ein allgemeines Wahlrecht gegründeter Staatsgewalt besser auf die Übernahme der mit der völligen Unabhängigkeit verbundenen Verantwortung vorbereitet“ werden könne.1641 Bei diesem Beispiel wird deutlich, dass der Fokus der amerikanischen Politik auf Autonomie und Selbstregierung lag und nicht etwa auf völliger staatlicher Unabhängigkeit oder ethnischer Selbstbestimmung. Als die Vereinigten Staaten kurze Zeit später, am 17. Januar 1917, die bis dato dänischen Antillen käuflich erwarben, verzichteten sie darauf, den Zugehörigkeitswillen der Bevölkerung durch ein Plebiszit zu klären.1642 Marc Frey weist in diesem Zusammenhang auf die bedeutsame Grundannahme Wilsons hin, dass eine Selbstregierung stets unter amerikanischer Aufsicht und Anleitung stattzufinden habe, damit zunächst „unbefähigte Völker bzw. Rassen“ („unfit races“) demokratische Regeln verinnerlichen konnten, die sie dann wiederum zur Erlangung völliger Unabhängigkeit befähigten.1643 Im Jahre 1918 sah die US-amerikanische Regierung zunehmend die Möglichkeit, die zentraleuropäischen Kriegsgegner durch die Förderung von Selbständigkeitsund Sezessionsforderungen von vielerlei Minderheiten in Bedrängnis zu bringen, ohne jedoch die Universalität und weitreichende Konsequenz der Selbstbestimmungsidee selbst richtig einzuschätzen. Ausgelegt als „demokratisches Selbstbestimmungsrecht der Nationen“1644, forderte Wilson nunmehr „gegenseitige Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität in gleicher Weise für die großen und kleinen Staaten“.1645 In seinen Vierzehn Punkten postulierte er die Unabhängigkeit Polens; den nichttürkischen Volksteilen des Osmanischen Reichs wurde hingegen lediglich eine Autonomie in Aussicht gestellt.1646 Dabei sollte in den Friedensverhandlungen und Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg das demokratisch verstandene Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Völker und Volksteile zur Geltung gebracht werden: „Jede mit diesem Krieg zu1641
Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 88. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 59. 1643 Frey, Selbstbestimmung und Zivilisationsdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik 1917 – 1950 (Fn. 1617), S. 161. 1644 Salzborn, Ethnischer Selbstbestimmungsanspruch contra demokratisches Selbstbestimmungsrecht (Fn. 1345), S. 114. 1645 Wilson, The Fourteen Points Speech (Fn. 1621), S. 179. 1646 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37. 1642
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sammenhängende territoriale Regelung muss im Interesse und zum Nutzen der betroffenen Bevölkerungen getroffen werden, und nicht bloß als Teil eines Ausgleichs oder eines Kompromisses zwischen rivalisierenden Staaten.“1647 Bemerkenswert ist dabei die Wortwahl Wilsons: Kein Anklang an ein mitteleuropäisch geprägtes Nationalitätsprinzip; weder von „Nationalität“ („nationality“) noch von „Volk“ („people“) ist die Rede, sondern gleichsam vage wie neutral von „Bevölkerung“ („population“).1648 Damit zieht sich zwar das Thema der demokratischen Legitimation durch alle Erklärungen Wilsons hindurch, jedoch bleibt der Zusammenhang mit nationaler Selbstbestimmung insgesamt vage. Decker weist mit Recht darauf hin, dass die „Zustimmung der Regierten“ bereits eine gegebene staatliche Organisation voraussetze und somit eher den innenpolitischen Prozess der Willensbildung betreffe. Dieser Ansatz decke sich jedoch nicht mit dem ideengeschichtlichen Nationalitätsprinzip, wonach jede Nation einen eigenen Staat bilden soll.1649 Wilson hatte insgesamt zu wenig Kenntnis, insbesondere über den ost- und südosteuropäischen Raum, wo es den Nationalitäten längst nicht mehr nur um bessere Teilhabe am bestehenden Staat ging, sondern wo eigene Staaten gefordert wurden und dies gerade gegen die existente Staatsgewalt.1650 Dies stand im Widerspruch zum Kern der Wilsonschen Selbstbestimmungskonzeption, die gegenüber der an objektiv-überindividuellen Merkmalen orientierten kontinentaleuropäischen Selbstbestimmungsdoktrin das Gewicht auf die individuelle Zustimmung der Betroffenen legte: Für die formale Rechtswirksamkeit und auch die politische Legitimität von Änderungen der staatlichen Hoheit über ein Gebiet oder von Grenzänderungen genügte kein Abkommen zwischen den beteiligten Regierungen allein (mehr), sondern die ausdrückliche oder aus der Natur der Dinge vernünftiger- oder billigerweise zu erschließende Zustimmung der ansässigen Bevölkerung musste konstitutiv hinzukommen.1651 Es war Wilsons eigener Außenminister Robert Lansing, der früh Bedenken zu Bestimmtheit und Effektivität dieser weitgehend idealistischen Konzeption vorbrachte: „An welche Einheit denkt Wilson eigentlich, wenn er von Selbstbestimmung spricht? Meint er eine Rasse, ein Gebiet oder eine Gemeinschaft? Ohne die Festlegung einer ganz bestimmten, für die Praxis brauchbaren Einheit, führt die Anwendung dieses Prinzips zur Gefährdung von Frieden und Stabilität […]. Das Wort ,Selbstbestimmung‘ ist insgesamt mit Dynamit beladen […]. Ich fürchte, dass es Tausende und Abertausende von Leben kosten wird […]. Welch ein Verhängnis, 1647 Zitat nach Hilpold, Die Sezession, in: Ders. (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2010, S. 13. 1648 Darauf weist auch Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 139, hin. 1649 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 112. 1650 So auch Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 41. 1651 Vgl. hierzu Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 75 f.
III.
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dass dieses Wort je geprägt wurde! Welch ein Elend wird es über die Menschen bringen!“1652 In dieser larmoyant anmutenden, jedoch weitsichtigen Klage findet sich erneut das Grunddefizit des westlich-idealistischen Selbstbestimmungsdogmas, nämlich wer Träger („Einheit“) des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts sein kann. In der Tat gebrauchte Wilson die Begriffe „population“, „nation“ und „people“ abwechselnd und willkürlich, ohne sie zu definieren.1653 Bemerkenswert ist bei der Untersuchung des besorgten Vorbringens Lansings auch, dass er „Zustimmung der Regierten“ und „Selbstbestimmung“ gleichsetzte und damit offen in die Nähe der Leninschen Selbstbestimmungsauffassung rückte, die Selbstbestimmung als souveräne Eigenstaatlichkeit verstand und keineswegs bloß als Wandel der innerstaatlichen Verhältnisse, etwa im Zuge von Demokratisierungsprozessen.1654 Ansonsten erscheinen Lansings drastische Formulierungen „Verhängnis“ und „Elend“ wenig nachvollziehbar, wenn nicht im Kontext einer denkbaren extensiven Auslegung von Selbstbestimmung. Er setzte aber weitblickend den Gedanken der Selbstbestimmung in den politischen Kontext des Wilsonschen Friedensprogrammes und kam zu dem Schluss, dass die Realisierung des Grundsatzes der Selbstbestimmung der Völker unter dem Vorbehalt stehen musste, dass dadurch der Weltfrieden nicht gestört werde.1655 Im Anschluss an Lansing, zögerten Wilson nachfolgende Präsidenten, Außenminister und Diplomaten, den Begriff des Selbstbestimmungsrechts zu verwenden und unter vorgehaltener Hand war die Rede von der „Büchse der Pandora“, die Wilson mit seinen hehren Ideen geöffnet habe.1656 Im Grunde blieb Wilson jedoch der liberal-westlichen Nationalidee treu: Er verstand „nation“ nicht im Sinne des deutschen Begriffs „Volk“, sondern als eine durch faktisches Zusammenleben und die „Zustimmung der Regierten“ geformte Gemeinschaft – das eigene Einwanderungsland USA dabei vor Augen. Daraus folgte jedoch, dass das Beharren auf dem „consent of the governed“ bereits eine staatliche Ordnung voraussetzte. Mit dem ethnisch aufgeladenen Nationalitätsprinzip europäischer Prägung war die Selbstbestimmungskonzeption Wilsons daher wenig kompatibel.1657
1652
Zitat nach Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 13. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 112. 1654 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 154. 1655 Vgl. hierzu Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft (Fn. 1589), S. 430. 1656 Frey, Selbstbestimmung und Zivilisationsdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik 1917 – 1950 (Fn. 1617), S. 158. 1657 So auch Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 37 f. 1653
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Letztlich war Wilson dazu gezwungen, das Selbstbestimmungsrecht nur selektiv anzuerkennen und zwar in der Regel nach politischem Kalkül. So akzeptierte er die tschechische Forderung nach den historischen Grenzen von Böhmen-MährenÖsterreich-Schlesien sowie den italienischen Anspruch auf die Brennergrenze – jeweils ohne Volksabstimmung und einseitig zulasten Österreich-Ungarns.1658 Einerseits ging es um die fortdauernde Schwächung der Mittelmächte, gleichzeitig fürchtete Wilsons eine Sowjetisierung der enttäuschten Verlierer des Friedensschlusses.1659 Auch hatten ihn die geheimen Abmachungen seiner europäischen Verbündeten aus den Jahren 1915 bis 1917 völlig unvorbereitet getroffen und es galt, Kompromisse am laufenden Band zu vereinbaren.1660 Frey fasst die disparaten Gründe für die Haltung Wilsons wie folgt zusammen: „gutes Lobbying (Tschechoslowakei), mangelnde Kenntnis der lokalen Verhältnisse (Sudetenland), Einwilligung in alliierte Forderungen (Südtirol, Österreich, Belgien), politische Zweckdienlichkeit und mangelnde Alternativen (Jugoslawien), historische Legitimität (Polen, Elsaß-Lothringen) sowie taktische Erwägungen (Rußland und das Baltikum).“1661 Anders als etwa Lenin und die Sozialistische Internationale war Wilson somit an realpolitische Umstände gebunden, die, so Fisch, dazu führten, dass er das Selbstbestimmungsrecht zu keinem Zeitpunkt als alleinige oder zuvörderst maßgebliche Richtschnur für eine neue Friedensordnung heranzog.1662 Während der revolutionäre Bolschewismus imstande war, ein simples und suggestives Ziel als „Schlachtruf“ zu proklamieren, befanden sich die westlichen Alliierten, Assoziierten und die Mittelmächte in einer schwierigen politischen Lage.1663 Wilson sah sich gezwungen, auf Lenins programmatischen Vorstoß zu reagieren,1664 aber er übernahm lediglich einzelne Begrifflichkeiten, ohne dem bolschewistischen Verständnis inhaltlich zu folgen. Der Präsident hatte keine andere Wahl, konnte und wollte er doch seine politische Auffassung nicht radikal ändern.1665
1658 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 58. 1659 So Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts (Fn. 1547), S. 33, der von einem „entscheidenden Bezugspunkt[]“ spricht. 1660 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 80. 1661 Frey, Selbstbestimmung und Zivilisationsdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik 1917 – 1950 (Fn. 1617), S. 163. 1662 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 59. 1663 So auch Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 101. 1664 So auch Cattaruzza/Zala, Wider das Selbstbestimmungsrecht? Wilsons Vierzehn Punkte und Italien in der europäischen Ordnung am Ende des Ersten Weltkriegs, in: Jörg Fisch (Hrsg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2011, S. 141. 1665 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 153.
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Lansing selbst berichtet, wie Wilson schließlich seine eigenen Grundsätze nach und nach „anpassen“ musste und er resümiert: „Die Staatsmänner tun nicht gut daran, noch länger das Prinzip der Selbstbestimmung als eine von den Nationen anscheinend sanktionierte Forderung gelten zu lassen, ein Prinzip, das in der Praxis so gründlich diskreditiert worden ist und jedes Mal beiseite geworfen werden wird, wenn es in Konflikt mit der nationalen Sicherheit, mit historisch-politischen Rechten oder mit den Interessen der wirtschaftlichen Wohlfahrt gerät.“1666 Treffend schildert Fisch die ideologisch-politische Lage nach dem Ersten Weltkrieg: „Der amerikanische Präsident sperrte sich gegen den populären Selbstbestimmungsbegriff, während sich im populären Verständnis seine Auffassung von Selbstbestimmung als Selbstregierung nicht durchsetzen konnte. Das Publikum teilte die Leninsche Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht, nicht die Wilsonsche, aber es wollte sie aus dem Munde Wilsons, nicht Lenins hören. Man hörte Wilson zu, aber man hörte aus ihm Lenin sprechen. Wilson sollte das sagen, was Lenin versprach.“1667 Schließlich blieb das Selbstbestimmungsrecht faktisch doch ein politisches Schlagwort („mere phrase“), denn es blieb weiterhin unklar, welchen definitorischen Entitäten dieses Recht zukommen sollte. Anders übrigens als die zentraleuropäische Selbstbestimmungstheorie, hatte die westlich-angloamerikanische Ideentradition den Subjekten, also den Trägern des Selbstbestimmungsgedankens, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ivor Jennings formulierte das Wilsonsche Dilemma so: Zwar sei Wilsons demokratische Selbstbestimmungsdoktrin „Lasst das Volk entscheiden“, oberflächlich betrachtet, vernünftig und suggestiv gewesen. „In Wirklichkeit war sie lächerlich, weil das Volk nicht entscheiden kann, bevor jemand entscheidet, wer das Volk ist.“1668 Aus Sicht der etablierten Nationalstaaten der Vereinigten Staaten und Großbritannien entsprach der Begriff „national self-determination“ in erster Linie der deutschen Übersetzung „staatliche Selbstbestimmung“1669 und wurde von der zentraleuropäischen Selbstbestimmungslehre auch so verstanden, d. h. im Sinne der Anknüpfung der Selbstbestimmungsidee an bereits existente und etablierte Staatsgebilde. Die pragmatische Gewährung des Selbstbestimmungsrechts im Einzelfall war für Wilson letztlich primär die Voraussetzung für die Verhinderung künftiger Kriege.1670 Schmid weist nach, dass der Präsident selbst vor und während den Friedensverhandlungen den Ausdruck „self-determination“ tatsächlich weit seltener gebrauchte, als man annehmen könnte.1671 Daraus folgert er, Wilson habe keine exakte Vor1666 1667 1668 1669 1670 1671
Gürke, Volk und Völkerrecht, 1935, S. 2. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 155. Zitat bei Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 46. So auch Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 129. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 92. Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 139 f.
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stellung, geschweige denn eine Definition von einem Recht auf Selbstbestimmung in der ersten Jahreshälfte 1919 gehabt.1672 Dies alles führt Fisch zu dem Schluss: „Das Selbstbestimmungsrecht blieb wie im 19. Jahrhundert ein Instrument der nachträglichen Legitimierung für militärisch erzwungene Gebietsveränderungen; auch diesmal wurde seine Ausübung nicht zum wirklichen Entscheidungskriterium.“1673 Demgegenüber erkennt Fritz Fellner an, dass die entscheidenden Staatsmänner bestrebt gewesen seien, „Rechts- und Machtgrundsätze in Übereinstimmung zu bringen“.1674 Weniger kritisch ist auch Rabl, der meint, die Bedeutung der Vierzehn Punkte dürfe weder unter- noch überschätzt werden. Das Wesentliche seien die stets von Wilson verkündeten allgemeinen Grundsätze seiner Politik gewesen, nämlich „Unverletzlichkeit des Daseinsrechts eines jeden Volkes, demokratische Legitimationsbedürftigkeit aller öffentlichen Gewalt – und folgerichtig auch ihrer räumlichen Reichweite, d. h. der Staatsgrenzen“. Zweitrangig sei dabei jedoch die konkrete Regelung einzelner strittiger Fälle gewesen.1675
3. Das Selbstbestimmungsrecht in den Pariser Friedensverhandlungen und Friedensverträgen Als „gewichtiger Wendepunkt in der Völkerrechtsgeschichte“ gilt der Versailler Vertrag, da er den Gedanken der Friedenssicherung durch eine Neuordnung der Welt fußend auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker erstmals „in rechtliche Form“ gegossen habe.1676 Damit diente er nicht nur der völkerrechtlichen Beendigung des Ersten Weltkriegs und der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen. Es geht jedoch fehl, auf eine juristische Bestimmtheit geschweige denn Normativität des Selbstbestimmungsgedankens in den Vertragsverhandlungen zu schließen. Eine rechtliche Positivierung des prominenten Prinzips hat auch in Versailles nicht stattgefunden.1677 Hillgruber stellt fest, „daß der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker sich (noch) nicht zu einem […] positiven Satz des geltenden Völkerrechts entwickelt hatte“.1678 Die Selbstbestimmungsidee blieb ein 1672
Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 140. Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 59. 1674 Fellner, Die Pariser Vorortverträge von 1919/20, in: Karl Bosl (Hrsg.), Versailles – St. Germain – Trianon 1971, S. 8. 1675 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 81. 1676 Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 35. 1677 So auch Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 45. 1678 Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft (Fn. 1594), S. 433. Thomas Würtenberger und Gernot Sydow sprechen ebenfalls lediglich von einem „werdende[n] völkerrechtliche[n] Rechtsprinzip“, vgl. Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 45. 1673
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allgemeines Prinzip, das nicht eingeklagt werden konnte. Dieser Umstand war bereits den Zeitgenossen allzu bewusst. Im Jahr 1930 resümierte Wolfgang Wetz: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist keine Rechtsnorm des positiven Völkerrechts geworden, es ist ein politisches Postulat der unterdrückten Völker geblieben.“1679 Zwar ist es allzu pauschal formuliert, weder vor oder während noch unmittelbar nach den Friedensverhandlungen habe man den Versuch einer Definition des Selbstbestimmungsrechts unternommen oder dieses auch nur reflektiert.1680 Immerhin gab es so etwas wie ein östlich-bolschewistisches und ein westlich-liberales Verständnis dieses Rechtes. Richtig ist jedoch, dass die Parteien auf der Pariser Friedenskonferenz ab dem 18. Januar 1919 kein gemeinsames Konzept und keine abgestimmte Auslegung des Selbstbestimmungsrechts besaßen. Man orientierte sich lediglich an den vagen und idealistischen Programmsätzen Wilsons – zumindest vordergründig. Rabl schreibt hierzu, man habe die „volle Tragweite“ des Selbstbestimmungsrechts der Völker zwar noch nicht überblicken können, man habe aber in dem Bewusstsein gehandelt, „einen mehr oder minder fertigen, in längerer Entwicklung herausgearbeiteten Begriff anzuwenden“.1681 Im Notenwechsel vom Oktober 1918 hatten die US-amerikanische Administration und die deutsche Führung vereinbart, einen Frieden auf der Grundlage der Kongressrede Wilsons vom 8. Januar 1918 (Vierzehn Punkte) und seiner späteren Ausführungen1682 zu schließen, nachdem sich auch die alliierten und assoziierten Mächte grundsätzlich damit einverstanden erklärt hatten.1683 Die Franzosen vertraten jedoch von Vornherein die Annahme, dass die von Wilson aufgestellten Prinzipien nicht hinreichend bestimmt gewesen seien, um als Grundlage für einen späteren Friedensvertrag gelten zu können. Erst recht habe auf dieser Basis kein rechtsverbindlicher Vorfriedensvertrag mit den Deutschen abgeschlossen werden können.1684 Hier zeigten sich bereits zum Kriegsende hin Unstimmigkeiten und Komplikationen zwischen den Entente-Partnern darüber, wie mit dem Wilsonschen Programm praktisch umzugehen sei.
1679 Wetz, Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkerrechtlicher Schutz nationaler Minderheiten in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain en Lay (Fn. 1636), S. 89. 1680 So aber Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 131. 1681 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 91. 1682 Kongressrede vom 11. Februar 1918 („Four Principles“), Rede in Baltimore vom 6. April 1918, Rede an mexikanische Journalisten vom 3. Juni 1918, Rede in Mount Vernon vom 4. Juli 1918 („Four Ends“), Rede in New York vom 27. September 1918 („Five Particulars“). 1683 Vgl. ausführlicher Wetz, Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkerrechtlicher Schutz nationaler Minderheiten in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain en Lay (Fn. 1636), S. 2. 1684 Vgl. wiederum Wetz, Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkerrechtlicher Schutz nationaler Minderheiten in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain en Lay (Fn. 1636), S. 3 ff.
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Nach dem angloamerikanischen Sendungsbewusstsein und dem damit verbundenen universalistischen Pathos galt das Selbstbestimmungsrecht nach dem Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918 als „oberst[es] Prinzip des Friedensschlusses“.1685 Wilson selbst hielt dem italienischen Ministerpräsidenten entgegen: „Als ich die Erklärungen entwarf, auf die sich heute jedermann beruft, schrieb ich sie nicht nur im eigenen Namen und nicht nur als Ausdruck meiner persönlichen Überzeugung nieder, sondern bemühte mich, die Empfindungen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten in Worte zu fassen. Und diese Überzeugung traf sich mit der Überzeugung aller großen Weltvölker. Würden wir uns heute weigern, diese Grundsätze anzuwenden, so würden wir […] Gefühle der Unzufriedenheit, ja: des Hasses nähren und dadurch den Keim für künftige Kriege in den Schoß der Welt legen […].“1686 Hier zeigt sich das besondere Sendungsbewusstsein der US-amerikanischen Politik, mit der das Prinzip von der Selbstbestimmung der Völker in die Welt getragen werden sollte. An diesem Prinzip hingen zunächst sämtliche Hoffnungen auf eine nachhaltig gerechte Weltordnung. Wilson hatte formuliert: „Diese großen Ziele können wir in einem einzigen Satz zusammenfassen: was [sic!] wir erstreben, ist eine von der institutionalisierten Weltmeinung gestützte rechtsstaatlich-demokratische Ordnung.“1687 Tatsächlich diskutierte man in langwierigen Kommissionssitzungen, um zu einem halbwegs akzeptablen Kompromiss zwischen den einander widersprechenden Überlegungen machtpolitischer, rechtlicher und nationaler Natur zu gelangen.1688 Als machtpolitisches Instrument der Siegermächte diente der Selbstbestimmungsgedanke nicht zuletzt dazu, die Besiegten, allen voran das Deutsche und das Osmanische Reich sowie Österreich-Ungarn, territorial zu schwächen. Rabl spricht davon, man habe das Selbstbestimmungsrecht der Völker als „Sprengmittel gegen den innenpolitisch-verfassungsmäßigen Zusammenhalt des militärischen Gegners“ eingesetzt.1689 Insbesondere der habsburgische Vielvölkerstaat war von den „Ausund Umdeutungen“ der Vierzehn Punkte betroffen, da es gerade Wilson ein Hauptanliegen gewesen ist, die Einheit und Selbständigkeit der südost- und osteuropäischen Nationalitäten zu befördern.1690 Leander Palleit erklärt, dass aus den vorgelegten Friedensbedingungen schnell deutlich geworden sei, dass die Siegermächte eine Friedenslösung anstrebten, die aus Sicht der unterlegenen Deutschen mit einer gerechten Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker kaum etwas zu tun gehabt habe.1691 1685 1686 1687 1688 1689 1690 1691
Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 18. Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 92. Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 82. Fellner, Die Pariser Vorortverträge von 1919/20 (Fn. 1674), S. 9. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 74. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 84. Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 39 f.
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Wilson selbst bekannte schließlich am 17. September 1919 in San Francisco offen: „Es war nicht das Privileg der Friedenskonferenz, irgendeinem Volk das Selbstbestimmungsrecht zu gewähren, ausser [sic!] jenen, die zu den Territorien der besiegten Imperien gehört hatten.“1692 Die Mittelmächte hatten den Krieg militärisch und materiell verloren, was die Sieger zu einem relativ eindeutigen Diktat ohne Beteiligung der Unterlegenen veranlassen konnte. Bereits in der alliierten Note vom 30. Dezember 1916 hatte man erklärt, man werde nur dann zu einem Friedensschluss bereit sein, wenn die „Anerkennung des Nationalitätenprinzips“ erfolge, vor allem seitens des Osmanischen Reiches und Österreich-Ungarns.1693 Zwar hielt sich im Deutschen Reich eine Weile die Überzeugung, den Weltkrieg mit einem Waffenstillstand unter US-amerikanischen Bedingungen, jedoch gleichsam mit einem „Unentschieden“ beendet zu haben. Dieser Versuch, eine eigenständige Verhandlungsposition der Stärke aufzubauen, musste indessen an den politischen Realitäten scheitern.1694 Die reichsdeutsche Selbstüberschätzung wurde zum Problem für den Friedensschluss 1919, wie Jost Dülffer zutreffend bemerkt: „Der Notenwechsel zwischen der Kaiserlichen Regierung und der US-Administration im Oktober 1918 enthielt eine Reihe von Zusicherungen – so vor allem in der vierten Lansing-Note –, die ex post von deutscher Seite wie ein Vorfriedensvertrag interpretiert wurden und die damit als Vehikel dienten, den (multilateralen) Friedensvertrag im Lichte des (bilateralen) Notenwechsels de facto wie de iure in Frage zu stellen (pactum de contrahendo).“1695 Auch Decker geht hierbei von einem pactum de contrahendo aus, also einem völkerrechtlichen Abkommen, „in dem die Prinzipien Wilsons als Grundlage der Friedensverhandlungen anerkannt waren“, welche sich in den Vierzehn Punkten, aber auch in den einschlägigen Reden Wilsons fanden.1696 Es darf tatsächlich nicht verkannt werden, dass der spätere Friedensvertrag in wesentlichen Punkten (Kriegsschuldartikel, Straf- und Reparationsbestimmungen) von dem Waffenstillstandsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten und assoziierten Staaten abwich, was einen Verstoß gegen den naturrechtlichen Grundsatz des „pacta sunt servanda“ bedeutete, ohne dass dies freilich die Völkerrechtswidrigkeit des Versailler Vertrags zur Folge gehabt hätte.1697 Was jedoch blieb, war der Vorwurf des Treubruches an die Entente. Durchaus wahrgenommen wurde, besonders durch die Kriegsunterlegenen, auch, dass sich die Alliierten und Assoziierten selbst nicht an ihren eigenen, höchst 1692 1693 1694
S. 20.
Zitat bei Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 156. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 74. Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts (Fn. 1547),
1695 Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts (Fn. 1547), S. 23. Hervorhebungen im Original. 1696 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 116. 1697 Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 43 f.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
idealistischen Zielen orientierten. Wer selbst stets das Selbstbestimmungsrecht der Völker propagandistisch bemühte, musste sein eigenes Vorgehen an diesen Aussagen messen lassen. So hatte Premierminister Lloyd George in einer Rede vom 8. Januar 1918 verkündet: „Eine auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und auf demokratischen Grundsätzen beruhende Gebietsregelung muß erreicht werden.“1698 Diese politische Widersprüchlichkeit der alliierten Kolonialmächte erkannte etwa der liberale Reichstagsabgeordnete Müller-Meiningen, der auf den Nutzen für die reichsdeutsche Politik hinwies: „Wir sollten das ,Selbstbestimmungsrecht‘ der Völker mit Begeisterung aufnehmen und dafür plädieren, daß für Belgien, unser Faustpfand, dasselbe sofort und bedingungslos bewilligt wird, wenn endlich einmal 1. England für Irland, Malta, Gibraltar, Ägypten, Südafrika, Kanada, für Hongkong, Aden, die Falklandinseln usw., vor allem aber für Indien, 2. Frankreich für Korsika, Nizza, Algier, Marokko, Tunis, Indochina und am Senegal usw., 3. Italien für Tripolis und Albanien, 4. Die Vereinigten Staaten für Kuba, Texas und die Philippinen dies Selbstbestimmungsrecht der Völker im Sinne völliger Freiheit der Wahl ihres Staatslebens und ihrer Staatsgestaltung schaffen. Entweder – oder!“1699 Mit Recht weist Rabl darauf hin, dass die Geheimverträge von 1915 bis 1917, die zwischen den Alliierten zulasten Deutschlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs geschlossen worden waren,1700 eklatant gegen das Selbstbestimmungsrecht verstießen.1701 So sollte Frankreich etwa nicht nur Elsass-Lothringen, sondern auch das Saargebiet und benachbarte Landstriche erhalten. Nicht zuletzt sollte aus den linksrheinisch-deutschen Gebieten ein „autonomes und neutrales Staatswesen“ entstehen. Erst recht keine klaren gemeinsamen Vorstellungen besaßen die Parteien, wenn es um die Methode der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes ging. Die USAmerikaner lehnten das Territorialplebiszit als Mittel grundsätzlich ab, da es auf diesem Wege nur zu Verzögerungen in der Rechtsdurchsetzung kommen würde.1702 Die französische Delegation hingegen empfahl – jedenfalls vordergründig – die freie und geheime Volksabstimmung, zumindest in Zweifelsfällen. Auf diese Weise sollten Streitigkeiten und Schwierigkeiten der Grenzziehungen unter den Alliierten vermieden werden.1703 Um die eigene Legitimität nicht zu beschädigen, verzichtete man sodann seitens der Siegermächte meist vorsorglich auf Volksabstimmungen über Neugliederungspläne, vor allem dann, wenn das Ergebnis eines Plebiszits unsicher zu werden drohte. 1698
Zitat bei Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 74. Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 120. 1700 Vgl. etwa britisch-französisch-russisch-italienischer Vertrag v. 26. April 1915; britischfranzösisch-russisches Abkommen über die Türkei (1915 und 1916); französisch-russisches Abkommen v. 14. Februar 1917 über Deutschland. 1701 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 74 f. 1702 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 117 f. 1703 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 119. 1699
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So ging man bei den meisten Gebietsabtretungen zugunsten der Westalliierten, von den Marianen bis Elsass-Lothringen, vor.1704 Nur in den Fällen, in denen das eigentliche Staatsgebiet eines „Siegers“ nicht betroffen war, ließ man tatsächlich faire Plebiszite für die betroffene Bevölkerung zu, so zunächst in Ost- und Südosteuropa, wenn es dort um die Schaffung neuer Staaten ging oder lediglich neutrale Staaten berührt waren. Beispiele für Volksabstimmungen sind etwa Schleswig (hier war das neutrale Dänemark bevorteilt), sowie Ostpreußen und – wenn auch weniger fair1705 – in Oberschlesien zugunsten Polens. Richtigerweise bewerten Würtenberger und Sydow die Regelungen im Hinblick auf Danzig und jene schlesischen Gebiete mit deutscher Bevölkerungsmehrheit als „völkerrechtlich problematisch“.1706 Gleiches gilt für Südtirol und das Verbot des Zusammenschlusses von Österreich und dem Deutschen Reich (Artikel 80 des Friedensvertrages). Bemerkenswert ist dabei, dass zwei der wichtigsten Berater des US-Präsidenten, nämlich „Colonel“ House und Walter Lippmann, sich lange dafür aussprachen, dass Deutschösterreich („German Austria“) das Recht haben müsse, sich mit dem Deutschen Reiche zusammenzuschließen.1707 Zu einer kompletten Farce geriet die Abtretung des nahezu vollständig deutschsprachigen Gebiets von Eupen und Malmedy an Belgien. Wohlweislich wurde für diesen Fall keine Volksabstimmung vorgesehen – das Abstimmungsergebnis wäre eindeutig für den Verbleib im Deutschen Reich ausgefallen1708 – sondern man behalf sich zur Wahrung des demokratischen Scheins mit einem „Trick“ in Artikel 34 des Versailler Friedensvertrags. Hierin hieß es: „Während sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags werden von der belgischen Behörde in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt; die Einwohner dieser Gebiete sind berechtigt, darin schriftlich den Wunsch auszudrücken, dass diese Gebiete ganz oder teilweise unter deutscher Souveränität verbleiben. Es ist Sache der belgischen Regierung, das Ergebnis dieser Äusserung [sic!] der Bevölkerung zur Kenntnis des Völkerbunds zu bringen, dessen Entscheidung anzunehmen sich Belgien verpflichtet.“1709 Nun waren Eupen und Malmedy jedoch schon militärisch und verwaltungsmäßig von den Belgiern besetzt, so dass es kaum einer wagte, sich in diese Listen einzutragen und somit zu demonstrieren, dass er mit dem Übergang der deutschsprachigen 1704 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 59 f. 1705 So auch Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 60. 1706 Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 45. 1707 Vgl. Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 85. 1708 So auch Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 61. 1709 Friedensvertrag von Versailles zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, RGBl. 1919, S. 763.
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Gebiete an Belgien nicht einverstanden war.1710 Nicht zuletzt durch den bewusst nachlässigen Umgang der belgischen Behörden mit den Listen trugen sich von 34.726 Stimmberechtigten nur 270 ein.1711 Es überrascht nicht, dass selbst die belgischen Sozialisten von einer „lächerlichen Komödie“ sprachen.1712 Treffend beschreiben Würtenberger und Sydow die systemwidrige Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker: „In bestimmten Gebieten wurde durch Referenden dem Selbstbestimmungsrecht Rechnung getragen, während für die bereits genannten Gebiete das Selbstbestimmungsrecht mißachtet wurde. Wo aber zukunftsweisende rechtliche Prinzipien nicht als feste Grundlagen einer neuen politischen Ordnung dienen, führt die Systemlosigkeit zu Enttäuschung und zu gekränktem Rechtsbewusstsein.“1713 Nach Rabl sei während den Friedensverhandlungen ein „ethnographischer Determinismus“ vorherrschend gewesen. Mit der Feststellung, daß ein bestimmtes Volkstum in einem bestimmten Gebiet zahlenmäßig vorherrsche, sei die Frage der Staatszugehörigkeit dieses Gebiets ohne weitere Volksabstimmung oder Volksbefragung oftmals im Einzelfall als gelöst betrachtet worden.1714 Der Selbstbestimmungsgedanke geriet dabei allzu leicht zum Spielball machtpolitischer Konstellationen und bloßer willkürlicher Egoismen; er wurde situationsabhängig vom Machtprinzip konterkariert.1715 Fisch schreibt hierzu: „Solange Gebietsverluste als Bestrafung und Gebietsgewinne als Belohnung des jeweiligen Staates betrachtet wurden, […] musste [man] sich zwischen drei miteinander unvereinbaren Prinzipien entscheiden: je nachdem entschied die Macht, die Gerechtigkeit der Sache im Kriege, oder der Wille der Betroffenen.“1716 Letzterer hingegen wurde in den Friedensverhandlungen zurückgedrängt und das Selbstbestimmungsrecht als Politikum wurde seiner idealistisch-emanzipatorischen Einkleidung beraubt. Die Neuordnung der Welt bezog sich von Vornherein nicht auf die Kolonialreiche der Alliierten und sie gingen keinerlei Verpflichtungen im Bereich des Minderheitenschutzes ein.1717 Insofern lässt sich sagen, dass der Versailler Vertrag hinter den weitreichenden Vierzehn Punkten Wilsons zurückblieb;1718 der allzu idealistisch denkende US1710
Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 82. Zahlen nach Wysocki, Die Volksabstimmung bei Gebietsveränderungen, 1922, S. 33. 1712 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 6. 1713 Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 45 f. 1714 Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 663), S. 96. 1715 So auch Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 58. 1716 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 61. 1717 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 38. 1718 So Würtenberger/Sydow, Versailles und das Völkerrecht (Fn. 1551), S. 37. 1711
III.
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Präsident konnte sich letztlich nicht gegen die europäischen Realitäten durchsetzen. Auch mit Blick auf die irische „Home rule“-Diskussion und Unabhängigkeitsbewegung, die im sogenannten „Osteraufstand“ im April 1916 einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte, wollte die imperialistisch gesonnene britische Politik nichts von einem Selbstbestimmungsrecht des irischen Volkes wissen. Ohne im Einzelnen den konkreten Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht zu kritisieren, lag nach Fisch der eigentliche Fehler in der westlichen und Wilsonschen Selbstbestimmungspolitik darin, dass man es überhaupt gewagt hatte, vollmundig zu behaupten, die freiheitliche und faire Anwendung dieses Prinzips bewege sich zumindest in zentralen Punkten der zu errichtenden Nachkriegsordnung im Rahmen des Möglichen: „Für die Sieger wäre es viel einfacher und konsequenter gewesen, wenn sie das Prinzip der Selbstbestimmung gar nicht erst für sich in Anspruch genommen oder es sogar weit von sich gewiesen hätten.“1719 So kommt Fisch zu dem Schluss, dass Wilson durch die Einbringung des Selbstbestimmungsgedankens in die Friedensverhandlungen, „wesentlich zu den Schwierigkeiten der Friedensregelung beigetragen“ habe.1720 Einerseits hätten insbesondere die US-Amerikaner und die Briten die Worte „Selbstbestimmung“, „Unabhängigkeit“ und „Autonomie“ stets im Mund geführt, man habe sich aber gleichzeitig möglichst gegen subjektive Willensäußerungen der Betroffenen in Form eines Territorialplebiszites ausgesprochen und letztlich bestehenden Staatsgrenzen bzw. objektiv-ethnischen Faktoren mehr Gewicht beigemessen. Das Ergebnis sei Fremdbestimmung statt subjektiver Selbstbestimmung der Völker gewesen.1721 Nun könnte man annehmen, durch das Hervorheben von objektiven Merkmalen wie Sprache, Religion und Geschichte hätten sich die Angloamerikaner in die Richtung der deutschen Lesart des Selbstbestimmungsrechtes bewegt. Damit aber ginge man zu weit, denn was den unterlegenen Feind aus dem Weltkrieg betraf, beharrte man eher auf den klassischen Kategorien des Siegerrechtes. Der Westen sah sich genötigt, auf den bolschewistischen Vorstoß zu einem, jedenfalls theoretisch, sehr weitreichenden Selbstbestimmungsrecht politisch zu reagieren; insofern war das prominente Selbstbestimmungsrecht der Völker unwiderstehlich geworden. An dieser Stelle ist die Betonung der Rolle Wilsons in der Analyse Fischs nicht recht nachvollziehbar, wenn er einerseits behauptet, vor allem der US-Präsident habe während der Friedensverhandlungen immer wieder mit Nachdruck an das Selbstbestimmungsrecht erinnert, wenn nicht gar appelliert, er aber andererseits selbst mehrfach darauf hinweist,1722 dass das Selbstbestimmungsrecht 1919 längst bei den Sowjetrussen, Briten und Italienern populär ge1719 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 61 f. 1720 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 156. 1721 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 161. 1722 So etwa Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 155 f.
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worden war und man sich ihm rhetorisch-politisch schlechterdings nicht (mehr) entziehen konnte. Wilson war nach alldem insofern kein „Vorkämpfer“ für die Idee des Selbstbestimmungsrechtes, da er mit ihr bei den meisten Europäern offene Türen einrannte. Gewisse in den Friedensverträgen vorgesehene Maßnahmen und Minderheitenschutzverträge für Europa können vor diesem Hintergrund als Kompensation für nicht oder nicht voll anerkannte Selbstbestimmungsansprüche angesehen werden.1723 Von vielen Seiten wurde stets kritisiert, dass die sogenannten Wilson-Prinzipien kein tatsächliches Programm darstellten und schließlich für die praktischen Friedensverhandlungen unbrauchbar waren. Manley O. Hudson, Mitglied der amerikanischen Friedensdelegation, bemerkte dazu später: „Selbstbestimmung ist nicht ein Allerweltsmittel, um Landkarten zu machen. Sie scheint mir lediglich eine Methode zu sein. Selbstbestimmung sagt Dir nicht, wohin Du gehen sollst, obgleich sie Dir unterwegs hilft.“1724 Mit Recht weist Schmid darauf hin, dass es etwa aus deutschösterreichischer Sicht wohlfeil gewesen sei, über das „verratene“ oder „vergewaltigte“ Selbstbestimmungsrecht zu lamentieren, wenn zwischen Deutschen und Angloamerikanern schon kein gemeinsames Verständnis der politischen oder gar juristischen Begriffe und deren Inhalte zu erreichen war.1725 Selbst zwischen den Alliierten und Assoziierten war die Gestaltung der Nachkriegsordnung Europas heftig umstritten1726 und insbesondere zwischen US-Amerikanern, Briten, Franzosen und Italienern herrschte eine nahezu „babylonische“ Selbstbestimmungs-Verwirrung, die sich zu handfesten juristischen Verirrungen steigern konnte. Als Beispiel mag hierfür die Situation Italiens herhalten1727: Im Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915 waren Italien erhebliche Gebietsgewinne zugesagt worden, etwa mit der Brennergrenze das nahezu rein deutschsprachige Südtirol. Tatsächlich hatten italienische Streitkräfte das Gebiet auch im Krieg besetzen können. Hielt man sich nun an das geheimvertragliche Siegerrecht, standen Italiens Gewinn und die Zukunft der Bevölkerung Südtirols fest. Wollte man jedoch einem (subjektiven) Selbstbestimmungsrecht folgen, so wäre in Südtirol eine Volksabstimmung abzuhalten gewesen, bei der alles dafür gesprochen hätte, dass sich die Südtiroler gerade nicht Italien anschließen wollten. Stellte man ferner auf objektive Kriterien – vor allem die deutsche Sprache und Tiroler Kultur – ab, so stand
1723 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 38. 1724 Zitat bei Wetz, Selbstbestimmungsrecht der Völker und völkerrechtlicher Schutz nationaler Minderheiten in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain en Lay (Fn. 1636), S. 44. 1725 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 130. 1726 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 163. 1727 Siehe hierzu Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 163 f.
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außer jedem vernünftigem Zweifel, dass Italien das siegerrechtlich Versprochene nicht erhalten durfte. Es ging also nicht mehr bloß um politisch-rhetorische Floskeln, sondern in konkreten Fragen musste man sich zwischen Sieger- und Selbstbestimmungsrecht entscheiden. Hier bestand schon innerhalb der Gruppe der Alliierten und Assoziierten enormer Klärungsbedarf. Je stärker und mächtiger ein Siegerstaat aus dem Krieg herausgekommen war, desto eher pochte er auf „seine“ Lösung, nicht auf die des Selbstbestimmungsgedankens. Insoweit ist Fisch Recht zu geben, der feststellt, dass sich die Sieger ein Stück weit selbst gefesselt hatten, denn in erster Linie blieb das Selbstbestimmungsrecht politisch das Recht der Schwachen und der Verlierer, die es dem militärischen Siegerrecht entgegenhielten.1728 Jürgen C. Heß bemerkt zu Recht, dass nach den unendlichen Opfern eines langjährigen Krieges nicht mit der Durchsetzung reiner und hehrer Prinzipien zu rechnen gewesen sei: „Nur ein realitätsferner Idealismus konnte darauf bauen, daß das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker den deutschen Erwartungen entsprechend bei den Friedensverhandlungen zur Anwendung kommen würde […].“1729 Praktisch ist die Absage an Selbstbestimmung im Einzelfall, besonders durch die Siegermächte, nachvollziehbar. Treffend erläutert Fisch: „Wenn ein Staat mit großem Aufwand und enormen Opfern ein Gebiet erobert hatte, vielleicht sogar eines, auf das er beziehungsweise seine Bevölkerung einen legitimen Titel zu haben glaubte, aus religiösen, strategischen, historischen oder sonstigen Gründen, dann war es, gelinde gesagt, eine Zumutung für ihn, wenn er das, was er sich mit dem Blut seiner Angehörigen teuer erkauft hatte, an der Urne wieder verlor.“1730 Insbesondere traf dieser Befund auf die Franzosen und Belgier zu, die im Ersten Weltkrieg einen hohen Blutzoll geleistet hatten und nun tatsächlich der Überzeugung waren, einen Anspruch auf deutsches, rheinisches Gebiet zu haben, insbesondere aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen, nämlich um künftigen militärischen Aggressionen aus dem Osten vorbeugen zu können. Wie aber positionierten sich die Deutschen in diesem „Spiel“ der Sieger und Verlierer? Insgesamt verhielt sich die reichsdeutsche Führung mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zurückhaltend und man nutzte gerade nicht die propagandistischen Möglichkeiten, die die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht eigentlich geboten hätten, so wie es der Abgeordnete Müller-Meiningen im Reichstag empfohlen hatte. Decker nennt als Ursachen für diese Skepsis und Passivität insbesondere die Rücksicht auf die verbündeten Vielvölkerstaaten, vor allem Österreich-Ungarn, sowie die Furcht, „wertvolle Positionen aufzugeben, die bei einem allgemeinen Friedensschluß als Faustpfänder von Nutzen sein mochten“.1731 1728 1729 1730 1731
Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 164. Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593), S. 73. Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 160. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 121.
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Beispielsweise fand sich der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker nicht in der Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917, obwohl die Verwendung naheliegend gewesen wäre, weil sich die Abgeordneten darüber im Klaren waren, dass „dieses sehr schön ,demokratisch‘ klingende Schlagwort zur Sprengpatrone für den Vierbund, vor allem für Österreich-Ungarn und Bulgarien, von der Entente berechnet war […]“.1732 Insgesamt verhielt sich die deutsche Führung gegenüber den Alliierten und Assoziierten eher reaktiv denn aktiv. Als Kriegsunterlegener hatte das Deutsche Reich das Heft des Handelns nicht in der Hand und musste sich darauf beschränken, auf die Vorstöße der Ententemächte zu antworten und Stellung zu nehmen. Eine Protestation gegen das selektive Vorgehen der Feindmächte lautete etwa: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf nicht ein Grundsatz sein, der nur zuungunsten Deutschlands Anwendung findet, er muß vielmehr in allen Staaten gleichmäßig gelten und insbesondere auch dort angewendet werden, wo deutschstämmige Bevölkerung den Anschluß an das deutsche Reichsgebiet wünscht.“1733 Die deutsche politische Führung dachte bei der Verwendung des Selbstbestimmungspostulats in erster Linie daran, wie man vor allem Wilson und den USA entgegenkommen könnte,1734 wobei inhaltlich auch hier das Nähere schemenhaft blieb. Dass man sich erst spät, nämlich etwa ab den einsetzenden Diskussionen um die Friedensbedingungen im Mai 1919, und nur punktuell auf das Selbstbestimmungsrecht berief, zeugt auch davon, dass den Reichsdeutschen das Selbstbestimmungsrecht der Völker insgesamt fernliegend erschien.1735 Bezeichnend dafür, wie fremdartig deutschen Realpolitikern der Idealismus Wilsons im Grunde geblieben ist, ist ein Redebeitrag des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau vor der Deutschen Nationalversammlung vom 14. Februar 1919, in dem er sarkastisch von einem „Standpunkt der neuen internationalen Moral, die Wilson vertritt“ sprach. Trotz dieser gewissen Distanz äußerte BrockdorffRantzau aber nüchtern: „Ich akzeptiere den Standpunkt Wilsons […].“1736 Der DDP-Politiker Theodor Heuss ging so weit, bereits im März 1919 von den Vierzehn Punkten Wilsons als einer „historischen Anekdote“ zu sprechen.1737 Verbal und nach außen hin gerichtet, taten deutsche Politiker zwar gerne so, als sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein „gültige[s] Ordnungsprinzip absoluter
1732 1733
S. 20. 1734
Müller-Meiningen, Der Reichstag und der Friedensschluß (Fn. 1618), S. 32. Zitat bei Brandt, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationalitätsprinzip, 1930,
So auch Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 127. So auch Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 21. 1736 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 68 (A). 1737 Heuss, Das Friedensproblem, in: Das Demokratische Deutschland 1 (1919), S. 338. 1735
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Geltung“1738 – jedenfalls, wenn es außenpolitischen Zielen des Reichs nutzte –, im Grunde war man jedoch ab dem Frühjahr 1919 überzeugt, dass es im Versailler Friedensschluss gar nicht oder so gut wie nicht zur Anwendung kommen würde.1739 Vor diesem Hintergrund muss die Bedeutung des Selbstbestimmungsprinzips im Deutschen Reich, vor allem in einer „gewissen analogen Anwendung im Inneren“1740, gesehen werden. Manche fatalistischen Stimmen gingen so weit anzunehmen, aus der Unerfüllbarkeit und Undurchführbarkeit des „harten Friedens“ werde ohnehin die „Auflösung des Reiches“ folgen.1741 Es verwundert jedenfalls nicht, dass die als destruktiv und desintegrierend empfundene Berufung auf ein Selbstbestimmungsrecht der rheinischen Bevölkerung auf der Landes- und Reichsebene auf wenig Gegenliebe stieß. Ferner hatte sich in Österreich-Ungarn seit dem Herbst 1918 eine „eigentümliche Verkehrung der Fronten ergeben“, die zur Unübersichtlichkeit der Situation beitrug und alles andere als eine inhaltlich gefestigte Position widerspiegelte: „Jene Nationen, die seit Jahrzehnten mit dem Schlagwort des nationalen [!] Selbstbestimmungsrechtes ihre Freiheit zu erlangen suchten, waren zu Vertretern historischer Grenzen geworden, während die deutschösterreichischen Politiker, welche bis 1918 die historische Einheit des Gesamtstaates schützen wollten, nun das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung zum Grundsatz der Friedensregelung erhoben wissen wollten.“1742 Palleit spricht davon, dass die Deutschösterreicher in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht von der Seite der Anspruchsgegner auf die Seite der Anspruchssteller gewechselt hätten, was einen radikalen Perspektivwechsel dargestellt habe.1743 Wenn sich im Grunde zwischen der reichsdeutschen und deutschösterreichischen Vorstellung zum Selbstbestimmungsrecht keine inhaltlichen Differenzen ausfindig machen lassen, so bestanden 1918/19 im konkreten Handeln Berlins und Wiens doch gewisse Unterschiede.1744 Während die deutsche Politik insgesamt zurückhaltender und skeptischer bei der Verwendung des Begriffs gewesen ist, scheuten sich deutschösterreichische Politiker nicht, den Selbstbestimmungsgedanken situationsbedingt fruchtbar zu machen. Während das Selbstbestimmungsrecht etwa Kroaten und Slowenen nicht zuge1738 Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, in: Herbert Grundmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl. 1978, S. 181 f. 1739 Vgl. hierzu Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593), S. 74. 1740 So die Argumentation Carl Trimborns, vgl. Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 92. 1741 So der DDP-Politiker Ludwig Haas, vgl. Haas, Nein!, in: Berliner Tageblatt v. 8. Juni 1919. 1742 Fellner, Die Pariser Vorortverträge von 1919/20 (Fn. 1674), S. 18. 1743 Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 10. 1744 So mit Recht die Beobachtung bei Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 130.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
standen werden konnte, pochten Österreicher dann auf Selbstbestimmung, wenn es um den Anschluss an das Deutsche Reich ging, wie er insbesondere von der dominierenden österreichischen Sozialdemokratie angestrebt wurde. Insgesamt nahmen die Deutschösterreicher und auch die Sudentendeutschen das Selbstbestimmungsrecht häufiger und markanter in Anspruch, ohne jedoch zu einer inhaltlichen Konkretisierung beizutragen. Mehr noch als im angloamerikanischen Sprachraum wurde der Ausdruck „Selbstbestimmungsrecht“ dogmatisch vielschichtig, allzu oft sogar unreflektiert gebraucht.1745 Mehr und mehr stellte sich heraus, dass das Schlagwort des Selbstbestimmungsrechts nach dem Weltkrieg nicht viel mehr als eine „Propagandawaffe“ war, und zwar sowohl auf westalliierter wie auf bolschewistischer Seite, aber auch bei den Mittelmächten.1746 Zwar war es rhetorisch angezeigt, dem Selbstbestimmungsrecht zumindest Lippenbekenntnisse zu zollen, gerade als Siegermacht des Weltkrieges wollte man jedoch nicht über die hergebrachten Grundsätze des Siegerrechts hinwegschreiten. Wie bei in Mode gekommenen politischen Schlagworten zumeist der Fall, wurde auch der Begriff der Selbstbestimmung ebenso oft wie unreflektiert, insgesamt aber höchst selbstsicher gebraucht.1747 Dieter Blumenwitz führt an, ein beschränkter Minderheitenschutz in Form von einzelnen Minderheitenschutzverträgen sei eine „Ersatzlösung“ für die weitgehende Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gewesen.1748 Nur in wenigen Fällen, etwa im Memelland oder im Fall der Åland-Inseln, kann es zur Schaffung autonomer Gebietskörperschaften. Warum man sich mal mit Minderheitenschutzmaßnahmen begnügte, in anderen Fällen die Autonomie gewährte, lässt sich aus den Materialien zu den Friedensverträgen nicht mit Sicherheit herauslesen.1749 Die Rheinstaatsfrage war zwar ein regionales Randphänomen in dem Ringen um eine neue völkerrechtliche Ordnung der Beziehungen von Staaten und Völkern. Dennoch bemerkt Dülffer zur Friedensordnung von Versailles 1919: „Das Spannungsfeld zwischen Nationalstaat und Supranationalität einerseits, Regionalismus und Separatismus andererseits ist dabei insgesamt nicht zu übersehen.“1750
1745
Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 130 f. So auch Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 127. 1747 So auch Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 57. 1748 Blumenwitz, Minderheiten- und Volksgruppenrecht, 1992, S. 37 f. 1749 So auch Dörge, Der autonome Verband im geltenden Staats- und Völkerrecht (Fn. 1244), S. 71. 1750 Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts (Fn. 1547), S. 33. 1746
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4. Das Selbstbestimmungsrecht im Åland-Disput Als anschauliches Beispiel für die Entwicklung, das Verständnis und die Tragweite des Selbstbestimmungsrechtes in der Völkerrechtsordnung nach dem Ersten Weltkrieg dient der Åland-Streitfall des Jahres 1920. Zwar liegt diese Diskussion chronologisch nach dem zu untersuchenden Zeitraum zwischen November 1918 und August 1919, gleichwohl ist der Åland-Fall für das Verständnis des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf internationaler Ebene nach dem Ersten Weltkrieg insgesamt bedeutsam.1751 In ihm standen sich Schweden und das erst 1919 von Russland unabhängig gewordene Finnland1752 gegenüber. Bis zum Friedensvertrag von Fredrikshamn 1809 hatten die Åland-Inseln zum Königreich Schweden gehört, bevor sie mit dem Rest des Großfürstentums Finnland an Russland übertragen worden waren. Während der russischen Herrschaft bis 1917 bildeten die Inseln politisch einen Teil Finnlands.1753 Im Jahre 1918 hatte Schweden Streitkräfte auf die Inseln entsandt, unter deren Besatzung eine Volksabstimmung abgehalten wurde und in der sich 90 Prozent der Bewohner der Åland-Inseln für den Anschluss an Schweden aussprachen.1754 Aufgrund dessen forderte Schweden die Gebietshoheit über die Inseln, wobei auch militärstrategische und kulturelle Beweggründe eine Rolle spielten.1755 Die Inselbewohner selbst empfanden sich sprachlich und kulturgeschichtlich als Schweden und man betrachtete seine Eigenheit als durch die finnische Hoheit bedroht.1756 Daraufhin wandte sich die schwedische Regierung sowohl an Finnland als auch an die Pariser Friedenskonferenz und forderte die Durchführung einer offiziellen Volksabstimmung. Finnland wiederum berief sich darauf, die Angelegenheit unterliege alleinig der innerstaatlichen finnischen Zuständigkeit, berühre also die internationalrechtliche Ebene nicht.1757 Zunächst prüfte eine dreiköpfige Juristenkommission1758 im Auftrag des Völkerbundes, inwieweit den schwedischsprachigen, jedoch politisch zu Finnland ge-
1751
So auch Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 7. Ausführlich zur Unabhängigkeit Finnlands 1917 Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft (Fn. 1589), S. 207 ff. Finnland (die Åland-Inseln einbegriffen) stand seit 1809 unter russischer Herrschaft. 1753 Menzel, Åland-Inseln, in: Karl Strupp, Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl. 1962, S. 21 f. 1754 Menzel, Åland-Inseln (Fn. 1753), S. 23. 1755 Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 37 (1977), S. 605. 1756 Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 37 (1977), S. 608. 1757 Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 8. 1758 Zu den Mitgliedern dieser Kommission wurden ernannt: Prof. Ferdinand Larnaude (Frankreich), Prof. Antonius Struycken (Niederlande) und Prof. Max Huber (Schweiz). 1752
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
hörenden Åland-Inseln ein Selbstbestimmungsrecht und gegebenenfalls sogar ein Recht auf Sezession zustehen konnten. Die Juristenkommission kam in ihrem Gutachten1759 zu dem Zwischenergebnis, dass der Völkerbundsrat zur Entscheidung über die Åland-Frage zuständig sei, da es sich bei ihr um eine sogenannte „matter of international concern“ handele.1760 Finnland sei selbst noch kein abschließend konstituierter und in seiner völkerrechtlichen Stellung hinreichend gesicherter Staat, sondern befinde sich in einem politischen wie staatsrechtlichen Umwandlungsprozess. Dies aber sei eine faktischpolitische Situation, die letztlich außerhalb des Rechts zu beurteilen sei, jedenfalls aber dazu führe, dass Finnland de lege lata gegenüber den Selbstbestimmungsforderungen der Åländer nicht seinen nationalen Souveränitätsanspruch geltend machen könne, denn dieser bestehe bislang lediglich nach innerstaatlichem Recht Russlands, das sich überdies ebenfalls im revolutionären Umbruch befand. Unter besonderer Hervorhebung des für Schweden positiven Ausgangs der Volksabstimmung auf den Åland-Inseln, sahen die Juristen im Ergebnis keine Einwände, den Åländern ein Selbstbestimmungsrecht zuzusprechen und als Rechtsfolge deren Angliederung an Schweden anzuerkennen. Dabei unterschieden die Völkerrechtsexperten bei der rechtlichen Beurteilung des Selbstbestimmungsprinzips danach, ob der Adressat von Selbstbestimmungsbzw. Loslösungsforderungen ein Staat war, „which is definitely constituted“, oder ein (noch) nicht völkerrechtlich anerkanntes oder gar staatsrechtlich nicht verfasstes staatliches Gebilde, ein „provisorischer“ Staat. In dem Gutachten der Expertenkommission hieß es zum Grundsatz der Selbstbestimmung: „Obgleich das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker im modernen politischen Denken eine wichtige Rolle spielt, besonders seit dem Großen Krieg, muß darauf hingewiesen werden, daß es in der Völkerbundsatzung nicht erwähnt ist. Die Anerkennung dieses Prinzips in einer gewissen Zahl internationaler Verträge kann nicht als ausreichend angesehen werden, es gleichzusetzen mit einer positiven Regel des Völkerrechts. Im Gegenteil, beim Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen in internationalen Verträgen ist das Recht, über nationales Gebiet zu verfügen, ein wesentliches Kennzeichen der Souveränität jedes Staates. Das positive internationale Recht anerkennt nicht das Recht nationaler Gruppen, sich von dem Staat, von dem sie einen Teil bilden, durch den einfachen Ausdruck eines Wunsches abzutrennen, ebensowenig wie es das Recht anderer Staaten anerkennt, solche Abtrennung zu fordern. Ganz allgemein gesprochen, ist die Gewährung oder Verweigerung des Rechts an einen Teil seiner Bevölkerung, durch ein Plebiszit oder eine andere Me-
1759 League of Nations, The Aaland Islands Question. Report of the Committee of Jurists, Official Journal 10/1920, Spec. Supplements No. 3 und 5. 1760 Hierzu und im Folgenden insgesamt Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 32 ff.
III.
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thode dessen politisches Schicksal zu bestimmen, ausschließlich ein Merkmal der Souveränität jedes Staates, der definitiv konstituiert ist.“1761 Die Frage also, ob und in welchem Umfang ein existenter, etablierter Staat einem Teil der ihm unterworfenen Bevölkerung ein Selbstbestimmungsrecht zugesteht, war hiernach eine rein innerstaatliche Angelegenheit („domestic jurisdiction“) und keine Sache des Völkerrechts oder dritter Staaten. Insofern ging das Prinzip der Souveränität von gefestigten Staaten dem Prinzip der Selbstbestimmung von Kollektiven vor. Anders war dies nach der Expertenkommission freilich in den Fällen zu bewerten, in welchen sich infolge revolutionärer, staatsstreichartiger oder kriegerischer Auseinandersetzungen Staaten erst gerade gebildet, umgebildet oder aufgelöst hatten und es noch an einer souveränen Gewalt über Territorium und Volk fehlte. Man ging hier eher von faktisch-politischen Situationen aus, die mit dem bestehenden positiven Recht nicht greifbar erschienen. In der Übergangszeit von einer bloßen de-facto- in eine de-jure-Situation sollten Selbstbestimmungsbestrebungen nicht als rein innerstaatliche Angelegenheit betrachtet werden, vielmehr sei von gegebenenfalls damit einhergehenden Bestands- oder Gebietsveränderungen die gesamte Staatengemeinschaft betroffen. Für diese faktischen Situationen sah man die Gewährung eines Selbstbestimmungsrechts als probates Mittel an, den innerstaatlichen wie internationalen Frieden zu wahren. In diesen Übergangssituationen müsse es möglich sein, das Selbstbestimmungsrecht der Völker in die Diskussion einzubringen („may be called into play“).1762 Zwei Aussagen sind bedeutsam, nämlich zum einen wiederum, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht mehr als ein prominentes politisches Prinzip gewesen sei, aber gerade kein positives Völkerrecht, und zweitens, dass der Umgang mit Nationalitäten und Autonomie eine rein innerstaatliche Angelegenheit und vor dem Grundsatz der Staatssouveränität zu bewerten sei. Gegebenenfalls in einzelnen Umbruchsituationen, in denen die Frage der territorialen Souveränität nicht klar zu klären sei, konnte das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung unter bestimmten Voraussetzungen gestaltend zur Anwendung gelangen.1763 Andererseits wurde hervorgehoben, dass es sich bei der Selbstbestimmung um ein wichtiges politisches Prinzip handelte, das vielleicht juristisch nicht unmittelbar relevant sei, indessen einen politischen Prestigeverlust für solche Staaten bedeutete, die sich dem Selbstbestimmungsanliegen betroffener Bevölkerungen beharrlich widersetzten. Von großer Bedeutung ist ferner die sehr extensive Auffassung der Juristenkommission davon, wer als Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechtes in Frage kommen könnte, nämlich grundsätzlich jede soziale Gruppe als Gesinnungsge1761 1762 1763
Zitat bei Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 145. Blittersdorf, Das internationale Plebiszit (Fn. 1602), S. 9. Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 60.
