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German Pages [321] Year 2019
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Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung
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Kolja Koeniger / Jens Monsees (Hg.)
Aspekte kirchlicher Selbstgestaltung: Zum einen geht es um die Frage nach den Gestalten von Kirche – genauer: um die Sozialformen, in denen sich Kirchen und Gemeinden als vital erweisen. Zum anderen ist die Frage aufgerufen, auf welche Weise gestaltet wird, was also zur Leitung und Gestaltung einer vitalen Kirche gegenwärtig und zukünftig zu tun nötig ist. Mit anderen Worten: Es geht um Re-Formationen der Kirche als Ganzer und von Gemeinden am je gegebenen Ort. Der Band dokumentiert die Beiträge des gleichnamigen internationalen Symposiums des Instituts zur Erfor-
Kirche[N]GESTALTEN
Die Beiträge des Bandes diskutieren den Wechselschritt zweier zu unterscheidender, aber nicht zu trennender
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Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung
schung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald im Mai 2018.
Kirche[N]Gestalten
Die Herausgeber Kolja Koeniger ist Pfarrer der Westfälischen Landeszur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald. Jens Monsees, Pastor der Hannoverschen Landes kirche, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald.
Kolja Koeniger / Jens Monsees (Hg.)
kirche und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
Re-Formationen von Kirche und Gemeinde in Zeiten des Umbruchs
ISBN 978-3-7887-3398-8
www.v-r.de
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BEG
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG Herausgegeben von Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann
Kolja Koeniger / Jens Monsees (Hg.)
KIRCHE[N]GESTALTEN Re-Formationen von Kirche und Gemeinde in Zeiten des Umbruchs
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Breklumer Print-Service, Breklum Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9074 ISBN 978-3-7887-3400-8
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Michael Herbst „Bleibt alles anders“ Kirchentheoretische Landmarken für eine Kirche im Wandel . . . . . . . . . .15 Christel Gärtner Gesellschaftlicher Wandel und kulturelle Dynamiken in religionssoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 Benjamin Schliesser Reformation als Resonanz Kontinuität und Wandel in neutestamentlicher Perspektive . . . . . . . . . . .55 Heinrich Bedford-Strohm Aktuelle Herausforderungen für Kirche[n]gestalten aus kirchenleitender und systematisch-theologischer Perspektive . . . . . . . .77 Ulrich H.J. Körtner Kirche in der Diaspora Ekklesiologische Perspektiven für eine Kirche zwischen Umbruch und Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Pete Ward One Love Manchester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127 Thomas Schlegel One Love and Many Meanings Eine Response auf Pete Ward . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 Matthias Sellmann Dienstleistung an artikulierter Religionsfreiheit Ein Diskussionsvorschlag zur Frage nach der präzisen Sendung der Kirche heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145
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Inhalt
Gerhard Ulrich Freiheit in Bindung und Verantwortung Eine Response auf Matthias Sellmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 Stefan Paas Leadership in Mission Church Governance in an Age of Change . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .183 Sarah Dunlop ‘Sense-Making’ Leadership in a Post-Christendom Church Response to Stefan Paas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .201 Steffen Fleßa Change Management und Innovation Beharrung, Krisen und Chancen in Unternehmen und Kirchen . . . . . . . .205 Günter Faltin Kirchliches (Corporate) Entrepreneurship? Unternehmerisches Handeln im ‚Traditionsunternehmen‘ Kirche . . . . . .237 Sabrina Müller Kirchliches Entrepreneurship – Apostolisches Handeln der Menschen, die sich Kirche nennen Eine Response auf Günter Faltin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .247 Graham Tomlin The Church of the Future . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .253 Antje Jackelén Kirchliche Leitungsverantwortung im Spannungsfeld von Tradition und Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .271 Hans-Jürgen Abromeit et spiritus sancti – Geistliche Herausforderungen kirchlicher Re-Formationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .285 Michael Herbst Und nun, Ecclesia? Eine zusammenfassende Betrachtung zum Symposium „Kirche[n]gestalten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .305 Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .319
Vorwort
„Kirche[n]gestalten – Re-Formationen von Kirche und Gemeinde in Zeiten des Umbruchs“. Unter dieser Überschrift lud das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald zu einem wissenschaftlichen Symposium ein. Vom 24. bis zum 26. Mai 2018 kamen ca. 170 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem In- und Ausland, aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen sowie Kirchenvertreterinnen und -vertreter verschiedener Konfessionen im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald zusammen, um über Fragen zukünftiger Gestaltung von Kirche zu debattieren. Der Titel „Kirche[n]gestalten“ ist bewusst spielerisch gehalten und zielt auf den Wechselschritt zweier zu unterscheidender, aber nicht zu trennender Aspekte kirchlicher Selbstgestaltung: Denn es geht zum einen um die Frage nach den Gestalten von Kirche – oder anders gesagt: um die Frage nach den Sozialformen, in denen sich Kirche und Gemeinden als vital erweisen. Zum anderen ist aber auch die Frage aufgerufen, auf welche Weise gestaltet wird, was also zur Leitung und Gestaltung einer vitalen Kirche gegenwärtig und zukünftig zu tun nötig ist. Mit anderen Worten: Es geht um Re-Formationen der Kirche als Ganzer und von Gemeinden am je gegebenen Ort. Der Anklang an das noch nicht lang zurückliegende Reformationsjubiläum ist dabei alles andere als zufällig: Das Motto ecclesia semper reformanda gilt auch nach dem Reformationsjubiläum 2017 ungebrochen, nicht nur in prinzipiell theologischer, sondern – angesichts der Tatsache, dass sich die Kirchen europaweit und durch die Konfessionen hindurch in einer Phase der Neuorientierung befinden – auch in empirischer Hinsicht. Der gesamtgesellschaftliche Kontext, in dem sich kirchliche Selbstgestaltung zu bewähren hat, wird in der Titelformulierung als Zeit des Umbruchs charakterisiert. Sie ist geprägt von Phänomenen wie dem demografischen Wandel, Urbanisierungs- bzw. Peripherisierungsprozessen sowie Migrationsbewegungen. Zu diesen treten die in der religionssoziologischen Forschung beschriebenen und diskutierten Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse hinzu.1
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Vgl. etwa Thomas Luckmann, „Transformations of Religion and Morality in Modern Europe“, in: Social Compass 50 (2003), 275–285 und jüngst Detlef Pollack und Gergely Rosta, Religion in der Moderne, Frankfurt a. M. 2015.
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Vorwort
Alle diese Transformationsprozesse fordern die Kirche im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und ihre Tätigkeitsfelder heraus und nötigen die Praktische Theologie zur wissenschaftlichen Erforschung entsprechender Veränderungen. Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt dafür stellt die Kirchentheorie2 dar, in deren Rahmen die Einschätzung, dass die Kirche in einem Wandlungsprozess von einer „staatsanalogen Institution“ zu einer „zivilgesellschaftlichen Organisation“ begriffen ist,3 gegenwärtig weitgehend konsensfähig zu sein scheint. In Deutschland schlägt sich dieser Wandel phänomenologisch nieder in Reformprozessen (besonders prominent: „Kirche der Freiheit“ der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2006), Fusionen von Landeskirchen (z. B. in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, 2012), Pfarrbildprozessen (etwa „Kirche in der Dienstgemeinschaft“ der Evangelischen Kirche von Westfalen, 2016, sowie „Profil und Konzentration“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 2017), oder gänzlich neuen Organisationsmustern (z. B. den „Erprobungsräumen“ der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland). Innerhalb der universitären Praktischen Theologie werden diese Phänomene mittlerweile intensiv reflektiert und kritisch begleitet.4 Die Frage jedoch, wie diese Wandlungsprozesse als proaktive Gestaltungsprozesse gelingen können, ist Gegenstand einer breiten fachwissenschaftlichen Debatte, welche die Grenzen der Konfessionen überschreitet. Im Blick auf die Gestaltungsoptionen und Sozialformen von Kirche haben sich die letzten beiden Jahrzehnte als ausgesprochen dynamisch erwiesen. So lässt sich mit der ursprünglich aus dem Anglikanischen Kontext stammenden Idee der „Fresh Expressions of Church“ ein gänzlich neues Feld ekklesialer Gestaltwerdungen ausmachen, das auch im deutschsprachigen ökumenischen Raum zunehmend rezipiert wird.5 Zudem gewinnt die „Region“ als Ort kirchlicher Kooperation bei gleichzeitiger Neuformierung der lokalen Kirchenentwicklung im Sinne „regiolokaler“ Entwick-
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Vgl. Reiner Preul, Kirchentheorie, Berlin u. a. 1997, Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, Gütersloh 2011, Uta Pohl-Patalong/Eberhard Hauschildt, Kirche, Gütersloh 2013, Christian Grethlein, Kirchentheorie, Berlin u. a. 2018. 3 Vgl. Christian Grethlein, „Probleme hinter den Bemühungen um Kirchenreform“, in: PrTh 48 (2013), 36–42. 4 Vgl. insbesondere Michael Herbst, Kirche mit Mission, Neukirchen-Vluyn 2013 und ders., Ausbruch im Umbruch, Neukirchen-Vluyn 2018, sowie Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010. 5 Vgl. z. B. PTh 1/2017, wo unter dem Titel „Der Zusammenhang von Pfarrberuf und Kirchenentwicklung“ die Beiträge der zweiten Deutsch-Schweizerischen „Konsultation Kirchentheorie“ vom September 2016 in Zürich dokumentiert sind.
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lung zunehmend an Bedeutung.6 Die hier angedeutete ökumenische Dimension der Erforschung, Erprobung und Reflexion von „Kirche[n]gestalten“ spielt für den vorliegenden Tagungsband eine wichtige Rolle. Die Beiträge und Diskussionen belegen, dass eine konstruktive Ökumene von der Kooperation lebt und nicht zwingend beim Konsens beginnen muss. Der Tagungsband dokumentiert darum ein gelungenes Beispiel für eine „Ökumene der Sendung“7. Weitere Spezifika der Fachtagung waren ihre Interdisziplinarität und Internationalität. Es wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Theologie, Sozialwissenschaft und Innovationsforschung sowie kirchenleitende Personen aus Großbritannien, den Niederlanden, Österreich, Schweden, der Schweiz und Deutschland zu einem kritisch-konstruktiven Fachdiskurs eingeladen. Kernstück der Tagung waren die wissenschaftlichen Fachbeiträge, von denen zwei als öffentliche Abendvorträge auch über den Kreis der Tagungsteilnehmer hinaus Interesse fanden. Am zweiten Tagungstag bot das Format #nachgehakt, bei dem auf einige der Hauptvorträge eine fachkundige Response erfolgte,8 die Möglichkeit zur intensiveren Diskussion der angestoßenen Themen. Ein besonderer Aspekt bestand in der Dokumentation der Beiträge der Tagung mit der Methode des „Visual Recording“, bei dem während eines Vortrags eine großflächig gestaltete, bildliche Aufzeichnung der inhaltlichen Schwerpunkte erfolgte. Die so entstandenen Plakate waren während des ganzen Symposiums im Foyer des Veranstaltungsortes zugänglich und ermöglichten dadurch sowohl eine Rekapitulation des zuvor Gehörten als auch das weitergehende Gespräch darüber. Diese Beiträge werden ebenfalls in dem vorliegenden Band dokumentiert und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Ergebnisse des „Visual Recording“ lassen sich überdies auch online einsehen.9
6 So etwa in Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe, Regiolokale Kirchenentwicklung, Dortmund 2017. Vgl. dazu auch den Arbeitsprozess der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) zum Konzept einer „mixed economy“, welches seinen Ursprung in der Church of England hat. 7 Maria Herrmann, „Merkt ihr es nicht?“. Fresh X und die Ökumene der Sendung, in: Hans-Hermann Pompe u. a. (Hg.), Fresh X, Gütersloh 2016, 116–122. 8 Die Responses im Rahmen von #nachgehakt werden im vorliegenden Band ebenfalls veröffentlicht. 9 Siehe QR-Code bzw. https://ieeg.uni-greifswald.de/ressourcen/texte/weitere-downloads/sym�posium-2018-kirchengestalten-galerie/ – aufgesucht am 25. Oktober 2018.
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Vorwort
Die inhaltliche Ausrichtung und Gestaltung der Fachtagung lag in den Händen ihres wissenschaftlichen Leiters Prof. Dr. Michael Herbst und einer Arbeitsgruppe des IEEG, zu der neben den beiden Herausgebern des vorliegenden Bandes auch die wissenschaftlichen Mitarbeiter Felix Eiffler und Patrick Todjeras zählten. Nachfolgend geben wir einen kurzen inhaltlichen Überblick über die einzelnen Beiträge des Symposiums: Michael Herbst eröffnete als Direktor des IEEG die Tagung mit seinem Beitrag „Bleibt alles anders. Kirchentheoretische Landmarken für eine Kirche im Wandel“. Darin erkundet er – den Spuren Caspar David Friedrichs folgend – den Weg einer Kirche zwischen Abbruch und Lebendigkeit. Ihren bestimmungsgemäßen Ort findet sie als Kirche „unter dem Kreuz“, in der sich lebendige, mündige Christen für die Intensivierung von Gemeinschaft und für die „regiolokale“ Zusammenarbeit engagieren. Christel Gärtner zeichnet aus religionssoziologischer Perspektive den „gesellschaftlichen Wandel und kulturelle Dynamiken“ seit 1900 nach. Der Verlust der „gesellschaftlichen Deutungshoheit“ und der „identitätsstiftenden Kraft“ der Kirchen in Deutschland zugunsten eines eher säkularen Selbstverständnisses prägt die Gesellschaft und stellt insbesondere mit Blick auf den Traditionsabbruch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine besondere Herausforderung dar. Anhand einer qualitativen Studie bringt Gärtner mögliche gegenwartsadäquate Zugänge zu religiöser Selbst- und Lebensdeutung unter Jugendlichen ins Gespräch. Benjamin Schliesser rekonstruiert die formative Phase der ersten Christengemeinden und lässt die neutestamentliche Vielschichtigkeit der „Kirchengestalten“ der Anfangszeit anschaulich werden. Schliessers Beitrag erschöpft sich nicht in einer historischen Retrospektive, sondern argumentiert schlüssig für eine Kirche der Gegenwart, die sich gegenüber ihren Ursprüngen „resonanzsensibel“ zeigt und gerade dadurch lernt, den drängenden Fragen unserer Zeit zu begegnen. Die der Kirche dauerhaft aufgetragene Reformation erweist sich darin als Resonanzgeschehen. Heinrich Bedford-Strohm widmet seinen Beitrag der Frage nach „Herausforderungen für Kirchen[n]gestalten aus kirchenleitender und systematisch-theologischer Perspektive“. Demnach entscheidet sich die Zukunft der Kirche an ihrer „Plausibilität“: Kann die Kirche mit ihren Worten und Taten überzeugen? In zehn Thesen leuchtet Bedford-Strohm Handlungsfelder aus, in denen sich die Kirche zu bewähren hat. Eine zentrale Bedeutung spielt dabei die – nicht zuletzt geistliche – Fähigkeit, aus einer „mentalen Dynamik der Fülle“ zu schöpfen. Ulrich H.J. Körtner erschließt den Diaspora-Begriff als systematisch-theologische Deutekategorie für das Selbstverständnis der Kirche: Weil die Kirche in der Welt, aber nicht von der Welt ist, stellt ihre grundsätzlich „diasporische
Vorwort
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Existenz“ ein entscheidendes Wesensmerkmal dar – auch und gerade in mehrheitlich christlichen Gesellschaften. Eine der Diasporaexistenz gemäße Theologie begreift sich dabei nicht als Theologie des Rückzugs, sondern im Gegenteil, als eine dezidiert öffentliche Theologie mit erkennbar apologetischem wie missionarischem Anspruch. Dieser Anspruch lässt sich überzeugend nur im Austausch mit den Kirchen der Ökumene vertreten. Pete Ward wagt einen explorativen Blick auf religiöse Phänomene jenseits des kirchlich umhegten Raums. Jener Blick verdankt sich der Einsicht, dass kontextsensible Missionsbemühungen stets mit dem genauen Hinhören und Hinsehen beginnen müssen. Anhand des Beispiels des Benefizkonzertes „One Love Manchaster“ 2017 illustriert Ward, wie christlich-religiöse Sprache und Deutungsmuster in Phänomenen zeitgenössischer Popkultur neu artikuliert und in ihrer Bedeutung rekonfiguriert werden: „It is fluid“. Ward plädiert daher für einen wertschätzenden Blick auf die Gegenwartskultur und die Bereitschaft, die Wirkweisen des Geistes nicht nur in der Kirche, sondern auch jenseits ihrer verfassten Grenzen wahrzunehmen. Thomas Schlegel verknüpft in seiner Response die Ausführungen Pete Wards mit kirchentheoretisch-grundlegenden Überlegungen und plädiert – angesichts der Grenzen einer allzu fluiden Vorstellung von Kirche – für einen nüchternen Umgang mit religiös eingefärbten Gegenwartsphänomenen. Matthias Sellmann schlägt in seinem Beitrag vor, an einem vernachlässigten – und zunächst auch widerspenstigen – Punkt in Kirchenreformbemühungen zu beginnen, nämlich der Errungenschaft und praktischen Durchsetzung religiöser Selbstbestimmung. Sellmann wirbt dafür, die individuelle Religionsfreiheit als Ressource zu kultivieren, indem das Potenzial religiöser Erfahrung als ‚Option‘ (Hans Joas) erschlossen wird. In diesem Lichte erscheinen Entkirchlichungsphänomene nicht allein als Hemmnis, sondern als Chance kirchlicher Selbstgestaltung. Die Reform kirchlicher Organisation besitzt folglich ihr Kriterium darin, ob es ihr gelingt, sich als attraktiver Dienstleister an der individuellen Religionsfreiheit zu bewähren. Gerhard Ulrich begrüßt in seiner Response auf Matthias Sellmann ausdrücklich die Orientierung kirchlicher Leitungs- und Gestaltungsaufgaben am Kriterium religiöser Selbstbestimmung. Zugleich gibt er zu bedenken, dass der Dienstleistungsgedanke zu Verzerrungen im kirchlichen Selbstverständnis führen könne. Stefan Paas leuchtet in seinem Beitrag „Church Governance in an Age of Change“ die Erfordernisse und Grenzen von Leitung im kirchlichen Dienst aus. Angesichts der kirchlichen Umbrüche zeigen sich spezifische Schwächen traditioneller Leitungspraxis in Kirche und Gemeinde immer deutlicher. In Zeiten des „Post-Christendom“ gewinnen dagegen kirchliche Pioniere und Entrepreneure, denen das „sense-making“ der biblischen Botschaft auf neue Weise
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und in ungewohnten Kontexten gelingt, eine zunehmend wichtige Rolle. Auf Grundlage empirischer Studien argumentiert Paas dafür, dass effektive Leitung stets eine sich komplementär ergänzende Leistung mehrerer Akteure ist. Sarah Dunlop bekräftigt in ihrer Response auf Stefan Paas insbesondere die Bedeutung von Diversität in gemeindlicher Leitung und nimmt dabei Bezug auf Beobachtungen aus ihren eigenen Forschungsfeldern. Steffen Fleßa arbeitet die Relevanz von „Change Management und Innovation“ für die Selbstgestaltung von Organisationen heraus. Am Beispiel des Rechenschiebers zeigt er auf, dass Innovation nicht zufällig geschieht, sondern eine systematische Gestaltungsaufgabe von grundlegender Bedeutung darstellt. Der Beitrag führt ein in das Instrumentarium des betriebswissenschaftlichen Change- und Innovationsmanagements, um anschließend die Möglichkeiten einer Übertragung auf kirchliche Handlungsfelder und Leitungsprozesse auszuloten. Fleßa ermutigt zu einem innovationsförderlichen Klima, in dem „Innovationskeimlinge“ heranreifen können und so einen existenziellen Beitrag zur Nachhaltigkeit von Kirchen und Gemeinden leisten. Günter Faltin untersucht unternehmerisches Handeln in der Spannung zwischen umsatzsteigernden Marketingversprechen und den Erfordernissen eines nachhaltigen Konsumverhaltens. Er illustriert die handlungsleitenden Paradigmen und ethischen Folgeprobleme klassischer Wachstumsstrategien. Ihnen hält er Alternativen des Entrepeneurships entgegen, welche weder die gestaltgebenden Kräfte der realen Marktwirtschaft ausblenden, noch sich dem Sog überbordender Konsumexzesse ergeben. Faltin ermutigt die Kirche dazu, den schmalen Grad zwischen Konsum und Nachhaltigkeit zum Testfall und Erprobungsraum eigener Unternehmungen zu machen. Sabrina Müller greift in ihrer Response den von Günter Faltin angebotenen Gesprächsfaden auf, ergänzt ihn um gelungene unternehmerische Beispiele aus dem Raum der Kirche und zeigt Parallelen auf zwischen dem biblisch bezeugten Handeln der Apostel und theologisch verantwortetem Entrepreneurship in der Kirche. Graham Tomlin führt in „The Church of the Future“ in die Eigenheiten des Cricket-Sports ein als einer Analogie zur kirchlichen Gegenwart und Praxis. Die Tatsache, dass Cricket seit einigen Jahrzehnten tiefgreifenden und bisweilen konfliktträchtigen Wandlungen unterworfen ist, dürfte diesseits des Kanals weitgehend unbemerkt geblieben sein. Dieser Prozess bietet sich indes an, die kirchliche Gegenwartssituation vertiefend zu deuten: Er wirft ein anderes Licht auf die theologische, liturgische wie organisatorische Vielfalt in der Kirche sowie auf die damit einhergehenden Richtungsstreitigkeiten. Tomlin wirbt – für Cricket und Kirche gleichermaßen – um einen versöhnlichen und wertschätzenden Umgang miteinander und zeigt auf, wie Kirche auch in Zukunft ihre öffentliche Relevanz behalten kann.
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Antje Jackelén betont in ihrem Beitrag, dass die christliche Tradition geradezu kongenial Transformation aus sich heraus setzt. Somit erweist sich das Spannungsfeld aus Tradition und Transformation für kirchliche Leitungsverantwortung als konstitutiv. Herausforderungen für kirchliche Leitung konkretisiert sie anhand „vier giftiger P“: Populismus, Polarisierung, Postfaktizität und Protektionismus. Basierend auf Dokumenten des LWB fordert sie, dass die Kirche sich nicht allein mit sich selbst beschäftigen darf, sondern sich ebenso für eine gerechte, friedliche und versöhnte Welt einsetzen muss. Dies kann ihr gelingen als weltweite Gemeinschaft, welche im öffentlichen Raum erkennbar wird und Demokratie sowie die ihr zugrundeliegenden Werte befördert. Es gilt, den Auftrag des Auferstandenen zu befolgen im Schulterschluss mit der Wissenschaft, mit der Bereitschaft, Schmerz und Verwundungen zuzulassen, aber stets im Horizont christlicher Hoffnung. Hans-Jürgen Abromeit beschreibt in seinem Vortrag geistliche Herausforderungen kirchlicher Re-Formationen vor dem Hintergrund der Situation des Pommerschen Evangelischen Kirchenkreises der Nordkirche. Die Region ist gekennzeichnet einerseits durch Schrumpfung und zugleich durch intaktes Gemeindeleben. Nach einer zunächst trinitätstheologischen und dann situationsbezogenen Standortbestimmung plädiert er für die immer neue Besinnung auf den grundlegenden missionarischen Auftrag der Kirche: Die Teilhabe an der missio Dei. Dabei betont er die Bedeutung der Erfahrung im Glauben und erläutert, wie das Wirken des Heiligen Geistes auch in den gegenwärtigen Herausforderungen kirchlicher Transformationen zu entdecken ist. In einem abschließenden, retrospektiven Beitrag bündelt Michael Herbst die entscheidenden Einsichten der Tagung und orientiert sie hin auf die praktischen Erfordernisse der Gestaltung einer vitalen, zukunftsfähigen Kirche. An dieser Stelle ist vielfältig Dank zu sagen: Für die finanzielle Förderung und organisatorische Unterstützung des Symposiums zuerst dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, namentlich seinem wissenschaftlichen Geschäftsführer Dr. Christian Suhm und Herrn Dennis Gelinek, der die Tagung seitens des Kollegs begleitete. Wir danken ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Aufnahme der Tagung in ihr Förderprogramm, sodann der Universität Greifswald, der Evangelisch-Luthe rischen Landeskirche in Norddeutschland für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie dem Verein zur Förderung der Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung e. V. für finanzielle Unterstützung. Ein besonderer Dank gilt den beiden Theologinnen Regine Born und Julia Kaiser für das beeindruckende „Visual Recording“. Nicht zuletzt danken wir den studentischen Hilfskräften Lukas Best, Clara Gebhardt, Juliane Franke, Julia Kuschan, Theodor Langkabel, Janina Lauxmann, Johann von Lehsten, Andreas Schmierer,
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Mirjam Best, Lea Weber und Sophia Weber für ihre vielfältige Hilfe im Verlauf der Tagung – insbesondere für die simultane Übersetzung der einzelnen Vorträge ins Englische bzw. Deutsche – sowie Antje Gusowski und Manuela Kindermann für ihre ausdauernde administrative Unterstützung. Schließlich gilt unser Dank Herrn Ekkehard Starke und Frau Julia Roßberg für das Lektorat und der studentischen Hilfskraft Johann von Lehsten für die Erstellung der Druckvorlage. So wünschen wir dem nun vorliegenden Tagungsband, dass er über die Tagung hinaus einen Beitrag für die Frage nach „Kirche[n]gestalten“ und den notwendigen „Re-Formationen von Kirche und Gemeinde“ leisten möge: Für den praktisch-theologischen Diskurs an den Universitäten und Hochschulen, für die Diskussionen auf den unterschiedlichen kirchlichen Ebenen und für das konfessionsübergreifende Engagement einer „Ökumene der Sendung“. Greifswald, Oktober 2018 Kolja Koeniger und Jens Monsees
Michael Herbst
„Bleibt alles anders“ Kirchentheoretische Landmarken für eine Kirche im Wandel
Verbo reparabitur ecclesia. Martin Luther
1. Greifswalder Perspektiven1 Der Maler Caspar David Friedrich (1774–1840) ist sicher einer der bedeutendsten Greifswalder. Zudem hat er den Vorteil, anders als sein Zeitgenosse Ernst Moritz Arndt (1769–1860), bislang unumstritten zu sein. In der Zeit um 1810 hat Caspar David Friedrich gerne Bilder im Doppelpack gemalt. Ein Thema – zwei Bilder. So gibt es von ihm zwei „Winterlandschaften“ (1810/11).2 Mir wären jetzt im Mai auch Frühlingslandschaften lieber, aber die habe ich leider nicht gefunden.3 Also sehen wir hier die erste Winterlandschaft. Ziemlich trostlos. Eine weite, leere Schneefläche, Baumstümpfe, zwei kahle Bäume, ein Mensch, der fast verschwindet, so wenig ist er wahrzunehmen. Ein Mensch auf Krücken. Die beiden kahlen Bäume rechts und links scheinen ihn geradezu in die Zange zu nehmen. Eine lebensfeindliche, eine todesschwangere Landschaft. Auch die zweite Winterlandschaft scheint unwirtlich. Viel Weiß und Grau. Aber auch einige Tannen, ein paar Felsen, im Hintergrund schemenhaft die Türme einer gotischen Kathedrale. Man könnte das Wesentliche fast übersehen: die Krücken liegen da – wie weg geworfen, eine hier, die andere dort im Schnee. Und der Mensch, den eben noch kahle Bäume in die Zange nahmen, 1 Der mündliche Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Vgl. http://syndrome-de-stendhal.blogspot.de/2013/06/gemalter-glaube.html – aufgesucht am 12. Mai 2018. 3 Auch die Winterlandschaften habe nicht ich gefunden: Den Hinweis und die Idee verdanke ich vielmehr meinem langjährigen Kollegen und dem Mitbegründer des IEEG, Jörg Ohlemacher.
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Michael Herbst
sitzt jetzt da, an den Fels gelehnt, mit Blick – ja mit Blick worauf? Er schaut auf das Kreuz mit dem Gekreuzigten, das vor einer der Tannen aufgerichtet ist. Er schaut und betet, so deute ich jedenfalls seine Haltung. Die Landschaft ist weiterhin winterlich, aber für diesen Menschen hat sich einiges geändert. Der Romantiker Friedrich zeigt das alles in der Natur, aber doch deutlich auf den Gekreuzigten und nicht allein auf Tannen als immergrünes Lebenssymbol ausgerichtet.4 Die Kathedrale bildet den Hintergrund. Eine Vision der christlichen Kirche titelte Friedrich ein ähnliches Bild, das 1812 folgen sollte. Am Kreuz findet der Geplagte Hilfe und Ruhe: Er lehnt gegen einen festen Halt und die Krücken liegen verstreut, außer Reichweite. Alle Blicke werden nach oben gezogen, vertikale Linien dominieren, ganz im Gegensatz zum ersten Bild. Die Vision von Kirche: Menschen, die im Blick auf das Kreuz und den Gekreuzigten Hoffnung bekommen, Heilung erfahren, Geborgenheit und festen Halt. Die Vision einer Kirche, in der sich diese Geschichte wieder und wieder zuträgt. Diese Kirche ist erst schemenhaft zu erkennen, aber ein morgendliches Licht ist über ihr zu sehen, und ihr Kennzeichen ist das aufgerichtete Kreuz auf jedem ihrer Türme. Mit dieser Greifswalder Perspektive möchte ich beginnen und einen ersten Akzent für unsere Tagung setzen. Kirche im Zeichen des Kreuzes zu sehen, ist mein Zugang zu unserem Thema. Damit aber befinde ich mich in komplizierten Nachbarschaften. Zum einen möchte ein bayrischer Ministerpräsident gerne Kreuze in allen Amtsstuben aufhängen lassen und legt dazu auch schon einmal selbst Hand an. Die Debatte darüber wird ihn überrascht haben. Gerade aus den Kirchen kamen Reaktionen, mit denen er wohl nicht gerechnet hat: vorsichtige Einwände, auch entschiedene Kritik. Das Kreuz, so kann man es zusammenfassen, tauge nicht als rein kulturelles Symbol für Heimat und Abendland, seiner tiefen, anstößigen religiösen Bedeutung entledigt. Der bayrische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm brachte es dann auf den Punkt: Das Kreuz ist mindestens eine zum Nachdenken bringende Infragestellung aller weltlichen Werte. Und: „Die Kirchen haben die Aufgabe, den Sinn des Kreuzes öffentlich deutlich zu machen.“5 Vielleicht bewirkt ja Markus Söders Vorstoß insofern ein Gutes, dass wir selbst uns erinnern und uns das gewaltige Geschehen neu vor Augen stellen lassen, dass Gott kam, um zu leiden, mit uns, mehr noch für uns, an unserer 4 Vgl. zur Deutung: Karl-Friedrich Hoch 1990, 71–74; Hans Joachim Neidhardt ibid., 67–70; Regine Prange 1989, 280–310. Kontrovers gegen die christlich-religiöse Deutung der Bilder C.D. Friedrichs: https://www.kunstgeschichte-in-einzelwerken.de/2017/10/17/gemalter-glau�be-caspar-david-friedrichs-winterlandschaft/ – aufgesucht am 12. Mai 2018. 5 FAZ Nr. 105, 7. Mai 2018, 7: „Den Sinn des Kreuzes öffentlich machen“.
„Bleibt alles anders“
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Stelle, zu unseren Gunsten. Paulus bringt das Anstößige und das Wunderbare des Kreuzes treffend auf den Punkt: Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. […] Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. (1 Kor 1, 18.22–25)
Das klingt nicht nach Kreuzen in Amtsstuben, es klingt nach einer fremden Botschaft. Je weiter das säkulare Driften im Osten wie im Westen der Republik voranschreitet, desto deutlicher wird der ursprüngliche Charakter der Kreuzesbotschaft: ihre Fremdheit, das Ärgerliche (zuweilen bis in kirchliche und theologische Kreise hinein). Aber wem die Predigt vom Kreuz nahegeht, den Verstand erleuchtet, das Herz abringt, den Glauben weckt, der entdeckt gerade hier Weisheit, die hilft, sich im Leben zu orientieren, und Kraft, die Menschen auf die Beine kommen lässt, so dass Krücken in den Schnee geworfen werden. Wir haben nichts Besseres, und das hat niemand sonst. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal: Christus, den Gekreuzigten, als Weisheit und Kraft bezeugen. Kirche baut, was Christum treibet! Oder mit dem bayrischen Bischof: den Sinn des Kreuzes öffentlich deutlich machen. Dies ist das Innerste, das ist es, was Kirche ausmacht, neu macht, auf die Beine bringt. Wie aber findet sich diese Kirche gerade vor?
2. „Alles das bleibt anders“6: Auf dem Weg in die Minorität Man könnte fragen: Geht es nun darum, dass etwas bleibt, oder wird alles anders, oder besteht das Bleibende gerade darin, dass alles fortwährend anders wird? Tatsache ist jedenfalls, dass sich für die Kirche viel ändert und dass das, was sich ändert, nichts Vorübergehendes ist. Einige dieser Änderungen zeigen, dass es ernst ist und wir uns umstellen müssen. Natürlich könnten wir uns jetzt beruhigen und sagen, dass immer noch mehr als die Hälfte der Deutschen zu einer der beiden großen Kirchen gehört, dass
6 Vgl. http://www.songtexte.com/songtext/dynamite-deluxe-feat-jan-delay/alles-bleibt-anders5b403740.html – aufgesucht am 12. Mai 2018. Unter gleichem Titel gibt es auch ein Programm des Kabaretts Herkuleskeule aus Dresden und eine Schweizer Komödie aus dem Jahr 2006.
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wir medial sehr präsent sind, dass unsere diakonischen Einrichtungen ebenso anziehend zu sein scheinen wie unsere weithin sichtbaren Kirchengebäude, dass die Menschen unsere Konzerte lieben und an Weihnachten die Kirchen voll sind oder dass wir eine wahrlich gute Figur in der Flüchtlingskrise gemacht haben. Aber es gibt doch auch einige markante Zeichen, dass die Prozesse der Alterung und Schrumpfung unaufhaltsam voranschreiten. Ohne uns in winterliche Depression treiben zu wollen, nenne ich einige Symptome für die Krise, die wir durchlaufen. Nach Jan Hermelink sind Krisendiskurse ja Heimspiele für Kirchentheoretiker! Kirchentheorie ist Krisenwissenschaft, so der Göttinger Kollege.7 1. Nach wie vor geht mir eines der wichtigsten Ergebnisse der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung nach: Die Mitglieder der evangelischen Kirche sammeln sich an den Rändern, will sagen: Hochverbundene Mitglieder werden eher zahlreicher. Das sind die, die teilnehmen, sich engagieren und mit Glauben und Kirche identifizieren. Aber ebenso steigt die Zahl derer, die sich mit uns kaum noch verbunden fühlen, sozusagen nie teilnehmen und sich mit dem Glauben der Kirche nicht identifizieren. Beide Kohorten wachsen, aber die Mitte, die treu Verbundenen, die eher „bei Gelegenheit“ kommen, die werden weniger.8 2. Ebenso deutlich ist: Wenn die Familie nicht Wissen und Übung in Sachen Glauben vermittelt, wird es schwer.9 Immer weniger junge Leute können berichten, dass ihnen in der Familie Glaube und Kirche nahegebracht wurden.10 Trotz aller Mühe um Kinder- und Jugendarbeit sind die jüngsten Mitglieder der Kirche aufs Ganze gesehen diejenigen, die die größte Distanz empfinden. Viele dieser jungen Leute sind bereit, sich dem langen Strom derer anzuschließen, die seit 1968 sagen: „Kirche, danke, aber nein danke!“ 3. Wir sind auch noch nicht „durch“ mit den Kirchenaustritten. Wir nicht und unsere katholischen Mitchristen auch nicht. Im Umfeld des Münsteraner Katholikentages wurde daran erinnert: „Als das Bistum Essen 1958 gegründet wurde, wohnten zwischen Dinslaken und Bochum, Bottrop und dem sauerländischen Altena rund 1,35 Millionen Katholiken. 60 Jahre später bewegt sich die Zahl der Katholiken im Ruhrgebiet auf die Schwelle von 750.000 zu – Tendenz fallend.“11 Gewiss wirken da auch Demographie und 7 Vgl. Jan Hermelink 2011, 13. 8 Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 468 f. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2014, 12. 9 Gerhard Wegner 2014, 22: „Wer nicht früh positiv mit Kirche und Glauben in Berührung kommt, hat später als Erwachsener statistisch gesehen keine Chance mehr. (Aber bei Gott sind bekanntlich alle Dinge möglich!)“ 10 Vgl. Detlef Pollack, Gert Pickel und Tabea Spieß 2015, 131–141. 11 FAZ, Nr. 110, 14. Mai 2018, 3: Katholische Variante von Multikulti (Daniel Deckers und Mona Jaeger).
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Wanderungsbewegungen mit, aber nach wie vor auch Austritte, etwa ½ Prozent der Mitglieder pro Jahr. Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer schloss daraus im Blick auf sein „Abbruchbistum“: „Wir können nicht eine Kirche für 2030 bauen mit den Mitteln von 1980.“12 Im Ergebnis sehen wir, wie wir selbst zentrale Gebäude zur Disposition stellen.13 Es ist auch für mich ein seltsames und ambivalentes Gefühl, dass das Gebäude, in das ich als Grundschüler zum Schulgottesdienst ging, heute nicht mehr die Bielefelder Martinikirche ist, sondern seit 2015 das Lokal „GlückundSeligkeit“.14 Und dann reden wir noch gar nicht von denen, die nie dazu gehörten, von Konfessionslosen und ihren indifferenten Kindern und Enkeln. Studie um Studie belegt, wie breit der Graben zwischen ihnen und uns ist.15 Indifferente Menschen empfinden kein Defizit in ihrer säkularen Lebenshaltung. Sie haben nichts gegen Kirche, aber sehen auch keinen Anlass, sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen. Das Thema kommt bei ihnen schlicht nicht vor. Hans-Hermann Pompe und sein Team beim EKD-Zentrum „Mission in der Region“ bringen das auf den Begriff: Sie sind „kongruent“ mit ihrer säkularen Lebenseinstellung.16 Schauen wir noch einmal auf die, die noch dazugehören. Viele, besonders viele Praktische Theologen, setzen auf die Anziehungskraft und Bedeutung der Kasualien. Allerdings ist der Zuspruch der Menschen nicht unbedingt ein Beleg für diesen Optimismus. Kolja Koeniger hat am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald (IEEG) die Zahlen unter die Lupe genommen: Dass Evangelische ihre Verstorbenen evangelisch bestatten lassen, ist nicht mehr selbstverständlich. Die Zahlen weisen nach unten. So ist beispielsweise der Anteil der Evangelischen, die kirchlich bestattet wurden (Bestattungsziffer), in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2003 und 2012 von 87,2 % auf 69,6 % gesunken, wohlgemerkt: bei Kirchenmitgliedern ein Rückgang von nahezu 20 %.17 Oder wie steht es um die Bereitschaft, eine leitende Aufgabe zu übernehmen, für ein Amt im Kirchenvorstand zu kandidieren oder gar in einer Synode
12 Vgl. auch http://zukunftsbild.bistum-essen.de/das-zukunftsbild/das-zukunftsbild/ – aufgesucht am 12. Mai 2018. 13 Vgl. Zeitmagazin Nr. 6 vom 5.2.2018 – „Deutschlandkarten“: Umgenutzte Kirchen. 14 Vgl. http://www.glueckundseligkeit.de/glueckundseligkeit.html – aufgesucht am 12. Mai 2018. 15 So z. B. eine jüngere Studie auf Grund einer Befragung unter Konfessionslosen in Berlin: Petra-Angela Ahrens und Hans-Georg Furian 2016. 16 Vgl. EKD-Zentrum für Mission in der Region 2018. Vertieft werden diese Zusammenhänge dargestellt bei Hans-Hermann Pompe und Daniel Hörsch 2017. 17 Bislang unveröffentlichte Studie. Zahlen einsehbar unter https://archiv.ekd.de/statistik/105147. html – aufgesucht am 12. Mai 2018.
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mitzuwirken? Heinrich Bedford-Strohm schrieb dazu: „An den Wahlen zu Kirchenvorständen beteiligt sich vor allem der hochengagierte Teil der Mitglieder. Nicht selten aber finden keine Wahlen mehr statt, da sich nicht mehr genügend Menschen für eine Kandidatur entscheiden.“18 8. Gehen wir noch einen Schritt weiter in die Mitte: Wie sieht es denn aus mit dem Nachwuchs für den Pfarrberuf? Ich gehe einmal von den Zahlen in der Nordkirche aus. Wir haben die Pensionierung der Babyboomer-Jahrgänge einerseits und das nachlassende Interesse am Theologiestudium andererseits. Rechnen wir mit vollen Stellen, so könnte sich deren Zahl in der Nordkirche von 1.600 im Jahr 2016 auf 1.000 im Jahr 2030 reduzieren. Der hohe Maßstab flächendeckender Versorgung hat in der Nordkirche Verfassungsrang: „In allen Gebieten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland wird eine flächendeckende Pfarrstellenversorgung gewährleistet.“19 Bevor wir fragen, ob der Maßstab ein guter ist, fragen wir vorerst: Wie soll das gehen? Für den Kirchenkreis Pommern würde das bedeuten, dass die Zahl der Pfarrstellen von jetzt 12520 auf etwa 70 zurückginge. Mit alledem haben wir noch gar nicht über die innere Verunsicherung gesprochen, die etwa in dem Satz eines hochrangigen Kirchenführers zum Ausdruck kommt, der in einer Sitzung nach dem Reformationsjubiläum sagte: „Wir haben ein höchst erfolgreiches Jubiläumsjahr hinter uns und wissen nach diesem Jubiläumsjahr noch weniger als vorher, wer wir sind.“ Was aber offenkundig ist, ist die heftige und dauerhafte Transformation, die wir als Kirche durchlaufen. Und diese Transformation ist krisenhaft. Im deskriptiven Sinn kann man nicht mehr von einer Volkskirche sprechen.21 Die Zugehörigkeit zur Kirche ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Mitgliedschaft ist brüchig. Und das Monopol in Sachen Sinn, Religion, Pflege, Lebensübergänge und Kultur haben wir schon lange verloren. Wolfgang Huber beschrieb unsere derzeitige Lage so, dass wir inzwischen eine intermediäre Großkirche sind, immer noch eine bedeutende Stimme für christliches Leben in Deutschland, aber eben nur noch das, und zwar in einem hochgradig pluralisierten kulturellen Umfeld.22
18 FAZ, Nr. 105, 7. Mai 2018, 7. 19 Artikel 18 der Verfassung der Nordkirche 2012. Vgl. https://www.kirchenrecht-nordkirche.de/ document/24017 – aufgesucht am 12. Mai 2018. 20 Laut Auskunft des Pommerschen Kreiskirchenamtes; Stand: 27. Juni 2018. 21 So bereits vor vielen Jahren Wolfgang Huber 2003, 249–254. 22 Huber schrieb bereits 1998: „In Deutschland durchlaufen die großen Kirchen eine tiefe Krise. […] Nirgendwo in der Welt ist die Lage der Kirchen in vergleichbarer Weise durch einen Prozess von Säkularisierung und Entkirchlichung geprägt wie in der Mitte Europas. Nirgend-
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Meine Einschätzung der Lage geht nun einen Schritt weiter: Unsere Perspektive ist in Zeiten der Schrumpfung die einer – hoffentlich – immer noch öffentlichen und hoffentlich unverdrossen missionarischen christlichen Minorität.23 Immer noch respektabel in Größe und Bedeutung, aber von der Mitte doch deutlich an den Rand gerückt. Öffentlich, weil sich niemand wünschen sollte, dass die Stimme des Evangeliums in den öffentlichen Diskursen verstummt. Öffentlich auch in dem Sinne, dass das Wort vom Kreuz allen gilt und wir es jedem zugänglich machen sollen. Darum auch missionarisch, weil wir mit Wort und Tat Gottes Güte und Erbarmen bezeugen und zugleich jedermann einladen, im Blick auf das Kreuz Hoffnung zu schöpfen. In der Mission des Gekreuzigten können wir das nur wehrlos, werbend, dienend, dialogbereit und demütig tun, zugleich „mit Passion“, getröstet am Kreuz, begeistert von der Weisheit und Kraft des Gekreuzigten, unbekümmert, wenn man das für Torheit hält. Insofern bleibt alles anders. Wir dürfen uns an lebendigen Gemeinden freuen, an engagierten Profis und loyalen Ehrenamtlichen, an den Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben. Also: keine Winterdepression. Aber: Es wird höchste Zeit, das Nötige für den Umbau der Kirche zu tun, damit wir unsere Aufgabe auch in Zukunft erfüllen, allem Volk die gute Nachricht von der freien Gnade Gottes auszurichten (Barmen VI). Es bleibt uns nicht erspart, zwei scheinbar gegenläufige Strategien zu verfolgen: zum einen auf vieles zu verzichten und den strukturellen Rückbau tapfer in Angriff zu nehmen, zum andren aber unsere Pfunde nicht zu vergraben, sondern zu investieren, mit Vertrauen und Hoffnung. Dieses Investment zielt nicht auf den Versuch, das Alte doch noch gesund zu reden oder vielleicht in die gute alte Zeit heimzukehren (wenn die denn in jeder Hinsicht wirklich gut war), aber es zielt darauf, dass Menschen im Anblick des Gekreuzigten Hoffnung fassen und lebendige, mündige Christen werden, dass es an möglichst vielen Orten vitale Gemeinden im Land gibt, und dass das Gemeinwesen, zu dem wir gehören, auch deshalb gedeiht oder gesundet, weil in ihm vom Evangelium bewegte Menschen nach dem Besten der Stadt und des Dorfes suchen. Das ist meine Kernthese. Und die muss ich jetzt bebildern.
wo ist die bisherige institutionelle Gestalt der Kirchen stärker in Frage gestellt als hier.“ Vgl. Wolfgang Huber 1998, 223 f. 23 Vgl. auch Valentin Dessoy 2015, 656f: „Die Kirche der Zukunft wird signifikant kleiner sein, als sie sich bisher darstellt. Das betrifft Mitglieder- und Nutzerzahlen ebenso, wie die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen, oder auch Immobilien […]. Die gesellschaftliche Relevanz wird massiv abgenommen haben.“
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3. Eine zentrale kirchentheoretische Frage Wie kann das gehen? An dieser Stelle ist die fachliche Debatte hochgradig zersplittert und uneins. Sieht man von den üblichen Scharmützeln ab, ob man nun beim Stichwort Mission jubeln oder sich mit Grausen abwenden möchte, oder wie hoch man Kasualien einschätzen möchte, so sortieren sich die kirchentheoretischen Entwürfe auch in einem Kontinuum, bei dem auf der einen Seite nahezu nichts zu hören ist über eine bevorstehende Transformation zu einer starken Minorität, während auf der anderen Seite die volkskirchliche Winterlandschaft genüßlich im unfreundlichsten Grau gemalt wird. Eine der spitzesten kirchentheoretischen Formulierungen der letzten Jahrzehnte verdanken wir Rudolf Roosen, der in seiner Habilitation vor eine klare Wahl stellt. Er geht aus von der unterschiedlichen Religionspraxis in der Volkskirche, von den wenigen, die hochreligiös orientiert sind und oft erscheinen, bis hin zu jenen, die kaum religiös sind und selten erscheinen. Und Roosen sagt nun: Bitte wacht auf, denn: Man kann nicht beides gleichzeitig haben, eine volkskirchliche Größenordnung und eine hohe intrinsische Glaubensmotivation unter sämtlichen Mitgliedern. Hier muss man sich entscheiden. Faktisch haben sich die Landeskirchen auch entschieden, und zwar für den Bestand der Größenordnung. Konzeptionell aber wollten sie nichts von dieser Entscheidung wissen.24
Im Klartext: Wenn Ihr Volkskirche wollt, dann hängt die religiöse Latte nicht so hoch. Akzeptiert lieber, dass viele nur bei Gelegenheit kommen. Wenn Ihr aber auf entschiedenes Christentum setzt, dann verabschiedet Euch bitte von dem Anspruch, Volkskirche sein zu wollen. Dann werdet Ihr eben (freundlich formuliert) kleine Bekenntniskirche, Freikirche oder (weniger freundlich formuliert) Sekte (im Sinne von Ernst Troeltsch25). Beides gleichzeitig könnt Ihr nicht haben. Roosen sieht darin eine „Systemlogik“: „Bei anwachsender Systemkomplexität sinkt die Systemkohärenz ab und die systeminternen Kontingenzspielräume wachsen an.“26 Ob die Analyse hinsichtlich der Entscheidung der Landeskirchen so stimmt, will ich dahingestellt sein lassen. Aber man kann die Entwicklung der kirchentheoretischen Konzeptionen der letzten 20 Jahre recht gut mit Roosens Ent-
24 Rudolf Roosen 1997, 2. 25 Vgl. Ernst Troeltsch 1912, 965–986. 26 Rudolf Roosen 1997, 1.
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weder-Oder darstellen. Denn die Kirchentheoretiker haben sich meistens mit Entschiedenheit auf die eine oder die andere Seite geworfen: Ȥ Da sind die einen, die entschieden für „Kirche bei Gelegenheit“27 votieren, den Christen in Halbdistanz ihre volle Sympathie erklären und die punktuelle Teilnahme am kirchlichen Leben hochleben lassen. Sie bejahen uneingeschränkt die „KuK“-Christen, denen vor allem Kasualien und Kirchenjahr (etwa das Weihnachtsfest) etwas bedeuten. So redet man dann eben in Tübingen, Marburg oder Berlin, und die einen lieben es, die anderen – weniger! Ȥ Da sind die anderen, die ebenso entschieden nach persönlichem Glauben rufen, ihre Liebe zu lebendigem, mündigem Christsein, vitalen, wachsenden Gemeinden und aufblühenden Gemeinwesen erklären, dazu aber deutlich machen, dass Menschen aus der Unentschiedenheit und Distanz in Nähe und starke Überzeugung mit Alltagswirkung konvertieren sollten.28 So redet man dann eben in Greifswald, und die einen lieben es, die anderen – weniger! Und ehrlich gesagt ist die Lektüre der vielen Meter Kirchenliteratur fast schon ein wenig langweilig, wenn man eigentlich immer schon ziemlich genau weiß, was der andere sagen wird und was er nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen will. Jedenfalls bestätigt dieser zugegebenermaßen grobe Einblick in die kirchentheoretischen Konzeptionen Roosens Überlegung: Tja, das geht nur alternativ! Entscheide Dich! Und wer Theologie studiert, Kirche leitet oder aber im Pfarrdienst Verantwortung trägt, muss sich eben entscheiden. Ich erinnere mich an eine Diskussion in Berlin mit meinem Rostocker Kollegen Thomas Klie. Der fragte mich, ob ich es denn nicht auch besser fände, wenn Menschen in der Kirche blieben, anstatt die Kirche endgültig zu verlassen. Ja, meinte ich, auf jeden Fall. Aber dass sie nur bleiben, das wäre mir nicht genug. Vielleicht wäre etwas gewonnen, wenn wir einander zugeständen, dass eins das andere braucht. Volkskirchliche Breite und missionarische Tiefe. Vielleicht könnten die Missionarischen akzeptieren, dass es gut ist, wenn Menschen, die wir getauft haben, noch etwas von uns erwarten. Vielleicht könnten sie auch über die wertvollen Kontakte mit Menschen erfreut sein, die bei lebenswendenden Ereignissen zu uns kommen. Vielleicht könnten sie die ernsthaften punktuellen Berührungen mit dem Glauben bei einer Bachkantate, einem Weihnachtsgottesdienst oder einer Pilgertour schätzen lernen. Vielleicht könnten 27 Vgl. z. B. Michael Nüchtern 1991; Peter Bubmann, Kristian Fechtner und Birgit Weyel 2016; Kristian Fechtner 2011. 28 Vgl. z. B. Johannes Zimmermann und Anna-Konstanze Schröder 2010; Michael Herbst 2013; Michael Herbst 2018a und 2018b.
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sie das säkulare Driften mit bedenken, dass mit dem völligen Bruch mit der Kirche einherginge. Und vielleicht könnten sie sagen: Es lohnt sich, etwas dafür zu tun, dass Menschen gerne Mitglied in der Kirche bleiben. Vielleicht können dann auch die Vertreter einer „Kirche bei Gelegenheit“ einräumen, dass es auch Menschen braucht, die intensiv verbunden sind, damit Kirche für die da sein kann, die es nicht sind. Sie könnten auch die Probleme einbeziehen, die der Verlust der familiären Glaubensweitergabe mit sich bringt. Vielleicht könnten sie sich mitfreuen, wenn in einem Kurs zum Glauben jemand sagt: Bisher stand das alles für mich eher am Rand meines Lebens, aber jetzt bin ich so froh, dass der Glaube im Zentrum steht und mein Leben zu durchdringen beginnt. Und sie könnten erkennen, dass man die Last, Kirche zu sein, in Zukunft weniger denn je allein auf die Schultern der Pfarrer legen kann. Und dann könnten sie vielleicht sagen: Es lohnt sich, etwas dafür zu tun, dass Menschen mehr als nur Mitglieder in der Kirche sind. Und vielleicht kann man dann sagen: Sie irren, Herr Roosen! Wir konnten die volkskirchliche Größenordnung nicht bewahren durch den Verzicht auf eine hohe intrinsische Glaubensmotivation unter den Mitgliedern. Wenn wir für alle Menschen zugänglich bleiben wollen, werden wir mehr intrinsische Glaubensüberzeugung brauchen, nicht weniger. Wahrscheinlich würden wir uns dann tief in die Augen schauen und sagen: Es bleibt uns immer noch vieles fremd beim je anderen. In Tübingen, Marburg und Berlin wäre man immer noch zufriedener mit denen, die in Halbdistanz bleiben, weniger besorgt, weniger bemüht um Intensivierung. In Greifswald würde man – ich kann das jetzt auch nur vermuten – sich mehr wünschen, sich um eine hohe intrinsische Glaubensmotivation möglichst vieler Getaufter und möglichst vieler noch nicht einmal Getaufter bemühen. Man würde wohl sagen: Prima, wenn sie bleiben. Dann hoffen wir, dass wir Interesse wecken können. Dann tun wir alles, um die Kommunikation zu verdichten und dann wünschen wir jedem das Beste, und was wäre besser als lebendiges, mündiges Christsein in einer vitalen Gemeinde! Gerhard Wegner hat doch Recht, wenn er sagt: „Die Leute wissen doch gar nicht, was ihnen entgeht.“29 Schlimm ist allerdings, wenn wir nicht mehr wissen, was ihnen entgeht. Im Blick auf eine schrumpfende und alternde Volkskirche sind wir überzeugt: Es wird auf Dauer nicht funktionieren, auf die „mittlere Verbundenheit“ zu setzen. In der Folge der Generationen wird sie immer schwächer. Gerhard Wegner schreibt weiter: Eine solche Strategie „scheitert am Reproduktionsproblem solcher individualistischer Religion.“30
29 Gerhard Wegner 2014, 34 f. 30 Ibid., 12.
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Wollen wir das Evangelium als evangelische Kirche auch in Zukunft in diesem Land bezeugen, brauchen wir mehr Menschen, die überzeugt und engagiert sind, mehr Gemeinden, in den Menschen nicht nur vom Pfarrdienst abhängig sind, sondern als mündige Christen Verantwortung tragen. Ralph Kunz resümiert, die aktive Gemeinde sei „kein frommes nice to have. Sie ist der Grund, warum es Kirche gibt.“31
4. Entscheidungen Ich kann in dieser kurzen Zeit nur noch ein paar Schlaglichter auf das werfen, was ich für die entscheidenden Baustellen halte, und zugleich einen kleinen Einblick in die Fragestellungen geben, die uns am IEEG beschäftigen.