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meinschaft, wenn sie nur ihren hinreichend gefestigten Willen zur Selbstbestimmung manifestiere. Entscheidend sei dabei, dass sich eine Bevölkerungsgruppe durch permanente Bekundung ihres Willens zur Selbstbestimmung als reale, aktive Bewusstseinsgemeinschaft nach außen darstelle.1764 Da die Ergebnisse der Expertenkommission jedoch den Konflikt nicht befriedigend lösen konnten, insbesondere nicht aus der Sicht Finnlands, setzte der Völkerbundsrat sodann eine „Kommission von Berichterstattern“ ein.1765 Diese folgte nicht den Schlussfolgerungen der Experten, sondern sah Finnland als vollkommen souveränen Staat an, bestimmte die Åland-Frage zu einer innerstaatlichen Angelegenheit und anerkannte letztlich die finnische Hoheit über die Inseln. Dabei wurde indes die „domestic jurisdiction“ Finnlands insoweit eingeschränkt, als der Bevölkerung der Åland-Inseln ein Minderheitenstatus und damit bestimmte Rechte gewährt werden sollten.1766 Dieses „Ja, aber“ bedeutete einen Kompromiss zwischen der Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Åländer und dem staatlichen Souveränitätsanspruch Finnlands. Der Streit um die Gebietshoheit wurde dem Völkerbundsrat zur Entscheidung vorgelegt und am 24. Juni 1921 letztlich zum Vorteil Finnlands entschieden.1767 In letzter Konsequenz wurde deutlich ein Recht auf Loslösung der Åländer verneint: Das Völkerrecht gebe gewissen Volksgruppen, wie den Åländern, nicht das Recht, die Trennung von ihrem politischen Staat zu fordern und den Anschluss an einen anderen Staat zu vollziehen.1768 Die Zuerkennung des Selbstbestimmungsrechts an einen bestimmten Volksteil falle vielmehr in die ausschließliche Zuständigkeit des betroffenen Staates – hier Finnlands –, sei also der Völkerrechtsordnung entrückt. Jede andere Lösung würde aufgrund der damit einhergehenden Instabilitätsrisiken dem Grundkonzept von Staatlichkeit zuwiderlaufen und schlussendlich auch die Interessen der Staatengemeinschaft, welche ihrerseits auf dem Prinzip der Staatssouveränität fuße, gefährden.1769 Nichtsdestotrotz wurde das „Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationalitäten“ geradezu lebhaft diskutiert. Tore Modeen führt die Bedeutung des „Prinzips“
1764
Vgl. hierzu Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten, 1995, S. 62 f. Vgl. hierzu Kommission von Berichterstattern im Auftrag des Völkerbundes, Société des Nations. La question des îles d‘Aland, 1921. 1766 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 34. 1767 Völkerbund, Official Journal (21), 1921 II, S. 699. 1768 Nach Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 37 (1977), S. 608. 1769 Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 26. 1765
III.
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auf den Versailler Friedensvertrag zurück, in dem man es „teilweise zu verwirklichen wünschte“.1770 Bemerkenswert sind die Ausführungen des Völkerbundsrates zum Sezessionsrecht, welches gegebenenfalls als ein „Notwehrrecht“ gegen den bestehenden Nationalstaat anerkannt werden konnte: „The separation of a minority from the State of which it forms a part and its incorporation in another State can only be considered as an altogether exceptional solution, a last resort when the State lacks either the will or the power to enact and apply just and effective guarantees.“1771 Damit war bereits die Möglichkeit der Sezession als sogenannte „remedial secession“ angedeutet, die freilich nur im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen durch den bestehenden Staat im Einzelfall gerechtfertigt sein können.1772 Peter Hilpold meint, auch im Åland-Fall sei nicht deutlich geworden, ob man von einem tatsächlichen Recht auf Selbstbestimmung ausgehen konnte oder lediglich von einem naturrechtlichen Prinzip bzw. von bloß pragmatisch-politischen Leitlinien.1773 Schöning geht davon aus, dass Selbstbestimmung nach wie vor „nur als Prinzip und noch nicht als ein Recht“ berücksichtigt worden sei.1774 Ebenso verweist Fisch darauf, dass sowohl Selbstbestimmungs- als auch ein darauf gründendes Sezessionsrecht auch im Jahre 1921 nicht völkerrechtlich anerkannt gewesen waren.1775 Dies entsprach der Rechtsauffassung der zunächst beauftragten dreiköpfigen Expertenkommission. Der Völkerbund begründete seine Intervention denn auch nicht unter Rückgriff auf ein etwaiges Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung der Åland-Inseln, sich von einem Staat loszusagen und sich einem anderen anzuschließen. Die Zuständigkeit des Völkerbundes zur Regelung der Angelegenheit wurde letztlich daraus
1770 Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 37 (1977), S. 608. 1771 Kommission von Berichterstattern im Auftrag des Völkerbundes, Société des Nations. La question des îles d’Aland (Fn. 1765), S. 28. 1772 Allgemein zu remedial secessions schrieb Karl Doehring 1974: „Eine wie auch immer geartete Treuepflicht einer Selbstbestimmungsgruppe zu ihrem Staat kann nur dann [!] entfallen, wenn eine nicht mehr zumutbare Diskriminierung dieser Gruppe vorliegt, die sich wesentlich gerade gegen diejenigen Gruppeneigenarten richtet, die für die Möglichkeiten der Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts charakteristisch sind.“, vgl. Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts, 1974, S. 49. 1773 Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 27. 1774 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 39. 1775 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 158.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
abgeleitet, dass Finnland noch kein gänzlich anerkannter Staat sei und der Völkerbund an die Stelle des ansonsten entscheidenden Staates treten müsse.1776 Gleichzeitig bedeutete das Gutachten der Kommission von Berichterstattern eine Desavouierung Wilsons, denn es hieß ausdrücklich, dass sich die Åländer gerade nicht „auf das von Präsident Wilson proklamierte Recht der Völker [berufen können, P.B.], frei über ihr Schicksal zu bestimmen“.1777 Man bezog sich dabei auf die Vorstöße Wilsons in der Angelegenheit von 1918 bis 1921.1778 Bedeutsam war auch die Feststellung der Juristen- wie auch der Berichterstatterkommission, wonach die Anerkennung eines Rechtes auf Selbstbestimmung zuvörderst eine innerstaatliche Angelegenheit sei, die der Entscheidung der internationalen Staatengemeinschaft entzogen sein müsse. Selbst Experten im Auftrag des Völkerbundes unterstrichen und sicherten damit die Wahrung staatlicher Souveränität als bedeutsame stabilisierende und ordnende Kraft, die im internationalen Recht Anerkennung finden müsse. Damals noch mehr als im heutigen Zeitalter mit seiner Tendenz zur zunehmenden „Individualisierung“ des Völkerrechts,1779 galt der Grundsatz, dass die Völkerrechtsordnung die Integrität der Staaten schützen muss.1780
IV. Das Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes – ein Sonderweg? Die erste Rheinstaatsinitiative vom November 1918 bis August 1919 fiel in eine Epoche, in der die Begriffe vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und vom Nationalitätsprinzip die vorherrschenden politischen Schlagworte gewesen sind. Insbesondere die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker verdankte – und verdankt noch heute – ihre Popularität ihrer schlechterdings nicht weg zu diskutierenden Verbindung mit staatlicher Unabhängigkeit und voller Souveränität. Insofern war die Auffassung von Lenin suggestiv und schlagend geworden, während die ursprünglich westlich-liberalen Konzeptionen von Autonomie und Selbstregierung neben dieser Strahlkraft matt und insgesamt wenig verheißungsvoll wirkten. 1776 Schöning, Föderale Intervention als Instrument zur Bewahrung eines Bundesstaates (Fn. 1428), S. 39; Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 37 (1977), S. 608. 1777 Kommission von Berichterstattern im Auftrag des Völkerbundes, Société des Nations. La question des îles d’Aland (Fn. 1765), S. 21: „[…] à disposer librement de leur sort.“ 1778 Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 995), S. 304, Fn. 29. 1779 Vgl. Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 38 f.: „Wenn man davon ausgeht, dass die Individualisierung der Völkerrechtsordnung zu einer Letztbegründung des Staates im Schutz des Individuums führt, so verliert ein Staat, der nicht fähig oder nicht willens ist, diesen Schutz zu garantieren, gleichsam seine Existenzberechtigung.“ 1780 Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 42 f.
IV.
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Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist zunächst festzuhalten, dass man bei dem Selbstbestimmungspostulat eher von einem vagen Ordnungsprinzip ausgehen musste. Der Gedanke der Selbstbestimmung war einer von vielen, der sich in ein breites Spektrum weiterer politischer Prinzipien für die Gestaltung der Nachkriegsordnung fügte.1781 Dennoch bewirkte das Selbstbestimmungsprinzip eine Dynamik, die einen Epochenumbruch begleitete. Der österreichische Sozialist Renner meinte noch 1917, die Nation habe zwar Anspruch auf eine „Sphäre freier Entschliessung, ihr Selbstbestimmungsrecht, ihre Autonomie“, ihr komme indes „kein ius secedendi“ zu.1782 Es müsse hiernach also bei rein innerstaatlichen Lösungen der Nationalitätenprobleme bleiben. Ein paar Jahre später schrieb er rückblickend und erkannte an: „Wir schreiben nach 1918 eine neue Welt: sie hat einen anderen Inhalt, sie fordert andere Ziele und Mittel.“1783 Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung darf man die Wirkmächtigkeit und die treibende Kraft des Selbstbestimmungsrechtes zu dieser Zeit nicht unterschätzen. Gleichwohl sprachen die herrschende Völkerrechtslehre und Völkerrechtspraxis dem Selbstbestimmungsgedanken einen rechtsverbindlichen Charakter ab.1784 Im Åland-Streitfall ging man lediglich von einem internen Selbstbestimmungsrecht aus, was sich im Einzelfall mit dem Anspruch unangetasteter staatlicher Souveränität vertragen musste. Dabei hatten in erster Linie die deutsche und deutschösterreichische Politik und Wissenschaft die „Sprengkraft“1785 dieser Ideen noch unterschätzt und entgegen aller Vorhersagen und Auffassungen zerbrach nach dem Ersten Weltkrieg der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Insbesondere war die reichsdeutsche Politik durch die Berufung der Rheinländer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker verschreckt worden, hatte doch Lenin das Prinzip kurz zuvor dazu verwendet, das Zarenreich „aufzusprengen“ und ging Wilson gerade daran, das Selbstbestimmungspostulat gegen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zu richten. Vielen Zeitgenossen erschien das ominöse Selbstbestimmungsrecht ohnehin als bolschewistische Propagandaformel, die für die „Fremdvölker im Osten“ geschaffen worden war, auf Mittel- und Westeuropa jedoch keine Anwendung finden durfte.1786 Die Alliierten gingen zunehmend dazu über, das Selbstbestimmungsrecht der Völker als unblutige „Waffe“ zu gebrauchen, um das Deutsche Reich ohne weiteren 1781
Hilpold, Die Sezession (Fn. 1647), S. 13. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 150. Hervorhebung im Original. 1783 Zitat bei Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 33. 1784 Brühl-Moser, Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter besonderer Berücksichtigung seines innerstaatlich-demokratischen Aspekts und seiner Bedeutung für den Minderheitenschutz (Fn. 1408), S. 37. 1785 Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 33. 1786 Vgl. etwa Müller-Meiningen, Der Reichstag und der Friedensschluß (Fn. 1618), S. 33. 1782
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
militärischen Aufwand schwächen zu können.1787 In den Artikeln 109 bis 114 des Versailler Friedensvertrags1788 vom 28. Juni 1919 war etwa festgelegt worden, dass in Nordschleswig eine Volksabstimmung über die weitere Zugehörigkeit zum Reiche abzuhalten sei, die dann im Frühjahr 1920 tatsächlich stattfand und eine Teilung von Schleswig ungefähr entlang der Sprachgrenze herbeiführte.1789 Als einer von vielen vertrat Müller-Meiningen im Februar 1918 die Ansicht, nichts sei für die aktuelle deutsche Politik verheerender als „das gleißnerisch schillernde Schlagwort des ,Selbstbestimmungsrechts der Völker‘, mit dem unsere Feinde uns mangels militärischer Erfolge politisch zu vernichten trachteten […]“.1790 Auch hatte das Deutsche Reich bereits negative Erinnerungen an das Selbstbestimmungsrecht der Völker. So erläuterte der Historiker Otto Brandt im Jahre 1930: „Schon einmal vor der Epoche des Weltkrieges ist die Losung ,Selbstbestimmungsrecht der Völker‘ vom Ausland her gegen die Politik Deutschlands erhoben worden: jetzt vor sechzig Jahren während des Deutsch-Französischen Krieges, als Wortführer aus anderen Nationen sich berufen fühlten, über das künftige Schicksal Elsaß-Lothringens mitzureden.“1791 Bereits hier war dem Deutschen Reich das Selbstbestimmungsrecht mit Blick auf die Elsässer und Lothringer in feindlicher Absicht entgegengehalten worden, so dass es nicht verwunderlich ist, dass das Schlagwort auch nach dem Weltkrieg noch reflexartige Ablehnung erfuhr. Die reichsdeutsche Politik befürchtete, Deutschland werde an seinen Rändern dauerhaft geschwächt und seiner Verteidigungsmöglichkeiten beraubt werden, so etwa neben Schleswig auch in Elsass-Lothringen, Eupen-Malmedy, Pommern, Posen, Ostpreußen und Oberschlesien. Bereits seit dem Waffenstillstand im November 1918 waren Politik und Vokabular der Reichsführung und nahezu aller bedeutsamen Parteien geprägt durch nationale Töne. Der Umbruch wurde weithin empfunden als „Gipfel- und Absturzerlebnis von 1918“.1792 Neben dem ungebrochenen Nationalismus der deutschnationalen und nationalliberalen Rechten (DNVP und DVP), hatte die lange Vorgeschichte einer engen Verknüpfung des liberalen und nationalen Denkens im deutschen (national-)liberalen Bürgertum des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass auch (links-)liberale Demokraten in der 1918 neugegründeten DDP zu einem „de1787
So auch Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung (Fn. 1441), S. 29. Friedensvertrag von Versailles zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, RGBl. 1919, S. 879 ff. 1789 Fisch, Die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker, oder der Versuch, einem Menschenrecht die Zähne zu ziehen (Fn. 1352), S. 56. 1790 Müller-Meiningen, Der Reichstag und der Friedensschluß (Fn. 1618), Vorwort. 1791 Brandt, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationalitätsprinzip (Fn. 1733), S. 6. 1792 Conze, Deutschlands weltpolitische Sonderstellung in den 20er Jahren, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 176. 1788
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mokratischen Nationalismus“1793 fanden, der selbst die sozialistische SPD nicht unberührt lassen konnte. So fanden etwa Max Weber, Friedrich Naumann, Paul Rohrbach, Ernst Jäckh und andere Fürsprecher eines liberalen Imperialismus im Kaiserreich ihren Weg in die DDP. Die Stärke eines liberalen Nationalbewusstseins nahm nach der Niederlage und der Revolution eher zu als ab.1794 Bei der DVP hieß es, dass die neue „Demokratie die Trägerin des nationalen Willens“ werden müsse und entweder werde „unsre Demokratie von nationalem Geist erfüllt sein […], oder sie wird nicht sein“. Und der DDP-Politiker Heuss schrieb, es sei die Aufgabe der Republik, „den langen Weg des deutschen Volkes zum deutschen Nationalstaat abzuschließen“.1795 Deutschnationalen Ideen historisch und weltanschaulich bedingt überwiegend fernstehend, widersetzte sich lediglich die katholische Zentrumspartei dem nationalistischen Trend dieser Zeit – internationalistische Kommunisten und Spartakisten einmal ausgenommen. Diese Beobachtung hilft zu verstehen, auf welch breite Front der Ablehnung die Rheinländer und führende Zentrumspolitiker mit ihrer Berufung auf ein etwaiges Selbstbestimmungsrecht des rheinischen Volkes stießen. Gerade eine starke nationale Politik wollte es im Inneren des Reichs und auch in Preußen nicht zulassen, dass einzelne deutsche Volksteile auf ein ihnen angeblich originär zukommendes Selbstbestimmungsrecht pochten. Hier herrschte,vereinfachend aber treffend mit Klaus Schwabe gesprochen, ein „eng gefasste[s] Selbstbestimmungsrecht“ vor.1796 In der zeitgenössischen Politik erschien das proklamierte „Selbstbestimmungsrecht“ der Rheinlandbewegung als diffuses und missverstandenes Schlagwort. Dabei ging es den Rheinländern indessen nicht viel anders als den übrigen deutschen Politikern, die die Formel vom Selbstbestimmungsrecht niemals in Frage gestellt, sich aber auch nicht um eine genaue Definition ihres Wesens und Inhalts bemüht haben. Schmid legt dar, dass sich 1918/19 in keinem Schriftstück und in keiner Äußerung eines deutschen Politikers je Unsicherheit über den Inhalt des Selbstbestimmungsrechtes finden ließ, man also den Begriff stets selbstsicher so verwendet habe, als sei er völlig unproblematisch.1797 So forderte Erzberger bereits am 3. Januar 1918: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss klar, ehrlich und wahr durchgeführt werden.“1798 1793 Der Begriff des „demokratischen Nationalismus“ in Abgrenzung zum reaktionären bzw. chauvinistischen Nationalismus der politischen Rechten findet sich etwa bei Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593). 1794 Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593), S. 23 f. 1795 Zitate bei Retterath, „Was ist das Volk?“, 2016, S. 180 f. 1796 Schwabe, Die deutsche Friedensstrategie in Versailles (Fn. 1615), S. 76. 1797 Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 131. 1798 Zitat bei Dülffer, Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, in: Jörg Fisch (Hrsg.), Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2011, S. 119.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Lediglich eine selbstreflexive Aussage Scheidemanns aus dem Jahr 1917 belegt die Verwirrung und Unsicherheit, die tatsächlich in Deutschland vorherrschte: „Der Begriff [Selbstbestimmung, P.B.] scheint mir dehnbar. Organisiertes Staatswesen kann darunter verstanden werden. ,Völker‘ kann auch gemeint sein. Wie weit soll man dann gehen? Die ,Nationalitäten‘ und ihre Autonomie forderten auch eine Begriffsbestimmung.“1799 So fand sich eine nahezu umfassende Parteienfront zusammen, die von SPD über DDP, DVP und DNVP reichte und die sich vehement gegen Pläne einer rheinischen Unabhängigkeit stellte. Es machte für die Politiker auch keinen Unterschied, dass es den Rheinländern tatsächlich nur um die Neugliederung des Reichs ging und gerade nicht um eine Loslösung aus dem Reichsverband. Unter Berücksichtigung des außenpolitischen Kampfes um die Friedensbedingungen ist es jedoch erklärlich, dass eine „Auseinanderdividierung“ des gesamtdeutschen Volkes in einzelne deutsche Stämme in dieser Frontstellung nicht in Frage kommen durfte. Ebendies aber unterstellte man den Rheinstaatsbefürwortern, nämlich die Schwächung Deutschlands aus egoistischen Motiven heraus. Einige Vertreter der Rheinlandbewegung ihrerseits zeigten im Frühjahr und Frühsommer 1919 nicht das notwendige „Fingerspitzengefühl“, etwa betreffend die regen Kontakte zu französischen Besatzungsoffizieren, so dass man ihnen die Treuebekundungen zum Deutschen Reich nicht glaubhaft abnahm. So weist Kluke mit Recht darauf hin, dass das Vorgehen der Putschisten rund um Dorten in Wiesbaden, die sich in ihrer Proklamationsschrift auf das „von aller Welt anerkannte[] Recht der Selbstbestimmung“ bezogen hatten,1800 „den rheinischen Autonomiegedanken über Gebühr in der späteren politischen und historischen Betrachtung diskreditiert“ habe.1801 Es dürfte in der Tat dieser waghalsige und schlecht vorbereitete Putschversuch gewesen sein, der ab Juni 1919 die Gedanken an Selbständigkeit und Selbstbestimmung jedenfalls politisch beschädigt hatte. Hier hatten Dorten und seine Mitstreiter sämtlichen Loslösungs- und Selbständigkeitsplänen für das Rheinland, auch mit perspektivischem Blick auf die Zukunft, einen Bärendienst erwiesen. Als Argument speziell in der verfassungsrechtlichen Neugliederungsdiskussion erschien der innenpolitisch-demokratische Selbstbestimmungsbegriff der Rheinstaatsanhänger jedoch nicht per se fernliegend, so dass man sich fragen muss, ob die Gegner des Rheinstaates den Hinweis auf rheinische Selbstbestimmung nicht absichtlich im Sinne einer Sezessionsabsicht missverstehen wollten.
1799 Zitat bei Dülffer, Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht und die Friedensregelungen nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts (Fn. 1798), S. 114. 1800 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 44. 1801 Zitat bei Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 276.
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Ein treffliches Beispiel dafür, dass das (innere) Selbstbestimmungsrecht durchaus in den Verfassungsberatungen eine Rolle spielte, ist die Rede des österreichischen Außenministers Bauer in der deutschösterreichischen Nationalversammlung im März 1919, also zeitgleich zu den Debatten in der deutschen Nationalversammlung und in der Preußischen Landesversammlung: „Die Provisorische Nationalversammlung hat […] das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Österreich festgelegt, sein Selbstbestimmungsrecht im Innern, indem sie Deutschösterreich die Verfassung einer demokratischen Republik gegeben hat […].“1802 Im Rheinland-Konflikt hatte die Frage nach rheinischer Selbstbestimmung keine völkerrechtliche Qualität erreicht, sondern blieb im Kern eine staatsrechtliche Herausforderung im weiteren Zusammenhang der allgemeinen territorialen Neugliederungsdebatte. Vergleicht man die Umbruchssituation des Deutschen Reiches 1918/19 mit der des neugebildeten Finnlands im Åland-Streitfall, so konnte die Berufung der Rheinländer auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Rheinstaatsfrage nicht zu einer Angelegenheit des internationalen Rechts werden lassen, sondern blieb eine rein innerstaatliche Angelegenheit. Das Deutsche Reich war trotz „Novemberrevolution“ und „Verfassungsvakuum“ bis August 1919 ein anerkannter und konstituierter Staat im Sinne des Völkerrechts geblieben, so dass die ungebrochene Souveränität des Reiches einer etwaigen Befassung der Völkergemeinschaft mit dem Rheinlandfall entgegengestanden hätte. Festzustellen ist jedoch, dass völkerrechtliche Argumentationsansätze zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Eingang in den staatsorganisationsrechtlichen Diskurs gefunden haben, was eine gewisse Offenheit im Verfassunggebungsprozess der jungen Republik von Weimar andeutet. So lautete etwa Artikel 2 der Weimarer Reichsverfassung: „Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Andere Gebiete können durch Reichsgesetz in das Reich aufgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt.“ Zwar zielte diese Bestimmung nicht auf das zum Reich gehörende Rheinland ab, sondern auf Deutschösterreich, aber zum einen wird auf das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich Bezug genommen und zum anderen ist der Grundsatz ausgesprochen, dass jedenfalls gliedstaatliche Angliederungen unter Berufung auf ebendieses Selbstbestimmungsrecht auch staatsrechtlich möglich waren. Es lag daher aus der Sicht eines Rheinstaatsanhängers nicht allzu fern, auch eine gliedstaatliche Neugliederung mit Hinweis auf das betätigte Selbstbestimmungsrecht der rheinischen Bevölkerung anzustreben, erschien doch das Selbstbestimmungsrecht als durch die Reichsverfassung anerkannt. Diese Verschränkung von internationalem Selbstbestimmungsrecht und nationalem Verfassungsrecht ist insbesondere vor dem Hintergrund erklärlich, dass das „Selbstbestimmungsrecht“ gerade (noch) kein allgemeiner Rechtsgrundsatz und 1802 Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich, Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich 1918 – 1919, Protokoll v. 12. März 1919, S. 29 – 57, hier S. 36.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
kein allgemeines Prinzip des Völkerrechts gewesen ist, sondern als ein „Grundsatz der politischen Moral“1803 hier und da anerkannt wurde. Anschütz schreibt in seiner Kommentierung zu Artikel 2 und dem dortigen Selbstbestimmungsbegriff: „Das ,Selbstbestimmungsrecht‘, von dem hier die Rede ist, ist kein positiver Rechtssatz (möglicherweise einer, der im Werden begriffen ist), insbesondere keine ,allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts‘ im Sinne des Art. 4, sondern eine Forderung politischer Gerechtigkeit […], der die RVerf freiwillig […] Rechnung trägt.“1804 Unter dem Gesichtspunkt politischer Moral bzw. Gerechtigkeit erschien eine Berufung auf das Selbstbestimmungspostulat grundsätzlich auch für die rheinländische Bevölkerung möglich. Die Rheinstaatsbewegung griff, so gesehen, einer innerstaatlich-konstitutionellen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker lediglich vor im Frühjahr 1919.
1. Die Rheinländer als taugliches Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker? Dass die Auffassung von Rheinstaatsanhängern, nach der die Rheinländer mögliche Träger des Selbstbestimmungsrechts seien, nicht absurd gewesen sein kann, wird im Hinblick auf die Expertenmeinung der Juristenkommission im ÅlandDisput 1920 deutlich. Hier ging man davon aus, dass das Rechtssubjekt denkbar weit verstanden werden konnte, nämlich prinzipiell jedwede soziale Gruppe als Rechtsträger in Betracht kam, die einen Selbständigkeitswillen hinreichend gefasst und überdies manifestiert hat. Wenn auch der Åland-Rechtsstreit einige Zeit nach dem Ende der ersten Rheinstaatsinitiative lag, so ist hieran dennoch abzulesen, dass zum Träger des Selbstbestimmungsrechts (noch) sämtliche Meinungen vertretbar erschienen und zwischen engherziger objektiver Bestimmung und extensiver subjektiv-voluntaristischer Auffassung alles begründbar war. Wenn die Rheinstaatsanhänger von der rheinländischen Bevölkerung als „Volk“ sprachen, so war dies ein romantisch-politischer Begriff, dessen Komposita wie etwa Volksbewusstsein, Volksseele, Volkswille, Volkskörper, Volksgenosse, Volksganze, Volkscharakter, Volksempfindung, Volkskraft und schließlich Volksgemeinschaft und Volksstaat1805 insbesondere durch die nationalliberale Bewegung im 19. Jahrhundert für ihre einheitsstaatlichen Zwecke vereinnahmt worden waren. Zu dieser gesamtdeutschen Volksidee setzte sich die erste Rheinstaatsinitiative indes nicht in Widerspruch, verstand sie das „rheinische Volk“ doch nicht alternativ zum deutschen, sondern kumulativ im Sinne einer abgestuften kollektiven Identität als Deutsche und Rheinländer. Somit „sprengten“ die Rheinstaatsanhänger nicht den 1803 1804
S. 46. 1805
Heidelmeyer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Fn. 1450), S. 54. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), Beispiele bei Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 36 f.
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deutschen Volks- bzw. Nationsbegriff, wie ihnen die Kritiker gerne vorwarfen,1806 indem sie ihr rheinländisches Sonderbewusstsein hervorhoben. Bewusst war in der Rheinlandfrage niemals die Rede von einer „rheinischen Nation“, da auch der radikalste Rheinstaatsbefürworter niemals in Abrede stellte, dass die Rheinländer Teil der deutschen Nation waren und dies auch bleiben sollten. So definiert exemplarisch wie prominent Decker: „Eine Nation ist eine Menschengruppe, die sich durch Merkmale wie die räumliche Geschlossenheit des Siedlungsgebietes, gemeinsame Abstammung, Sprache, kulturelle Traditionen, Geschichte, besondere psychische Wesensart und Gemeinschaftsbewußtsein von anderen derartigen menschlichen Gemeinschaften unterscheidet und die Fähigkeit und den Willen besitzt, eine dauerhafte, selbständige Existenz zu führen, über deren Form sie selbst entscheidet und die sich in der Bereitschaft der Angehörigen dieser Gemeinschaft ausdrückt, Opfer für sie zu bringen.“1807 Während man in einer Subsumtion das Vorliegen der objektiven Merkmale unter Berücksichtigung ripuarischen bzw. fränkischen Dialekts, römisch-katholischer Konfession, rheinischen Brauchtums, rheinscher Geschichte und rheinfränkischer Abstammung noch wohlwollend bejahen mag, hatten die Rheinländer indessen subjektiv nicht den Willen, eine „dauerhafte, selbständige Existenz“ losgelöst vom Reich zu führen. Nach Renner ist „Nation“ ein ausschließlich politischer Begriff und gerade kein naturwissenschaftlicher, ethnologischer oder soziologischer. Danach seien „Nationen organisierte oder wenigstens organisierbare Menschenmassen, die aus der Gesamtheit der menschlichen Gesellschaft sich im Raume absondern und durch besondere Geschichte, Sprache und Kultur losheben, neben- und widereinander Macht erstreben und Macht üben und so als wollende und handelnde Einheiten auftreten“.1808
1806 Bis zum heutigen Tage ist es bei der Analyse Deckers geblieben, dass „Volk“ eher die natürliche, organisch gewachsene Abstammungs- und Sprachgemeinschaft meint, während „Nation“ auf die politische, verfasste Willensgemeinschaft hindeutet. Gleichzeitig aber wurden im deutschen Sprachgebrauch üblicherweise beide Begriffe im Ergebnis im gleichen Sinne verwandt, vgl. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 63 f. So auch Gerhard Leibholz: „Volk und Nation sind nicht dasselbe, auch wenn der moderne Sprachgebrauch diese Begriffe nicht selten in einem synonymen Sinne verwendet. Volk ist im Gegensatz zur Nation in Wahrheit etwas von Natur Gegebenes.“, vgl. Leibholz, Volk, Nation und Staat im 20. Jahrhundert, 1958, S. 5. Theodor Veiter geht ebenfalls von diesem Verständnis vom Staatsvolk (bzw. Nation) aus, wenn er resümiert: „Wenn man Nation nicht als Summe der Staatsangehörigen betrachtet, ist heute Nation auf Staat bezogenes Volk.“, vgl. Veiter, Deutschland, deutsche Nation und deutsches Volk, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 73 (1973), S. 19. 1807 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 63. 1808 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 7.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Entscheidend sei, dass eine menschliche Gemeinschaft in die „Sphäre des selbstbewussten Entschlusses (Nationalbewusstsein)“ fortgeschritten ist, als selbst Handelnde auftritt und sich mit den „überlieferten Akteuren“ misst.1809 Erst dann sei die „aktive Volkheit“ tatsächlich Nation, wobei die Aktivität in dem Bestreben nach politischer Selbstbestimmung des geeinten Volkstums bestehe.1810 Das nationsbildende Element ist und bleibt dabei ein historisch-politisches und gerade kein ethnologisches.1811 Die Nation allein habe alle Kriterien der „geschichtlichen Vollpersönlichkeit“ und mache sich als solche den Staat zum bloßen Instrument: „[…] Autarkie und Harmonie, diese Selbstbestimmung herzustellen, ist der Zweck, dem das Mittel Staat dient.“ Dabei beruft sich Renner auf Meinecke: „Persönlichkeit heisst nicht nur möglichste Autonomie, sondern auch möglichste Autarkie und harmonische Einheit und Ausbildung aller inneren Kräfte und Anlagen.“1812 Renner resümiert schließlich: „Die Nation bedient sich also des Staatsmechanismus, erstens um ein Ausmass der Erdoberfläche und die darauf lebenden Menschen, somit den Fundus instructus, unter ausschliesslicher Herrschaft zu halten – sie nimmt also ein Stück Welt und Stück Menschheit ins unbeschränkte Sondereigentum – […].“ Nach all diesen Kriterien wird deutlich, dass es den ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 nicht darauf ankam, sich als „aktive Volkheit“ eine Nation als „geschichtliche Vollpersönlichkeit“ zu formen. Der zu bildende Rheinstaat sollte eben nicht mit Blick auf das Deutsche Reich autark sein, sondern diesem als Gliedstaat weiterhin angehören. Insofern zielte die Rheinstaatsinitiative gerade nicht darauf ab, „ein Stück Welt und Stück Menschheit ins unbeschränkte Sondereigentum“ zu nehmen. In gewisser Parallelität zu Renner operiert Josef Isensee mit einem politischsoziologischen Nationsbegriff, wonach Nation jedoch als vorrechtliche, reale Größe eine Menschengruppe sei, die durch den Willen zur staatlichen Gemeinschaft zusammengeführt und zusammengehalten werde. Objektive Umstände wie Sprache, Religion, Kultur oder Geschichte nährten dabei das kollektive Selbstbewusstsein und die Bereitschaft zur Volkssolidarität; im Grunde aber bleibe der Volks-/Nationsbegriff, in Anlehnung an Renans plébiscite de tous les jours, ein deliberativer.1813 1809
Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 7. 1810 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 9. 1811 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 11. 1812 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich (Fn. 1243), S. 10. Hier auch das nachfolgende Zitat. 1813 Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz, in: Peter Hilpold, Walter Steinmair, Christoph Perathoner (Hrsg.), Europa der Regionen, 2016, S. 12.
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Hiernach waren die Rheinländer trotz gemeinsamer objektiver Merkmale deshalb keine Nation, weil sie neben einer spezifisch rheinländischen Solidarität dem (gesamt-)deutschen Volk die „Volkssolidarität“ nicht versagten und sich in einem hypothetisch gedachten Plebiszit à la Renan nicht gegen die deutsche Nation entschieden. Somit hätte kein Rheinländer dem Liberalen Naumann widersprochen, als dieser 1918 forderte: „Wir wollen Deutsche sein! Gedenke, daß Du ein Deutscher bist!“1814 Die Gegner des Rheinstaates, insbesondere die preußische Staatsführung, warfen der Rheinstaatsbewegung jedoch vor, durch eine idealistische und romantische Überhöhung der Gebiete entlang des Rheins zu einer Art rheinischen „Kulturnation“ aus der Zeit zu fallen. Die rheinländische Vorstellungswelt knüpfe an eine Landkarte Deutschlands an, wie sie vor der Nationalbewegung und der Reichsgründung 1871 Bestand hatte. Man unterstellte den Unabhängigkeitsbefürwortern anno 1919 ein vormodernes Deutschlandbild, das mit einem Ausspruch von Christoph Martin Wieland aus dem Jahre 1792 (!) treffend umschrieben ist: „Wer das deutsche Reich aufmerksam durchwandert, lernt zwar nach und nach Österreicher, Brandenburger, Sachsen, Pfälzer, Baiern [sic!], Hessen u.s.w. […], aber keine Deutschen kennen.“1815 Und mit Ernst Moritz Arndt könnte man sein 1813 gedichtetes Vaterlandslied singen: „Was ist des Deutschen Vaterland, ist’s Baiernland, ist’s Schwaben?“ Die Berufung auf das „rheinische Volk“ war jedoch mehr als folkloristische Tümelei und Rheinromantik, sondern trug, auch noch in den Jahren 1918/19, dem Gedanken der deutschen Stämme Rechnung. So sprach der Historiker Brandt noch im Jahr 1930 wie folgt über den Volksbegriff: „Man pflegt den mehrdeutigen und auch im Vergleich mit dem Begriff ,Nation‘ öfter erweiterten Begriff ,Volk‘ in dem Sinne zu nehmen, daß er eine durch Geschichte und Tradition, Sprache und Sitte, überhaupt durch gleiche Kultur verbundene Gemeinschaft bedeutet; daher gebrauchen wir das Wort auch von Teilen eines Volkes und sprechen etwa von dem fränkischen oder dem rheinischen Volk.“1816 Hier wird deutlich, dass es noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus üblich war, neben dem deutschen Volk die einzelnen deutschen Stämme (jedenfalls) sprachlich zu Völkern zu erheben, so auch hier ganz explizit die Rheinländer. Dieser Umstand zeigt, dass es bis zur selbstbewussten Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die Rheinstaatsanhänger nicht mehr weit war. Nach alldem waren die Rheinländer jedenfalls als deutscher Stamm anerkannt. Bereits im 9. Jahrhundert entwickelte sich in Deutschland der Begriff des „Stammes“ heraus, mit dem sowohl ein ganzes Volk als auch eine ethnische Untereinheit be1814
Naumann, Die deutsche Einheit, in: Die Hilfe 24 (1918), S. 569. Zitat bei Hillgruber, Minderheitenschutz und Volksbegriff in der ideengeschichtlichen Diskussion (Fn. 1456), S. 26. 1816 Brandt, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationalitätsprinzip (Fn. 1733), S. 5. 1815
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
zeichnet wurde. Der Stammesbegriff betonte dabei insbesondere die Kriterien der Herkunft und der Abstammung sowie eine spezifische Zusammengehörigkeit.1817 Insoweit irrt Jörn Retterath, wenn er schreibt, der Bezeichnung „Stamm“ habe kein „ethnologischer oder historischer Befund“ zugrunde gelegen.1818 Die Bezeichnung als „Stamm“ war, auch mit Blick auf die Rheinländer, gerade in Abgrenzung zu den Westfalen, durchaus geläufig in Politik, Geschichte und sogar im Staatsrecht. Zu behaupten, die postulierte „Stammesgemeinschaft“ sei nicht mehr als ein „Konstrukt“ gewesen, verkennt die historische Bedeutung des uns zugegebenermaßen heute fremd anmutenden Begriffs. In Deutschland hatte sich die Bezeichnung als Stamm für historisch gewachsene und zumeist eigenständig dynastisch regierte deutsche Volksteile wie etwa Bayern, Sachsen, Schwaben, Österreicher und Hessen etabliert. Auch waren die Rheinländer, manchmal ethnisch konnotiert als „Rheinfranken“ bezeichnet, als deutscher Stamm anerkannt, da man ihnen eine eigentümliche Kulturgeschichte und Mentalität zuerkannte. Es fragt sich jedoch, ob aus der rheinischen Stammeseigenart gewisse Gruppenrechte folgen konnten; insbesondere, ob man sich in den Weimarer Verfassungsberatungen ab dem Frühjahr 1919 auf ein Selbstbestimmungsrecht (der Völker) stützen konnte, um zu einer rheinländischen (Glied-)Staatlichkeit zu gelangen. Auf diese Idee waren etwa die Putschisten um Dorten gekommen, denn sie proklamierten ein „Selbstbestimmungsrecht der deutschen Stämme“.1819
2. Inhalt und Umfang des Selbstbestimmungsrechts in der Rheinstaatsfrage Wenn, vereinfacht gesprochen, das Selbstbestimmungsrecht als Recht eines Volkes darin besteht, frei über sein politisches Schicksal zu entscheiden, dann hat es verschiedenartige Möglichkeiten zu dessen Verwirklichung. Zentral ist die freie Ausgestaltung des eigenen politischen Status.1820 Nach Gilbert H. Gornig sind fünf Situationen für die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts erkennbar bzw. zu unterscheiden, wobei eine dieser Situationen die Rheinstaatsinitiative – die Rechtsträgerqualität dabei zunächst offengelassen – recht
1817
Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 47 f. Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 250. Hier auch das nachfolgende Zitat. 1819 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 4. Auch Kuckhoff betonte stets „Stammesverschiedenheiten“, vgl. Kuckhoff, Die Rheinlandfrage, in: Hochland 17 (1920), S. 33. 1820 Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten (Fn. 1764), S. 70. 1818
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treffend erfasst, nämlich dass ein „Volk“ eine bestimmte politische Organisation innerhalb eines existenten Staates einfordert.1821 Freilich ebenso in Betracht zu ziehen mit Blick auf tatsächliche oder vermeintliche Einverleibungsabsichten der Franzosen ist die Situation nach Gornig, dass sich ein Volk unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht gegen eine Annexion zur Wehr setzt.1822 Tatsächlich bestand die Forderung der ersten Rheinlandbewegung darin, einen vom Freistaat Preußen losgelösten und unabhängigen rheinländischen Gliedstaat im Bundesstaat des Deutschen Reiches zu errichten. Ziel war mithin die politische Selbstorganisation in der Form eigener Staatlichkeit. Grundsätzlich spricht man für den Fall, dass das Selbstbestimmungsrecht innerhalb der Grenzen eines bestehenden Staates verwirklicht wird, vom sogenannten „inneren“ oder „internen Selbstbestimmungsrecht“, während der äußere Aspekt des (externen) Selbstbestimmungsrechts die Sezession vom bisherigen Staat umfasst.1823 Unter dem Begriff der äußeren Selbstbestimmung bzw. dem hierzu komplementären Recht versteht man die Verwirklichung einer territorialen Statusänderung, die gerichtet ist entweder auf die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die Vereinigung mit einem anderen, bereits existenten Staat zu einem neuen Staat oder die bloße Eingliederung in einen anderen bestehenden Staat.1824 Etwas vereinfachend, aber grundsätzlich treffend, spricht Gornig von der „Festlegung der Verhältnisse zu anderen Völkern bzw. deren Staaten“.1825 Konstitutiv für diese Ausprägung ist eine konsequente Rechts- und damit einhergehende (völkerrechtliche) Statusänderung bezüglich des Staatsgebietes. Decker schreibt in diesem Zusammenhang von der „Selbstbestimmung des Staates“ und setzt staatliche Selbstbestimmung gleich mit völkerrechtlicher Souveränität.1826 Dies beschreibt jedoch nur einen Teilaspekt dessen, was man gemeinhin als „äußeres Selbstbestimmungsrecht“ versteht, nämlich lediglich die Selbstbestimmung bereits existenter Staaten gegenüber anderen Staaten, was mit dem Begriff der (äußeren) Staatssouveränität besser beschrieben ist. Eng mit der äußeren Selbstbestimmung verbunden, ist das Problem der Sezession als Mittel zur Durchsetzung dieses äußeren Selbstbestimmungsrechtes. Somit ist die äußere Selbstbestimmung als gegen die Integrität, d. h. politische Einheit und territoriale Unversehrtheit von unabhängigen und souveränen Staaten gerichtet zu 1821
S. 17 f. 1822
Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 6 (1993),
Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 6 (1993), S. 18. Vgl. etwa Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten (Fn. 1764), S. 70. 1824 Vgl. etwa „The principle of equal rights and self-determination of peoples“ in der Friendly-Relations-Erklärung (Resolution 2625 [XXV], Annex). 1825 Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 6 (1993), S. 21. 1826 Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 28. 1823
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
verstehen.1827 Demnach wäre die Loslösung aus einem abhängigen, nicht-souveränen Staat nicht als Durchsetzung des Rechts auf äußere Selbstbestimmung zu sehen, weil in diesem Fall das Merkmal der territorialen Statusänderung zweifelhaft erscheint: Wenn im Ausgangspunkt kein völkerrechtlicher Status besteht, ist die Feststellung einer Abspaltung oder einer Statusänderung obsolet. Letztlich gewährleistet das Recht der Staaten auf äußere Selbstbestimmung somit die Unabhängigkeit von anderen etablierten Staaten im Sinne einer Völkerrechtsunmittelbarkeit. Ist insbesondere letztere nicht das Ziel einer Loslösungs- oder Neugliederungsinitiative, sollte demnach nicht von äußerer Selbstbestimmung gesprochen werden. Die ersten Rheinstaatsbestrebungen hatten nicht die Völkerrechtsunmittelbarkeit des zu errichtenden rheinländischen Staates zum Ziel; man wollte sich gerade nicht aus dem alleinig souveränen Deutschen Reich loslösen, also die Sezession betreiben. Zwar war eine territoriale und staatsrechtliche Lossagung vom preußischen Freistaat avisiert worden, dies bedeutete jedoch keine Sezession von einem unabhängigen und souveränen Staat im Sinne des Völkerrechts. Jedenfalls mit Blick auf die bundesstaatliche Neugliederung 1919 sollte mithin nicht von einem äußeren Selbstbestimmungsrecht die Rede sein. Behauptete man sich als rheinischer Deutscher gegenüber den Annexionsplänen der Franzosen für das linke Rheinufer, so mag man selbstredend darin die Geltendmachung des äußeren Selbstbestimmungsrechts des deutschen (!) Volkes erblicken. Im Gegensatz dazu kennzeichnet der Begriff der inneren oder auch internen Selbstbestimmung das Recht eines Volkes, seine inneren politischen Angelegenheiten eigenständig, eigenverantwortlich und in politisch-administrativer Unabhängigkeit zu gestalten, also insgesamt politische Selbstregierung auszuüben. Gornig ist der Auffassung, das interne Selbstbestimmungsrecht bezeichne allgemeiner das Recht eines Volkes, sein politisches und wirtschaftliches System frei zu wählen.1828 Diese Dimension des Selbstbestimmungsrechts betrifft das Verhältnis eines (Teil-)Volkes zu seiner Regierung und ist insbesondere zu deuten als einerseits negatives Recht auf Identitätswahrung und -pflege sowie andererseits als aktives Recht auf Partizipation. In dieser Lesart ist die Selbstbestimmung im Lichte des Prinzips der Volkssouveränität zu betrachten, wonach jeder Regierung Legitimität nur dann zugestanden werden kann, wenn sie sich auf den Volkswillen gründet und auf diesen zurückzuführen ist. Zentral ist dem Prinzip innerer Selbstbestimmung die Idee, dass staatliche Herrschaft eines grundsätzlichen Konsenses bedarf. Aus dem 1827
Vgl. die richtige Präzisierung in der Friendly-Relations-Erklärung: „Die vorstehenden Absätze sind nicht als Ermächtigung oder Ermunterung zu Maßnahmen aufzufassen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten teilweise oder vollständig auflösen oder beeinträchtigen würden, die sich in ihrem Verhalten von dem oben erwähnten Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker leiten lassen und daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebietes ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt.“ Hervorhebung durch Verf. 1828 Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien 6 (1993), S. 21.
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Selbstbestimmungsrecht folgt hiernach ein Anspruch auf politische Vertretung auf den verschiedenen Ebenen des Gesamtstaates,1829 aber ebenso grundsätzlicher auf die „Systemwahl“, also prinzipiell auch der Anspruch, eigenständiger Gliedstaat in einem Bundesstaatsverband zu sein. Treffend ist hierzu die Kategorisierung Deckers, der unter der Bezeichnung „innerstaatliche Selbstbestimmung“ definitorisch von „Selbstbestimmungsbestrebungen innerstaatlicher Gebietskörperschaften“, wie etwa von „Gemeinden, Kreisen, Städten und Ländern“ spricht, die sich zumeist dem politischen Gesamtorganismus zugehörig fühlten. Diese sollten genauer als „Selbstverwaltungs- oder Autonomiebestrebungen“ bezeichnet werden.1830 Noch restriktiver sind die Schlussfolgerungen zum Begriff der internen Selbstbestimmung, wie sie Felix Ermacora 1982 gezogen hat.1831 Innere Selbstbestimmung meine „das Recht der Bevölkerungen, im Wege demokratischer Verfahren den Status zu bestimmen, welchen die entsprechenden Gebiete innerhalb der bundesstaatlichen Struktur der Republik […] einnehmen sollen“. Es gehe um den Status von Territorien in einem Bundesstaat im engsten Sinne des Wortes. Gemeint sei mit „innerer Selbstbestimmung“ nicht irgendeine Form der Dezentralisation oder Dekonzentration eines Staates, sondern gerade die Dezentralisation durch die „bundesstaatliche Regierungsform“ komme dem Sinne der klassischen Selbstbestimmung näher als alle anderen Formen der Dezentralisation, „weil sie die größtmögliche Unabhängigkeit eines Gemeinwesens in einem gegebenen Staatenverband [sic!] aufweist“. Interne Selbstbestimmung ist nach Ermacora nur als gebietsbezogene politische Unabhängigkeit im Bundesstaat zu verstehen und nicht anwendbar auf andere Ausprägungen institutionalisierter Selbstverwaltung; wo kein Bundesstaat vorhanden ist, könne nicht von „innerer Selbstbestimmung“ gesprochen werden. So sei es beispielsweise falsch, von einer inneren Selbstbestimmung Südtirols zu sprechen, da Italien bekanntlich kein Bundesstaat ist. Diese Verengung Ermacoras, das innere Selbstbestimmungsrecht nur im bundesstaatlichen Kontext anzuerkennen, ist wiederum zu restriktiv gefasst und scheint mittlerweile von der Konzeption des „föderalen Selbstbestimmungsrechtes“ überholt zu sein. Es ist zudem teleologisch nicht angezeigt, Kommunalverbänden, Regionen, Gauen, Provinzen oder Départements eine Berufung auf das Recht der inneren Selbstbestimmung a priori zu versagen. Zur grundsätzlichen staatserhaltenden Funktion des föderalen Selbstbestimmungsrechts schreibt Boysen: „Die freie Entscheidung eines Volkes über seinen politischen Status verweist die Inhaber staatlicher Gewalt auf das Faktum, dass Herrschaft dauerhaft der Legitimation durch die Beherrschten bedarf und ist daher 1829
Blumenwitz, Volksgruppen und Minderheiten (Fn. 1764), S. 73. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Fn. 982), S. 29. 1831 Ermacora, Über die Innere Selbstbestimmung, in: Franz Hieronymus Riedl (Hrsg.), Menschenrechte, Volksgruppen, Regionalismus, 1982, S. 31 ff. 1830
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auf Grundlage der jeweiligen Gegenwartsbedingungen immer wieder neu zu treffen. Indem das Konzept der inneren Selbstbestimmung die Koppelung von Selbstbestimmung und Sezessionsbegehren durchbricht und damit dem Interesse des betroffenen Staatswesens an der Wahrung seiner territorialen Integrität entgegenkommt, erfüllt es einerseits eine strukturkonservierende Funktion.“1832 Dies gelte insbesondere für eine bundesstaatliche Staatsorganisation, welche ein „föderales Selbstbestimmungsrecht“ ermöglichen könne. Boysen geht davon aus, dass ein solches Selbstbestimmungsrecht „weithin als vielversprechendes Instrument zur Vermeidung gewaltsamer […] Konflikte und Sezession“ angesehen werden kann.1833 Im Grunde erscheint ein als „föderal“ bezeichnetes Selbstbestimmungsrecht als Ausprägung des allgemeineren Konzepts der inneren Selbstbestimmung. Hierin bereits mitgedacht ist der Umstand, dass gewissen Gruppen ein Recht auf Mitbestimmung und Anteil an der Staatsleitung und -verwaltung zukommen muss, damit diese adäquat in den (Gesamt-)Staat integriert werden. Der föderale Staatsaufbau erscheint dabei als höchstpotenzierte Möglichkeit zur Gewährleistung innerer – eben föderaler – Selbstbestimmung. Die Lossagung aus dem preußischen Staatsverband verhieß vor allem eine Befreiung von der als atheistisch und katholikenfeindlich empfundenen Kultur- und Bildungspolitik sowie insgesamt von der unbeliebten sozialistischen Führung Preußens, deren demokratische Legitimität man in Zweifel zog. Dies weist darauf hin, dass es den Rheinländern im Kern um die Wahrung der rheinländischen Identität ging, für die insbesondere Kirchen-, Kultur- und Bildungspolitik als bestimmend angesehen wurden. Daneben kam es ihnen auf politisch-administrative Partizipation an, vor allem in der Angelegenheit der Besetzung von (höheren) Provinzialverwaltungsstellen mit Rheinländern. Diese Motive sprechen für die Annahme einer in letzter Konsequenz als innenbezogen aufgefassten rheinischen Selbstbestimmung. In der Rheinstaatsfrage ging es überdies darum, ob die Rheinländer als Bevölkerung eines eigenen Gliedstaates „reichsunmittelbar“ an der Führung des Reiches teilhaben würden, oder ob sie preußische Provinz, also letztlich Preußen, blieben. Die Forderung der Rheinstaatsanhänger nach einem „Los von Preußen“ wirkte vor dem Hintergrund eines intern-föderalen Selbstbestimmungsrechts nicht als abwegig. Im Prinzip mit Recht konstatiert Retterath: „Dieses regionale Sonderbewusstsein knüpfte an die Vorstellung, als eigenständiger ,Stamm‘ ein politisches Selbstbestimmungsrecht ausüben zu dürfen, an und dehnte damit den Anwendungsraum der Idee eines ursprünglich ,national‘ gedachten Selbstbestimmungsrechts auf die regional-ethnische Ebene aus.“1834 Im Ergebnis nennt er das rheinische Selbstbestimmungsrecht ein „regionale[s] Selbstbestimmungsrecht[]“.1835 1832 1833 1834
Boysen, Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Demokratie (Fn. 1477), S. 86 f. Boysen, Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Demokratie (Fn. 1477), S. 102. Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 250.
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Dabei ist Retterath jedoch nicht präzise in seiner Analyse, wenn er von einem „politischen“ Selbstbestimmungsrecht spricht, denn die Rheinländer waren der Überzeugung, ein staatsrechtlich anerkanntes Recht auf innere bzw. föderale Selbstbestimmung zu haben. Ferner überzeugt die Einordnung als „regionales“ Selbstbestimmungsrecht nicht, denn in einer strikteren Abgrenzung zwischen Regionalismus und Föderalismus1836 sollte besser von einem föderalen Selbstbestimmungsrecht die Rede sein. Erweitert wird das Koordinatensystem zum inneren/föderalen/äußeren Selbstbestimmungsrecht durch den Vorschlag Schmids, noch stärker geographisch zwischen westeuropäisch-angelsächsischen und mitteleuropäischen Vorstellungen und Konzepten zu unterscheiden. Die westeuropäisch-angelsächsische Vorstellung von Selbstbestimmung sei auf ein inneres Selbstbestimmungsrecht, also ein innenpolitisch-demokratisch motiviertes, bezogen gewesen, während das zentraleuropäische unitarisch-völkisch konzipiert und eben nicht subjektiv-demokratisch sondern objektiv-national begründet worden sei. Schmid würdigt diese gefestigte Beobachtung eingehender im historischen Kontext. Hiernach habe sich die innere Selbstbestimmungskonzeption in den westlichen Ländern Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten herausbilden können, weil hier frühzeitig der Prozess einer umfangreichen gesellschaftlichen und auch ethnischen Integration eingesetzt hatte, von dem man sagen konnte, er habe in gewisser Weise bereits mit den Revolutionen und Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts seinen Abschluss gefunden. Schmid resümiert: „Jene Revolutionen schließlich bewirkten neben anderen Faktoren ein Zusammenfallen von Staat und Nation, von Staatsbürgerschaft und Nationalität.“1837 In diesen integrierten Gesellschaften konnte sich „Selbstbestimmung“ als politische Mitbestimmung des einzelnen Staatsbürgers vollziehen. Unter Übernahme der Begrifflichkeiten von Fellner nennt Schmid das westliche Selbstbestimmungsverständnis „konstitutionell“, da sich hierbei das Selbstbestimmungsrecht im Rahmen einer verfassungsrechtlich integrierten und staatlich institutionalisierten Gesellschaft ausdrücke. Der Rheinstaatsbewegung ging es einerseits um selbstverwaltende Unabhängigkeit und kulturelle Selbstbehauptung, andererseits sollte kein übergeordnetes Bundesland, insbesondere kein tradiert-überkommenes, dessen Führung als „wesensfremd“ angesehen wurde, akzeptiert werden. Man wollte nicht länger als bloße Rheinprovinz durch den Freistaat Preußen mediatisiert, sondern diesem und anderen Gliedstaaten gegenüber gleichgestellt sein. Insgesamt ist ein gewisses argumentatives Anknüpfen an die innenbezogen-demokratische Selbstbestimmungskonzeption
1835 1836 1837
Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 251. Siehe hierzu Kapitel D.III. Schmid, Selbstbestimmung 1919 (Fn. 1352), S. 141.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
der Aufklärung und der US-amerikanischen sowie französischen Revolution auszumachen. Es ist erkennbar, dass den Rheinstaatsanhängern ferner das demokratische Selbstbestimmungsideal Wilsons 1918/19 vor Augen stand, in dem ebenfalls das Streben nach politisch-partizipatorischer Selbstbestimmung maßgeblich gewesen ist und gerade nicht die territoriale Loslösung aus einem souveränen Nationalstaat. Föderale Selbstbestimmung lag danach tatsächlich auch im Reichsinteresse. In diesem Sinne definierten die Wiesbadener Putschisten um Dorten das Selbstbestimmungsrecht, wie sie es verwirklicht sehen wollten: „Das Reichsinteresse erfordert, daß die Bewohner aller deutschen Gaue ihre Zugehörigkeit zum Reich in derjenigen bundesstaatlichen Form verwirklicht sehen, die dem Wunsch und Willen der tatsächlichen Mehrheit der Bevölkerung in den betreffenden Gebieten entspricht.“1838 Diese Beschreibung von Selbstbestimmung klingt deutlich nach Wilson und seinem „consent of the governed“, der verlangt, dass die Beherrschten ihre eigene politische Form selbständig sollten wählen können. Es war ferner General Mangin, der Dahlen und Mönikes vom Aachener Arbeitskreis am 7. Mai 1919 das Selbstbestimmungspostulat nach Wilson nahelegte: „Alles ist zu retten, wenn man, anstatt eine Republik, die einen Teil Deutschlands bildet, auszurufen, eine unabhängige Republik erstrebt. Die Parole ,Los von Berlin!‘ muß vollständig verwirklicht werden. Sie können sich auf Wilsons Grundsatz stützen, daß die Völker über sich selbst bestimmen sollen. ,Eine autonome deutsche Republik‘ sagen Sie; fügen Sie ,unabhängig‘ hinzu und nehmen Sie Ihr Recht in Anspruch, sich unverzüglich dem Versailler Kongreß vorstellen zu lassen!“1839 Dabei hatte der Franzose, wohl eher am politischen Schlagwort als an der tatsächlichen Konzeption Wilsons interessiert, das westlich-konstitutionelle, interne Selbstbestimmungsrecht jedoch falsch verstanden. Während sowohl die Aachener als auch später Dorten dem offen separatistischen Ansinnen Mangins nicht folgen wollten, so wird jedoch einsichtig, dass eine Orientierung der Rheinstaatsanhänger an dem westlichen Wilson-Postulat von Selbstbestimmung bestand. Die zu schaffende Reichsverfassung sollte das Ziel der rheinländischen Gliedstaatlichkeit ermöglichen, so dass die (moderate) Rheinstaatsinitiative folgerichtig die im Februar 1919 einsetzenden Verfassungsdiskussionen als ein Mittel zu diesem Zweck betrachtete. Das innere, föderale Selbstbestimmungsrecht der Rheinstaatsanhänger war hiernach gleichsam ein konstitutionelles.
1838 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 9. 1839 Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 493.