4.1 Erste Baustelle: Lebendiges, mündiges Christsein oder: Auf der Suche nach der „Kirche der Wachsenden“ Wenn man einmal einen Blick über die deutschen kirchentheoretischen Debatten hinaus wagt, fällt auf, dass dort in der Regel großer Wert auf die Bildung der Getauften gelegt wird. Das Ziel ist in der Regel „discipleship“. Wir übersetzen diesen Begriff mit lebendigem, mündigem Christsein.32 In der Anglikanischen Kirche steht dafür etwa das Konzept von David Heywood: Christian discipleship is a process of personal transformation in which God through his Holy Spirit forms our identity after the pattern of Jesus Christ.33
Im Kontext der US-amerikanischen Theologie der Missional Church ist z. B. Lois Barrett auf ihrer Suche nach wiederkehrenden Mustern missionaler Gemeinden immer wieder auf „Biblical formation and discipleship“ gestoßen: The missional church is a community in which all members are involved in learning what it means to be disciples of Jesus.34 31 32 33 34
Ralph Kunz 2015, 94. Vgl. auch Michael Herbst 2018b. David Heywood 2017, 171. Lois Barrett et al. 2004, xii.
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Und in der französischen Diözese Poitiers hat Albert Rouet stets betont: „La richesse de l’église çe sont les chrétiens.“35 Daraus folgte, dass der Aufbau von Basisgemeinschaften in westfranzösischen Dörfern durch enorme Anstrengungen begleitet wurde, die Getauften nun auch zu bilden. Taufet und lehret!36 Das ist in der deutschen Debatte eher anders. Die Ziele, die wir für getaufte Menschen im Sinn haben, sind zuweilen beeindruckend bescheiden, wenn etwa der Fachbeirat der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung anregt, die Mitglieder in Halbdistanz, Unbestimmtheit und Institutionsskepsis anzusprechen und in ihrer individuellen Form der Verbundenheit zu stabilisieren.37
Das muss dann wohl reichen. Dabei gehen Praktische Theologen mit Vorliebe davon aus, dass religiöse Mündigkeit und Vitalität sozusagen immer schon wie von Natur aus gegeben sind und nicht erst gebildet werden müssen.38 Dabei ist die Idee auch bei uns nicht neu. Und sie ist nicht beschränkt auf bestimmte, sagen wir vorsichtig: „evangelikale“ Traditionen. Es war Ernst Lange, der nach einer „Kirche der Wachsenden“ rief: Gesucht ist heute mehr denn je eine Kirche, die um das Erwachsenwerden der Menschen im religiösen und gesellschaftlichen Sinn besorgt ist. Gesucht ist eine ‚Kirche der Wachsenden‘.39
Und es war Henning Luther, der davor warnte, jeweils die Glaubensbildung als abgeschlossen zu betrachten.40 Heute ist dieser Ruf nach einer „Kirche der Wachsenden“ dringlicher denn je. Es wäre jedenfalls pastoraltheologisch fatal und kirchentheoretisch illusionär, die Zukunft einer öffentlichen Missions- und Minderheitenkirche vorwiegend in die Hände der Pfarrerinnen und Pfarrer zu legen. Es wäre pastoraltheologisch fatal, weil es nur die massiven Überlastungsanzeichen im Pfarrberuf verschlimmern könnte.41 Und es wäre kirchentheoretisch fatal, weil – bei allem Respekt für die pastorale „Schlüsselrolle“42 – die Gemeinde als Subjekt ihrer eigenen Entwicklung43 außer Acht bliebe und das Allgemeine Priestertum auch künftig 35 36 37 38 39 40 41 42 43
„Der Reichtum der Kirche sind die Christen“; zitiert bei Martin Lätzel 2009, 209. Vgl. Mt 28,18–20. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 455. Vgl. z. B. Ruth Conrad 2014, 89. Ernst Lange 1980, 132. Diesen Hinweis verdanke ich Martin Lätzel 2015, 639–642. Vgl. Henning Luther 1992, 165. Vgl. Anja Granitza, Michael Herbst, Jürgen Schilling und Benjamin Stahl 2017, 17–28. Vgl. vor allem Isolde Karle 2015, 123 f. Vgl. Ralph Kunz 2015, z. B. 94, 98f und 105.
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zu den liegengebliebenen Aufgaben der Reformation zählen würde. Hier liegt ein zentrales Problem der kirchlichen Reformdebatten: Sie arbeiten sich in der Regel an der Zahl der möglichen Pfarrstellen ab und machen damit die Pfarrerinnen und Pfarrer zum Flaschenhals der Kirchenentwicklung. Ihre Verfügbarkeit und Belastbarkeit wird zur Bedingung der Möglichkeit lokaler kirchlicher Vergemeinschaftung. Und natürlich wird das auch im Kirchenvolk aus jahrhundertelanger Übung so gesehen: Gemeinde ist, wo auch ein Pfarrer wohnt. Alle folgenden Überlegungen erledigen sich von selbst und wären es nicht wert, Ihre wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen, wenn wir hier nicht umdenken. Umdenken bedeutet, in den Pfarrpersonen nicht die „Stellvertreter“ mündigen Glaubens zu sehen, sondern die „Ermöglicher“44 lebendigen, mündigen Christseins, will sagen: die, die jetzt vor Ort helfen, vitale Gemeinschaften von lebendigen, mündigen Christenmenschen aufzubauen. Das wäre eine seriöse Tauftheologie, die aus der Taufe den Auftrag ableitet, das Christsein der Getauften nach Kräften auszubilden.45 Wir können nicht davon ausgehen, dass das von selbst oder mit den vorhandenen Betreuungsprogrammen in Kirchengemeinden funktioniert. Es geht vielmehr darum, hier intentional zu sein. Der Initiative „Erwachsen glauben“, die eine missionarische Ausrichtung verfolgte46, muss nun eine ähnliche Initiative „Lebendiges mündiges Christsein“ folgen, die die geistliche Bildung der Getauften zum Thema macht: ihre Bibelkenntnis, ihre geistliche Urteilsfähigkeit, eine alltagstaugliche Frömmigkeit, Sprachfähigkeit für den Glauben in ihrem Umfeld, ihre Resilienz und ihre Fähigkeit, mit ihren Gaben den Nächsten zu lieben und am Aufbau der Gemeinde teilzuhaben. Die öffentliche Missions- und Minderheitenkirche wird eine Kirche der sogenannten „Laien“ sein. Ohne sie wird unser landeskirchliches Kirchentum nicht überleben. Das ist absolut nicht neu, aber noch lange nicht im allgemeinen kirchlichen Bewusstsein verankert. Die Rolle der Getauften in einer Minderheitensituation wird in ökumenischen Diskursen oft mit ähnlichen Metaphern bebildert. Sie sind durch ihren Glauben Fremdlinge („resident aliens“47), die zugleich engagiert das Beste der Stadt suchen.48 Sie sind Priester, die für ihre Lebenswelt beten und Gott in ihrer Lebenswelt bekannt machen.49 Sie sind
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So nennt es Christian Hennecke 2015, 308. Vgl. schon im Neuen Testament solche Hinweise wie Hebr 5,11–6,3. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste 2011. Vgl. z. B. Stanley Hauerwas and William H. Willimon 1989 oder auch Timothy Keller 2012, 146–153. 48 Vgl. Jer 29,7. 49 Stefan Paas (Amsterdam) nannte die Christen in der Zeit nach dem „Christendom“ in einem Beitrag für Greifswalder Studentinnen und Studenten „strangers and priests“.
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Zeugen, die auf den Gekreuzigten als Herrn verweisen.50 Unter den Bedingungen einer sozialen und kulturellen Minorität wird das alles nur (und ich meine: nur!) möglich sein, wenn die, die glauben, in Gemeinschaft lernen, was es heißt, ein Jünger und eine Jüngerin Jesu zu sein.51
4.2 Zweite Baustelle: Regiolokale Kirchenentwicklung. Oder: Auf der Suche nach der Kirche mit vielen Anschlussmöglichkeiten Es war lange riskant, ein gutes Wort für die Kirche in der Region zu verlieren. Die Region hatte ein miserables Image, stand für erzwungene Fusionen und verlorene Nähe zu den Menschen, für Rückzug, Dehnung der Zuständigkeiten und vieles andere, das man nicht mögen kann. Axel Noack spitzte es zu: „Ein Gespenst geht um in der Kirche – das Gespenst der ‚Regionalisierung‘.“52 Das EKD-Zentrum für Mission in der Region hat viel dafür getan, dass wir heute vielleicht doch einen zweiten Blick auf das Thema riskieren.53 Wir selbst haben am IEEG gemeinsam mit Hans-Hermann Pompe und seinem Team dafür einen schönen Begriff gefunden: den Begriff der „regiolokalen Kirchenentwicklung“.54 Den möchte ich nun in aller Kürze vorstellen. Dazu entführe ich Sie in Gedanken in eine beliebige kirchliche Region, also einen mittelgroßen Gestaltungsraum kirchlichen Lebens. Meine Absicht ist es, deutlich zu machen: Die Region kann eine große Chance für eine öffentliche, missionarische Minderheiten-Kirche sein. Dazu wären aber etliche Schritte und ein ganzes Bündel von Maßnahmen notwendig. Übrigens, ich gehe natürlich von der Voraussetzung aus, dass auf der ersten Baustelle (s. o. 4.1) fleißig gearbeitet wurde. Beginnen wir mit dem Unangenehmen: Dieses Modell erspart uns nicht den Rückbau kirchlicher Strukturen, die zu teuer geworden sind oder die wir nicht mehr mit Leben füllen können. Auch in diesem Modell wird es weniger Pfar50 Vgl. Darrell L. Guder 2015. 51 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Johannes Zimmermann 2009, vor allem seinen Verweis auf Peter Bergers Hinweis auf die nötige Plausibilitätsstruktur, von der der Glaube in Minderheitensituationen abhängt (323–364). Die Christen dieser Zeit sind nicht „Christen in Halbdistanz“, die wir ermuntern, auch weiterhin „Christen in Halbdistanz“ zu bleiben. Dieses Christsein in Halbdistanz wird zum einen nicht an kommende Generationen vererbt und es wird nicht ausreichend resistent sein, wenn der Glaube nicht mehr kulturell gestützt wird, sondern persongestützt zu leben ist. 52 Axel Noack 2012, 5. 53 Vgl. z. B. Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014. 54 Vgl. Michael Herbst and Hans-Hermann Pompe 2017.
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rer geben. Es werden Dienste nicht mehr getan. Es werden Gemeinden unter Umständen nicht überleben. Es werden Gebäude umgenutzt. Es bleibt unangenehm. Es muss von einer mentalen Falle die Rede sein. Ich habe gelegentlich den Verdacht, dass wir in eine typische Falle laufen. Eine sehr schöne Formulierung von Peter Senge aus dem Kontext systemischen Denkens illustriert das: „Today’s problems come from yesterday’s ‚solutions‘.“55 Was wir gestern für eine Lösung hielten, entpuppt sich heute als das Problem. Ich habe das einmal durchgespielt. Wir haben da eine kirchliche Region, die steht unter Druck. Sie greift zu der Lösung, zu der auch andere greifen, weil man immer schon zu ihr griff: Man legt zusammen, fusioniert, konzentriert, schafft größere Gestaltungsräume. Das schafft zunächst Entlastung. Systeme reagieren allerdings immer mit Verzögerung. Nach einer Weile kippt der positive Effekt um in einen negativen. Es gibt einen Rückkopplungseffekt. Die kirchliche Region wird auf Dauer eher schwächer. Für die lokalen Biotope konnte kaum noch etwas getan werden. Ihnen ist alle Kraft entzogen. Durch die Regionalisierung ist das lokale kirchliche Leben so verdünnt oder aus dem Sichtfeld der Menschen gerückt, dass es immer weniger nachgefragt wird. Die Entfernungen wachsen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Die Schwächung schafft neuen Druck: Das nächste Kapitel der „Regionalisierung“ muss aufgeschlagen werden. Es wird noch weiter fusioniert, konzentriert, eingespart, verdünnt. „Today’s problems come from yesterday’s ‚solutions‘.“ Das Problem ist immer die Verzögerung, denn auch konstruktive Lösungen würden nicht sofort ihre Wirkung zeigen. Man muss geduldig sein. Erst nach einer Weile würde man sehen, dass eine andere Lösung tatsächlich eine Lösung ist. Aber was wäre das? Unser Denkmodell sagt: Das wäre eine Kombination von „regional“ und „lokal“. Ralph Kunz nennt das „polyzentrische Regiokirche“56, Valentin Dessoy spricht von einem „Netzwerk multipler kirchlicher Orte“.57 Und das könnte eine Reihe von Schritten umfassen: Nehmen wir als erstes an, die kirchlich Aktiven begraben das Kriegsbeil und erkennen: Diese Region ist der Raum, den wir geistlich gestalten sollen. Das ist unser Auftrag. Möglichst viele Menschen sollen einigermaßen gleichwertige Chancen bekommen, Anschluss an die Kommunikation des Evangeliums zu bekommen. Wir bejahen fortan diese gemeinsame Verantwortung. Und wir schaffen Räume, in denen wir genau darüber sprechen, uns austauschen, miteinander hören und beten. Regionale Zukunftskonferenzen, World Cafés usw. Das ist schon ein großer Schritt. Ob es zu einer rechtlichen Vereinigung
55 Peter Senge 2010, 57. 56 Ralph Kunz 2015, 96. 57 Valentin Dessoy 2015, 659.
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kommt, also zur Bildung einer großen Regionalkirchengemeinde, würde ich erst einmal offen lassen. Wer gute Erfahrungen mit dem anderen macht, der hat am Ende weniger Sorge, wenn sich auch die rechtlichen Strukturen ändern. Nehmen wir weiter an, wir fänden ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Es gäbe also in einer Region attraktive Zentralorte, in denen z. B. die große Kirchenmusik, aber auch die Schulung für Hauskreisleiter oder diakonische Besuchsdienste stattfände, der spannende Vortrag, die große Osternacht. Es gäbe aber weiterhin die tief in den kleineren oder größeren Orten verwurzelten lokalen Gemeinden, auch am Rande, an der Peripherie der Region und in kleinen Orten. Und sie würden getragen von kleinen Gruppen lebendiger, mündiger Christen, die einfache Gottesdienste feiern, Menschen besuchen, miteinander beten, Konfirmanden auf die Konfirmation vorbereiten usw. In der Regel wird kein Pastor mehr vor Ort leben, aber sie wissen, dass es Pastoren und andere Hauptamtliche in ihrer Region gibt, die sie unterstützen, gelegentlich kommen und auch die nötigen Kasualien übernehmen. Gerne fahren diese Christen immer wieder einmal in den zentralen Ort; es ist fast wie die jährliche Wallfahrt zum Tempel. Mit einer eher maritimen Metapher von Thomas Schlegel und Martin Alex: Es gäbe regionale Leuchtfeuer und ein Lichternetz aus lokalen Gemeinschaften.58 Nehmen wir weiter an, die Kirchengemeinden in der Region verstünden sich nicht länger als Anbieter von Vollprogrammen. Nehmen wir an, sie müssten nicht mehr alles anbieten, sondern nur das, worin sie stark sind und worin sie andere unterstützen könnten. Stellen Sie sich vor, eine Gemeinde hat ihre Stärken in der Musik, eine andere in der Kinder- und Jugendarbeit. Die Anbieter von Vollprogrammen stehen immer, ob sie es wollen oder nicht, in Konkurrenz zueinander. Meine Sänger können nicht deine Sänger sein. Und deine Konfirmandinnen können nicht meine Konfirmandinnen sein. Welche Entlastung, wenn wir das aufgeben könnten. In der Region bildeten sich Schwerpunkte – neben der Grundausstattung jeder Gemeinde mit einer Art Gottesdienst und gewissen lokalen Diensten. Werden wir nun sogar übermütig, dann könnte das Kriegsbeil im Boden bleiben, denn auch Profile können nun in regionalem Zusammenspiel Teil der Lösung, und nicht mehr des Problems sein. Wir mögen nicht alles lieben, was die charismatische Gemeinde da tut, aber sie bietet Menschen eine Chance, Anschluss zu finden. Das leistet aber auch die eher hochkulturell ausgerichtete Gemeinden mit der klassischen Kirchenmusik und ihrem Anspruch, für die Gebildeten unter den Verächtern da zu sein.
58 Vgl. Thomas Schlegel und Martin Alex 2012.
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Jetzt reißt es mich endgültig dahin, weil ich mir jetzt auch vorstellen kann, dass wir unsere weiteren Grenzen erheblich lockern. Wir beziehen nämlich auch die landeskirchliche Gemeinschaft mit ein (wenn sie denn will) und überlegen mit den katholischen Nachbarn, wie wir uns gegenseitig entlasten können. Wahrscheinlich sieht es nun schon etwas volltrunken aus, aber das Bild könnte noch etwas bunter werden. Denn in der Region blieben ja die Parochien ein wichtiger Baustein. Sie sichern jedem zu, dass jemand für ihn zuständig ist. In Hamburg haben sich Pfarrer, die sich „U45“ nennen (also vermutlich die jungen und die, die noch denken, dass sie jung sind), in einer Gruppe zusammengetan, die das „Kugellager“ als Signet hat.59 Das wäre ein eigenes Thema, aber ein Gedanke dieser Gruppe ist außerordentlich hilfreich für unser kleines Gedankenspiel: Sie sagen, dass Kirchengemeinden der Grundbaustein bleiben, aber nicht mehr durch ihre Begrenzung definiert sein müssen. Parochien sind dann Orte mit einem bestimmten Profil in einem lokalen Bereich der Region. Aber sie verstehen sich eher von ihrer Mitte her als von ihren Grenzen her. Will sagen: Die Grenzen der Parochie grenzen nicht länger andere aus, die quer zu parochialen Grenzen neue Formen kirchlichen Lebens ausprobieren. Sie markieren nicht mehr wie Zäune Hoheitsgebiete. Dies wäre der Freiraum für „fresh expressions of church“60 als trans-parochiale Experimente. Sie alle gehören zu einer Region. Sie reden miteinander. Sie mühen sich voneinander zu wissen und fair miteinander umzugehen. Aber es gibt kein Verbot mehr, dass es quer zu parochialen Grenzen eine Jugendkirche, eine Café Church oder ein sozial-missionarisches Projekt mit Gemeindecharakter in einem sozialen Brennpunkt zusätzlich gibt. Die Region müsste hier regulieren und deregulieren61: also Freiräume schaffen und zugleich das Miteinander verbindlich regeln. Frank Geels meint: Wenn Systeme unter Druck geraten, dann kann das auch eine Chance sein, wenn man bereit ist, innovative Ideen, die bisher in einer Nische still vor sich hin wuchsen und eine gewisse Reife erreicht haben, fortan offensiv zu nutzen.62 Das bedeutet aber, dass wir mutiger werden, bottom-up-Initiativen in unserer Kirche zu ermutigen und ihnen Raum zu geben, statt sie zu verschrecken. Manche Landeskirchen, wie etwa Mitteldeutschland63, das Rheinland oder auch Hannover64, nähern sich solchen offeneren Konzep-
59 Vgl. https://www.kirche-hamburg.de/nachrichten/details/u45-junge-pastorinnen-planen-ihrezukunft.html – aufgesucht am 16. Mai 2018. 60 Vgl. Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt 2016. 61 So auch Ralph Kunz 2015, 145. 62 Vgl. Frank W. Geels und Johan Schot 2007, 399–417. 63 Vgl. Andreas Möller und Thomas Schlegel 2016, 106–108. 64 Vgl. Rainer Mainusch 2016, 4–13.
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ten, schaffen Erprobungsräume oder weiten die kirchenrechtlichen Spielräume für Gemeindeformen, die nicht parochial sind. Jetzt könnten wir fast sagen, unsere regiolokale Kirchenentwicklung hat eine echte „mixed economy“ erzeugt.65 Wir sind davon überzeugt, dass „mixed economy“ die Pointe der Anglikanischen Reformen ist, nicht „fresh expressions“ allein. Es ist unter dem Strich unordentlicher, vielfältiger, fragiler. Es bietet neue Gelegenheiten zu Konflikten, zu Neid, zu Sorge. Es könnte aber auch entspannen, Vielfalt in ein neues Licht rücken, Menschen mehr Chancen geben, an der Kommunikation des Evangeliums teilzuhaben, weil nicht mehr alle dasselbe tun und weil so bunte Formen von Kirche nebeneinander stehen dürfen. Auf jeden Fall glauben wir am IEEG, dass auch eine Kirche, die insgesamt kleiner und ärmer wird, auf diese Weise ihren Auftrag erfüllen kann, allem Volk, also möglichst vielen Menschen, einigermaßen gleichwertigen und barrierefreien Zugang zum Evangelium zu ermöglichen. Solche Lösungen haben einen Verzögerungsfaktor. Man würde also Geduld brauchen. Man sollte mit den Willigen beginnen, keine Zwangs-, aber deutlich mehr Erprobungsräume schaffen. Ulrich Zwingli rief den Zürchern 1529 zu: „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!“66 Ich glaube, diese Mahnung brauchen wir, denn wir stecken oft fest in den mentalen Bildern67, wie Kirche zu sein hat. Wir versuchen, im Modus der Verdünnung zu retten, was zu retten ist, von dem, wie Kirche einmal war. Ralph Kunz, mein Zürcher Kollege, meinte einmal spitz, wir liefen immer dann zur Hochform auf, wenn es darum geht zu sagen, warum etwas nicht geht.68 Vielleicht könnten wir ja mal zur Hochform auflaufen, wenn es darum geht, um Gottes Willen etwas Tapferes zu tun. Ralph Kunz schreibt dazu: „Wir müssen abbauen, aber auch im Rückbau der bestehenden Strukturen bleibt das Ziel der Kirche der Aufbau lebendiger Gemeinden.“69 Genau diesem Wechselschritt der Kirchenentwicklung dienten meine Überlegungen.
65 66 67 68 69
Vgl. zum Begriff Hans-Hermann Pompe 2016, 71–78. Zitiert nach Ralph Kunz 2015, 130. Vgl. zu Begriff und Sache Peter Senge 2010, 7f (und öfter). Vgl. Ralph Kunz 2015, 141. Ibid., 38. Und 14: „Denn wo nur abgebaut und nichts aufgebaut wird, droht Lethargie und Depression.“
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5. Schlussbemerkung: Unter dem Kreuz … Aber selbst diese Schlaglichter auf einige entscheidende Baustellen leben von einer Voraussetzung. Heinrich Bedford-Strohm hat in seinem FAZ-Beitrag zur Kreuzesdebatte einen wesentlichen Hinweis gegeben, neben den Baustellen, die er als Ratsvorsitzender sieht. Er hat geschrieben, es sei deutlich geworden, dass die organisatorischen Fragen viel mehr, als das bei früheren Reformbemühungen erkennbar geworden ist, in eine geistliche Erneuerung eingebettet sein müssen, in eine Besinnung auf glaubwürdige Sprache, tragende Frömmigkeit und ein klares Engagement für den Nächsten. Wir müssen als Kirche ausstrahlen, wovon wir sprechen.70
Dem möchte ich ausdrücklich zustimmen. Unsere Not mit einer solchen Aussage steht uns aber auch sofort vor Augen: Wie sollte sie zustande kommen – diese „geistliche Erneuerung“? Sie ist ja nicht ein Projekt, das wir managen könnten. Wie sollte sie also zustande kommen? Wer wäre überhaupt daran interessiert? Wer hielte das unter dem Druck der Reformdebatten überhaupt für eine Priorität und nicht nur für „fromme Lyrik“? Ich möchte es so ausdrücken: Wir können uns nicht selbst geistlich erneuern. Wir können uns das nicht einmal vornehmen. Aber wir können uns bittend und fragend dort einfinden, wo schon früher immer wieder die Erfahrung gemacht wurde, dass Erneuerung sich einstellte. Es ist der Ort, den Caspar David Friedrich dem lahmen Wanderer zuwies: der Ort am Fuß des Kreuzes, der Blick auf das, was er zu unseren Gunsten und an unserer Stelle litt, die Bitte an diese geheimnisvolle Macht des Ohnmächtigen, die Einwilligung in seine Sendung, der Trost, in unseren armseligen Bemühungen eben arm und selig sein zu dürfen. Sich dort nicht nur pro forma, mit der vorgeschriebenen Andacht, einzufinden, das ist der Ort, an dem unsere Erneuerung beginnen könnte, wo wir eins sind, arm und selig, angewiesen und gespannt, realistisch und voller Erwartung. Realistisch und voller Erwartung, dass nicht wir Kirche gestalten, sondern der Gekreuzigte und Auferstandene, mit uns im günstigen Fall als Handlanger, in jedem Fall immer wieder überraschend, neu, anders. Ja, es bleibt alles anders. Nur Er nicht. Er bleibt sich und uns treu.
70 Heinrich Bedford-Strohm 2018, 7.
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Christel Gärtner
Gesellschaftlicher Wandel und kulturelle Dynamiken in religionssoziologischer Perspektive
Vorbemerkung1 Beginnen möchte ich mit einem Zitat von Linda Woodhead, einer englischen Religionssoziologin: „religion was changing and would never be the same again!“ – Religion verändert sich, aber auch unser Verständnis von Religion verändert sich! Ausgehend von diesem Zitat wird der Vortrag in zwei Teile gegliedert sein: 1. Ich will das religiöse Feld in Deutschland im 20. Jahrhundert skizzieren und darlegen, wie Religion sich in diesem Zeitraum verändert hat. Dabei werde ich nicht die These des Niedergangs der Kirchen und Religion vertreten, die durch den – empirisch belegten – Rückgang der kirchlich gebundenen Religiosität (Glaube an Gott, Gebet) und religiösen Praxis (Häufigkeit des Kirchgangs) ja durchaus naheliegt. 2. An einem Fallbeispiel von jugendlichem Engagement werde ich sowohl die Bedingungen für ein Ansprechen von Jugendlichen in den Blick nehmen als auch zeigen, wie Jugendliche sich zu Religion bzw. Religiosität im Gespräch positionieren. In einem Fazit werde ich einige Beobachtungen zusammentragen, von denen ich hoffe, dass sie ein Licht auf ein mögliches Potential von Kirchen werfen und Ansprechgruppen benennen.
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Der mündliche Vortragsstil wurde beibehalten.
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Christel Gärtner
1. Das religiöse Feld und die Veränderung des religiös-kulturellen Kontextes Soziologisch verbindet man mit säkularen Gesellschaften oftmals die Vorstellung, dass Religion zunehmend an Bedeutung verliert und letztendlich ganz verschwinden wird. Selbst Jürgen Habermas, der heute vor allem für den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ steht, hat lange die These vertreten, dass religiöse Denkweisen und Lebensformen in einem „fortschreitenden Prozess der Säkularisierung“ durch vernünftige oder überlegene Äquivalente ersetzt werden. Dass dieses Verständnis von Säkularisierung heute kaum noch vertreten wird, hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen hat die weltweite Religionsentwicklung der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass das Verhältnis von Modernität, Säkularität und Religiosität viel komplexer ist, als die klassische Säkularisierungstheorie angenommen hat. Zum anderen wurde diese verengte Sichtwiese aufgrund ihrer problematischen Prämissen kritisiert und zum Teil aufgegeben. An deren Stelle ist die Einsicht getreten, dass die Moderne sich sowohl durch Pluralität im Bereich des Religiösen wie durch Pluralität im Bereich des Säkularen auszeichnet. Insbesondere die neuere Weber-Interpretation wendet sich gegen eine einseitig rationalistische Lesart seines Säkularisierungskonzepts und stärkt die These, dass die Moderne strukturell zwar säkularisiert, empirisch jedoch weiterhin durch religiöse Sinnorientierungen und Handlungswirklichkeiten geprägt sein kann. Der Fakt, dass moderne Gesellschaften prinzipiell säkularisiert sind, schließt also religiöse Lebensformen und Sinnorientierungen nicht generell aus. Diese wandeln sich aber, wenn sich der gesellschaftliche Kontext wandelt. Insbesondere im 20. Jahrhundert haben wir es mit einer Vielschichtigkeit von religiösen Entwicklungen zu tun, die ich kurz skizzieren werde: Zu Beginn des Jahrhunderts ist die Zugehörigkeit zur christlichen oder jüdischen Religion der Normalfall und die Religion stellt eine den Alltag insgesamt prägende Lebensmacht dar – ein Abweichen davon bedarf der Rechtfertigung. So gehören etwa 98 % der Bevölkerung den christlichen Volkskirchen an, zum Judentum bekennen sich etwa 1 % und die Anzahl der Konfessionslosen liegt lediglich bei 0,02 %. Schaut man aber genauer hin, ist die religiöse Lage vielschichtiger, als diese Zahlen vermuten lassen. Ich will vier Entwicklungslinien benennen, die sich um 1900 beginnen abzuzeichnen, sich durch das Jahrhundert ziehen und an die bis heute in vielfacher Weise angeschlossen wird, auch wenn sich ihre Gewichtung verlagert hat: Erstens findet eine Differenzierung und Pluralisierung innerhalb der traditionalen Religionsgemeinschaften statt. Dies führt sowohl zu einer Zunahme von innerkirchlichen Sinnorientierungen als auch einer Pluralisierung von Mitgliedschaftstypen.
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Zweitens setzt ein stillschweigendes Auswandern aus den Kirchen ein. Dies betrifft insbesondere intellektuelle, männliche, bürgerliche Eliten und Teile der Fabrikarbeiterschaft. Das hängt auch mit der allmählich zur Norm werdenden Individualisierungsforderung zusammen, die auch bedeutet, dass man eine für sich passende Form der Religiosität finden muss. Das Charakteristikum der „Religiosität des Bildungsbürgertums“ liegt in der Transformation von Religion in Religiosität und führt zur Subjektivierung der religiösen Gehalte der christlichen Tradition. Damit wird ein Bedeutungswandel von Religion angestoßen, der sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter durchsetzen wird (methodologische Bemerkung: auch plausible Minderheitenpositionen können sich durchsetzen). Drittens entstehen neue Formen nicht-christlicher Religiosität. Zu diesen neureligiösen Erscheinungsformen gehören so heterogene Phänomene wie die Anthroposophie, esoterische und mystische Sekten, Lebensformbewegungen, körperbezogene Kulte, asiatische Religionsimporte, völkische Religiosität, aber auch gegenkirchliche und atheistische Bewegungen. Auch wenn diese antikirchlichen und neureligiösen Weltanschauungen maßgeblich zur Pluralisierung des religiösen Feldes beitragen, wird im Laufe des 20. Jahrhunderts eine vierte Entwicklung wichtiger – die säkulare Sinngebung. Durch die Ausdifferenzierung der Wertsphären gewinnen säkulare
Antonius Liedhegener 2012, 519.
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Sinnoptionen wie Arbeit und Familie, der politische Glaube, aber auch Bildungs- und Kunstreligionen an Bedeutung. Wie Sie in der Graphik sehen können, ist der Prozess, der um 1900 herum begann – ein Prozess der Entkirchlichung und Verkirchlichung, der religiösen Pluralisierung und Individualisierung, aber auch der Säkularisierung –, statistisch kaum sichtbar. Es gibt eine Ausnahme: diejenigen, die in den 1920ern und während des Nationalsozialismus die Kirchen verlassen haben. Zugleich haben diese Strömungen den religiösen Transformationsprozess befördert. Statistisch sichtbar wird die angestoßene Veränderung jedoch erst in den 1960er Jahren. Die Anzahl derjenigen, die aus der Kirche austreten, beginnt Ende der 1960er Jahre zuzunehmen – das betrifft die protestantischen Kirchenmitglieder früher und auf einem höheren Level als die katholischen. Während die religiöse Krise um 1900 noch mit einer hohen Bindungskraft der Kirchen und der religiösen Tradition einhergeht, verlieren die Kirchen in den 60er Jahren nicht nur die gesellschaftliche Deutungshoheit hinsichtlich zentraler moralischer Fragen, sondern auch ihre identitätsstiftende Kraft. Bereits in den 50er Jahren kündigte sich die Erosion der christlich-religiösen Lebenswelt an, z. B. an den kirchlichen Jugendorganisationen. In der Folge kommt es zu einer Abnahme der religiösen Sozialisation, die zur Schwächung der konfessionellen Identität führt aber auch zu einer Annäherung von Protestanten und Katholiken, so dass sich die traditionalen Spannungen zwischen den Konfessionen aufzulösen beginnen. Nach Hugh McLeod besteht eine wesentliche Differenz zu dem Umbruch um 1900 darin, dass die Mehrheit derjenigen, die noch christlich sozialisiert wurden, den Glauben ihrer Kindheit zurückweisen, ohne einen neuen Glauben an die Stelle treten zu lassen.2 Wolfgang Jagodzinski bringt diese entscheidende Veränderung auf den Punkt der Umkehr der Beweislast: „Nicht der Besuch der Kirche, sondern das Fernbleiben von ihr wird zur sozialen Norm“.3 Die religiöse Bindung ist nicht länger der Normalfall und wird begründungspflichtig. Der Hintergrund für diese religiöse Krise ist ein gesellschaftlicher Moder nisierungsschub: In den meisten westlichen Ländern kommt es zu einem spürbaren Anstieg des Wohlstandes, der eine Vielzahl neuer Optionen und Freiheiten eröffnet; es kommt zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Liberalisierung, einer erhöhten Bildungsexpansion und sozialen Mobilität, die die Partizipationschancen erweitern; es findet eine politische Radikalisierung statt, die vor allem in den Studentenrevolten zum Ausdruck kommt; nicht zuletzt entstehen Gegenkulturen, die zur Pluralisierung von Weltanschauungen beitragen.
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Vgl. Hugh McLeod 2007. Wolfgang Jagodzinski und Karel Dobbelaere 1993, 76.
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Zugleich breitet sich in Westdeutschland ein von Marx, Nietzsche und Freud inspirierter Säkularismus aus, der einen emanzipativ-aufklärerischen Selbstanspruch erhebt, aber durchaus ideologische Züge trägt. Unterstützt durch Medienkampagnen wächst in der Studentenbewegung eine massive Kirchenkritik: Das Christentum wird unter Aspekten wie den Kreuzzügen, der Inquisition oder der Hexenverbrennung rezipiert und die Kirche in ihrer Funktion der Herrschafts- und Gewaltlegitimation angeprangert. Diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen befördern einen säkularistischen Habitus, der bis heute eine deutlich ablehnende und negative Haltung gegenüber Kirche und Religion einnimmt. Allmählich setzt ein Prozess der Entkirchlichung ein. Kirchliche Dogmen und ein religiös geformter Verhaltenskodex verlieren ihren Status als Referenzrahmen. Dies lässt sich am Deutlichsten am Verhältnis zu Autoritäten, insbesondere aber an den Bereichen Sexualität und Familie ablesen. Die Verständnislosigkeit der katholischen Kirche für die Realität von Ehe und Familie trägt mit zur Distanzierung von Verhaltensvorgaben in Bezug auf Sexualität bei und führt zur Aufkündigung von Gehorsam. In der Folge verändern sich das Verständnis von Familie und Geschlechterrollen sowie das Leitbild bezüglich Sexualität. Die diesbezüglichen Normen wandeln sich innerhalb weniger Jahren und führen dazu, dass säkularen Bereichen wie Familie und Beruf ein größeres Gewicht im Hinblick auf Sinnstiftung eingeräumt wird als religiösen. Doch dieser Traditionsabbruch zeigt nicht die ganze Geschichte: Zwei weitere Faktoren haben das religiöse Feld seitdem verändert: Die Zuwanderung und die Folgen der deutschen Teilung. Einerseits weist die religiöse Gesamtlage in Deutschland heute eine ganz andere Vielfalt auf als noch Mitte des 20. Jahrhunderts: Noch jeweils ungefähr 30 % der Bevölkerung gehören zu den beiden christlichen Großkirchen. Die anderen religiösen Gemeinschaften machen zusammen ca. 10 % aus – dazu gehören neben den jüdischen Gemeinden, christlichen Freikirchen und den orthodoxen Kirchen auch muslimische Glaubensrichtungen, Gemeinschaften von Hinduisten, Buddhisten und neureligiösen Bewegungen. Zugleich gehören ca. 30 % der Bevölkerung keiner Religion an. Das ist auch und vor allem eine Folge der religionsfeindlichen Politik und der Förderung eines wissenschaftlichen Atheismus in der DDR. Dies hat sich sowohl auf die religiöse Verfasstheit als auch den religiösen Habitus ausgewirkt, so dass wir ein starkes Ost/West-Gefälle haben: Dreiviertel der ostdeutschen Bevölkerung gehören heute keiner Religionsgemeinschaft mehr an. In Ostdeutschland hat sich die Religionslosigkeit als Norm etabliert und die Kirchen nehmen eine Randposition ein. Gleichwohl scheint die kirchlich-religiöse Bindung ostdeutscher Christen höher zu sein als in Westdeutschland. Ich möchte diese Entwicklung deutend zusammenfassen: Das religiöse Feld ist um 1900 durch eine hohe Religionszugehörigkeit gekennzeichnet und die
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Lebensführung der deutschen Bevölkerung ist (noch) von religiösen Deutungstraditionen bestimmt. Das sagt nicht notwendig etwas über die persönliche religiöse Bindung aus – jedoch orientiert sich die These des Niedergangs an dieser Ausgangslage! Die Beschleunigung der Moderne erzeugt Krisen, die vor allem als Zerstörung von Gewissheiten erlebte werden. Es setzen Religionsdiskurse ein, die eine Vielzahl von Lösungen hervorbringen und dadurch auch zur Pluralisierung beitragen. Diese um die Jahrhundertwende in Gang gesetzten Prozesse der Ent- und zugleich Verkirchlichung, der religiösen Pluralisierung und Individualisierung, aber auch der Säkularisierung setzen sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter fort. In den 60er Jahren hat sich zudem ein säkularistischer Habitus ausgebildet, der Religion als Individuierungs- und Autonomiebehinderung betrachtet, während die jüngeren Generationen ganz andere Erfahrungen mit Kirche gemacht haben: kein strafender Gott oder autoritärer Priester. Unter ihnen ist stärker ein Habitus der religiösen Indifferenz verbreitet. Zudem wachsen sie mit kultureller und religiöser Vielfalt auf. Mit der gesellschaftlichen Umwälzung in den 60er Jahren verlieren die Kirchen nicht nur die gesellschaftliche Deutungshoheit hinsichtlich zentraler moralischer Fragen, sondern auch ihre identitätsstiftende Kraft für das Gemeinwesen: Die Selbstidentifizierung der Gesellschaft als eine ‚christliche‘ beginnt brüchig zu werden und wird allmählich durch ein säkulares Selbstverständnis ersetzt. Damit hat sich die Kontextstruktur für die Artikulation des Religiösen gravierend gewandelt, vor allem haben sich gesellschaftskulturelle und machtpolitische Zwangskonstellationen im Hinblick auf Religion aufgelöst. Mit Luhmann formuliert gibt es somit „keine nichtreligiösen Gründe mehr […], sich zu einer Religion zu bekennen“4 – religiöse Sinnstiftung stellt zwar nach wie vor eine Option dar, aber nur eine unter anderen.
2. Jugendliche Engagementbereitschaft und Religiosität In Deutschland sind – wie das Generationenbarometer zeigt – die religiöse Erziehung und der autoritäre Erziehungsstil seit den 70er Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Wir beobachten insgesamt einen Wertewandel: Während Werte wie Gehorsam, Ordnung und Disziplin zurückgehen, steigen Werte der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Seit den 1970er Jahren hat sich parallel dazu die generative Qualität in den Familien erhöht – Kinder werden viel stärker als Persönlichkeiten anerkannt. An die Stelle von Strafen (wie schlagen)
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Niklas Luhmann 2000, 136.
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tritt der Dialog mit den Kindern. Komplementär dazu hat sich in den Kirchen der strafende Gott zugunsten des liebenden verabschiedet – von daher gibt es, anderes als in der 68er-Generation, keine Notwendigkeit mehr, die Kirche zu bekämpfen. Andreas Feige und Hans Georg Ziebertz zeigen, dass die Haltung der Jugendlichen zur Kirche vielfältig ist: Sie zeichnet sich aus durch Distanz, durch Indifferenz, aber auch durch Ambivalenz und durch Zustimmung. Die kirchliche-dogmatische Religion hat für die meisten nur eine geringe Bedeutung, zum einen aufgrund des Innovations- und Individualisierungsdrucks, unter dem Jugendliche stehen, zum anderen zeichnet sich die Jugendphase selbst durch das Infragestellen und den kreativen Umgang mit überlieferten Traditionen aus. Viele besuchen aber den Gottesdienst an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern und haben weiterhin (das gilt für Westdeutschland) Interesse an kirchlichen Passageriten (Taufe, Kommunion, Firmung) – das gilt auch für einige andere europäische Länder wie Schweden und Ungarn. Die Kirchen stellen zudem – neben Sportvereinen und dem Bundesfreiwilligendienst – auch die wichtigste Organisation für soziales Engagement dar. Sie können somit attraktiv werden, wenn sie Raum für soziales Engagement anbieten, das die Merkmale von Freiwilligkeit, Offenheit und Diskursivität enthält. Ein solches Angebot nutzen viele Jugendliche auch dann, wenn sie die religiösen Sinndeutungen aus dem kirchlichen Kontext, die das Engagement oftmals tragen, nicht übernehmen oder teilen. Unter den Jugendlichen engagiert sich in etwa ein Drittel, ein weiteres Drittel bekundet die Bereitschaft, sich engagieren zu wollen. Dabei muss man bedenken, dass die Phase der Adoleszenz eine Phase des Ausprobierens und Erprobens von Möglichkeiten ist, in der gleichermaßen Eigen- und Gemeinwohlinteresse eine Rolle spielen. Die Bedingungen für ein solches Engagement will ich am Beispiel eines Angebotes eines katholischen Jugendhauses, das schon eine Weile zurückliegt, darlegen. Dieses Jugendhaus hat die Teilnahme am Wiederaufbau eines vom Krieg zerstörten Dorfes in Bosnien organisiert. Eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nimmt das Angebot als eine Option unter anderen in den Ferien wahr. Die meisten von ihnen sind in einem katholischen Umfeld aufgewachsen, einige sind religiös oder kirchlich gebunden, einige verstehen sich nicht als religiös, andere sind nicht einmal getauft. Sie erfahren von dem Angebot durch Gleichaltrige, die an der Aktion schon einmal teilgenommen haben und positiv über ihre Erfahrung berichten. Die meisten Jugendlichen sind in einer privilegierten Situation aufgewachsen, sodass man von einer gelungenen primären Sozialisation und einem gewissen Grundvertrauen ins Leben ausgehen kann. Sie sind offen, neugierig und daran interessiert, etwas Sinnvolles außerhalb ihres Alltages und der üblichen Freizeitgestaltungen zu tun. Gerade die Erfahrung, in einer privilegierten Situation aufgewachsen zu sein, ist mit
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der (unausgesprochenen) Verpflichtung verbunden, diese Ressource zu nutzen. Darauf reagieren die Jugendlichen mit der Bereitschaft, eine Verpflichtung auf Zeit zu übernehmen. Ihrem Engagement liegen insofern auch eigeninteressierte Motive zugrunde, als sie nach Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Erfüllung sowie wichtigen bewährungs- und identitätsrelevanten Erfahrungen suchen. Die Aktivitäten bieten den Jugendlichen die Chance, anschaulich zu erfahren, was es bedeutet, gebraucht zu werden: Sie können ganz konkret Menschen helfen, die auf Hilfe angewiesen sind. Indem sie anderen helfen, gewinnen sie eine Antwort auf die Frage nach dem „Sinn des Daseins“ – eine Antwort, die zudem handlungspraktisch in ein „Wir“ eingebettet ist und eben darin auch das handelnde Individuum transzendiert. Damit dies gelingen kann, sind drei Momente wichtig: Die Außeralltäglichkeit der Aktion, die zugleich in ein Moratorium eingebettet ist, gemeinwohlorientierte Inhalte und die Vergemeinschaftung mit Gleichaltrigen, mit denen sie ihre Erfahrungen deutend reflektieren können. Die Gruppe fährt im Sommer für drei Wochen in das bosnische Dorf und ist dort die ganze Zeit zusammen; geleitet und verantwortet wird die Aktion von dem Jugendhausleiter, der durch seine evangelikale Ausrichtung durchaus ein Sendungsbewusstsein hat. Wichtiger ist aber, dass er religiös glaubwürdig ist, die Jugendlichen in ihrer Eigenart anerkennt und sie begleitet, ohne ihnen seinen Glauben aufzudrängen; außerdem schafft er die Möglichkeit von Begegnungen. Die religiösen Faktoren in dem Camp sind ein religiöser Morgenimpuls und ein täglicher Gottesdienst, der jedoch freiwillig ist. Ansonsten helfen die Jugendlichen tagsüber – auf einem für sie ganz und gar unbekanntem Feld und in der Hitze – beim Wiederaufbau von Häusern, die durch den Krieg zerstört wurden und die von den Bewohnern alleine nicht wieder aufgebaut werden können. Manche betreuen auch kleine Kinder. Der religiöse Impuls begleitet die Gruppe und bleibt in individuell je unterschiedlichen, „diskursiven“ Deutungsbeiträgen den ganzen Tag präsent; wobei diese Deutungen durchaus humorvolle und kreative Wendungen nehmen können, aber auch neue Perspektiven auf die eigene Religiosität gewähren. Auch religiös distanzierte Jugendliche erfahren durch das Engagement eine Form der lebenspraktischen Gestalt von Religion, mit der sie sich auf ihre Weise identifizieren können. Ihnen wird damit die Möglichkeit eröffnet, in einer ‚nicht-kirchlich-dogmatischen‘ Dimension eigene religiöse Erfahrungen zu machen, sich anderen zu öffnen (man muss sich nicht inszenieren) und dauerhafte Freundschaften zu schließen. Jugendliche Religiosität: Fragt man Jugendliche nach ihrer religiösen Selbstbeschreibung in standardisierten Befragungen, klassifizieren sie sich am ehesten als religiös, wenn sie eine Nähe zur Kirche aufweisen.
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Da die Jugendphase sich selbst durch das Infragestellen und den kreativen Umgang mit überlieferten Traditionen auszeichnet, muss die religionssoziologische Forschung aus meiner Perspektive jedoch ein Religionsverständnis zugrunde legen, das nicht auf kirchliche oder konventionelle Sprachmuster festgelegt ist und genügend Offenheit für die Neufindung des Religiösen als Rekomposition ihrer Elemente zulässt. Dazu greife ich zwei Modelle auf, mit denen man religiöse Kommunikation und Selbstbeschreibung fassen kann: Zum einen das Strukturmodell von Religiosität von Ulrich Oevermann; zum anderen das diskursive Religionsverständnis von Joachim Matthes.5 Das strukturelle Religionsverständnis beruht auf der Annahme, dass religiöse Inhalte durch Prozesse der Säkularisierung ihre Bindungskraft verlieren, die Struktur der Religiosität jedoch als Sinn- bzw. Bewährungsfrage erhalten bleibt. Diese Struktur erfordert Antworten, die sowohl religiös als auch säkular sein können. Dieses Verständnis fasst den Zusammenhang von jugendlicher Religiosität und Identitätsbildung über das Moment der Bewährung, das sich in der Adoleszenz erstmalig als selbst zu lösende Aufgabe stellt. Es hat den Vorteil, dasjenige, an das Jugendliche glauben und an das sie sich binden, als strukturell religiös bestimmen zu können, auch wenn dies inhaltlich nicht den Vorgaben von traditionellen Religionen oder den christlichen Kirchen entspricht. Da das Herstellen von religiösen Deutungen ein reflexiver und kommunikativer Akt ist, liegt es nahe, zudem mit Matthes‘ Religionsverständnis zu operieren. Matthes definiert Religion als diskursiven Tatbestand, der sich im gesellschaftlichen Diskurs konstituiert. Er konzipiert Religion somit als reflexive Kategorie, die mit einer je spezifischen kulturellen Programmatik verbunden ist. Dieses Verständnis von Religion als einem kulturell geprägten „Möglichkeitsraum“, in dem neue Ableitungen und Interpretationen generiert werden können, entspricht in besonderer Weise der Logik adoleszenter Religiosität. Im Folgenden will ich an einer kurzen Passage darlegen, wie Jugendliche sich selbst zu Religion bzw. Religiosität positionieren: Der gemeinwohlorientierte Charakter der Bosnien-Aktion eröffnet per se einen Anschluss an Religiosität. In der Gruppendiskussion erzählt eine der Jugendlichen, dass das Gruppenerlebnis für sie von Bedeutung war, weil sie sich für andere öffnen konnte und enge Freunde fand. Zudem sei ihr nachträglich auch deutlich geworden, dass sie über die Gruppe einen Zugang zu ihrer „eigenen Religiosität“ gefunden hätte. Sie sagt: Hanna: „[…] und dann eben neben dieser Gruppenerfahrung hat mir das auch eine neue Perspektive für meine eigene Religiosität gegeben eben auch, und das fand ich auch ganz spannend.“
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Ulrich Oevermann 1996; Joachim Matthes 1992.
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Die Formulierung „eigene Religiosität“ markiert, dass Religion für Jugendliche zu einem Inhalt geworden ist, den sie sich individuell aneignen: Religion ist zu einer Sache der persönlichen Entscheidung geworden. Diese Perspektive gehört nicht selbstverständlich und erwartbar zum Ziel von Jugendlichen, die sich im kirchlichen Rahmen engagieren. Nachfolgend soll am Beispiel von Hanna und Sofia gezeigt werden, wie der Bezug auf Religion in unterschiedlicher Weise Identität begründen und Sinn stiften kann. Gemeinsam ist beiden Adoleszenten, dass sie sich auf der Suche nach einem Lebensentwurf ihrem Bewährungsproblem stellen. Sie unterscheiden sich darin, dass der Bezug auf Semantik, Symbolik und Deutung der Religion je anders vollzogen wird. Sofia formuliert die Hoffnung auf die Entwicklung ihrer „eigenen Religion“. Dies ist für sie ein zusätzliches Motiv, an der Aktion teilzunehmen. Durch die Erzählungen des Jugendhausleiters weiß sie von dem religiösen Element, den so genannten Morgenimpulsen. Diese sind eine Art biblische Losung für den Tag. Sie haben in ihr im Vorfeld die Erwartung auf eine authentische religiöse Erfahrung geweckt. Sie sucht durch ihre Teilnahme eine, so sagt sie: Sofia: „Art und Weise, so mit der […] eigenen Religion oder im Glauben überhaupt zu leben, also jetzt unabhängig von Kirche.“
Sofia kontrastiert implizit die kirchlich-dogmatische Religion, in die sie qua Erziehung hineinsozialisiert wurde, mit einer Form der Religion, die für ihr persönliches Leben relevant ist. Dies zeigt, dass auch Jugendliche, die sich als religiös verstehen, sich nicht mehr fraglos mit Formen kirchlich vermittelten Glaubens identifizieren. Sofia sucht eine aus der eigenen Biografie begründete und für sie selbst relevante Form der Religiosität. Zu Hause und im Schulalltag hat sie wenig Bezug zur Religion. Diese droht im „Tran“ des Alltags ganz unterzugehen. Dagegen wird in Bosnien das „Alltagsleben“ mit einem religiösen Impuls begonnen. Dieser ist – dank der Unterstützung durch die Gruppe – in je unterschiedlichen Deutungen den ganzen Tag präsent und verbindet die religiösen Ideale mit dem Alltag. Insofern ermöglicht der Morgenimpuls, der in den Tag hineintragen wird und den Tagesablauf prägt, eine „neue Erfahrung“. Diese war unter zwei Bedingungen möglich: Die Situation war eine außeralltägliche und die Gruppe teilte, verstärkte und bestätigte die religiöse Kommunikation. Anders als Sofia, die die Verbindung von sozialem Engagement und authentischer religiöser Erfahrung sucht, steht Hanna den angebotenen religiösen Impulsen geradezu skeptisch gegenüber. Sie sei nicht so „die Superreligiöse“ – sagt sie. Sie hat sogar Bedenken, dass die Morgenimpulse sie „nerven“ könnten. Außerdem befürchtet sie, dass sie sich aus der Gruppe ausgeschlossen fühlen könnte, wenn sie keinen Zugang zu dieser Form der religiösen Losungen aus dem Evangelium findet.