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3. Die Versagung eines Selbstbestimmungsrechts des rheinischen Volkes Ebendieses Selbstbestimmungsrecht versagte die 1919 vorherrschende Meinung im Deutschen Reich und in Preußen den Rheinstaatsanhängern. Die Frage der Neugliederung des Reichsgebiets wurde als überindividuelle, gesamtstaatliche Herausforderung verstanden und somit allein als Aufgabe des national-verfassten Kollektivs des deutschen Volkes. Dieser Ansicht verlieh etwa Koch-Weser im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung Ausdruck: „Zu der in diesem Zusammenhange aufgeworfenen Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker bemerke ich, daß innerhalb eines demokratischen Staats nicht die einzelnen Landesteile, sondern die Mehrheit der Gesamtbevölkerung entscheidet, wie sich der Staat gliedern soll.“1840 In diesem Sinne stellte Preuß fest, der die Beratungen der Reichsverfassung ab Ende 1918 maßgeblich bestimmte: „Es gibt so wenig eine preußische oder bayerische, wie eine lippische oder reußische Nation; es gibt nur eine deutsche Nation, die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll.“1841 In seiner Rede vor der Nationalversammlung zur Begründung des Verfassungsentwurfs vom 24. Februar 1919 sprach er einen Satz, der wiederum auf Freiherr vom Stein zurückgehen soll : „Ich kenne nur ein Vaterland, und das heißt Deutschland; deshalb kann ich auch nur dem gesamten Deutschland und nicht einem Teile davon mit ganzer Seele ergeben sein.“1842 Auch bei Meinecke findet sich der Gedanke des deutschen Nationalstaats als – trotz aller Stämme – unteilbarer „Volksstaat““, als er im Dezember 1918 ausführte: „Der nationale Gedanke in seiner höchsten Form fordert die […] Versöhnung der Volksgenossen miteinander und duldet nicht, daß die Nation sich in zwei miteinander hadernde Völker spaltet.“1843 Es zeigt sich einmal mehr, wie das leichtfertige Missverständnis oder die arglistige Unterstellung, die Rheinstaatsbewegung wolle durch eigenmächtige Loslösung die Nation spalten, zur Folge hatte, dass das Streben nach einem Gliedstaat Rheinland unter Hinweis auf den zu bildenden unitarischen Volksstaat verworfen werden konnte. Die Anerkennung eines föderalen Selbstbestimmungsrechts und der Rekurs auf die eigene Stammeseigenart wurden zu nicht hinnehmbaren Anachronismen erklärt.1844 1840 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 105. 1841 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 136. 1842 Zitat bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 154. 1843 Meinecke, Der nationale Gedanke im alten und neuen Deutschland, in: Ders. (Hrsg.), Nach der Revolution, 1919, S. 64. 1844 Freilich wird diese beschriebene Skepsis ein Stück weit nachvollziehbar, berücksichtigt man die mitunter schrillen Töne, die die Rheinstaatsbefürworter zuweilen anstimmten, vor
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Noch im Jahr 1927 erteilte Gerber sämtlichen Versuchen, eine strikte Gliederung nach Stämmen zum bundesstaatlichen Neuordnungsideal zu erheben, eine generelle Absage: „Allerdings können wir nicht von einer unwandelbaren Stammesgliederung des Deutschtums sprechen; die Geschichte hat bedeutsame Wandlungen auch in diesen Entfaltungsmöglichkeiten unserer Volksart vollzogen und der tatsächlich gemachte und immer wieder vorgeschlagene Versuch Deutschland nach einem früheren Jahrhunderten entnommenen Schema der Stammesbildung neu zu gliedern mußte und muß auch künftig schon wegen seiner wirklichkeitsblinden Mißachtung [!] der Ergebnisse geschichtlicher Entwicklung scheitern. So wenig zulänglich eine solche Gliederung wäre, so wenig entspricht der gegenwärtige Zustand den ursprünglichen Grundlagen. Es gilt Anlage und Geschichte bei der Fortbildung [der Reichsordnung, P.B.] zu berücksichtigen.“1845 Andererseits dozierte Brandt im Jahre 1930 noch von dem „Recht eines Volksstammes [!], einen einzigen politischen Körper zu bilden“.1846 Dies weist darauf hin, dass der Wunsch nach einem rheinischen (Frei-)Staat 1919 eben doch nicht derart „antiquiert“ und rückwärtsgewandt gewesen ist, wie dies vor allem die Unitaristen und Preußenbewahrer gerne behaupteten. Mit den Worten Dietrich Murswieks war das Selbstbestimmungsrecht der Rheinländer „offensiv“, hatte es doch die Funktion, die Selbstbestimmung des rheinischen „Volkes“ gegen den bestehenden Territorialstatus zur Geltung zu bringen, der als preußische Fremdbestimmung aufgefasst wurde.1847 Jedenfalls die gemäßigten Rheinstaatsbefürworter hatten früh verstanden, dass das offensive Selbstbestimmungsverständnis der Rheinländer in Einklang oder jedenfalls in Ausgleich gebracht werden musste mit dem „defensiven“ Selbstbestimmungsrecht eines „preußischen (Staats-)Volkes“. Wenn auch der Freistaat Preußen nicht völkerrechtlich souverän war, so war er doch das machtgestützte Gegebene, das an seiner unangetasteten Bewahrung festhielt und das offensive rheinländische allem wenn eine vermeintlich spezielle Sendung und Bedeutung des rheinischen Volkes nach der Novemberrevolution betont werden sollte. In der Kölnischen Volkszeitung hieß es am 31. Januar 1919, einen Tag vor der Gründung des Westdeutschen Politischen Ausschusses, man müsse sich der „Weltmission des rheinischen Volkes“ bewusst werden, die darin bestehe, Materialismus und Internationalismus durch ein „reinere[s] Deutschtum“ und einen „Sieg des Geistes“ zu überwinden. Auf diese Weise würde ein starkes Rheinland den „kranken deutschen Volkskörper“ heilen (KV Nr. 87 v. 31. Januar 1919). Hier konnte man in der Tat den Eindruck haben, das rheinische Volk positioniere sich gegen den deutschen „Volkskörper“, was man nicht durch eine Aufwertung der Rheinländer noch befördern wollte. 1845 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 396. 1846 Brandt, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationalitätsprinzip (Fn. 1733), S. 12. 1847 Vgl. Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, in: Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn, Dietrich Murswiek (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau, 2013, S. 95 ff. Grundlegend Ders., Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht. Zum Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in: Der Staat 23 (1984), S. 523 ff.
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Selbstbestimmungsrecht im preußischen Interesse am Status quo zurückwies. Schon in der Rheinstaatsfrage 1918/19 zeigte sich in der innerstaatlichen Sphäre der im Völkerrecht häufig auftretende Konflikt zwischen offensivem und defensivem Selbstbestimmungsrecht. Wie auch in der späteren Völkerrechtsgeschichte regelmäßig zu beobachten ist,1848 setzte sich 1919 letztlich das defensive Selbstbestimmungsrecht gegen das offensive durch. Zwar verweigerte man dem Stamm der Rheinländer die Berufung auf ein inneres Selbstbestimmungsrecht, dennoch war registriert worden, dass auf die Bevölkerung Preußens der Begriff eines deutschen „Stammes“ nicht passte und dass Preußen mit seinen mehreren dort sesshaften Stämmen als eine Art stammesmäßig-artifizielles Gebilde erscheinen musste.1849 Eine recht konstruiert anmutende, jedoch originelle Begründung dafür, warum es dennoch kein Loslösungsrecht der Rheinländer aus dem preußischen Staat geben konnte, lieferte wiederum Gerber rückblickend im Jahr 1927. Diese Erklärung verdient es, umfänglich wiedergegeben zu werden, ist sie doch staatstheoretisch mit Blick auf die Rheinstaatsfrage als Zeugnis der Zeit sehr erhellend.1850 Historisches Kennzeichen der Eigenart des preußischen Staates sei, so Gerber, „die ungeheure Aktivität der Gemeinschaftsbildung durch persönliche Tat“, die eine „wahrhaft staatsbildende Kraft in der Gemeinschaft“ zeige. Preußen sei, in Anlehnung an Meinecke, „Staatsnation“, die süddeutschen Länder seien in ihrer Stammeshomogenität „Kulturnation[en]“. In Preußen seien deshalb verschiedene Stämme nebeneinander möglich, weil das „Schwergewicht des Preußentumes […] in der politischen Haltung und Leistung“ liege, Stammeseigenarten und Stammespflege aber weitgehender Entfaltungsfreiraum gewährt würde. „Preußentum ist Staatsgeist“ und „deswegen konnte sich das Rheinland […] gerade seit seiner Zugehörigkeit zu Preußen als ein Gebiet mit eigener kultureller Sonderart entwickeln, die durchaus von der Eigenart der übrigen preußischen Landesteile unterschieden ist“. Gerber stellt dem preußischen „Staatsgeist“ rheinischen „Volksgeist“ gegenüber und folgert, dass sich beide nicht ausschlössen, sondern vielmehr gegenseitig bedingten und ergänzten. Hierbei beruft er sich auf ein Zitat Otto von Gierkes: „Der Volksgeist entfaltet im Staatsgeist seine auf Handeln gerichtete Energie, der Staatsgeist schöpft aus dem Volksgeiste die ihn beseelende Kraft. Im Staate wird das Volk Person!“ Es sei demnach etwa den Rheinländern nicht möglich, „die preußische Art abzuschütteln“, um sich sodann „selbst in ihrer ,angestammten Sonderart‘ wiederzufinden“. Die preußische Art sei nämlich keine Sonderart neben anderen, sondern „gemeinsame Haltung“ aller in Preußen siedelnden Stämme, die überhaupt erst eine 1848 Siehe hierzu die Beispiele bei Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht (Fn. 1847), S. 106 ff. 1849 Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 397. 1850 Vgl. hierzu auch im Folgenden Gerber, Bedeutung und Gefahren autonomer Verbände im gegenwärtigen Reiche, in: Zeitwende 3 (1927), S. 398.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
Staatsbildung ermöglicht habe. Anders gewendet könnte man sagen, Gerber spricht den Rheinländern die Haltung ab, ein lebens- und leistungsfähiger Staat außerhalb Preußens werden zu können. Wenn auch die Kategorisierungen und Gegenüberstellung von Staats- und Kulturnation sowie Staats- und Volksgeist originell sind und suggestiv wirken, so erscheinen sie doch nicht haltbar, um valide zu begründen, warum der Rheinprovinz eine Loslösung aus dem preußischen Staat a priori verwehrt sein sollte. Zum einen geht Gerber von einem Vorrang der Staatsnation gegenüber der Kulturnation aus, der jedenfalls nicht ohne weiteres logisch oder historisch herleitbar ist. Er bleibt ohne ideengeschichtliche Belege dafür, dass politischer Wille, politische Haltung und Tat, sofern überhaupt zu bejahen, eine superiore Staatsbildungsfunktion und -qualität gegenüber ethnisch und kulturell gewachsenen Gemeinschaften einnehmen. Folgte man dieser Argumentation, müsste man den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker in letzter Konsequenz völlig aufgeben. Dann wäre nämlich der slowakischen, kroatischen, bosnischen, griechischen und serbischen Kulturnation niemals ein Loslösungsrecht von den Staatsnationen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich zuerkannt worden; der „Staatsgeist“ des ökonomischen und militärischen Potentaten triumphierte stets über den sanften, mit sich selbst beschäftigten, folkloristischen „Volksgeist“. Diese fragwürdige Begründung für die Konservation existenter Staatsgebilde dürfte jedoch treffend veranschaulichen, wie die Mehrheit der Deutschen und insbesondere der Preußen mit Blick auf die Rheinstaatspläne 1918/19 eingestellt war. Dass dieser (wenn auch retrospektive) Ansatz einen Rheinstaatsanhänger niemals hätte überzeugen können, liegt auf der Hand.
4. Zusammenfassung und Ausblick Im Sommer 1919 hatte die rheinische Selbstbestimmungsforderung tatsächlich lediglich zu dem Versprechen einer zukünftigen Gewährung weitergehender Selbstverwaltung geführt, womit sich die legalistisch-konstitutionelle Mehrheitsströmung innerhalb der Rheinstaatsbewegung jedoch arrangieren konnte. Insofern hatte die rheinische Unabhängigkeitsbewegung zumindest im Sinne eines demokratisch-konstitutionellen Verständnisses der Selbstbestimmungsidee Erfolg, die politische Selbstregierung in den Vordergrund rückt. Diese war zwar nicht vollumfänglich gewährt worden, sicherte aber immerhin die Bewahrung und Pflege kultureller und konfessioneller Eigenarten der Rheinländer. Man könnte für diese Fälle von einem „verdünnten“ Selbstbestimmungsrecht sprechen,1851 jedenfalls aber
1851 Bredow, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwischen Politik und Recht (Fn. 1542), S. 37.
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konnte aus der Sicht Preußens auf diese Weise einer Loslösung der Rheinprovinz oder Teile derselben vorgebeugt werden. Damit erscheint die erste Rheinstaatsinitiative 1918/19 in der letztlich gefundenen Lösung als bemerkenswert „modern“ und der weiteren Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker einen Schritt voraus gewesen zu sein. So hat Murswiek zutreffend dargelegt, dass die Idee des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg „im Prinzip auf die Bildung von Nationalstaaten angelegt“ gewesen sei,1852 also sich in der Regel nicht mit einer innerstaatlichen Selbstbestimmungskonzeption begnügen wollte. Vielleicht gemeinsam betrachtet mit dem Åland-Streitfall, bildet die erste Rheinstaatsproblematik somit einen historischen Präzedenzfall für den Weg hin zu einem modernen Verständnis von innerer Selbstbestimmung und Selbstverwaltung; ein Weg, der bis heute nicht in seiner Entwicklung abgeschlossen ist. Ebenso zeigt sich in den ersten Rheinstaatsbestrebungen ein Gespür der Protagonisten dafür, dass das offensive Selbstbestimmungsrecht des rheinischen „Volkes“ mit dem defensiven des „Staatsvolkes“ Preußens abzuwägen sein musste und letztlich dieser Konflikt rechtlich zu bewältigen sei. In ihrer Hervorhebung eines weitgehenden Föderalismus zur Lösung kultureller bzw. regionaler Konflikte im Nationalstaat, wirkt die frühe Rheinstaatsbewegung einmal mehr jenseits ihres Zeitgeistes und erscheint umso moderner. Eine ausgearbeitete Regionalismussoziologie stand der Rheinlandbewegung 1918/19 freilich noch nicht zur Seite. Erst recht war nicht daran zu denken, dass regionalistische Leitsätze zur Richtschnur einer praktischen deutschen Politik werden konnten, wie sie etwa das „Internationale Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus“ (INTEREG) im Jahr 1978 formulierte.1853 Unter der Überschrift „Regionale Selbstbestimmung“ wurde hier proklamiert: „Jeder – nicht nur der vom Selbstbestimmungsrecht der Völker betroffenen – Region soll die freie Wahl der Zugehörigkeit zu einem politischen System und des politischen Status in demselben zustehen, wobei in erster Linie ethnische und in zweiter Linie historische, schließlich geographische und eventuell wirtschaftliche Kriterien zur Abgrenzug der Regionen heranzuziehen sind.“ Ganz im Sinne der historischen ersten Rheinstaatsinitiative, wurde hier der Föderalismus als die vollendete Form des Regionalismus gepriesen, denn „Eigenart und Selbstbestimmung der Regionen finden ihre stärkste Berücksichtigung, wenn regionale Institutionen auf unabgeleiteter Eigenständigkeit und sohin auf Gleichordnung mit der Zentralgewalt beruhen, soweit nicht diese formal föderative Struktur durch eine zentralistische Gesellschaftsordnung unterlaufen wird.“ Zum Zwecke des
1852
Murswiek, Demokratie und Freiheit im multiethnischen Staat, in: Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig, Dietrich Murswiek (Hrsg.), Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 49. 1853 Vgl. Esterbauer, Regionalistische Leitsätze, in: Europa Ethnica 36 (1979), S. 95 ff.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
bestmöglichen Ausgleichs regionaler und überregionaler Interessen empfahlen die Leitsätze einen „Föderalismus mit Bund und Mitgliedern (Regionen)“. Das wirft die analytisch interessante Frage auf, ob man das Rheinland nach modernen Maßstäben, die 1918/19 freilich noch gänzlich unbekannt waren, richtigerweise als „Region“ qualifizieren kann. Grundsätzlich weist Isensee darauf hin, dass es sich bei der Region um „eine organisatorische Ebene unterhalb des Nationalstaates, aber oberhalb der Kommunen“ handelt. Sie sei gekennzeichnet durch räumliche Gemeinsamkeit und wolle bewusst ihre „radizierte Besonderheit“ hegen.1854 Karin Schnebel nennt drei mögliche Wege, den Begriff der Region (politikwissenschaftlich) zu definieren: „Erstens territorial, zweitens über die Existenz eines Netzwerkes von Transaktions- und Kommunikationsstrukturen und drittens durch die (jeweils gemeinsame) Art der kollektiven Wahrnehmung der Akteure und der Identität.“1855 Letztlich geht es darum, dass Gebiete sich durch bestimmte Eigenheiten auszeichnen oder von den angrenzenden Gebieten unterscheiden, wobei Regionen sich sowohl innerhalb eines Staates als auch in staatenübergreifenden oder grenzüberschreitenden Verbindungen von Gebieten herausbilden. Konstitutiv sei ein durch gemeinsame politische oder ökonomische Interessen bestehendes Netzwerk von Transaktions- und Kommunikationsstrukturen, die sich im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereich bewegen. Das Motiv der Zusammenarbeit in der Region sei eine über bloße Interessen hinausgehende, tiefere Solidarität, die auf einer gemeinsamen Art der kollektiven Wahrnehmung gründe. Dabei dienten regionale Zusammenschlüsse der „Stärkung der Autonomie“, denn Regionalismus wahre politische (Sonder-)Rechte von Provinzen, Landschaften oder eben Regionen.1856 Natürlich dient es nicht einer zeitanalytischen Betrachtung der ersten Rheinstaatsbestrebungen, sondern einem historischen Ausblick, wenn wir die modernen Maßstäbe von Regionalisierung und Regionalismus anlegen. Ohne eine vertiefte regionalökonomische bzw. regionalsoziologische Untersuchung vorgenommen zu haben, lässt sich sagen, dass im Rheinland mit der ausgeprägten kulturellen, konfessionellen und bodenverhafteten Selbstgewissheit seiner Bewohner eine fortgeschrittene Regionalisierung bereits 1918/19 bestand, auch wenn man politisch ein Bestandteil Preußens war. Dies beweist nicht zuletzt die merkliche Popularität der Rheinstaatspläne in der Bevölkerung und die Beobachtung, dass es durchaus eine rheinländische „Solidarität“ gegeben haben muss, an die nicht zuletzt die Rheinstaatsbewegung anknüpfen konnte. Als Beispiel sei an dieser Stelle an die ideelle und
1854 1855 1856
Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz (Fn. 1813), S. 14. Schnebel, Selbstbestimmung in multikulturellen Gesellschaften, 2003, S. 52. Schnebel, Selbstbestimmung in multikulturellen Gesellschaften (Fn. 1855), S. 52.
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personale Verflechtung der diversen lokalen Rheinstaatsinitiativen und -zirkel, etwa aus Köln, Bonn, Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Trier und Wiesbaden, erinnert. Nicht unproblematisch ist die Frage nach der territorialen Bestimmtheit desjenigen Gebietes, das man als „Rheinland“ verstand. Einen Ansatzpunkt liefert eine Streitschrift aus dem Jahr 1919: „Andere wollen den kräftigen Rheinstaatgedanken dadurch bekämpfen, daß sie die Rheinprovinz zerschlagen, indem sie die drei nördlichen Bezirke Köln, Aachen und Düsseldorf mit Westfalen zu einer Art Industrieprovinz vereinigen. Dieser törichte Gedanke [!] verdient seitens der rheinischen Bevölkerung die energischste Zurückweisung. Das fehlte auch noch, daß man das Gebiet, das unbedingt eine geographische Einheit ist, zerrisse [sic!]! […] Es ließe sich vielleicht darüber sprechen, ob nicht besser ein Teil des rechtsrheinischen Industriebezirk [sic!] abgetrennt und Westfalen zugeteilt würde.“1857 Ein weiterer, anonym gebliebener Rheinstaatsanhänger forderte mit Blick auf den Rheinstaat: „Es sollen nur Gebiete angeschlossen werden, die zu einander [sic!] gehören. Die Schlagader des neuen Staates sei der Rhein; der Rhein von der holländischen bis zur elsässischen Grenze.“1858 Es wird deutlich, dass man im Besonderen eine als unnatürlich empfundene Aufspaltung des Rheinlandes in einen nördlichen und einen südlichen Teil vermeiden wollte. Vielmehr dachte man an das gesamte Rheinland, besonders aber an ein zusammengehöriges linksrheinisches Territorium. Die Rheinische Republik war nach dem Willen ihrer Befürworter konzipiert – freilich harrend der verfassungsrechtlichen Entscheidungen der Nationalversammlung – entweder als Gliedstaat im Bundesstaat des Deutschen Reiches oder als autonome Region im dezentralisierten Einheitsstaat. Dem deutschen Nationalstaat im Umbruch sollten im Inneren neue Grenzen gezogen werden.1859 Bedeutsam war den Rheinstaatsanhängern jedenfalls der Schutz der „Eigenart eines Kulturraums vor dem Nivellement der Mehrheitsdemokratie“1860 ; das bürgerlich-katholische Rheinland als „Westmark“ sollte gegenüber Bolschewismus, Sozialismus und deren Materialismus und Nihilismus östlicher Provenienz abgeschottet sein. Dass es am Ende, im Sommer 1919, nicht zum rheinischen Gliedstaat reichte, sondern „lediglich“ die Aussicht auf ein Plus an Selbstverwaltung bestand, tut der Einordnung der jungen Rheinstaatsbestrebungen unter dem Schlagwort „Regiona-
1857 1858 1859
S. 15.
Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 37 f. Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 34 f. In Anlehnung an Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz (Fn. 1813),
1860 Element des Regionalismus bei Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz (Fn. 1813), S. 14 f.
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E. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Selbstbestimmungsrecht
lismus“ keinen Abbruch, erfasst es doch sowohl Phänomene der (Glied-)Staatlichkeit als auch der Selbstverwaltung.1861 Insoweit war die frühe Rheinstaatsbewegung durchaus modern in ihrem betonten Regionalismus, denn sie hat bereits ihrer Zeit voraus nachvollzogen, was Otto Dann bei einer Betrachtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts [!] so beschrieb: „In der weiteren Entwicklung dieses nationalpolitischen Selbstbestimmungsrechts ist eine charakteristische Wandlung des Subjekts der Selbstbestimmung zu beobachten: zuerst die Nation, dann das Volk (Ethnie, Nationalität), schließlich die Region.“1862 Es lässt sich bereits für die frühe Rheinlandbewegung 1918/19 feststellen, was sich bis zum heutigen Tage als charakterisierende Merkmale regionalistischer (Protest-)Gruppierungen beobachten lässt. Peter Waldmann hat die für regionalistische Bewegungen typische Argumentation pointiert herausgearbeitet, die auch für die erste Rheinstaatsinitiative kennzeichnend ist: „Sie [die Bewegung, P.B.] wird auf Mißstände und Entwicklungsdefizite in der Region hinweisen, für die angeblich der Zentralstaat und die von ihm der Region auferlegte politische und administrative Ordnung verantwortlich zu machen sind, so daß eine Verbesserung der Situation nur von einer Übertragung vermehrter Kompetenzen und Mittel auf die Region zu erwarten sei. Die eigentliche Absicht des Diskurses ist die Unterminierung und Erschütterung des dem Zentralstaat entgegengebrachten Vertrauens, an dessen Stelle die regionalistische Bewegung die Anhänglichkeit und politische Loyalität der regionalen Bevölkerung zu gewinnen hofft.“1863 Zentral bei dieser Betrachtung ist ein angestammtes Siedlungsgebiet, in dem es für die soziale Gruppe wichtig ist, die regionale Vorherrschaft auszuüben. Dieses Vorgehen erscheint bereits deshalb naheliegend, weil diese Siedlungsgruppen „strukturelle Minderheiten“ seien, die im Gegensatz zu politischen Minderheiten innerhalb eines bestehenden Systems niemals die Möglichkeit hätten, selbst zur Mehrheit zu werden.1864 So erstrebt jede regionalistische Gruppe für sich einen gesonderten politischen Repräsentationsmechanismus, da sie als solche auf keiner Ebene hinreichend politisch repräsentiert ist.1865 Ebenfalls treffend analysiert Waldmann für regionalistische Gruppen im Allgemeinen, was sich bei der ersten Rheinstaatsbewegung ganz konkret ab Februar 1919 beobachten lässt: „Die Diskussion über Zielprioritäten führt meistens zu Mei1861
Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz (Fn. 1813), S. 16. Er nennt etwa Bundesländer „höchstpotenzierte Erscheinungen einer Region“. 1862 Dann, Das Selbstbestimmungsrecht in Westeuropa, in: Politische Studien 6 (1993), S. 9. 1863 Waldmann, Ethnoregionalismus und Nationalstaat, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1 (1993), S. 399. 1864 Berger, Politische Vertretung nationaler und ethnischer Minderheiten in Zentral- und Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1 (2001), S. 37. 1865 Vgl. hierzu Rabl, Minderheitenrecht und Gleichheitsgrundsatz, in: Theodor Veiter (Hrsg.), System eines internationalen Volksgruppenrechts, 1978, S. 102 ff.
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nungsverschiedenheiten innerhalb der Führungsgruppe dieser Bewegungen, die sich in der Regel in einen gemäßigten, kompromißbereiten und einen radikalen, unnachgiebigen Flügel aufspaltet; nicht selten resultiert aus diesem Dissens sogar die Zweiteilung der autonomistischen Organisation.“1866 Insofern taugt die Rheinlandbewegung ebenso als historische Ahnherrin für die regionalistische Volksgruppentheorie nach dem Zweiten Weltkrieg wie für den modernen Regionalismus, der im Primärrecht der Europäischen Union seine Berücksichtigung gefunden hat.1867 Alle Problemkreise rund um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die bis heute lebhaft diskutiert werden, nämlich wer als Rechtsträger in Frage kommt, wie das Selbstbestimmungsrecht überhaupt geltend gemacht werden kann, welche Rechtsfolgen sich an die Ausübung des Rechtes knüpfen und andere mehr, lassen sich wie durch ein Brennglas im ersten Rheinstaatskonflikt 1918/19 beobachten und legen Zeugnis darüber ab, wie prominent und virulent die Frage des Selbstbestimmungsrechts nach dem Ersten Weltkrieg selbst in der innerstaatlichen Sphäre, dem internationalen Recht entrückt, werden konnte.
1866
Waldmann, Ethnoregionalismus und Nationalstaat, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1 (1993), S. 399. 1867 Vgl. hierzu im Einzelnen eingehender Isensee, Union-Nation-Region: eine schwierige Allianz (Fn. 1813), S. 20 ff.
F. Die ersten Rheinstaatsbestrebungen und die Weimarer Reichsverfassung Im Folgenden soll der Einfluss der ersten Rheinstaatsinitiative auf die Debatten und den Prozess der Reichsverfassunggebung ab dem Winter 1918/19 untersucht werden. Die Abdankungen der Monarchen in den Einzelstaaten des Deutschen Reichs eröffneten die Möglichkeit zu einer umfassenden Neugestaltung der territorialen Ordnung Deutschlands. Bereits kurze Zeit nach dem Waffenstillstand setzten Bestrebungen zu einer Neugliederung und zu einer Verfassunggebung ein. Es soll ermittelt werden, ob überhaupt und, wenn ja, mit welcher Intensität und Nachhaltigkeit die erste Rheinstaatsbewegung und insbesondere ihre Protagonisten in der Deutschen Nationalversammlung Einfluss auf die Weimarer Reichsverfassung, insbesondere auf den darin enthaltenen Neugliederungsartikel, genommen haben.
I. Die wissenschaftlichen und publizistischen Entwürfe einer Reichsverfassung zum Jahreswechsel 1918/19 In den Wintermonaten der Jahreswende 1918/19 erschienen zahlreiche Vorschläge zur Gestaltung der künftigen Reichsverfassung und sogar ganze Verfassungsentwürfe von Privatpersonen, die diese in der Tagespresse und in juristischen Fachzeitschriften oder als Privatdrucke im Buchhandel veröffentlichten. Diese (Diskussions-)Beiträge stellten Anregungen und Reaktionen auf die verfassungspolitische Entwicklung des Reiches dar, an der diese Personen aber nicht als Politiker oder beauftragte „Offizielle“ teilnahmen.1868 Es handelte sich bei ihnen um Rechtsprofessoren und -anwälte, höhere Beamte sowie Abgeordnete und Mandatsträger der Landes- und Kommunalebene, die sich mit bisherigen Verfassungsproblemen und -vorgaben auseinandersetzten und den Diskurs sowohl als Rechtstheoretiker als auch Rechtsanwender begleiteten,1869 jedoch überwiegend keine unmittelbare Beachtung von Seiten des Reichsamts des Innern oder der Verfassunggebenden Nationalversammlung und ihres Verfassungsausschusses erfuhren.1870 1868 Vgl. insgesamt hierzu die Übersicht bei Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30). 1869 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 5. 1870 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 63.
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Andererseits sagte Preuß selbst, dass er bei der Ausarbeitung seines Verfassungsentwurfs im Dezember 1918 und Januar 1919 „wissenschaftliche Privatarbeiten“ gesichtet und geprüft habe, vor allem sofern diese eine mögliche Neugliederung des Reichsgebiets betrafen.1871 Einige Vorschläge wurden aber erst publik, als Preuß seine ersten beiden Verfassungsentwürfe im Januar 1919 abgeschlossen hatte. Es fanden sich voll ausgearbeitete und umfangreiche Verfassungsvorschläge sowie nur partielle Vorschläge, bis hin zu Beiträgen über einzelne verfassungsrechtliche Fragen. Überwiegend entstammten die privaten Verfasser einem „großbürgerlich akademischen Milieu konservativer Prägung“,1872 obwohl sich hierunter auch einige liberale Intellektuelle fanden. Dezidiert sozialistische Ausarbeitungen spielten in der Debatte der Staatsorganisation keine Rolle. Gemeinsam war allen Autoren die „Trauer über die Niederlage und den Zusammenbruch der bisherigen Staatsordnung“,1873 sowie das Entsetzen über die Niederlage im Weltkrieg und die Novemberrevolution. Schnellstmöglich sollte aus ihrer Sicht Ordnung sowohl in das politische Leben als auch in das Verfassungsleben gebracht werden. Es sollen an dieser Stelle nur solche Verfassungsvorschläge und Verfassungsentwürfe näher beleuchtet werden, die sich speziell zu einer territorialen Neugliederung des Reiches und explizit zu einem Rheinstaat de constitutione ferenda äußerten. Im Ausgangspunkt stellten sich alle Verfassungskonzepte im Winter 1918/19 „auf den Boden der neu geschaffenen politischen Lage“, vielfach jedoch mit „schmerzhaften Gefühlen“.1874 Beispielhaft für diese Stimmung ist der bekannte Ausspruch Meineckes, er „bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner“.1875 Jeder der Autoren aber bekannte sich im Grundsatz zu Republik und Volkssouveränität und selbstverständlich war auch allen, dass in den einzelnen Freistaaten keine abweichenden Staatsformen zulässig sein durften, also kein Gliedstaat monarchisch regiert bleiben durfte. Als Kernfrage wurde in den Vorschlägen und Entwürfen meist diskutiert, ob mit der Beseitigung der Monarchie und der dynastischen Landesherrschaften zugleich 1871 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 5. Gemeint war insbesondere die Denkschrift Walther Vogels, die dieser dem Reichsamt des Innern am 12. Dezember 1918 eingereicht hatte: Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung, 1919. Dazu weiter unten eingehender. 1872 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 6. 1873 Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 25. 1874 Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 33. 1875 Zitat bei Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 33.
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F. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Weimarer Reichsverfassung
auch das bislang bestehende bundesstaatliche System abgeschafft worden war. Die Meinungen und Vorschläge oszillierten dabei zwischen der grundsätzlichen Alternative Bundes- oder Einheitsstaat. Staatstheoretischer Ausgangspunkt war dabei der überlieferte Souveränitätsbegriff.1876 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch als „geteilte“ oder „doppelte“ Souveränität sowohl der Gliedstaaten als auch des Bundesstaates konzipiert, was eine Gleichsetzung von Souveränität und Staatlichkeit bedeutete, war man mittlerweile dazu übergegangen, nur das bundesstaatliche Reich als souverän zu betrachten. Der Souveränitätsbegriff wurde negativ bestimmt, wonach Souveränität als die höchste, oberste Gewalt zu verstehen sei, die keine andere Gewalt über sich habe.1877 Souveränität war damit nicht mehr notwendige Bedingung für Staatlichkeit, sondern bloß eine mögliche Eigenschaft eines Staates. Der Bundesstaat war per definitionem ein aus nicht-souveränen Gliedstaaten zusammengesetzter souveräner Staat.1878 Entscheidend für die Souveränität des Reiches als Bundesstaat war die Kompetenz-Kompetenz, wie sie Artikel 78 der Bismarckschen Reichsverfassung alleinig für das Reich vorsah.1879 Zwar verblieb den Ländern ihre originäre Staatlichkeit, jedoch kam ihnen im souveränen Bundesstaat, nach der damaligen Staatsrechtslehre Labands, lediglich eine, wenn auch weitreichende, Autonomie zu.1880 Grundsätzlich wurde die Untergliederung des Reiches in Gliedstaaten als feststehende historische Tatsache angesehen, wobei sich unitarische Tendenzen in der staatsrechtlichen Diskussion vermehrt Bahn brachen.1881 Selbst der überwiegenden Mehrheit der Föderalisten stand vor Augen, dass das Reich künftig mehr und weitreichendere Verbandskompetenzen haben müsste, was etwa Meinecke schlagwortartig umschrieb mit „Bundesstaat auf neuer Basis“.1882 Zunehmend erschien den Unitariern der als „Partikularismus“ empfundene Zustand der Länderrestauration gerade unter dem außenpolitischen Druck der Waffenstillstandszeit jedoch als Gefahr für die ungeschmälerte Reichseinheit und ein
1876
S. 40 f. 1877
Überblicksartig bei Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30),
Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 1272), S. 475; Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl. 1919, S. 17; Anschütz/Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 6. Aufl. 1905, S. 10. 1878 Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht (Fn. 1877), S. 20; Anschütz/Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts (Fn. 1877), S. 7. 1879 Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht (Fn. 1877), S. 22. 1880 Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht (Fn. 1877), S. 16 ff. Zur Staatsqualität der Länder vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Fn. 1272), S. 489 f. 1881 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 41. 1882 Zitat bei Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 34.
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soweit möglich erreichbarer Einheitsstaat galt als staatsrechtliches Ideal.1883 Klaus Neumann bemerkt treffend, dass die Beseitigung der Throne das Spektrum der kalkulierbaren Möglichkeiten entscheidend erweitert hatte, indem die innerstaatlichen Grenzen insgesamt zur Disposition gestellt wurden.1884 Den erwähnenswerten Privatentwürfen zur Reichsverfassungsdiskussion ist gemein, dass sie der Reichsebene noch mindestens eine regional-lokale Unterebene hinzufügten bzw. diese beibehalten wollten. Bloß eine Minderheit der Autoren1885 bekämpfte den bundesstaatlichen Aufbau des Reichs und forderte die vollständige Abschaffung der Einzelstaaten, was zu einem reinen Einheitsstaat mit einer einzigen Zentralgewalt geführt hätte. Andere Minderheitsautoren wiederum befürworteten eine Verlagerung sämtlicher Staatsgewalt auf die Zentralgewalt, hielten aber zumindest formal und kulturell an der Untergliederung des Reiches in gliedstaatliche Gebilde, sei es als „autonome Provinzen“ oder „staatsähnliche Selbstverwaltungskörper“, fest. Dubben bezeichnet diesen Ansatz als „formalen Föderalismus“,1886 was wenig überzeugend ist, denn mit Föderalismus hatten diese im Grunde zentralistischen Vorschläge im Ergebnis wenig gemein. Als progressiver Föderalist war man grundsätzlich in einer schwierigen Lage: Wer für den Erhalt der Eigenstaatlichkeit der Länder eintrat, lief Gefahr, damit zugleich das „Problem Preußen“ fortzuschreiben. Wer weder völlige Unitarisierung noch die Hegemonie Preußens wollte, musste nach Mischmodellen Ausschau halten und für diese werben.1887 Dies führte zu Reformvorschlägen zum Bundesstaat, die bemerkenswert frei und innovativ waren, ohne allzu sehr auf politische Tabus Rücksicht zu nehmen. Die Mehrheit der Privatvorschläge trat ein für die Bewahrung des föderalen Status quo des Reiches, wobei gerade die Sorge einzelner Verfasser vor dem „Separatismus“ einzelner Regionen im Falle eines unitarischen Einheitsstaates bestimmend gewesen ist.1888 Im Einzelnen entzündeten sich die Diskussionen an der Frage, wie die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Gliedstaaten ausgestaltet sein sollte, insbesondere wie „stark“ die Zentralgewalt zu errichten sei. Zur Wahl standen dabei „zum einen die Struktur eines bündischen Föderalismus mit einem erheblichen Gestaltungsspielraum der Einzelstaaten, zum anderen ein unitarisch ausgerichteter Bundesstaat mit starker Zentralgewalt.“1889
1883
Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 394 f. Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland, 1988, S. 136. 1885 Im Einzelnen Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 43 f. 1886 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 43 f. 1887 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 66. 1888 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 44. 1889 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 44. 1884
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F. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Weimarer Reichsverfassung
Die meisten Verfasser sprachen sich für einen solchen Bundesstaat mit deutlich unitarischer Orientierung aus. So erstrebte etwa Meinecke die Schaffung eines „wohlgeordneten, übersichtlichen Ineinanders von geschlossenem Einheitsstaate und ebenso in sich geschlossenen Einzelstaaten“.1890 Als Einziger tritt der Kölner Staatsrechtler Stier-Somlo für eine (Wieder-)Herstellung der einzelstaatlichen Souveränität ein und denkt dabei an einen Staatenbund, wie etwa zur Zeit des Deutschen Bundes. Dieser Staatenbund müsse dabei neu gegründet werden, könne demnach nicht in der Kontinuität des Reiches stehen.1891 Hier unterstellt Dubben ahistorisch, dass Stier-Somlos Forderungen „im Verbund mit der [rheinischen, P.B.] Separatistenbewegung“ entstanden seien, weil er vier Kernrepubliken im Staatenbund gefordert habe, nämlich die Rheinische Republik (Rheinland, Westfalen, Hessen, Rheinpfalz, Baden und evtl. Württemberg), eine Donaurepublik (Bayern, Deutschösterreich, evtl. hier Württemberg), eine Nord- und Ostseerepublik (Oldenburg, Hansestädte, Schleswig-Holstein, Pommern, Ost- sowie Westpreußen) und schließlich eine Mitteldeutsche Republik (Hannover, Provinz und Königreich Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Schlesien).1892 Tatsächlich entstanden die Pläne Stier-Somlos jedoch unabhängig von der Rheinlandbewegung, lediglich im März 1919 kreuzten sich kurzzeitig ihre Wege, ohne dass es jedoch zu einer nennenswerten inhaltlichen Zusammenarbeit kam.1893 Insgesamt trat in den Privatentwürfen die Absicht deutlich zu Tage, zwar eine Untergliederung des Reiches beizubehalten, indes die Reichseinheit durch die Beschneidung gliedstaatlicher Eigenständigkeit zu stärken. Die Bundesländer wurden dabei als historischer oder kultureller „Zwang“ wahrgenommen und als Tatsache, die man auch de lege ferenda nicht überwinden konnte.1894 Nicht zuletzt die politischen Entscheidungsträger hatten seit November 1918 eine Faktenlage geschaffen, die wirkmächtig in Richtung einer fortbestehenden Bundesstaatlichkeit wies.1895 Überwiegend wird in den privaten Vorschlägen der allgemeine Druck, die Binnenstrukturen des Reiches in tatsächlicher Form, das heißt anhand der territorialen und wirtschaftlichen Größe, anzunähern, deutlich.1896 Viele Kleinstaaten wurden als politisch und ökonomisch lebensunfähig angesehen, und vereinzelt ging man von der 1890 Meinecke, Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: Georg Kotowski (Hrsg.), Friedrich Meinecke. Politische Schriften und Reden, 1958, S. 282. 1891 Vgl. insgesamt Stier-Somlo, Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik) (Fn. 536). 1892 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 45. Vgl. auch StierSomlo, Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik) (Fn. 536), S. 55. 1893 Siehe hierzu eingehender Kapitel B.XII.; insgesamt Gienow, Leben und Werk von Fritz Stier-Somlo (Fn. 538), S. 116 ff. 1894 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 47. 1895 Hierzu im Einzelnen Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 48 f. 1896 Allgemein hierzu Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 50.
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Eingliederung Deutschösterreichs in das Reich aus. Interessant sind dabei sowohl die konkreten Vorschläge, wie die künftige staatliche Gliederung auszusehen habe, sowie auf welchen Wegen die Neugliederungspläne (verfassungs-)rechtlich verfolgt und welche politischen Akteure hierfür tätig werden sollten. Demnach wurde vorgeschlagen, dass Reichsneugliederungen durch die Verfassung, durch einfaches Reichsgesetz oder durch Volksabstimmungen in den betreffenden Gebieten vorgenommen werden sollten. Es fanden sich vereinzelt konkrete Vorschläge zur Neugliederung, die die Verbandskompetenz zur Länderneuordnung sämtlich auf der Reichsebene ansiedelten.1897 Die Frage des territorialen Zuschnitts und der Größe der Einzelstaaten, die mit dem Ziel verknüpft war, einen möglichst leistungsstarken und prosperierenden Bundesstaat entstehen zu lassen, war stets mit dem Schicksal Preußens verknüpft. Das Problem der wirtschaftlichen, militärischen, territorialen und politischen Vormachtstellung Preußens als „primus inter pares“ und den Umstand, dass diese Dominanz im Reichsverband insbesondere seitens der mittleren und kleinen Staaten auf wachsenden Unmut stieß, erkannten auch die Verfasser der Privatentwürfe. Man verfolgte im Grunde das Ideal eines bündischen Prinzips, in dem die Gliedstaaten gleichgeordnet und -berechtigt gewesen wären, vor allem im Sinne von politischen Teilhabe- und Mitwirkungsrechten. Gleichzeitig konnte dies nur erreicht werden, wenn auch eine wirtschaftliche und territoriale Gleichstellung der Länder erfolgte. In diesem Punkt waren sich die Privatentwürfe einig, man divergierte indessen in der Frage, inwieweit eine Egalisierung der Gliedstaaten mit der politischen Stabilität des Bundes zu vereinbaren sei.1898 Konkret über die territoriale Neuordnung sprachen sich die Verfassungsentwürfe zumeist nur kurz aus, im Zentrum stand aber nahezu immer der Gedanke, dass die Übergröße Preußens nicht länger hinzunehmen sei.1899 Übereinstimmung bestand darin, dass Preußen in einzelne Territorien aufgeteilt werden musste. Die Abgrenzungskriterien für die territoriale Neugliederung waren zumeist dieselben, etwa kulturelle Eigenheiten, Zweckmäßigkeiten und einheitliche Wirtschaftsgebiete, ferner gewachsene und zusammenhängende Verkehrsbeziehungen. Außerdem forderte man eine Mindestbevölkerungszahl der einzelnen Gliedstaaten, um der Kleinstaaterei vorzubeugen.1900 Auf der einen Seite standen die Autoren, die sich mit Preuß über die Aufspaltung des preußischen Freistaates einig waren und eine unbedingte Abhängigkeit der 1897
Vgl. im Einzelnen Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 36 f. 1898 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 53. 1899 Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe 1918/19, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 36. 1900 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 55 f.
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Einzelstaaten vom Gesamtstaat forderten.1901 Während von einem Autor sogar eine möglichst kleinstaatliche, das heißt „kantonale“ Lösung mit insgesamt 29 Ländern, um eine Dominanz einzelner Staaten zu verhindern, vorgeschlagen wurde, traten die übrigen Verfasser für einige mittelgroße Staaten ein, auch im Wege eines völligen, unbefangenen Neuaufbau des Reiches. Preußen sollte in einzelne Provinzen aufgelöst werden und Kleinstaaten sollten zu größeren Verbünden zusammengefasst werden, wobei die Idealvorstellung von 13 Bundesländern erschien. Es gab durchaus Platz für einen preußischen Freistaat, dieser aber sollte durch die eigene Verkleinerung und die Vergrößerung anderer umliegender Länder de facto egalisiert werden. Zwischen den Gliedstaaten sollte insgesamt ein Gleichgewicht hergestellt werden, damit es zu einem funktionierenden „Wettbewerb“ zwischen den Staaten kommen könne und die Durchsetzung von Partikularinteressen erschwert worden wäre. Zentral war für diese Lösung der gleichmäßige Zuschnitt der Bundesländer sowie eine effektive Zusammenarbeit aller, um als einiger Bundesstaat Wirtschafts- und Einflussfaktoren effizienter bündeln zu können. Machtfaktoren wie Territorium, Bevölkerung sowie Wirtschaftskraft sollten gleichmäßiger auf neu entstehende Mittelstaaten verteilt werden.1902 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Hegemonie Preußens erwähnt der Zentrumspolitiker Faßbender den interessanten Zusammenhang zwischen weitgehender Dezentralisierung und sparsameren Bürokratien in den einzelnen Gliedstaaten, die eine „möglichst ebenmäßige Gebiets- und zahlenmäßige BevölkerungsGleichheit [sic!]“ aufweisen sollten. So könne eine „billige Selbstverwaltung“ in den Ländern etabliert werden.1903 In der Vorstellung von einem dezentralisierten, föderalen Selbstverwaltungsstaat klingt demnach die Idee der bundesstaatlichen Gleichberechtigung und der horizontalen Machtverteilung an. Aus dem zunächst vertikal zu verstehenden Gegensatz zwischen Unitarismus und Föderalismus erwächst der Ansatz eines zunehmenden Ausgleichs zwischen den Gliedstaaten selbst. Deren „Gleichberechtigung“ erschien dabei nicht als hehrer Selbstzweck, sondern begründet wurde dieses Bestreben mit nüchternen Wirtschaftlichkeits-, Sparsamkeits- und Effizienzerwägungen. Man dachte dabei einerseits auch an die Stärkung der Reichseinheit, andererseits an die Zurückdrängung „separatistischer Tendenzen“, indem man ihre Motivation zur Loslösung abzuschwächen erhoffte.1904 Insofern kann man behaupten, dass diese „Kantonal- oder Länderlösung“1905 in den privat unterbreiteten Vorschlägen ebenso die Lösung der Rheinstaatsbewegung gewesen ist, die auf die Zerschlagung Preußens 1901 Im Einzelnen zu den Verfassern bzw. Entwürfen Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 54 ff. 1902 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 54 f. 1903 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 10. 1904 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 54. 1905 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 54.
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und auf die Schaffung eines rheinländischen Gliedstaats von einiger Größe abzielte. In einer rheinischen Kampfschrift aus dem Jahr 1919 heißt es etwa, dies sei die Meinung der „besten Denker im Vaterlande“.1906 Es überrascht nicht, dass sich die Kölnische Volkszeitung bereits am 10. Dezember 1918 mit einem eigenen konkreten Neugliederungsentwurf hervortat, der eine Vierteilung des Reichsgebietes vorsah, nämlich eine Rheinisch-Westfälische Republik (Westfalen, Rheinland, Hessen, Pfalz, Baden), eine Donauländer-Republik (Württemberg, Bayern, Österreich), eine Nordostsee-Republik (Oldenburg, Hannover, Hansestädte, Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Pommern, Westpreußen, Ostpreußen) und eine Mitteldeutsche Republik, in der alles Übrige vereinigt sein sollte.1907 Weitgehend die Preußsche Linie unterstützten die Beiträge, Anmerkungen und Denkschriften von Meinecke, Anschütz, Friedrich von Payer und Walther Vogel, die indessen die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs im Reichsamt des Innern aus Zeitgründen nicht alle gleichwertig beeinflussen konnten.1908 Inhaltlich am nächsten an den Ideen Preuß‘ stand Meinecke, der gerade mit Blick auf einen künftigen Anschluss Deutschösterreichs für einen Bundesstaat unter Rückgriff auf die Bundesstaatsideen von 1848 plädierte. Sowohl der Bundesstaat müsse als geschlossener Staat erscheinen, als auch die Gliedstaaten müssten in sich geschlossene Einheitsstaaten darstellen. Meinecke forderte zur Erreichung dieses Ziels umfangreiche und strikte Verbandskompetenzabgrenzungen.1909 Das alte, überkommene Preußen habe im neuen deutschen Bundesstaat keinen Platz mehr und keine historische Rolle mehr zu spielen. Die preußische Staatseinheit sollte daher in vier möglichst gleich große, historisch gewachsene Teile zerlegt werden: 1. Brandenburg, Pommern, West- und Ostpreußen sowie Posen, 2. Schlesien, 3. Niedersachsen und Schleswig-Holstein und 4. Rheinland, Westfalen und Hessen-Nassau.1910 Damit war Meinecke sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung der Auflösung Preußens ganz nah bei der Rheinlandbewegung. In einem Memorandum vom 10. Januar 1919 erläuterte exemplarisch Dorten seine staatsrechtliche Auffassung, wonach der preußische Staat nach der Revolution keine Daseinsberechtigung mehr habe, da das alte Königreich Preußen eine rein dynastische Schöpfung gewesen sei, die nur durch die mittlerweile abgesetzte Person des Monarchen zusammengehalten worden sei. Durch die Revolution sei die 1906 1907 1908 1909 1910
Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 26. KV Nr. 971 v. 10. Dezember 1918, vgl. auch Nr. 1003 v. 22. Dezember 1918. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 113. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 115. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 115.
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Staatsgrundlage Preußens mit der Absetzung der Hohenzollern-Monarchie weggefallen.1911 Ebenso sieht der Zentrumspolitiker Faßbender den Freistaat Preußen „aus der rein dynastischen Verflochtenheit“ herausgelöst und lobt den Versuch „seine natürlichen Teile als solche in das Reichsganze einzufügen“.1912 Der „preußische[] Großstaat[]“ sei stets ein „Fremdkörper in dem Aufbau des Reiches“ gewesen.1913 Diese Auffassungen entsprachen der populären Meinung im Rheinland, so wie sie die Kölnische Volkszeitung bereits am 27. November 1918 zusammenfasste: „Bismarcks Werk ist nunmehr zu Grabe getragen, wie mit einem Schwamm wurde diese Ära ausgelöscht.“1914 Anschütz, der zunächst den preußischen Freistaat ungeschmälert erhalten, jedoch im unitarischen Reich „aufgehen“ lassen wollte, ließ sich dann von Meinecke von der Notwendigkeit der Auflösung Preußens überzeugen.1915 Später prognostizierte er zum Verhältnis Reich und Preußen: „Zwei Großregierungen in Berlin, zwei massierte Haufen von Politikern und Bureaukraten, von denen der eine über ganz Deutschland, der andere über 2 Drittel [sic!] von Deutschland herrscht, von denen der eine die rechtliche, der andere die faktisch größere Macht besitzt.“1916 Von Payer, der ehemalige Vorsitzende der Reichstagsfraktion der liberalen „Fortschrittlichen Volkspartei“ und Vizekanzler sowie spätere Fraktionsvorsitzende der DDP in der Nationalversammlung, mahnte, Preußen solle stets selbst überlassen werden, ob es sich auflösen wolle oder nicht. Niemals dürfe es gegen seinen ausdrücklichen Willen aufgelöst werden. Dagegen sei die Zusammenlegung der „Zwergstaaten“ zu größeren Ländern erforderlich.1917 Der Berliner Professor für historische Geographie und Staatenkunde Walther Vogel hatte dem Reichsamt des Innern am 12. Dezember 1918 eine Denkschrift mit Neugliederungsplänen zukommen lassen, von denen er sich indes einige Zeit später selbst distanzierte.1918 Dieser Entwurf einer bundesstaatlichen Neugliederung hat wohl eine umfassende Berücksichtigung im Reichsamt erfahren, wenn ihm im Ergebnis auch Preuß nicht an vielen Stellen gefolgt ist.
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Bischof, Rheinischer Separatismus 1918 – 1924 (Fn. 29), S. 69. Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 11. 1913 Faßbender, Westdeutschland, los von Preußen? (Fn. 603), S. 12. 1914 KV Nr. 919 v. 27. November 1918 („O Straßburg, O Straßburg!“). 1915 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 113 f. 1916 Anschütz, Das preußisch-deutsche Problem, 1922, S. 8. 1917 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 81. 1918 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 161 f. 1912
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Dass der Neubau des künftigen Deutschlands nur auf föderativer Grundlage erfolgen konnte, war für Vogel „so selbstverständlich, daß es keiner besonderen Erörterung bedarf“.1919 Grundsätzlich sollte der preußische Staat „in größere natürliche Komplexe“ aufgeteilt und so „in sich lebenskräftige Gebilde“ geschaffen werden. Dies müsse geschehen „unter enger Anlehnung an die bestehenden Provinzialgrenzen und steter Berücksichtigung der historischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der Eigenart der Bewohner“.1920 Jedenfalls, verstanden jedoch als „zweitbeste“ Lösung, müssten die preußischen Provinzen mehr Selbständigkeit erfahren, bis hin zur eigenständigen Sendung und Instruktion von Reichs- bzw. Bundesratsdelegierten. Grundsätzlich sollten die Provinzen weitgehend selbständige Verwaltungsbefugnisse haben.1921 Die Vogelschen Pläne zur Neugliederung orientierten sich an wirtschaftlichhistorischen Verhältnissen und gaben vor, das Prinzip der Eigenart der Bevölkerungen und der Freiwilligkeit am besten zu wahren. Vorgesehen waren 14 neue Gliedstaaten bzw. „Reichsprovinzen“1922 mit durchschnittlichen Bevölkerungsgrößen von vier bis zu sieben Millionen Einwohnern1923 : 1. Preußen (Ost- und Westpreußen), 2. Schlesien und Posen, 3. Brandenburg (mit Pommern, Mecklenburg und Altmark), 4. Niedersachsen (mit den Hansestädten und Schleswig-Holstein), 5. Ostfalen-Thüringen, 6. Obersachsen (das bisherige Königreich Sachsen), 7. Westfalen, 8. Rheinland (vom Saargebiet bis zum Niederrhein), 9. Pfalz-Hessen (samt Mannheim und Heidelberg), 10. Schwaben (Württemberg, Hohenzollern und den größten Teil Badens), 11. Elsass-Lothringen, 12. Franken (die fränkischen Gebiete Bayerns, Württembergs und Badens, Oberpfalz und thüringische Gebiete), 13. Bayern (samt Tirol und Vorarlberg) und schließlich 14. Deutschösterreich. Die Empfehlungen Vogels unterschieden sich von denen Meineckes dadurch, dass das bisherige Preußen energischer aufgegliedert werden sollte. Mit Blick auf das Rheinland meinte Vogel, dass diese Provinz „dank der Regsamkeit und Stammesart“ der Rheinländer seine Eigenart auf geistigem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet kräftig entwickelt habe.1924 Deshalb sei ein rheinländischer Staat (mit der Hauptstadt Köln) mit einer Fläche von 27.000 Quadratkilometern und rund 7.200.000 Einwohnern lebensfähig und wünschenswert.1925
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Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 5. Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 8. 1921 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 118. 1922 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 85. 1923 Aufzählung bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 119. 1924 Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 8. 1925 Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 9. 1920
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Er war darüberhinaus der Ansicht, dass das Rheinland „einer der volksreichsten, wirtschaftlich und kulturell wichtigsten unter den deutschen Staaten“ sein werde.1926 Entschieden widersprach Vogel Plänen, wonach das Rheinland gemeinsam mit Westfalen zu einem Gliedstaat vereinigt worden wäre. Insgesamt wäre dieses Land „Rheinland-Westfalen“, ebenso wie Preußen, zu groß und mächtig geraten in der auf Ausgleich bedachten bundesstaatlichen Ordnung („Durch Gleichheit zur Einheit“1927), zum anderen hegte er „große Bedenken“, weil beide Gebiete „nach Stammesart und Landesnatur so verschieden“ seien.1928 Dabei unterstützten nicht nur liberale Akademiker das Vorhaben zur Aufteilung des preußischen Staatsgebietes, sondern auch aus Politik und Presse kam Zuspruch. Am 10. Dezember 1918 hatte Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe, immerhin der ehemalige Oberpräsident von Ostpreußen, in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ empfohlen, zehn bis fünfzehn „durch das feste Band des Reiches eng verbundene, aber trotzdem von eigenem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben erfüllte deutsche Gaue“ zu formen.1929 Der Beitrag stand unter dem Titel „Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?“, was von Batocki-Friebe ausdrücklich verneinte und für einen von Preußen unabhängigen „Oststaat“ eintrat, in dem West- und Ostpreußen vereinigt werden sollten. Er selbst nannte sich einen ehemals überzeugten „Anhänger eines starken, einheitlich regierten Preußens“. Während des Krieges hatte er als Präsident des Reichsernährungsamts indessen unter den Folgen der Schwäche der Reichsregierung gegenüber dem drei Fünftel des Reiches ausmachenden Preußen zu leiden, was ihn zu einem Gegner des preußischen Großstaates werden ließ.1930 Ebenso erklärte sich der sozialdemokratische „Vorwärts“ prinzipiell mit der Aufteilung Preußens, das man noch als potenziellen Hort der Reaktion empfand, einverstanden: „Wir haben nichts dagegen, wenn das alte Preußen sich in seine natürlichen Bestandteile auflöst.“1931 Am 8. Dezember 1918 hieß es unter der Überschrift „Die deutsche Frage“ in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, es gebe nur zwei Lösungen dieser Frage: Entweder würde ganz Deutschland zentralisiert oder aber Preußen würde dezentralisiert und in seine „geschichtlichen Bestandteile“ zerlegt.1932 1926
Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 12. Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 14. 1928 Vogel, Deutschlands bundesstaatliche Neugestaltung (Fn. 1871), S. 3. 1929 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 627 v. 10. Dezember 1918 („Hat der preußische Staat noch Daseinsberechtigung?“). 1930 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 120. 1931 Vorwärts v. 5. Dezember 1918. 1932 Deutsche Allgemeine Zeitung v. 8. Dezember 1918 („Die deutsche Frage“); s. auch Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 86. 1927
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Demgegenüber traten einzelne Vertreter der „Kernstaatlösung“1933 gerade für den Erhalt Preußens (und auch Bayerns) ein, weil dieser als historisch gewachsener Staat mit einer effektiven Verwaltung, insbesondere einer starken Polizei, geradezu phänotypisch für eine starke Reichseinheit stehe und eine Zerschlagung einem Rückfall in die Kleinstaaterei gleichkäme. Auch wegen seiner wirtschaftlichen Größe müsse Preußen in seiner bisherigen Form als Kernstaat des Reiches erhalten bleiben. Stattdessen sollten sich die übrigen Gliedstaaten zu größeren Territorien zusammenschließen, um sich im Reichsverband einer Egalisierung anzunähern. Neben den mehr oder weniger konkreten Vorschlägen zur territorialen Neuordnung beschäftigten sich die Privatentwürfe und -vorschläge auch mit der Frage, auf welchem verfassungsrechtlichen Wege Neugliederungen vorzunehmen sein sollten. Deutlich bestand dabei die Tendenz, die Reichsgewalt in dieser Angelegenheit zu stärken und daran teilhaben zu lassen, wobei differenziert wurde zwischen dem Sachverhalt des Zusammenschlusses mehrerer Länder zu einem größeren Verband und jenem, dass sich ein Gebietsteil aus einem bestehenden Gliedstaat loslöst.1934 Grundsätzlich zeigen die privaten Stellungnahmen zwei Wege zur Umgestaltung, die sich ihrerseits an den Prinzipien Föderalismus oder Unitarismus orientieren. Eine föderalistische Minderheit ging von einer weitreichenden „Selbstbestimmungsfreiheit“1935 der betroffenen Bevölkerungen und gleichzeitiger Wahrung der territorialen Integrität der Gliedstaaten aus. Es fand sich der Vorschlag, unter Betonung der Volkssouveränität auf die Initiative und den Willen der jeweils ortsansässigen Bevölkerung abzustellen.1936 Problematisch erschien dabei indes das Szenario, dass nur ein Teil einer Landesbevölkerung, nämlich die Bevölkerung eines Gebietsteils, die Abspaltung plane. In diesem Fall sollte eine Volksinitiative von mindestens 20 Prozent der in einem zusammenhängenden Territorium, etwa einer Provinz, lebenden Bevölkerung das Trennungsverfahren einleiten können. Daraufhin sollte es zu einer vom Reich angeordneten „Kommissionärswahl“ innerhalb dieses Gebiets kommen. Diese gewählten Kommissionäre sollten sodann mit dem von der geplanten Abspaltung betroffenen Land verhandeln, wobei die Einbeziehung des Reiches nur als Schiedsstelle vorgesehen war, falls eine Vermittlung zwischen Land und Landesteil scheitern sollte. Ansonsten wurde eine Einflussmöglichkeit der Reichsebene ausgeschlossen, erst recht die einseitige Vornahme einer territorialen Umgestaltung. Die unitarische Lösung, die in verschiedenen Ausprägungen im Einzelnen von der Mehrheit der Autoren vertreten worden ist, sah eine Stärkung der Reichsgewalt in der Neugliederungsangelegenheit vor.1937 Lediglich eine Minderheit der Unitarier wollte 1933 1934 1935 1936 1937
Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 55. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 57. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 58. Siehe hierzu Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 58. Siehe hierzu Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 59 f.