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Für Hanna ist es sehr wichtig, dass niemand indoktriniert wird und die Teilnahme am (täglichen) Gottesdienst freiwillig ist. Die von ihr erfahrene Offenheit und die ihr eingeräumte Freiheit, selbst zu entscheiden, tragen schließlich dazu bei, dass sie sich den morgendlichen religiösen Impulsen auf ihre Weise öffnen kann. In der nachträglichen Reflexion stellt Hanna die als „steif “ erlebte katholische Kirche zu Hause der lebendigen Erfahrung in Bosnien gegenüber. Sie sagt: Hanna: „Religion bedeutet da eben, konkret im Alltag einfach Hilfe zu leisten oder so, oder nett zu anderen zu sein, […] jemand ein Lächeln zu schenken.“
Mit dieser lebenspraktischen Gestalt von Religion in der Form gelebter Zuwendung kann sie sich identifizieren. Sie kann auf ihre Weise religiös sein. Mit Matthes formuliert bedeutet das: In dieser von ihr reflexiv erinnerten Gestalt kann Hanna sich im Rahmen der kulturellen Programmatik christlich begründeter Nächstenliebe im Möglichkeitsraum der aktiven Bosnienhilfe handlungspraktisch und im offenen Diskurs verwirklichen. Sie kann auf ihre Weise die christlichen Impulse aufgreifen, deuten und in ihr Leben integrieren. Der Ausdruck „ein Lächeln schenken“ ist für sie ein lebenspraktisch-sakraler Akt: etwas zweckfrei zu geben und es dem anderen zu überlassen, es anzunehmen. Die Geschichten von Sofia und Hanna zeigen deutlich eine Suche nach Authentizität der eigenen religiösen Sinndeutung. Für Sofia war die konventionelle kirchliche Praxis ein wesentlicher Anlass dafür, bewusst nach Alternativen zu suchen. Kontrastiv zur religiösen Routine in der Heimatgemeinde, erlebt sie die diskursive Deutungsoffenheit der morgendlichen Impulse als individuiert und lebendig. Hanna glaubt sich in skeptischer Distanz zur „kulturellen Programmatik“ des Christlichen. Ihre persönliche Befindlichkeit wird von der kirchlichen Praxis überhaupt nicht berührt. Gleichwohl macht sie im Rahmen der Bosnien-Aktion eine wichtige Erfahrung: Sie erlebt in der Erwiderung eines geschenkten Lächelns von Menschen, denen sie hat helfen können, die Gemeinschaft mit ihnen. Diese Gemeinschaftserfahrung wird wesentlich gestützt durch die diskursiven Deutungsfreiheiten der morgendlichen Impulse.
Fazit: Mögliche Stärken und Potentiale von Kirche Abschließend will ich zum einen fragen, welche möglichen Stärken und Potentiale von Kirche sich aus dem Fallbeispiel ableiten lassen, zum anderen potentiell ansprechbare Gruppen benennen.
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Die Stärken der Kirche liegen in wenigsten vier Momenten: Ȥ im Hinblick auf Gemeinschaftserfahrungen und Stärkung des Gemeinwohls Ȥ in der Anerkennung von Personen in ihrer individuellen Lebensgeschichte Ȥ in der authentischen und glaubwürdigen Vermittlung des Glaubens Ȥ in alternativen Sinnantworten und symbolische Deutungen auf die Krisen der Moderne Potentiell ansprechbare Gruppen: Ȥ die Gruppe der Jugendlichen verweist auf privilegierte Schichten und auf bürgerliche Eliten; diese suchen intellektuell anspruchsvolle und individuierte Antworten auf krisenhafte Erfahrungen der Moderne; außerdem wird Religion attraktiv, weil sie Distinktionsmöglichkeiten bietet (hinter der Suche nach dem Transzendenten steht mitunter die Erfahrung, dass immanente Sinnorientierungen begrenzt sind – da bietet das Christentum durchaus eine anspruchsvolle Herausforderung) Ȥ Jugendliche aus Ostdeutschland: Familie und Kirche werden als tragende Gemeinschaft erfahren; der Glauben gibt die Kraft, um riskante Entscheidungen zu treffen, sich hohe Ziele und Ideale zu stecken Ȥ junge Familien sind ansprechbar: in eine größere Gemeinschaft eingebettet zu sein, wird als Stütze, Sicherheit und Entlastung für die Verantwortung der eigenen Kinder gesucht und empfunden Ȥ Gemeinwohlengagement: Hilfe für Flüchtlinge/konkrete Hilfe für den Nächsten Ȥ Aber: es gibt auch die andere Seite, dass nämlich die Freiheiten der Moderne als Zumutungen erlebt werden; hierauf antworten fundamentalistische Gruppe und Sekten, die vermitteln, was „richtig“ und „falsch“ ist; sie bekämpfen dann etwa Entwicklungen, die aus den 60er Jahres des letzten Jahrhunderts resultieren: z. B. die Gleichheit zwischen Frau und Mann; hier haben konservative und religiös fundamentalistische Gruppe (christliche wie muslimische) durchaus eine Nähe und Gemeinsamkeit zu rechten Gruppen, Pegida und AfD; sie sprechen Personen an, die um ihre Identität fürchten und die beschleunigten Veränderungen in westlichen Gesellschaften als Bedrohung erleben; diese Gruppen setzen an die Stelle von Offenheit eindeutige Antworten, um so Einzelne von der Last der offenen Entscheidung zu befreien.
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Literatur Jagodzinski, Wolfgang und Dobbelaere, Karel: Der Wandel kirchlicher Religiosität in Westeuropa. In: Bergmann, Jörg; Hahn, Alois und Luckmann, Thomas (Hg.): Religion und Kultur, Opladen 1993 (KZS SH 33), 68–91. Liedhegener, Antonius: Säkularisierung als Entkirchlichung. Trends und Konjunkturen in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In: Gabriel, Karl; Gärtner, Christel und Pollack, Detlef (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, 481–531. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. Matthes, Joachim: Auf der Suche nach dem ‚Religiösen‘. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung. In: Sociologia Internationalis 30 (1992), 129–142. McLeod, Hugh: The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007. Oevermann, Ulrich: Ein Strukturmodell von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit. In: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a. M. 1996, 27–102.
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Reformation als Resonanz Kontinuität und Wandel in neutestamentlicher Perspektive
Hermeneutische Vorbemerkungen Die Kirche des ersten Jahrhunderts ist wie die Kirche des 21. Jahrhunderts „Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums“.1 Über den konstitutiven Ursprungsbezug der Kirche herrscht im ökumenischen theologischen Gespräch Einigkeit: Kirche gründet im Christusgeschehen, im Wort Gottes, sie ist creatura verbi.2 Kirche existiert nun aber nicht in Gestalt einer theologischen Wesensbestimmung, sondern konkret als soziale Größe – in der Terminologie des Symposiums: in Form von „Kirchengestalten“. In welcher Beziehung steht nun die Kirche des 21. Jahrhunderts zu den sozialen Ausdrucksformen der frühen Jesusbewegung? Haben uns die Wege (und Irrwege) des frühen Christentums „in Zeiten des Umbruchs“ etwas zu sagen? Kann eine Beschäftigung mit dem Neuen Testament auf einer solchen Tagung mehr sein als nur ein bibelwissenschaftliches Präludium, das – der Gattung eines Präludiums entsprechend – formfrei und nicht cantus-firmus-gebunden den eigentlichen Gesang einleitet und auf ihn einstimmt? Oder verhält es sich umgekehrt, dass gerade im Hören auf das Neue Testament und im Erforschen der frühen Jesusbewegung der cantus firmus – wenn auch von ferne – vernehmlich wird und „in Schwingung“ versetzt? Was das Studium der frühen Christentumsgeschichte nicht leisten kann, ist evident und wird in einschlägigen Publikationen stets wiederholt, häufig und
1 Eilert Herms 2010. 2 Dies gilt übrigens nicht nur für die protestantische Ekklesiologie. Vgl. Internationale Theologische Kommission 2015, 14 (mit Zitat aus Benedikt XVI. 2010, 3): „Auf Gottes Wort zu hören ist das entscheidende Prinzip der Katholischen Theologie; es führt zum Verstehen und Sprechen und zur Bildung der christlichen Gemeinschaft: ‚Die Kirche gründet in der Tat auf dem Wort Gottes, sie entsteht und lebt aus ihm.‘“
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zurecht mit einem warnenden Unterton. Es wird zurecht gewarnt vor der hermeneutischen Naivität, Antworten auf moderne Fragen aus einem antiken Phänomen zu erschließen. Solche Unternehmen erliegen allzu häufig der unausweichlichen Gefahr, die eigenen Antworten in die Geschichte hineinzulesen, um sie anschließend mit der Lackschicht der historiographischen Evidenz wieder aus dem Tauchbad der historischen Forschung herauszuziehen.3
Es wird zurecht gewarnt vor einer romantisierenden Verklärung des Urchristentums, das einen ‚rein charismatischen‘ Anfang nahm und ohne Amt und Dogma auskam.4 Oder es wird festgestellt, dass es eine ‚biblische‘ Ekklesiologie nie gab und dass sich daher die „Fragen der Gemeinde- und Ämterordnung“ auch nicht ‚biblizistisch‘ lösen lassen, indem man etwa bestimmte im Neuen Testament vorfindliche Strukturen für sakrosankt erklärte.5 Nach dem (neuerlichen) Aufkommen der sozialgeschichtlichen Erforschung des frühen Christentums in den 1980er Jahren wurde zurecht vor einer „methodische[n] Sorglosigkeit“ gewarnt, die außer Acht lässt, wie heikel die Quellenlage für die Gemeinden der Frühzeit ist.6 Im Zuge von lingustic turn und rhetorical turn wird schließlich zurecht davor gewarnt, die „narrative Konstruktivität von Geschichte“ aus dem Blick zu verlieren.7 Können wir angesichts der Verschlungenheit von Text und Geschichte überhaupt zu den historischen Wirklichkeiten durchdringen? Keines dieser Warnschilder ist fehl am Platz. Und doch sind sie keine Stoppsignale. Evangelische Theologie muss „ihr Bild von Kirche und Gemeinde vor dem Neuen Testament verantworten, will sie ihre Grundlage und Identität nicht preisgeben.“8 Wer von re-formatio spricht, muss auch eine Vorstellung von einer forma haben, an der sich eine „Reformation“ orientiert. Die formative Phase des frühen Christentums, die konkreten „Kirchengestalten“ der Zeit des Anfangs sind m. E. transparent für die Frage, wie Kirche in Zeiten des Umbruchs gestaltet werden kann. Im Anschluss an das musikalische Metaphernfeld bietet sich das Konzept der „Resonanz“ an, das Hartmut Rosa mit beeindruckendem Erfolg in den soziologischen Diskurs einbrachte.
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So Volker Gäckle 2017, 239. Karl-Wilhelm Niebuhr 2014, 230. Jörg Frey 2016, 779 f. Georg Schöllgen 1989, 39. Zu diesem Begriff vgl. Ruben Zimmermann 2017, 39. Jörg Frey 2016, 780.
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Bringt man zwei Stimmgabeln in physische Nähe zueinander und schlägt eine davon an, so ertönt die andere als Resonanzeffekt mit. Wenn Subjekte also […] auf Resonanzerfahrungen hin angelegt sind, so können sie darauf hoffen, als ‚zweite Stimmgabel‘ von etwas Begegnendem zum Klingen gebracht zu werden – oder aber im Sinne der ‚ersten Stimmgabel‘ so lange zu suchen, bis sie ‚Widerhall‘ finden.9
Rosa stellt fest, dass wer mit einem anderen in eine Weltbeziehung tritt, sich reflexiv mit dem Klang des Gehörten auseinanderzusetzen und mit eigener Stimme zu antworten hat. Im Blick auf unsere Fragestellung geht es freilich nicht um zwischenmenschlich-personale Resonanz, sondern um eine geschichtlich- epochale Resonanz. Die Kirche des 21. Jahrhunderts hört und antwortet mit eigener Stimme auf den cantus firmus der Frühphase des Christentums; sie ist – in kritischer Sympathie – offen für Impulse, lässt sich von ihnen berühren, inspirieren, transformieren – reformieren. In diesem Sinne ist Re-formation Re-sonanz. An diese etwas ausführlichen, aber gebotenen hermeneutischen Vorbemerkungen kann sich nun der materiale Teil meiner Überlegungen anschließen. Die Forschung zur frühen Jesusbewegung, ihrer sozialen Gestalt und ihrem religiös-kulturellen Ort in der Antike pulsiert. Regelmäßig schaffen es die Bücher auf Bestsellerlisten. Im angelsächsischen Raum dominiert ‚triumphalistische‘ und ‚destruktivistische‘ Rhetorik: Der Soziologe Rodney Stark gab seinen Büchern die Titel „The Triumph of Christianity. How the Jesus Movement Became the World’s Largest Religion“ und „The Cities of God. The Real Story of How Christianity Became an Urban Movement and Conquered Rome“.10 Im Jahr 2016 erschien von Larry Hurtado „Destroyer of the Gods. Early Christian Distinctiveness in the Roman World,“11 und Bart Ehrman überschreibt seine jüngste Veröffentlichung „The Triumph of Christianity: How a Forbidden Religion Swept the World“.12 Ich möchte in Anlehnung an eine anregende Studie von Christoph Markschies etwas bescheidener fragen: „Warum hat das Christentum in der Antike überlebt?“13 Wie konnten sich die ersten Christengruppen in den ersten Jahrzehnten behaupten in einer kulturell und religiös überaus pluralen 9 Hartmut Rosa 2016, 211 f. Zur theologischen Rezeption des Resonanzbegriffes vgl. nun auch Tobias Kläden und Michael Schüßler (Hg.) 2017. 10 Rodney Stark 2006; ders. 2011. Sein populärstes Buch zur Frühzeit des Christentums ist das vielfach aufgelegte The Rise of Christianity. A Sociologist Reconsiders History, 1996, als Paperback unter dem Titel The Rise of Christianity. How the Obscure, Marginal Jesus Movement Became the Dominant Religious Force in the Western World in a Few Centuries, 1997. 11 Larry W. Hurtado 2016. 12 Bart Ehrman 2018. 13 Christoph Markschies 2006. Der Text ging ein in Christoph Markschies 2016, 215–264.
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Landschaft, auf einem kaum überschaubaren Markt religiöser Sinnangebote? Wie profilierten sie sich? Was machte sie attraktiv und anschlussfähig?
Re-Formation1 | Entdeckung des Glaubens Antiochia am Orontes, die drittgrößte Stadt des Römischen Reiches nach Rom und Alexandria, wurde zum ersten Zentrum des frühen Christentums. In Antiochia wurden die Jesusnachfolger erstmals „Christen“ (Χριστιανοί) genannt, wie es in der Apostelgeschichte lapidar heißt (Apg 11,26). Antiochia ist der Schauplatz einer sinnbildlichen Mahlgemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen (Gal 2,11–14), die – in den berühmten Worten Max Webers – die „internationale und inter-ständische Universalität“ des Christentums erwies.14 Die Sprengkraft der revolutionären „Abstreifung aller rituellen Geburts-Schranken für die Gemeinschaft der Eucharistie“15 zeigte freilich Wirkung. Antiochia wurde nun zum Ort einer symbolischen Auseinandersetzung. Petrus entzieht sich der Gemeinschaft und sondert sich ab „aus Furcht vor den Beschnittenen“, d. h. den Jerusalemer Judenchristen (Gal 2,12). Paulus reagierte heftig und stellte Petrus vor den Anwesenden zur Rede: „Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Heiden und nicht wie ein Jude lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, wie die Juden zu leben?“ (Gal 2,1416). Es folgt im Bericht des Galaterbriefs der Basissatz der Rechtfertigungslehre: Weil wir aber wissen, dass ein Mensch nicht dadurch gerecht wird, dass er tut, was im Gesetz geschrieben steht, sondern durch den Christusglauben, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir aus dem Christusglauben gerecht würden und nicht dadurch, dass wir tun, was im Gesetz geschrieben steht (Gal 2,16).
Der „Tag von Antiochien“ (Max Weber), an dem Judenchristen und Heidenchristen an einem Tisch saßen, brachte noch keinen Durchbruch, sondern „zementierte vielmehr vorerst die inneren Bruchlinien“ der Jesusbewegung.17 Der „antiochenische Zwischenfall“ zeigt dies nur allzu deutlich. Die zentralen Fragen sind aber gestellt: Was heißt es, „Christ“ (Χριστιανός) zu sein? Was ist Glaube (πίστις)? Welche Rolle spielen die „Werke des Gesetzes“? Wie ent14 15 16 17
Max Weber 1996, 96. Vgl. dazu Thomas Schmeller 2000. Max Weber 1996, 96. Hier und im Folgenden zitiert nach der Züricher Bibelübersetzung. Michael Sommer 2015, 28.
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steht christliche Identität? Jede soziale Einheit „muss sich durch kleine oder große Differenzen von der umgebenden Kultur absetzen, um überhaupt als distinkt zu existieren, jede muss ‚boundary maintenance‘ üben.“18 Fragen wir nach dem Identitätskriterium des entstehenden Christentums, kommt nur der Christusglaube in Frage. Hans Weder sprach in einem Vortrag vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland von einer „Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament“: Keine andere jüdische oder hellenistische Schrift vor oder nach dem Neuen Testament verwendet das Wortfeld ‚glauben‘ auch nur annähernd so häufig. In diesem Buch trat das Wortfeld des Glaubens in den Mittelpunkt, weil offenbar das Phänomen des Glaubens auf eine vorher nicht da gewesene Art entdeckt worden war.19
Die „Entdeckung des Glaubens“ in dessen konstitutivem Bezug auf das Christusereignis bleibt eines der anregendsten Forschungsthemen der Bibelwissenschaft,20 die Wiederentdeckung des Glaubens eines der entscheidenden Zukunftsthemen der Kirche.
Re-Formation2 | Paradigma der Vielfalt In Ephesus kam es wie in keiner anderen Stadt des frühen Christentums schon sehr bald zu einem bunten Nebeneinander von Christengruppen mit unterschiedlicher Prägung. Ephesus wurde zum „melting pot“ der Jesusbewegung. Zahlreiche Personen und Traditionen sind neben der paulinischen Mission eng mit Ephesus verbunden: Jünger Johannes’ des Täufers, Apollos, Prisca und Aquila, der Epheserbrief, das lukanische Doppelwerk, die johanneischen Schriften einschließlich der Johannesoffenbarung, die Pastoralbriefe und schließlich der Brief des Ignatius an die Epheser.21 Eine ungeheure Pluralität allein im 1. Jh. n. Chr., die in den vergangenen Jahren die Aufmerksamkeit der neutestamentlichen Wissenschaft auf sich zog.22 Sie stellt u. a. die Frage, wie in einer Stadt,
18 Miroslav Volf 1995, 359. 19 Hans Weder 1992, 138. 20 Vgl. den Sammelband Jörg Frey, Benjamin Schliesser und Nadine Ueberschaer (Hg.) 2017, sowie die gewichtige altertumswissenschaftliche Monographie von Teresa Morgan 2015. 21 Vgl. Markus Tiwald 2012, 129; Jörg Frey 2013, 246. 22 Vgl. exemplarisch zum frühen Christentum in Ephesus Paul Trebilco 2004; Josef Pichler und Christine Rajič (Hg.) 2017.
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auf so engem Raum, so vielfältig ausgeprägte „Christentümer“ nebeneinander existieren konnten – vom prophetisch-apokalyptischen Christentum der Johannesapokalypse über die sakramentale Bischofskirche eines Ignatius bis hin zu den weltoffenen Nikolaiten (Apk 2,6.15), einem „ultrapaulinischen“ Flügel der Gemeinde, der (wie Paulus in 1 Kor 8) das Essen von Götzenopferfleisch nicht in Bausch und Bogen verdammte. Dieses faktische Nebeneinander, teilweise auch Gegeneinander, forderte die Jesusgruppen (nicht nur in Ephesus) zu einem komplexen „Identitätsmanagement“ heraus. Der Christusglaube stiftete eine gemeinsame Identität; die Haltung zur „Welt“, zum Römischen Reich und seiner Kultur provozierte Abgrenzungen. Der Diffamierung der Mehrheitskultur als „Hure Babylon“ steht das Modell einer kulturellen Vermählung gegenüber.23 Auch die Ordnungsstrukturen der frühen Gemeinden waren fluide und wurden der Situation entsprechend angepasst. Bis weit ins 2. Jh. zeigte sich das Netz der Jesusbewegung dezentral und fraktioniert, was eine theologische wie auch strukturelle Vielfalt begünstigte. Seit den nachösterlichen Anfängen lebten Christengruppen mit verschiedenen Glaubensansichten und -praktiken nebeneinander her – in einem trotz unterschiedlicher Sichtweisen aufs Ganze gesehen relativ unkomplizierten Verhältnis.24
Die Fragen, die sich den Christengruppen in Ephesus stellten, resonieren auch in der heutigen Zeit: „Wie weit darf sich die Kirche ihrer Umwelt öffnen, ohne ihr Potential als Kontrastgesellschaft zu verlieren?“25 Wie weit muss sich die Kirche öffnen, um zu verhindern, dass sie sich von der Gesellschaft abkoppelt? Nach welchen Kriterien erfolgt die Leitung der Kirche – stehen Abgrenzung und Machterhalt im Vordergrund oder wird eine Vielfalt von Strukturen und Praktiken gefördert, „die im Einzelnen situationsbezogen wandelbar und hinterfragbar sein müssen, damit der Geist nicht ‚gedämpft‘ und die Dynamik des Evangeliums nicht behindert wird“?26
23 Vgl. Samuel Vollenweider 2014, 127: „Das Christentum hat wie kaum eine andere Religion der Menschheit das gesamte Spektrum zwischen Weltflucht und Weltverantwortung artikuliert.“ 24 Peter Lampe 2017, 52. 25 Markus Tiwald 2012, 142 f. 26 Jörg Frey 2016, 796.
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Re-Formation3 | Option für die Gesamtgesellschaft Lange Zeit galt als unumstößliche Wahrheit, dass sich die frühen christlichen Gemeinden aus sozial Randständigen, Rechtlosen, Armen und Versklavten zusammensetzten. Nietzsches Satz klingt im kollektiven Gedächtnis nach: „Das Christentum hat die Partei des Schwachen, Niedrigen, Missratenen genommen“, in ihm „kommen die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter in den Vordergrund, die in ihm ihr Heil suchen.“27 Das Christentum galt als ein Unterschichtenphänomen, eine Proletarierbewegung. Für diese Ansicht stehen so bedeutende Forscher wie Friedrich Engels, Karl Kautsky, Adolf Deißmann, Max Weber und Ernst Troeltsch. Seit den 1970er Jahren jedoch bricht sich ein „New Consensus“ Bahn, der zum Ausdruck bringt, „dass die frühen Christen unterschiedlicher sozialer Herkunft waren und dass es unter ihnen einen nicht zu unterschätzenden Anteil an Personen mit höherem gesellschaftlichen Status gab.“28 Unser Wissen über die Zusammensetzung der ersten Gemeinden, über die soziale Lage und den Status ihrer Mitglieder, ist freilich überaus schmal. Am wenigsten nebulös stellt sich die Situation der Christen noch in Rom und in Korinth dar. Bleiben wir für einen Moment in Korinth und versetzen uns in die Rolle des fiktiven „Unkundigen“ (ἰδιώτης), den Paulus (in 1 Kor 14) in die Gemeindeversammlung einschleust und der beim glossolalen Treiben der Gemeinde den Kopf schüttelt. Welche Beobachtungen hätte der „Unkundige“ zur Sozialstruktur der Gemeinde gemacht? Das Gros der Mitglieder hätte er nicht zu den Weisen, Mächtigen und Vornehmen gezählt (vgl. 1 Kor 1,26). Dennoch wären ihm auch Gebildete und Angesehene aufgefallen. Dass es sie gab, lässt sich übrigens nicht nur aus den knappen Bemerkungen zu einzelnen Personen erschließen, sondern auch aus den sozialen Spannungen, die in der Gemeinde v. a. im Umkreis des Herrenmahls existierten (1 Kor 11,17–22), aus dem Streben nach Redekunst und Weisheit (1 Kor 2,1), aus dem „Prozessieren um zivilrechtliche Kleinigkeiten“ (1 Kor 6,1–8) und aus den Einladungen, die einzelne Gemeindeglieder in den Tempel erhalten haben (1 Kor 8,10).29 Die schillerndste Gestalt in der korinthi-
27 Friedrich Nietzsche 1967, 488. 28 Alexander Weiß 2015, 18. Der Konsens freilich besteht weniger auf der sachlichen Ebene als auf dem Einverständnis, die frühchristlichen Quellen sozialgeschichtlich zu lesen. Für den „New Consensus“ stehen u. a. Edwin Judge, Gerd Theißen, Wayne Meeks, Abraham Malherbe und Luise Schottroff. Vgl. aber schon Adolf von Harnack 1924, 559–568, der sich in einem ganzen Kapitel der Verbreitung des Christentums „unter den Vornehmen, Reichen, Gebildeten und Beamten“ zuwendet. 29 Dieter Zeller 2010, 39.
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schen Gemeindeszene ist zweifellos Erastus, der im Römerbrief seine Grüße aus Korinth an die römische Gemeinde entbietet – Erastus, ὁ οἰκονόμος τῆς πόλεως (Röm 16,23). Vieles spricht dafür, dass οἰκονόμος einen Ädilen meint, und als Ädil war Erastos „qua Amt Mitglied des korinthischen ordo decurionum“, d. h. der städtischen Munizipalaristokratie, und damit Teil der sozialen Elite.30 Die dem ordo decurionum zugehörigen Vollbürger bestimmten das Leben in der Stadt, besaßen in aller Regel Land, genossen ein hohes Sozialprestige und eine Reihe von Privilegien, rivalisierten um Ämter und hielten „mit ihrer Munifizenz (Spenden, Stiftungen, Bauten, Übernahme von Gesandtschaften) das öffentliche Leben in Schwung.“31 Der unbekannte Besucher wäre wohl überrascht gewesen von der Rolle der Frauen in den korinthischen Zusammenkünften, denn sie beteten und übten Prophetie (1 Kor 11,5). Jan Bremmer hebt die singuläre Bedeutung von Frauen in den christlichen Versammlungen hervor, die in der paganen Welt ohne Vergleich ist. So hatten wohlhabende und gebildete Frauen in einer christlichen Gemeinde die Möglichkeit, sich mit der intellektuellen männlichen Elite auszutauschen32 oder das Patronat einer christlichen Versammlung anzustreben. Chloe (1 Kor 1,11) mag eine solche Frau gewesen sein, auch wenn ihre Lokalisierung in Korinth nicht zu sichern ist, ebenso Phöbe, die im benachbarten Kenchreä als Patronin einer Gemeinde „dient“ (Röm 16,1). Beide tragen mythologische Namen, was wohl auf Freigelassene deutet. Das Detailproblem um Amt und Status des Erastus wie auch die Rolle von Frauen in Korinth verweisen auf einen wichtigen, übergeordneten Sachverhalt: Die korinthische Gemeinde ist ein Spiegelbild der Gesellschaft, in die sie eingebettet ist.33 Diese Einsicht ist weniger banal, als sie auf den ersten Blick erscheint. Auch wenn die römische Gesellschaft soziale Mobilität erlaubte, waren alle Bereiche des täglichen Lebens von einem bemerkenswerten Statusbewusstsein durchzogen – von der Kleiderwahl bis zu den Mahlzeiten. Taufe
30 Alexander Weiß 2015, 139. 31 Helga Botermann 1991, 300. Gut möglich, dass der Erastus des Römerbriefs identisch ist mit dem Erastus der berühmten „Erastusinschrift“, die im Jahr 1929 nordöstlich des korinthischen Theaters gefunden wurde und die sich heute noch in situ befindet. Die Pflasterinschrift besagt, dass ein gewisser Erastus für die ihm verliehene Ädilenwürde einen Platz auf eigene Kosten pflastern ließ. Seine Wahl zum Ädil nahm er zum Anlass, der Stadt eine Wohltat zukommen zu lassen. 32 Vgl. Jan N. Bremmer 2017. 33 Vgl. Larry L. Welborn 2016, 73: „All in all, the ἐκκλησία of Christ believers at Corinth would seem to be a mirror and microcosm of the city itself. The majority were poor, lacking education, wealth, and birth, nobodies in terms of public honor; some had fallen below the level of subsistence and depended on the communal meals for nourishment. A few were persons of middling incomes, shop-keepers, perhaps, or merchant-traders.“
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und Herrenmahl ziehen zwar keinen (realsozialen) Wechsel des Standes nach sich, überwinden aber ethnische, soziale und geschlechtliche Unterschiede. Der Rückfall einzelner korinthischer Christen in ein Statusdenken wird von Paulus sofort beanstandet (1 Kor 11,18–22). Die Logik seiner Kritik: Wer die Tragweite des letzten Mahls und der Wiederkunft (vgl. 1 Kor 11,26) verstanden hat, wird soziale Ausgrenzungen als lieblos entlarven.