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die territoriale Umgestaltung alleinig der einfachen Reichsgesetzgebung unterstellen, ohne eine gesonderte Einbeziehung der Einzelstaaten vorzusehen. Nicht ganz so weitreichend ist der Vorschlag Stier-Somlos, zwar dem Reich – ebenso wie den Ländern – ein Initiativrecht zur Grenzänderung zukommen zu lassen, jedoch mit dem Ziel, eine Zusammenarbeit zwischen dem Reich und den Einzelstaaten herbeizuführen. So sollte die gliedstaatliche Integrität gewahrt werden, auch indem ihnen neben dem Einleitungs- auch ein Vetorecht zugesprochen werden sollte. Ganz überwiegend wurden indessen Gebietsveränderungen, die zwischen den betroffenen Ländern verhandelt worden wären, allein unter einen Genehmigungsvorbehalt des Reichs gestellt. Durch einfaches Reichsgesetz sollte das Verhandlungsergebnis der Gliedstaaten lediglich sanktioniert werden, jedoch gleichzeitig konstitutiv für die Wirksamkeit der Neugestaltung sein. Die Initiative lag hierbei ausschließlich bei den Landesregierungen, also gerade nicht bei den betroffenen Bevölkerungen. Die Stellung der Länder wurde auf Kosten des Gedankens der Volkssouveränität gestärkt. Es ist bemerkenswert, dass die Möglichkeit der Bestätigung durch ein verfassungsänderndes Gesetz – also nicht bloß durch einfache Gesetzgebung – in den Privatbeiträgen nicht erscheint. Es herrschte mithin die überwiegende Einigkeit unter den Verfassern, dass zur Sanktion einer Länderneuordnung ein Reichsgesetz ohne besondere Mehrheitsanforderungen und sonstige Voraussetzungen ausreichen sollte. Gillessen meint, dass alle diese Vorschläge und Äußerungen zur Verfassungsentwicklung unter dem Eindruck der „Bestrebungen im Rheinland, eine rheinischwestfälische Republik zu gründen“, gestanden hätten.1938 In der Tat fanden sich in einigen Arbeiten detailierte Darlegungen, wie ein künftiger Rheinstaat auszusehen habe. So meinte ein Rheinstaatsanhänger 1919: „Es sollen nur Gebiete angeschlossen werden, die zu einander gehören. Die Schlagader des neuen Staates sei der Rhein; der Rhein von der holländischen bis zur elsässischen Grenze. Die durch den Wiener Kongreß herbeigeführte Trennung der Gebiete links und rechts vom Mittelrhein, die die kurmainzischen und kurtrierischen Striche rechts vom Strom Nassau zuwies, und andere Seltsamkeiten müssen verschwinden. Alle derartigen willkürlichen Zuteilungen können freilich nicht berichtigt werden. Es kann aber wohl verlangt werden, daß der rheinische Bundesstaat die Rheinprovinz ohne den Kreis Wetzlar, das oldenburgische Birkenfeld, Rheinhessen, die Rheinpfalz und die Gebiete des Wiesbadener Bezirks, soweit sie bis 1866 das Herzogtum Nassau bildeten, umfaßt. […] Der neue Bundesstaat würde eine Bevölkerung von rund 9.300.000 Seelen umfassen.“1939 Andererseits war die Rheinstaatsinitiative nicht das Hauptmotiv für die zahlreichen Neugliederungsvorschläge. Im Vordergrund stand überwiegend die Überle1938 1939
Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 121. Anonym, Rheinländer, wachet auf! (Fn. 1038), S. 34 f.
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gung, der neue deutsche Staat solle entlang der Grenzen der natürlichen deutschen Stämme geordnet werden und Stammeseigenarten Rechnung tragen. Dieses „Prinzip der deutschen Stämme“ erscheint aus der Sicht des Verfassungsrechts des Grundgesetzes nicht leicht verständlich, vielleicht sogar antiquiert und entsprechend ist dieser Topos heute nicht mehr gebräuchlich. Gleichwohl wirkt diese Vorstellung von deutschen Stämmen in der Präambel des Grundgesetzes noch nach, in der es heißt „[d]ie Deutschen in den Ländern“ [Hervorhebung durch Verf.]. Unter der Überschrift „Konrad Adenauer und der rheinische Separatismus“ versuchte etwa „Der Spiegel“ im Jahre 1961, das Prinzip der deutschen Stämme als rhetorischen „Kniff“ des politischen Katholizismus, namentlich der Zentrumspartei und der verbündeten Bayerischen Volkspartei (BVP), abzutun, um einen katholischkonfessionell motivierten weitgehenden Föderalismus gegenüber dem Berliner Unitarismus zu rechtfertigen: „Zur Durchsetzung dieses konfessionellen Interessenstandpunkts bediente sich der politische Katholizismus allerdings auch gemütvoll-ideologischer Argumente. Er erklärte, Stammeseigenart und Heimatbewußtsein der deutschen Teilstaaten gegen die Gleichmacherei schützen zu wollen, die von Berlin ausgehe. Bajuwarische Lederhosen, rheinische Fröhlichkeit und westfälische Trinkfestigkeit gelangten so im Rahmen des politischen Katholizismus zum Rang ideologischer Argumente mit antipreußischem Akzent.“1940 Der Artikel, der sich nicht zuletzt im Subtext gegen den politischen Katholizismus und den damaligen Bundeskanzler Adenauer richtete, verkennt jedoch gänzlich die ideengeschichtliche Tradition und Tragweite des Stammesprinzips, das nicht bloß eine Wahlkampfparole des Zentrums – banalen „Folklore-Gefühlen“1941 geschuldet – gewesen ist, sondern in der Verfassungsgeschichte, Verfassungswissenschaft und Verfassungspolitik jener Zeit eine prominente Rolle spielte. Für manche Neugliederungsvorschläge war das Stammesprinzip sogar das antreibende Motiv. So plädierte etwa Abt 1919 für die „Einteilung des Deutsches Reiches nach Stämmen“. Danach lautet die Einteilung Deutschlands: Bayern (Altbayern, Deutschösterreich), Schwaben, Franken, Rheinland, Niedersachsen (Westfalen bis Schleswig-Holstein), ostelbisches Preußen (mit Mecklenburg) und Berlin.1942 Im selben Jahr präferierte ein gewisser Pannenborg eine „wirtschafts-geographische Einteilung Deutschlands“ nach Flüssen und Stämmen; also sollten entstehen ein Weserstaat Niedersachsen (mit Teilen Hessens, Westfalens und dem Emsland), ein Rheinstaat aus überwiegend linksrheinischen Gebieten, Obersachsen (an mittlerer Elbe und Saale), Niederelbeland (mit Brandenburg, Mecklenburg, SchleswigHolstein und Hamburg), Schlesien, Pommern und Preußen, Rheinstaat Nieder1940
S. 62. 1941
S. 62.
Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel 41 (1961), Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel 41 (1961),
1942 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6, S. 185.
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franken (mit großen Teilen Hessens und Westfalens), Mainstaat Oberfranken (südlich von Rhön und Taunus), Rhein-Donaustaat Schwaben, Donaustaat Bayern, Berlin sowie – gegebenenfalls – Deutschösterreich.1943 Vor allem an „Stammeszusammenhängen“ orientierte sich ebenso der Entwurf des Geographen Walter Tuckermann, der folgende Einteilung vorsah: Nordsachsen (Schleswig-Holstein, Lübeck, Mecklenburg, Neuvorpommern), Niedersachsen (Althannover, Braunschweig, Bremen, Schaumburg, Minden), Westfalen (Provinz Westfalen ohne Minden, Lippe-Detmold, Oldenburg, Osnabrück und Aurich), Rheinland (mit dem westlichen Regierungsbezirk Wiesbaden, Rheinhessen und der nördlichen Rheinpfalz), Hessen (das östliche Hessen-Nassau, Hessen-Darmstadt ohne Rheinhessen, das westliche Unterfranken), Baden (mit der südlichen Pfalz), Schwaben (Württemberg, Hohenzollern, Regierungsbezirk Schwaben und Neuburg), Bayern, Thüringen, Obersachsen, Mark und Pommern, Lausitz-Schlesien und (Ost-)Preußen.1944 Es kann nicht überraschen, dass auch die Putschisten von Wiesbaden auf eine Orientierung an Stammesgliederungen beharrten und dabei ein „organisches“ Prinzip beschworen. In ihrer Kampfschrift aus dem Juli 1919 erklärten sie: „Das Bildungsprinzip des zu schaffenden Reichskörpers kann, wenn dieser dauernde, von innen her wirkende Lebenskraft haben soll, nur ein organisches sein. Das organische Prinzip für Staatenbildung aber ist Stammes-, Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft.“1945 Es zeigt sich in allen diesen Entwürfen, dass die Rheinländer jedenfalls als deutscher Stamm anerkannt waren und dass man ihnen durchweg einen rheinischen Gliedstaat im Reichsverband zuerkannte. Noch im Jahr 1923 schrieb Freiherr von der Kettenburg, dabei auch rückblickend auf die Neuordnungsabsichten nach dem Weltkrieg, „daß sowohl die preußischen Rheinlande auf Grund ihrer ganzen Vergangenheit ein ebenso gutes Recht auf Selbständigkeit im Rahmen des Reiches haben, wie irgend ein anderer deutscher Volksstamm“.1946 Die allermeisten Autoren sahen, dass man die Rheinländer nicht bloß als Bevölkerung der preußischen Rheinprovinz behandeln durfte, wollte man nicht dem Stammesprinzip zuwiderhandeln. Viele gingen überdies davon aus, dass einer Rheinischen oder Rheinisch-Westfälischen Republik eine Art bevölkerungsmäßige und wirtschaftliche „Vorrangstellung“ unter den deutschen Gliedstaaten zukommen werde.
1943 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6, S. 185. 1944 Kohte, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918 – 1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland, in: Westfälische Forschungen 6, S. 185 f. 1945 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 7. 1946 Kettenburg, Das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 324.
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So schien es nahezu Konsens der wissenschaftlichen und publizistischen PrivatNeugliederungsentwürfe zu sein, dass es im zukünftigen Deutschland nach geographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Erwägungen einen Rheinstaat geben müsse. Tatsächlich dürften die ersten Rheinstaatsbestrebungen für viele Autoren unmittelbar inspirierend gewesen sein.
II. Der von Hugo Preuß vorgelegte Entwurf der Reichsverfassung Am 15. November 1918 war Preuß vom Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten Ebert zum Staatssekretär des Innern berufen worden, also zum Leiter des Reichsamtes des Innern. Zugleich wurde er damit beauftragt, einen Entwurf der Reichsverfassung für die noch zu wählende und einzuberufende Nationalversammlung zu entwickeln. Einen Tag vorher war ein engagierter Artikel Preuß‘ im „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht worden, in dem er die Forderung nach einer Beteiligung des Bürgertums an der Verfassungsgebung und Staatsentwicklung erhob – dies war eine nicht zu überlesende Spitze gegen die herrschenden Sozialisten. Die politische Grundlage des neuen Staatswesens dürfe nicht der „soziale Klassenkampf“ sein, sondern die „Einheit und Gleichheit aller Volksgenossen“; nur so könne es zu Demokratie und einem deutschen Volksstaat kommen.1947 Dieser berühmt gewordene Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?“ hatte allerdings einmal mehr deutlich werden lassen, wie streitbar und auch umstritten Preuß als politisierender Hochschullehrer gewesen ist, insbesondere auch in den Augen nationaler Kreise, die seinen betont anti-autoritären Zeitungsbeitrag als schlichtweg polemisch empfanden.1948 Im Grunde hatte Preuß damit (zumindest radikale) Sozialisten sowie Deutschnationale und Monarchisten gleichermaßen vor den Kopf gestoßen. Dies konnte indessen die gemäßigten Sozialdemokraten unter den Volksbeauftragten, allen voran Ebert, nicht davon abhalten, auf Preuß zuzugehen. Mit seiner Person entschied sich der Rat der Volksbeauftragten gleichzeitig gegen den prominenten Weber, der laut den Aufzeichnungen Eberts ebenfalls in der engeren Wahl für das Reichsinnenministerium gewesen ist.1949 Die komplizierte Aufgabe der neuen Verfassunggebung lag damit in den Händen des „wohl am weitesten links stehenden Staatsrechtslehrer[s] seiner Zeit“.1950 Gleichwohl war Preuß nach seiner Erscheinung, seinem Lebensstil und vor allem seinen politischen Überzeugungen ein durch und durch Bürgerlicher. 1947 1948 1949 1950
Zitat bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 103. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1999, S. 82. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 27. Zitat bei Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 27.
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Bereits am 3. Dezember 1918 legte er dem Rat der Volksbeauftragten einen ersten Arbeitsentwurf vor, den dieser billigend zur Kenntnis nahm. Daraufhin richtete Preuß eine Konferenz von Sachverständigen ein, in die schließlich auch Weber berufen wurde.1951 Österreich hatte den bekannten Völkerrechtler Verdross eigens nach Berlin entsandt.1952 In den Beratungen zwischen dem 9. und 12. Dezember 1918 wurden bereits intensiv die Rolle Preußens sowie die Neuordnung des Reichs diskutiert.1953 Es sollten jedoch grundsätzlich keine konkreten Details der künftigen Verfassung beraten, vielmehr lediglich Ideen, Leitgedanken und Material für die spätere Ausarbeitung entwickelt werden. Diese fanden in dem Verfassungsentwurf Preuß‘ und des Reichsamts, der Ende Dezember 1918 erarbeitet wurde, starke Berücksichtigung. Weber meinte grundsätzlich: „Es muß soviel Unitarismus als möglich in eine föderalistische Verfassung.“1954 Insgesamt wünschte man sich eher einen, wenn auch dezentralisierten, Einheitsstaat herbei, jedoch hielt man den gewachsenen Föderalismus schlechthin für das Gegebene und auch politisch Unüberwindbare. Hier setzten sich vor allem die Bürgerlichen gegenüber den Sozialdemokraten durch, die seit Längerem weitgehenden Einheitsstaatsgedanken nachhingen.1955 Die Aufgliederung Preußens in weitere Gliedstaaten zur Sicherung eines ausgeglichenen Reichsaufbaus erschien den Sachverständigen dabei fernerhin als eine „selbstverständliche Notwendigkeit“.1956 Am 3. Januar 1919 präsentierte Preuß dem Rat der Volksbeauftragten einen Urentwurf der Verfassung, der ohne Grundrechtskatalog auf die Kernfragen des Staatsaufbaus in 68 Paragraphen einging. Veröffentlicht wurde jedoch ein Teilentwurf erst am 20. Januar 1919, also einen Tag nach der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, der nunmehr 73 Paragraphen umfasste. Auch in dieser Vorlage dominierten die Fragen des künftigen Reichsaufbaus und des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern; erstmalig fand sich ein Grundrechtsteil. Gleichzeitig publik wurde eine Denkschrift Preuß‘, die jedoch bereits am 3. Januar 1919 abgeschlossen worden war und sich somit nur auf den ersten Urentwurf bezog.1957 1951 Eine vollständige Aufzählung der Sachverständigen findet sich bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 105 f. 1952 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (Fn. 1948), S. 83. 1953 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 28. Die folgende Darstellung beruht überwiegend auf den Angaben bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 105 ff., der wiederum die Akten des Reichsamts, Band 16807, auswertet. 1954 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 106. 1955 Jasper, Improvisierte Demokratie?, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Die Weimarer Republik 2. Aufl. 1992, S. 122. 1956 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 108. 1957 So auch Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 121. Mit der Denkschrift habe der erste Entwurf eingeführt werden sollen; Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von
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Die beiden Regierungsentwürfe aus der Feder von Preuß (WRV-Entwürfe I und II) sollten bis zum 21. Februar 1919 durch die Beteiligung der Gliedstaaten, die bis Ende Januar 1919 bei den Beratungen außen vor geblieben waren, noch erheblich inhaltlich abgeändert werden.
1. Die „Zerschlagung“ Preußens und die Pläne zur Neugliederung des Reichsgebiets Nicht zuletzt als Staatssekretär des Innern war es Preuß‘ vordringliches Anliegen, eine aus Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung einzuberufen und mit der Verfassunggebung zu beginnen.1958 Jasper Mauersberg meint, es sei Preuß dabei nicht um die rasche Schaffung demokratischer Verhältnisse um ihrer selbst willen gegangen, sondern ihn habe die Sorge um das Fortbestehen der Reichseinheit und sogar die Angst, eine einmalige Chance zur territorialen Neugliederung des Reiches zu verpassen, getrieben.1959 Preuß selbst nannte diese Neugestaltung „auf der Grundlage des Volkswillens“ die dringendste politische Notwendigkeit.1960 Ebenso meint Gillessen, die Sicherung der Reichseinheit sei das bestimmende Ziel gewesen.1961 Preuß selbst hatte sich bereits 1915 die Forderung Heinrich von Treitschkes zu eigen gemacht: „Einheitsstaat und die Selbstverwaltung starker Provinzen als die Staatsform der Zukunft.“1962 War also der Linksliberale zwar eigentlich ein Befürworter des Einheitsstaatsgedankens, so konnte man im Winter 1918/19 als Rheinstaatsanhänger dennoch in gewisser Weise der Auffassung sein, in dem mit der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs betrauten Preuß einen Verbündeten in der Sache gefunden zu haben. Preuß bekannte sich jedenfalls seit Beginn der Verfassungsberatungen zur freien Selbstbestimmung des Volkes in einem auf Selbstverwaltung und Parlamentarismus gründenden Bundesstaat: „In der Gestalt des Bundesstaats, des aus Selbstverwaltungsbezirken stufenweise aufsteigenden Staatsorganismus, erscheint das Ideal – im Sinne Platos, – das Urbild des modernen Staates, dem alle Staaten unserer Kulturwelt Weimar (Fn. 1260), S. 101. Dubben behauptet fälschlicherweise, die Denkschrift sei mit dem zweite Preußschen Entwurf am 20. Januar oder jedenfalls nur kurz zuvor verfasst worden. Gleichzeitig wundert sie sich darüber, dass die Inhalte der Denkschrift nicht aktuell gewesen seien, vgl. Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 28 Anm. 125. 1958 Preuß drohte sogar seinen Rücktritt als Staatssekretär an, falls nicht der frühest mögliche Wahltermin, nämlich der 19. Januar 1919, vorgesehen würde. Vgl. Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 59. 1959 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 59. 1960 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 136. 1961 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 105. 1962 Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, 1915, S. 199.
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auf verschiedenen Wegen und in verschiedener Form, je nach ihren historischen und nationalen Besonderheiten, zustreben.“1963 Nur in der Form des Bundesstaates habe Deutschland seine nationale Einheit gefunden; nun müsse der Ausbau und die Vollendung des Bundesstaats durch die Reichsverfassung vorgenommen werden.1964 Es ist ein häufig zu lesender Trugschluss, anzunehmen, Preuß habe im Zuge der Verfassungsberatungen den Einheitsstaat gegen den überlieferten Föderalismus ausspielen und die Bundesstaatlichkeit Deutschlands überwinden wollen. Tatsächlich war er viel zu sehr Realist und hatte eingesehen, dass ohne die sich nach der Novemberrevolution rasch (re-)konstituierenden Gliedstaaten kein neues deutsches Staatsgebilde zu machen war;1965 jedenfalls nicht, ohne eine erneute Revolution zu riskieren. Freilich sollte der Bundesstaat de constitutione ferenda starke unitarische Züge haben, um nicht in den als lähmend empfundenen Partikularismus zurückzufallen. In seiner gegen den tradierten Souveränitätsbegriff in Stellung gebrachten germanistischen Genossenschaftstheorie1966 offenbarte sich ein Staatsverständnis, welches von einem von unten nach oben konstituierten Gemeinwesen aus mehreren Körperschaften und Körperschaftsebenen ausging, das im Gegensatz zu der eher „anstaltlichen“ Organisation von oben herab, wie sie für den „Obrigkeitsstaat“1967 typisch sei, steht. Der Gedanke der Selbstorganisation der Gesellschaft im demokratischen Rechtsstaat lag Preuß‘ Konzeption des „Volksstaats“ zugrunde.1968 Letztlich entspringe das Konzept der kommunalen Selbstverwaltung der politischen Idee der „Selbstbestimmung eines mündigen Volkes im Gegensatz zur Bevormundung einer willenlosen Untertanenschaft durch eine absolute Obrigkeit“. Und weiter: „Die Selbstverwaltung ist die organisatorische Rechtsform für die Mitwirkung von Organen, die von den obersten Regierungsorganen unabhängig sind, bei der Verwaltung.“1969 Gebietskörperschaften sind nach Preuß Körperschaften, bei denen das „einigende Band, welches das personelle Element zu einer besonderen Einheit schließt“, ein bestimmtes Territorialgebiet ist.1970 Die Gemeinden als kleinste Gebietskörperschaften sind hiernach wiederum Glieder größerer Körperschaften (etwa Freistaa1963 Zitat bei Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 17. 1964 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 17. 1965 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (Fn. 1948), S. 82. 1966 Vgl. hierzu die näheren Ausführungen unter Kapitel D.II. 1967 Vgl. Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 34. 1968 Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 120. 1969 Zitate bei Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen (Fn. 1257), S. 122 f. 1970 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 261.
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ten), diese wieder der nächsthöheren bis hin zur höchsten Körperschaft, dem Staat bzw. Reich.1971 Der Kerngedanke der Preußschen Staatstheorie lautet dabei, dass alle Gebietskörperschaften grundsätzlich wesensgleich, das heißt mit gleichen Rechten, Pflichten und Funktionen versehen sind. Die Wesensgleichheit soll aus der im Prinzip selben genossenschaftlich-körperschaftlichen Organisationsform einer Anzahl von Individuen auf einem bestimmten Gebiet folgen.1972 Das eigentliche Unterscheidungskriterium zwischen den verschiedenen Körperschaften ist nach Preuß sodann die jeweilige Gebietshoheit. Sie bestimmt, ob die Körperschaft „Glied[] eines Bundesstaats“ oder „Selbstverwaltungskörper eines dezentralisierten Einheitsstaats“ sei.1973 Er definierte dabei die Gebietshoheit als rechtliche Fähigkeit einer Gebietskörperschaft, „sich selbst (bezw. auch die in ihr enthaltenen engeren Gebietskörperschaften) wesentlich zu verändern (bezw. aufzulösen)“. Die Gemeinden sind folglich „Gebietskörperschaften ohne Gebietshoheit“, „die Gliedstaaten (und das Reich) sind Gebietskörperschaften mit Gebietshoheit“.1974 Auch wenn Preuß die Bedeutung seines Unterscheidungselements der Gebietshoheit im Jahre 1928 selbst relativierte,1975 hielt er bei seinen Ausführungen zur Weimarer Reichsverfassung an seiner grundsätzlichen These fest: „Gliedstaat im Bundesstaat und autonomer Selbstverwaltungskörper im dezentralisierten Einheitsstaat sind historisch-politische Erscheinungsformen staatlicher Gliederung, Stufenfolgen von Zentralisation und Dezentralisation, die in der geschichtlichen Wirklichkeit mannigfache Gradunterschiede aufweisen, zwischen denen aber ein begrifflicher Wesensunterschied nicht zu finden ist, weil er nicht existiert.“1976 Was die Frage nach der Gebietshoheit betraf, scheint es so, als habe die Realität der Verfassungsdiskussionen ein Umdenken Preuß‘ bewirkt. War in seinen theoretischen Ausführungen die originäre Gebietshoheit noch ein konstitutives Wesensmerkmal von (Glied-)Staatlichkeit gewesen, schrieb er 1922 rückblickend auf die Reichsneugliederungsdebatte des Jahres 1919 fast sarkastisch: „Immerhin wirkt die überlieferte Anschauung noch stark, die mit der Vorstellung des ,Staates‘ die Unantastbarkeit seines Gebiets verbindet. Nur schrittweise mag sie vor der Erkenntnis zurückweichen, daß heute solche Bedeutung nur noch dem Reichsgebiet [!] zukommt, während die Binnengrenzen der Länder von dem Gesichtspunkt adminis1971 Vgl. hierzu Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 26. 1972 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 27. 1973 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 5. 1974 Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Fn. 1261), S. 405 f. 1975 Preuß/Anschütz, Reich und Länder (Fn. 325), S. 64. 1976 Preuß, Deutschlands republikanische Reichsverfassung, 2. Aufl. 1923, S. 43.
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trativer Zweckmäßigkeit bestimmt werden können und müssen.“1977 Nach dieser Ansicht verwischen jedoch gänzlich die Konturierungen von Gliedstaatlichkeit, gerade in Abgrenzung zur kommunalen Gebiets- und Selbstverwaltungskörperschaft. Das Grundverständnis vom dezentralen genossenschaftlichen Charakter kommunaler Gebietskörperschaften führte Preuß zu seiner Kritik an der preußischen Staatsverwaltung, insbesondere an der Verwaltung der Provinzen. Die Gemeinden müssten als „relativ selbständige politische Organismen und Träger eines vom staatlichen differenzierten kommunalen Gemeinwillens“ anerkannt werden.1978 Daraus folge, dass alle Funktionen der Gemeinden „samt und sonders Funktionen ihres Organismus, der Gemeinde, nicht des Staates, der im Prinzip nur durch die Vermittlung des kommunalen Organismus die kommunalen Organe in Tätigkeit setzen kann“, sind.1979 Wichtigste Konsequenz eines solchen dezentralisierten Verwaltungsaufbaus musste das Fehlen einer durchlaufenden, zentralistisch orientierten Beamtenhierarchie, von den Zentralbehörden des (Frei-)Staates bis in die einzelnen Kommunen hinein, sein. Eine solche bestand in dieser Art jedoch in Preußen. Anders ausgedrückt, es fand sich in der preußischen Gewaltenteilung kein „vertikales Element innerhalb der Exekutive“1980, was indessen vielfach als Legitimation, wenn nicht sogar als konstitutiv für eine dezentrale oder föderalistische Staatsorganisation angesehen wird.1981 Im Gegensatz zum Begriff der „Dekonzentration“ im französischen Verwaltungsrecht, meinte die Dezentralisation nach Preuß, dass staatliche Kompetenzen von einer Gebietskörperschaft (horizontal oder vertikal) auf eine andere übertragen werden, insbesondere auch durch Etablierung einer kommunalen Selbstverwaltung. Nach alldem war der Freistaat Preußen, trotz seiner Untergliederung in 12 Provinzen und 37 Regierungsbezirke, als zentralistischer Staat anzusehen und somit in den Augen Preuß‘ kein modernes Staatswesen.1982 Auch sei Preußen mit Blick auf seine Stammeszusammensetzung nicht hinreichend homogen gewesen, denn gerade im dezentralisierten Staatswesen sei auf Stammeseigenarten Rücksicht zu nehmen. Den Freistaaten komme dabei eine herausragende Bedeutung zu: „Dagegen findet die Autonomie und Selbstverwaltung der 1977
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 10. Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen (Fn. 1257), S. 124. 1979 Preuß, Das städtische Amtsrecht in Preußen (Fn. 1257), S. 120. 1980 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 37. 1981 Vgl. etwa Kimminich, Der Bundesstaat, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1987, S. 1139 f. m.w.N. 1982 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 38. 1978
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engeren Verbände, in die sich das Volksganze gliedert, aufsteigend von den Gemeinden ihre Krönung und vollste Entfaltung in den Freistaaten, die eben deshalb nach der Natur ihrer Bevölkerung und nach ihrer wirtschaftlichen Struktur innerlich einheitliche Gebilde sein müssen.“1983 Von zentraler Bedeutung war bei den Verfassungsberatungen im Reichsamt des Innern somit die Frage nach dem Fortbestand des preußischen Einheitsstaates innerhalb der künftigen deutschen Republik.1984 Der ungeschmälerte Fortbestand Preußens wurde nicht nur in seinen Provinzen in Frage gestellt, sondern auch durch die Reichsregierung. Die Gedanken hierzu finden sich zusammengefasst in der Denkschrift zum ersten Verfassungsentwurf, die Preuß seit Mitte Dezember 1918 erarbeitet hatte.1985 Der staatsrechtliche Neuaufbau der Republik bedürfe nicht bloß Reformen einzelner Institutionen, sondern einer grundlegend anderen politischen Organisation. Von Anbeginn erschien Preuß die Hegemonie Preußens, die in der Reichsverfassung aus Bismarcks Feder durch die Personalunion des deutschen Kaisertums mit der preußischen Krone und der „künstliche[n] Konstruktion des Bundesrats“ festgeschrieben war, als „hegemoniale[r] Partikularismus“ und somit als Hemmschuh, als „unerträgliches Hemmnis“1986 für den „staatsrechtlichen Neuaufbau Deutschlands“ als föderale Bundesrepublik.1987 Die überkommene Reichsverfassung sei materiell genommen „die Verfassung des Hegemoniestaates mit föderalistischer Umkleidung“ gewesen.1988 Folge sei „das ganz berechtigte Gefühl der anderen deutschen Einzelstaaten, die Einbuße an Selbständigkeit nicht zugunsten eines einigen Deutschlands, sondern zugunsten des preußischen Einzelstaats und der ihn beherrschenden Kräfte zu erleiden“.1989 Gerade der Widerstand des preußischen Herrenhauses hatte noch im Krieg den längst überfälligen Verfassungsreformen im Wege gestanden. Daraus speiste sich nicht zuletzt in sozialdemokratischen und liberalen Kreisen eine Tendenz zur Unitarisierung des Reiches.1990 Zwar verfügte Preußen im Bundesrat, „dem Herzstück der Bismarckschen Verfassung“1991, unmittelbar nur über 17 von insgesamt 58 Stimmen, jedoch kontrollierte die preußische Politik auch faktisch die Bundesratsstimmen der Kleinstaaten innerhalb und am Rande des preußischen Territoriums. 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991
Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 142. Vgl. hierzu Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 137. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 116. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 140. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 136. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 15. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 135. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 64. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 94.
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Ferner übte der König Preußens durch seine Bundespräsidialrechte einen starken Einfluss auf die Reichsregierung aus. „Gegen eine solche Kombination konnten die drei anderen Königreiche [Bayern, Württemberg, Sachsen], die sechs Großherzogtümer [Baden, Mecklenburg-Schwerin, Hessen, Oldenburg, Sachsen-WeimarEisenach, Mecklenburg-Strelitz], das größte Herzogtum (Braunschweig) und die drei Hansestädte zusammen keine Mehrheit erlangen.“1992 Die Übermacht des preußischen Staates in Deutschland wird beschrieben als ein politisches Faktum, dem auch nicht allein auf staatsorganisationsrechtlichem Wege Einhalt zu gebieten sei: „Ist die preußische Hegemonie in Deutschland unmöglich geworden, so ist damit auch ein einheitliches Preußen in Deutschland unmöglich geworden.“1993 Somit wird die Aufspaltung des preußischen Freistaates zur Vorbedingung für einen Zustand, der sich zumindest in den Verfassungsvorschlägen Preuß‘ zu einer Art staatsrechtlichem Prinzip herausbildet, nämlich der Grundsatz der (relativen) Gleichheit der Gliedstaaten. Als Ausgleich zu einer (stärkeren) Zentralgewalt sollten annähernd gleich große und ökonomisch lebensfähige Länder als „Unterbau“ geschaffen werden.1994 Er schrieb: „Wir stehen jetzt vor dem schweren Problem, wie eine wirklich bundesstaatliche Gestaltung über Einzelstaaten zu schaffen ist, von denen die kleinsten nach ihrer Größe nicht einmal die Anforderungen eines größeren Kommunalverbandes erfüllen, und von denen der größte für sich ein europäischer Großstaat ist.“1995 Als Ideal und Gegenmodell entwarf Preuß den „im wesentlichen einheitlichen Volksstaat“, der auf das „freie Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in ihrer Gesamtheit“ zurückzuführen sei. Es komme künftig nicht bloß auf das Dasein bestehender Einzelstaaten, weder in monarchischer noch republikanisch-freistaatlicher Form, an, sondern auf das „Dasein dieses deutschen Volkes selbst als eine geschichtlich gegebene politische Einheit“.1996 Deshalb stellten die teilweise frühen Wieder- oder Neukonstituierungen und die Einsetzungen verfassunggebender Versammlungen in den Gliedstaaten eine Gefahr für die „politische Selbstorganisation des ganzen deutschen Volkes nach den inneren Lebensnotwendigkeiten des modernen Nationalstaates“ dar; die bisherigen 25 Einzelstaaten dürften sich nicht ohne Rücksicht auf die Verfassungsdiskussion auf Reichsebene festschreiben, zumal sie „samt und sonders lediglich Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik“ seien.1997 Die Aufgabe der modernen Länder
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Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 94. In den Klammern Ergänzungen des Verf. Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 139. 1994 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 23. 1995 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 15. 1996 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 136. 1997 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 137. 1993
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sei es jedoch, zu einer „höchstpotenzierten Selbstverwaltung“1998 zu kommen, ohne in den überkommenen Partikularismus zurückzufallen. Das galt erst recht für den preußischen Staat, der durch die Effizienz seines Heeres und seiner Beamtenschaft verschiedene deutsche Stämme politisch „zusammengezwungen“ habe, quasi als historisches „Surrogat“ und als „Rohbau“ für den unvollkommenen deutschen Einheitsstaat, der indessen niemals allein durch Preußen gebildet werden konnte.1999 Nun musste es darum gehen, für Preußen in einem demokratischen Verfassungsstaat eine im Verhältnis zu den übrigen Reichsgliedern angemessene Stellung zu finden.2000 Umso mehr galt dieser Gedanke mit Blick auf den im Frühjahr 1919 noch lebhaft diskutierten Anschluss Deutschösterreichs an das Reich, der die logische Folge eines nationalen Selbstbestimmungsrechtes sei. In der Geschichte habe Preußen die großdeutsche Einigung unmöglich gemacht; jetzt aber erscheine sie möglich, sofern sich Deutschland in Freistaaten von wenigstens annähernd gleicher Größe und Macht gliederte.2001 Hier findet sich erneut das Prinzip der territorialen, wirtschaftlichen und politischen Gleichheit der Bundesländer im Reichsverband. Vehement äußerte sich Preuß in diesem Zusammenhang am 25. Januar 1919 auf der Konferenz mit den Vertretern der Einzelstaaten: „Eine preußische Hegemonie im alten Sinne, die verfassungsmäßig verankert wäre, ist nach Lage der Dinge unmöglich. Preußen würde also, auch wenn es in seinem jetzigen Bestand bestehen bleibt, verfassungsmäßig wie jeder andere Einzelstaat zu behandeln sein. So etwas kann man wohl in die Verfassung schreiben; aber es bleibt unwahr, es bleibt eine Unmöglichkeit. Wenn die Reichsregierung in irgend einer [sic!] Sache vorgehen will, so müßte sie sich vorher des Einverständnisses der preußischen Regierung versichern. […] Das wäre nichts anderes als eine nicht in der Verfassung stehende Hegemonie.“2002 Neben historischen und staatstheoretischen Argumenten kam es Preuß ebenso auf praktische Erwägungen an. So müsse Berlin in jedem Fall Reichshauptstadt bleiben, könne als solche aber schlechterdings Hauptstadt eines preußischen Großstaats und „damit der Sitz seiner unvermeidlichen Hegemoniebestrebungen“ bleiben. Dies sei auch psychologisch bedeutsam, denn die Rufe nach einem „Los von Berlin“ – wie etwa auch im Rheinland – bedeuteten politisch (lediglich) ein „Los vom preußischen Einheitsstaat“, nicht eine Absage an das Deutsche Reich.2003 Hier zeichnet sich Preuß 1998 Zitat bei Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 103. 1999 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 139. 2000 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 18. 2001 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 141 f. 2002 Zitat bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 123. 2003 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 141.
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in besonderem Maße durch Realitätssinn und eine zutreffende Einschätzung der politischen Stimmung im Rheinland aus. Die Lösung der Hauptstadtfrage wäre hiernach die Reichsunmittelbarkeit der Stadt Berlin gewesen, vergleichbar etwa der US-amerikanischen Lösung mit Washington, D.C. Schließlich kam Preuß in seiner Denkschrift zu dem Schluss, dass der Fortbestand Preußens mit seinen 40 Millionen Einwohnern innerhalb einer gesamtdeutschen Republik von zusammen insgesamt etwa 70 Millionen Einwohnern „schlechthin eine staatsrechtliche, politische und wirtschaftliche Unmöglichkeit“ sei.2004 Dabei war die Angst vor der preußischen Hegemonie eine alte und untrennbar mit der deutschen Nationalstaatsbewegung verbunden. In seinem Werk „Weltbürgertum und Nationalstaat“ hatte Meinecke bereits 1903 an die diesbezüglichen Sorgen des schwäbischen Publizisten und „1848ers“ Paul Pfizer erinnert, der 1831 vorgeschlagen hatte, Preußen solle Deutschland zwar einigen, aber sich sodann selbst auflösen, auf dass nicht durch ein übermächtiges, zentralisiertes Preußen die Freiheit der anderen Gliedstaaten des Bundes gefährdet werde.2005 Eine eher unitarische Strömung um Christian Friedrich Freiherr von Stockmar hatte dagegen eine Mediatisierung eines einheitlichen, zentralisierten Preußens unmittelbar durch das Reich befürwortet, oder wie man damals sagte, ein „Aufgehen Preußens im Reich“2006 – allerdings ohne damit einhergehende Schwächung der preußischen Staatsgewalt oder Aufteilung des preußischen Territoriums. In den Verfassungsentwurfsberatungen im Reichsamt des Innern wurde also nicht das „Ob“ der Aufteilung des preußischen Staatsgebietes diskutiert, sondern das „Wie“, nämlich der staatsorganisationsrechtliche Weg dorthin und die Funktion, die das Reich dabei zu übernehmen haben würde. Die Einrichtung einer künftigen Individualvertretung der Länder beim Reich sollte beispielsweise so ausgestaltet sein, dass keinem Einzelstaat mehr als ein Fünftel der Gesamtstimmenzahl zukäme. Dadurch sollten die preußischen Landesteile ermuntert werden, die Staatseinheit Preußens aufzukündigen. Preuß wollte diese Stimmenverteilung in dem Gremium, dem der spätere Reichsrat entsprechen sollte, ausdrücklich im Verfassungsentwurf vorschreiben und nicht unbeeinflusst den Debatten der Nationalversammlung überlassen. Er schlug vor, „daß eine Übersicht der Einteilung Deutschlands in die Verfassung aufgenommen werde, worin die für nötig befundenen Vereinigungen (zum Beispiel Thüringen) mit ihren Stimmen aufzuführen wären. Die süddeutschen Staaten würden unverändert bleiben, von Preußen würden dagegen die Provinzen aufgenommen werden [!]. Daneben sei auszusprechen, daß Änderungen durch die beteiligten Staaten unter Zustimmung des Reiches zulässig seien.“2007 Dieser Vorschlag scheint 2004 2005 2006 2007
Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 138. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (Fn. 1460), S. 343 f. Zitat bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 96. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 109.
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dem historischen Lösungsmodell Pfizers für das deutsch-preußische Problem zu entsprechen, indes ging es zunächst nicht unmittelbar um die territoriale Zerlegung Preußens in seine Provinzen, sondern lediglich um die Beteiligung der Letzteren an der Stimmenverteilung in dem zu schaffenden Vertretungsorgan der Einzelstaaten. Dennoch wollten die übrigen Teilnehmer der Sachverständigenkonferenz „in realistischer Einschätzung der zu erwartenden Widerstände“ diese Frage zunächst zurückstellen und eine mögliche Aufspaltung Preußens weitergehend prüfen.2008 Diese Anfang 1919 bekanntgewordenen Pläne zur „Zerschlagung“ Preußens veranlassten insbesondere die nationalliberal ausgerichteten Parteifreunde in der von Preuß mitbegründeten DDP, ihn von den angestrebten Kandidaturen für die Nationalversammlung und den Reichstag fernzuhalten. Dieses Schicksal teilte Preuß übrigens mit seinen langjährigen politischen Freunden Theodor Barth und Weber.2009 Das Grundargument der Gegner der Zerschlagung Preußens lautete dabei, dass die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts zu „homogenen“ Parlamenten auf Reichsebene und in Preußen führen werde, die kein Interesse am Wiederaufleben des Dualismus haben könnten. Eine radikale Lösung zur Erhaltung der Reichseinheit und zur Verhinderung einer preußischen Hegemonie, wie sie die Aufspaltung Preußens darstellte, sei nicht notwendig, vielmehr unverhältnismäßig. Gillessen bezeichnet diese verbreitete Auffassung in seiner historischen Abhandlung schlichtweg als „Irrtum“.2010
2. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit zur Neugliederung Zwischen dem 26. Dezember 1918 und dem 3. Januar 1919 erarbeitete Preuß auf der Grundlage der bisherigen Beratungen im Reichsamt seinen „Entwurf des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung“, der gemeinsam mit einer Denkschrift zum Verfassungsentwurf am 20. Januar 1919 öffentlich geworden ist. Die Möglichkeit zur Neugliederung der deutschen Freistaaten im Reichsverband bestand nach den ersten Verfassungsentwürfen mit § 11 (WRV-Entwurf I bis II)2011,
2008 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 70 f. 2009 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 15. 2010 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 117. 2011 § 11 des Entwurfs des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung (WRVEntwurf I): Abs. 1: Dem deutschen Volke steht es frei, ohne Rücksicht auf die bisherigen Landesgrenzen neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten, soweit die Stammesart der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Verhältnisse und geschichtlichen Beziehungen die Bildung solcher Staaten nahelegen. Neu errichtete Freistaaten sollen mindestens 2 Millionen Einwohner umfassen.
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der Vorgängerregelung zu Artikel 15 in den Verfassungsberatungen (WRV-Entwurf III bis IV), der schließlich in der endgültigen Version der Weimarer Reichsverfassung Artikel 18 (seit WRV-Entwurf V) werden sollte. Später bezeichnete Preuß den Artikel 18 als den am „heißesten umstrittenen Artikel der Reichsverfassung“.2012 Eingehend erläuterte er in seiner Denkschrift, dass mit dieser Regelung der „notwendige Umgestaltungsprozeß“ angeregt werden sollte und somit einen positivrechtlichen Ausdruck der „freie[n] Selbstbestimmung der Bevölkerungen“ darstelle, denn diese müssten die Initiative ergreifen, während das Reich lediglich „leitend, vermittelnd und schließlich sanktionierend“ wirken sollte.2013 Allgemein sollten Länderneugliederungen und -gründungen möglich sein, sofern dies mit Blick auf die „Stammesart der Bevölkerung“, die „wirtschaftlichen Verhältnisse“ sowie die „geschichtlichen Beziehungen“ angezeigt erschien. Damit wurden zunächst als Voraussetzungen objektive Umstände (ethnische, wirtschaftliche und historische) gefordert, was sich mit der deutschen Dogmatik zum Selbstbestimmungsrecht der Völker deckte, die ebenfalls bei der Frage der Rechtsträgereigenschaft auf objektiv-überindividuelle, gerade nicht subjektiv-voluntaristische Elemente abstellte. Als Soll-Vorschrift wurde ferner die Mindestbevölkerungszahl von zwei Millionen für neu zu schaffene Bundesländer vorgegeben. Die Absätze 2 und 3 des § 11 behandelten sodann zwei unterschiedliche Fälle. In Absatz 2 war die Vereinigung mehrerer, bereits existenter Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat bzw. der Anschluss eines bestehenden Landes an ein anderes geregelt, was aufgrund bereits eingesetzter körperschaftlicher Organe (Landesregierungen und Landesparlamente, d. h. „Volksvertretungen“) verhältnismäßig einfach durch Staatsvertrag zwischen den betroffenen Gliedstaaten zu lösen sein sollte, wobei dieser Staatsvertrag konstitutiv der Zustimmung der Reichsregierung bedurfte. Eine Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung war auf diesem Wege nicht vorgesehen. Gedacht war hierbei insbesondere an den Zusammen- oder Anschluss kleinerer Einzelstaaten, die „offenbar“ nicht in der bisherigen Gestalt in die neue Abs. 2: Die Vereinigung mehrerer Gliedstaaten zu einem neuen Freistaat geschieht durch Staatsvertrag zwischen ihnen, der der Zustimmung der Volksvertretungen und der Reichsregierung bedarf. Abs. 3: Will sich die Bevölkerung eines Landesteils aus dem bisherigen Staatsverbande loslösen, um sich mit einem oder mehreren anderen deutschen Freistaaten zu vereinigen oder einen selbständigen Freistaat innerhalb des Reichs zu bilden, so bedarf es hierzu einer Volksabstimmung. Die Volksabstimmung wird auf Antrag der zuständigen Landesregierung oder der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel der unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen, von der Reichsregierung angeordnet und von den zuständigen Landesbehörden durchgeführt. Abs. 4: Entstehen bei der Zerlegung oder Vereinigung deutscher Freistaaten Streitigkeiten über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 2012 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), Vorwort. 2013 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 142.
II.
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Republik übergehen sollten, ja konnten. Ohnehin hätten diese nur in einer kaum verhüllten Abhängigkeit zu Preußen Bestand gehabt.2014 Komplexer war die politische Situation, die in Absatz 3 beschrieben war. Hier war die Lage angesprochen, dass sich ein Landesteil, etwa eine bisherige Provinz, von einem existenten Gliedstaat loslöst, um sich einem oder mehreren benachbarten Gliedstaaten anzugliedern oder einen eigenen Freistaat im Reichsverband zu bilden. Dieser Tatbestand entsprach exakt der erklärten Absicht der überwiegenden Rheinstaatsbewegung, die die Rheinprovinz und gegebenenfalls weitere Landesteile aus dem preußischen Freistaat herauslösen und einen eigenen, reichsunmittelbaren Freistaat errichten wollte. Neben den bereits in Absatz 1 festgelegten objektiven Merkmalen Stammeseigenart, Wirtschaft und gemeinsame Geschichte, wurde in Absatz 3 das (subjektive) Erfordernis einer positiven Volksabstimmung gefordert. Diese sollte durch die zuständigen Landesbehörden durchzuführen sein, alternativ auf Antrag der zuständigen Landesregierung – wohl auch zu lesen als „zuständige Landesregierungen“, sofern zwei existente Gliedstaaten von Loslösungsbestrebungen betroffen waren –, oder auf Antrag „der Vertretung eines oder mehrerer Selbstverwaltungskörper, die mindestens ein Viertel der unmittelbar beteiligten Bevölkerung umfassen“. Neumann bemerkte zu den Territorialplebisziten: „Die Umsetzung der Gebietsneugliederung legte Preuß in die Hände der Bevölkerung. Sein zur Begründung gelieferter Verweis auf die Praktizierung des Selbstbestimmungsrechts bewegte sich im Kontext seines Konzepts der stärkeren Heranziehung der Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen.“2015 Anschütz spricht mit Blick auf den ursprünglichen § 11 von einem „Prinzip freier Länderbildung innerhalb des Reichs auf Grund eines ungehemmten Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerungen“.2016 Somit wurden territoriale Loslösungs- und Zusammenschlussbestrebungen unterschiedlich verfassungsrechtlich gehandhabt. Anschütz schreibt: „Die Loslösungsbestrebungen einerseits, die Vereinigungsbestrebungen andererseits werden also nach ganz entgegengesetzten Prinzipien behandelt: dort unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung, hier gar keines.“
2014 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 138. Gemeint waren namentlich die thüringischen Kleinstaaten. 2015 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 117. 2016 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 141.
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Diesen vermeintlichen Widerspruch erklärt er sich so, dass es § 11 in erster Linie – sogar „einseitig“ – um die Zerschlagung Preußens gegangen sei und der Zusammenschluss von Gliedstaaten nicht dieselbe Bedeutung bei Preuß gehabt habe.2017 Das Entscheidende und aus Sicht der Länder der eigentliche Skandal in § 11 Absatz 3 war tatsächlich die Möglichkeit, dass die Reichsregierung auch gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Landesregierung eine Volksabstimmung anordnen konnte, sofern der Antrag durch die Selbstverwaltungskörper erfolgte. Es kam letztlich auf einen einfachen Mehrheitsbeschluss der Einwohnerschaft des abzutrennenden Gebietes an, nicht aber auf die Zustimmung des Landes, von dem man sich durch Volksabstimmung loslösen wollte.2018 Mit dieser Möglichkeit hatte Preuß den Gliedstaaten als Gebietskörperschaften gerade jenes einzige Merkmal ihrer Staatlichkeit aberkannt, was sie nach seinen eigenen staatstheoretischen Aussagen eigentlich von den kommunalen Gebietskörperschaften unterscheiden sollte, nämlich die territoriale Souveränität.2019 Klaus bemerkt richtigerweise zu § 11, diese Bestimmung sei gegen den Fortbestand Preußens gerichtet gewesen, ohne Preußen ausdrücklich zu nennen.2020 Harsch war die Kritik des preußischen DVP-Abgeordneten Moldenhauer, der von einer „unglückliche[n] Bestimmung“ sprach, „entworfen von einem Manne, dem das Verständnis für die Bedeutung Preußens in der Vergangenheit und Gegenwart abging“. Der § 11 habe den Rheinstaatsbefürwortern den vollkommenen Grund zu der Behauptung geliefert, man verfolge keine anderen Ziele als die Reichsregierung selbst.2021 Dagegen wies Preuß selbst immer wieder darauf hin, dass § 11 die „Zerschlagung“ Preußens mit keiner Silbe erwähnte. Aufwendig umschrieb er es so: „Vielmehr stellte er [§ 11, P.B.] nur die für jeden politisch Denkenden eigentlich selbstverständliche Tatsache fest, daß der überkommene Bestand der 25 deutschen Einzelstaaten nach der Neugestaltung des Reiches nicht mehr dauernd unantastbar sei, sondern die Möglichkeit einer territorialen Neugliederung von der Verfassung offen gehalten werden müsse; und er regelte demgemäß in demokratischem Sinne die Rechtsformen, unter denen sich eine solche Neugliederung ordnungsgemäß vollziehen konnte. Materielle Bestimmungen über die Neubildungen selbst enthielt der Paragraph überhaupt nicht.“2022
2017
S. 141. 2018
S.141. 2019
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
Vgl. hierzu Kapitel D.II. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 22. 2021 Moldenhauer, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 10. 2022 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 5. 2020
II.
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Wenn man von der umständlichen Verschleierung der Auflösung Preußens auch nicht überzeugt sein mag, so spricht Preuß jedoch einen bemerkenswerten Umstand an: § 11 eröffnete die rechtmäßige, konstitutionelle Möglichkeit einer geordneten Länderneubildung, ohne dass Revolutionen, Putsche oder mitunter gewaltsame Separationen durch Aktionismus vollendete Tatsachen schaffen mussten. So verstanden, wies der eigentliche Telos des § 11 über die Auflösung des preußischen Großstaates hinaus. Besonders umstritten zwischen Preuß und den Ländern war zudem der § 29 des ersten Entwurfs vom 3. Januar 1919, der, als bloße Übergangsregelung gedacht, die Einrichtung und Stimmenverteilung in einem Staatenhaus als dem Vertretungsorgan der Einzelstaaten auf Reichsebene zum Gegenstand hatte.2023 Der Vorschlag Preuß‘ sah hierzu sechzehn zu bildende „Wahlkreise“ vor, nämlich 1. Preußen, 2. Schlesien, 3. Brandenburg, 4. Berlin, 5. Niedersachsen, 6. die drei Hansestädte, 7. Obersachsen, 8. Thüringen, 9. Westfalen, 10. Hessen, 11. Rheinland (Rheinprovinz ohne den Kreis Wetzlar, dafür mit dem Fürstentum Birkenfeld und der bayerischen Pfalz), 12. Bayern, 13. Württemberg, 14. Baden, 15. Deutsch-Österreich und 16. Wien.2024 Es ist bemerkenswert, wie diese historischen Neugliederungspläne das spätere politische Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vorwegnahmen, abgesehen natürlich von den Ostgebieten und den österreichischen Ländern sowie der Trennung von Westfalen und Rheinland. In der realistischen Einschätzung der Gegebenheiten wurde das Reichsland Elsass-Lothringen nicht erwähnt. Die Pfalz sollte dem Rheinland angegliedert werden. In der peniblen Auflistung der Gebiete mit ihrer Einwohnerzahl sowie der ihnen zustehenden Zahl von Abgeordneten tauchte plötzlich das Rheinland mit acht Abgeordneten als das größte Gebiet auf, gemeinsam mit Obersachsen und Schlesien. (Kern-)Preußen dagegen war mit fünf Abgeordneten auf den Status einer deutschen Mittelmacht geschrumpft worden. Richtigerweise bemerkt Gillessen jedoch, dass § 29 lediglich ein abstrakter Vorschlag war und formal Wahlbezirke für das künftige Staatenhaus bzw. den künftigen Bundesrat aufzählte, „bis sich die neuen Freistaaten gebildet haben“. Dieses sollte wiederum durch § 11 ermöglicht werden, der den Willen der betrof2023
§ 29 des Entwurfs des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung (Auszug): Abs. 1: Bis sich die neuen Freistaaten gebildet haben, entsenden folgende Gebiete des Reichs Abgeordnete in das Staatenhaus: 1. Preußen, bestehend aus den Provinzen Ost- und Westpreußen, sowie dem Regierungsbezirke Bromberg mit 4 1/2 Millionen Einwohnern, 5 Abgeordnete, […] 9. Westfalen, bestehend aus der Provinz Westfalen, dem Kreise Schaumburg, den beiden Lippe und Pyrmont mit 4 Millionen Einwohnern, 4 Abgeordnete, […] 11. Rheinland, bestehend aus der Rheinprovinz ohne den Kreis Wetzlar, dem Fürstentume Birkenfeld und der bayerischen Pfalz mit 8 Millionen Einwohnern, 8 Abgeordnete, […] zusammen 75 Abgeordnete. […] 2024 Vgl. hierzu Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 23 f.
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fenen Bevölkerungen als maßgeblich setzte und nicht die Neugliederungswünsche der kommenden Verfassungsberatungen.2025 Es ist daher jedenfalls missverständlich, wenn Klaus diesbezüglich von einem „territoriale[n] Neugliederungsvorschlag“ spricht.2026 Preuß selbst fasste die Einteilung des § 29 als „Anregung“ für eine territoriale Neuordnung auf. Gleichzeitig sei der § 29 die „Achillesverse“ des Verfassungsentwurfs, ein bloßer „Notbehelf“, um die Frage der Reichsneugliederung inhaltlich nicht gänzlich aus der Hand des Reiches zu entlassen. Insofern war der § 29 durchaus ein kluger Schachzug von Preuß, der den Weg einer vorzunehmenden Neugliederung weisen sollte. Zunächst war diese Möglichkeit nur ressort- und später regierungsintern diskutiert worden. Vielleicht sei es sogar angezeigt, so meinte Preuß selbst, den § 29 vorerst nicht im amtlichen Entwurf vorkommen zu lassen, um politische Irritationen und Missdeutungen in der Öffentlichkeit zu vermeiden.2027 Man könnte die konkreten Neuordnungsvorschläge auch über die Presse kommunizieren.2028 Die Bekanntmachung dieser Aufteilung ist dann tatsächlich rasch über die Presseerzeugnisse verbreitet worden, allerdings bevor der Verfassungsentwurf der Regierung – bezeichnenderweise aufgrund eines durch Spartakus-Verbände angezettelten Streiks in der Reichsdruckerei – selbst veröffentlicht werden konnte. So entstand in der öffentlichen Debatte die Auffassung, der Entwurf Preuß‘ ziele, mehr oder weniger explizit im Verfassungstext, in erster Linie auf die „Zerschlagung“ bzw. „Zertrümmerung Preußens“2029 ab. Über Nacht wurde Preuß auf diese Weise zum prominenten „Preußengegner“ und dementsprechend heftig angefeindet. Die Länder empfanden diesen Vorschlag des § 29, wie zu erwarten war, als nicht hinnehmbaren Affront, auch gegen die Einheit des preußischen Staates. So schlug der Praktiker Ebert für den zweiten, diesmal mit Verzögerung veröffentlichten Entwurf vom 20. Januar 1919 statt des § 29 den inhaltlich geänderten § 35 vor, der vorsichtig und dehnbar nur noch von Vorschriften für die provisorische Zusammensetzung des Staatenhauses sprach, ohne eine konkrete Fassung vorzugeben.2030
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Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 119 f. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 26. 2027 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 7. 2028 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 104 ff. 2029 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 7. 2030 § 35 des Entwurfs des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung: Bis sich die neuen deutschen Freistaaten gebildet haben, wird ein provisorisches Staatenhaus eingerichtet (nach Vorschriften, deren Fassung vorbehalten bleibt). 2026
II.
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3. Die Rheinlandfrage Zur Überwindung der bisherigen 25 Gliedstaaten, die dynastische Schöpfungen gewesen waren und „fast überall die natürlichen Zusammenhänge der Landschaften und Stämme willkürlich“ durchschnitten hatten,2031 sah Preuß die neue Republik als Möglichkeit, „das Zusammengehörige wieder zu vereinen“. Dabei sei es indessen die Pflicht der Reichsverfassunggeber, „auch für die innere Gliederung der deutschen Landschaften und Stämme zu autonomem Eigenleben innerhalb des einheitlichen Reichsstaats“ zu sorgen. Dabei hingen die Pläne zur Aufspaltung des preußischen Freistaates eng mit der Rheinlandfrage zusammen und zwar nicht nur unmittelbar staatsrechtlich, sondern für Preuß auch ganz grundsätzlich. Erst der hegemoniale Partikularismus Preußens sei die „unerschöpfliche Quelle“ für die partikularistischen Spannungen in ganz Deutschland gewesen und mit dem Zusammenbruch der preußischen Monarchie, die als obrigkeitsstaatliches Band den künstlichen Zusammenhalt der Provinzen bisher gewährleistet hatte, seien „separatistische[] Neigungen“ aufgetreten. Hellsichtig erkannte Preuß, entgegen dem oftmals politisch pauschalisierenden Zeitgeist, dass sich diese Loslösungstendenzen etwa in Hannover, Schlesien oder eben im Rheinland nicht gegen die Integrität des Deutschen Reiches richteten, sondern gegen die eigene Mediatisierung im Freistaat Preußen: „Innere Kraft haben solche Bestrebungen nur, soweit sie sich gegen Preußen richten, nicht gegen die nationale Einheit des Reichs.“2032 Ausdrücklich erkannte Preuß die vorhandene Absicht zur Konstituierung mittel- und norddeutscher Staaten und zur „unmittelbaren Unterstellung unter das Reich“ an und ging sogar so weit, von einer „ihnen gebührende[n] Gleichstellung mit den süddeutschen Gliedstaaten“ zu sprechen.2033 Ganz konkret hatten Stärke, Reichweite und Erfolg bzw. Misserfolg der Weststaatsbewegung für die Preußschen Pläne eine gewisse demoskopische Bedeutung. Sowohl mit seiner Denkschrift als auch der Vorlage seines ersten staatsorganisationsrechtlichen Entwurfs habe er untersuchen wollen, inwieweit die deutsche Öffentlichkeit seine Neugliederungsankündigungen akzeptieren oder ablehnen würde. Wichtig im Zusammenhang dieser ersten, groben Meinungsforschung war die Rheinstaatsinitiative. Der Gedanke der Aufspaltung Preußens habe „sehr starken Anhang, namentlich im westlichen Teil Deutschlands“, resümierte Preuß beinahe frohlockend.2034 Es wird deutlich, dass die rheinische Initiative mit einigem Gewicht die frühen Verfassungsentwürfe und die Diskussion hierüber beeinflusst hat und für den sich politisch vortastenden Preuß geradezu zum „Stimmungsbarometer“ für seine weiteren Verfassungspläne werden sollte. 2031 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 137. Hier auch die nachfolgenden Zitate. 2032 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 140. 2033 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 140. 2034 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 15.
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III. Die erste Lesung im Plenum der Nationalversammlung Die Veröffentlichung des zweiten Verfassungsentwurfs des Reichsamtes des Innern am 20. Januar 1919 hatte ein enormes politisches und wissenschaftliches Echo erzeugt, was indessen im Rahmen dieser Arbeit nicht vollständig wiedergegeben werden kann und muss.2035 Auch hierbei stand in erster Linie die preußische Frage zur Diskussion. Wenn auch der Rat der Volksbeauftragten einige Änderungen vorgeschlagen hatte, etwa zum genannten § 29, so kann dennoch auch der WRV-Entwurf II als eigentümlicher Entwurf von Preuß bezeichnet werden, weil die inhaltlichen Abweichungen zum ursprünglichen WRV-Entwurf I vom 3. Januar recht gering ausfielen.2036 An diesen Zeitpunkt knüpft eine Feststellung Morseys an, der schreibt: „Der günstigste Zeitpunkt für die Proklamation einer [Rheinischen, P.B.] Republik war in dem Augenblick verpaßt, in dem Mitte Februar 1919 die Nationalversammlung in Weimar mit ihren Beratungen über die neue Reichsverfassung und damit auch über den künftigen Reichsaufbau begann.“2037 Deutlich wird, dass die Rheinstaatsbewegung ab Februar 1919 eine parlamentarische Initiative werden musste, wollte sie ihr Vorhaben zum Erfolg führen. Das Zeitfenster, in dem durch aktionistische Proklamationen unverrückbare Tatsachen hätten geschaffen werden können, hatte sich in der Tat geschlossen. Vielmehr waren sie illegitim geworden, wenn nicht sogar illegal. Dies war etwa von Dorten im Februar 1919 auch durchaus wahrgenommen worden. Auf der anderen Seite war es ja gerade das erklärte Ziel der moderaten, konstitutionellen Rheinstaatsbefürworter gewesen, einen rheinländischen Gliedstaat auf dem Wege der Verfassunggebung zu ermöglichen. Gegen vorschnelle Aktionen, die dem Ergebnis der Verfassungsberatungen vorgegriffen hätten, hatten sie sich spätestens seit der Parlamentarier-Konferenz vom 1. Februar 1919 ausgesprochen. Somit beförderte der Beginn der Arbeit der Nationalversammlung die Trennung der Rheinstaatsbewegung in einen minoritären aktionistischen und einen majoritären legalistischen Flügel. Die eigentliche inhaltliche Arbeit der Verfassunggebenden Nationalversammlung begann mit der Einbringung des Regierungsentwurfs (WRV-Entwurf IV) am 21. Februar 1919. Dieser wurde zur Einzelberatung in den Achten Ausschuss („Verfassungsausschuss“) übermittelt, der unter dem Vorsitz von Conrad Haußmann 2035 Vgl. die Übersicht der Reaktionen auf den Verfassungsentwurf bei Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 149. 2036 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 124 f. 2037 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 190.
III.
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(DDP) vom 4. März bis zum 2. Juni in erster und vom 3. Juni bis 18. Juni 1919 in zweiter Lesung tagte. Am Ende dieser Beratungen stand der aus 173 Artikeln bestehende „Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des Achten Ausschusses“, also der fünfte Verfassungsentwurf (WRV-Entwurf V), der zurück an das Plenum zur weiteren Beratung verwiesen wurde. Vom 2. bis 22. Juli 1919 fand die zweite Lesung in der Nationalversammlung auf Basis des Ausschussentwurfes statt, die heftige Debatten mit sich brachte,2038 jedoch schließlich mit der Kompromisslösung „Entwurf der Verfassung des Deutschen Reiches nach den Beschlüssen der Nationalversammlung zweiter Lesung“ (WRVEntwurf VI) abschloss. Die abschließende dritte Lesung begann am 29. Juli 1919. Im Grunde waren sich die Parteien darüber einig, dass der Bundesstaat fortgeführt werden sollte und die Minderheiten in MSPD und USPD, die den konsequenten Einheitsstaat forderten, blieben isoliert. Dennoch traten zunehmend unitarisierende Tendenzen in den Vordergrund,2039 wenn auch die föderale Ordnung nicht grundlegend in Zweifel gezogen werden konnte. Insbesondere der Rat der Volksbeauftragten hatte im Grunde den Einheitsstaat als Ideal vor Augen, meinte jedoch bereits nach dem WRV-Entwurf I vom 3. Januar 1919, dass man nicht mit einem allzu zentralistisch-unitarischen Vorschlag die separatistischen Tendenzen im Westen und Osten des Reiches befördern dürfe.2040 Auch die Notwendigkeit der Zusammenfassung der nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten stand weitgehend außer Frage.2041 Insgesamt stand die Verfassungsdiskussion in den Traditionen des deutschen politischen und staatsrechtlichen Denkens.2042 Ein Grundproblem des Verfassunggebungsprozesses war vielmehr das anfängliche Versäumnis, die Gliedstaaten bzw. Länder an der Verfassunggebung hinreichend zu beteiligen.2043 Preuß selbst war offenbar davon ausgegangen, dass die Nationalversammlung die Verfassungsarbeiten binnen weniger Wochen abschließen werde.2044 Sein erster Entwurf zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass zu diesem Zweck nahezu alle besonders strittigen Punkte, wie etwa ein Grundrechtsteil, zunächst ausgeklammert worden waren. Als umkämpfte Punkte blieben jedoch die Fragen nach der Neugliederung des Reiches und der gleichzeitigen Auflösung Preußens bestehen. Dabei war vom Reichskabinett insbesondere der besagte § 29 kritisiert worden, der kaum kaschierteVorschläge für eine territoriale Neugliederung 2038
Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 32. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1179. 2040 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 123. 2041 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 56 f. 2042 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 63. 2043 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 29. 2044 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 71. 2039
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des Reichs enthalten hatte. Die Möglichkeit zur Neugliederung selbst gemäß § 11 blieb indessen zunächst bestehen. Noch am 20. März 1919 musste sich Preuß vor dem Verfassungsausschuss für den Inhalt des ursprünglichen und zwischenzeitlich längst fallengelassenen § 29 rechtfertigen: „Ich betone, das waren nicht Vorschläge für neue Staatsbildungen, sondern Vorschläge für Wahlbezirke zum Staatenhaus. Auf einem mir dunkel gebliebenen Wege ist dieser, ich will einmal sagen, Laboratoriumsversuch in die Presse gekommen, und zwar unter dem Stichwort, das sei die neue Landkarte von Deutschland, wie sie im Reichsamt des Innern vorgesehen sei.“ Dennoch bestritt er nicht ausdrücklich, dass er sich von seinen Vorschlägen Weitergehendes erhoffte: „Daß dabei vielleicht auch die Aussicht unterlaufen sei, vielleicht geht es auch so, will ich ja nicht bestreiten. Irgendein Zwang sollte darin nicht liegen.“2045 Preuß nahm für seine ursprünglichen Pläne in Anspruch, sich am ehesten an den deutschen Stämmen zu orientieren und zu einem zeitgemäßen Föderalismus zu kommen.2046 Nicht zuletzt die mangelnde Einbindung der Einzelstaaten führte jedoch zu einem erheblichen Widerstand gegen diese Neugliederungsbestrebungen. Schon am 27. und 28. Dezember 1918 hatten die süddeutschen Länder auf einer Konferenz in Stuttgart beschlossen, gemeinsam auf einen Neuaufbau des Reiches auf einer strikt bundesstaatlichen Grundlage zu beharren.2047 Am 24. Januar 1919 beschloss die preußische Staatsregierung sogar, bei der Reichsregierung förmlich gegen den § 11 des ersten Entwurfs Protest einzulegen.2048 Das virulente Reizwort der „Zerschlagung Preußens“ hatte selbst unter den an sich unitarisch eingestellten preußischen Sozialdemokraten zu heftiger Ablehnung geführt. Ein entschiedener Gegner der Preußschen Vorstellungen etwa war Erich Kaufmann, damals noch Nationalist und Monarchist, der strikt für die Erhaltung Preußens als den „einzigen Großbetrieb staatlicher Art“ eintrat und über Preuß spottete, dieser sei ein „verärgerte[r] Kommunalpolitiker, der jetzt unter Überspringung der Arbeit am ,Staat‘ gleich in ein oberstes Reichsamt berufen worden ist“.2049 Erst am 25. Januar 1919 beriefen die Volksbeauftragten eine Staatenkonferenz in das Reichsamt des Innern ein, die unter dem Vorsitz Eberts tagte. An dieser Konferenz nahmen 87 (!) Ländervertreter und Mitglieder der Reichsregierung einschließlich eines deutsch-österreichischen Gesandten teil. Hier setzten sich bereits 2045
Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), Sitzung v. 20. Marz 1919, S. 149. 2046 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 120. 2047 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 150. 2048 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 150. 2049 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (Fn. 1948), S. 84.
III.
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die Einzelstaaten durch, die darauf bestanden hatten, dass der Regierungsentwurf mit ihnen gemeinsam beraten werde, bevor man ihn der Nationalversammlung vorlegt. Grundsätzlich handelte es sich bei der Staatenkonferenz um eine rein politische Konsultation der Länder, die keine rechtlich verbindlichen Folgen für den Verfassunggebungsprozess bewirken sollte. Mit Recht bemerkt jedoch Neumann: „Der Zusammentritt ließ vermuten, daß eine Vertretung der Regierungen der Länder nicht wieder von der Bildfläche verschwinden würde und die zukünftige Reichsorganisation an den bisherigen Staaten und ihrem Gebietsstand nicht würde achtlos vorbeigehen können.“2050 Gestützt wurden die Länder in ihrem Anliegen auf Partizipation von der überwiegenden öffentlichen Meinung.2051 Man verschaffte sich hinsichtlich der materiellen Ausgestaltung der künftigen Verfassung auf diese Weise einen Beratungsvorsprung gegenüber der Nationalversammlung.2052 In einer gewissen Parallelität zu dem Vorgehen der radikalen Rheinstaatsanhänger waren die Einzelstaaten bestrebt, ihre ungeschmälerte Existenz als fait accompli der Nationalversammlung vorzugeben, die dann freilich diese Vorentscheidung nur noch hätte sanktionieren müssen. Wie zu erwarten, übernahm Preußen schnell die Führungsrolle in der Länderkonferenz. In der Frage der preußischen Staatseinheit vertraten vor allem der Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium Freund und der preußische Justizminister Heine den unbedingten Willen zur Integrität, während SPD-Ministerpräsident Hirsch zumindest zu geringfügigen Gebietsveränderungen bereit schien. In einer Sitzung vom 24. Januar 1919 hatte die preußische Staatsregierung ihre Position abgestimmt und man war sich einig, „dass es geradezu ein Unglück für das ganze Reich [!] wäre, wollte man den ohnehin schon bestehenden Partikularismus durch eine Aufteilung Preußens noch vergrößern. Für die wirtschaftlich zurückgebliebenen Landesteile wäre es, wenn sie auf eigenen Füßen stehen sollten, unmöglich, ihren kulturellen Aufgaben gerecht zu werden, die sie nur als Glied eines geschlossenen Ganzen erfüllen könnten. […] Von einer bedrohlichen Hegemonie Preußens könne schon dann nicht mehr die Rede sein, wenn sie in demokratischem Sinne ausgeübt würde: es würde dann für die anderen Bundesteile die Gefahr eines übermächtigen Preußens völlig verschwinden. […] Auch nach außen hin wäre diese Zergliederung außerordentlich gefährlich, da sie dem Feinde die Möglichkeit bieten würde, einen Staat gegen den anderen auszuspielen.“2053
2050 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 122. 2051 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 126. 2052 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 122. 2053 Zitat bei Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 125.
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Der bayerische Ministerpräsident Eisner (USPD) stützte die preußische Position, indem er für einen möglichst selbständigen Status der Gliedstaaten überhaupt plädierte.2054 In einem Schreiben vom 23. Januar 1919 formulierte er: „Ich fasse die Zerschlagung Preußens, soweit sie in dem mir unmöglich scheinenden deutschen Verfassungsentwurf versucht wird, nicht als eine tatsächliche Aufteilung Preußens auf – sonst hätte man sich mit der natürlichen Dreiteilung begnügt – sondern vielmehr als den Versuch, Deutschland zu unitarisieren, und die Widerstände im Süden durch die scheinbare Aufteilung Preußens zu überwinden, die in Wirklichkeit nichts weiter ist, als eine provinziale Gliederung unter Aufrechterhaltung der preußischen Einheit und Vormacht.“2055 Eisner hatte sogar durchzusetzen versucht, den Verfassungsentwurf des Reichsamts des Innern ganz beiseite zu lassen und der Nationalversammlung lediglich den Entwurf einer Notverfassung vorzulegen, die weiterhin von einem Bund der Einzelstaaten ausgehen sollte.2056 Die Opposition der Gliedstaaten gegen den Preußschen Verfassungsentwurf (WRV-Entwurf II) bedeutete einen politischen Durchbruch der föderalen, eher beharrend-konservativen Kräfte und es kam zu schwerwiegenden Veränderungen in den noch folgenden Verfassungsberatungen. Die Länder waren allesamt bestrebt, ihren bisherigen Umfang, ihre Position und Machtstellung zu sichern.2057 Das Ergebnis der Länderkonferenz war die Einsetzung eines zunächst vorläufigen, mit dem „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ dann festgeschriebenen Staatenausschusses, der die Einzelfragen des Regierungsentwurfs der Reichsverfassung erläutern und diskutieren sollte. Er setzte sich zusammen aus Regierungsbeauftragten der Einzelstaaten und tagte sogleich vom 27. bis 30. Januar, am 1. Februar, zwischen dem 5. und 8. sowie zwischen dem 18. und 21. Februar. Am 1. Februar 1919 einigte sich der vorläufige Staatenausschuss darauf, statt eines Staatenhauses im Sinne Preuß‘ einen „Reichsrat“ zu bilden, in dem kein Gliedstaat mehr als ein Drittel (!) der Stimmen erhalten sollte. Insbesondere in der Frage der Anordnung einer Volksabstimmung durch das Reich gegen den Willen der Länderregierungen (§ 11 Absatz 3), also letztlich des Reichszwanges, leistete Preußen mit seinen Sprechern Freund, Hirsch und Albert Südekum (SPD) unnachgiebigen Widerstand. In den Beratungen des Staatenausschusses zeigten sich vor allem zwei Tendenzen: Zum einen wurde deutlich, dass die größeren Länder darauf aus waren, die Neugliederungsfrage auf die Klein- und Mittelstaaten zu beschränken. Zum anderen wurde die Rolle der Reichsregierung im Prozess der territorialen Neugliederung
2054 2055 2056 2057
Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 151. Zitat bei Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 125. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 8 f. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 29.
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lebhaft diskutiert und damit die Frage, inwiefern die Reichsregierung auf die Länderumbildung Einfluss nehmen sollte.2058 Der preußische Unterstaatssekretär Freund hatte bereits am 1. Februar 1919 einen Änderungsantrag zu § 11 der Vorlage von Preuß eingebracht, in dem es hieß: „Die deutschen Freistaaten sind berechtigt, ihre Grenzen untereinander [!] abzuändern, sie sind ebenso berechtigt, sich zu neuen Staaten zu vereinen oder sich in mehrere selbständige Staaten zu teilen. Die Bildung neuer Freistaaten bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz.“2059 Preußen wollte die Neugliederung ausschließlich den Einzelstaaten überlassen und der Reichsregierung wäre lediglich die Position eines im Grunde unbeteiligten Dritten zugekommen. Die regionalen Loslösungsbestrebungen fanden überhaupt keine Erwähnung; die Frage der Neugliederung wäre im Ergebnis alleinige Angelegenheit der Landesorgane gewesen, ohne jegliche plebiszitäre Entscheidungen „von unten“ anzuerkennen. Aus Sicht der Reichsregierung bedeutete dies lediglich die Festschreibung des Status quo, da die Länder auf diese Weise keinen Anreiz gehabt hätten, selbst aktiv eine Neuordnung herbeizuführen. Ergänzend zur ländereigenen Neugliederung beharrte Preuß sodann auf der Einführung eines verfassungsändernden Reichsgesetzes, das ebenso eine territoriale Umstrukturierung bewirken sollte. Durch die Möglichkeit des Reichsgesetzes mit verfassungsändernden Mehrheiten sollte Druck auf die Einzelstaaten ausgeübt werden.2060 Vor der heraufziehenden Möglichkeit eines verfassungsändernden Gesetzes wiederum graute es insbesondere Preußen, wie Neumann erläutert, da „auf das Land von vielen Seiten […] Gebietsansprüche und Loslösungsbestrebungen“ einströmten.2061 So war es auch die Rheinstaatsbewegung, vor deren Hintergrund Preußen hartnäckig eine Zuständigkeit des Reiches in Neugliederungsfragen bekämpfte. Es war nämlich zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass sich eines Tages verfassungsändernde Mehrheiten für einen neuen Rheinstaat „los von Preußen“ finden ließen, wenn der politische Druck aus dem Westen des Reiches stärker würde. Aufgrund dieses Widerstands der Reichsregierung, blieb der Änderungsantrag Freunds letztlich erfolglos, auch vor dem Hintergrund der bevorstehenden Verhandlungen der Nationalversammlung, in der die Position der Reichsregierung einen 2058
Vgl. hierzu im Folgenden Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 124 ff. 2059 Zitat bei Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 124. 2060 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 125. 2061 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 126.
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stärkeren Rückhalt finden sollte. Der Vorschlag Freunds hätte bewirkt, dass einzelne Landesteile Preußens sich niemals ohne Zustimmung der preußischen Führung hätten lossagen können, was ersichtlich nicht im Sinne der auf die Reichsebene bezogenen, unitarisch orientierten Nationalversammlung war. In dem immer noch vorläufigen Regierungsentwurf vom 17. Februar 1919, nunmehr der dritte Entwurf (WRV-Entwurf III) mit insgesamt 109 Artikeln, hatten sich insgesamt die föderalistischen Ländervorstellungen aus der Staatenkonferenz stark durchgesetzt, so dass sich diese Vorlage erheblich von den Ausarbeitungen von Preuß unterschied. Ein wenig zurückhaltender spricht Gusy davon, dass der dritte Entwurf wesentlich durch die Beratungen mit den Gliedstaaten beeinflusst worden sei. Er machte in erster Linie drei Positionen in der Unitarismus/FöderalismusDebatte aus: „Die Unitarisierungsbestrebungen Preuß‘, die Föderalisierungsbestrebungen der süddeutschen Länder und das Selbsterhaltungsstreben Preußens.“2062 Letztlich verbündete sich Preußen mit den süddeutschen Föderalisten, die ihrerseits Forderungen nach einer Reform des Bundesstaats zulasten des preußischen Großstaates ad acta legten. Diese Union entstand nicht zuletzt, damit etwa Bayern nicht eines Tages selbst Objekt von Aufgliederungsplänen werden würde. Dabei waren die Landesregierungen im Staatenausschuss formal gar nicht an der Verfassunggebung beteiligt bzw. dafür vorgesehen, übten aber gerade im Zusammenspiel mit der Reichsregierung einen erheblichen Einfluss aus. Letztere, aber auch Preuß selbst, hielten es politisch nicht für ratsam, eine Verfassung mit der Nationalversammlung, jedoch ohne die Länder auszuarbeiten. Zunächst war dem dritten Entwurf eine nüchterne und recht inhaltsarme Präambel vorangestellt worden, die jedoch die Verfassung insgesamt als eine freistaatliche charakterisierte. Völlig neugefasst und verfahrensrechtlich erweitert wurde vor allem die Regelung zur Reichsneugliederung gemäß § 11 (a.F.). Mit den Worten Dubbens schien es so, als wäre im neugefassten Artikel 15 WRVEntwurf III2063 das „Selbstbestimmungsrecht der Gesamtbevölkerung“ durch ein 2062
Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 72. Art. 15 des Entwurfs einer Reichsverfassung vom 17. Februar 1919 (WRV-Entwurf III): Abs. 1: Die deutschen Gliedstaaten sind berechtigt, sich zum Zwecke der Bildung größerer leistungsfähiger Gliedstaaten im Ganzen oder in Teilen zusammenzuschließen. Dabei ist grundsätzlich von folgenden Gesichtspunkten auszugehen: 1. Kleinere Landesteile, die in keinem örtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit den übrigen Teilen ihres Staates stehen, sollen mit einem der angrenzenden Gliedstaaten vereinigt werden. 2. Kleinere Landesteile, die mit einem angrenzenden anderen Gliedstaate oder mit Teilen eines solchen in näherem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, als mit ihrem eigenen Lande, sollen mit jenem vereinigt werden. 3. Kleinere Gliedstaaten sollen sich mit angrenzenden oder nahegelegenen anderen Gliedstaaten verbinden, soweit nicht überwiegende wirtschaftliche Gründe die Erhaltung ihrer Selbständigkeit erfordern. Landesteile anderer bei dieser Vereinigung unbeteiligter Gliedstaaten, die mit den sich vereinigenden Gliedstaaten in nahen örtlichen oder wirtschaftlichen Beziehungen stehen, sollen in die Verbindung einbezogen werden. 2063
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„Selbstbestimmungsrecht der Länder“ konterkariert worden.2064 Die territoriale Neuordnung des Reiches war in erster Linie die Sache der Einzelstaaten geworden. Als „geistiger Vater“ dieser Fassung galt wiederum der preußische Unterstaatssekretär Freund.2065 Insgesamt wich der Inhalt des Artikels 15 deutlich vom Vorschlag Preuß‘ ab, so dass dieser selbst von dem „vom Staatenausschuss geschaffenen Art. 15“ sprach.2066 Es war keine Rede mehr von dem Recht des deutschen Volkes, neue Freistaaten innerhalb des Reichsverbands zu errichten, sondern Artikel 15 zielte alleinig darauf ab, dass sich Gliedstaaten oder „kleinere Landesteile“ zu größeren, leistungsfähigen Ländern zusammenschließen sollten. Dabei ging die Fassung von einer freiwilligen Einigung unter den betreffenden Gliedstaaten aus und vermied jede Zwangsgewalt des Reiches.2067 Vermutlich um die erwarteten Zusammenschlüsse kleinerer Landesteile und Gliedstaaten nicht übermäßig zu erschweren, wurde das Mindest-Soll der Bevölkerungsanzahl der neuerrichteten Gliedstaaten auf eine Million Einwohner festgesetzt (Artikel 15 Absatz 1 Nr. 4) und nicht, wie noch in § 11 Absatz 1 Satz 2 des Preuß-Entwurfs, auf zwei Millionen. Das Volk selbst wurde erst gar nicht erwähnt, sondern lediglich wirtschaftliche Zusammenhänge waren maßgeblich. Im Vordergrund stand die „Mediatisierung“ kleinerer Landesteile oder Gliedstaaten in größeren, insbesondere bereits existenten Freistaaten, um den als „Kleinstaaterei“ empfundenen Zustand zu beenden. Dies war ein völlig anderer Ansatz als der des § 11 des Preußschen Entwurfs, der auf die Bildung neuer Freistaaten nach Stammeseigenart, gemeinsamer Geschichte und nicht zuletzt territorialem Plebiszit der betreffenden Bevölkerungen abgestellt hatte. Die grundsätzliche Möglichkeit der Loslösung von bestehenden Gliedstaaten, die in § 11 Absatz 3 noch gegeben war, fand sich in Artikel 15 des späteren Entwurfs nicht wieder. Man könnte auch sagen, die von Preuß geforderte „freie Selbstbestimmung der Bevölkerungen“2068 spielte in Artikel 15 keine Rolle mehr, sondern den Ausschlag gaben einzig objektive Gründe wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und, nicht zuletzt, die allgemeine Staatsräson. 4. Neuerrichtete Gliedstaaten sollen mindestens eine Million Einwohner umfassen. Abs. 2: Kommt in solchen Fällen die Vereinigung bei den Verhandlungen der Nächstbeteiligten nicht zustande, so kann von den gesetzlichen Vertretungen der beteiligten Staaten, Gemeinden oder Gemeindeverbänden die Vermittlung der Reichsregierung angerufen werden. Bleibt diese Vermittlung erfolglos, so kann auf Antrag eines der Beteiligten die Angelegenheit durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz geregelt werden. Abs. 3: Die Bildung neuer Staaten bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. 2064 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 61. 2065 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 174. 2066 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 11. 2067 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 174. 2068 Preuß, Denkschrift zum Verfassungsentwurf (Fn. 1343), S. 142.
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Ferner sah Artikel 15 Absatz 2 lediglich eine Vermittlungsfunktion des Reiches vor. Preuß bemerkte hierzu: „Die praktisch entscheidende Frage war […]: was [sic!] hat zu geschehen, wenn eine Verständigung der Nächstbeteiligten nicht zustande kommt und auch die angerufene Vermittlung der Reichsregierung erfolglos bleibt?“2069 Für diesen Fall allein hatte die Reichsregierung eine Lösung durch verfassungsänderndes Reichsgesetz vorgeschlagen, was aus der Sicht Preuß‘ das weitestgehende Zugeständnis an die Gliedstaaten bedeutete,2070 gleichzeitig aber „ultimum remedium“ war.2071 Inhaltlich blieb dieser Artikel 15 (n.F.) auch zunächst in den Verfassungsberatungen bestehen. Im Jahre 1922 noch beklagte sich Preuß rückblickend darüber, dass sich die Reichsregierung dem Drängen der einzelstaatlichen Regierungen im Februar 1919 allzu sehr gefügt habe.2072 Es ist nachvollziehbar, dass Gillessen spekuliert, ob Preuß in dieser Situation der weitreichenden Zugeständnisse auf den mäßigenden unitarischen Einfluss der Abgeordneten der Nationalversammlung hoffte oder ob er sein Konzept des „Volksstaates“ inzwischen sogar fallengelassen hatte. Im Grunde habe man einen „hartnäckigeren Widerstand“ Preuß‘ erwarten können.2073 In der zentralen Angelegenheit, ob das Reich im Falle einer Länderneugliederung das Recht zur Ausübung von Zwang als ultima ratio habe, behielt sich Preuß jedoch im Namen der Reichsregierung vor, bei der Beratungsvorlage für die Nationalversammlung vom Ergebnis der Diskussionen des Staatenausschusses, insbesondere vom preußischen Nein, abzuweichen. Als „Notlösung“ hatte er zwischenzeitlich in Artikel 15 Absatz 2 Satz 2 die Möglichkeit eingefügt, eine Neugliederung nach fruchtlosen Verhandlungen und Vermittlungen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz vorzunehmen. Rückblickend sprach Preuß dabei selbst von einer Taktik der „elastischen Defensive“; man habe mit den Verfassungsentwürfen nicht einen schweren Konflikt mit den Einzelstaaten riskieren dürfen, sondern kritische Fragen schließlich den Beratungen der Nationalversammlung vorbehalten wollen.2074 Vom 18. bis 21. Februar 1919 beriet der nunmehr durch das „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ konstituierte Staatenausschuss unter der Leitung von Preuß diesen dritten Vorschlag, der als (vierter) Regierungsentwurf (WRV-Entwurf IV) am 21. Februar 1919 mit den eingearbeiteten Änderungswünschen der 2069
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 11. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 11: „[…] die Reichsregierung [ging] in der Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit [!] der Einzelstaaten bis an die äußerste Grenze des Möglichen.“ 2071 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 14. 2072 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 10. 2073 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 153. 2074 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 153. 2070
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Gliedstaaten erschien.2075 Bezeichnenderweise stimmte der Staatenausschuss dem ihm vorgelegten Artikel 15 Absatz 2 Satz 2 nicht zu, weil hierin der Kompromiss einer Länderneugliederung durch verfassungsänderndes Reichsgesetz vorgesehen war, ohne die konstitutive Mitwirkung oder Zustimmung der beteiligten Gliedstaaten. Grundsätzlich sollte dem Reich nur eine zwischen den Betroffenen vermittelnde Funktion zukommen und eben die rechtliche Sanktion des gefundenen Ergebnisses. Nur im Falle eines Scheiterns von Neugliederungsverhandlungen sollte ein Reichsgesetz, verabschiedet mit verfassungsändernder Mehrheit, abschließend neue Grenzen ziehen können. Diese Reichskompetenz zur Länderneugliederung konnte der Staatenausschuss nicht mittragen, wenn dieser Fall auch noch so hypothetisch erschien. Dieser vierte Verfassungsentwurf der Regierung wurde im Folgenden die Grundlage der Debatten in der verfassunggebenden Nationalversammlung und ihrem Verfassungsausschuss. Schon wenige Tage später, bei der Eröffnung der ersten Lesung am 24. Februar 1919, präsentierte Preuß in der Nationalversammlung eine ausführliche mündliche Begründung des WRV-Entwurfs IV.2076 Dies konnte ihm nicht leicht gefallen sein, weil er nunmehr einen Verfassungsentwurf zu erläutern und zu verteidigen hatte, der nicht mehr seinen ursprünglichen
2075 Art. 15 des Entwurfs einer Reichsverfassung vom 21. Februar 1919 (WRV-Entwurf IV): Abs. 1: Die deutschen Gliedstaaten sind berechtigt, sich zum Zwecke der Bildung größerer leistungsfähiger Gliedstaaten im Ganzen oder in Teilen zusammenzuschließen. Dabei ist grundsätzlich von folgenden Gesichtspunkten auszugehen: 1. Kleinere Landesteile, die in keinem örtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang mit den übrigen Teilen ihres Staates stehen, sollen mit einem der angrenzenden Gliedstaaten vereinigt werden. 2. Kleinere Landesteile, die mit einem angrenzenden anderen Gliedstaate oder mit Teilen eines solchen in näherem wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, als mit ihrem eigenen Lande, sollen mit jenem vereinigt werden. 3. Kleinere Gliedstaaten sollen sich mit angrenzenden oder nahegelegenen anderen Gliedstaaten verbinden, soweit nicht überwiegende wirtschaftliche Gründe die Erhaltung ihrer Selbständigkeit erfordern. Landesteile anderer bei dieser Vereinigung unbeteiligter Gliedstaaten, die mit den sich vereinigenden Gliedstaaten in nahen örtlichen oder wirtschaftlichen Beziehungen stehen, sollen in die Verbindung einbezogen werden. 4. Neuerrichtete Gliedstaaten sollen mindestens eine Million Einwohner umfassen. Abs. 2: Kommt in solchen Fällen die Vereinigung bei den Verhandlungen der Nächstbeteiligten nicht zustande, so kann von den gesetzlichen Vertretungen der beteiligten Staaten, Gemeinden oder Gemeindeverbänden die Vermittlung der Reichsregierung angerufen werden. Bleibt diese Vermittlung erfolglos, so kann auf Antrag eines der Beteiligten die Angelegenheit durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz geregelt werden. [Hervorhebung durch Verf. Dieser Artikel 15 Absatz 2 Satz 2 ist vom Staatenausschuss nicht angenommen worden, dennoch bestand Preuß auf seiner Vorlage in der Nationalversammlung.] Abs. 3: Die Bildung neuer Staaten bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. 2076 Abgedruckt bei Preuß, Staat, Recht und Freiheit, 1964, S. 394 ff.
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Intentionen entsprach.2077 Zu Beginn der Verfassungsberatungen ging es ihm vor allem darum, den Affront zu den Gliedstaaten nicht weiter zu verstärken, etwa indem er die partikularistischen Vorstellungen der Länderregierungen vor dem Plenum der Nationalversammlung allzu sehr bloßstellte.2078 Dennoch bat er die Nationalversammlung insgesamt, eine „bessernde Hand anzulegen“, gerade bei den Fragen der Kompetenzabgrenzungen, des Reichsrats und der Reichsneugliederung. Insofern hoffte Preuß auf das Wirken der unmittelbar demokratisch legitimierten Nationalversammlung, um den als partikularistisch und reaktionär empfundenen Ländervorstellungen und -forderungen wirksam begegnen zu können. Was die Reichsregierung gegenüber den Einzelstaaten in den vielen Sitzungen seit Januar 1919 nicht vermocht hatte, sollte nun die Nationalversammlung als unitarisches Organ durchsetzen. Besonders nachdrücklich warb er für die Notwendigkeit eine Zwangsgewalt des Reiches in Fragen der Länderneugliederung, wenn auch als ultimum remedium. Es sei unbedingt erforderlich, beim Scheitern einer einvernehmlichen Lösung zwischen den adressierten Gliedstaaten eine Neugliederungsmöglichkeit durch ein – falls nötig mit verfassungsändernder Mehrheit zu beschließendes – Reichsgesetz vorzusehen. An dieser Zwangskompetenz hatten Preuß und die Reichsregierung trotz heftigen Widerstands im Staatenausschuss festgehalten, und Preuß sprach von einer „grundsätzliche[n] Bedeutung“ dieser Frage.2079 Er wies darauf hin, dass allein die Möglichkeit der Reichskompetenz dazu führen werde, dass sich die Gliedstaaten über Gebietsneuordnungen effektiver einigten oder jedenfalls die Reichsvermittlung bessere Erfolgsaussichten haben würde.2080 Im Plenum der Nationalversammlung forderte der Abgeordnete Konrad Beyerle (Zentrum, später Bayerische Volkspartei, BVP) am 3. März 1919 mit Blick auf die „Bestrebungen von Rheinland und Hannover auf Verselbständigung“, die Frage der Aufspaltung Preußens gewissenhaft zu prüfen. Für ihn war „die Notwendigkeit eines geschlossenen Weiterbestandes von Preußen nicht mehr unbedingt zu bejahen“, denn: „Je mehr Freiheit wir den einzelnen Stämmen geben, desto mehr stärken wir ihre Kräfte und ihre Reichsfreudigkeit.“2081
2077
Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 27. 2078 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 154. 2079 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 14. Sitzung v. 24. Februar 1919, S. 288 (D). 2080 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 14. Sitzung v. 24. Februar 1919, S. 289 (B). 2081 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 19. Sitzung v. 3. März 1919, S. 469 (C).
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Mit dem Sozialkatholiken Stegerwald distanzierte sich jedoch ein prominenter Zentrumsmann von der rheinischen Loslösungsbewegung. Gleichwohl gestand er ein, dass der Kern der „rheinischen Bestrebungen“ in der Frage liege: „Welches ist der sicherste Weg, daß wir unter allen Umständen deutsch bleiben?“2082 Gustav Stresemann (DVP) antwortete hierauf am folgenden Tag, dass die deutsche Einheit am besten durch einen „starken Staat“ garantiert werde, an den sich die deutschen Länder anlehnen könnten. Nur ein starkes Preußen könne sich gegenwärtig und in Zukunft allen Loslösungstendenzen vom Reich entgegensetzen.2083 Es wird deutlich, dass Stresemann hier in durchschaubarer Weise ernsthafte Reichsneugliederungsanliegen mit vermeintlich separatistischen Loslösungsbestrebungen vermengte, insbesondere um die Befürworter einer Aufteilung Preußens zu diskreditieren. Vor allem griff er Trimborn persönlich an, der sich daraufhin energisch zur Wehr setzte.2084 Die erste Lesung des Verfassungsentwurfs dauerte insgesamt bis zum 4. März 1919. Die grundsätzlich „reichsfreundlichen“, unitarischen Debattenredner der Mehrheitssozialdemokratie kritisierten dabei den „partikularistischen Geist der Vergangenheit“, der auch Eingang in den WRV-Entwurf IV gefunden habe.2085 Die Zentrumspartei verlangte ebenfalls eine weitere Stärkung der Zentralgewalt, bekannte sich aber grundsätzlich zu einem ausgeprägten bundesstaatlichen Charakter des Reiches. Es war in erster Linie die DDP, deren Redner die Grundgedanken der ersten Preußschen Entwürfe verteidigten, insbesondere den dezentralisierten Einheitsstaat. Koch-Weser jedoch lehnte die „Zerschlagung Preußens“ rundheraus ab und meinte, Preußen solle eher im Reich „aufgehen“, als in seine Provinzen zerlegt zu werden.2086 Rufe nach Selbständigkeit aus Preußen selbst kamen etwa von der DeutschHannoverschen Partei (DHP), die eine Loslösung der Provinz Hannover aus dem preußischen Gesamtstaat anstrebte und insgesamt für einen strikt föderativen Staatsaufbau stritt. Klaus weist darauf hin, dass die Hannoveraner sich dabei einer
2082 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 264. 2083 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 20. Sitzung v. 4. März 1919, S. 493 (D). 2084 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 20. Sitzung v. 4. März 1919, S. 502 (A). 2085 Zitat bei Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 146. 2086 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 148.
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„gewissen Unterstützung“ durch das Zentrum erfreuen konnten,2087 was vor dem Hintergrund der Rheinstaatsinitiative nicht zu überraschen vermag. Ausdrücklich aber nennt er die Rheinstaatsbewegung – neben der Hannover-Initiative – nicht, was darauf schließen lassen könnte, dass Erstere (zunächst) parlamentarisch zurückhaltender als die hannoverschen Föderalisten auftrat. Die Oppositionsparteien DNVP und DVP kritisierten, dass die Vormachtstellung Preußens aufgegeben werden sollte, ja dass der Freistaat gegebenfalls aufgespalten werde. Gleichzeitig mahnten auch sie dazu, die Reichsgewalt zu stärken. Die USPD erklärte, weiterhin für den „sozialistischen Volksstaat“ als einen zentralistischen Einheitsstaat kämpfen zu wollen.2088
IV. Die Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung Nach der ersten Generaldebatte im Plenum ging der Entwurf zur Einzelberatung in den Achten Ausschuss, den sogenannten Verfassungsausschuss. In diesem Ausschuss, der sich am 4. März 1919 unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten der Nationalversammlung Haußmann konstituierte, diskutierten 29 Abgeordnete. Nach dem Stärkeverhältnis im Plenum waren die SPD mit elf, DDP und Zentrum jeweils mit sechs, die DNVP mit drei, die DVP mit zwei und die USPD mit einem Abgeordneten vertreten. Die Fraktionen hatten zumeist ihre prominentesten Mitglieder und Redner aus der ersten Lesung entsandt. Anwesend waren regelmäßig Preuß und weitere Reichsregierungsvertreter sowie auch Vertreter der Einzelstaaten, insbesondere Preußens. Den Beratungen des Achten Ausschusses kam in der Entwicklung der Weimarer Reichsverfassung eine herausragende Bedeutung zu.2089 Im Verfassungsausschuss gehörten die bundesstaatlichen Themen zu den umstrittensten.2090 Letztlich zeigte sich im Vergleich zum vierten Entwurf mit seiner weitgehenden Berücksichtigung der Länderinteressen wieder eine unitarische Tendenz. Betont föderalistisch und auf der inhaltlichen Linie des Staatenausschusses waren lediglich die Rechtsparteien DVP und DNVP, während die anderen Abgeordneten prinzipiell mit Preuß der Meinung waren, dass man mit dem WRV-Entwurf IV den einzelstaatlichen Interessen zu sehr nachgegeben habe.2091 2087 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 28. 2088 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 151. 2089 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 157. 2090 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 74. 2091 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 14.
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Zunächst führte Beyerle als Berichterstatter zu Artikel 15 aus, dass der Wortlaut lediglich den Fall der Länderfusion erfasse, nicht jedoch eine Länderaufspaltung bzw. „daß sich Provinzen zu selbständigen Staatsgebilden erklären“.2092 Dies war aus Sicht des Abgeordneten Koch-Weser auch zweckmäßig, denn er meinte: „Unerwünscht wäre es, wenn der Artikel so ausgestaltet würde, daß er zu einer Zerschlagung Preußens führte.“2093 Er sprach sich vielmehr für eine Aufwertung der Selbstverwaltung der preußischen Provinzen aus. In der ersten Lesung des Artikels 15 lagen denn auch zunächst Änderungsanträge des Zentrums vor, die im Plenum von der Deutsch-Hannoverschen Partei (DHP) unterstützt worden waren und die die Einzelstaaten vom Verfahren der Neugliederung gänzlich ausschließen wollten, indem es alleinig auf eine Volksabstimmung in den fraglichen Landesteilen ankommen sollte.2094 Der Änderungsantrag Nr. 35 wurde eingebracht von Trimborn und sah vor, im Wesentlichen den Wortlaut des früheren § 11 des Ursprungsentwurfs als Artikel 15a bzw. 15b anzufügen. Ein weiterer Änderungsantrag kam von dem Abgeordneten Hermann Colshorn (DHP), der im Verfassungsausschuss Hospitant des Zentrums war, weil nach den Mehrheitsverhältnissen die Hannoveraner ansonsten keinen Sitz im Ausschuss gehabt hätten. Dies verdeutlicht, wie eng die Gegner des preußischen Großstaats aus Zentrum und DHP zusammenwirkten. Dieser Antrag zielte ebenfalls auf das ausschließliche Erfordernis einer positiven Volksabstimmung zur Länderneugliederung und -gründung, ohne dass es auf ein Votum der betreffenden Gliedstaaten ankommen sollte.2095 Trimborn betonte in seiner Antragsbegründung, dass die Bevölkerung des Rheinlands nicht länger durch Preußen im Reich kleingehalten bleiben wolle, sondern anderen deutschen Stämmen, wie den Württembergern und „Badensern“, gleichgestellt werden müsste. Als Ziel gab er die Reichsunmittelbarkeit des Rheinlandes aus.2096 Es wurde dabei deutlich, dass das Vorgehen der Zentrumsvertreter um Trimborn maßgeblich von den Vorstellungen der Rheinstaatsbewegung bestimmt gewesen war, die kein Interesse daran hatte, eine Neugliederung durch Preußen und seinen Egoismus blockieren zu lassen. Für Apelt hatte Trimborn maßgeblichen Einfluss im Verfassungsausschuss, der dort nichts unversucht gelassen habe, eine „große west2092
Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 88. 2093 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 88. 2094 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 129. 2095 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 89 f. 2096 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 92.
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deutsche Republik […] als die Verwirklichung des in weiten Kreisen des Westens gehegten Wunsches auf staatliche Selbständigkeit innerhalb des Reiches hinzustellen“.2097 Mehrheitlich wurde im Verfassungsausschuss zunächst allgemein die Bezeichnung „Gliedstaaten“ durch „Länder“ ersetzt, was deren eigenstaatlichen Charakter weniger betonte.2098 Konkret wurde die Zentralgewalt des Reiches durch legislative Kompetenzverlagerungen und eine umfassendere Reichsaufsicht über die Länder ausgebaut. Am 19. März 1919 appellierte Preuß erneut daran, den Neugliederungsartikel so zu gestalten, dass effektive territoriale Umgestaltungen tatsächlich möglich wären. Zeigte man den Loslösungsbestrebungen keinen konstitutionellen Weg auf, würde dies womöglich zu Ereignissen führen, die man gerade unter den gegebenen außenpolitischen Umständen vermeiden müsse. Sollten Neugliederungsverhandlungen zwischen den betreffenden Ländern zu keinem Ergebnis kommen, so müsse ein Reichsgesetz als ultimum remedium eine Neuordnung „von oben“ vornehmen können.2099 Erneut kam es zum Protest der süddeutschen Länder sowie Sachsens und Preußens, die sich auf einer Konferenz am 29. März 1919 in Stuttgart gegen die weitgehenden Abänderungen ihres „Staatenausschuss-Entwurfs“ im Verfassungsausschuss stellten. In einer Acht-Punkte-Erklärung wandte man sich mit scharfem Ton gegen die Vorhaben des Ausschusses. Erneut akzeptierte man vor allem nicht die ultima-ratio-Kompetenz des Reiches, das Reichsgebiet nötigenfalls gegen den Länderwillen durch Gesetz neu ordnen zu können (Artikel 15 Absatz 2 Satz 2 WRVEntwurf IV).2100 In diesem Punkt hatte sich Preuß, insbesondere gegen den Widerstand des preußischen Justizministers Heine,2101 zwischenzeitlich sehr effektiv durchgesetzt. Am 20. März 1919 hatte eine Mehrheit des Verfassungsausschusses aus USPD, MSPD, Zentrum und eines DDP-Vertreters (Wilhelm Heile) bestimmt, dass nach der geänderten Fassung des Artikels 15 sogar ein einfaches Reichsgesetz eine territoriale Neuordnung, auch gegen den erklärten Länderwillen, herbeiführen konnte. Der Änderungsantrag Trimborns hatte sich in seiner Radikalität zunächst nicht bzw. nicht gänzlich durchsetzen können. Der Antrag Colshorns war schließlich ergänzt worden durch die Annahme des Änderungsantrags Nr. 32, der auf Meerfeld zurückging, jedoch die gleiche Stoßrichtung besaß, nämlich die Staatenregierungen in der Angelegenheit der territorialen Neugliederung zurückzudrängen. Apelt meint, an den 2097
Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 92 f. Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 157 f. 2099 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 90 f. 2100 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 154. 2101 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 156. 2098
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Debatten rund um den Neugliederungsartikel konnte man „die ganze erschütternde Problematik der Aufgabe erkennen, den Bundesstaat Deutsches Reich auf eine tragbare territoriale Grundlage zu stellen“.2102 Artikel 15 Absatz 2 lautete nunmehr: „Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten kann durch Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt.“ Zu Recht sprach Preuß davon, dass das Reich nun mit Artikel 15 Absatz 2 einen „direkten Zwang“ zur Länderneuordnung hatte.2103 Dies blieb im Ergebnis die in erster Lesung beschlossene Fassung des Ausschusses.2104 Heine hatte zuvor vergeblich versucht, den Artikel 15 so zu formulieren, dass territoriale Änderungen ohne die Zustimmung der betreffenden Einzelstaaten nicht zu machen sein würden. Nachdrücklich bekämpfte er den Plan der „Zerschlagung Preußens“ als die deutsche Einheit insgesamt gefährdend und auch letztendlich allzu kostentreibend, wenn man nämlich statt der einen bestehenden preußischen Volksvertretung demnächst zehn weitere Volksvertretungen samt Regierungsapparaten finanziell unterhalten müsse.2105 Argumentativ zogen die Vertreter Preußens nun sämtliche Register. Nach längerer Pause trat der Verfassungsausschuss am 29. April 1919 erneut für kurze Zeit zusammen, dann erst wieder am 27. Mai 1919. Der heftige Widerstand der genannten Länder, vor allem Preußens, und eine Intervention der Reichsregierung führten jedoch einmal mehr dazu, dass sich der Ausschuss veranlasst sah, eine Reihe von Kompromissvorschlägen anzunehmen, die schlussendlich zu der Fassung des
2102
Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 92. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 20. 2104 Art. 15 des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des Achten (Verfassungs-)Ausschusses der Nationalversammlung in erster Lesung [abgedruckt bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322)]: Abs. 1: Die Gliederung des Reichs in Länder soll im Sinne der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung erfolgen. Abs. 2: Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten kann durch Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt. Abs. 3: Der Wille der Bevölkerung ist durch die Abstimmung der wahlberechtigten Einwohner festzustellen, die auf Antrag eines Viertels der Stimmberechtigten oder der politischen oder kommunalen Vertretungen eines Viertels der beteiligten Bevölkerung durch die Reichsregierung anzuordnen ist. Abs. 4: Entstehen bei der Vereinigung oder Abtrennung Streitigkeiten über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 2105 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 94. 2103
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Artikels 18 des WRV-Entwurfs V vom 18. Juni 19192106 führten; wenn auch mit knapper Mehrheit. Die Gegner der Pläne des Verfassungsausschusses waren so weit gegangen, dem Ausschuss Kumpanei mit angeblichen separatistischen Bewegungen, die auf die Loslösung von gewissen Gebieten aus dem Reichsverband abzielten, vorzuwerfen. Als Ende Mai 1919 bekannt geworden war, dass sich (aktionistische) Rheinstaatsanhänger mit dem französischen General Mangin in konspirativer Absicht getroffen hatten, war dies Wasser auf die Mühlen der Anhänger Preußens als vermeintlich einzigem „Bollwerk“ gegen die Verwelschungen im Westen. War man zwischenzeitlich im Verfassungsausschuss arg in die Defensive geraten, bedeutete diese „Unbedachtheit“ der Rheinländer um Dorten eine Wiederaufwertung der preußischen Position in den Verfassungsberatungen. Für die rheinischen Abgeordneten des Zentrums, die die verfassungsmäßige Möglichkeit der Rheinischen Republik vorsehen wollten, war der Wiesbadener Putschversuch ein deutlicher Rückschlag für ihr Vorgehen. Hirsch hatte verlautbaren lassen, die zwischenzeitliche Fassung des Artikels 15 Absatz 2 müsse „bei der Entente laute Freude erwecken“.2107 Die preußische Führung hatte zu Beginn der zweiten Lesung des Verfassungsausschusses damit gedroht, sich im Plenum der Nationalversammlung gegen den so formulierten Verfassungstext insgesamt zu stellen. Unterstützt wurde sie dabei von Bayern und Württemberg.2108 Zur Lösung dieses Konflikts fand am 29. Mai 1919 eine gemeinsame Sitzung der Reichsregierung mit den drei Führern der Mehrheitsfraktionen statt, zu der auch die protestierenden Gliedstaaten eingeladen waren. Hier entstand eine Kompromiss2106 Art. 18 des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des Achten (Verfassungs-)Ausschusses der Nationalversammlung in zweiter Lesung vom 18. Juni 1919 (WRV-Entwurf V): Abs. 1: Die Gliederung des Reichs in Länder soll im Sinne der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung erfolgen. Abs. 2: Die Neubildung von Ländern oder die Aenderung [sic!] ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten setzt die Zustimmung der daran unmittelbar beteiligten Länder voraus und bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. Stimmen die beteiligten Länder nicht zu, so kann eine solche Neubildung oder Gebietsänderung nur durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt. Abs. 3: Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung der wahlberechtigten Einwohner des Bezirks festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an. Sie muß eine solche Abstimmung anordnen, wenn ein Viertel der Stimmberechtigten oder die politischen oder die kommunalen Vertretungen eines Viertels der beteiligten Bevölkerung es verlangen. Abs. 4: Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 2107 Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 21. 2108 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 174.
IV.
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formulierung für den besagten Absatz 2, die dem Verfassungsausschuss für seine zweite Beratung wenige Tage später vorgelegt wurde. Diese Fassung entsprach im Wesentlichen bereits dem späteren Artikel 18 Absatz 2 WRV-Entwurf V und lautete: „Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebiets durch Vereinigung oder Abtrennung von Gebieten setzt die Zustimmung der daran unmittelbar beteiligten Länder voraus und bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. Wird diese Zustimmung nicht erteilt, so kann eine solche Neubildung oder Gebietsänderung nur durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt.“2109 Danach sollten also Gebietsveränderungen in erster Linie der Zustimmung der beteiligten Länder bedürfen und gegen deren Willen konnte nur der erschwerte Weg des verfassungsändernden Reichsgesetzes gegangen werden. In der Ausschusssitzung vom 5. Juni 1919 regte sich jedoch erneut Widerstand gegen diese erfolgreiche Einflussnahme der Länderregierungen. Ein Änderungsantrag des Zentrums zielte darauf ab, ein einfaches Reichsgesetz zur Neugliederung ausreichen zu lassen und den Begriff „verfassungsänderndes“ im Satz 2 des Absatzes 2 zu streichen. Zur Begründung führte der Abgeordnete Brauns aus, dass dem Artikel 15 grundsätzlich eine „außerordentliche politische Bedeutung“ zukomme, „ganz besonders für die besetzten Gebiete des Westens“.2110 Auf dem Wege des Reichsgesetzes mit verfassungsändernden Mehrheiten seien innerdeutsche Staatenbildungen „praktisch undurchführbar“ geworden.2111 Vertreter von Zentrum, DHP, DDP und MSPD verwiesen, in den wesentlichen Punkten einig, darauf, dass die Verfassung ein Instrument zur Loslösung und Gliedstaatsbildung vorsehen müsse, sodass solche Initiativen nicht ex constitutione in die Illegalität abgedrängt würden. Preuß brachte zwar dem Vorbringen der Kritiker des Kompromisses mit den Länderregierungen Verständnis entgegen, empfahl aber dennoch, an dem Erfordernis eines Reichsgesetzes mit verfassungsändernden Mehrheiten festzuhalten, um eben diesen wackeligen Kompromiss nicht unnötig zu gefährden.2112 2109
Abgedruckt bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 21. Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 429. 2111 Deutsche Nationalversammlung, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 590), S. 430. 2112 Klaus führt noch einen anderen Wortlaut des Artikels 15 an, von dem er fälschlicherweise ausgeht, dieser sei das Endergebnis der Beratungen des Verfassungsausschusses Mitte Juni 1919 gewesen. Allerdings findet sich eine entscheidende Abweichung in der Formulierung des Absatzes 2: „Die Neubildung von Ländern oder die Änderung ihres Gebietes durch Vereinigung oder Abtretung von Gebieten kann durch verfassungsänderndes Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird oder ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt.“, vgl. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 29. Wenn auch beide tat2110
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Diese Kompromisslösung bedeutete, dass das Reich – abgesehen von der direktdemokratischen Alternative – nur dann ein Initiativrecht zur Neuordnung besaß, wenn ein „überwiegendes Allgemeininteresse“ diese erforderte. Eine fehlende Einigung mit den betroffenen Ländern war indessen ausschließlich durch verfassungsänderndes Reichsgesetz zu überwinden. Damit war eine Neuordnung größeren Stils oder eine Aufteilung Preußens praktisch unmöglich geworden,2113 denn wie sollte im Reichsrat eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die preußischen Stimmen und die Ratsstimmen der Preußen traditionell unterstützenden Kleinstaaten organisiert werden? Letztlich konnten sich die Stimmen, die ein einfaches Reichsgesetz nötigenfalls zur Überwindung des Widerstands der betroffenen Landesregierung als Regelfall empfahlen und sich gegen ein verfassungsänderndes Gesetz aussprachen, im Juni 1919 nicht durchsetzen. Der Kompromissvorschlag wurde im Ausschuss mit 16 gegen 12 Stimmen angenommen; die Mehrheit des Ausschusses wollte weitere innenpolitische Kämpfe in der gegenwärtigen außenpolitisch angespannten Situation des Reiches nicht fortführen.2114 Die Gegenstimmen kamen in erster Linie von den Abgeordneten Hannovers, Braunschweigs und – kaum überraschend – des Rheinlands.2115 Oskar Altenberg bemerkt hierzu, dass „die Verfechter der Selbständigkeitsbestrebungen“ mit dieser länderfreundlichen Fassung nicht zufrieden sein konnten. Schon nach den Beschlüssen der ersten Ausschussberatung war der Weg der legalen Neuordnung schwer genug gewesen, nunmehr aber durch das Erfordernis eines Gesetzgebungsverfahrens mit verfassungsändernden Abstimmungsmehrheiten praktisch gänzlich verschlossen. Auch Preuß meinte, dies würde die illegalen Loslösungsströmungen schließlich stärken.2116 Apelt schreibt fatalistisch, „die ganze Frage der Neugliederung Deutschlands“ sei damit „endgültig auf das tote Gleis geschoben“ worden.2117 Neumann verweist darauf, dass es vor allem die Zentrumspartei im Verfassungsausschuss gewesen sei, die „auf die unerhörte Erschwerung jeglicher Ge-
bestandlichen Versionen im Ergebnis unterschiedslos gewesen sein mögen, fehlt jedoch in dieser Version die eindeutige, später in WRV-Entwurf V eingefügte Formulierung: „Die Neubildung von Ländern oder die Aenderung [sic!] ihres Gebiets […] setzt die Zustimmung der daran unmittelbar beteiligten Länder voraus […].“ Dies bedeutete eine Aufwertung der Position der Gliedstaaten, deren Zustimmung zur territorialen Neugliederung grundsätzlich als konstitutiv angesehen wurde. Anders gewendet, waren die Länder nicht länger gänzlich außen vor gelassen, wie dies der Verfassungsausschuss in erster Lesung noch vorgesehen hatte. 2113 So auch Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 157. 2114 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 113. 2115 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 62. 2116 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 22. 2117 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 113.
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bietsveränderungen hingewiesen“ habe.2118 Überraschen konnte dies nicht, waren doch gerade die Vertreter des Zentrums das Sprachrohr der Rheinstaatsanhänger im Ausschuss. Insgesamt fiel es auch Preuß schwer, diesen Kompromiss glaubhaft zu vertreten. Man habe letztlich nachgegeben, weil gerade Preußen ansonsten damit gedroht hatte, es werde die neue Verfassung insgesamt torpedieren.2119 Dies musste man mit Blick auf die innen- wie außenpolitischen Spannungen im Frühsommer 1919 tunlichst vermeiden. Es sei aber ein taktischer Fehler gewesen, den Gliedstaaten schon in den ersten Verhandlungen im Staatenausschuss und daraufhin im Regierungsentwurf ein verfassungsänderndes Gesetz anstatt eines einfachen Reichsgesetzes als Voraussetzung für die Lösung einer strittigen Gebietsänderung anzubieten. Dieses Entgegenkommen der Reichsregierung sei im Ergebnis nicht gewürdigt worden und schließlich habe man hinter das verfassungsändernde Reichsgesetz nicht mehr zurück gekonnt.2120 Neumann betont insbesondere die außenpolitischen Zwänge: „Die Bereitschaft der Reichsregierung, dem massiven Druck der Einzelstaaten gegenüber deren Sorge vor einer Neugliederung nachzugeben, wurde durch die außerordentliche politische Belastung, die die Friedensvertragsverhandlungen mit sich brachten, nachhaltig gefördert.“2121 Selbst dieser Kompromissvorschlag, insbesondere die Möglichkeit der Neugliederung gegen den Länderwillen als ultima ratio, wurde bis zuletzt bekämpft, etwa von der DNVP. Somit kam die Kritik aus zwei entgegengesetzten Richtungen, nämlich einerseits von den konstitutionellen Loslösungsbewegungen, in erster Linie aus Hannover und dem Rheinland, denen die Möglichkeit des Artikels 18 Absatz 2 nicht weit genug reichte, und andererseits von den reaktionären Partikularisten, denen der unangetastete Bestand Preußens sakrosankt und eine Gebietsänderung ohne ausdrückliche preußische Zustimmung undenkbar war; auch nicht mit verfassungsändernden Mehrheiten. Die Sozialdemokraten schwankten in ihrer Haltung, gaben letztlich jedoch auch den Länderinteressen nach und sprachen sich überwiegend für das Erfordernis eines verfassungsändernden Gesetzes aus. Der vom Verfassungsausschuss beschlossene Entwurfstext (WRV-Entwurf V) wurde mit einer neuen Systematik versehen, so dass aus dem bisherigen Artikel 15 nunmehr Artikel 18 geworden war. Diese Nummerierung wurde von der Nationalversammlung im Folgenden beibehalten. 2118 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 132. 2119 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 179. 2120 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 178 f. 2121 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 131.
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Mit Recht verweist Apelt darauf, dass man bei einer Bewertung der Arbeit des Verfassungsausschusses berücksichtigen müsse, dass die Abgeordneten unter einem erheblichen Zeitdruck standen und die innen- wie außenpolitische Situation zunehmend bedrohlich wirkte. Kompromisse, wenn auch nicht immer inhaltlich voll ausgereift, seien dabei unvermeidlich gewesen.2122 Es sei vor allem der Neugliederungsartikel gewesen, der in allen Stadien der Beratung ein „Schmerzenskind“ geblieben sei, denn Preußen sei zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen, „auch nur einen Fußbreit preußischen Bodens herzugeben“.2123
V. Die zweite und dritte Lesung im Plenum der Nationalversammlung In zweiter Lesung beriet die Nationalversammlung den vom Verfassungsausschuss beschlossenen WRV-Entwurf V vom 2. bis 22. Juli 1919, unterbrochen kurzzeitig von der Ratifikation des Versailler Friedensvertrags. Nach dem Ausscheiden der DDP aus der Regierungskoalition im Streit um die Annahme des Friedensvertrags, war Preuß als Innenminister zurückgetreten und nahm bei den weiteren Beratungen nun lediglich als eigens dafür beauftragter Vertreter der Reichsregierung teil. Nachdem der Verfassungsausschuss den Länderinteressen in der Angelegenheit der rechtlichen Möglichkeit von Neugliederungen noch nachgegeben hatte, entzündeten sich die Debatten im eher unitarisch dominierten Plenum der Nationalversammlung erneut. Bewusst war die Beratung des Artikels 18 bis zum letzten Tag der zweiten Lesung zurückgestellt worden.2124 Vielsagend ist eine Feststellung von Anschütz hierzu: „Die Anhänger der Loslösungsbestrebungen, namentlich der damals auf Abtrennung der Rheinprovinz von Preußen und auf Konstituierung derselben zu einem selbständigen Einzelstaate hinstrebende Teil der Zentrumspartei, waren durch den Vorschlag des VAussch [Verfassungsausschusses, P.B.] keineswegs zufriedengestellt; sie erklärten das Erfordernis eines verfassungsändernden Gesetzes für eine unerträgliche Erschwerung, eine „Erdrosselung“ […] ihrer Bestrebungen, indem der nächstbeteiligte Staat, nämlich Preußen, schon allein, vermöge der ihm im Reichsrat zustehenden Stimmenzahl, imstande sei, dem Zustandekommen eines verfassungsändernden Gesetzes die größten, unter Umständen entscheidende Schwierigkeiten zu bereiten.“2125
2122 2123 2124 2125
S. 144.
Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 119. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 121. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 25. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
V.