Re-Formation4 | Transformation der Ethik Je mehr wir über die soziale Situation der Städte des 1. Jh. wissen, desto plastischer wird unser Bild von der Jesusbewegung der Frühzeit, vom Alltag der Menschen, von den existenziellen Fragen, die sie bewegten. Wir dürfen nicht unterschätzen, wie sich eine vom Glauben motivierte Umwertung von Werten, eine Transformation der Ethik, auf das alltägliche Leben auswirkten, v. a. auf das Leben von Frauen, Kindern und Armen. Christoph Markschies spricht von einer „einfache[n] Ethik des Lebensschutzes“ und verweist auf die umfassenden Rechte des pater familias, dem es zustand, ein neugeborenes Kind, das er nicht als Teil der Familie akzeptierte, zur Adoption freizugeben, zu verkaufen, zu töten oder auszusetzen. Betroffen waren insbesondere behinderte Kinder, uneheliche Kinder oder Mädchen. Es ist umstritten, ob sich noch in der frühen Kaiserzeit Hausväter auf das Tötungsrecht (ius vitae necisque) beriefen und ihr Kind töteten,34 häufiger wurde das Recht auf Aussetzung angewandt, nach dem Säuglinge an öffentlichen Plätzen ausgesetzt und von dort häufig von Zuhältern oder Zuhälterinnen aufgegriffen „und von klein auf zur Prostitution ‚abgerichtet‘“ wurden.35 Aussetzungen dienten wie auch Empfängnisverhütung und Abtreibung der Familienplanung und wurden erst unter christlichem Einfluss im Jahr 374 n. Chr. untersagt. Die christliche Kritik an dieser Praxis schloss an das Frühjudentum und seine Wertschätzung des menschlichen Lebens als Schöpfungsgabe an. Aus dem Gebot „Du sollst nicht töten“ leitet die Didache – eine Art Handbuch für das christliche Leben aus dem 1. Jh. – das Verbot der Kindstötung und Abtreibung ab. Es ist dies der aller Wahrscheinlichkeit nach „älteste christliche Beleg für das Verbot der Abtreibung.“36 Die „einfache Ethik“ der frühen Jesusbewegung machte nicht beim Lebensschutz Halt, sondern erstreckte sich auch auf die Versorgung von Witwen und Wai-
34 Vgl. zusammenfassend Heinrich Honsell 2015, 182. 35 Bettina E. Stumpp 1998, 29 (zitiert bei Christoph Markschies 2016, 245). 36 Georg Schöllgen (Hg.) 1991, 103 Anm. 29.
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sen,37 auf Krankenbesuche und Krankenfürsorge, auf Gastfreundschaft und Gefangenenbetreuung oder auf eine alternative Sexualmoral. Der stärkste Impuls für die Transformation der Ethik ging von den Worten und Gleichnissen Jesu aus. Besonders nachhaltig wirkte Mt 25,35–36: Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.
Solche Aussagen finden sich in der griechisch-römischen Kultur schlechterdings nicht. Pieter W. van der Horst hat jüngst nochmals bestätigt, dass Wohltäterschaft zwar eine bedeutende Rolle im sozialen System spielte, sich aber nicht auf die prekären Milieus, die „Armen“ erstreckte; die höchste Tugend, „Gerechtigkeit“, orientierte sich am suum cuique, die „Menschenfreundlichkeit“ (φιλανθρωπία) richtete sich an den eigenen sozialen Nahbereich – Eltern oder andere Familienmitglieder – sowie Gäste und Fremde, aber nicht an die Armen; analoges galt für das „Erbarmen“ (ἐλεημοσύνη) im Sinne einer empathischen Zuwendung an den Anderen – von den Stoikern als vernunft- und naturwidrige Bewegung der Seele verunglimpft, im jüdisch-christlichen Sprachgebrauch in der Bedeutung „Almosen“ ungeheure Wirkung entfaltend.38
Re-Formation5 | Kulturelle Innovationen In jüngster Zeit geriet eine Gruppe von Athenern ins Visier der Bibelwissenschaft, die den Gott Dionysos (lat. Bacchus) verehrten, die sogenannten Iobakchen. Sie betrieben einen Kultverein, der nur Eingeweihten, d. h. Vereinsmitgliedern, Zutritt gewährte. Der ausführliche Text der Vereinssatzung der Iobakchen und zahlreiche weitere aus dem gesamten Reich stellen vor die Fragen: In welcher Beziehung stehen frühchristliche Gemeinden mit paganen Vereinen? Welche Konvergenzen lassen sich zwischen Christusgemeinden und Vereinen ausmachen, worin unterscheiden sie sich? Was machte die Zuge37 Vgl. John T. Fitzgerald 2016, mit einer Auflistung aller Belege aus dem 1. und 2. Jh. zur Verpflichtung der christlichen Gemeinden gegenüber Waisen. Als Waise galt bis ins 6. Jh. n. Chr. ein vaterloses Kind (vgl. die häufige Wendung „Witwen und Waisen“). 40–45 % der nicht-volljährigen Jugendlichen hatten in der uns interessierenden Epoche ihren Vater verloren und der Anteil der Witwen an der weiblichen Gesamtbevölkerung betrug 25–30 %. 38 Vgl. zum Ganzen Pieter W. van der Horst 2016.
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hörigkeit zu einer christlichen Gemeinde attraktiv?39 Marktwirtschaftlich gesprochen waren Vereine und christliche Gemeinden direkte Konkurrentinnen – und sie sind es heute wieder. Das Vereinsleben spielte sich in den regelmäßigen Zusammenkünften ab. Im Mittelpunkt stand das gemeinschaftliche Essen, bei dem man des Stifters gedachte und/oder eine Gottheit verehrte. Vereinstreffen fanden in Privathäusern statt, häufiger jedoch in eigenen Vereinshäusern, Tempelhallen oder Gasthäusern. Familienmetaphorik, v. a. die Anrede als „Bruder“, und Freundschaftsrhetorik prägten den Idiolekt etlicher Vereine. Aufgrund dieser und weiterer Analogien kommt etwa Martin Ebner wie viele andere zur Auffassung, dass die ersten Gemeinden nicht nur in der Außenwahrnehmung als Vereine erscheinen mussten, sondern auch „von ihrer Selbststilisierung her“ – um im gleichen Atemzug zu sagen: „und [sie] wollen doch anders sein“.40 Inwiefern waren die frühchristlichen Gruppen anders? Ihr Anderssein gründet in der formativen Kraft ihres Glaubens. Aus ihm leiten sich einige der markantesten Wesenszüge frühchristlicher Gemeinschaftsbildung ab:41 Der Beitritt zur Gemeinde ist nicht mit finanziellen Hürden verknüpft, Status- und Geschlechtergrenzen werden programmatisch in Frage gestellt und zumindest im Ansatz überwunden, die Sozialbeziehungen in den Gemeinden erreichen eine außerordentliche Intensität und Verbindlichkeit und schließen die Mitglieder „in eine umfassende und exklusive Lebensgemeinschaft“ ein.42 Wer Mitglied der Gemeinde ist, bringt auch finanziellen Einsatz, aber der finanzielle Einsatz ist nicht Voraussetzung für die Mitgliedschaft; vielmehr vermitteln Glaube und Taufe Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Außergewöhnlich ist die Häufigkeit der christlichen Zusammenkünfte, die wöchentlich stattfanden, damit häufiger ein Sättigungsmahl boten und das Gemeinschaftsgefühl stärkten. Schließlich steht die überregionale Vernetzung der christlichen Gemeinden im Kontrast zu Vereinen. Sie lässt sich zurückführen auf die „bewusst transnationale, transkulturelle und schichtenübergreifende mitgliederwerbende Mission des frühen Christentums,“ die „in ihrem Ausmaß, ihrer Geschwindigkeit und ihrem Erfolg in der Antike ohne Analogie“ ist.43
39 Vgl. Eva Ebel 2004, 215–218. Dort ist auch die Vereinssatzung der Iobakchen in Übersetzung abgedruckt. Den ersten Impuls zu einem Vergleich von Verein und christlicher Gemeinde gab im 19. Jh. Georg Heinrici mit seinem einflussreichen Aufsatz „Die Christusgemeinde Korinths und die religiösen Genossenschaften der Griechen“, 1876. 40 Martin Ebner 2012, 228. 41 Vgl. ausführlicher Benjamin Schliesser 2015, 96–107.115–119. 42 Thomas Schmeller 1995, 17. 43 Udo Schnelle 2014, 161.
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Christliche Gemeinschaftsformen fielen also nicht „senkrecht vom Himmel“ – wie es in der älteren Forschung oft unausgesprochen vorausgesetzt wurde –, sondern adaptieren existierende Sozialformen und -strukturen. Gegenwärtig hat das Vergleichsparadigma des Vereins Hochkonjunktur, doch sind die Philosophenschule, Mysterienkulte und die Synagoge nach wie vor im Gespräch. Die Gestalt der christlichen Gruppen war beweglich, bildete sich lokalspezifisch aus und erwies sich als anschlussfähig an das kulturell Vorfindliche. Analoges gilt für die Versammlungsorte der frühen Jesusbewegung. Sicher trafen sich die ersten Gemeinden v. a. in Privathäusern zum Gottesdienst und zum Essen,44 doch könnten zu den Versammlungsorten auch Gewerberäume, Warenlager, Werkstätten und Tavernen sowie Gartenanlagen und Friedhöfe gezählt haben.45 Die Frage nach den Gemeinschaftsformen ist lediglich ein Aspekt, der unter der Überschrift „Kulturelle Innovationen“ von Bedeutung ist. Je gastfreier die neutestamentliche Wissenschaft gegenüber anderen Disziplinen ist, desto plastischer wird ihr Bild von der Innovationskraft des frühen Christentums. Ich kann hier lediglich einige Stichworte aus ganz verschiedenen Bereichen nennen: Die Sprache des Kreuzes, wie sie v. a. Paulus und der Markusevangelist prägen, stellt „etwas völlig Neues und Singuläres“ und durchaus auch Provozierendes dar.46 Paulus, Johannes und der Hebräerbriefautor schufen eine je eigenständige Sprache und Theologie des Glaubens,47 bildeten neue Begriffe oder prägten Begriffe um in der Absicht, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu stiften und zu stärken.48 Eindrucksvoll ist auch das publizistische Wirken des frühen Christentums: Paulus formte die Gattung des Briefs um, richtete einen Brief an verschiedene Gruppen, erwartete eine öffentliche Lektüre in den Versammlungen und griff mit seinen Schreiben regulativ in das Gemeindeleben ein.49 Markus schuf mit dem Evangelium eine neue literarische Gattung, Lukas weitete das Genre in sein historiographisches Doppelwerk aus. Theologische Innovationen kollidierten mit den dominierenden Sinnwelten – Rechtfertigung des Gottlosen, leibliche 44 Vgl. die klassische Abhandlung von Hans-Josef Klauck 1981; darüber hinaus Hans-Hermann Pompe 1996. 45 So Edward Adams 2013. Nicht alle Einzelanalysen des Buches überzeugen gleichermaßen, doch scheint die Variabilität der Versammlungsorte größer, als gemeinhin angenommen. 46 Udo Schnelle 2015, 126. Schnelle weiter (ebd.): „Von hieraus eine positive Theologie zu entwickeln, muss als provokanter und zugleich äußerst kreativer Akt des frühen Christentums gesehen werden.“ 47 A.a.O., 128–130. 48 Wayne A. Meeks 1983, 93: „Every close-knit group develops its own argot, and the use of that argot in speech among members knits them more closely still.“ 49 Vgl. Larry W. Hurtado 2016, 121: „I know of no other philosophical or religious group of the time that exhibits an appropriation of the letterform as a serious vehicle for its teaching that is comparable to what we see in letters of Paul and subsequent Christian texts, such as the letters of Ignatius of Antioch and other ancient Christian writers.“
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Auferstehung, Weisheit des Kreuzes, Fleischwerdung des Logos – und wirkten gerade aufgrund ihrer Widerständigkeit anziehend.50 Last but not least: Die Jesusbewegung erfuhr sich als eine Bewegung „des Geistes und der Kraft“ (1 Kor 2,6). Religiöse Erfahrungen waren mannigfaltig und sprangen ins Auge: Zungenrede, Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen, Visionen, Prophetie, Ekstase. Die Bedeutung religiöser Erfahrung ist für die Ausbreitungsdynamik des frühen Christentums kaum zu überschätzen.51 Es versteht sich dabei von selbst, dass eine junge Bewegung innovativer, anpassungsfähiger, flexibler, kreativer und toleranter ist als eine etablierte, deren Fortbestand gefährdet ist.
Resümee: Plädoyer für eine „resonanzsensible Kirche“ Angelehnt an die fünf Abschnitte schließe ich mit einem Plädoyer für eine „resonanzsensible Kirche“, die – gerade in Zeiten des Umbruchs – Re-formation im Sinne einer Re-sonanz der Frühzeit versteht. 1. Eine resonanzsensible Kirche entdeckt den Christusglauben stets aufs Neue, nicht nur als Modus des Heilsempfangs (fides salvifica), sondern als Modus christlicher Existenz, der den ganzen Menschen – Vernunft, Wille, Gefühl – umgreift und als „ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding“52 nach außen drängt, auch in den öffentlichen Raum. Sie schämt sich ihres Glaubens nicht, auch nicht seiner Anstößigkeit, sondern spürt vielmehr seiner provokanten, wirklichkeitsverändernden Kraft nach. „Weil das Neue Testament das Dokument der Entdeckung des Glaubens ist, ist es […] aussichtsreich, uns in der Zeit des verschütteten Glaubens auf das Neue Testament zu besinnen.“53 2. Eine resonanzsensible Kirche ermöglicht und würdigt die Vielfalt der Ausdrucksformen von Kirche, aber auch die Vielfalt von theologischen Entwürfen, die Vielfalt der Verhältnisbestimmung von „Christ und Welt“, die Vielfalt der Leitungsstrukturen.54 Sie ist offen für „Experimente“, solange 50 Vgl. István Czachesz 2011. 51 Vgl. Volker Gäckle 2017, 254–260 und die dort genannte Literatur. 52 Martin Luther 1989, 182: „Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott […] und töte den alten Adam, machet aus uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften und bringet den Heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben.“ Vgl. zum Glaubensbegriff des Paulus Benjamin Schliesser 2011. 53 Hans Weder 1992, 138. Es ist nach Weder auch deshalb aussichtsreich, „weil dieses Buch tausend- und abertausendfach Menschen den Glauben zugespielt hat.“ 54 Vgl. Peter Lampe 2017, 53, der im Blick auf die frühchristliche Vielfalt von einem „experimentelle[n] Laboratorium“ spricht.
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und sofern sie sich im Licht des Christusglaubens abspielen. Die zufällige Verschiedenartigkeit der frühchristlichen Gruppen, die in ihrem dezentralen Netz das Anderssein der anderen häufig gar nicht wahrnahmen, stiftet die Kirche zu einer programmatischen Pluralität an. „Boundary maintenance“ erfolgt nicht nach ästhetischen Vorlieben oder theologischen und organisatorischen Nebenfragen, sondern vom Zentrum des Glaubens her.55 Weil das Christentum schon von Anfang in der Lage war, Gegensätze zu umgreifen, wurde es zu einer vielschichtigen, schillernden Bewegung:56 Seine Botschaft ist schlicht und anspruchsvoll zugleich, kompromisslos kontrakulturell und beeindruckend anpassungsfähig, auf das endzeitliche Heil und das irdische Wohl bedacht, „im Tiefsten individualistisch und im Tiefsten sozialistisch zugleich.“57 3. Christliche Existenz ereignet sich nach neutestamentlichem Verständnis „zwischen den Zeiten“, im Horizont der Wiederkunft Christi (vgl. 1 Kor 11,26: „bis er kommt“). Wenn solch kosmische Dimensionen im Spiel sind, können Status, Ethnie und Geschlecht vor Gott nicht mehr entscheidend sein. Daraus folgt: Wenn Kirche nicht die gesamte Gesellschaft widerspiegelt, ist sie Fragment. Eine resonanzsensible Kirche leidet an Kommunikationsabbrüchen, Gleichgültigkeiten und Ekelschranken und steht für das Bemühen, Milieuverhaftungen und -verengungen aufzulösen.58 4. Religion ist „primär stets ein geschichtliches und damit soziales Phänomen […], während eine ‚Privatreligion‘ strenggenommen das Erzeugnis neuzeitlicher Auflösung von Religion und ein Unding ist.“59 Distanziertes Christentum oder Privatglaube sind keine christlichen Optionen, jedenfalls nicht, so lange Christsein und Glaube auf die Frühzeit hin transparent und
55 Wie herausfordernd und konfliktträchtig es ist, Peripheres vom Zentralen zu unterscheiden, zeigt schon die früheste Geschichte der Jesusbewegung. Vor Verurteilungen andersdenkender und anderslebender Glaubender warnt Paulus eindringlich (vgl. z. B. Röm 14,10–18). 56 Christoph Markschies 2016, 237 spricht in Aufnahme von Harnacks Einsichten von einer charakteristischen complexio oppositorum des frühen Christentums. 57 So pointiert Adolf von Harnack 1924, 174. 58 Vgl. die ernüchternde Situationsanalyse Wolfgang Hubers 2010, 71: „Wir wollen dem Volk aufs Maul schauen, aber wir hören nicht, was es sagt. Das ist geistlich besorgniserregend. Denn wir kennen den Kummer vieler Menschen nicht und auch nicht ihre Freude. Wir ahnen die Zweifel nicht, die sie in sich tragen, aber auch ihre Glaubensfestigkeit ist uns fremd. Wir würdigen das Engagement der Eliten nicht und sind sprachlos gegenüber den Ausgeschlossenen an den Rändern der Gesellschaft. Milieugrenzen zu überschreiten, ist der Kirche der Freiheit aufgegeben.“ Ein Versuch, sich der Aufgabe zu stellen, sind die Handbücher der Reihe „Kirche und Milieu“: Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis (Heinzpeter Hempelmann, Benjamin Schliesser, Corinna Schubert und Markus Weimer [Hg.] 2013); Handbuch Bestattung (dies. [Hg.] 2015). 59 Gerhard Ebeling 1986, 56 Anm. 71.
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resonant sind.60 Eine resonanzsensible Kirche erkennt die Bedeutung einer „Kontrastethik“, die sich weder dem gesellschaftlichen Mainstream angleicht noch einem weltfernen Moralismus anhängt, sondern „auf eine provokante Andersartigkeit, abweichende Prioritäten und den größtmöglichen Einklang von Reden und Handeln“ zielt.61 Sie weiß um das rechte Wechselverhältnis von „Glaube“ und „Werk“: „weil Gott für unser Heil genug getan hat, können wir für das Wohl der Welt nicht genug tun.“62 5. Eine resonanzsensible Kirche versteht sich als kulturelle Avantgarde, nicht als Schatten des Zeitgeists. Sie behauptet sich auf dem „Markt der religiös-geselligen Möglichkeiten“, indem sie Profil zeigt.63 In Resonanz auf die vielfältigen Ausdrucksformen christlichen Lebens in den ersten Jahrzehnten übt sie experimentelle Freiheit in Fragen der Organisationsstruktur, des Versammlungsorts, der Gottesdienstzeit, der Liturgie und der Kommunikationsformen. Glaube und Erfahrung rücken wieder enger zusammen. „Paulus glaubt an den göttlichen Geist, weil er ihn erfahren hat“ – nicht umgekehrt. Seine Theologie „ist Ausdruck seiner Erfahrung, nicht seiner Lektüre.“64 Re-formation als Re-sonanz aufzufassen, erweist sich als ein lohnendes Gedankenexperiment – und als ein vielversprechendes Praxisexperiment. Die eingangs genannten Warnungen vor einer hermeneutisch fehlgeleiteten und verklärten Vergegenwärtigung der Frühzeit des Christentums behalten ihre Gültigkeit. Und doch bleibt für die Kirche ihr Ursprungsbezug konstitutiv. Die Resonanzräume des Evangeliums in der Antike und in der Postmoderne weisen überraschende Analogien auf. Der religiöse Pluralismus, in dem sich die Kirche in der Postmoderne auch im deutschsprachigen Raum wiederfindet, bietet (partielle) Entsprechungen zur Situation des frühen Christentums, er ist dieser jedenfalls näher als die vergangene Phase einer relativ großen religiösen Homogenität und institutionellen Sicherheit der Großkirchen.65
60 Vgl. Bart Ehrman 2018, 127: „Christianity […] involved a totality of a person’s life. It was all-encompassing.“ 61 Jörg Frey 2016, 797. 62 Eberhard Jüngel 2006, 220. Dort heißt es weiter: „Und so wird denn der Mensch allein durch den Glauben gerecht, der selber niemals allein bleibt, sondern in der Liebe werktätig werden will, ja muss: ‚sola fide nunquam sola.‘ Es gibt keine befreiendere Grundlegung der Ethik als die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben.“ Die Wendung sola fide nunquam sola („das ‚allein aus Glauben‘ bleibt niemals allein“) stammt von Paul Althaus. 63 In Anlehnung an Eva Ebel 2010, 72. 64 So Hermann Gunkel 1888, 86 in seiner bahnbrechenden, vor 130 Jahren verfassten Dissertation. 65 Jörg Frey 2016, 795.
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Eine Antwort auf den Relevanzverlust der Kirchen im 21. Jh. wäre Resonanzgewinn, eine „dispositional resonante“ (Hartmut Rosa) Kirche mit einer neuen Resonanzsensibilität gegenüber der formativen Phase des Christentums. Eine Antwort auf den „Reformstress“ und die Beschleunigung des kirchlichen Lebens wäre die resonanzsensible Konzentration auf die Frage: Warum hat die Jesusbewegung in der Antike überlebt? Was machte sie attraktiv und anschlussfähig? Dass Resonanz nicht mit Konsonanz zu verwechseln ist, liegt auf der Hand. Nicht um das romantisierende, urteilslose „Einstimmen“ in die Frühzeit der Jesusbewegung kann es der Kirche gehen, sondern darum, im Hier und Heute eine eigene, gegenwartsrelevante Stimme zu finden.
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Aktuelle Herausforderungen für Kirche[n]gestalten aus kirchenleitender und systematisch-theologischer Perspektive1
1. Zur Situation der Kirche Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen. Der lebendige Anteil an den öffentlichen Gottesverehrungen und den heiligen Gebräuchen ist fast ganz verschwunden, der Einfluß religiöser Gesinnungen auf die Sitten und auf deren Beurteilung kaum wahrzunehmen, das lebendige Verhältnis zwischen den Predigern und ihren Gemeinden so gut als aufgelöst, die Kirchenzucht und Disziplin völlig untergegangen, der gesamte geistliche Stand […] in einem fortwährenden Sinken begriffen.
Diese Diagnose der kirchlichen Lage stammt nicht aus unseren Tagen. Ihr Inhalt klingt allerdings höchst vertraut. Der große Theologe und Kirchenmann Friedrich Schleiermacher hat sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu Papier gebracht.2 Die Ergebnisse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland3 scheinen diese Diagnose zu bestätigen. Die Zahl derer, die sich der Kirche überhaupt nicht verbunden fühlen, nimmt zu. Und Religion und Kirche erwecken bei denen, die sich nicht zugehörig fühlen, nicht einmal mehr Widerspruch, sondern sie sind ihnen schlicht egal. Die Zahl der „religiös Indifferenten“, derjenigen also, die kein Interesse an religiösen Fragen haben und für die Glaube im Leben keine Rolle spielt, wächst 1 2 3
Der mündliche Vortragsstil wurde beibehalten. Inhaltlich schöpft der Vortrag wesentlich aus dem, was ich ausführlicher in meinem Buch aufgeschrieben habe: Radikal Lieben. Anstöße für die Zukunft einer mutigen Kirche, Gütersloh 2017. Friedrich Schleiermacher, zitiert bei Wolfgang Huber 1998, 97. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015.