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Es bedeutete einen nicht zu unterschätzenden „Etappensieg“ des rheinischen Zentrums, der Rheinstaatsbefürworter und Trimborns persönlich, dass im Plenum der Änderungsantrag Nr. 631 der Mehrheitsfraktionen, gezeichnet von Paul Löbe (SPD), Heile (DDP) und eben Trimborn, vorgelegt werden konnte, der sich erneut gegen eine Länderneugliederung mit dem Erfordernis verfassungsändernder Mehrheiten wandte und ein einfaches Reichsgesetz auch ohne die Zustimmung der betreffenden Landesregierungen für ausreichend erachtete. Somit war die verweigerte Zustimmung der jeweils betreffenden Länder wieder durch ein einfaches Reichsgesetz, und nicht mit verfassungsändernden Mehrheiten, zu „ersetzen“, wie es noch die Kompromisslösung des Achten Ausschusses gewesen war. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Beharrlichkeit sowohl die Unitarier der Weimarer Koalition als auch die Rheinstaatsbefürworter um Trimborn für die Ermöglichung der territorialen Neugliederung auf verfassungsmäßig tatsächlich gangbarem Weg stritten. Dafür wurden jedoch die Bedingungen für die Feststellung des Bevölkerungswillens nach Artikel 18 Absatz 3 erheblich verschärft und verkompliziert. Die Reichsregierung sollte eine Volksabstimmung erst dann anordnen, wenn ein Drittel statt bisher eines Viertels der Wahlberechtigten des abzutrennenden Gebietes dies verlangte. Zudem wurde für das eigentliche Plebiszit ein Zustimmungsquorum zur Neugliederung von drei Fünfteln nicht nur der Einwohner der jeweiligen unmittelbar betroffenen Territorien, sondern der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung etwa der jeweiligen preußischen Provinz gefordert. Diese Regelung wiederum bedeutete ein Entgegenkommen der Nationalversammlung zugunsten Preußens.2126 Auch der Sozialdemokrat Sollmann, eigentlich ein Gegner der Rheinlandbewegung, in deren Sinne diese Neuformulierung des Artikels 18 war, warb für diesen Änderungsantrag.2127 Kaas sprach sich ebenfalls für den Kompromissantrag seines Mitstreiters Trimborn aus, meinte jedoch immernoch skeptisch, selbst in dieser Fassung würden den „Freunden der Selbständigkeitsbestrebungen“ mehr Opfer zugemutet als deren Gegnerschaft,2128 wobei er in erster Linie an das hohe Zustimmungsquorum dachte. Ziel sei es von Anfang an gewesen, dem Artikel 15 bzw. 18 „eine Gestaltung zu geben, die einerseits für die berechtigten Wünsche zu Neubildungen einen legalen Weg öffnete, andererseits aber auch für die durch das nationale Interesse gebotenen Kautelen sorgte, die notwendig waren, um unbedachte und wilde Staatengründungen zu verhindern.“2129
2126
S. 144. 2127
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 25. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 26. 2129 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1802 (B). 2128
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Kaas setzte sich als einer der letzten Zentrumsabgeordneten hartnäckig für die „Verselbständigung der Rheinlande“ ein und warnte für den Fall, dass die „rheinischen Wünsche“ nicht „legal verwirklicht“ werden könnten, vor der „unmittelbaren Gefahr explosiver Entladungen des Volkswillens, die im gegenwärtigen Augenblick zu unübersehbaren Folgen führen könnten“.2130 Für ihn stand fest, dass das Rheinland eine Stellung im Reich einnehmen müsse, die „der politischen und kulturellen Leistungsfähigkeit des rheinischen Volksstammes“ entspreche.2131 Der Demokrat Falk bezeichnete den Artikel 18 als „Schlußstein, als Krönung des Gebäudes“ des Weimarer Verfassungswerks.2132 Inhaltlich sprach er sich gegen eine Rheinische Republik aus, die er jedoch in engem Zusammenhang mit dem Neugliederungsartikel sah. Er fasste die Meinung wohl der allermeisten Rheinstaatsgegner zusammen, als er erklärte, „daß die Loslösung der Rheinlande von Preußen in diesem Augenblick mit der Loslösung der Rheinlande von Deutschland gleichbedeutend ist“.2133 Bewusst oder unbewusst das Narrativ der monarchistischen Reaktionäre aufnehmend, setzte der Liberale Preußen und Deutschland gleich. Gründete sich das Rheinland als Rheinische Republik „los von Preußen“, sei es Frankreich letztlich schutzlos preisgegeben. Mit dem Kompromissantrag Löbe-Trimborn-Heile konnte Falk indes übereinstimmen, vor allem hatte er sich überzeugen lassen, dass eine Zwangskompetenz des Reiches als ultima ratio nicht mit verfassungsändernden Mehrheiten ausgeübt werden sollte.2134 Erwartungsgemäß bekämpfte der DNVP-Vertreter Albrecht Philipp die Fassung des Artikels 18 als „kautschukartig“, denn mit seinem Wortlaut sei eine „territoriale Atomisierung Deutschlands“ möglich, ein „Deutschland des dreißigjährigen Krieges“.2135 Schließlich wurde der Antrag Löbe-Trimborn-Heile aber in namentlicher Abstimmung mit 197 Ja- gegen 42 Nein-Stimmen bei 16 Stimmenthaltungen ange-
2130
Zitat bei Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 469. Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1803. 2132 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1803 (B). 2133 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1803 (D). 2134 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1804 (A). 2135 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1805. 2131
V.
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nommen und der Artikel 18 erhielt damit in der zweiten Lesung wiederum einen anderen Wortlaut.2136 Zwar war damit gegen den anhaltenden Widerstand Preußens die qualifizierte Form der Verfassungsänderung im Entwurf beseitigt, jedoch waren Einleitung und Durchführung des Territorialplebiszits erheblich erschwert worden. In Absatz 2 waren die beiden Voraussetzungen für die Regelung durch ein (einfaches) Reichsgesetz, nämlich der „Wille der Bevölkerung“ und das „überwiegende Allgemeininteresse“, die bislang lediglich alternativ vorliegen mussten („oder“), nunmehr kumulativ („und“) gefordert. Die Reichsebene besaß nur dann eine einfachgesetzliche Zwangsgewalt, wenn eine positive Volksabstimmung und zudem ein überwiegendes Allgemeininteresse diese verlangten. Am 29. Juli 1919 leitete Preuß die dritte Lesung des Verfassungsentwurfs mit einigen Anmerkungen ein. Grundsätzlich resümierte er: „Die Widerstände auf dem Wege, den die Verfassung gehen mußte, waren und sind noch heute groß. Es bedurfte in der Tat jenen Mutes, der sich stets erhöhter bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt. Vielleicht darf ich sagen, daß der erste Entwurf der Verfassung ein solch kühner Vorstoß war, der zunächst einmal mit rücksichtsloser Entschiedenheit die Ziele der Entwicklung klar herausstellen sollte.“2137 2136
Art. 18 des Entwurfs einer Verfassung des Deutschen Reichs nach der zweiten Beratung des Nationalversammlung [abgedruckt bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 27]: Abs. 1: Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Länder innerhalb des Reichs durch Vereinigung oder Abtrennung setzt die Zustimmung der daran unmittelbar beteiligten Länder voraus und bedarf der Bestätigung durch Reichsgesetz. Abs. 2: Stimmen die beteiligten Länder nicht zu, so kann eine solche Neubildung durch Reichsgesetz erfolgen, wenn sie durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Allgemeininteresse sie erheischt. Abs. 3: Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt. Abs. 4: Zum Beschluß einer Gebietsänderung und und Neubildung sind mindestens drei Fünftel der Stimmen aller Wahlberechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles einer preußischen Provinz, eines bayrischen Kreises oder in anderen Ländern eines entsprechenden Verwaltungsbezirkes handelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in Betracht kommenden Bezirkes festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebietes mit diesem Bezirk nicht besteht, kann auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebiets als ausreichend erklärt werden. Abs. 5: Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlussfassung vorzulegen. Abs. 6: Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 2137 Zitat bei Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 187. Preuß meinte dabei übrigens den WRV-Entwurf II vom 20. Januar 1919, nicht den früheren, jedoch unveröffentlichten.
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In der dritten Beratung wurde der Artikel 18 wiederum abgeändert, erneut auf Antrag der Weimarer Koalition hin und gezeichnet von Löbe, Trimborn, Heile, Kaas und dem Oberschlesier Carl Ulitzka.2138 Dieser Kompromissantrag Nr. 707 schließlich sorgte dafür, dass das gesamte Verfassungswerk von Weimar nicht am Neugliederungsartikel 18 scheiterte.2139 Man kann die Bedeutung dieses Änderungsantrags in der dritten Lesung nicht hoch genug einschätzen. Ulitzka stellte fest, dass eine erneute Korrektur des Artikels 18 notwendig gewesen sei, weil die Bestimmung für diejenigen, die eine Neugliederung des Reiches wünschten, namentlich die Rheinländer, keine „befriedigende“ Wirkung haben konnte. Anknüpfend an Kaas meinte auch Ulitzka, insbesondere die Voraussetzungen einer positiven Volksabstimmung seien allzu schwer zu erfüllen.2140 Einmal mehr galt danach bei fehlender Zustimmung der unmittelbar beteiligten Länder grundsätzlich das Erfordernis der verfassungsändernden Mehrheiten für ein Reichsgesetz (Absatz 1). Ein einfaches Reichsgesetz genügte jedoch, wenn die Länder der Gebietsänderung oder Neubildung zustimmten (Absatz 2). Für die Volksabstimmung sah Absatz 5 nunmehr ein Zustimmungsquorum von drei Fünfteln 2138
Art. 18 der Verfassung des Deutschen Reichs (Endversion nach dritter Lesung): Abs. 1: Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Aenderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz. Abs. 2: Stimmen die unmittelbar beteiligten Länder zu, so bedarf es nur eines einfachen Reichsgesetzes. Abs. 3: Ein einfaches Reichsgesetz genügt ferner, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmt, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wird und ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischt. Abs. 4: Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an, wenn ein Drittel der zum Reichstag wahlberechtigten Einwohner des abzutrennenden Gebiets es verlangt. Abs. 5: Zum Beschluß einer Gebietsänderung oder Neubildung sind drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten erforderlich. Auch wenn es sich nur um Abtrennung eines Teiles eines preußischen Regierungsbezirkes, eines bayerischen Kreises oder in anderen Ländern eines entsprechenden Verwaltungsbezirkes handelt, ist der Wille der Bevölkerung des ganzen in Betracht kommenden Bezirkes festzustellen. Wenn ein räumlicher Zusammenhang des abzutrennenden Gebiets mit dem Gesamtbezirke nicht besteht, kann auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes der Wille der Bevölkerung des abzutrennenden Gebiets als ausreichend erklärt werden. Abs. 6: Nach Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung hat die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlußfassung vorzulegen. Abs. 7: Entsteht bei der Vereinigung oder Abtrennung Streit über die Vermögensauseinandersetzung, so entscheidet hierüber auf Antrag einer Partei der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. 2139 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 173 f. 2140 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 71. Sitzung v. 31. Juli 1919, S. 2142 (A).
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der abgegebenen Stimmen, die aber mindestens auch die (einfache) Stimmenmehrheit der gesamten Wahlberechtigten (eingetragenen Wähler) eines bestimmten Gebietes umfassen mussten, vor. Als kleinstmögliches Abstimmungsgebiet trat hierbei an die Stelle der bislang vorgesehenen preußischen Provinz der Regierungsbezirk (Absatz 5). Diese Verkleinerung erfolgte „mit Rücksicht auf rheinische Verhältnisse“,2141 aber auch mit Blick auf Oberschlesien. Mit Recht meinte Preuß, dass die Hürden für eine Neugliederung auf plebiszitärem Wege mit diesen Voraussetzungen immer noch hoch seien: „Notwendig ist erstens: drei Fünftel der abgegebenen Stimmen; zweitens: die Mehrheit der Wahlberechtigten; und drittens: ein Reichsgesetz. Das sind also eine ganze Menge Kautelen.“2142 Neben den Rednern der reaktionären Rechten war es erneut Heine, nunmehr preußischer Innenminister, dem diese Kautelen noch nicht restriktiv genug erschienen. Er forderte ein Festhalten am Zustimmungsquorum von drei Fünfteln der Wahlberechtigten, denn immerhin würde ja durch die Volksabstimmung gemäß den Absätzen 3 und 5 das zuvor erfolgte Negativvotum der jeweiligen Volksvertretungen der betreffenden Länder „überstimmt“: „Es gilt, den Willen des Volkes des betreffenden Bezirkes entgegen dem Willen der Gesamtheit des Volkes des ganzen Landes festzustellen, und diese Feststellung des Willens des Volkes muß auch korrekt gemacht werden. Hier dürfen nicht gelegentliche Abstimmungsresultate entscheiden.“2143 Trotz aller schwerwiegender Bedenken empfahl selbst Heine schlussendlich die Annahme des Kompromissantrags Nr. 707, denn man müsse die Diskussionen um Artikel 18 endlich zu einem Ende bringen, um die Reichsverfassung zeitnah insgesamt verabschieden zu können. Man erkennt hieran, dass der Abschluss der Verfassungsberatungen sich vor allem durch die Debatten zum Neugliederungsartikel verzögerte. Bei der Abstimmung im Plenum der Nationalversammlung über die finale Version des Artikels 18 wurde nicht, wie bei anderen Artikel üblich, en bloc abgestimmt, sondern jeder einzelne Absatz des Artikels wurde gesondert beschlossen. Dies unterstreicht die herausragende Bedeutung, die die Nationalversammlung dem Wortlaut und Inhalt des Neuordnungsartikels beimaß. Aus Zeitgründen trat indes an die Stelle der namentlichen Abstimmung die Abstimmung durch einfaches Handzeichen, so dass nicht mehr festgestellt werden kann, mit welcher Mehrheit genau die Schlussfassung des Artikels 18 angenommen worden ist.
2141
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 35. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 30. 2143 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 71. Sitzung v. 31. Juli 1919, S. 2151 (B). 2142
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Durch diesen Antrag war es dem Reich ermöglicht worden, die Neugliederungsinitiative zu ergreifen, die nach den Vorgaben des verfassungsändernden Verfahrens erfolgen musste (Absatz 1), jedoch ohne weitere Voraussetzungen, wie etwa einem Plebiszit, theoretisch jederzeit möglich war. Dies bedeutete eine im Ergebnis nicht ganz unerhebliche Erweiterung und stellt eine bemerkenswerte Entwicklung in der Genese des Neugliederungsartikels dar. Nunmehr sollte eine Reichsneugliederung grundsätzlich und jederzeit durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erfolgen können, es sei denn, alle beteiligten Länder stimmten zu oder ein Dissens würde durch festgestellten Volkswillen und ein überwiegendes Reichsinteresse „geheilt“. Dann genügte gemäß den Absätzen 2 und 3 weiterhin ein einfaches Reichsgesetz zur (bloßen) Sanktion. Es blieb insoweit bei der kumulativen Forderung nach dem Bevölkerungswillen und einem überwiegenden Reichsinteresse, wie sie bereits in zweiter Lesung festgelegt worden war. Diese Lösung hatte seit jeher den Vorstellungen von Preuß entsprochen, der entsprechend triumphierte: „Der Sieg des Einheitsgedankens über die gliedstaatliche Gebietshoheit wird offenbar.“2144 Nunmehr war die territoriale Neugliederung explizit eine verfassungsmäßige Kompetenz des Reiches geworden. Mit Recht wies Preuß darauf hin, dass der Terminus „verfassungsänderndes Reichsgesetz“ ungenau und lediglich eine „Abkürzung“ sei, denn es gehe nicht um die Änderung des Wortlauts des Verfassungstextes. Letztlich gemeint sei ein Reichsgesetz, für dessen Gesetzgebungsverfahren verfassungsrechtlich gemäß Artikel 18 Absatz 1 Satz 2 WRV die qualifizierten Abstimmungsmehrheiten gefordert sind, die ansonsten nur im Falle tatsächlicher Verfassungsänderungen gelten (vgl. Artikel 76 WRV).2145 Anschütz resümiert prägnant: „Gesetze im Sinne des Abs. 1 Satz 2 sind so zu beschließen, ,als ob‘ sie Verfassungsänderungen wären […] obgleich sie es nicht sind.“2146 Um verfassungsrechtlichen Zweifeln und Missverständnissen sogleich vorzubeugen, erklärte Preuß weiterhin, dass wenn auch zunächst eine territoriale Neuordnung nach Artikel 18 Absatz 1 Satz 2 WRV erfolge, also mit verfassungsändernden Mehrheiten, damit nicht gesagt sei, dass zukünftige Änderungen in diesem konkreten Fall ebenfalls nur noch mit qualifizierten Mehrheiten vorgenommen werden könnten, wie dies nur bei „wirkliche[n] Verfassungsänderung[en]“ obligatorisch sei. Käme es später etwa zu einem positiven Territorialplebiszit nach Absatz 3, genüge selbstverständlich das einfache Gesetzgebungsverfahren mit seinen Mehrheiten zur Sanktion dieses so ermittelten Ergebnisses.2147
2144 2145 2146
S. 148. 2147
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 31. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 31. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 31.
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Folgende Varianten waren schlussendlich in Artikel 18 WRV geregelt: Die territoriale Neuordnung ohne die Zustimmung der jeweiligen Gliedstaaten und auf die Initiative des Reiches hin war nur möglich durch ein mit verfassungsändernden Mehrheiten beschlossenes Gesetz (Artikel 18 Absatz 1Satz 2 WRV); hierzu sollte es in der Weimarer Republik indes nie kommen. Es gibt kaum einen Satz in der Reichsverfassung, der so lange so lebhaft umkämpft worden ist wie dieser.2148 Im Falle der Neugliederung mit Einverständnis der betroffenen Länder genügte ein einfaches Reichsgesetz. Artikel 18 Absatz 2 WRV setzte das Einverständnis der involvierten Gliedstaaten voraus, welche nach den Regeln ihrer jeweiligen Landesverfassung zustimmen mussten.2149 Gusy weist darauf hin, dass dies faktisch ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren bedeutete, nämlich zunächst ein verfassungsänderndes Landesgesetz und sodann ein sanktionierendes, einfaches Reichsgesetz.2150 Allerdings konnten die Länder in ihren Verfassungen auch ein einfaches Landesgesetz für ausreichend erklären.2151 Von der Ermächtigung des Artikels 18 Absatz 2 WRV wurde in der Weimarer Zeit mehrfach Gebrauch gemacht, etwa im Falle der thüringischen Kleinstaaten (1920)2152, des Anschlusses Coburgs an Bayern (1920) und der Angliederung Pyrmonts an Preußen (1922). Tatsächlich erfolgte Neugliederungen des Reichsgebiets waren mithin stets Zusammenschlüsse von Gliedstaaten. Das eigentlich „Revolutionäre“ lag in den Absätzen drei bis sechs begründet, denn hiernach war die territoriale Neuordnung ohne Einverständnis der gliedstaatlichen Organe, aber aufgrund der Zustimmung der Bevölkerung im Wege der Volksabstimmung machbar, sofern zudem ein „überwiegendes Reichsinteresse“ an der Neugliederung gegeben war. Altenberg geht davon aus, dass mit den Absätzen drei bis sechs das „Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung“ seine Ausgestaltung gefunden hatte.2153 Ebenso verweist Friedrich Giese im Zusammenhang
2148 Eingehend zu Abs. 1 ist Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 179 f. 2149 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 32. 2150 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 267. 2151 Im Einzelnen war dies vorgesehen entweder durch verfassungsänderndes Landesgesetz (Baden, Bayern, Hessen, Mecklenburg-Strelitz, Sachsen) oder einfaches Landesgesetz (Anhalt, Braunschweig, Oldenburg, Preußen, Schaumburg-Lippe, Thüringen). In Württemberg genügte sogar ein bloßer Landtagsbeschluss. Hierzu Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 8. Aufl. 1931, Artikel 18, Ziff. 7. 2152 Das neue Land Thüringen entstand durch den Zusammenschluss der sieben Länder Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Reuß, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen, vgl. RGBl. 1920, Nr. 97, S. 841 f. 2153 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 178 f.
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mit dem plebiszitären Element auf das „rechtspolitische [sic!] Prinzip des ,Selbstbestimmungsrechts‘“.2154 Seit der zweiten Beratung im Plenum der Nationalversammlung mussten beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen, und in der dritten Lesung war aus dem „Allgemeininteresse“ ein „Reichsinteresse“ geworden, was erneut den stärker hervortretenden unitarischen Charakter des Artikels 18 WRV bereits im Wortlaut bezeugte. Preuß selbst kommentierte den Absatz 3 wie folgt: „Die Frage, ob ein überwiegendes Reichsinteresse vorliegt, entscheiden die gesetzgebenden Organe des Reichs.“2155 Ein überwiegendes Reichsinteresse war dann zu bejahen, wenn ein Neugliederungsgesetz im einfachen Gesetzgebungsverfahren zustande kam; kam es nicht zustande, wurde ein Reichsinteresse verneint. Darüber hinausgehende materielle Anforderungen bestanden realiter nicht. Programmatisch verweist jedoch Giese in diesem Zusammenhang auf den Absatz 1 und meint, dass dem Reichsgesetzgeber „die Verwirklichung eines dem gesamtdeutschen Volksinteresse entsprechenden Rechtszustandes“ vorgegeben sei, was konkret bedeute, „daß das Gemeininteresse des DR. [Deutschen Reiches, P.B.] oder des dtsch. Volkes an der Änderung stärker ist als das Sonderinteresse der L. [Länder, P.B.] oder der Bevölkerungen an der Erhaltung des bestehenden Rechtszustandes“.2156 Ganz ähnlich vertrat Anschütz die Auffassung, „überwiegendes Reichsinteresse“ meine, dass ein Vorteil der Reichsgesamtheit gegeben sein müsse, der den Nachteil der durch die Gebietsveränderung betroffenen Länder übersteigt.2157 Diesen materiellen Vorgaben kam aber neben der positiven parlamentarischen Entscheidung keine weitere Bedeutung zu. Im Unterschied zum verfassungsändernden Verfahren gemäß Absatz 1 genügte indessen ein solches „Reichsinteresse-Gesetz“ allein nicht, sondern eine Volksabstimmung musste in dieselbe Richtung weisen. Umgekehrt führte eine Volksabstimmung die Neugliederung nicht selbständig herbei, sondern eben nur gemeinsam mit dem genannten Reichsgesetz. Jedoch bestimmte Artikel 18 Absatz 6 WRV, dass nach der Feststellung der Zustimmung der Bevölkerung durch Plebiszit die Reichsregierung dem Reichstag ein entsprechendes Gesetz zur Beschlussfassung vorzulegen hatte. Insoweit bestand kein Ermessen der Reichsregierung, wobei es allerdings zu weit ginge, zu behaupten, eine positive Volksabstimmung im betreffenden Gebiet indiziere ein überwiegendes Reichsinteresse. Der Reichstag konnte eine derartige Gesetzesvorlage – zumindest theoretisch – durchfallen lassen, obwohl dies politisch schwierig geworden sein dürfte. Ferner war es der Reichsregierung unbenommen, sich gegen die geplante territoriale 2154 2155 2156 2157
S. 150.
Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches (Fn. 2151), Artikel 18 Ziff. 5. Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 32. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches (Fn. 2151), Artikel 18 Ziff. 7. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
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Neuordnung auszusprechen und zu erklären, diese entspreche nicht dem Reichsinteresse und mit Rücksicht darauf von der Einbringung einer Gesetzesvorlage abzusehen.2158 Nach Artikel 18 Absatz 4 Satz 2 WRV fand das Territorialplebiszit nach einer erfolgreichen Volksinitiative statt. Hierfür musste ein Drittel der wahlberechtigten Einwohner des „abzutrennenden Gebiets“ die Volksabstimmung verlangen. Dass es im Absatz 4 dem Wortlaut nach nur um das abzutrennende Gebiet gehen sollte, stellte eine Art „Redaktionsversehen“2159 dar, denn selbstverständlich sollte etwa auch der Fall erfasst sein, dass sich zwei (kleinere) Staaten durch die Initiative der Volksabstimmung zusammenschließen, so dass es hier, genau genommen, gar kein abzutrennendes Gebiet gab. Preuß erklärte diese unpräzise Formulierung vielsagend damit, dass es zuletzt in der Nationalversammlung nur noch um die „preußische Frage“ gegangen sei, also um die Erschwerung oder Erleichterung der Abtrennung preußischer Territorien.2160 Unter der abstimmungsberechtigten Bevölkerung verstand man die Einwohnerschaft desjenigen Gebietes, „dessen staatliche Zugehörigkeit verändert werden, nicht aber die, welche in ihrem bisherigen Staatsverbande verbleiben soll“.2161 Mit Blick auf die Rheinprovinz wären mithin ausschließlich die Rheinländer selbst abstimmungsberechtigt im Sinne des Absatzes 4 gewesen, nicht etwa die gesamte preußische, zum Reichstag wahlberechtigte Bevölkerung. Das Drittelquorum wiederum bedeutete gegenüber dem WRV-Entwurf V eine Verschärfung, denn dort war noch die Rede von lediglich einem „Viertel der Stimmberechtigten […] der beteiligten Bevölkerung“ (Artikel 18 Absatz 3 Satz 3 WRV-Entwurf V). Diese Erhöhung des Zustimmungsquorums war notwendig geworden als zumindest teilweises Entgegenkommen dafür, dass das Reich schlussendlich durch einfaches Gesetz die territoriale Neuordnung vornehmen können sollte, wenn dies dem Ergebnis der zuvor durchgeführten Volksabstimmung entsprach. Initiativen, sich vom preußischen Freistaat loszusagen und einen unabhängigen Gliedstaat im Reichsverband zu gründen, gab es jedoch nur zwei. Am 3. September 1922 stimmten 91 Prozent der Wahlberechtigten Oberschlesiens für einen Verbleib bei Preußen und gegen einen oberschlesischen Freistaat und am 18. Mai 1924 verfehlte ein Volksbegehren auf Wiedererrichtung des Landes Hannover, das in erster
2158 2159
S. 151. 2160 2161
S. 152.
So auch Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 32. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 35. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
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Linie von der Deutsch-Hannoverschen Partei betrieben wurde,2162 sogar das DrittelQuorum. Davon zu trennen ist die Frage, ob neben der Alternative des Artikels 18 Absatz 4 Satz 2 WRV es der Reichsregierung auch möglich gewesen wäre, aus eigener Initiative die Feststellung des Willens der beteiligten Bevölkerung zu ersuchen, also eine Volksabstimmung zu initiieren. Nach den Beschlüssen des Verfassungsausschusses vom 18. Juni 1919 scheint dies im Absatz 3 noch vorgesehen gewesen zu sein; dort hieß es: „Der Wille der Bevölkerung ist durch Abstimmung der wahlberechtigten Einwohner des Bezirks festzustellen. Die Reichsregierung ordnet die Abstimmung an. Sie muß eine solche Abstimmung anordnen, wenn ein Viertel der Stimmberechtigten oder die politischen oder die kommunalen Vertretungen eines Viertels der beteiligten Bevölkerung es verlangen.“ Nach der Änderung des Wortlauts durch die Nationalversammlung war man jedoch mehrheitlich davon ausgegangen, „daß die Reichsregierung nur auf das Verlangen eines Drittels der Einwohner die Abstimmung anordnen kann und muss“.2163 Insofern ging man von einer ausschließlichen Volksinitiative aus, auch unter Berufung auf den Wortlaut der finalen Absätze 3 und 4, wo es hieß „durch den Willen der Bevölkerung gefordert“ und „verlangt“. Dieser Auslegung stellte sich Preuß entgegen, der der Meinung war, jedenfalls die „obligatorische Vorabstimmung“ gemäß Artikel 18 Absatz 4 Satz 2 WRV, nämlich ob es überhaupt zu einer Volksabstimmung („Hauptabstimmung“) komme, müsse auch durch die Reichsregierung eingeleitet werden können. Er resümierte: „Will die Reichsregierung eine Volksabstimmung über die Gebietsänderung anordnen, so muß sie sich vorher vergewissern, ob diese Änderung von mindestens einem Drittel der wahlberechtigten Einwohner des betreffenden Gebiets verlangt wird. Liegt ihr ein solches Verlangen, dem sie Folge geben muß, nicht vor, so kann sie ihrerseits eine Vorabstimmung über die Frage veranlassen, ob mindestens ein Drittel der unmittelbar beteiligten Einwohner die Gebietsänderung verlangt. Wird die Frage bejaht, so muß die Reichsregierung die Hauptabstimmung anordnen. Wird die Frage verneint, so ist dieser Weg nicht weiter gangbar, und die Gebietsänderung kann dann nur noch entweder mit Zustimmung der unmittelbar beteiligten Länder oder in den Formen der Verfassungsänderung zustandekommen.“2164
2162
Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 85. 2163 Ansicht wiedergegeben bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 33. Hervorhebungen im Original. 2164 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 34.
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Wohl in verfassungsmäßiger Weise und im Sinne Preuß‘ bestimmte – oder vielmehr bestätigte – das spätere Ausführungsgesetz vom 8. Juli 19222165 in § 1 Absatz 1 die Zulässigkeit einer Reichsinitiative zur Einleitung der Volksabstimmung. Die vorstehenden Darlegungen haben deutlich gemacht, dass die entstehungsgeschichtliche Entwicklung des Artikels 18 WRV und vor allem die heftig diskutierte Frage nach einfachem oder verfassungsänderndem Reichsgesetz genau verfolgt werden muss, damit keine Fehldeutungen dieser Verfassungsvorschrift erfolgen. Preuß selbst war der Ansicht, dass der Artikel 18 in seiner schließlichen Fassung „der am schwersten verständliche“ der Reichsverfassung sei.2166 Zu trennen war zum einen die Situation, dass die beteiligten Gliedstaaten einer Neu- bzw. Umgliederung zustimmten, von der zweiten, dass die Länder zwar nicht zustimmten, aber eine Neugliederung dem plebiszitär ermittelten Volkswillen oder einem überwiegenden Allgemein- oder Reichsinteresse entsprach. Im ersten Fall war es stets unstrittig geblieben, dass bei Konsens aller Beteiligten ein einfaches Reichsgesetz zur Sanktion dieser „Abmachung“ genügte. Der eigentlich zwischen den Ländern und dem Reich umkämpfte Fall war der zweite, nämlich wie die juristische Sanktion des Ergebnisses einer Volksabstimmung, die sich für eine territoriale Umordnung aussprach, aussehen sollte.2167 Die Länder, die noch Artikel 18 Absatz 2 Satz 2 WRV-Entwurf V erfolgreich beeinflussen konnten, forderten zusätzlich zu einem positiven Ergebnis der Volksabstimmung noch ein Gesetz mit den staatsorganisationsrechtlich geforderten verfassungsändernden Mehrheiten in Reichstag und Reichsrat. Die eher unitarische, Länderneugliederungen empfehlende Nationalversammlung setzte nach langem Ringen schließlich durch, dass das eine Neugliederung fordernde Ergebnis eines Territorialplebiszits schon durch einfaches Reichsgesetz staatsrechtlich umgesetzt werden konnte. Wiederum von diesen beiden Konstellationen zu unterscheiden war die (dritte) Situation, dass weder Länderzustimmung noch positives Volksabstimmungsergebnis zu einer Neugliederungsplanung vorlagen. Bis hin zur dritten Lesung des Verfassungsentwurfs Ende Juli 1919 hatte das Reich in diesem Fall keine Handhabe zur territorialen Neuordnung des Reichsgebietes gehabt. Dann aber wurde der Absatz 1 dergestalt geändert, dass Länderneugründungen und -änderungen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz grundsätzlich möglich waren, also auch gegen den erklärten Gliedstaatswillen und ohne Territorialplebiszit. Dies bedeutete eine Niederlage für die Länderinteressen in der Verfassungsdiskussion. Nun konnte das Reich 2165
S. 545. 2166
Gesetz zur Ausführung des Art. 18 der Reichsverfassung v. 08. 07. 1922, RGBl. I, 1922,
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), Vorwort. Zum „überwiegenden Allgemein-/bzw. Reichsinteresse“ an der Neugliederung vgl. oben S. 445 f. 2167
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tatsächlich völlig selbständig und initiativ tätig werden, wenn auch auf dem steinigen Weg der qualifizierten Abstimmungsmehrheit. Streit bestand indessen nicht nur über die Fassung des Neugliederungsartikels. Auch in der Debatte um das Ländervertretungsorgan beim Reich, dem künftigen Reichsrat, war die preußische Frage früh schlagend geworden. Das Augenmerk in den Verfassungsberatungen lag dabei auf der Stellung der Provinzen im preußischen Freistaat. Dem „Problem Preußen“ sollte in den Bestimmungen zum Reichsrat gleich dreifach begegnet werden: Artikel 65 Absatz 1 Satz 1 WRV übertrug den Vorsitz im Rat der Reichsregierung und nicht mehr der nun von ihr personell verschiedenen preußischen Führung. Artikel 61 Absatz 1 Satz 4 WRV begrenzte den höchsten Stimmenanteil eines Landes auf 40 Prozent (zwei Fünftel) der Stimmen. Ursprünglich war hier eine etwas striktere Begrenzung von einem Drittel der Stimmen vorgesehen gewesen (Artikel 19 Absatz 1 Satz 3 WRV-Entwurf III). Somit bedeutete die finale Regelung für Preußen ein – wenn auch geringfügiges – Entgegenkommen des Reichsverfassunggebers. Schließlich ordnete Artikel 63 Absatz 1 Satz 2 WRV die Bestellung der Hälfte der Reichsratsmitglieder Preußens durch die Provinzialverwaltungen an. Die nähere Umsetzung dieser Vorgabe wurde indes einem Landesgesetz überlassen und Preußen zögerte das „Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrats durch die Provinzialverwaltungen“2168 bis zum 3. Juni 1921 hinaus. Bis zu diesem Datum wurde also die reichsverfassungsrechtliche Vorgabe der Vertretung der preußischen Provinzen beim Reichsrat nicht umgesetzt, und die preußischen Gesandten blieben alleinig Vertreter des Berliner Staatsministeriums. Im Verfassungsausschuss war die Meinung vorherrschend gewesen, dass den preußischen Provinzen Sitz und Stimme im Reichsrat verliehen werden sollten. Erstmalig aufgeworfen wurde diese Idee dort durch einen Antrag des sozialdemokratischen Abgeordneten Paul Bader vom 23. März 1919.2169 Zur Begründung hieß es einerseits, dass künftig bei erweiterten Kompetenzen des Reiches die Ausführung der Gesetze oftmals bei den Provinzen liege und somit durch die Selbstverwaltungskörperschaften erfolgen werde, sodass ein direkter Verkehr zwischen Reich und Provinzen im Reichsrat angezeigt sei. Andererseits jedoch war die Rheinstaatsinitiative auch in der Frage der preußischen Reichsratsstimmen einflussreich. Ernst Sattler erläutert: „Man begründete den Antrag weiter damit, daß sonst z. B. die Rheinprovinz, obwohl sie größer als Württemberg sei, im Reichsrat unvertreten bliebe, während selbst die kleinsten Gebiete, wenn sie nur selbständige Länder bildeten, vertreten seien. Man wollte den Provinzen eben ,die freie autonome Wahrnehmung ihrer besonderen Interessen im 2168
Gesetzessammlung für Preußen (GS) 1921, Nr. 37, S. 379 f. Vgl. hierzu auch im Folgenden Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung, 1932, S. 37. 2169
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Reichsrat und damit ein gewisses Maß selbständiger Reichspolitik ermöglichen‘. Dadurch hoffte man auch, den gerade damals für den Reichsbestand gefährlichen separatistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.“2170 Naturgemäß hatte Preußen gegen dieses „Ausnahmegesetz“ zu seinen Ungunsten protestiert und auch der DDP-Abgeordnete Bruno Ablaß nannte es eine „Beschönigung“, dass sein Parteifreund Koch-Weser davon sprach, durch eine selbständige Vertretung der Provinzen im Reichsrat deren Loslösung von Preußen verhüten zu wollen.2171 In der Tat ging es jedoch darum, die territoriale Integrität Preußens zu bewahren, denn die Loslösungsbestrebungen, allen voran die rheinländische, hatten die Provinzen zwischenzeitlich immerhin politisch aufgewertet. Die Staatsregierung war im Folgenden angehalten, die Stellung der Provinzen auch rechtlich-institutionell zu verbessern, um ihre Mitwirkungsmöglichkeiten und Kompetenzen im Staat auszubauen. Es war auch der preußischen Führung mehr und mehr bewusst geworden, dass wenn sie die Zerschlagung Preußens und einen weitergehenden Reichsföderalismus vermeiden wollte, sie den Provinzialismus stärken musste. Die Gesamtzahl der preußischen Reichratsstimmen wurde schließlich halbiert und eine Hälfte wurde durch das Staatsministerium bestellt und die andere Hälfte wurde den Provinzen zugewiesen. Dabei wählten die Verwaltungsspitzen, die sogenannten Provinzialausschüsse – nicht die jeweiligen Volksvertretungen (Landtage) – der zwölf Provinzen und Berlins je einen Bevollmächtigten zum Reichsrat. Auf diese Weise sollte ein geschlossener Block der preußischen Stimmen vermieden werden.2172 Gusy weist in diesem Zusammenhang auf die ab Juni 1921 bestehende Diskrepanz zwischen politischer und rechtlicher Vertretung hin: „Politisch waren die gewählten Reichsratsmitglieder Vertreter ihrer Provinzen, rechtlich waren sie Vertreter des Landes Preußen.“2173 Man diskutierte, ob die Provinzialvertreter Abgesandte der Provinzen als „fingierte Länder“ seien, was indessen ohne staatsrechtliche Konsequenzen geblieben ist.2174 Behandelt wurden die Provinzialvertreter im Ergebnis wie Gesandte des Freistaates Preußen, was juristisch auch überzeugte.2175 2170 Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 38, der wiederum ein Zitat von Anschütz aufgreift, vgl. dort Fn. 196. 2171 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 199. 2172 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 155. 2173 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 255. 2174 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 255. 2175 Lammers, Die Rechtsstellung der von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellten Mitglieder des Reichsrats, in: Preußische Verwaltungsblätter 44 (1922), S. 2 f.
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Letztlich waren die Provinzialvertreter nur im Plenum des Reichsrates stimmberechtigt, während in den Ausschüssen die Stimmführung bei dem Bevollmächtigten der preußischen Landesregierung lag. Dies ergab sich aus Artikel 62 WRV, wonach in den Ausschüssen kein Land mehr als eine Stimme führte. Im Plenum stand den Provinzialvertretern ein freies, unabhängiges Stimmrecht zu. Bei 27 Reichsratssitzen Preußens konnten jedoch die Provinzialentsandten im Übrigen stets überstimmt werden, weil der 27. Sitz vom Staatsministerium bestimmt wurde, so dass den dreizehn Provinzialvertretern vierzehn Regierungsvertreter gegenüberstanden. Anschütz betrachtete Artikel 63 Absatz 1 Satz 2 WRV in Verbindung mit Artikel 61 Absatz 1 Satz 4 WRV primär als Barriere gegen ein preußisches Übergewicht im Reich für den Fall, dass Preußen tatsächlich über eine Stimmenzahl entsprechend seiner Einwohnerzahl verfügen würde. Ratio legis des Artikels 63 Absatz 1 Satz 2 WRV sei überdies gewesen, den Provinzen durch ein eigenes Stimmrecht im Reichsrat „Autonomiechancen innerhalb des preußischen Staates“ einzuräumen; letztlich also die Möglichkeit zu einer autonomen Reichspolitik zu gewähren.2176 Dagegen sah der Staatsrechtslehrer Carl Bilfinger in dieser Verfassungsbestimmung „eine unzweifelhafte Annäherung an das Staatenhausprinzip, zugleich aber eine unlösbare Anomalie innerhalb der Organisation des Staates Preußen und innerhalb des Reichsratssystems“.2177 Klaus verweist darauf, dass die Teilung der Reichsratsstimmen aus Sicht des preußischen Staatsministeriums zunächst unbefriedigend gewesen sein musste, er meint jedoch: „Angesichts der virulent gewordenen Loslösungsbestrebungen einzelner preußischer Provinzen vom preußischen Gesamtstaatsverband stellte diese Bestimmung aber andererseits ein Hindernis dar, da die der Weisungsgebundenheit des preußischen Staatsministeriums entzogenen Provinzialstimmen für die Provinzen ohne Zweifel ein größeres Mitspracherecht in Reichsangelegenheiten bedeuteten und somit Bestrebungen auf Loslösung von Preußen erlahmen mussten.“2178 Zumindest mit Blick auf die hier behandelte erste, konstitutionelle Rheinstaatsinitiative 1918/19 muss diesem Schluss jedoch widersprochen werden. Zwar fand sich die Regelung der preußischen Stimmenteilung bereits ab August 1919 in Artikel 63 Absatz 1 Satz 2 WRV, jedoch wurde sie erst Verfassungsrealität mit dem Landesgesetz vom 3. Juni 1921, konnte also erst ab diesem Datum eine tatsächlich politisch befriedende Wirkung entwickeln. Im Sommer 1921 war die erste Rheinstaatsbewegung mit dem Abschluss der Verfassungsgebungen im Reich und in Preußen indessen bereits längst in den Hin2176 Vgl. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 34. 2177 Bilfinger, Der Reichsrat, § 46, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts 1930, S. 547. 2178 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 30.
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tergrund getreten, so dass sie durch das Reichsratsstimmensplitting gar nicht mehr „erlahmen“ konnte. Insofern sind die Verfassungsbestimmungen zum Reichsrat im Kontext der ersten rheinischen Unabhängigkeitsinitiative von geringerer Bedeutung und von geringerem Untersuchungsinteresse; geringer jedenfalls als der Neugliederungsartikel. Am 31. Juli 1919 stand die Schlussabstimmung über den gesamten Verfassungsentwurf an, an der lediglich 338 der 420 Abgeordneten der Nationalversammlung teilnahmen. Besonders viele Abgeordnete der Mehrheitssozialdemokratie waren der finalen Abstimmung ferngeblieben, weil sie sich zuletzt immer öfter durch die Bürgerlichen, vor allem von DDP und Zentrum, „überrumpelt“ und „überstimmt“ sahen. 262 Mitglieder stimmten für die Verfassung, vor allem aus den Reihen der Weimarer Koalition und auch der Deutsch-Hannoveraner, während 75 Stimmen aus DNVP, DVP, Bayerischem Bauernbund und USPD dagegen votierten. Damit erhielt die Verfassung eine Zustimmung von 77,5 Prozent. Am 11. August wurde sie ausgefertigt und verkündet werden konnte die Weimarer Reichsverfassung am 14. August 1919. Preuß selbst meinte zum Ende der Verfassungsberatungen hin, der Streit um die territoriale Neugliederung werde zunehmend in den Hintergrund treten, denn diese werde ihre Bedeutung in demselben Maße verlieren, wie der Bevölkerung die Notwendigkeit einer einheitlichen, wenn auch dezentralen Organisation des Reichs „in Fleisch und Blut“ übergehe.2179 Dass er mit dieser Einschätzung im Jahr 1919 nicht ganz richtig gelegen hat, zeigt nicht zuletzt die Abhandlung Preuß‘ über den Artikel 18 WRV aus dem März 19222180, die er gleichzeitig als Kommentierung verstanden wissen wollte. Offenbar war es ihm selbst ein Anliegen, auf den Neugliederungsartikel dezidierter einzugehen: „Es ist die Aussage eines Zeugen, der über die wechselvollen Schicksale des Artikel 18 von den ersten Anfängen bis zum Abschluß in allen Stadien aus eigener Wahrnehmung berichtet.“2181
VI. Die Bedeutung des Artikels 18 WRV für die Reichsneugliederungspläne Gemeinhin galt Artikel 18 WRV als „clausula antiborussica“, schien also im Grunde alleinig gegen den preußischen Freistaat gerichtet zu sein.2182 Der Inhalt sei 2179
Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 189. 2180 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322). 2181 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), Vorwort. 2182 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 19.
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„dezidiert anti-preußisch geprägt“ gewesen.2183 Im Jahre 1932 behauptete Sattler sogar, man habe mit der Schaffung des Artikels 18 gehofft, dass sich in mehreren preußischen Landesteilen „Los von Preußen“-Bewegungen herausbilden würden, die die Möglichkeiten des Neugliederungsartikels nutzen würden, ein eigenes Land zu bilden, um so den Großstaat Preußen zu schwächen.2184 Hier verkennt der Autor jedoch den Umstand, dass der Artikel 18 WRV gerade eine Reaktion des Verfassunggebers auf bereits existente Loslösungsbewegungen etwa in der Rheinprovinz, in Hannover und in Oberschlesien war und seinerseits nicht erst provozieren musste. Es schwingt die Unterstellung mit, der „preußenfeindliche“ Reichsverfassunggeber habe mittelbar erst die Unabhängigkeitsbestrebungen ins Leben gerufen, um das als übermächtig empfundene Preußen zu zerschlagen. Dies ist jedoch als ahistorische Polemik gegen die Nationalversammlung zurückzuweisen. Vielmehr hatten sich die preußische Regierung und Politik mit ihren wachsamen Interventionen in der Entwicklung des Artikels 18 WRV insofern durchgesetzt, als die Hürden für eine Aufteilung Preußens und die Loslösungsbestrebungen hoch waren. Der Freistaat Preußen hatte der Wahrung seiner territorialen Integrität oberste Priorität eingeräumt2185 und diese in einem schwierigen Umfeld und gegen Widerstände der Reichsregierung und der Nationalversammlung verteidigt. Preußen behauptete seine Existenz als Staat nach außen hin gegen das Reich und nach innen hin gegen die regionalen Loslösungsbewegungen, die einen vermeintlich „separatistischen“2186 Charakter aufwiesen. Die preußische Regierung unterstrich ihren Anspruch, „alle Absplitterungsbestrebungen, mögen sie von innen oder außen kommen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln abzuwehren, um Deutschland und Preußen ein starkes Rückgrat zu erhalten“.2187 Altenberg resümiert demgegenüber, dass Artikel 18 WRV den „fruchtbaren Gedanken einer Neuordnung Deutschlands“ gebracht habe und auch „sachlich gut geeignet zur Ueberwindung der Vergangenheit und zum Neuaufbau der Zukunft“ gewesen sei.2188
2183 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 35. 2184 Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 37. 2185 So auch Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 140. 2186 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 140. 2187 Zitat bei Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 141. 2188 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 214 f.
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Unzweifelhaft war es zumindest gelungen, mit Artikel 18 eine „Warnungstafel“ für Preußen in die Reichsverfassung einzufügen, quasi als Rute, mit der man drohen konnte, wenn Preußen seine „Zentralisierungsgelüste“ überspannte.2189 Gleichzeitig sollte der Neugliederungsartikel vor allem den Freistaat Preußen selbst motivieren, den einzelnen Landesteilen mehr eigenverantwortlichen Gestaltungs- und Verwaltungsspielraum einzuräumen. Viele Kritiker des Artikels 18 WRV monierten indes den „auffälligen Widerspruch zwischen Recht und Wirklichkeit“.2190 Während Absatz 1 festlegte, dass der Bundesstaat der „wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen“ sollte, war die Realität geprägt vom Fortbestand einerseits der übermächtigen Großstaaten (Preußen), andererseits der kaum leistungsfähigen Klein- und Kleinststaaten (Waldeck, Anhalt, Schaumburg-Lippe, Braunschweig), die lediglich „überwiegend durch ihre faktische Existenz legitimiert“ erschienen. Mit Artikel 18 WRV hatten sich Hoffnungen auf eine wirtschaftlichen Interessen an Prosperität sowie Ausgleich gerecht werdenden Neuordnung des Reichsgebietes verbunden, denen indessen süddeutsche partikularistische Affinitäten in Verbindung mit dem Hang der Klein- und Mittelstaaten zu eigenstaatlicher Selbständigkeit entgegenstanden.2191 Neben allen kompetenziellen Übergewichten war das Problem der „innerstaatlichen Gebietsänderung“ das drängendste gewesen und selbst im Jahre 1927 noch „die aktuelle [!] Frage des Staatsrechts“.2192 Politisch in Erscheinung getreten sind sowohl Absichten, die die einzelnen, kleineren Gliedstaaten zusammenschließen wollten, als auch „Trennungsbestrebungen“. Die Lösung des Artikels 18 WRV war wiederum eine stark unitarische: Neugliederungen und Neubildungen von Bundesländern erfolgten letztlich durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz bzw. ein einfaches Reichsgesetz, wenn die betroffenen Länder zustimmten (Absatz 1 und 2). In Absatz 3 wurde auf ein „überwiegendes Reichsinteresse“ bei Territorialänderungen abgestellt, was einen Vorrang der Reichsgewalt gegenüber den Gliedstaaten bzw. deren Regierungen bedeutete. Buchegger bemerkte zu Artikel 18 WRV: „Auf jeden Fall kann also das Reich durch das Mittel der Verfassungsänderung die von ihm gewollten Veränderungen im Bestande der Länder auch gegen deren Willen vornehmen. Es kann sie mit deren Zustimmung oder mit der von der Bevölkerung der fraglichen Gebiete eingeholten Zustimmung vornehmen durch einfaches Reichsgesetz, die Länder aber bedürfen zu 2189 Ausdrücke bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 191. 2190 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 268. Hier auch das nachfolgende Zitat. 2191 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 83. 2192 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 27.
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den von ihnen ausgehenden Vorschlägen der Gebietsabänderung der Sanktion des Reiches. Demnach ist auch der ,Rechtsbestand‘ der Länder keine Schranke mehr für die Reichsgewalt.“2193 In gleicher Richtung resümiert Klaus, dass aus Artikel 18 WRV „ernst zu nehmende Gefahren für den Territorialbestand Preußens“ resultierten, wobei es sich indes nur um abstrakte Gefahren handeln konnte.2194 An anderer Stelle meint nämlich derselbe Autor mit Recht, „dass die territoriale Frage bis auf wenige Ausnahmen von Veränderungen unlösbar“ geblieben sei.2195 Skeptisch bleibt auch Apelt: „Alle Bestrebungen, das Reich nach wirtschaftlichen, verkehrspolitischen und verwaltungstechnischen Gesichtspunkten neu zu gliedern oder einer solchen Entwicklung wenigstens freie Bahn zu schaffen, scheiterten an dem eisernen Widerstand Preußens und der übrigen Gliedstaaten. Und damit blieb auch keine Möglichkeit mehr offen für eine Bereinigung des Problems Reich-Preußen.“2196 Gleichzeitig erklärt Apelt jedoch, dass der Artikel 18 von Vornherein weniger darauf angelegt gewesen sei, einzelne Gebiete aus bestehenden Ländern loszulösen: „Daß die Möglichkeit, die Artikel 18 RV vorsieht, durch Volksabstimmung Gebietsteile aus größeren Körpern loszulösen und mit ihnen neue Länder zu bilden, ein Schlag ins Wasser blieb, wird man dagegen schwerlich bedauern. Auf diese Weise wurden nur schädliche Sondertendenzen aufgestachelt [!], konnte jedoch eine Wirtschaft und Kultur fördernde Neugliederung niemals erreicht werden. Wer das von einer solchen Maßnahme erwartet hatte, bewegte sich in einem bedenklichen Irrtum.“2197 Mit dieser Ansicht setzt sich Apelt jedoch in Widerspruch zu sich selbst, wollte er doch gerade, wie zuvor dargelegt, durch den Artikel 18 WRV das Problem ReichPreußen „bereinigt“ wissen.2198 Dies aber war nur denkbar, wenn sich auf dem Wege des Artikels 18 Gebiete vom preußischen Freistaat lossagten und neue Mittelstaaten bildeten. Selbstverständlich war der Neugliederungsartikel insbesondere für Trennungsbestrebungen vorgesehen gewesen, nicht zuletzt auch für diejenigen im Rheinland. Gusy erläutert, dem Artikel 18 Absatz 1 WRV habe ein „funktionales Föderalismuskonzept“ zugrundegelegen, wonach der Bundesstaat nicht mehr als Eigenwert 2193 Buchegger, Unitarismus und Föderalismus in der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1318), S. 28. 2194 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 76 f. 2195 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 83. 2196 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 123. 2197 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 139. 2198 Vgl. hierzu auch Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 173.
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und Selbstzweck anerkannt, sondern nur noch um der „wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes“ willen da gewesen sei.2199 Es kann nicht überraschen, dass der Neugliederungsartikel 18 WRV ein Kompromiss war: Einerseits garantierte er die Existenz der vorhandenen Länder, andererseits hielt er die Möglichkeit einer Neuordnung offen. Grundsätzlich blieb die Neugliederung zwar eine Reichsangelegenheit, denn jede Änderung des Gebietsbestands der Länder bedurfte der Sanktion durch ein Reichsgesetz. Am Ende der Verfassungsberatungen blieb es jedoch bei der bestehenden Ländergliederung und eine etwaige Neugestaltung wurde in die Kompetenz der Einzelstaaten selbst übergeben, ohne dass das Reich selbst initiativ tätig werden sollte. Bis zuletzt gab es im Verfassunggebungsprozess – wenn auch nur vereinzelt – Stimmen in der Staatsrechtswissenschaft, die der Meinung waren, Gebietsveränderungen wider den Willen der beteiligten Länder seien grundsätzlich unzulässig und Artikel 18 in seiner letzten Fassung daher „ungültig“. Ohne auf diese verfassungshistorisch wenig relevante Mindermeinung allzu intensiv eingehen zu wollen, sei kurz auf die Zusammenfassung dieser Meinung in der Kommentierung von Anschütz hingewiesen.2200 Hiernach sei die Nationalversammlung grundsätzlich nicht befugt gewesen, mit Artikel 18 zu beschließen, dass das Reich die Länderterritorien ohne deren Zustimmung abändern dürfe. Im Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 hieß es in § 4 Absatz 1: „Die künftige Reichsverfassung wird von der Nationalversammlung verabschiedet. Es kann jedoch der Gebietsstand der Freistaaten nur mit ihrer Zustimmung geändert werden.“ Aus Satz 2 wurde gefolgert, dass die Nationalversammlung nicht die Vollmacht der Länder besäße, durch Bestimmungen der Reichsverfassung in die Gebietsgewalt der Gliedstaaten gegen deren erklärten Willen einzugreifen. Dieser allzu staatenbündischen Ansicht, wonach sich die Nationalversammlung mit dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt selbst in ihren Kompetenzen als Verfassunggeber gebunden haben sollte, haben sich nicht einmal die Gegner des Artikels 18, namentlich die Länderregierungen, angeschlossen. Die schließlich vorgesehene Neugliederungsmöglichkeit in Artikel 18 Absätze 3 bis 6 WRV war jedoch durch die Einführung des Artikels 167 WRV in die Übergangs- und Schlussbestimmungen für die Dauer von zwei Jahren, also bis zum 14. August 1921, suspendiert worden. Kritisch bemerkt Neumann, man habe den Loslösungsinteressen hierdurch bewusst einen „langen Atem“ abgefordert.2201 Ohne von dieser Sperrfrist betroffen zu sein, waren dagegen Gebietsveränderungen mit der Zustimmung der jeweiligen Länder möglich.
2199
Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 226. Vgl. auch im Folgenden Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 145 f. 2201 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 132. 2200
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Bekanntlich ist auch nach Ablauf der Zweijahresfrist keine verfassungsmäßig sanktionierte Volksabstimmung zustande gekommen, denn die rheinischen Parteien hatten sich zwischenzeitlich geeinigt, von dieser Möglichkeit solange keinen Gebrauch zu machen, wie ausländische Truppen im Rheinland stationiert waren und gegebenenfalls die Entschließungsfreiheit der Abstimmenden beeinträchtigten.2202 Ursprünglich hatte der Versailler Vertrag eine Besatzungszeit für 15 Jahre, also bis 1934, vorgesehen. Die Räumung des Rheinlands durch die dort stationierten alliierten Truppen sollte jedoch bereits im Jahre 1926 beginnen und endete schließlich vorzeitig Ende Juni 1930, als man seitens der Ententemächte glaubte, mit dem Young-Plan die Reparationsverpflichtungen der Deutschen abgesichert zu haben. Danach läutete die Reichstagswahl vom 14. September 1930, in der die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) zweit- bzw. drittstärkste Kraft wurden, das Ende der Weimarer Republik ein und an eine Rheinstaatsgründung auf dem Wege des Artikels 18 WRV war nicht mehr zu denken. Niemand wollte sich auf staatsorganisationsrechtliche Experimente im Westen des Reiches einlassen. Gusy meint dazu: „Damit blieb die Neugliederung des Reichsgebietes Desiderat. Sie wurde in Artikel 18 WRV vorbehalten, aber zugleich verschoben.“2203 Der Artikel 167 WRV war auf Wunsch Preußens vorgesehen worden, um ad hoc die bestehenden Loslösungsbewegungen im Rheinland, aber auch in Hannover, Oberschlesien und Groß-Hessen ausschalten zu können.2204 Ebenso meint Klaus, Preußens Bestreben sei es gewesen, Ruhe in den von Loslösungsbewegungen betroffenen Gebietsteilen zu halten und Abspaltungsbestrebungen ins Leere laufen zu lassen.2205 Sicherlich war die zweijährige Sperrfrist auch eine Reaktion auf den kurz zuvor versuchten Dorten-Putsch in Wiesbaden.2206 Nüchtern formuliert Preuß, man habe die Lage im Rheinland zunächst „klären“ wollen.2207 Andererseits wird in der bisherigen historischen Forschung übersehen, dass es der Rheinstaatsbefürworter Trimborn selbst gewesen war, der im Verfassungsausschuss eine Befristung, ja eine „Sperrfrist“ des Neugliederungsartikels vorgeschlagen hatte. Damit wollte er den Bedenken der Rheinstaatsgegner entgegenkommen, die mit Blick auf tatsächliche oder vermeintliche französische Annexionspläne und die Friedensverhandlungen den Zeitpunkt für Neugliederungsvorhaben für aktuell politisch ungünstig hielten.2208 2202
Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 193 f. und 191. 2203 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 225. 2204 Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 57. 2205 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 34. 2206 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 191. 2207 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 36. 2208 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 17.
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Es greift also zu kurz, behauptete man einseitig, die Einführung des Artikels 167 WRV sei eine Niederlage der Rheinlandbewegung gewesen und völlig gegen ihren Willen erfolgt. Vielmehr trugen etwa die rheinischen Zentrumsabgeordneten sowohl im Verfassungsausschuss wie auch im Plenum der Nationalversammlung diese Sperrfrist mit. So konnte der rheinische Sozialdemokrat Sollmann, der den Rheinstaat ablehnte, frohlocken: „Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, daß diese Sperrfrist wohl in der Hauptsache im Hinblick auf die Verhältnisse im Westen unseres Vaterlandes eingefügt worden ist; und ich glaube ohne Widerspruch und mit Freuden feststellen zu dürfen, daß alle Vertreter des Rheinlandes in diesem Hause, gleichviel welcher Partei sie angehören, einig in der Auffassung sind, daß jetzt irgendwelche Loslösungsexperimente – ich unterstreiche jetzt – im Rheinlande nicht vorgenommen werden dürfen.“2209 Galt angesichts dieses Kompromisses in der Reichsverfassung also frei nach William Shakespeare: Ende gut, alles gut? Nicht unbedingt. Nach Gillessen etwa war der Neugliederungsplan damit dem Grunde nach gescheitert.2210 Es sei den großen Ländern gelungen, den Neugliederungsbestimmungen des Preußschen Entwurfs „alle scharfen Zähne zu ziehen“.2211 Gusy resümiert zum Abschluss der Verfassungsberatungen: „Das Ergebnis war faktisch eine Bestandsgarantie zugunsten der Länder mit fakultativer Neugliederungsmöglichkeit. Sie bezog sich zudem eher auf den Zusammenschluß kleiner als auf die Aufteilung großer Länder.“2212 Grundsätzlich aber habe man eine Offenheit für eine grundlegende Umgestaltung durch Neugliederung des Reichsgebiets angestrebt.2213 Hingegen meint Morsey, weder Artikel 18 noch Artikel 63 der Reichsverfassung hätten einen Ansatzpunkt für eine föderalistische Umgestaltung des Reiches gebildet. Preußen sei nicht im Mindesten verfassungsrechtlich in seiner Machtposition beschnitten worden.2214 Selbst nach zeitgenössischer Auffassung bildeten Preuß‘ Vorschläge am Ende der Beratungen nur noch das „Gerippe“ der WRV.2215 In diesem Zusammenhang ist es kaum nachvollziehbar, dass Gillessen meint, große Teile des Preußschen Entwurfs seien „ziemlich unversehrt“ in das Verfassungsdokument vom 11. August 1919 eingegangen. Er gesteht allerdings ein, dass das Werk an einer „entscheidenden
2209
Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 26. Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 157. 2211 Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 160. 2212 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 72. 2213 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 224. 2214 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 192. 2215 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 72. 2210
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Stelle“ unvollendet blieb, nämlich bei der Neugliederung. „Die Verfassungsgeber versäumten die Bereinigung des preußisch-deutschen Mißverhältnisses.“2216 Ähnlich äußert sich Mauersberg, nämlich dass sich vieles von Preuß‘ ursprünglichen Konzeptionen in der Weimarer Reichsverfassung wiederfände, er indessen bei der „Zurückdrängung des Föderalismus und der übermächtigen preußischen Stellung“ keinen Erfolg gehabt habe.2217 Es greift jedoch zu kurz, würde man Artikel 18 jegliche Chance auf effektive Neugliederung absprechen. Immerhin war es gemäß Absatz 3 denkbar, dass das Reich bei Vorliegen einer positiven Volksabstimmung und eines überwiegenden Reichsinteresses eine territoriale Neuordnung durch einfaches Reichsgesetz vornehmen konnte. Dieses geforderte kumulative Vorhandensein beider Voraussetzungen übersieht aber Neumann, der schreibt: „Ein einfaches Reichsgesetz befähigte die Reichsregierung bei Vorlage ,überwiegenden Reichsinteresses‘ auch gegen den Willen eines Staates zu agieren.“2218 Diese Möglichkeit war gerade in der zweiten Beratung der Nationalversammlung verbaut worden; hinzukommen musste ein festgestellter diesbezüglicher Wille der jeweiligen Bevölkerung. Im Vergleich etwa zu den privaten Verfassungsentwürfen und -vorschlägen, die mehrheitlich erkannt hatten, dass gegen den Willen der Einzelstaaten politisch keine Neugliederung zu machen war und die deshalb auf Konsens und Zusammenarbeit setzten, musste sich diese Einsicht in die politische Notwendigkeit der Länderbeteiligung in den amtlichen Verfassungsberatungen erst mühsam durchsetzen. Bei allen berechtigten Zweifeln an der Tragfähigkeit der Neugliederungslösung des Artikels 18 WRV wurde und wird überdies allzu oft über den Inhalt des Artikels 2 Satz 1 hinweggegangen, der zwar eher deklaratorischen Charakter hatte, aber dennoch eine wichtige Botschaft verkündete. Er lautete schlicht: „Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder.“ Das Entscheidende hierbei ist, dass man 1919 – im Gegensatz zur alten monarchischen Reichsverfassung (Artikel 1) und übrigens auch anders als in der Präambel des Grundgesetzes – bewusst darauf verzichtete, die einzelnen Gliedstaaten aufzuzählen und so in gewisser Weise für die Zukunft festzuschreiben.2219 Es sollte gerade keine Bestandsgarantie für die bestehenden Länder gegeben werden, mochten sie auch die Revolution und die Verfassunggebung zunächst unversehrt überstanden haben. Der künftigen Entwicklung hin zu einer „moderne[n] Zweckmäßigkeit“ des
2216
Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 156. Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 193. 2218 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 132. 2219 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 136. 2217
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Reichsaufbaus sollte ja gerade „die Bahn freigegeben“ werden, nicht zuletzt mit Artikel 18.2220 So schreibt auch Anschütz in seiner Kommentierung von Artikel 2, es habe zur Entstehungszeit [!] der neuen Verfassung die Absicht bestanden, „die überkommene Gliederung des Reiches in Länder gemäß Art. 18 einer durchgreifenden Neuordnung zu unterziehen“.2221 Allzu harsch erscheint mithin die Kritik, die der Reichsverfassung vorwirft, künftigen Neugliederungsmöglichkeiten mit ihrem Wortlaut per se eine Absage erteilt zu haben. Jedenfalls abstrakt waren diese vorgesehen und durchaus auch politisch gewollt gewesen, vor allem von der überwiegenden politischen Mehrheit außerhalb Preußen-Berlins. Auch ein weiterer Umstand lässt auf die „Ernsthaftigkeit“ des Verfassunggebers in der Frage der Länderneugliederung schließen. Von der Nationalversammlung war bereits am 27. Juli 1919 beschlossen worden, die Reichsregierung zu ersuchen, „alsbald“ eine Stelle zur Betreuung möglicher Reichsneugliederungen zu schaffen. Aber erst im November 1920 wurde, wiederum nach hinhaltendem und beharrlichem Widerstand Preußens, das einen Eingriff in seine Hoheitsrechte befürchtete,2222 die „Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reichs“ unter dem Vorsitz des preußischen Staatsministers a.D. Graf Siegfried von Roedern eingerichtet, die grundsätzlich mit der Ausführung des Artikels 18 WRV betraut war. Nach ihrer Geschäftsordnung hatte die Zentralstelle die Aufgabe, „dem RMin d. Innern Gutachten über Fragen der Änderung des Gebiets von Ländern und der Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs abzugeben“.2223 Sie bestand aus jeweils sieben vom Reichstag und Reichsrat zu bestimmenden Mitgliedern, sowie einer wechselnden Anzahl von durch das Reichsinnenministerium zu berufenen Fachleuten. Der Reichsminister des Innern bestimmte aus der Mitte der Mitglieder sodann den Vorsitzenden und dessen Stellvertreter. Neben von Batocki-Friebe, Beyerle, Freund, Preuß, Meinecke und Anschütz war die gemäßigte Rheinstaatsbewegung mit Adenauer und Kaas in hochqualifizierter Besetzung ver2220 2221
S. 43. 2222
Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung (Fn. 966), S. 136 f. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216),
Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 102. Dem widerspricht Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 34, der behauptet, die Reichsregierung selbst habe die Einrichtung der Zentralstelle zunächst aufgeschoben, weil sie habe abwarten wollen, ob und in welchem Umfang Preußen seine Provinzen selbständiger stellen würde. Diese Ansicht erscheint jedoch nicht überzeugend, denn welche Motivation hätte die Reichsebene gehabt, in dieser Frage Rücksicht auf die innere Entwicklung Preußens zu nehmen? Vielmehr war ja die Zentralstelle ein gewisses Druckmittel für preußische Reformen und jedenfalls auch als ein solches konzipiert worden. 2223 Wiedergegeben bei Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 145.