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beständig. Und damit wächst die Zahl der Menschen, die die christliche Botschaft nicht mehr erreicht. Das ist alarmierend, gerade auch im Hinblick auf junge Menschen: Weniger als die Hälfte der westdeutschen Kirchenmitglieder unter 21 Jahren empfindet sich selbst als religiös sozialisiert. Und noch weniger halten eine religiöse Sozialisation ihrer Kinder für wichtig. Man mag darauf hoffen, dass diese Meinung sich ändert, wenn die jungen Menschen eigene Kinder haben. Es ist ja oft die Verantwortung für ein junges Leben, die Fragen nach der Unverfügbarkeit des Daseins und die Sehnsucht nach einem Getragensein weckt. Und gerade die Kleinsten sind es, die offen sind für religiöse Fragen, mit denen sie ihre Eltern konfrontieren. Aber der Mangel an religiöser Sozialisation in der zukünftigen Elterngeneration wird die Weitergabe der christlichen Tradition nicht einfacher machen. Da Religion vor allem in der Familie vermittelt wird, kommt es durch fehlende familiäre Berührungspunkte zu Verlusten von religiöser Sozialisation auch in der folgenden Generation. Eine Weitergabe des Glaubens, das Vorleben einer religiösen Praxis und das Einbeziehen der Kinder darin findet nur noch selten statt. Es gibt also keinen Anlass zur Selbstberuhigung. Genauso müssen wir uns aber hüten vor einer Selbstzerknirschung, die lähmt und am Ende nur Resignation erzeugt. Wer die heutigen Kirchenaustrittszahlen einfach mit denen nach dem Krieg vergleicht und daraus einen kontinuierlichen Verfall ableitet, übersieht einen wichtigen, ja entscheidenden Aspekt: Unsere Gesellschaft ist seitdem durch grundlegende Veränderungen gegangen, die den Vergleich von Kirchenaustrittszahlen aus dem Jahr 1950 mit denen von heute wie einen Vergleich von Äpfeln mit Birnen erscheinen lässt. Nicht wenige Menschen waren damals aus Tradition oder Konvention Mitglied der Kirche. Ein Kirchenaustritt war für die meisten gar nicht vorstellbar. Sie blieben Kirchenmitglied nicht unbedingt aufgrund der Tiefe der Überzeugung, sondern wegen der zu befürchtenden unangenehmen Konsequenzen bei einem Kirchenaustritt. Wer ausgetreten wäre, hätte soziale Sanktionen riskiert. Nur wer aufgrund einer sehr bewussten kritischen Auseinandersetzung mit der Kirche eine Austrittsneigung entwickelte, vollzog diesen Schritt auch tatsächlich. Inzwischen hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Heute gehört es in manchen Kreisen der Gesellschaft schon fast zum guten Ton, aus der Kirche auszutreten. In einem solchen Umfeld ist nicht für den Austritt Bekennermut gefragt, sondern für das bewusste Ja zur Kirche. Für diejenigen, die aus reiner Konvention Mitglied der Kirche sind, gibt es heute keine Hürden mehr für einen Kirchenaustritt. Die Kirchenaustrittszahlen der letzten Jahre sind deswegen auch Ausdruck der Freiheit, bewusst wählen zu können, welcher Religionsgemeinschaft man angehören will und ob man überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehören will. Wenn man sich diese, gegenüber 1950 völlig andere
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Ausgangssituation klarmacht und neben den Individualisierungsschüben in Westdeutschland dazu noch die Konsequenzen des massiven Säkularisierungsschubs durch das DDR-Regime in Ostdeutschland miteinbezieht, dann ist die Tatsache, dass um die 46 Millionen Menschen in Deutschland aus freier Entscheidung einer der beiden großen Kirchen angehören, jedenfalls bemerkenswert. Für die Evangelische Kirche liegen empirische Daten vor, die diesbezüglich interessante Aufschlüsse geben. Denn die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung haben auch Einsichten erbracht, die einen positiven Kontrast zu den üblichen Verfallsprognosen bilden. Die Aussage „Für mich kommt ein Kirchenaustritt nicht in Frage“ bejahten 1992 55 % der befragten Evangelischen. 2002 waren es 61 %. Und 2012 waren es 73 %. Ganz offensichtlich hat die durch die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse bedingte und auch mit den entsprechenden Austritten verbundene bewusstere Haltung gegenüber der Kirche auch zu einer klarer bejahten Kirchenmitgliedschaft geführt. Als Fazit all dieser Indizien stelle ich fest: es gibt keinen Grund zur Mutlosigkeit im Hinblick auf eine kraftvolle Kirche der Zukunft – im Gegenteil. Aber es gibt Orientierungsbedarf. Denn die Wege, die die Kirche einschlagen kann, sind höchst unterschiedlich. Muss es heute darum gehen, dass die Kirche sich deutlicher gegen die Gesellschaft abgrenzt, ist gar so etwas wie eine Bekenntnissituation gegeben? Oder ist genau das Umgekehrte der Fall: muss die Kirche sich endlich „modernisieren“, den gesellschaftlichen Pluralismus ernst nehmen und anstatt steile Bekenntnisformeln von sich zu geben, endlich auf die Lebensrealität der Menschen heute einstellen, die mit solchen Formeln überhaupt nichts anfangen können, aber durchaus Religiositätsgefühle haben? Welche Orientierung kann das theologische Nachdenken im Hinblick auf diese Fragen geben? Wenn es stimmt, dass Menschen heute aus Freiheit entscheiden, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehören wollen und welche es sein soll, dann rückt die Plausibilitätsfrage ins Zentrum. Wir müssen als Kirche inhaltlich – und das heißt mit unserem Reden und Handeln – überzeugen. Wir müssen den Menschen plausibel machen, warum die christliche Botschaft eine wirklich starke Botschaft ist und es keine bessere Grundlage für ein erfülltes Leben gibt als diese, durch die Bibel geprägte Botschaft. Und wir müssen es mit Leidenschaft tun und so begeistert, dass auch andere sich dafür begeistern lassen. Das ist unsere Situation heute – ganz anders als in den 50er Jahren. Entscheidend ist dabei nicht nur, dass die Botschaft den Verstand und das Herz und das Gefühl, oder noch genauer: die Seele, anspricht, sondern auch, dass der Inhalt der Botschaft stimmt. Mit reiner Tradition oder Konvention ist es eben nicht mehr getan.
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2. Inhalt und Gefühl – Überwindung eines falschen Gegensatzes 2.1 Schleiermacher Schleiermachers Kirchenbegriff ist deswegen für unsere Überlegungen so interessant, weil sich bei ihm genau die Hochschätzung der Erfahrung findet, die für das heutige Nachdenken über die Kirche von so großer Aktualität ist. Friedrich Mildenberger – ein kulturprotestantischer Neigungen unverdächtiger Theologe – hat zu Recht festgestellt: „Oft weiß man heute kaum mehr, dass man mit den eigenen Lösungsvorschlägen nur wiederholt, was Schleiermacher – und meist sehr viel umsichtiger und genauer – schon vorgedacht hat.“4 Die Deutlichkeit, mit der er die Dimension existentieller Erfahrung in seine Begründung von Kirche aufnimmt, muß als ein charakteristisches Beispiel für diese Aktualität gesehen werden.5 Schleiermacher definiert Frömmigkeit als eine „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“, unter der Form des Bewusstseins der schlechthinnigen Abhängigkeit (§ 4, GL 1830). Die so bestimmte Frömmigkeit ist die „Basis aller kirchlichen Gemeinschaften“ (GL 1830, Leitsatz § 3).6 Frömmigkeit ist für ihn die „höchste Stufe des menschlichen Gefühls“ (GL 1821, Leitsatz § 10).7 Immer schon hat die Betonung des Gefühls als zentrale Wesensäußerung von Menschsein Skepsis hervorgerufen. „Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen“ – spottet etwa Hegel, oft zitiert –,
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Friedrich Mildenberger 1981, 70. Eilert Herms sieht Schleiermacher deswegen als den wichtigsten Exponenten einer Erfahrungstheologie, also einer Theologie, in der „die in der Erfahrung gewonnene Gewißheit zum entscheidenden Konstitutionsmerkmal des Glaubens wird“ (Eilert Herms 1982, 121). 6 Zu Schleiermachers Verständnis von Gefühl vgl. Friedrich Schleiermacher 1830 (GL=Glaubenslehre), 16: „Der Ausdruck Gefühl ist in der Sprache des gemeinen Lebens längst auf unserem Gebiet gebräuchlich; allein für die wissenschaftliche Sprache bedarf er einer genaueren Bestimmung, und diese soll ihm durch das andere Wort [Selbstbewußtsein] gegeben werden. Nimmt also jemand den Ausdruck Gefühl in einem so weiten Sinne, daß er auch bewußtlose Zustände darunter begreift: so soll er erinnert sein, daß von dieser Gebrauchsweise hier zu abstrahieren ist.“ Schleiermacher macht deutlich, dass „die Behauptung […], daß die Frömmigkeit ein Zustand sei, in welchem Wissen, Fühlen und Tun verbunden ist“ dann zu akzeptieren ist, wenn damit keine Unterordnung des Fühlens unter das Wissen verbunden ist. (A. a. O., 22). 7 Gerade diese letztere Präzisierung ist von erheblicher aktueller Bedeutung, macht sie doch deutlich, dass das, was wir in heutigem Religionssoziologendeutsch als die „frei vagabundierende Religiosität“ bezeichnen, nicht vorschnell in einen prinzipiellen Gegensatz zur christlichen Frömmigkeit gebracht werden darf.
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so ist der dem Tiere gleichgesetzt, denn das Eigene des Tieres ist es, das, was seine Bestimmung ist, in dem Gefühle zu haben und dem Gefühle gemäß zu leben. Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird.8
Die hinter diesem Spott stehende Kritik an einem bewusstlosen Gefühlsbegriff als Grundlage des Glaubensverständnisses, die in der Schleiermacher-Rezeption vielfach wiedergekehrt ist, unterschreitet, jedenfalls in dieser Pauschalität, das Schleiermacher’sche Reflexionsniveau. Bei Schleiermacher ist der Frömmigkeitsbegriffs immer inhaltlich verwurzelt in der Christologie.9 Christus ist „das Urbild, aus welchem sich alles christliche Abhängigkeitsgefühl speist.“10 Der Kern des darstellenden und mitteilenden Handelns der Kirche ist „das in Christus und durch Christus empfangene Gottesbewusstsein des Glaubenden als reale Präsenzweise des in seiner Erhöhung wirksamen Christus“.11 Schleiermacher kann, im Anklang an die Rede von der Kirche als Leib Christi, sagen: „Die von dem Heiligen Geist beseelte Kirche ist in ihrer Reinheit und Vollständigkeit das vollkommne Abbild des Erlösers“ (GL 1830, Leitsatz § 125). Das Nachdenken über die Authentizität der Kirche, eine Kirche, die die Menschen innerlich erreicht, kann also von Schleiermacher wesentliche Impulse erhalten, insofern sein Verständnis von Kirche als frommer Gemeinschaft der expressiven Seite des Kircheseins einen klaren theologischen Stellenwert einräumt. In der Durchführung bleibt aber die Gefahr, dass der inhaltliche Maßstab des Wortes Gottes zur Beurteilung der Frage, was als fromm zu gelten habe,
8 Zit. bei Friedrich Mildenberger 1981, 103 f. 9 Konrad Fischer hat diese These zur Leitthese einer Untersuchung zu Schleiermacher gemacht: „Nur in festester christologischer Verankerung ist Schleiermachers Leitbegriff vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit nicht leer. Das ist die Behauptung und das Leitinteresse dieser Untersuchung“ (Konrad Fischer 1992, 13). 10 Konrad Fischer 1992, 17, unter Verweis auf GL 1830, § 93 LS; II,34. Die Frage, ob es genügt, die Christologie vom vollkommenen Gottesbewußtsein her zu denken, lasse ich jetzt bewußt beiseite. Barth hat diese Frage bekanntlich mit einem klaren Nein beantwortet: „Das Sein Jesu Christi ist also nicht, wie Schleiermacher es in seiner Weise genial verstanden und erklärt hat, ein, das höchste, entscheidende und charakteristische Prädikat seiner Gemeinde, das Urbild, der geschichtliche Bezugspunkt der in ihr lebendigen Frömmigkeit […] Jesus Christus seinerseits ist nicht nur, indem seine Gemeinde ist, was sie ist und tut, was sie tut. Nein, sie ist nur, indem Er ist“ (KD IV/3, 863). 11 A. a. O., 41.
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in den Hintergrund tritt.12 Deswegen war der Einspruch, den Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer gegen Schleiermacher vortrugen, wichtig.
2.2 Der Einspruch Kennzeichen dieses Einspruchs war die Leidenschaft für die inhaltliche Verwurzelung der erfahrbaren Kirche im Hören auf das Wort Gottes. Karl Barth hat deswegen jeden Verweis auf Erfahrung als Kriterium der Gewissheit zurückgewiesen. Weil Schleiermachers Theologie eine Theologie des frommen Gefühls sei, komme „dem Wort und mit dem Wort der intellektuellen Wahrheit nur jene sekundäre Bedeutung zu“.13 Deswegen – so Barths berühmte Formulierung – sei diese Theologie eben „eine Herrnhuterei nicht nur höherer, sondern höchster Ordnung geworden.“14 Schleiermachers Kirchenbegriff war von daher dem Verdacht ausgesetzt, gar kein theologischer Kirchenbegriff zu sein. Die, wie wir gesehen haben, gerechtfertigte Kritik an den Schwächen in der Bestimmung des theologischen Inhalts hat die Stärken seines Ansatzes aber allzu oft verdeckt. Bonhoeffer kritisiert Schleiermachers Identifikation von frommer Gemeinschaft und Kirche. „Die Einheit der ersteren“ – so Bonhoeffer – „ist eine psychologische, die der Kirche überpsychologisch, gott-gestiftet, objektiv“.15 Abgesehen davon, dass Bonhoeffer die christologische Verankerung des Frömmigkeitsbegriffs bei Schleiermacher hier nicht angemessen würdigt, enthält seine Kritik eine Entgegensetzung, die es zu überwinden gilt.
12 Vgl. dazu Karl Barth 1947: 422: „Das Wort ist hier in seiner Selbständigkeit gegenüber dem Glauben nicht so gesichert, wie es der Fall sein müßte, wenn diese Theologie des Glaubens eine wirkliche Theologie des Heiligen Geistes wäre. In einer rechtschaffenen Theologie des Heiligen Geistes könnte eine Auflösung des Wortes nicht in Betracht kommen.“ Barth konzediert indessen, dass Schleiermacher guten Willen zeige, es nicht so weit kommen zu lassen. 13 Karl Barth 1947, 406. 14 Karl Barth 1947, 405. Barth selbst läßt affektverbundene Kategorien weitgehend aus, wenn er von den Menschen spricht, die die Kirche als „Jesu Christi eigene irdisch-geschichtliche Existenzform“ bilden. Es sind das Menschen, die Jesus Christus „anerkennen“, „erkennen“ und sich mit ihrem Leben zu ihm „bekennen“ (KD IV/1, 739, vgl. dazu Kühn 1980, 106. Ähnliches impliziert Barths Annahme, daß nur die Apostolizität der Kirche als nota ecclesiae gelten könne (KD IV/1, 797). 15 Dietrich Bonhoeffer 1930, 131. Ähnlich 96: „So kann […] das systematisch-soziologische Problem der Kirche nicht in der Frage nach dem empirischen Zusammentritt und seiner psychologischen Motivation, sondern wieder nur in dem Aufweis der wesentlichen Struktur des Sozialgebildes, seiner Willensakte und seiner objektiven Gestalt im Zusammenhang mit dem Geistbegriff bestehen […]“.
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Bonhoeffers Einspruch weist aber mit Recht auf die zentrale Bedeutung dessen hin, was in der Ekklesiologie die „geglaubte Kirche“ genannt wird.16 Bonhoeffer selbst hat dafür die biblische Formel von der „Kirche als Leib Christi“ aufgenommen und in der Formel „Christus als Gemeinde existierend“17 weitergeführt. Die geglaubte Kirche ist die von Gott verheißene Gemeinschaft der wahrhaft Glaubenden. Sie kann deswegen, jedenfalls in der Jetztzeit, nie mit der erfahrbaren Kirche identifiziert werden. Und keine kirchliche Gruppe kann für sich in Anspruch nehmen, sie zu repräsentieren. Die geglaubte Kirche bleibt vielmehr Maßstab, an dem sich alle „fromme Gemeinschaft“ zu orientieren hat.
3. Empirische und geglaubte Kirche – Drei Kirchenmodelle Wer theologisch über die Kirche nachdenkt, muss sich zunächst eine grundlegende Unterscheidung klarmachen: das Verhältnis von empirischer und geglaubter Kirche. Die empirische Kirche ist das, was wir erfahren: eine höchst fehlbare Gemeinschaft von Menschen, eine in vielem kritikwürdige Institution, ein Ort, an dem allzu häufig eine schmerzliche Lücke klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die geglaubte Kirche ist die Kirche, wie sie im Neuen
16 Karl Barth macht genau an diesem Punkt die „Kanonisierung“ des Sündenfalls des Christentums durch Schleiermacher fest. Über die Definition der Kirche als fromme Gemeinschaft sagt er: „Alles ist leidlich richtig gesehen in dieser Definition, nur daß eben die dritte Dimension [neben der zeitlich-räumlichen Existenz der geglaubten Kirche], in der die Kirche ist, was sie ist, völlig abwesend ist“ (KD IV/1, 733). Auch Bonhoeffer sieht in seiner Vorlesung über das Wesen der Kirche darin ein Hauptproblem des Schleiermacher’schen Kirchenbegriffs: „Kirche ist nicht als religiöse Gemeinschaft zu verstehen! Kirche ist eine Wirklichkeit des Glaubens!“ (Dietrich Bonhoeffer 1994, 277). Von ganz anderer Seite her ist die konstitutive Bedeutung der geglaubten Kirche unterbestimmt worden. Reiner Preul sieht in der Kirchentheorie die Einheit der Kirche und ebenso die anderen Attribute der Kirche in den äußeren Kennnzeichen der Kirche aus CA VII begründet (Reiner Preul 1997, 73 und 82). Damit ruht die Begründung der Kirche auf dem Fundament rein gepredigten Wortes und ordnungsgemäß verwalteter Sakramente, also auf Kennzeichen der empirischen Kirche. Ebenso wie bei Schleiermacher, wenn auch aus ganz anderen Motiven, wird die Bedeutung der geglaubten Kirche für die Begründung von Kirche in diesem Ansatz nicht deutlich. Eilert Herms formuliert im Hinblick auf das Attribut der „Einheit“, von ähnlichen Voraussetzungen her, hier präziser: „Evangeliumsgemäße Predigt und Sakramentsverwaltung werden hier [in CA VII] nicht an sich als Kennzeichen dafür hingestellt, daß eine Partikularkirche wahre Kirche ist und eine dem Ursprung des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft entsprechende Gestalt besitzt, sondern das lassen diese beiden signa nur erkennen, wenn sie selbst auch als Bezeugungen der Einheit des Glaubenslebens in der Dimension seiner soziohistorischen Erfahrbarkeit gehandhabt werden“ (Eilert Herms 1996, 102f). 17 A. a. O. 86.
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Testament als die Gemeinschaft beschrieben wird, in der Christus weiterwirkt. Sie ist der „Leib Christi“ (1 Kor 12). Sie ist „Christus als Gemeinde existierend“ (D. Bonhoeffer). Die theologische Tradition hat in diesem Zusammenhang immer von der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ gesprochen – alle diese Attribute sind von einer tatsächlichen Gestaltwerdung in der Kirche, die wir jeden Tag erfahren, weit entfernt. Es kommt aber nun alles darauf an, dass geglaubte und empirische Kirche zwar voneinander unterschieden, nicht aber voneinander getrennt werden. Die geglaubte Kirche muss immer Maßstab sein für die empirische Kirche. Deswegen ist die Rechenschaft über die Kirche, die wir glauben, auch so wichtig, denn nur dann können wir danach fragen, wie diese geglaubte Kirche unter den Bedingungen zeitlicher Existenz, in einer Welt, in der die Sünde weder in der Kirche noch in der Welt das Feld geräumt hat, wie die geglaubte Kirche also unter solchen Bedingungen soweit wie irgend möglich sichtbare Gestalt gewinnen kann. Beide müssen also ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das kann indessen auf sehr unterschiedliche Weise geschehen.
3.1. Kirche als „Gesellschaftskirche“ Die erste Position umschreibe ich mit dem Titel „Gesellschaftskirche“. Diese Position will die Bedingungen der modernen Gesellschaft ernst nehmen und passt die Strategien und Verhaltensweisen der Kirche der Gesellschaft an. Der Pluralismus wird nicht als Problem, sondern als Chance gesehen. Im Mittelpunkt steht die als Errungenschaft der Neuzeit bejahte Freiheit des Einzelnen zur Wahl seiner jeweiligen Weltanschauung. Die Kirche muss sich so darstellen, dass sie auf dem Markt der Weltanschauungen möglichst wettbewerbsfähig wird. Das aber bedeutet, dass sie die Menschen nicht mit Wahrheitsansprüchen überfordert oder ihnen solche Wahrheitsansprüche überstülpt, sondern die jeweiligen Meinungen respektiert. Wenn man sich als Vertreter der Kirche dann profiliert in der Öffentlichkeit äußert, wird man leicht dem Verdacht ausgesetzt, den Respekt für die unterschiedlichen Überzeugungen der Menschen vermissen zu lassen. Pluralismus – auch in der Kirche – wird zum Selbstzweck, anstatt zum Ort des Austausches von Positionen mit echten Wahrheitsansprüchen. „Konziliarer Streit“ bedeutet in diesem Verständnis in erster Linie das Akzeptieren der Unterschiedlichkeit der Meinungen, da jeder nur ein Stück der Wahrheit vertritt. Das leidenschaftliche Eintreten für die Wahrheit, die dann ja auch nicht auf den Bereich der Subjektivität beschränkt bleiben kann, kommt hier nicht in den Blick.
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3.2 Kirche als Kontrastgesellschaft Ganz anders die zweite Position. Nach dieser Position darf die Kirche gerade nicht in der pluralistischen Gesellschaft aufgehen, sondern sie muss ein Gegenüber zu dieser pluralistischen Gesellschaft bilden und dabei ganz bewusst einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Kirche wird als Kontrastgesellschaft gesehen, die ihre Identität als Kirche gerade in der Abgrenzung von der als sündig erfahrenen Welt gewinnt. Dieses Modell begegnet uns im Bereich der evangelikalen Gemeinschaften, die einen Bekenntniskonvent „Kein anderes Evangelium“ gebildet haben und in der modernen, pluralistischen Gesellschaft mit ihrer moralischen Freizügigkeit genau jenen fremden „Herrn“ sehen, dem gegenüber es, im Anklang an die Barmer Theologische Erklärung, Christus zu bekennen gilt. Von der Struktur her steckt dieses Modell aber auch in dem Ansatz, der genau von der anderen Seite her die Volkskirche kritisiert: den Gemeinschaften in der Kirche, die von dieser Kirche ein klares Bekenntnis gegen das massenmörderische Weltwirtschaftssystem (Ulrich Duchrow) verlangen und die Bindungen an die damit verbundenen Strukturen lösen wollen. Obwohl die beiden Richtungen ja völlig gegensätzlich sind, ist die Grundstruktur aber die gleiche, dass die Kontrastgesellschaft der Ort ist, an dem gegenüber der existierenden Gesellschaft endlich die wahre Kirche deutlich werden soll und diese wahre Kirche sich gerade in der Abgrenzung gegenüber der Welt definiert. Dieses Modell bleibt aber in beiden Spielarten unbefriedigend, weil es die Kirche allein im Gegenüber zur pluralistischen Gesellschaft sieht und letztlich nicht ernstnimmt, dass die Welt eine von Gott geschaffene Welt, eine in Christus versöhnte Welt ist. Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt (2 Kor 5). Die Welt ist nicht vom Teufel besessen, sondern Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt und deswegen ist auch die säkulare Welt, auch die Welt außerhalb des jeweiligen Bekenntniskonvents, eine Welt, die ich mit den Augen der Versöhnung ansehe. Auch die säkulare Welt ist ein Ort des Wirkens Gottes. Das gerät völlig in den Hintergrund, wenn man die Kirche als Kontrastgesellschaft definiert.
3.3 Kirche als „öffentliche Kirche“ in der pluralistischen Gesellschaft Die „öffentliche Kirche“ in der pluralistischen Gesellschaft passt sich weder einfach an den gesellschaftlichen Pluralismus an noch lehnt sie den modernen Pluralismus als solchen ab. Sie bejaht die Vielfalt, aber sie tritt auf der Basis
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biblisch begründeten christlichen Glaubens für ein klares Profil der Kirche in dieser Vielfalt ein. Der demokratische Rechtsstaat wird bewusst bejaht. Klares öffentliches Reden der Kirche ist nicht unzulässige kirchliche Bevormundung, sondern konstruktiver Beitrag der Kirche zur öffentlichen Diskussion und damit Dienst an der Welt, wie er der Kirche von ihrem Herrn aufgetragen ist. Ich halte diese Position für die tragfähigste unter den dreien, weil sie biblisch begründete Identität mit Weltzugewandtheit verbindet, weil sie sich an den Problemen der heutigen Welt orientiert, ohne darin auf- oder gar unterzugehen, weil sie modern ist, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen. Wollte man die oben beschriebenen Ansätze in den eingeführten Grundbegriffen ausdrücken, so müsste man sagen, dass in dem ersten Ansatz der Gesellschaftskirche die geglaubte Kirche ganz in der empirischen Kirche verschwindet und die empirische Kirche nun selbst nahezu normative Funktion bekommt. Jeder Hinweis auf die Glaubenswahrheit als normative Dimension erscheint dann nur noch als Dogmatismus. Im Hinblick auf den zweiten Ansatz der Kirche als Kontrastgesellschaft müsste man sagen, dass die empirische Kirche ganz in der geglaubten Kirche verschwindet und dadurch die Gefahr entsteht, dass die empirische Wirklichkeit mit all ihrer Komplexität und Ambivalenz gar nicht richtig wahrgenommen wird. Der dritte Ansatz versucht genau das, was wir als tragfähig gesehen haben: in der empirischen Kirche die geglaubte Kirche soweit wie irgend möglich sichtbare Gestalt gewinnen zu lassen. Wie aber muss eine Reform aussehen, die einer solchen Kirche den Weg bahnt?
4. Konsequenzen für die Zukunft der Kirche – 10 Thesen 4.1 Mentale Dynamik der Fülle entwickeln Die erste Aufgabe auf dem Weg zur Kirche der Zukunft ist eine geistliche Aufgabe. Das ist eigentlich das absolut Grundlegende hinter all den Planungsprozessen und all den Diskussionen, die wir sonst haben. Es geht darum, aus einer Depression herauszukommen, die von Verfallswahrnehmungen geprägt ist. Ich habe eben am Anfang ja ein Beispiel dafür genannt. Diese mentale Dynamik der Knappheit vergleicht die Zahlen von vorgestern und gestern mit heute und sieht nur Verlust. Die Zukunftsaussichten werden in Annahme einer Entwicklung nach unten in düsteren Farben gemalt. Die Selbstachtung sinkt,
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weil diese Art von Wirklichkeitswahrnehmung eine permanente Versagenserfahrung mit sich bringt. Trotz all der Mühe und des Engagements so vieler Menschen ist die Zahl der Kirchenaustritte eben nicht nachhaltig gesunken und die der Eintritte nicht gestiegen. Die Aufbruchserfahrungen oder kleinen Neuanfänge quer zu den gesellschaftlichen Megatrends geraten dann in dieser mentalen Dynamik leicht oder ganz aus dem Blick. Da hilft es, die Verheißungen des Herrn der Kirche wahr- und ernst zu nehmen. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und volle Genüge haben“ (Joh 10,10). Es hilft, auf Paulus zu hören, der sagt: „Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten Werk“ (2 Kor 9,8). Es gilt, sich diese biblischen Hinweise recht sein zu lassen und die „pockets of hope“ ins Licht zu stellen, also die vielen guten Beispiele, die es gibt, wirklich wahrzunehmen, ernst zu nehmen, sich an dem zu freuen, was gelingt, und geistlich genährt die mentale Knappheitsdynamik in eine mentale Dynamik der Fülle zu wenden. Und es gilt, ehrliche Mitgliedszahlen zu bejahen. Es gilt, sich daran zu freuen, dass Menschen heute aus Freiheit Christen sind und das auch durch die Mitgliedschaft in der Kirche zum Ausdruck bringen.