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treten. Außer fachlichen Gutachten konnte die Zentralstelle indessen keine durchschlagenden Impulse zur Umsetzung von Neugliederungsplänen geben.2224 Im Jahre 1929 wurde sie dann auch durch Erlass des Reichsministers des Innern aufgelöst, nachdem sie seit 1922 nahezu untätig geblieben war.
VII. Die Bedeutung der Rheinstaatsfrage Seit der Veröffentlichung der ersten Verfassungsentwürfe aus der Feder Preuß‘ hatten sich Rheinstaatsanhänger aller Strömungen intensiv politisch wie publizistisch in die staatsorganisationsrechtliche Debatte eingebracht. Dabei befanden sich viele der Forderungen der Rheinlandbewegung durchaus auf der Linie von Preuß und den Mehrheitsfraktionen in der Nationalversammlung, etwa was die allgemeine Notwendigkeit der Aufteilung des preußischen Freistaates betraf. Radikale Rheinstaatsbefürworter gingen so weit, Preußen seine Existenz als Großstaat nach der Abdankung der Hohenzollernmonarchie gänzlich abzusprechen: „Der aus recht heterogenen Bestandteilen zusammengesetzte Staat Preußen hatte nur so lange innere Tragkraft und Existenzberechtigung, als ein starkes Königtum ihn nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zusammenhielt. Nun, da das einigende Band gefallen ist, fallen auch die einzelnen Bestandteile nach dem Gesetz der Schwerkraft wieder auseinander.“2225 Grundsätzlich bestand sowohl in der Politik, als auch in der Wissenschaft und Publizistik Sympathie und Verständnis für einen zu bildenden rheinischen Gliedstaat, der sich aus dem idealen Strukturprinzip von mittelgroßen, gleichberechtigten Ländern im Reich zwingend ergab. Die Gegner des Rheinstaats, insbesondere die Anhänger des preußischen Großstaats, kritisierten früh die Verfassungsentwürfe Preuß‘ und stellten sich auf den Standpunkt, dass eine Auflösung Preußens von oben her zunächst dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts des preußischen Volkes widersprach, zum anderen meinte man, neben anderen „abtrünnigen“ Bestrebungen zwinge die Rheinlandfrage geradehin dazu, die Schwerkraft Preußens als Machtfaktor zu erhalten, um die zentrifugalen, „separatistischen“ Kräfte ausbremsen zu können.2226 Als einer von vielen warf etwa Moldenhauer den Rheinstaatsbestrebungen vor, eine zentrifugale und partikularistische Strömung zu sein.2227
2224 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 102. 2225 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 8. 2226 Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 123. 2227 Moldenhauer, Von der Revolution zur Nationalversammlung: Die Frage der rheinischwestfälischen Republik (Fn. 950), S. 17.
VII.
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Jede Gefahr für die preußische Integrität wurde überdies zu einer Gefahr für das Reich insgesamt hochstilisiert. Die Staatsregierung verwies stets darauf, das nunmehr demokratische Preußen müsse als Wegbereiter für den anzustrebenden Einheitsstaat erhalten bleiben;2228 dieser sei nur möglich mit preußischer Verwaltungsorganisation und -erfahrung, preußischer Effizienz und Leistungsfähigkeit sowie insbesondere mit preußischer Polizei gegen revolutionäre sowie reaktionäre Umtriebe. Insbesondere die preußische Sozialdemokratie setzte dem süddeutschen Föderalismus den Einheitsstaatsgedanken entgegen und war auch deswegen ein Gegner der rheinländischen Föderalisten. Allgemein war politisch stets befürchtet worden, die Auflösung des preußischen Freistaates mit seinen Provinzen werde gerade nicht die erhoffte Reichseinheit bringen, sondern die aufkeimenden „separatistischen“ und „partikularistischen“ Bewegungen eher noch stärken.2229 In der Sitzung vom 14. Februar 1919 fasste Außenminister Graf BrockdorffRantzau die Meinung der Reichsführung in der Rheinland-Angelegenheit so zusammen: „Sie wissen, welche Gedanken von Frankreich und Belgien her mit verdächtigem Eifer in den rheinischen und westfälischen Landen verbreitet werden: Errichtung einer selbständigen Republik, die bald unter französische Führung geraten würde, nachdem die französischen und belgischen Grenzen in deutsches Land vorgeschoben worden wären.“2230 Im Anschluss hieran sprach Stresemann denn auch unumwunden von einer „Rheinbundrepublik“.2231 Hier äußerte sich sowohl seine tiefe Skepsis gegenüber der Rheinstaatsinitiative als einem letztlich französischen Machwerk als auch gegenüber den territorialen Ergebnissen eines künftigen Friedensschlusses. Wieder erschien die Rheinstaatsbewegung als Gefahr für die Integrität des deutschen Nationalstaates. Mäßigend wirkte Falk, der wiederholt klarstellte, dass sich alle Rheinländer ungebrochen zum Deutschtum und zum deutschen Vaterland bekannten und dass vorschnell Berichte und Vorurteile über den Rheinländer als Separatisten kursiert wären, auch leider im Ausland. Insgesamt sei keine nennenswerte separatistische Strömung erkennbar, die den Franzosen in die Hände spielen könnte. Gleichzeitig warnte Falk das Reich und die Nationalversammlung indes davor, den Rheinländern,
2228
Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 142. 2229 Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß‘ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar (Fn. 1260), S. 126. 2230 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 68 (C). 2231 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 20. Sitzung v. 4. März 1919, S. 493 (C).
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die unter erheblichen Lasten zunächst des Krieges, dann des Waffenstillstandes gelitten hätten und noch litten, weitere Erschwernisse zuzumuten.2232 In der Reaktion auf das Vorbringen Falks forderte der DNVP-Politiker Traub von der Nationalversammlung, das gesamte linksrheinische Gebiet stets wissen und merken zu lassen, dass man es seitens des Reiches nicht vergessen werde. Gleichzeitig äußerte er die „ernstliche Warnung“ und die „dringliche Bitte“, dass alle Bestrebungen zur Gründung einer rheinisch-westfälischen Republik niemals Gestalt annehmen mögen.2233 Ausführlich sprach Meerfeld am 21. Februar 1919 zur Rheinlandfrage, wobei er scharfe Kritik an der rheinländischen Zentrumspartei übte. Es bestünden gefährliche Pläne zur rheinisch-westfälischen Republik, die vielleicht schon gegründet worden wäre, wenn nicht die übrigen Parteien außerhalb des Zentrums Widerstand geleistet hätten. Es gebe durchaus einen radikalen Flügel, der „einen Staat mit einer eigenen Diplomatie und einem eigenen Heer“ anstrebe, gleichwohl nannte der Abgeordnete diesen nicht „separatistisch“. Meerfeld sprach sich im Ergebnis für ein „größeres Maß von Selbstverwaltung“ aus, um eine verbesserte Pflege der kulturellen Eigenart zu ermöglichen. Dies war weit entfernt von der Forderung, einen gleichberechtigten rheinländischen Freistaat zu bilden und sich von Preußen loszusagen, obwohl auch er zugeben musste: „Die Masse der Rheinländer liebt ja Preußen nicht […].“2234 In derselben Sitzung verwies Stegerwald auf „französische Eroberungsgelüste“, die im Widerspruch zu den „14 Wilsonschen Punkte[n]“ stünden. In diesem Zusammenhang seien die Bestrebungen zur Bildung einer „Westdeutschen Republik“ zu sehen, die in der Öffentlichkeit „stark verzerrt“ worden seien. Es gehe bei der Rheinlandbewegung nicht um nationale Unzuverlässigkeit, sondern – im Gegenteil – wie man „unter allen Umständen deutsch bleiben“ könnte. Man dürfe keine „undeutschen Motive“ unterstellen, insbesondere nicht Trimborn. Ebenso wie Falk benannte Stegerwald die Belastungen des Rheinlands, das 1914 Aufmarschgebiet gewesen sei und am schwersten unter dem Rückzug der deutschen Truppen und der Besatzung durch die Siegermächte zu tragen gehabt hätte. Im Übrigen sei die Rheinlandfrage keine Parteifrage des Zentrums, wie Meerfeld dies dargestellt hatte. Vielmehr sei die Angelegenheit innerparteilich umstritten.2235
2232
Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 190 f. 2233 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), 12. Sitzung v. 20. Februar 1919, S. 205 f. (A). 2234 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 262. 2235 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 326 (Fn. 244), S. 264.
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Von den insgesamt 48 rheinischen Abgeordneten gehörten übrigens 27 der Zentrumspartei an,2236 die somit zwar ein großes Gewicht innerhalb der Abgeordnetengruppe aus dem Rheinland hatte, aber eben auch nicht allein dominierend war. Nach diesen Reaktionen im Plenum der Nationalversammlung, hatte sich der Achte Ausschuss mit der Angelegenheit der „Zerschlagung“ Preußens und der Neugliederung zu befassen. In den nachfolgenden Wochen etablierte sich der eher unitarisch gesinnte Ausschuss als ernsthafter Gegenspieler für die größeren Gliedstaaten und deren Festhalten an dem territorialen Status quo. Rückblickend auf die Arbeit des Verfassungsausschusses schrieb Preuß im Jahre 1922, es seien vor allem die rheinischen und hannoverschen Abgeordneten gewesen, die „eine möglichste Annäherung der Stellung der preußischen Landschaften zum Reiche an die der Länder als Voraussetzung für die Neugestaltung Deutschlands“ betont hätten.2237 Trimborn erklärte im Verfassungsausschuss: „Die Bevölkerung der Rheinlande empfindet es bitter, daß sie diese Wohltaten durch die Zugehörigkeit zu dem großen Preußen nicht in dem Maße genießt, wie die Bayern, Württemberger, Badenser. Insbesondere ist es die Bodenständigkeit der inneren Verwaltung, die sie schmerzlich entbehrt.“2238 Er beklagte aus der Sicht der Rheinstaatsanhänger, dass die Rheinländer im Vergleich zu anderen großen deutschen Stämmen nicht gleichermaßen „reichsunmittelbar“ Einfluss nehmen konnten und somit nicht gleichberechtigt seien. Letztlich werde durch die Ungleichbehandlung der deutschen Stämme die viel beschworene Reichseinheit konterkariert. Der preußische Großstaat in seinem überkommenen Bestand werde niemals „primus inter pares“ sein, schon weil die anderen Gliedstaaten nicht „pares“ genannt werden könnten.2239 Von Preußen forderte Koch-Weser, der dieses Problem zwar auch sah, aber anders lösen wollte als Trimborn, dass die preußischen Provinzen selbständiger gestaltet würden und ihr „eigenes Leben“ bekämen, „damit auf diese Weise später einmal die preußische Provinz dem süddeutschen Staate so angenähert ist, daß eine Vereinigung auf einer mittleren Linie innerhalb des Einheitsstaates stattfinden kann“.2240 Im Unterschied zu den Redebeiträgen im Plenum, meint Klaus festzustellen, dass die „preußische Frage“ im Verfassungsausschuss noch einmal „explosiver“ geworden sei, nachdem auch die Vertreter der rheinischen Zentrumspartei sich für die
2236 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 190. 2237 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 16. 2238 Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 17. 2239 Zitat bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 17. 2240 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 29.
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Verselbständigung des Rheinlandes ausgesprochen hatten.2241 Auch Gotthard Jasper gibt an, dass das Zentrum maßgeblich an einer „rheinisch-westfälischen Republik“ interessiert gewesen sei und insbesondere den Neugliederungsartikel im Sinne dieser Möglichkeit ausgestalten wollte.2242 Erst in den Detailberatungen des Verfassungsausschusses sei den Beteiligten zudem in aller Deutlichkeit klar geworden, dass der Bestand des Gesamtstaates Preußen von drei Seiten her bedroht war, nämlich von der Provinz Hannover, der Rheinprovinz sowie aus dem schlesischen Raum. Diese „partikular-regionalen Forderungen“ waren auf die „Zerschlagung Preußens“ gerichtet.2243 Die Rheinlandfrage stand dabei zweifelsohne im Vordergrund des Interesses und der Debatten in der Weimarer Nationalversammlung.2244 Sowohl im Plenum als auch im Verfassungsausschuss waren die Diskussionen um die Reichsneugliederung und die Aufteilung Preußens stets eng verknüpft mit der Frage nach der Reichsunmittelbarkeit der bisherigen Rheinprovinz. Warnte man vor „zentrifugalen Tendenzen“ und „Loslösungsbestrebungen“ oder kritisierte man „Sonderbündlerei“, so dachte die Nationalversammlung dabei in erster Linie an das Rheinland, vor allem an die linksrheinischen Gebiete. Für die Verfassunggeber stand fest, dass der spätere Artikel 18 WRV (auch) eine Reaktion auf die Loslösungsbestrebungen im Rheinland war. Dieser Zusammenhang wird auch nahezu einhellig in der Geschichtsforschung gesehen.2245 Der Neugliederungsartikel war die wohl umstrittenste Bestimmung im jungen Verfassungswerk und bis zum 31. Juli 1919 wurden die abschließende Behandlung und Schlussabstimmung hinausgezögert, weil eine Einigung sowohl zwischen den Parteien als auch zwischen der Reichs- und der Länderebene für eine lange Zeit nahezu unerreichbar schien. Schon zu Beginn der Verfassungsberatungen hatte Preuß neben den übrigen innen- und vor allem außenpolitischen Bedrohungen auch die Gefahr beschworen, „daß, wenn diejenigen Landesteile, die mit ihrer ganz überwiegenden Überzeugung nach dieser Richtung neigen [gemeint waren die Pläne zur Neugliederung des preußischen Staatsgebiets, P.B.], den Eindruck gewinnen, daß sie vom Reiche keine Unterstützung zu erwarten haben, das zu Ereignissen führt, die wir gerade […] vermeiden müssen“.2246
2241 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 28. 2242 Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 136. 2243 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 28. 2244 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 191. 2245 Statt vieler etwa Klein, Separatisten an Rhein und Ruhr (Fn. 29), S. 160. 2246 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 15.
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Was hier kryptisch mit „Ereignissen“ umschrieben wurde, hieß im Klartext eigenmächtige und illegale Sezession, Putsch und vielleicht sogar Bürgerkrieg bzw. bewaffnete Intervention der Franzosen im Westen. Sollte der Weg zur Neugliederung nach Artikel 18 WRV durch die Nationalversammlung allzu erschwert werden, so sah auch der Rheinstaatsgegner Sollmann letztlich nur die aktivistische, illegale Strömung gestärkt. Dies würde „Wasser auf die Mühlen derjenigen leiten, die auf ungesetzlichem Wege die Errichtung eines westdeutschen Freistaates anstrebten“ und wäre schließlich nichts weiter als ein „Signal für die Putschisten“.2247 Tatsächlich sprach denn auch die Aachener Zeitung „Echo der Gegenwart“ am 23. Juni 1919 vom Artikel 18 als einer „preußischen Zwangsjacke fürs Rheinland“2248, was zeigt, wie sehr gerade die Entwicklung des Neugliederungsartikels von den Rheinstaatsanhängern beobachtet worden ist. Für die einem Weststaat gegenüber ebenfalls skeptisch eingestellte DDP mahnte Koch-Weser, man dürfe keine gesetzlichen Wege verschließen, wenn man nicht wolle, „daß diejenigen Bestrebungen, die in das Reich eingegliedert werden sollen, sich auf ungesetzlichem Wege Bahn brechen“.2249 Ebenso sah der Rheinstaatsanhänger Kaas in dem „Widerstand“ und der „Schwerhörigkeit“ der preußischen Regierung im Ringen um den Wortlaut des Artikels 18 WRV eine „Stärkung der Aktivisten und eine Erschwerung der Position der Legalisten“, womit die beiden Flügel der rheinischen Selbständigkeitsbewegung angesprochen waren.2250 Am 22. Juli 1919 erinnerte Falk daran, dass es eine der wichtigsten Aufgaben der Nationalversammlung sei, das Rheinland fest am Deutschen Reich zu halten. Der Artikel 18 sowie die Sperrklausel des Artikels 167 wurden als Mittel verstanden, die Rheinstaatsgründung zwar nicht von Vornherein auszuschließen, aber erst verfassungsrechtlich zuzulassen, wenn sich die krisengeplagte und unsichere Situation des Reiches gefestigt habe, was, wie man hoffte, zwei Jahre später der Fall sein würde.2251 Altenberg erläutert unter Berufung auf Sollmann, man habe „überstürzte Experimente“ zunächst vermeiden wollen und „besonders dem von Frankreich bedrohten Rheinland eine ruhige Entwicklung“ gewährleisten wollen.2252 Es war überdies diskutiert worden, ob man die Befristung nicht sogar über den 14. August 1921 hinaus erstrecken sollte, mehrheitlich befürchtete man für diesen Fall indessen eine Steigerung der „Unruhe und Erregung in den Rheinlanden […] auf das Höchste“.2253 2247
Zitate bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 25. Zitat bei Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 558. 2249 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 29. 2250 Zitate bei Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 26. 2251 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1804. 2252 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 190. 2253 Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 36. 2248
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An anderer Stelle schloss sich Preuß inhaltlich Trimborn an und erklärte: „Ich halte es nämlich für möglich, was der Herr Abgeordnete Trimborn andeutete: der Westen löst sich von Preußen ab und die norddeutschen Kleinstaaten gehen in Preußen auf. […] Diese Entwicklung kommt nicht aus Wünschen und Willen, sie kommt mit Naturkraft. Wir haben deshalb ein Interesse daran, diese Entwicklung in geordnete, ruhige und friedliche Bahnen zu lenken, sie nicht durch einen Widerstand zu hemmen, der doch nicht aufrecht zu erhalten ist.“2254 Hiernach stellte sich die rheinländische Loslösung als eine Art „naturgesetzliches Faktum“ dar, die konstitutionell nunmehr lediglich zu kanalisieren sei. Die Macht aber, die Länderneugliederung in geordneten und friedlichen Bahnen zu halten, hatte aus der Sicht Preuß‘ nur die zentrale Reichsgewalt, was in der Konsequenz bedeuten musste, dass es als ultima remedium eine in der Reichsverfassung angelegte Zwangsgewalt des Reiches in dieser Angelegenheit geben musste. Noch einen Schritt weiter ging Preuß, als er die konkrete Art und Weise der Durchführung einer Volksabstimmung gemäß Artikel 18 WRV über die Bildung eines Rhein- oder Weststaates, „selbstverständlich lediglich als rein fingiertes Beispiel“, durchspielte.2255 Danach müssten sich die Rheinprovinz von Preußen und die Rheinpfalz von Bayern lossagen, um sich gleichzeitig zu einem neuen Rheinstaat zu vereinigen. Es wäre jedoch nur ein Abstimmungsakt notwendig, der aus drei Fragen bestehen würde: 1. Soll sich die Rheinprovinz von Preußen (die Rheinpfalz von Bayern) loslösen? 2. Soll sich die Rheinprovinz mit der Rheinpfalz (die Rheinpfalz mit der Rheinprovinz) zu einem neuen Lande verbinden? 3. Soll die Loslösung auch stattfinden, falls die Verbindung zu einem neuen Lande nicht zustande kommt? Die abgegebenen Stimmen zu der ersten und dritten Frage wären in beiden Landesteilen getrennt zu zählen, während die Stimmen zur zweiten Frage gemeinsam für die Rheinprovinz und die Rheinpfalz auszuzählen wären, um hier zu einem einzigen Ergebnis für das Abstimmungsgebiet des neu zu bildenden Landes zu kommen. Erwartungsgemäß hatten die Gliedstaaten, die bereits in der Staatenkonferenz und im Staatenausschuss in Frontstellung gegen die Preußschen Entwürfe und Vorstellungen ausgeharrt hatten, den Neugliederungsartikel zu einem stumpfen Schwert machen wollen. Zum Ende der Beratungen des Verfassungsausschusses war diese Ablehnung so weit gegangen, dass Preußen, aber auch die süddeutschen Länder, mit der Ablehnung des gesamten Verfassungswerks drohten, wenn die Nationalversammlung ihnen nicht in dieser Bestimmung entgegenkommen würde. Die Länder, die sich nach der Abdankung der Dynastien erstaunlich stabil halten konnten, waren, wie sich seit Januar 1919 immer wieder gezeigt hatte, nicht bereit gewesen, zugunsten einer Neugliederung des Reiches freiwillig auf einen einzigen Quadratmeter ihres territorialen Besitzstandes zu verzichten. Auch die im März zustande gekommene, erste preußische Koalitionsregierung aus MSPD, DDP und 2254 2255
Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 18 f. Siehe hierzu ausführlich Preuß, Artikel 18 der Reichsverfassung (Fn. 322), S. 45.
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Zentrum wuchs bemerkenswert rasch in die alte preußische Staatsräson und den traditionellen Berliner Zentralismus hinein.2256 Dabei hatte insbesondere das preußische Zentrum ganz eigene Motive und stellte sich gegen die rheinischen Parteifreunde, denn auch die preußische Zentrumspartei konnte kein Interesse an Spaltungen haben und gerade im Osten wollte man auf die „zentrumsaffine“ Rheinprovinz nicht verzichten, um nicht gesamtpreußisch betrachtet in eine noch ausgeprägter minoritäre Position zurückzufallen. Zudem musste verhindert werden, dass die Katholiken im zentralen und östlichen Preußen in eine politische und konfessionelle Minderheitsposition gerieten, die nicht ohne Rückwirkung auf die Stellung des Katholizismus im Gesamtreich bleiben konnte.2257 Kurzum: Die preußische Zentrumsführung stellte das Interesse der Gesamtpartei vor das des rheinischen Zentrums, was die Stellung der Rheinstaatsbefürworter in der Verfassungsdiskussion ebenfalls nicht verbesserte. Für die Gegner einer Rheinischen Republik, insbesondere aus den Reihen der DVP und der DNVP, erschien dieses Staatsgebilde stets als eine regionale Phantasterei. Zentral war zudem der Gedanke, dass ein Rheinstaat in Deutschland ohne historisches Vorbild war. Deutlich sprach dies der DNVP-Abgeordnete Philipp in der Nationalversammlung aus: „Die Bewegung im Rheinlande wäre historisch entschuldbar, wenn wir dort ein rheinisches Staatswesen in der Vergangenheit gehabt hätten. Aber Rheinland ist ja erst durch jenen preußischen Staat, den man jetzt so bitter haßt, zu einer politischen Einheit geworden. Was war das Rheinland in der Zeit vor dem Wiener Kongreß? Ein Sammelsurium geistlicher und weltlicher Staaten […]. Es ist eines der großen historischen Verdienste des preußischen Staates – und das soll auch heute nicht vergessen werden –, daß er aus dem rheinischen Staatenkomplex ein einheitliches Rheinland geschaffen hat.“2258 Vor diesem Hintergrund konnte sich auch der sozialdemokratische Innenminister Heine noch am 31. Juli 1919 eine Rheinische Republik nur als „Rheinbund“ denken, der letztlich nur französischen Interessen, nicht aber deutschen, diente.2259
2256 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 191. 2257 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 191. 2258 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 63. Sitzung v. 22. Juli 1919, S. 1806 (B). 2259 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 71. Sitzung v. 31. Juli 1919, S. 2152 (D).
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VIII. Der Gesetzentwurf über die Selbständigkeitsrechte der preußischen Provinzen Parallel zu den Verfassungsberatungen auf der Reichsebene, beschäftigte die Frage nach der Stellung der Provinzen im republikanisch gewandelten Preußen zunehmend auch die Staatsregierung und die politischen Parteien im Freistaat. Die Frage wurde umso bedeutsamer, je mehr sich in den Beratungen abzeichnete, dass die „Zerschlagung“ Preußens durch die Reichsverfassung (zunächst) abgewendet worden war. Es war dennoch der politische Wille bestimmend, die Bedeutung des preußischen Großstaates möglichst einzuschränken, was sodann durch eine weitgehende Selbständigkeit der „höchsten Kommunalverbände“ am leichtesten durchzuführen erschien.2260 Es war damit zum „Reichsinteresse“ geworden, dass Preußen seine Provinzen politisch und auch (verwaltungs-)rechtlich aufwertete.2261 Andererseits ging von der Reichsebene kein unmittelbarer Zwang auf die preußische Staatsregierung aus, erst recht gab es kein Ultimatum oder Ähnliches, hatte Preußen doch bereits eingesehen, um seiner selbst willen im Innern tätig werden zu müssen. Nach seiner Zusage gegenüber der Reichsregierung vom 3. Juli 1919, hatte Preußen am 14. Juli einen Gesetzentwurf über die Selbständigkeitsrechte der Provinzen vorgelegt. Innenminister Heine musste einen gewissen Aktionismus der preußischen Führung zugeben, als er bemerkte, der Gesetzentwurf sei „etwas plötzlich gekommen“.2262 Neumann meint hierzu: „Das Drängen der Reichsregierung wirkte hierbei ebenso nachhaltig wie der Druck der Loslösungsbestrebungen in den Provinzen.“2263 Aus der Sicht Preußens war dies eine „taktisch-politische Variante zur Kanalisierung der Ablösungsbestrebungen und zur Wahrung der territorialen Integrität des Landes“.2264 Dabei war die preußische Führung zum Handeln gezwungen worden – nicht zuletzt durch den erst kurz zuvor gescheiterten Dorten-Putsch in Wiesbaden –, wie Unterstaatssekretär Freund deutlich machte mit den Worten: „Wenn wir nicht elastisch
2260 Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 34. 2261 So auch Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 34. 2262 Zitat bei Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 214. 2263 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 206. 2264 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 206. Hier auch im Folgenden, S. 206 ff.
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sind, so sind wir zerdrückt, von oben und unten.“2265 Um dies zu verhindern, zeigte man sich zu Zugeständnissen auf dem Gebiet der provinzialen Selbstverwaltung bereit. Am 31. Juli 1919 erklärte Heine in der Nationalversammlung, als es abschließend um den Artikel 18 WRV ging, seine ehrgeizigen Vorhaben: „Wir sind herangegangen an den Umbau der Landgemeindeordnung, der Städteordnung, der Kreisordnung, der Provinzialordnung; ein Teil der Gesetze ist bereits weiteren Kreisen bekanntgegeben. Wir werden auch unser allgemeines Landesverwaltungs- und Zuständigkeitsgesetz umarbeiten. Wir wollen über das ganze preußische Gebiet eine dezentralisierte demokratische Verwaltung schaffen. Die Kreise und Gemeinden sollen Selbstverwaltungskörper von hoher Unabhängigkeit von dem zentralisierten Staate werden.“2266 Eifrigster Fürsprecher einer extensiven Provinzialautonomie war, wie zu erwarten, die Zentrumspartei, die in dem Verwaltungsfachmann Wilhelm „Bill“ Drews einen Verbündeten in der Sache gefunden hatte. Drews war in der Monarchie der letzte preußische Innenminister gewesen und wurde am 3. Mai 1919 zum Staatskommissar für die Verwaltungsreform ernannt. Ebenso wie für den genossenschaftsrechtlich beeinflussten Preuß war für Drews der Gedanke der Selbstverwaltung ein tragendes Element der demokratischen Mitwirkung am Staatsleben und der dezentralen Integration „von unten nach oben“. Die Provinzen erschienen als Keimzellen für die Neuordnung der innerstaatlichen Gliederung, die zunächst den preußischen Zentralismus überwinden musste. Neumann stellt fest: „Den Ansatzpunkt für Drews‘ Initiativen bildeten die Loslösungsbestrebungen, denen sich der preußische Staat ausgesetzt sah.“2267 Zentrifugale Bestrebungen in den Provinzen sollten aufgefangen und in geordnete Bahnen gelenkt werden, sodass sie nicht in die offene Abtrünnigkeit verfallen konnten. Ferner sollte die Motivation für eine Anwendung des Artikels 18 WRV vermindert werden. Bedeutsame Ansatzpunkte fasste Drews unter den Begriffen „Dezentralisation“ und „Dekonzentration“ zusammen. Dadurch sollte der Kompetenzbereich provinzialer Selbstverwaltung ausgeweitet werden. „Dezentralisation“ meinte dabei die Übertragung von bislang gliedstaatlichen Zuständigkeiten und auch ihre Exekution auf die Provinzialebene, wobei der Freistaat die Rechtsaufsicht inne haben sollte, um die Übereinstimmung provinzialer Maßnahmen mit Landes- und Reichsrecht sicherzustellen. Die Provinzen sollten demnach die Kompetenz erhalten, selbständig 2265 Zitat bei Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 207. 2266 Deutsche Nationalversammlung, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327 (Fn. 16), 71. Sitzung v. 31. Juli 1919, S. 2153 (D). 2267 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 209.
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Gesetze bzw. Statuten zu erlassen, die indes für ihre Gültigkeit der Bestätigung bzw. Genehmigung durch die Staatsregierung bedurften. Unter „Dekonzentration“ verstand Drews die Übertragung von staatlichen Aufgaben als nunmehr Auftragsangelegenheiten der Provinzialverwaltungen. In diesen Aufgabenbereichen bestand ein Weisungsrecht der zuständigen oberen Staatsbehörden auch nach Zweckmäßigkeitserwägungen, und die Selbstverwaltungsbehörden waren an diese staatlichen Weisungen „unbedingt gebunden“.2268 Auch in dem für die Rheinländer und die Zentrumspartei besonders wichtigen Bereich der kulturellen Angelegenheiten, etwa in Sachen Religionsunterricht, wurden Zugeständnisse in Aussicht gestellt. Daneben standen verwaltungspolitische Reformen, etwa die neue Kompetenz, selbständig Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfassungen erlassen zu können. Neu geschaffene Beiräte sollten die Bevölkerung vermehrt in die Selbstverwaltung miteinbinden. Bei der Bestellung leitender Beamter fand der Provinzialausschuss zumindest Gehör.2269 Gerade im letzten Punkt stieß der Gesetzentwurf auf die Kritik des Zentrums, das sich nicht mit einem bloßen Anhörungsrecht des Provinzialausschusses begnügen wollte, sondern ihm das Recht der ausnahmslosen Vorauswahl der Kandidaten für die Position des Oberpräsidenten der Provinz, der Regierungspräsidenten sowie des Leiters der Polizeiverwaltung übertragen wollte.2270 Im Folgenden war es immer wieder die Zentrumspartei, der die Selbstverwaltung nicht weit genug reichte und die den Kreis der den Provinzen zu übertragenden Selbstverwaltungsangelegenheiten erweitern wollte. Insgesamt war der im Juli 1919 vorgelegte Gesetzentwurf der preußischen Regierung jedoch eher eine programmatische Absichtserklärung, die wenige konkrete Maßnahmen und Reformen verbindlich aufzeigte.2271 Im Allgemeinen stand das Innenministerium dem gesamten Vorhaben nach wie vor skeptisch gegenüber, zeichnete sich jedenfalls nicht durch allzu viel Tatkraft und Mut aus. Neumann resümiert: „Der Entwurf konnte nicht verbergen, daß es sich um ein hastig erstelltes Verlegenheitsprodukt handelte, das die aus den Provinzen vordringenden Ansprüche zu koordinieren und zu vereinheitlichen bestrebt war. Dem Entwurf ermangelte die grundlegende Verankerung in einem Konzept.“2272 2268 Zu dem Vorstehenden insgesamt siehe Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 209. 2269 Vgl. Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 214. 2270 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 216. 2271 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 219. 2272 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 219.
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Es ist an dieser Stelle nicht angezeigt, die langwierigen Verhandlungen um das sogenannte „Autonomie-Gesetz“ nachzuzeichnen, die insgesamt bis Dezember 1919 andauerten, bevor sich das Projekt letztlich ohne tatsächliche Ergebnisse im Sande verlief. Es soll lediglich gezeigt werden, dass diese Beratungen eine gewisse befriedende Wirkung auf die erste Rheinstaatsinitiative ausübten und dass sich das Bestreben der Rheinstaatsbefürworter ab Juli 1919 eher auf dieses Gesetz und seine Ausgestaltung konzentrierte und die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten einer rheinischen Selbständigkeit in den Hintergrund rückten. Die überwiegende Mehrheit der Rheinstaatsanhänger gab sich mit der Aussicht auf erweiterte Selbstverwaltungskompetenzen (einstweilen) zufrieden und die föderalistische Lösung wurde fortan eher ruhen gelassen. Viele Regelungen im Einzelfall sollten jedoch der preußischen verfassunggebenden Landesversammlung vorbehalten bleiben. Man kann sagen, im Zusammenwirken von Reichs- und preußischer Staatsregierung „erkaufte“ man sich mit den Erklärungen zur Verwaltungsreform im Juli 1919 das Nachgeben und die Ruhe der Rheinstaats- und Loslösungsanhänger vor allem in der Nationalversammlung, sodass die Artikel 18 und 167 WRV nach langem Hängen und Würgen endlich verabschiedet werden konnten, auch um das Reichsverfassungsprojekt nicht insgesamt zu gefährden. Hinter dem Begriff der „provinzialen Selbstverwaltung“ verbargen sich jedoch von Vornherein verschiedene Zielvorstellungen, die im Grunde nicht zu vereinbaren waren. Während Drews und Preuß etwa die Stärkung der Provinzen als der künftigen Träger und Keimzellen eines womöglichen dezentralen Einheitsstaates betrieben, dachte man in der Rheinstaatsbewegung vielmehr daran, dass die gegenwärtigen, gestärkten Provinzen die Gliedstaaten von morgen sein könnten („Verländerung“2273) und man blieb dem Föderalismus verhaftet, der Unitarisierungstendenzen eine Absage erteilte. Die Staatsregierung blieb in den Angelegenheiten der provinzialen Selbstverwaltung wiederum zurückhaltend und viele Forderungen erschienen ihr, stets unter Hinweis darauf, dass Preußen nicht länger der monarchisch-bürokratische Obrigkeitsstaat sei, sondern ein republikanisches und parlamentarisches Staatswesen, schlicht unverständlich und überflüssig, insbesondere in Fragen des provinzialen Mitspracherechts bei der Besetzung der politischen Beamtenstellen. Ein zu weites Entgegenkommen war, so gesehen, gleichbedeutend mit erheblichen Beschränkungen der staatlichen Macht. Landsmannschaftliche, konfessionelle und kulturelle Eigenheiten sollten aus der Sicht der preußischen Regierung keine verstärkte Rolle im modernen Gemeinwesen mehr spielen, womit sie sich wiederum auf Konfrontationskurs mit den Rheinstaatsanhängern befand. Auch in den Beratungen des Autonomie-Gesetzes fehlten 2273 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 212.
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somit letztlich das Verständnis und die Empathie für die rheinländischen Eigenheiten. Das Gesetz scheiterte im Dezember 1919 daran, dass die Staatsregierung sich immer weiter von den Ideen der Selbstverwaltung der Provinzen verabschiedet hatte. Innenminister Heine gab den Hinweis, dass man sich nicht zu dieser Art von „Spezialgesetzgebung“ drängen lassen dürfe, nur um hastige Stimmungen zu befrieden. Er beurteilte die Einbringung des Gesetzentwurfs im Nachhinein als politischen Fehler,2274 sodass er von einer Reaktivierung der Vorlage im Jahr 1920 Abstand nahm. Entsprechende Regelungen sollten vielmehr durch neue Städte-, Kreis- und Landgemeindeordnungen sowie durch eine Überarbeitung der Provinzialordnung getroffen werden, jedoch nicht mehr auf dem Wege eines speziellen, staatlichen (Sonder-)Gesetzes erfolgen. Die Entwicklung des Ausbaus der provinzialen Selbstverwaltung stockte. Eine gewisse Befriedung in den Provinzen und politische Integrationsleistung trat erst mit dem durch Artikel 31 der Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920 geschaffenen Staatsrat ein, der ein Vertretungsorgan der Provinzen bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Freistaates darstellte. Der Staatsrat besaß im Verfassungsleben Preußens eine durchaus kompetenziell gewichtige Stellung, so konnte er etwa gemäß Artikel 42 gegen vom Landtag beschlossene Gesetze Einspruch einlegen und dieser konnte gegebenenfalls dazu führen, dass ein Gesetzesbeschluss des Landtags „hinfällig“ wurde (Artikel 42 Absatz 3 der Landesverfassung). Der Kampf und das Ringen um die Reformen der Selbstverwaltung der Provinzen sollte den Freistaat Preußen jedoch die gesamte Zeit der Weimarer Republik über beschäftigen.
IX. Zusammenfassung und Ergebnisse Mit Recht ist über die Weimarer Nationalversammlung und die von ihr zu verabschiedende neue Verfassungsordnung gesagt worden, dass die vermutlich wichtigsten Vorentscheidungen schon vor den eigentlichen Verfassungsberatungen längst anderswo gefallen waren.2275 Dies gilt insbesondere für die staatsorganisationsrechtliche Neugliederung des Reichsgebietes, für die Preuß am grünen Tisch im Dezember 1918 noch weitreichende unitarisierende Pläne entwickelt hatte. Die rasche Intervention der von der Novemberrevolution unversehrt gebliebenen Länder im Januar 1919 und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 führten jedoch dazu, dass 2274 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 221. 2275 Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 117.
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auch das „neue“ Reich ein föderaler Bundesstaat werden musste. An diese Vorgabe wiederum konnte sich Preuß schnell anpassen, hielt er jedoch an der Aufteilung des preußischen Großstaates weiterhin fest. Das Engagement der Gliedstaaten in Angelegenheiten ihres eigenen Fortbestands bedeutete, dass die verfassunggebende Nationalversammlung die Fragen Unitarismus/Föderalismus und Neuordnung des Bundesgebietes nicht frei und ohne jedwede Festlegungen diskutieren konnte, sondern dass sie von Beginn an auf die selbstbewussten Gliedstaaten und deren Vorstellungen Rücksicht nehmen musste. Das größte, stärkste und egoistischste Land war dabei Preußen, das sich indes von vielen Seiten her mit Selbständigkeitsbestrebungen de constitutione ferenda bedroht sah. Es schien zunächst in den privaten Verfassungsvorschlägen und -entwürfen und auch in den Plänen von Preuß so, als stehe die Aufteilung Preußens in seine stammesmäßigen Gebiete (Provinzen) und die Aufwertung Letzterer unmittelbar bevor und werde ohne Weiteres mehrheitlich beschlossene Sache. Der preußische Freistaat als Großstaat, selbst republikanisch und sozialdemokratisch „revolutioniert“, war in den Augen der meisten Zeitgenossen sowohl territorial als auch mit Blick auf die Bevölkerungszahl schier übermächtig und wurde als ein „Hemmschuh“ für die territoriale Neuordnung der Republik in etwa gleich große Länder angesehen. Hervorgehoben wurde der Gedanke der weitestmöglichen gliedstaatlichen Gleichberechtigung und Gleichstellung. Verfassungsrechtlich sollte mit dem Neugliederungsartikel 18 ein Weg aufgezeigt werden, der territoriale Neuordnungen künftig ermöglichen und dabei den Interessen der betreffenden Bevölkerungen, der Länder und nicht zuletzt des Reiches genügen sollte. Freilich war die Anwendung der Bestimmungen der Absätze 3 bis 6 durch die Sperrklausel in Artikel 167 WRV bis zum August 1921 ausgesetzt worden; dies vor allem mit Blick auf die „turbulenten“ Stimmungen im Rheinland. Dass mit Blick auf Artikel 18 der „Streit der Meinungen am heftigsten entbrannte“,2276 lag insbesondere an den Rheinstaatsplänen, die seit der Kölner Zentrumsversammlung vom 4. Dezember 1918 politisch virulent und brisant geworden waren und im besetzten Rheinland eine relevante Anhängerschaft fanden. Das Ziel der frühen Rheinstaatsbestrebungen war ausdrücklich eine Rheinische Republik als deutsches Land im Reichsverband, was sich naturgemäß nur durch ein „Los von Preußen“ bewerkstelligen ließ und Preußen schließlich zu einer deutschen Mittelmacht degradiert hätte. Mit der Aufteilung und Verkleinerung Preußens verbanden sich jedoch insbesondere bei den Nationalliberalen und Konservativen, aber auch bei den in PreußenBerlin regierenden Sozialdemokraten Befürchtungen, dass das „nationale Bollwerk“ Preußen als reichstragender Faktor allzu sehr geschwächt sein würde. Die „Ordnungszelle“ Preußen mit seiner Polizei und Verwaltung musste nach dieser Ein2276 Altenberg, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 173.
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F. Erste Rheinstaatsbestrebungen und Weimarer Reichsverfassung
schätzung ungeschmälert dem Deutschen Reich erhalten bleiben, unter Umständen auch als tragende Säule eines noch zu schaffenden Einheitsstaates, mit dem der partikularistische Föderalismus, dem vermeintlich die süddeutschen Länder am meisten anhingen, eines Tages überwunden werden könne. Eine Schwächung Preußens wurde gleichgesetzt mit einer Schwächung des Reiches, was man gerade in Zeiten von außenpolitischen Bedrohungen und Zwängen tunlichst vermeiden musste. Aufgrund der mehrmaligen und hartnäckigen Interventionen insbesondere Preußens und der süddeutschen Länder, die sich stellenweise mit der Reichsregierung zusammentaten, starben die Preußschen Ideen einer umfassenden Neugliederung „um des lieben Friedens willen“, wie er selbst sarkastisch anmerkte,2277 einen schleichenden Tod. Rückblickend schrieb Arnold Brecht im Jahre 1949, dass die „Beseitigung des übergroßen Landes Preußen, Erhebung der preußischen Provinzen zu Ländern und Zusammenlegung kleiner Länder, Provinzen und Enklaven […] offensichtlich eine vernünftigere Einteilung Deutschlands ergeben“ hätten.2278 Ein rheinischer Gliedstaat war seit dem Winter 1918/19 sowohl in der Wissenschaft als auch in sonstigen Publikationen fest vorgesehen gewesen; insbesondere galt er als natürliches Ergebnis einer allseits angestrebten Auflösung des preußischen Freistaates. Das war nicht selbstverständlich, wäre doch ein geschlossener Rheinstaat in der Geschichte Deutschlands ein Novum gewesen. Seit dem Mittelalter und bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zerfielen die „Rheinlande“ in zahlreiche Territorialherrschaften und konnten nicht zu einer politischen Macht in Deutschland erstarken. Dass ein rheinischer Staat in der bisherigen deutschen Geschichte beispiellos war, wird vermutlich auch ein Faktor gewesen sein, warum den skeptischen Zeitgenossen 1918/19 die Forderung nach einem solchen nicht naheliegend erschien. Man kann resümieren, dass die Rheinische Republik auf dem Altar der partikularistischen Zwänge, denen der Verfassunggeber ausgesetzt war, geopfert worden ist. Nicht der avisierte Rheinstaat als Phänomen war dabei symptomatisch für den allgegenwärtigen Partikularismus, der bis heute als schwere Hypothek für die Weimarer Reichsverfassung gilt, sondern der Rheinstaat scheiterte seinerseits am strukturkonservativen, partikularistischen Preußen; es verkehrt die Verhältnisse, dass man gerade der Rheinlandbewegung eine „Kirchturmpolitik“ nachsagte.2279 Eine unnachgiebige und kleingeistige Politik des Beharrens und der Reformfeindlichkeit fand in Berlin statt, nicht am Rhein. Dies erkannte auch der Zeitgenosse Freiherr von der Kettenburg: „Es [Preußen, P.B.] krankt noch an dem alteingewurzelten Parti2277
Jasper, Improvisierte Demokratie? (Fn. 1955), S. 136. Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preussens (Fn. 50), S. 153. 2279 Vgl. Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 26. 2278
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kularismus, am ,sacro egoismo‘, der es auf Kosten und zum Verderben der Gesamtheit groß werden ließ; es stellt noch immer seine Sonderinteressen über die Wohlfahrt des Ganzen.“2280 Ab dem Spätsommer 1919, mit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, hatten viele Rheinstaatsanhänger das Gefühl, dass der „günstige Augenblick“ für die Gründung der Rheinischen Republik als deutsches Land schlicht „verpaßt“ worden sei;2281 „die so günstigen Verhältnisse“ seien nicht „ausgenützt“ worden.2282 Man war sich der abstrakten Möglichkeiten des Neugliederungsartikels bewusst, schätzte aber die Chancen einer zukünftigen verfassungsmäßigen Verwirklichung des rheinischen Gliedstaates realistisch als gering ein. In dieser Resignation fanden die ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 ihr Ende. Andererseits zeigte es sich, dass es im republikanisch und demokratisch gewandelten Preußen tatsächlich zu einer verbesserten Integration der Rheinländer kam, sodass sich der Wunsch nach Loslösung mit der Zeit abschwächte. Vermehrt wurden katholische Rheinländer in den preußischen Staatsdienst aufgenommen, und der Rheinprovinz wurden zusätzliche Selbstverwaltungsgarantien in Aussicht gestellt. Katholische Politiker des Zentrums waren sowohl in der preußischen wie auch in der Reichsregierung prominent vertreten und traten auch öffentlich selbstbewusst als Fürsprecher für rheinische Angelegenheiten und Anliegen auf. Zwar erschien ein rheinischer Gliedstaat daraufhin (noch) nicht als überflüssig, aber die anfangs aktiven und auch die Verfassungsberatungen prägenden Bestrebungen nahmen sich zurück und arrangierten sich mit den Begebenheiten. Somit überließ man jedoch den Traum der „Rheinischen Republik“ den zunächst zaghaft in Erscheinung tretenden und sich später zunehmend formierenden Separatisten, die im krisengeschüttelten Herbst 1923, als der passive Widerstand im Ruhrgebiet zusammenbrach, die Inflation im Reich ihren Höhepunkt erreichte und Hitler in München seinen Bürgerbräu-Putsch vorbereitete, losschlagen sollten.
2280 2281
S. 368. 2282
Kettenburg, Die Neugliederung Deutschlands, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 918. Statt vieler etwa Schmittmann, Das Rheinlandproblem, in: Das neue Reich 6 (1923), Kettenburg, Preußen und das Rheinland, in: Das neue Reich 6 (1923), S. 5.
G. Ergebnisse und Fazit Eine Abhandlung über die historisch erste Rheinstaatsinitiative vor genau 100 Jahren zu verfassen, ist ein wenig so, als schreibe man über die welt- und europapolitische Lage nach dem Ersten Weltkrieg insgesamt. Wie durch ein Brennglas betrachtet, steht die erste Rheinstaatsinitiative als Anschauungsobjekt en miniature für die allgemeine Großwetterlage und die sie prägenden und begleitenden wissenschaftlichen und politischen Debatten. In der Rheinlandfrage überschnitten sich die vermutlich ewig aktuellen Problemkreise von Staatlichkeit und Staatsaufbau mit denen von der Selbstbestimmung menschlicher Kollektive; einer bis heute nicht letztgültig befriedigend gelösten Frage des internationalen wie des nationalen Rechts. Die faktische Annexion der Ostukraine und der Krim durch Russland, die schwelenden europäischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland, Belgien und Katalonien, der jahrzehntealte Konflikt um den Gaza-Streifen sowie die Vertreibung und Flucht von muslimischen Rohingya in Myanmar legen heute ein beredtes Zeugnis darüber ab. Die Phase zwischen November 1918 und Sommer 1919 wurde von Ernst Troeltsch bereits im Jahre 1924 rückblickend als „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ charakterisiert.2283 Gemeint sein konnte damit nur eine Zeit der Träume, Illusionen und vielleicht auch Phantastereien, aber auch der Ängste, Sorgen und Befürchtungen.2284 Der liberale Politiker und Zeitzeuge Haußmann sprach von einem „Wogenprall übermächtiger Stimmungen“, in dem sich „höchste Spannung und tiefste Abspannung, Hoffnungslosigkeit und Furchtlosigkeit, Tatlosigkeit und Entschlossenheit“ ständig abwechselten.2285 Mit dem Ende der Hohenzollernmonarchie stellte sich plötzlich die Frage nach der Daseinsberechtigung der zumeist dynastisch entstandenen Gliedstaaten und insbesondere des übermächtigen Preußens. Gleichzeitig wurde das Bundesstaatsmodell – auch gerade weil es den „Stallgeruch“ der Monarchie hatte – insgesamt in Frage gestellt. Vor allem linke Republikaner hätten den als überkommen empfundenen Bundesstaat gerne von einem dezentralisierten Einheitsstaat abgelöst gesehen. Weltkrieg, Waffenstillstand und multinationale Friedensverhandlungen hatten dabei gleichzeitig den rein nationalstaatlichen Blick um eine internationale Per2283
Troeltsch, Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik, 1924, S. 69. 2284 So auch Heß, „Das ganze Deutschland soll es sein“ (Fn. 593), S. 25. 2285 Haußmann, Aus Conrad Haußmanns politischer Arbeit. Herausgegeben von seinen Freunden, 1923, S. 79.
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spektive erweitert. Für die Zukunft verheißungsvolle internationale Prinzipien wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Versprechen von weltweiter Demokratie und Frieden bestimmten die politische Ideenwelt. Besonders auch in der preußischen Rheinprovinz war dieses Durch-, Neben- und Übereinander von Gefühlen und Ahnungen schier zum Greifen gewesen. Allgegenwärtig war der Eindruck, dass eine neue Epoche in der Geschichte Deutschlands anbrach. Die Rheinlandbewegung betrachtete einen rheinischen Freistaat bzw. eine Rheinische oder Rheinisch-Westfälische Republik als den Grundstein eines „neuen, freien Deutschlands“. Ihre Schlachtrufe lauteten: „Treue zum Reich, los von Berlin“ und „Ein freies Rheinland in einem neuen Deutschland“.2286 Dabei stand die erste Rheinstaatsinitiative einerseits exemplarisch für mehrere Loslösungsbewegungen im Reich, so etwa auch in Hannover, Oldenburg oder Ostpreußen, andererseits war sie die prominenteste und wirkmächtigste dieser Initiativen. So schreibt Neumann: „Die rheinischen Sonderstaatsbewegungen der Jahreswende 1918/1919, die in einen Föderalismus und Separatismus [sic!] auseinanderstrebten, kennzeichneten die Spannweite, der eine Regionalbewegung unterworfen sein konnte.“2287 Sie konnte auch deshalb so relevant werden, weil sie von der politisch einflussreichen rheinischen Zentrumspartei unterstützt und sogar getragen worden ist, die auch auf Landes- und Reichsebene bedeutsame Persönlichkeiten aufwies, nicht zuletzt Trimborn, Adenauer, Kaas und Kastert. Durch diese Verbindung mit dem Zentrum, der zweitgrößten Partei der republikanischen Weimarer Koalition, nahm die erste Rheinstaatsbewegung jedenfalls mittelbaren, etwa durch Trimborn und Kaas in der Nationalversammlung aber auch unmittelbaren Einfluss auf den Verfassunggebungsprozess ab Februar 1919. Dabei war die Idee eines rheinischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg nicht so illusionär und phantastisch, wie sie uns heute vielleicht anmuten mag. Vielmehr ist die „Rheinische Republik“ im Gesamtkontext der bundesstaatlichen Neugliederungsdebatte zu würdigen, die einen wesentlichen Teil der Beratungen zur späteren Weimarer Reichsverfassung ausmachte. In den Diskussionen der Nationalversammlung rund um die Schaffung der neuen Bundesverfassung nahmen die Befürworter einer rheinischen Staatlichkeit entscheidenden Einfluss auf die Einführung und Ausgestaltung des Artikels 18 WRV, der Gebietsänderungen und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches ermöglichte. Das Staatsorganisationsrecht der Weimarer Republik, insbesondere das Verhältnis Reich-Länder, ist merklich von der Rheinstaatsinitiative mitbestimmt worden. 2286
Zitate bei Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 188. 2287 Neumann, Politischer Regionalismus und staatliche Neugliederung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in Nordwestdeutschland (Fn. 1884), S. 29.
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Gusy ist nicht präzise, wenn er davon spricht, die Neugliederungsdiskussion habe unmittelbar nach dem Abschluss der Weimarer Verfassungsberatungen eingesetzt, also erst im August 1919.2288 Tatsächlich begann sie mit dem Aufkommen der Rheinstaatsfrage schon im November 1918 und lief parallel zu den Verfassungsentwürfen von Preuß und den Debatten im Plenum der Nationalversammlung und im Verfassungsausschuss. Die Rheinstaatsinitiative war dabei gleichsam eine „Initialzündung“ für eine Vielzahl von stetig konkreter werdenden territorialen Neuordnungsplänen nach dem Waffenstillstand. Das Ende dieser ersten Rheinstaatsbewegung markiert gerade die Verabschiedung der Reichsverfassung am 31. Juli 1919, wobei die parlamentarisch-konstitutionellen Rheinstaatsbefürworter einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben, dass den aktionistischen Unabhängigkeitsanhängern keine weitere Bedeutung in der Phase der Republikgründung zukommen konnte. In den Diskussionen um die preußische Verfassunggebung, die über die grundlegenden Verfassungsdiskussionen im Reich zeitlich hinausgingen, zeigte sich zunehmend eine Aufwertung des künftigen preußischen Staatsrates, der die Vertretung der Provinzen bei der Gesetzgebung und Verwaltung des preußischen Staates werden sollte. Die Mitglieder des Staatsrats sollten von den Provinziallandtagen gewählt werden. Insgesamt spielten die Provinzialverbände im staatlichen Leben eine immer bedeutendere Rolle, was dazu führte, dass mit der Preußischen Landesverfassung vom 30. November 1920 die Möglichkeit geschaffen wurde, Staatsverwaltungsangelegenheiten im Wege der Dezentralisation als Selbstverwaltungsangelegenheiten von der Ministerialebene auf die Provinzialverwaltung zu übertragen.2289 Ferner erläutert Klaus: „In der Hervorhebung der Rolle der Provinzen finden sich auch die Überlegungen bezüglich einer künftigen Änderung des Verhältnisses vom Reich zu den Ländern wieder. Mit Blick auf ein mögliches Aufgehen Preußens im Reich, das zu Beginn der Beratungen in der Landesversammlung stark vertreten wurde, wollten man den preußischen Provinzen als den eventuellen neuen Ländern eine ähnliche Stellung geben, wie sie diesen nach der Reichsverfassung durch ihre Vertretung im Reichsrat und die Mitwirkung dieses Verfassungsorgans bei der Willensbildung des Reichs eingeräumt waren.“2290 Somit war der preußische Staatsrat als antizipierter „Reichsrat“ en miniature konzipiert gewesen, was die bedeutend gestärkte Stellung der Provinzen als „QuasiLänder“ eindrucksvoll dokumentiert. Bemerkenswert ist, dass der Präsident des Staatsrats von 1921 bis 1933 Konrad Adenauer hieß, also ein früher Rheinstaatsanhänger mit diesem bedeutenden Amt betraut war. 2288
Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 268. Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 41 f. 2290 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 42. 2289
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Die Preußische Landesversammlung als Trägerin der provisorischen preußischen Staatsgewalt war mithin mehrheitlich durchaus dazu bereit, den preußischen Staat in einem „dezentralisierten Einheitsstaat“ aufgehen zu lassen, stand jedoch einer Aufspaltung des preußischen Territoriums in weitere Freistaaten ablehnend gegenüber. Als eine weitgehend föderative Reichsstruktur beibehalten wurde und der Einheitsstaat keinen Eingang in die Weimarer Reichsverfassung finden sollte, wurde eine Aufgliederung Preußens indessen immer weniger verfolgt. Anders als die WRV, die die Gliedstaaten nicht eigens aufzählte, sondern lediglich bestimmte, dass das Reichsgebiet aus den Gebieten der deutschen Länder bestehe, hat Preußen später seinen Provinzen durch Artikel 32 der Verfassung Preußens auch formal Verfassungsrang zuerkannt, indem die Provinzen einzeln benannt wurden. Dass die WRV insoweit zuvor einen anderen Weg gegangen war, liegt jedoch weniger an der mangelnden konstitutionellen „Wertschätzung“ der Gliedstaaten,2291 sondern ist mit Blick auf die avisierten Neugliederungen auf der Ebene der Länder erklärlich. Im weiteren Verlauf der Geschichte der Weimarer Republik kam der Rheinprovinz, die mit rund 8 Millionen Einwohnern2292 die mit Abstand größte preußische Provinz war, eine so bedeutsame politische Stellung zu, dass auf den Status eines reichsunmittelbaren Gliedstaates nach und nach verzichtet werden konnte. Der Gedanke an den rheinländischen Gliedstaat schwächte sich faktisch ab. Zurecht weist Klaus sogar darauf hin, dass, nachdem sich das republikanische Preußen im Reichsverband unter Bewahrung seines Territorialbestands etabliert hatte und „separatistische“ Tendenzen nicht mehr virulent gewesen seien, die Frage der territorialen Neuordnung im Reich eine „unerwartet entgegengesetzte Richtung“ genommen habe: „Statt los von Preußen, strebten nichtpreußische Landesteile und kleinere Länder nunmehr den Zusammenschluss mit Preußen an.“2293 Gemeint war etwa der Staatsvertrag von 1921 über die Übertragung des Gebietsteils Pyrmont vom Land Waldeck an Preußen. Mit Recht stellt Gusy fest: „Verfassungsgeschichte ist Krisengeschichte.“2294 Gerade deshalb wurde die Rheinstaatsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg zu einem ernstzunehmenden Faktor in der neueren Verfassungsgeschichte, weil es aus Sicht der Rheinländer darauf ankam, vor allem drei bedrängende Krisenerscheinungen 1918/19 abzuwehren.2295 Zum einen ging es außenpolitisch um die Verhinderung der Abtrennung linksrheinischer Gebiete vom Deutschen Reich durch 2291 So aber andeutungsweise Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 44. 2292 Die durchschnittliche Bevölkerungsgröße der preußischen Provinzen betrug lediglich 3 Millionen Einwohner. 2293 Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 54. 2294 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 370. 2295 Diese vier zentralen Elemente arbeitet auch heraus Stieve, Die „Rheinische Bewegung“ in Aachen bis zur Ruhrkrise, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 531.
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eine befürchtete französische Annexion. Innenpolitisch kämpfte man für die Überwindung der sozialistischen Revolution und die Verteidigung der katholischen Konfession, Kultur und Familie im Rheinland. Alles dies fügte sich gleichsam in den Kontext der allgemeinen verfassungspolitischen Debatte über die föderale Neuordnung des Reiches ein. Insofern ist es nicht falsch, von der ersten Rheinstaatsinitiative als einer Krisenerscheinung zu sprechen, allerdings nicht mit dem Zungenschlag, wie dies die kritischen Zeitgenossen und in ihrer Nachfolge kritische Wissenschaftler, Politiker und Journalisten bis in die Gegenwart zu tun pflegen. Nicht die Rheinlandbewegung selbst war die Krise oder löste eine Krise aus, sondern sie ist vielmehr verständlich als eine Reaktion auf die krisenhaften Umstände der Monate rund um den plötzlichen Waffenstillstand, die destabilisierende Novemberrevolution mit ihren sozialistischen Verwerfungen und die spontanen Räteregimes, die Rheinlandbesatzung, die Diskussionen um eine territoriale Neugliederung des Reiches und die zähen Friedensverhandlungen. Es war die allgemeine Instabilität der politischen und verfassungsmäßigen Ordnung, die die Rheinstaatsinitiative erst zu einem (weiteren) destabilisierenden Element werden ließ. Hierbei ist vor allem der Unwille oder die Unfähigkeit der Reichsführung und der Nationalversammlung zur Auflösung des preußischen Großstaats zu berücksichtigen, sowie die hartnäckige Nichtanerkennung des Rheinlandes als Gliedstaat. Auf diesem Wege potenzierten die Staats- und Verfassungskrisen ihrerseits krisenverstärkende Erscheinungen. Die Rheinstaatsbewegung war jedenfalls eher eine Wirkung der Krise, nicht eine nennenswerte Ursache oder ein Katalysator derselben. In vielen Schriften der Rheinstaatsanhänger scheint es so, als sei die erste Rheinstaatsinitiative vor allem eine „Nachgeburt“ des Bismarckschen Kulturkampfes der 1870er Jahre gewesen, also eine verzögerte Reaktion auf die primär kulturelle Repression der überwiegend katholischen Rheinländer, insbesondere durch protestantische preußische Politiker und Bürokraten. Die Zentrums-Katholiken hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die politischen und kulturellen Zentralisierungsanstrengungen des preußisch-protestantischen Staates gewehrt und galten der Obrigkeit als „Reichsfeinde“, auf derselben Stufe wie die „vaterlandslosen“ Sozialisten.2296 Bismarck hatte hinlänglich seine Überzeugung erklärt, „daß der Staat in seinen Fundamenten bedroht und gefährdet ist von zwei Parteien, die beide das gemeinsam haben, daß sie ihre Gegnerschaft gegen die nationale Entwicklung in internationaler Weise betätigen, daß sie Nation und nationale Staatenbildung bekämpfen. Gegen diese beiden Parteien müssen meines Erachtens alle diejenigen, denen die Kräftigung des staatlichen Elements, die Wehrhaftigkeit des Staates am Herzen liegen, gegen die, die ihn angreifen und bedrohen, zusammenstehen“.2297 2296 2297
Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte (Fn. 1350), S. 259. Zitat bei Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte (Fn. 1350), S. 271.
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Obwohl dieser Kulturkampf im Jahre 1918/19 Jahrzehnte zurück lag, waren die (spätestens) dort begründeten Antipathien und Frontstellungen noch in der Gründung der Weimarer Republik hervorstechend. Die Inkorporation des Rheinlandes in den Freistaat Preußen galt den Katholiken nach wie vor als Versuch, die politischen Tendenzen des deutschen Katholizismus mit seinen überstaatlichen, transnationalen Aspekten national zu mediatisieren,2298 wenn nicht sogar zu neutralisieren. Gleichzeitig vermochte es auch die Weimarer Reichsverfassung nicht, den in Preußen seit Langem vorherrschenden bürokratischen Zentralismus einzudämmen, der einer rheinländischen Selbstverwaltung diametral entgegenstand. Noch im Jahre 1932 brachte Sattler die Mehrheitsauffassung in Preußen zum Ausdruck, als er schrieb: „Anstatt der […] Zentralisation wird die Dezentralisation gefordert. Diese müßte auf 1/3 des Reichsgebiets beschränkt bleiben, da der preußische Großstaat nach sozialistischer Ansicht, aber auch nach seiner ganzen Tradition, kaum anders als zentralistisch regiert werden kann.“2299 Auf diese Weise jedoch konnte die „innere Reichsgründung“ auch lange nach 1871 nicht recht voranschreiten und der Osten und Westen blieben wirtschaftlich, konfessionell, sozial und nicht zuletzt geistig tief gespalten. Die rheinländische Zentrumspartei war jedoch daran gewöhnt, entlang dieses Koordinatensystems ihre Politik zu gestalten, so dass es nicht verwundert, dass die Idee des Rheinstaates gerade von ihr einerseits im Rheinland getragen und befördert worden, andererseits auf gesamtpreußischer und Reichsebene aber nur zurückhaltend artikuliert worden ist. So kam es in der Rheinstaatsdebatte im Grunde zu den gleichen Argumenten, die bereits 40 Jahre früher im Kulturkampf herhalten mussten und wonach die „staatszersetzenden“ Katholiken, die an der Stärke Deutschlands gemäß ihrer ultramontanen Ausrichtung gen Rom sowieso kein Interesse hätten, das deutsche „Bollwerk“ Preußen auflösen wollten, um sich mit dem katholischen französischen „Glaubensbruder“ zusammentun zu können. Diese emotional-affektuelle Seite darf man bei der Betrachtung der Rheinstaatsfrage nicht außer Acht lassen. Mitnichten lässt sich die Rheinstaatsinitiative nach dem Ersten Weltkrieg als „Separatismus“ abtun. Der weit überwiegende Teil der Rheinstaatsbewegung verfolgte das Ziel einer rheinländischen Selbständigkeit auf dem Pfad der konstitutionellen territorialen Neugliederung, nämlich in der Absicht, einen rheinischen Gliedstaat zu errichten, der sich vom bestehenden Freistaat Preußen lossagte, aber im Verband des Deutschen Reiches verbleiben sollte. Die eigentümliche und ursprüngliche Absicht der rheinischen Selbständigkeitsinitiative bestand darin, einen Freistaat entlang des Rheins zu gründen, wobei die Kerngebiete die besetzten linksrheinischen Territorien bilden sollten. Dabei war 2298
Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte (Fn. 1350), S. 259. Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 14. 2299
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nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr erwünscht, dass sich die originäre „Rheinische Republik“ (Provinz Rheinland) möglichst weit rechtsrheinisch, also in das Ruhrgebiet, die Provinz Westfalen, die Provinz Hessen-Nassau, erstrecken sollte, um so tatsächlich zu einer „Westdeutschen Republik“ oder „Rheinisch-Westfälischen Republik“ werden zu können. Wenn auch die anfänglichen Absichten und Pläne diffus und mehrdeutig erscheinen, ist für die spätestens im Frühjahr 1919 vorzufindende Rheinstaatsbewegung zu konstatieren, dass nur eine Loslösung der Rheinprovinz vom Freistaat Preußen, nicht auch vom Deutschen Reich, angestrebt wurde. Es existieren einige publizistische und sogar „wissenschaftliche“ Schriften, die – zumeist entweder nationalsozialistisch oder sozialistisch orientiert – ersichtlich nur das Ziel verfolgen, den Kölner Oberbürgermeister und Zentrumspolitiker Adenauer politisch in Misskredit zu bringen. So behauptet Volz vor einem nationalsozialistischen Hintergrund im Jahre 1942, Adenauer sei „bei den separatistischen Plänen die treibende Kraft“ gewesen2300 und habe später Dorten „die Führung der Loslösungsbestrebungen in seine Hand gebracht“.2301 Daneben schien es Volz bedeutsam gewesen zu sein, daran zu erinnern, dass Trimborn mit einer Belgierin verheiratet war – offenbar genügte allein diese familiäre Tatsache für die Bejahung von vaterlandslosem Separatismus. In dieser unwissenschaftlichen Kontinuität steht die Schrift Holstes aus dem Jahr 2018, der behauptet, Adenauer sei der Führer eines „bis dahin ungekannten aggressiven Separatismus“ gewesen.2302 Hier wird die Legende lediglich repetiert, ohne sich eingehender mit den ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 und insbesondere mit der Rolle Adenauers auseinandergesetzt zu haben. Eine zunehmend radikale Strömung innerhalb der Rheinlandbewegung bildete sich erst im Frühjahr 1919, insbesondere um die Persönlichkeit Hans Adam Dorten, heraus. Enttäuscht von der etablierten Mehrheitsmeinung, die die Frage der westdeutschen Staatsgründung in den Verfassungsberatungen auf gesetzlichem Wege klären wollte, zeigte sich dieser Flügel gegenüber dem konstitutionell-legalistischen Kurs indifferent bis ignorant und setzte fortan auf die außerparlamentarische politische Aktion, wobei der Proklamationsversuch in Wiesbaden vom 1. Juni 1919 den vorläufigen Höhepunkt darstellte. Auch mit Blick auf die Aktionisten rund um Dorten und den Aachener Arbeitskreis ist es jedoch schlicht falsch, von Vornherein und unkritisch von „Separatisten“ zu sprechen. Fakt ist, dass Dorten, Smeets und andere erst ab dem Spätsommer 1919 eine Entwicklung hin zu „Sonderbündlerei“ und Separatismus machen sollten, die ihre Höhepunkte im unbestrittenen Separatismusjahr 1923 finden sollte. Für die Annahme, dass schon im Sommer 1919, nach
2300
Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 450. Volz, Novemberumsturz und Versailles 1918 – 1919 (Fn. 189), S. 453. 2302 Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55 ff. 2301
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dem Friedensschluss und dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, bereits separatistische Ziele verfolgt wurden, fehlen hinreichende Anhaltspunkte. Man darf dabei nämlich nicht unberücksichtigt lassen, dass auch Dorten jedenfalls zunächst, also in der ersten Jahreshäfte 1919, nicht die Loslösung einer Rheinischen Republik aus dem Reichsverband und eine Änderung des völkerrechtlichen Status quo betrieb, sondern, im Grunde ebenso wie die gemäßigten Rheinstaatsanhänger, einen rheinländischen Gliedstaat anstrebte. Die Stoßrichtung der aktionistischen Rheinstaatsbestrebungen war immerzu gegen Preußen gerichtet gewesen, jedenfalls nicht gegen den Bundesstaat des Deutschen Reiches; wenn man auch freilich nicht den parlamentarischen, „umständlichen“ Weg der Verfassungsberatungen gehen wollte. So hat Dorten etwa General Mangin gegenüber stets erklärt, man wolle sich nicht vom Deutschen Reich lösen und einen Pufferstaat bilden, sondern als deutsche Rheinländer im Reich bleiben, wenn auch mit eigener Staatlichkeit. Im zweiten Punkt der aktivistischen Sechs-Punkte-Erklärung vom 7. März 1919 hieß es ausdrücklich, dass das Rheinland „untrennbar im Verbande des deutschen Reiches verbleiben“ sollte.2303 Und selbst in der Wiesbadener Proklamation vom 1. Juni 1919 stand unmissverständlich geschrieben: „Es wird eine selbständige rheinische Republik im Verbande des deutschen Reiches als Friedensrepublik errichtet […].“2304 In einer politischen Schrift vom Juli 1919 setzten sich die Putschisten von Wiesbaden, die man gemeinhin als „Sonderbündler“ abtut, dezidiert mit dem Vorwurf auseinander, sie wollten das Rheinland vom Deutschen Reich loslösen und sprachen dabei von dem „älteste[n] und infamste[n] Vorwurf“.2305 Sie erklärten deutlich, „daß es sich nur um ein Ausscheiden der Länder am Rhein aus dem Staatsverbande Preußens usw. handle, nicht dagegen um eine Abtrennung vom Reiche, dem die ihre Selbständigkeit wünschenden Gebiete in Zukunft als Bundesstaat in gleicher Weise angehören sollen, wie es bisher mit Bayern, Württemberg, Baden usw. der Fall war“.2306 Es waren, nüchtern betrachtet, vor allem die Mittel und Wege, die Dorten und „seine“ Gruppe in den Verruf der Sonderbündlerei brachten, nämlich insbesondere die konspirative Zusammenarbeit mit den französischen Besatzungskräften und die Ignoranz gegenüber der Reichsführung und der verfassunggebenden Nationalversammlung. Das Vorhaben einer Änderung des deutschen territorialen und staatsorganisationsrechtlichen Status quo mit Hilfe von fremden Militärs und Bürokraten, 2303 Abgedruckt bei Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 39. 2304 Abgedruckt bei Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 45. 2305 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 23. 2306 Die vorläufige Regierung der Rheinischen Republik zu Wiesbaden, Die Rheinische Republik (Fn. 7), S. 24.
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bedeutete aus der Sicht der Zeitgenossen Hochverrat und Separatismus. Unabhängig von der Frage, ob eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Hochverrats gemäß § 81 StGB vorlag, ist die Frage nach dem Separatismus in der Gesamtschau negativ zu beantworten: Es gab in den Monaten zwischen November 1918 und August 1919 keinen rheinischen Separatismus. Auch Dorten und der Kreis der Aachener und Wiesbadener Aktivisten waren keine Separatisten, sondern sahen den zu schaffenden Rheinstaat zu jedem Zeitpunkt fest im Reichsverband verankert. Der um Genauigkeit und Differenzierung bemühte Erdmann kommt letztlich nur deshalb zum Verdikt des Separatismus, weil er Erwägungen konstitutioneller Legalität, demokratischer Legitimität und strafrechtlicher Verantwortung unzulässigerweise miteinander vermengt. Das separatistische Moment besteht für ihn darin, dass die Wiesbadener Aktionisten, jedenfalls hilfsweise unterstützt durch die feindlichen und bewaffneten französischen Besatzungskräfte, eine Rheinstaatsproklamation als fait accompli gegen den erklärten oder zumindest mutmaßlichen Willen der demokratisch gewählten verfassunggebenden Nationalversammlung vornahmen, sich also sowohl über den Verfassunggeber wie auch über die Reichsregierung eigenmächtig hinwegsetzten. Während diese Ansicht unter Legalitäts- und Legitimitätsgesichtspunkten einwandfrei nachvollziehbar ist, so hilft sie nicht weiter, wenn es darum geht, zu bewerten, ob Dorten und seine Mitstreiter nicht nur zwielichtige Abenteurer und konspirative Hasardeure, sondern eben auch handfeste Separatisten waren. Wie aufgezeigt, sollte also die rechtshistorische Forschung nicht allzu unkritisch und vorschnell in die zumeist politisch motivierte Separatismusanschuldigung einstimmen, denn es ist Dorten und seinen Mitstreitern nicht historisch nachweisbar, dass sie einen souveränen Rheinstaat außerhalb des Deutschen Reiches im Jahre 1919 zum Ziel hatten. Eigene Bekundungen und Publikationen sprachen eindeutig gegen diese Unterstellung. Es existiert nicht zuletzt eine bemerkenswerte Selbsteinschätzung von Dorten, die dieser 1945 rückblickend im französischen Exil niederschrieb: „Qu’étais je personnellement? […] Comme ancien collaborateur d’Adenauer j’étais légaliste, comme membre de la Rheinischen Volksvereinigung, autonomiste, et comme allié de Smeets, séparatiste […] J’étais donc authentiquement séparatiste et j’en étais fier.“2307 Wenn man auch Dortens autobiographische Aussagen aus dem Jahr 1945 insgesamt kritisch würdigen muss, etwa was sein Verhältnis zu Adenauer anbetrifft, so legt er in dieser Passage doch ein bemerkenswert klares Zeugnis von der Entwicklung seines politischen Standpunktes ab: Zunächst, als „Mitarbeiter“ Adenauers, sei er „Legalist“ gewesen, was korrekterweise darauf Bezug nimmt, dass er sich der außerparlamentarischen Aktion erst nach der Enttäuschung über das Vorgehen Adenauers, des Westdeutschen Politischen Ausschusses und der Nationalversammlung ab Februar 1919 zuwandte. Als Mitglied der Rheinischen Volksvereinigung sei er dann „Autonomist“ und schließlich als Verbündeter Smeets bekennender 2307
Dorten, La tragédie rhénane (Fn. 444), S. 100 f.
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„Separatist“ geworden. Mitglied der Volksvereinigung aber wurde Dorten erst im Jahr 1920, denn die Rheinische Volksvereinigung wurde erst am 22. Januar 1920 in Boppard als „außerparlamentarische Lobby zur Realisierung eines Rheinstaats“ gegründet.2308 Und ein Verbündeter Smeets und somit Separatist wurde Dorten, nach eigener Aussage, wiederum erst nach diesem Zeitpunkt, als beide schließlich 1923 nach anfänglicher Skepsis und Konkurrenz zueinander fanden. Hieraus ist zu folgern, dass Dorten nach eigenem, wenn auch retrospektivem Bekenntnis im Jahr 1919 kein Separatist war bzw. sich selbst nicht als solchen einordnete, sondern dies frühestens ab 1920 allmählich wurde und schließlich sogar „stolz“ darauf war, Separatist gewesen zu sein. In der historischen Forschung wird diese Selbsteinschätzung Dortens unverständlicherweise herangezogen, um vermeintlich belegen zu können, dass er im Grunde immer schon, also auch bereits 1919, Separatist gewesen sei.2309 Selbst wenn man aber mit Blick auf den Dorten-Zirkel und den Wiesbadener Putschversuch von Separatismus sprechen wollte, so war diese Strömung jedoch zahlenmäßig unbedeutend, wenn auch umso aktionistischer. Jedenfalls konnte von ihr kein nenneswerter, erst recht kein nachhaltiger Einfluss auf die Verfassunggebung ausgehen, zumal das Problem Dorten und des diesen teilweise unterstützenden französischen Einflusses ab Anfang Juni 1919 bereits in den Hintergrund getreten war und nahezu als überstanden galt. So ist es demnach – angenommen, man fällt das Separatismusurteil – jedenfalls übertrieben, von fühlbaren und gefahrvollen separatistischen Bestrebungen zu reden, die ernsthaft die Verfassunggebung und Reichseinheit bedroht hätten. Mit der Ausdifferenzierung der Rheinstaatsbewegung in eine auf Legalität und Kontinuität bedachte Mehrheitsbewegung und eine aktionistische, den legalen Vertretungsanspruch der Majorität verneinende Minderheitsströmung, sind im Übrigen verfassungshistorisch interessante Polaritäten auszumachen: Repräsentationsprinzip kontra basisdemokratische Aktion, Legalität und Einheitsstaatsgedanke kontra Legitimätsprinzip sub specie Selbstbestimmungsrecht der Völker und divergierende staatsrechtliche Bewertungen, etwa zu der Frage des Fortbestands des preußischen Staatsgebildes in der neuen deutschen Republik. Es ist nach alldem historisch schlichtweg falsch, wenn ein beachtlicher Teil der historischen und rechtshistorischen Forschung bis zum heutigen Tage verallgemeinernd vom „rheinischen Separatismus“ spricht und dabei die beiden vollkommen unterschiedlichen Situationen der Jahre 1919 und 1923 vermengt. So hieß es in einem schlecht recherchierten SPIEGEL-Artikel vom 10. April 1948, die „rheinische Selbstherrlichkeit“ des Jahres 1923 sei in den „Revolutionstagen des Novem-
2308
Reimer, Rheinlandfrage und Rheinlandbewegung (1918 – 1933) (Fn. 44), S. 219. So Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 261. 2309
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ber-Dezember 1919“ entstanden.2310 Gemeint war wohl November-Dezember 1918, denn eine Zeile später ist von „den aus Frankreich zurückgehenden Divisionen nach Köln“ die Rede.2311 Hier wird deutlich, dass von einer historischen und ideengeschichtlichen Kontinuität von 1918/19 bis 1923 ausgegangen wurde oder, anders gewendet, dass der Separatismus des Jahres 1923 bereits auf das Jahr 1919 rückprojeziert wird. Erklärlich ist diese Annahme allenfalls unter dem Aspekt, dass die zeitgenössischen Gegner eines Rheinstaats bereits 1919 polemisierend von Separatismus, Sonderbündlerei, „Abfallbewegung“ oder „Rheinbündlern“ sprachen, um die Rheinstaatsanhänger politisch zu diskreditieren; so etwa exemplarisch statt vieler selbst Anschütz.2312 Dieser brachte es fertig, einerseits die Absichten der überwiegenden Rheinstaatsbewegung und der Zentrumspartei völlig treffend wiederzugeben,2313 aber dennoch unverhohlen von „Separatismus“ zu sprechen.2314 Eine Mehrheit von insbesondere konservativen sowie nationalliberalen und demnach zumeist „preußentreuen“ Staatsrechtlern und Historikern zementierte bereits zu Zeiten der Weimarer Republik das Schlagwort vom „rheinischen Separatismus“, so etwa Sattler im Jahre 1932, der der Rheinlandbewegung 1919 insgesamt „separatistische[s] Streben[]“ vorwarf.2315 Die historische Verwirrung um die Begrifflichkeit „Separatismus“ wird jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, wenn man feststellt, dass selbst Adenauer rückblickend im Jahr 1953 erklärte, er habe sich deshalb in der Rheinstaatsfrage engagiert, „um dem Separatismus, der die Abtrennung des linken Rheinufers vom Reich propagierte, den Wind aus den Segeln zu nehmen“.2316 Es ist zu vermuten, dass Adenauer – ebenso wie viele andere –retrospektiv nicht mehr klar zwischen 1918/19 und 1923 unterschied oder es ihm 1953 vor allem darauf ankam, sich politisch gegen die Hochverratsvorwürfe zu verteidigen und er deshalb selbst eine Separatismusgefahr nach dem Weltkrieg konstruierte, der er sich jedoch „mannhaft“ entgegenstellt habe. Dies ist natürlich in kurzatmigen politischen 2310
Der Spiegel Nr. 15 v. 10. April 1948 („Rhein-Gold“), S. 4. In bezeichnend nachlässiger Manier behauptet der Artikel wenig später, Dorten habe im Juli 1919 eine „Rheinische Republik“ in Mainz ausgerufen. Tatsächlich fand der Proklamationsversuch am 1. Juni in Wiesbaden statt. 2312 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 142. 2313 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 144: „Die Anhänger der Loslösungsbestrebungen, namentlich der damals auf Abtrennung der Rheinprovinz von Preußen und auf Konstituierung derselben zu einem selbständigen Einzelstaate hinstrebende Teil der Zentrumspartei […].“ 2314 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Fn. 1216), S. 144. 2315 Sattler, Das preußisch-deutsche Problem bei einer Reichsreform auf der Grundlage der Weimarer Reichsverfassung (Fn. 2169), S. 38. 2316 Zitat bei Anonym, „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“, in: Der Spiegel Nr. 41 (1961), S. 65. 2311
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Schlagabtauschen einfacher zu vermitteln, als historisch präzise zwischen konstitutionell-legalem und aktionistisch-illegalem Vorhaben zu differenzieren. Bedeutende Verfassungshistoriker wie etwa Huber und andere haben in der Folgezeit den Mythos der rheinländischen Sonderbündlerei, den bereits Zeitgenossen aus politischer Motivation in die Welt gesetzt hatten, sodann unkritisch fortgeschrieben.2317 In seinem Werk über die deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 widmet Huber dem „rheinischen Separatismus 1918/19“ sogar ein eigenes Kapitel.2318 Für ihn erschien die Absicht der Rheinstaatsbefürworter, einen rheinischen Gliedstaat im deutschen Reichsverband errichten zu wollen, als lediglich vorgetäuscht; tatsächlich habe man einen Pufferstaat im Westen angestrebt, der militärisch, wirtschaftlich und politisch zwingend unter französischen Einfluss geraten wäre.2319 Diese Fehleinschätzung konnte bis in die wissenschaftliche Literatur der Gegenwart offenbar lediglich unzureichend aufgeklärt und korrigiert werden.2320 Noch in seiner 2016 erschienenen Dissertationsschrift spricht Retterath von „separatistischen Bestrebungen im Innern“ und meint dabei die frühen Rheinstaatsbestrebungen 1918/19.2321 In seiner 2018 erschienenen Abhandlung spricht auch Holste von einem „aggressiven Separatismus“.2322 Dieser immer wiederkehrende Vorwurf des (hochverräterischen) Separatismus ist für die erste Rheinstaatsbewegung bis zum August 1919 nicht aufrecht zu erhalten und sollte in der weiteren historischen und rechtshistorischen Forschung endlich fallengelassen werden. Vielmehr betrachtete die übergroße Mehrheit der Rheinstaatsbefürworter ihr Anliegen als seriösen Beitrag zu den allgemeinen Reichs-
2317 Etwa auch Köhler, Adenauer und die rheinische Republik (Fn. 42), S. 18 f.; Klaus, Der Dualismus Preußen versus Reich in der Weimarer Republik in Politik und Verwaltung (Fn. 497), S. 84; Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55 ff. 2318 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1128 ff. 2319 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (Fn. 30), S. 1128 f. 2320 Vgl. etwa Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung (Fn. 30), S. 15 und 57; Gillessen, Hugo Preuß (Fn. 30), S. 105; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung (Fn. 1220), S. 77; Der Tagesspiegel v. 3. Dezember 2007 („Verwirrte Gedanken“), abrufbar unter: http:// www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/politisches-buch-verwirrte-gedanken/1111082.html, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018: „Kaas steht für den klerikal fundierten und allein schon dadurch zum Scheitern verurteilten Separatismus als antimoderne Reaktion auf die Umwälzungen in Deutschland. […] Der rheinische Separatismus war eine hoffnungslos rückwärtsgewandte Utopie, gespeist aus den Verwerfungen der gesellschaftlichen Modernisierung im Bismarckreich.“ Ausdrücklich positiv hervorzuheben ist jedoch die umfangreiche und differenzierende moderne Arbeit Schlemmers, Los von Berlin (Fn. 5), die indes von einem rechtshistorisch nicht klar definierten, allzu allgemeinen Autonomiebegriff ausgeht. 2321 Retterath, „Was ist das Volk?“ (Fn. 1795), S. 250. 2322 Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55.
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neugliederungsplänen sowie zu den Friedensverhandlungen. Dies wurde jedenfalls in den Verfassungsdiskussionen auch von anderer Seite überwiegend anerkannt. Zwar liest es sich zunächst adäquat differenzierend, wenn Recker 1976, wiederum mit Bezug auf Adenauer schrieb, „daß Ausmaß und Inhalt der Sonderstellung dieser ,Westdeutschen Republik‘ nie eindeutig umschrieben wurden und somit je nach Deutung als noch mit einer Neugliederung der bundesstaatlichen Ordnung des Reiches vereinbar oder schon als Bekundung eines offenen oder versteckten Separatismus gelten konnten“. Und weiter: „Die Nähe zu den Plänen der rheinischen Separatisten um Dorten, Smeets und Matthes machte Adenauers Vorgehen jedenfalls zum Teil zweideutig und widersprüchlich […].“2323 Zum einen stimmt es nicht, dass Inhalt und Stellung des Rheinstaats „nie“ eindeutig dargelegt worden sind; diese Feststellung kann höchstens mit Blick auf die Entstehung der Rheinstaatsbewegung im Winter 1918/19 Geltung beanspruchen. Spätestens ab März 1919 hatten sowohl der gemäßigt-legale als auch der aktionistische Flügel wiederholt und deutlich beschrieben, dass es sich bei der angestrebten Rheinischen Republik um nichts anderes als einen deutschen Gliedstaat „los von Preußen“ handelte, der niemals losgelöst vom Reich existieren sollte. So oft aber die Rheinstaatsanhänger dieses Ziel klar und deutlich machten, so oft wurden sie von den Gegnern eines rheinischen Freistaates, die gleichzeitig Gegner der „Zerschlagung“ Preußens waren, nicht wahr- bzw. ernstgenommen; schließlich war es ja aus deren Sicht wohlfeiler, die Rheinstaatsbewegung als separatistisch und vaterlandsfeindlich brandmarken zu können. Überdies ist, wie dargelegt worden ist, der Separatismusvorwurf gegenüber Dorten und seinen Verbündeten bis zum Spätsommer 1919 nicht historisch erweislich; im Gegenteil sprechen die gedruckten Quellen gegen separatistische Pläne. Erst danach übrigens traten auch die bekannten (späteren) Separatisten Smeets und Matthes allmählich in das politische Geschehen der jungen Republik ein, sodass nicht nachvollziehbar ist, warum Recker davon ausgeht, dass Adenauer im Zuge der Neugliederungsdiskussionen in der ersten Jahreshälfte 1919 eine „Nähe“ zu diesen späteren Separatisten gehabt haben sollte, die noch gar nicht in Erscheinung getreten waren. Leider ist diese hier besonders hervorgehobene kurze Analyse Reckers beispielhaft für die historische Forschung zur Rheinstaatsfrage, die die späteren unumstritten separatistischen Ereignisse des Jahres 1923 zu Unrecht auf das Jahr 1919 rückbezieht. Klar formuliert findet sich dies etwa in einer Buchrezension im „Tagesspiegel“ noch im Jahr 2007, wo es zum Jahr 1923 heißt, dieses sei „die letzte Phase des Separatismus“ und im Grunde eine bloß den latenten Separatismus verstärkende
2323
Recker, Adenauer und die englische Besatzungsmacht (1918 – 1926) (Fn. 40), S. 99.
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„Wirtschaftskrise“ gewesen.2324 Dieser bis heute oftmals noch anzutreffenden Ansicht, wonach der „rheinische Separatismus“ einen zusammenhängenden und kontinuierlichen Zeitraum von 1918 bis 1923 umfasse, muss wissenschaftlich entschieden entgegengetreten werden. Wie aufgezeigt, bildeten Versailler Friedensvertrag und Verabschiedung der Reichsverfassung eine nicht zu übersehende historische Zäsur, sodass man historisch zwingend von zwei Rheinstaatsinitiativen, nämlich 1918/19 und 1923, sprechen muss, die sich sowohl im Zweck wie auch in den Mitteln erheblich unterschieden. Zwischen den beiden Rheinstaatsbestrebungen besteht gerade keine historische Kontinuität. Selbst der herausragende Kenner der Epoche Morsey ist zumindest ungenau, wenn er resümiert: „Spätestens mit der Verabschiedung der Reichsverfassung ließ sich zwischen separatistischen Bestrebungen, also ,Landesverrat‘, und denjenigen Politikern trennen, die im Rahmen einer föderalistischen Neugliederung des Reiches für regionale Selbständigkeit eintraten.“2325 Hier findet sich einmal mehr angedeutet, dass es bereits vor dem Spätsommer 1919 separatistische Umtriebe gegeben habe, was vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich separatistische Ideen erst ab diesem Zeitpunkt herausbildeten, nicht bestätigt werden kann. Differenzierend, jedenfalls mit Blick auf den damals vorherrschenden Zeitgeist, fiel dagegen 1968 Müller-Werths Urteil aus, der das Grundproblem in der Betrachtung der Rheinstaatsiniative 1918/19 klar erkannte: „Wer sich eingehender mit dieser verworrenen Zeit befaßt hat, muß aber hinzufügen, daß es nicht zu jedem Zeitpunkt einwandfrei feststand oder zu erkennen war, wo die Grenzlinie zwischen den politisch einwandfreien Bestrebungen zu einer Neugliederung des Reiches, vielleicht unter Auflösung Preußens, und den die Einheit des Reiches bedrohenden oder zerstörenden [!] Plänen der ,eigentlichen‘ Separatisten lag. Dies trifft besonders für die erste Zeit der politischen Tätigkeit Dortens zu, in der ihn manche unterstützen zu können glaubten, die sich später von seiner politischen Abenteurerpolitik abwandten.“2326 Aber auch er kommt nicht ohne die Prämisse aus, dass im fraglichen Zeitraum bereits definitive separatistische Absichten und Bestrebungen real und erkennbar gewesen seien. Diese Prämisse allerdings lässt sich historisch nicht belegen, jedenfalls nicht, wenn man eine präzise und stimmige Definition von „Separatismus“ zugrunde legt, die auf das Rheinland bezogen Folgendes bedeuten muss: Das politische Programm einer Sezession des Rheinlandes vom Deutschen Reich und Er2324 Der Tagesspiegel v. 3. Dezember 2007 („Verwirrte Gedanken“), abrufbar unter: http:// www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/politisches-buch-verwirrte-gedanken/1111082.html, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018. 2325 Morsey, Die Rheinlande, Preussen und das Reich 1914 – 1945, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 194. 2326 Müller-Werth, Die Separatistenputsche in Nassau unter besonderer Berücksichtigung des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, in: Nassauische Annalen 79 (1968), S. 250.
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richtung eines souveränen Rheinstaates ohne fortbestehende staatsorganisationsrechtlichen Bande zum Bundesstaat „Deutsches Reich“, also im Ergebnis eine völkerrechtlich relevante Statusänderung des wie auch immer territorial umrissenen Rheinlandes. Folgt man dieser Definition, konnte zu keinem Zeitpunkt in Politik und Geschichtsforschung von einem Separatismus im Kontext der ersten Rheinstaatsbestrebungen bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung im August 1919 die Rede sein. Ebenfalls ungenau und unzureichend ist die bisherige wissenschaftliche Würdigung sodann mit Blick auf die Fokussierung auf die binären Pole „Separatismus/ Föderalismus“. Im Sommer 1919 trat nämlich eine dritte Möglichkeit zur Ausgestaltung weitergehender rheinischer Selbständigkeit in die Diskussion ein, die in der Verengung auf Separatismus/Föderalismus in der bisherigen (Geschichts-)Forschung keine oder zumindest zu wenig Beachtung gefunden hat. Gemeint ist die Aufgabe des Gliedstaatsplans, sofern der bei Preußen weiterhin verbleibenden Rheinprovinz weitere Selbstverwaltungsgarantien eingeräumt würden. Im Zeitpunkt der Verabschiedung der Reichsverfassung im Juli 1919 hatte sich somit die ursprünglich bipolare Loslösungsdebatte zu einer tripolaren (Separatismus/Föderalismus/Provinzialismus) gewandelt, wobei die meisten Stimmen nunmehr dem Provinzialismus bzw. einem weiterreichenden Regionalismus das Wort redeten und nicht mehr ausschließlich der bundesstaatlichen Lösung. Die Rheinstaatsanhänger ließen merklich von ihrem Ziel der rheinländischen Staatlichkeit ab, als ihnen die preußische Staatsregierung im Juli 1919 großangelegte Reformen hin zu mehr provinzialer Eigenständigkeit versprochen hatte. Wenn auch die Rheinstaatsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg von ihren Kritikern als anachronistische „Kirchturmpolitik“ abgelehnt worden ist, etwa in der Betonung der rheinländisch-fränkischen Stammeseigenart, so war sie tatsächlich jedoch auffallend modern und sogar ihrer Zeit voraus. Es greift zu kurz und erscheint schlichtweg despektierlich, wenn bis in die heutige Zeit hinein behauptet wird, die frühe Rheinstaatsinitiative sei nicht viel mehr als antimoderne „Rheinlandtümelei“ und weinselige Folklore in bäuerlichen Dorfgemeinschaften an Rhein, Mosel und Main gewesen, die ausschließlich rückwärtsgewandt eingestellt und über die die Zeit schon 1918/19 längst hinweggegangen sei. Im Jahre 2007 hieß es etwa im Tagesspiegel in ebendieser pseudo-intellektuellen Bräsigkeit: „Der rheinische Separatismus war eine hoffnungslos rückwärtsgewandte Utopie […].“2327 Noch 2018 meint Holste, bei den ersten Rheinstaatsbestrebungen 1918/19 habe es sich um ein „rheinisch-reaktionäre[s]“ Unterfangen gehandelt. Er schreibt: „Ganz gleich, welche Ziele die Akteure verfolgten, ob es ihnen nur um eine Abspaltung von Preußen oder die Sezession vom Reich ging, all diese Vorhaben mussten den ge2327 Der Tagesspiegel v. 3. Dezember 2007 („Verwirrte Gedanken“), abrufbar unter: http:// www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/politisches-buch-verwirrte-gedanken/1111082.html, zuletzt überprüft am 22. 03. 2018.
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ordneten Übergang zur Demokratie [!], die Rückkehr zum Frieden und die Versorgung der Bevölkerung weiter erschweren.“2328 Im Gegenteil ist die Aufwertung der regionalen Selbständigkeit und Selbstverwaltung ein geradezu modernes Konzept, gerade auch in den Diskussionen rund um die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Mit loyalem Respekt vor der ungebrochenen staatlichen Souveränität des Deutschen Reiches, entwickelten Trimborn und die Rheinstaatsanhänger das Konzept der „analogen Anwendung“ des Selbstbestimmungsrechtes der Völker im Innern und kamen auf diesem Wege zu dem Ergebnis, welches man heute als inneres bzw. föderales Selbstbestimmungsrecht zu bezeichnen pflegt. Die Berufung auf das interne Selbstbestimmungsrecht stand in der Kontinuität der staatserhaltenden, westlichliberalen Ideengeschichte und hatte insbesondere nicht die Absicht, den Rheinstaatskonflikt auf die Ebene des internationalen Rechts zu heben, sondern dem Selbstbestimmungsrecht der Rheinländer sollte in den Verfassungsberatungen ab Februar 1919 entsprochen werden. Gleichwohl stieß die innenpolitisch-demokratische Konzeption vom rheinischen Selbstbestimmungsrecht im Deutschen Reich auf Verwirrung und letztlich Ablehnung, weil das deutsche Verständnis vom Selbstbestimmungsrecht objektiv, nationalstaatsbezogen und außenpolitisch orientiert gewesen ist und mit dem inneren Selbstbestimmungsrecht wenig anzufangen wusste. Dabei musste es bereits unmittelbar nach dem Weltkrieg und dem Friedensschluss nicht mehr bloß um Separatismus, Föderalismus oder Minderheitenschutzregime gehen, sondern in der Rheinstaatsinitiative zeigte sich, dass Selbstbestimmungslösungen vielfältiger sein konnten, als dies anfänglich – das Selbstbestimmungsprinzip war gerade erst als neues politisches Paradigma in die internationale Politik eingeführt worden – wahrgenommen worden ist. Eigentümlich ist die erste Rheinstaatsbewegung auch insofern, als sie betont regionalistisch argumentierte und ein etwaiges Selbstbestimmungsrecht nicht mehr bloß objektiv-ethnisch oder ausschließlich subjektivistisch begründete, sondern die Selbstbestimmung einer Region in den Vordergrund rückte und das Selbstbestimmungsrecht regional-demokratisch herzuleiten versuchte. Man kann daher mit Recht behaupten, dass sich in der frühen Rheinstaatsinitiative Ursprünge dessen finden lassen, was man in der moderneren Forschung als „Selbstbestimmungsrecht der Regionen“2329 bzw. „regionale Selbstbestimmung“2330 bezeichnet. Dann schreibt über dieses Selbstbestimmungsrecht im Jahr 1993: „Erst nach dem Ende der Epoche des Nationalismus und des autonomen Nationalstaats in Westeu2328
Holste, Warum Weimar? Wie Deutschlands erste Republik zu ihrem Geburtsort kam (Fn. 30), S. 55 und 60. 2329 Dann, Das Selbstbestimmungsrecht in Westeuropa, in: Politische Studien 6 (1993), S. 9. 2330 Esterbauer, Regionalistische Leitsätze, in: Europa Ethnica 36 (1979), S. 95 ff.
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ropa ist das Selbstbestimmungsrecht der Regionen zu einer allseits respektierten Maxime der Politik geworden. Es hat sich in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts von einer Forderung einzelner ethnischer Regionen zu einem Strukturprinzip der föderalen Umgestaltung von Nationalstaaten entwickelt. Aus der Selbstbestimmung einzelner, ethnisch definierter Regionen wurde die Selbstbestimmung aller Regionen eines Staates. Der belgische Verfassungswandel seit 1969 und die spanische Verfassungsreform von 1978 sind die wichtigsten Beispiele für diese neuere Tendenz.“ Für die Rheinlandbewegung kam vor diesem Hintergrund erschwerend hinzu, dass man zwar stets selbstsicher vom „Rheinland“ oder von den „Rheinlanden“ als Region ausging, es bis zum heutigen Tage jedoch nicht letztgültig geklärt ist, ob das Rheinland überhaupt ein hinreichend gefestigter und abgrenzbarer Kulturkreis ist. So diskutiert man noch heute darüber, ob auch die Stadt Duisburg und der Kreis Wesel zur neu entstehenden „Metropolregion Rheinland“ mit ihren immerhin achteinhalb Millionen Einwohnern gehören sollen.2331 Auch waren die Rheinländer nicht eindeutig ethnisch bestimmt wie etwa Flamen, Katalanen, Korsen, Basken, Waliser oder Iren, stattdessen kann man die Rheinstaatsbewegung durchaus an den Beginn der frühen Entwicklung dieser „allseits respektierten Maxime der Politik“ setzen, die schließlich auch zum politischen Schlagwort des „Europas der Regionen“ führt. Denn das Europa der Subsidiarität, der Volksnähe und der regionalen Identitäten soll eben nicht oder zumindest nicht ausschließlich ethnisch definiert sein. Vielmehr nimmt ein regionalistisches Europa erklärtermaßen gerade auf regionale Kultur, Brauchtum, Geschichte, Konfession, Wirtschaft und insbesondere Zusammengehörigkeitsgefühl Rücksicht. Gerade dem historisch gewachsenen Rheinland kommt in der heutigen Zeit eine bedeutende Rolle in der Fortentwicklung europäischer Strukturen zu und der Rhein als großer europäischer Strom ist Kultur- und Identitätsstifter schlechthin. Aus diesem Blickwinkel erscheint die frühe Rheinstaatsinitiative als – im besten Sinne – europäische „Urahnin“, wenn nicht sogar als „Ahnherrin“ eines modernen Europas der Regionen und Metropolregionen sowie eines vitalen und evolutiven Strukturprinzips der Subsidiarität.
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Bonner General-Anzeiger v. 12. Januar 2017, S. 26 („Eine Region ohne Umrisse“).
Quellen- und Literaturverzeichnis I. Ungedruckte Quellen und Archivalien Bundesarchiv Berlin (BArch Berlin) – R 58 (Reichssicherheitshauptamt) – R 3003 (Oberreichsanwalt beim Reichsgericht) Bundesarchiv Koblenz (BArch Koblenz) – ZSG 105 (Sammlung Otto Jung betr. Rheinlandbesetzung sowie zum rheinischen und pfälzischen Separatismus) – N 1641 (Nachlass Bernhard Falk) (Digitalisiertes) Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK) – Best. 902/253 (Konrad Adenauer, 1917 – 1933, Rheinlandbewegung) – Best. 1256 (Nachlass Karl Trimborn, 1880 – 1921) Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) – Best. 700/012 (Besatzungszeit und Separatismus) – Best. 700/023 (Stephan Weidenbach, 1866 – 1937, Lehrer und Stadtarchivar in Andernach)
II. Gedruckte Quellen und Literatur Auf eine getrennte Auflistung von gedruckten Quellen und Forschungsliteratur wird verzichtet, um dem Leser die Auffindung der bibliographischen Angaben zu erleichtern. Sammelbände werden nicht gesondert angegeben. Herangezogene Zeitungen werden vorab zusammengefasst aufgeführt. Zur Entlastung des Fußnotenapparates werden – soweit der Titel nicht vollständig wiedergegeben ist – für Zitate nur die Namen der Autoren, gefolgt von einem oder mehreren Titelstichworten, verwandt. Allgemeine Rundschau, Berliner Tageblatt, Coblenzer Zeitung, Der Spiegel, Deutsche Allgemeine Zeitung, Deutsche Reichszeitung, Deutscher Reichs- und Staatsanzeiger, Die Zeit, Düsseldorfer Tageblatt, Düsseldorfer Zeitung, Echo, Essener Volks-Zeitung, Frankfurter Zeitung, Germania, Koblenzer Volkszeitung, Kölner Tageblatt, Kölnische Volkszeitung (KV), Kölnische Zeitung, L’Humanité,
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Rheinische Volkszeitung, Rheinische Zeitung, The Times, Tremonia, Trierische Landeszeitung, Trierischer Volksfreund, Vorwärts. Altenberg, Oskar, Gebietsänderungen im Innern des Reichs nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 173 ff. Anonym, Achte Kriegstagung des Reichstags, in: Deutscher Geschichtskalender 32 (1917). Anonym, Die rheinische Republik und der „Fall Kastert-Kuckhoff“, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 164 (1919), S. 34 ff. Anonym, Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?, in: Der Spiegel Nr. 40 (1961), S. 61 ff. Anonym, Rheinländer, wachet auf! Zur Errichtung eines Rheinischen Deutschen Bundesstaates, Köln 1919. Anschütz, Gerhard, Das preußisch-deutsche Problem. Skizze zu einem Vortrag, Tübingen 1922. Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Neudruck Aalen 1987. Anschütz, Gerhard/Meyer, Georg, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 6. Aufl., Leipzig 1905. Apelt, Willibalt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl., München 1964. Armbruster, Hubert, Selbstbestimmungsrecht, in: Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., Bd. 3, Berlin 1962, S. 250 ff. Arns, Günter, Erich Koch-Wesers Aufzeichnungen vom 13. Februar 1919, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), S. 96 ff. Arzinger, Rudolf, Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart, Berlin 1966. Barth, Boris, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914 – 1933, Düsseldorf 2003. Bauer, Otto, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907. Becker, Jean-Jacques, Frankreich und der gescheiterte Versuch, das Deutsche Reich zu zerstören, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, S. 65 ff. Becker, Walter, Fo¨ deralistische Tendenzen im deutschen Staatsleben seit dem Umsturze der Bismarckschen Verfassung, Breslau 1928. Berger, Johannes, Politische Vertretung nationaler und ethnischer Minderheiten in Zentral- und Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1 (2001), S. 35 ff. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817 – 1934/38. 14. November 1918 bis 31. März 1925, Hildesheim/ Zürich/New York 2002. Beseler, Georg, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 4. Aufl., Berlin 1885. Bilfinger, Carl, Der Reichsrat, § 46, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Tübingen 1930, S. 545 ff.
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Sach- und Personenverzeichnis Ablaß, Bruno 461 Acton, John Lord 318 Adenauer, Konrad 18, 21 ff., 30, 42 ff., 60, 66 ff., 86 ff., 103, 106 f., 112, 116 f., 119, 124 ff., 137, 142, 172 f., 177 ff., 187, 193, 205, 210 f., 213, 219 f., 223, 230 f., 236 f., 238, 253 f., 262, 267, 409, 471, 489 f., 494, 496 ff. Ahn, Albert 120, 125, 127, 129 Åland-Inseln 271, 277, 282, 292, 297, 364, 365 ff., 371, 375 f., 391 Albert, Heinrich 173 Anschütz, Gerhard 265, 376, 403 f., 423, 448, 454, 456, 462, 467, 471, 498 Apelt, Willibalt 215, 261, 441 f., 446, 448, 466 Arndt, Ernst Moritz 379 Asquith, Herbert Henry 330 Autonomie 46, 59, 77, 156, 207, 213, 227, 259, 263 f., 270 ff., 287, 291 ff., 312, 321, 327 f., 334, 337, 340 f., 346 f., 359, 364, 367, 371 ff., 383, 392, 398, 416, 462, 481 ff. Bachem, Carl 44 Bachem, Franz Xaver 43, 45, 117, 120, 124 f., 127, 162 Bachem, Robert 43, 88, 162 Baden, Prinz Max von 28, 31, 54 Bader, Paul 460 Barth, Emil 32, 36 Barth, Theodor 421 Batocki-Friebe, Adolf von 78, 406, 471 Bauer, Otto 327, 334, 375 Becker, Carl Heinrich 223 Becker, Jean-Jacques 153 Bell, Johannes 130, 135, 185, 191, 207, 223 Beseler, Georg 272 Beyerle, Konrad 438, 441, 471 Bilfinger, Carl 462 Bismarck, Otto von 211, 214, 417, 492
Bluntschli, Johann Caspar 320, 324 Bodin, Jean 273 ff. Braß, Otto 66 Brauns, Heinrich 135, 191, 223, 445 Breitscheid, Rudolf 60, 66 ff. Brüggemann, Fritz 14, 61, 64, 71, 81, 83, 95, 99 f., 123, 129 f., 134, 136, 148, 152, 163, 170, 188, 191 f., 194, 198, 227, 230 ff., 244, 250 ff., 264, 306, 308 Bucharin, Nikolai 339 Buchegger, Karl 288 ff., 465 Busch, Wilhelm 193 Churchill, Winston 330 Clemenceau, Georges 120, 152, 156, 158, 227 ff. Clive, George Sidney 98, 172 f., 177, 183, 205 Colshorn, Hermann 441 f. Dahlen, Johann 156, 160, 171 f., 198 f., 386 David, Eduard 41, 114 Dittmann, Wilhelm 32, 36 Dörge, Heinrich 271 ff., 293, 316 f., 340 Dorten, Hans Adam 101 ff., 116 ff., 123, 129, 132, 137, 152 ff., 166 f., 173, 181, 188, 194 ff., 208 ff., 217, 219 f., 232, 262, 265, 302 f., 305, 374, 380, 386, 428, 444, 494 ff. Drews, Wilhelm 211 ff., 481 ff. Ebert, Friedrich 17, 31 f., 35, 39, 76 f., 79, 214, 411, 426, 430 Eckert, Christian 81, 106, 251 Elberfelder Besprechung 60, 64 ff., 243 Engels, Friedrich 333, 337, 340 Erdmann, August 42 Erzberger, Matthias 33, 37, 41, 63, 130, 135, 175, 373 Eucken-Addenhausen, Georg von 141
Sach- und Personenverzeichnis Falk, Bernhard 50, 66, 88, 98, 108, 134, 178 ff., 193, 253 f., 261, 307, 450, 473 f., 477 Farwick, Wilhelm 97 Faßbender, Martin 139, 145, 147, 248, 253, 267 f., 402, 404 Fayolle, Emile 154 f., 196 Fergusson, Charles 98 Fichte, Johann Gottlieb 317 Foch, Ferdinand 33, 83 f., 153 f., 156, 158, 184, 196 f., 199, 227, 229, 263 Föderalismus 18 f., 59, 74, 113, 211, 213, 252, 270 f., 279, 281, 283 ff., 286 ff., 385, 391 f., 399, 402, 407, 409 ff., 430, 461, 466, 470, 473, 483, 485 ff., 502 f. François-Poncet, André 88 Franz Joseph I. 224 Freund, Friedrich 66, 431 ff., 471, 480 Friedrich Wilhelm III. 26 Froberger, Josef 44 ff., 66, 68 ff., 105, 117, 120, 122, 125 ff., 129, 159 ff., 172 ff., 187, 195, 221, 229, 250 f., 254 Gerber, Hans 278 f., 284 f., 290, 388 ff. Gierke, Otto von 273, 389 Giese, Friedrich 455 f. Gollwitzer, Heinz 19 Görres, Joseph 26 Grey, Edward 332, 342 Gröber, Adolf 136, 140 Groener, Wilhelm 35 Haase, Hugo 32, 36 Haenisch, Konrad 245 f. Hankamer, Wilhelm 149 Hartmann, Felix von 243 Hauptmann Rostan 159 f., 169, 172, 183 Haußmann, Conrad 428, 440, 488 Heile, Wilhelm 442, 449 f., 452 Heilige Allianz 318 Heine, Wolfgang 140, 284, 431, 442 f., 453, 479 ff. Herder, Johann Gottfried 317 Herold, Carl 185 Heß, Joseph 98, 136, 146 f., 180, 185, 187, 189 Heuss, Theodor 362, 373 Hillgruber, Christian 316, 319, 352
521
Hirsch, Paul 80, 143 f., 146, 184, 431 f., 444 Historische Rechtsschule 317 Hitler, Adolf 103 f., 487 Hobbes, Thomas 315 Hochverrat 21, 47, 69, 162, 168, 170, 174 ff., 187, 191 f., 202 ff., 220, 260, 267, 496, 498 Hoeber, Karl 43 ff., 53, 57 ff., 61, 70, 81, 105, 117, 120, 125, 126 f., 249 ff. Hoffmann, Adolph 239 ff., 258 House, Edward Mandell 227 f., 357 Hudson, Manley O. 360 Isensee, Josef
378, 392
Jarres, Karl 86, 212 Jellinek, Georg 275, 277 ff., 328 Jörg, Peter Joseph 55 f. Just, Leo 21 Kaas, Ludwig 98, 132, 135, 140, 173, 179 f., 187, 189, 194, 207, 214, 221, 249, 283, 449 f., 452, 471, 477, 489 Kastert, Bertram 43 ff., 51 ff., 86, 112, 117, 120 ff., 146 ff., 157, 160 ff., 168, 173, 178 ff., 185 ff., 190, 220 f., 249, 252, 256, 289, 489 Kaufmann, Erich 430 Kautsky, Karl 341 Kennan, George F. 13 Kirchem, Peter 139, 231, 236, 242 f. Klostermann, Bernhard 231 Kölnische Volkszeitung 42 ff., 52 ff., 122 ff., 232 ff., 239 ff., 396 ff. Kraemer, Klaus 153, 161, 188, 189, 200, 235 Krekel, August 198 Kuckhoff, Karl-Joseph 81, 100, 147, 152, 160 f., 164, 168, 173 ff., 181, 185 ff., 190, 195, 220 f., 250, 283, 286, 289, 291, 304, 308, 380 Laband, Paul 275 ff., 398 Landsberg, Otto 32 Lansing, Robert 348 ff. Lassalle, Ferdinand 341 Leinert, Robert 144
522
Sach- und Personenverzeichnis
Lenin, Wladimir Iljitsch 332 ff., 349 ff., 370 f. Liebe, Georg 274 Liebknecht, Karl 34, 69 Liggett, Hunter 195 Lillers, Edmond de 102, 175 Lippmann, Walter 357 Lloyd George, David 227, 229, 356 Locke, John 311, 315 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm 35 Luxemburg, Rosa 34, 37, 69 Major Kroeger 117 ff. Mancini, Pasquale Stanislao 319, 322 Mangin, Charles 152 ff., 173 ff., 181, 185, 187, 194 ff., 199 f., 203 f., 209, 220 ff., 259 f., 386, 444, 495 Marx, Karl 333, 340 Marx, Wilhelm 54 ff., 66, 69 ff., 223, 249, 253 Masaryk, Thomas 13 Matthes, Joseph Friedrich 265, 268, 500 Mazzini, Giuseppe 319 Meerfeld, Johannes 50, 66, 81, 83, 97 f., 108, 134, 140 ff., 178, 251 ff., 442, 474 Meinecke, Friedrich 74, 378, 387, 389, 397 ff., 403 ff., 420, 471 Meister, Karl Wilhelm von 199 Metternich, Clemens Wenzel Lothar Fürst von 26 Michel, Edouard 196 Moldenhauer, Paul 40, 46, 95, 113, 124 f., 146 ff., 153, 170, 209, 223, 233, 248 f., 252, 286, 424, 472 Mommsen, Theodor 323 Mönikes, Edmund 84, 112, 129, 152, 156, 198, 200, 386 Mönnig, Hugo 45, 66, 120, 254 Montesquieu, Charles Louis de 311 Müller, Adam 317 Müller, Hermann 207 Müller, Karl 46, 50, 188 Müller-Meiningen, Ernst 343, 356, 361, 372 Napoleon Bonaparte Napoleon III. 224
212, 224
Nationalitätenprinzip 130 ff., 306 ff., 324, 327, 334, 338, 355 Neugliederungspläne 17, 76, 80, 264 f., 356, 401, 404, 425, 463 ff., 472, 499 f. Noske, Gustav 36, 41 Noyes, Pierrepont Burt 152 Oberst Pineau
153, 198 ff.
Payer, Friedrich von 403 f. Personalitätsprinzip 327 f., 336 Pfizer, Paul 74, 420 f. Philipp, Albrecht 450 Pichon, Stéphen 155 Preuß, Hugo 32, 73 ff., 136 ff., 411 ff., 428 ff., 448 ff., 463 ff. Provinzialismus 18, 75, 211, 270, 284 ff., 292 ff., 461, 502 Rat der Volksbeauftragten 32, 34 ff., 64 f., 69, 76 f., 79 f., 98, 116, 241, 247, 258, 262, 411 f., 428 ff. Ratibor und Corvey, Karl Prinz von 66, 68 Redslob, Robert 277 ff. Renan, Ernest 326, 378 f. Renner, Karl 296, 327 f., 333 f., 371, 377 f. Roedern, Siegfried Graf von 471 Rosen, Friedrich 141 Rousseau, Jean-Jacques 311 ff. Salm, Matthias 112, 152, 160, 173, 178, 194 f., 198, 200 Scheidemann, Philipp 32, 39, 130, 132, 134 f., 169, 172 f., 177 ff., 190, 199, 374 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 317 Schiffer, Eugen 32 Schmittmann, Benedikt 98, 125, 147, 194, 233 f., 289 Schücking, Walther 328 Schwander, Rudolf 276 Schwink, Otto 162 ff., 171 f., 174, 177, 181 Sechs-Punkte-Erklärung 116 ff., 132, 155, 303, 495 Selbstbestimmungsrecht der Völker – allgemein 116 ff., 122 ff., 295 ff., 484 ff. – äußeres/externes 305, 315, 323, 381 f., 385 – defensives 388 f., 391
Sach- und Personenverzeichnis – föderales 290, 383 ff., 503 – inneres/internes 371, 381 ff., 389, 503 – konstitutionelles 386, 390 – offensives 388 f., 391 Separatismus 18, 20, 42 ff., 101 ff., 130 ff., 145 ff., 152 ff., 172 ff., 185 ff., 194 ff., 259 ff., 484 ff., 496 Sinnecker, Willi 22 Smeets, Josef 216 f., 262, 265, 268, 494, 496 f., 500 Solf, Wilhelm Heinrich 32, 75 f. Sollmann, Wilhelm 30, 50, 66, 98, 108, 134, 151, 162, 179 f., 214, 223, 253 f., 261, 449, 469, 477 Souveränität 138, 208, 260, 270, 273 ff., 280 f., 285, 289, 296, 299, 314 f., 322, 324 f., 328 f., 332, 335, 345, 357, 366 ff., 375, 381, 398, 400, 414, 424, 503 Spartakusbund 34 f. Springer, Max 155, 222 Stalin, Josef W. 335 ff. Starck, Karl von 45, 66, 162 Stegerwald, Adam 63, 135, 193, 253, 439, 474 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 212, 387 Stein, Johann Heinrich von 87, 120, 125, 127 Stier-Somlo, Fritz 124, 128 f., 329, 400, 408 Stinnes, Edmund 69 Stockmar, Christian Friedrich Freiherr von 420 Stresemann, Gustav 439, 473 Sybel, Heinrich von 330 Talleyrand, Charles-Maurice de 26 Tardieu, André 120, 228 Territorialplebiszit 303, 309, 312, 356, 359, 423, 451, 454, 457, 459 Thoma, Richard 278 Thyssen, August 69 Thyssen jun., Fritz 69 Tirard, Paul 14, 33 Trautmann, Oskar 182 f. Treitschke, Heinrich von 413
523
Trimborn, Carl 52 ff., 64 ff., 130 ff., 136 ff., 177 ff., 247 ff., 297 ff., 440 ff. Troeltsch, Ernst 488 Tuckermann, Walter 410 Ulitzka, Carl
452
Verfassungsausschuss 136 ff., 440 ff. Versailler Vertrag 222 f., 225, 231, 299, 352, 355, 357 f., 363, 369, 372, 448, 468, 501 Vierzehn Punkte 28, 84, 90, 280, 307, 342 ff., 347, 352 ff., 362 Vogel, Gustav 83, 112 Vogel, Walther 403 ff. Vögler, Albert 66, 69 Völkerbund 90, 160, 163 ff., 172, 229, 357, 365 ff. Volksabstimmung 79, 95 f., 111 f., 115 f., 120 f., 122 ff., 134, 139, 141 f., 203, 209, 216, 219, 262, 299, 302 f., 326 f., 350, 356 ff., 365 f., 372, 401, 423 f., 432, 441, 449, 451 ff., 466, 470, 478 Waffenstillstand 15, 28, 30, 33 f., 40, 64, 81, 89 f., 151, 204 f., 207, 217, 260, 342, 354 f., 372, 396, 398, 474, 488, 490, 492 Weber, Max 74, 296, 373, 411 f., 421 Weidenbach, Stephan 47 Weidtmann, Victor 98, 108 Westdeutscher Politischer Ausschuss 86 ff., 108 f., 116, 119 f., 121 f., 123 ff., 128, 140, 149, 174 f., 177 ff., 185, 189 f., 193, 206 f., 218 ff., 388, 496 Wiener Kongress 27, 235, 318, 408, 479 Wilhelm II. 28, 31 Wilson, Woodrow 28, 39, 84, 90, 139, 227, 229, 280, 298 ff., 307, 331 f., 336 f., 342 ff., 353 ff., 359 ff., 370 f., 386, 474 Wissell, Rudolf 36 Wolzendorff, Kurt 328 f. Zehnhoff, Hugo am 223 Zentrumspartei 28 ff., 42 ff., 52 ff., 130 ff., 145 ff., 185 ff., 247 ff., 428 ff.