4.2 Von der Amtslogik zur Flexibilitätslogik übergehen Wir müssen unser gesamtes Kirchenwesen daraufhin durchforsten, ob wir die Regeln und Verordnungen, die Genehmigungsvorgänge und Aufsichtsebenen wirklich alle brauchen, die uns in der Entstehung und in der Anwendung so viel Zeit kosten. Brauchen wir wirklich so viele Instanzen und Entscheidungsebenen, wie wir sie derzeit in der Kirche haben? Eine breite Beteiligung aller Interessierten ist gut. Aber für die Zahl der Gremiensitzungen bräuchte es so etwas wie eine Obergrenze, um mehr Zeit für die Kommunikation des Evangeliums in die Welt hinein freizuräumen. Die Frage, wie viele Gremiensitzungen wir haben, hat auch mit der Frage des Vertrauens zu tun. Ob wir wirklich immer nur eine Sache für gut überlegt halten, wenn wir selber alles mitgedacht und viele Nachtsitzungen damit verbracht haben. Oder ob wir vielleicht auch sagen können: Wir legen es in die Hand anderer, die es gut machen werden. Anders kommen wir nicht weg von der Fülle der Sitzungen, die uns davon abhält, zu den Menschen zu gehen und das Evangelium weiterzutragen. Angesichts des Grundtrends schrumpfender Kirchen brauchen wir Begegnungsräume, Erprobungsräume, die neue Begegnungen eröffnen, die Entdeckungen jenseits aller mentalen oder tatsächlichen Kirchenmauern und Konfessionsgrenzen erlauben. Da gibt es die experimentellen, teamorientierten
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und kreativen Arbeitsumgebungen, die sich etwa die jungen „digital natives“ von heute wünschen, die dann bei Facebook und Google in diesen besonderen Gebäuden sitzen, in anregender Arbeitsumgebung. Unabhängig davon, was man über Google oder Facebook denken mag: Das ist die Umgebung, die sich junge kreative Menschen heute wünschen. Passen diese experimentellen, teamorientierten und kreativen Arbeitsumgebungen nicht viel mehr zu einer geistorientierten Kirche als analog zu preußischen Verwaltungen gewachsene Kirchenämter? Können wir nicht gerade deswegen Mut zu Experimenten haben, weil wir wissen, dass wir auch Fehler machen dürfen? Wir können was ausprobieren. Wir brauchen keine Angst zu haben. Das ist das mentale Mindset, das viele Menschen haben, die heute außerhalb der Kirche unterwegs sind. Und wir in der Kirche sollten eigentlich die ersten sein, solche Räume zu bieten. Das ist jedenfalls meine Hoffnung, dass wir uns dahin aufmachen. Es gilt, gerade in einer Zeit der Institutionenvergessenheit, die lebensfördernde Bedeutung von Institutionen neu zu entdecken und gerade auch an junge Leute zu vermitteln. Das kann aber nur gelingen, wenn Institutionen diese Menschenfreundlichkeit auch wirklich ausstrahlen und durch ihre Flexibilität und Veränderungsfähigkeit zeigen, dass sie kein Selbstzweck sind, sondern sich ihrem Auftrag für die Menschen verpflichtet sehen. Gerade die Kirche sollte den Heiligen Geist, aus dem sie geboren ist, auch in ihrer Institutionalität ausstrahlen.
4.3 Gemeinden und kirchliche Ebenen als Netzwerke denken lernen Wenn wir an tragfähigen Antworten auf heutige Fragen arbeiten, dann ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung für das Gelingen eine mentale: Wir müssen die jeweils gewachsenen und institutionellen Eigenlogiken überwinden und in Netzwerken denken lernen. Das kann sich schon in der Zusammenarbeit innerhalb der EKD zeigen. Weder ist es richtig, von den Landeskirchen her misstrauisch auf die EKD zu schauen und hinter jeder Initiative von ihr Zentralismus-Ambitionen zu vermuten, noch ist es richtig, den Wert der Vielfalt der historisch gewachsenen landeskirchlichen Landschaft zu unterschätzen. Im Sinne eines Netzwerks zusammenzuarbeiten heißt, sich als Landeskirchen wechselseitig zu unterstützen, von den Stärken der jeweils anderen zu lernen und dankbar die koordinierende Rolle der EKD wahrzunehmen und zu nutzen. Das Zusammenwachsen der EKD und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) in den letzten Jahren hat gezeigt, dass durch Geduld und gute Kommunikation eine Bündelung der Kräfte gegenüber den jeweils wirkenden institutionellen Eigenlogiken die Oberhand behalten kann.
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Was auf der Ebene der Kirchenleitung gilt, ist auch auf der Ebene der Gemeinden von zentraler Bedeutung. Wir brauchen auch dort ein neues, an Netzwerken orientiertes Denken. Die Ortsgemeinde – darauf hat die Praktische Theologin Isolde Karle in ihren Büchern immer wieder hingewiesen – wird auch in der Zukunft ein zentraler Bezugspunkt bleiben. Auch Menschen, die vielleicht nie in der Gemeinde auftauchen, sind – das wage ich zu behaupten – dankbar dafür, dass es sie gibt. Die Ortsgemeinden sind auch deswegen in der Zukunft so wichtig, weil da unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Man sucht sich nicht nur die Gleichgesinnten, mit denen man zusammenkommt. Ich empfinde das stark beim Abendmahl. Da stehe ich im Kreis mit Menschen, mit denen ich sonst nie etwas zu tun habe. Und wir sind eine geschwisterliche Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi. Ich finde es etwas ganz Wunderbares, dass uns das zusammenbindet. Darin liegt ein Potenzial dafür, dass alle gesellschaftlichen Milieus, die immer mehr auseinandergehen, dort ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben. In der Ortsgemeinde besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass gerade die Verschiedenen zusammenkommen. Diese Möglichkeit wirklich zu nutzen und einladende Gemeinde für ganz unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu werden, das ist nun allerdings eine der wichtigsten Herausforderungen der Zukunft. Vielleicht sind es an manchen Orten nur wenige Menschen, die die Angebote in den Gemeinden wahrnehmen und in den Kirchen die Gottesdienste feiern. Aber sie tun dies auch stellvertretend für viele andere, die dankbar dafür sind, dass sich Menschen in den Gemeinden engagieren, dass in den Kirchen gebetet, gesungen und gepredigt wird, sogar dann, wenn sie selbst nicht hingehen. Dass es den Gemeindepfarrer oder die Gemeindepfarrerin gibt, ist ihnen wichtig, selbst wenn sie wenig Kontakt mit ihm oder ihr haben. Die Ortsgemeinde ist die feste Form, in der wir den Glauben in verlässlicher Weise am Ort leben können. Kirche erschöpft sich aber nicht in der Ortsgemeinde. Es gilt, daneben andere Formen von Gemeinschaft wahr- und ernst zu nehmen, in denen Menschen mit dem Evangelium in Kontakt kommen. Die Krankenhaus- und Altenseelsorge etwa begleitet Menschen und ihre Angehörigen oft auf langen Abschnitten ihres Lebens, feiert mit ihnen Gottesdienste und Kasualien. Sie erfahren das Evangelium als etwas, das für sie existenziell wichtig wird. Chöre, deren Mitglieder oft aus der ganzen Region kommen, erfahren sich beim Singen als Gemeinde. Manche von ihnen beten bei ihren Proben. Initiativgruppen oder Hauskreise können Formen von Gemeinschaft sein, die sich quer zur Ortsgemeinde entwickeln. Vieles mehr wäre zu nennen. Wenn wir auf die zukünftige Bedeutung unserer Arbeitsbereiche schauen, gilt als Prüffrage: Sind die vorhandenen Strukturen hilfreich, um das Evangelium den Menschen nahe zu bringen, oder haben sie vor allem den Zweck, sich selbst zu erhalten?
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In den nächsten Jahren wird ein Aspekt zunehmende Bedeutung gewinnen, der für die vielfältigen Reformbemühungen in den Landeskirchen und in der EKD als ganzer schon jetzt eine wichtige Rolle spielt und den Netzwerkgedanken schon jetzt in die Tat umsetzt: die übergemeindliche Zusammenarbeit. Dass nicht jeder alles machen kann, ist schon eine einfache Konsequenz unterschiedlicher Begabungen. Das gilt für die Pfarrerinnen und Pfarrer und alle anderen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genauso wie für die Gemeinden insgesamt. Es gewinnt aber auch dadurch neue Bedeutung, dass vermutlich die finanziellen Mittel nicht auf Dauer zur Verfügung stehen werden, um alles aufrechtzuerhalten, was an Angeboten jetzt da ist. Nachhaltig sind die Modelle, in denen Gemeinden so zusammenarbeiten, dass die Kräfte gebündelt werden. Insbesondere in ländlichen Räumen, wo dafür längere Wege zurückzulegen sind, ist dazu Mobilität notwendig. Aber Mobilität lässt sich organisieren. Schon jetzt werden Konfirmandengruppen über die Dörfer hinweg gebildet. Konficamps sind auch deswegen so beliebt, weil Jugendliche da neue Leute kennenlernen. Und für das Mitsingen im Gospelchor nehmen Menschen lange Wege in Kauf, weil ihnen das Singen Kraft gibt. Diese Beispiele zeigen: die Anziehungskraft unserer Kirche hängt nicht daran, dass an jedem Ort alles angeboten wird, sondern dass Menschen immer wieder den Heiligen Geist erfahren. Dafür lohnt sich der Weg! Wo die Zusammenarbeit zwischen Gemeinden gelingt, braucht es keine Zusammenlegung. Für mich hat die Kooperation den Vorrang vor der Fusion. Wo Gemeinden gut zusammenarbeiten und mehr und mehr zusammenwachsen, vielleicht einander ans Herz wachsen, kann daraus auch organisatorisch eine Gemeinde werden. Aber selbstbestimmt, nicht von oben verordnet. Für die Kirche der Zukunft wird das „Denkmodell Hybrid“ (Pohl-Patalong/ Hauschild)18 eine besondere Bedeutung gewinnen. Die Attraktivität des Hybrid- Autos liegt in dem optimalen Zusammenspiel zwischen Elektromotor und Verbrennungsmotor. So können auch in der Kirche unterschiedliche Gemeindeformen und Frömmigkeitsstile nicht nur nebeneinander bestehen, sondern sich so miteinander vernetzen, dass ganz unterschiedliche Menschen angesprochen werden und die Kraft des Evangeliums erfahren. Die Organisationsform des Netzwerks – darauf haben Isabel Hartmann und Reiner Knieling hingewiesen – weist zahlreiche Merkmale auf, die für die Kirche der Zukunft von besonderer Bedeutung sein werden19. Ich nenne nur einige: Netzwerke haben keine Formalitäten, sondern basieren auf Vertrauen. Sie ersetzen nicht verlässliche Institutionen, aber sie können sie ergänzen.
18 Uta Pohl-Patalong und Eberhard Hauschildt 2016, 100. 19 Isabel Hartmann und Reiner Knieling 2014, 200–208.
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Netzwerke können – etwa bei der Hochwasserhilfe – schnell auf unerwartete Problemlagen reagieren. Kirchenvorstände können auf Menschen zugehen, die zwar formell nicht „zuständig“ sind, aber Kompetenzen bieten, die hilfreich sein können. In Netzwerken treffen wir auf Menschen mit Leidenschaft, die sich zusammenfinden, weil sie sich gerufen fühlen. Netzwerke passen zum Geist Gottes, der sich nicht in feste, institutionelle Abläufe pressen lässt. Netzwerke machen Gemeinde und Kirche durchlässig für Neues. Sie schaffen – wie wir gesehen haben – Brückenbeziehungen in andere Milieus hinein, die der Vielfalt in der Gemeinde guttun.
4.4 Jugend gezielt fördern Die empirischen Erkenntnisse sind klar. Es ist heute sehr schwierig geworden, jungen Menschen den Glauben zu vermitteln. In den Familien jedenfalls geschieht das heute immer weniger und ist angesichts der Reizüberflutungen im digitalen Zeitalter auch objektiv schwerer geworden. Umso wichtiger ist es, dass wir als Kirchen die staatskirchenrechtlichen Möglichkeiten nutzen, die wir in Deutschland haben, aber auch unsere eigenen kirchlichen Möglichkeiten, um junge Menschen zu erreichen. In den KiTas, die wir als Trägerinnen und Träger unterhalten, können wir biblische Geschichten erzählen, wo sie vielleicht zu Hause nicht mehr erzählt werden, und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so schulen, dass sie die Kinder damit begeistern können. Im Religionsunterricht erreichen wir täglich Millionen von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen alles tun, was wir können, damit sie einen guten Religionsunterricht bekommen. Im Konfirmandenunterricht und der Jugendarbeit haben sich neue Formen bewährt, die sich stark an der Gemeinschaft orientieren: Konficamps, Jugendfreizeiten und Teamer, die nach der Konfizeit Aufgaben als Betreuer übernehmen. Wir sollten auch darüber nachdenken, wie wir als evangelische Kirche junge Menschen besser in den Gottesdienst einbinden können. Die Ministrantenkultur auf katholischer Seite zeigt, wie erfolgreich Modelle der Beteiligung sind, in denen Jugendliche ein auch äußerlich sichtbares Amt haben, in dem sie gebraucht werden.
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4.5 Digitalisierung ernst nehmen Wenn wir uns verstärkt an junge Menschen wenden wollen und an diejenigen, die weder regelmäßig unsere Gottesdienste besuchen noch unsere anderen Angebote wahrnehmen, wenn wir mit diesen Menschen über unseren Glauben und die Themen ins Gespräch kommen wollen, an denen uns als Kirche in besonderer Weise liegt, dann müssen wir sie dort aufsuchen, wo sie sich bewegen. Das bringt mich zu der Frage nach den Wegen und Kanälen, auf denen wir unsere Botschaft für diese Menschen weitertragen, mit ihnen in den Dialog kommen, und über die wir für diese Menschen erreichbar sind. Das Internet spielt dabei eine zentrale Rolle. 84 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung nutzt das Netz, so die Onlinestudie von ARD und ZDF. Das Smartphone ist dabei das meistgenutzte Gerät: Zwei Drittel der Bevölkerung und nahezu jeder 14- bis 29-Jährige geht darüber ins Netz. Laut der Shell-Jugendstudie ist die Online-Vollversorgung bei Jugendlichen Wirklichkeit geworden: 99 Prozent haben Zugang zum Internet. Sie nutzen im Durchschnitt 2,3 Zugangskanäle, wie beispielsweise Smartphone oder Laptop/Notebook, und verbringen durchschnittlich 18,4 Stunden pro Woche im Netz. Besonders viel Zeit verbringen Jugendliche in den „social media“, häufig etwas problematisch übersetzt mit „sozialen Netzwerken“, wie Facebook, Twitter oder WhatsApp. Es geht heute nicht mehr nur um Information, sondern um Kommunikation, um Mitteilen, um Dialog und Miteinander. Dabei geht es keineswegs nur um junge Leute. Die größten Zuwachsraten hat Facebook derzeit interessanterweise bei den Menschen, die zwischen 50 und 65 Jahren alt sind, also den sogenannten „Best Agers“. Wir stehen durch diese Entwicklungen vor neuen Herausforderungen, die die Chance bieten, mit Menschen auf anderen Wegen in Dialog zu treten. Es kann nicht in Frage stehen, ob, sondern nur wie wir auf die hier nur grob skizzierten Entwicklungen reagieren. Da muss man zwischen Verdammung und Euphorie den richtigen Weg finden. Ich freue mich, wenn ich beim Kirchenausgang Leuten die Hand gebe und dann kommt jemand, stellt sich vor als mein Facebookfreund oder meine Facebookfreundin und dann erkenne ich den Namen, weil wir uns von Facebook kennen. Dann ist es manchmal so, als würde man einen alten Bekannten wiedertreffen. Ob christlicher Glaube im Bewusstsein junger Menschen und der eher Kirchenfernen verankert bleibt oder neu verankert wird, vielleicht auch nur wenigstens punktuell eine Rolle spielt, wird davon abhängen, ob es uns gelingt, uns auf ihre Kommunikationswege einzulassen. Es geht nicht darum, die direkte Kommunikation zwischen Menschen, das Miteinander in den Gemeinden ersetzen zu wollen. Sondern darum, ergänzend
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dazu zusätzliche Kommunikationswege auf- und auszubauen, über die wir miteinander und mit denen kommunizieren können, die zu unseren anderen Formen keinen Zugang finden oder noch keinen Zugang gefunden haben. Viele – übrigens nicht nur junge – Kirchenmitglieder warten nur darauf, dass wir uns präsenter im Internet zeigen. Sie wären gerne bereit, in Beiträgen und Diskussionen über unsere Kirche einzusteigen, wenn sie nur interessant genug für sie wären. Ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnt, das Medium Internet künftig viel intensiver für unsere Kommunikation mit unseren Mitgliedern ebenso wie mit Interessierten oder Kritikern zu nutzen als bisher. Aber genau dadurch können wir uns auch mit umso größerer Kompetenz in die dringlichen ethischen Debatten um Datenschutz, Intimitätsverlust, Datenkonzernmacht und Kommunikationsverfall durch Internetblasen einbringen.
4.6 Lebensnähe der theologischen Ausbildung stärken Für die Kirche der Zukunft ist die Frage von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wie das theologische Personal, das dafür wichtige Impulse zu geben haben wird, ausgebildet ist. Wie viele Sprachkenntnisse braucht ein guter Pfarrer und welche Qualifizierung fehlt ihm in aller Regel? Wie lässt sich die Lebensnähe der theologischen Ausbildung stärken? Wie können wir bei der Ausbildung für den Pfarrberuf neben der Gelehrtenlogik auch der Kommunikationslogik einen angemessenen Stellenwert geben? Und was macht eine Kirche, die nach ihrem Selbstverständnis wissenschaftliche Theologie als Gegenüber zur Kirchenleitung braucht, in der aber die Spreizung zwischen einer hoch spezialisierten theologischen Wissenschaft und handelnder Kirche immer stärker sichtbar wird? Wie sieht die Zukunft des Pfarrberufes im Kontext der anderen kirchlichen Berufe und des Engagements der Ehrenamtlichen aus? Wie kann er so gestaltet werden, dass Menschen ihn bis zum Ende ihres Dienstes gut, gerne und wohlbehalten ausüben können? In meiner eigenen, bayerischen Landeskirche haben wir einen Prozess zum Pfarrbild organisiert, an dem die große Mehrheit unserer Pfarrerinnen und Pfarrer aktiv teilgenommen und mitdiskutiert hat. Auch Ehrenamtliche haben teilgenommen, Kirchenvorsteher haben sich eingebracht. Denn es ist auch für sie wichtig, darüber nachzudenken, was die Erwartungen sind, die sie an den Pfarrer oder die Pfarrerin haben. Am Ende standen 21 Empfehlungen an die Kirchenleitung, die nun Schritt für Schritt abgearbeitet werden. Es geht darum, den Pfarrberuf zukunftsfähig zu machen, sodass Menschen auch nach einem ganzen Berufsleben noch gut, gerne und wohlbehalten arbeiten.
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4.7 Durch Sein in der Liebe missionarische Kraft entwickeln Wenn wir die Frage stellen, wie die Kirche neue geistliche, neue missionarische Ausstrahlungskraft gewinnen kann, dann wird etwas zuallererst wieder zu nennen sein, das untrennbar verbunden ist mit Jesus Christus als dem Zentrum unseres Glaubens: die Liebe. Kurz gefasst ist die Antwort auf die Frage nach dem Schlüssel für eine neue Ausstrahlungskraft der Kirche: ein Sein in der Liebe. Dass wir selbst die Liebe ausstrahlen, von der wir sprechen, ist die beste Grundlage dafür, dass Menschen sich für die Botschaft des Evangeliums begeistern lassen. Die Menschen müssen spüren, warum das eine wunderbare Botschaft ist, die wir da weitersagen. Sie sollen es nicht nur in unseren Worten hören, sondern auch in unserer Ausstrahlung spüren. Das ist natürlich etwas, was eine Kirchenleitung nicht in einem 10-Punkte Katalog verordnen kann, sondern es passiert darin, dass wir uns immer wieder von einander inspirieren lassen. Von unserer Botschaft selbst inspirieren lassen und es wagen, sie weiterzusagen. Nicht platt, nicht erdrückend, nicht gesetzlich, sondern einfach im Sein in der Liebe. Das aber heißt: Der Mensch muss Selbstzweck sein und nicht Objekt potentieller Bekehrung. Mission im Geiste Jesu heißt, den anderen um seiner selbst willen lieben, so wie Christus uns um unserer selbst willen liebt. Das ist der Geist, den ich in den neuen Kirchenentwicklungsprojekten spüre, die – inspiriert durch die Kirche von England – unter dem Stichwort „Fresh Expressions“ hierzulande zunehmende Aufmerksamkeit finden. Diesen Projekten ist gemeinsam, dass sie dazu animieren wollen, quer zu den gewohnten kirchlichen Kanälen zu den Menschen zu gehen, anstatt darauf zu warten, dass sie zur Kirche kommen. Es sind Experimente, mit denen neue Wege erkundet werden sollen, das Evangelium heute unter den Menschen wirken zu lassen. Von einem Beispiel möchte ich Ihnen erzählen. Michael Wolf, in der Bayerischen Landeskirche zuständig für Fresh X, hat es bei seinem Vortrag beim Kirchentag auf dem Hesselberg am Pfingstmontag erzählt: Wolf und sein 20-köpfiges ehrenamtliches Mitarbeiterteam sind seit einigen Jahren auf dem „summerbreeze“ präsent, einem Heavy-Metal-Festival mit vielen Tausend Menschen bei Dinkelsbühl. Sie haben sich gesagt: Wenn da so viele Menschen sind, da wollen wir als Kirche präsent sein. Vieles, was sie da erleben, ist berührend, überraschend. Ein Beispiel: Einige Pärchen sind gekommen und haben gesagt: „Ihr seid von der Kirche? Wir wollen heiraten und zwar sofort.“ Wolf und seine Leute haben dann erklärt, dass sie zwar keine Trauung vollziehen können auf die Schnelle, aber – so sagte Wolf –, „Was ich machen kann: ich kann euch segnen.“ Sie sagten: „Keine Ahnung was das ist – aber mach mal.“ Er sagte: „Das Brautpaar in der Kirche kniet sich hin, aber ich kann euch auch im Stehen die Hände auflegen.“ „Ne, ne, volles Programm, wir knien uns jetzt hin.“ Las Vegas
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Hochzeit? Spaß und Party? – So dachte Wolf anfangs. Aber sie hatten Tränen in den Augen. Das hat sie berührt, da haben sie etwas gespürt. Sie wären niemals in eine Kirche gekommen, weil das so weit weg ist von ihrer Lebenswelt, aber weil Wolf und seine Leute zu ihnen hingegangen sind, haben sie von ihnen eingefordert, begleitet zu werden mit einem Ritual, mit einem Segen. Wenn man“, so Michael Wolf „vor ein paar Jahren zu mir gesagt hätte: Auf „summerbreeze“, da werdet ihr Menschen segnen – da hätte ich gesagt: Bist du verrückt? Ich bin froh, wenn ich da lebend wieder herauskomme! Aber es war ganz anders. Und es war ganz einfach – wir mussten uns nur auf den Weg machen – dahin wo viele Menschen sind.
Man könnte von anderen Projekten erzählen, zum Beispiel dem Weihnachtsliedersingen beim FC Union Berlin im Stadion. Die 20.000 Menschen singen Weihnachtslieder, mit großer Inbrunst, mit Tränen in den Augen. Da muss die Kirche sein. Da muss sie mithelfen, den Inhalt dieser Lieder deutlich machen. Denn damit kennt sie sich aus.
4.8 Die globale Ökumene stärken Dass die Kirche nationale und kulturelle Grenzen übersteigt, gehört zu ihrem ureigenen Selbstverständnis. Es ist etwas ganz wunderbares, lokal fest verwurzelt zu sein aber diesen universalen Horizont zu haben. Weil Gott der Schöpfer der ganzen Welt ist, weil Jesus Christus der Herr aller Menschen ist – und zwar von Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen. Wir haben viele Erfahrungen mit Kirchenpartnerschaften gemacht. Man spürt dort, dass Christus uns verbindet, jenseits all der Grenzen. Da ist das Dorf in Mittelfranken mit dem Dorf in Arusha in Tansania eng verbunden. Wenn ich Tansania besuche, richtet man mir dort herzliche Grüße für einzelne Personen in Mittelfranken aus. Beim Partnerschaftstreffen mit unserer ungarischen Partnerkirche anlässlich des 20jährigen Partnerschaftsjubiläums kamen 500 Menschen aus Ungarn, meist Jugendliche, nach Nürnberg. In einer Zeit, in der Europa auseinanderzubrechen droht, kommen Christen zusammen und spüren ihre geschwisterliche Verbindung. Sie bilden ein Netzwerk der Kommunikation im auseinanderbrechenden Europa. Als Kirchen sind wir von unsrem Glauben her ideale Akteure einer weltweiten Zivilgesellschaft. Das ist auch für politischen Fragen wie dem Klimawandel relevant. Wenn der Klimawandel hier schon so stark durchschlägt und in Tansania die Wetterextremitäten so groß sind, dass die Felder dort verdorren, und wenn klar ist,
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dass die Gründe dafür in unserem Lebensstil liegen und nicht von den Menschen dort selbst verursacht sind, dann hat das Konsequenzen für unser Handeln hier. Die Menschen, denen ich bei meinen Tansania-Besuchen begegne, spreche ich mit „liebe Schwestern und Brüder“ an. Wenn ich das ernst meine, muss ich ihre Situation auch hier in den öffentlichen Diskurs einbringen. Ich muss die Geschichten meiner Schwestern und Brüder auf der Welt an die Verhandlungstische der Mächtigen in unserem Land bringen. Ich kann mich nicht aus der Politik heraushalten, wenn ich meinen Glauben ernst nehme, wenn ich ernst nehme, dass die Menschen anderswo auf der Welt meine Schwestern und Brüder sind. Das ist der Zusammenhang zwischen Glaube und öffentlichem Engagement der Kirchen. Die Kirche lebt aus dem Glauben an den Schöpfer der Welt, sie weiß sich gegründet in dem einen Herrn Jesus Christus als ihrem Eckstein und sie weiß sich immer wieder von neuem zusammengeführt von dem Heiligen Geist, der zu bewirken vermag, dass Menschen, die in unterschiedlichen Sprachen sprechen, sich verstehen können. Diese Universalität der Kirche findet in vielen Formen heute ihren Ausdruck: in den Weltbünden der Kirchen, der Reformierten Weltgemeinschaft, dem Lutherischen Weltbund und dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), auch Weltkirchenrat genannt, aber auch in Partnerschaften zwischen einzelnen Kirchen, die bis auf die Gemeindeebene zu intensiven Begegnungen über die Kontinente hinweg führen. Die Weltmissionskonferenz in Arusha im März 2018 hat gerade wieder in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass das gemeinsame Erleben des Glaubens und das Engagement für eine bessere Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Die für die Welt insgesamt so wichtigen Themen wie Gerechtigkeit, Frieden und der Schutz der Natur sind Themen, die nicht national zu bewältigen sind, sondern international angegangen werden müssen. Es gibt – das wage ich zu behaupten – keine internationale Organisation, die so sehr dazu berufen ist, sich an der weltweiten zivilgesellschaftlichen Diskussion zu diesen Fragen zu beteiligen wie die Kirche. Dazu braucht sie aber Personen und Organe, die weltweit gehört werden. Deswegen muss man gerade heute sagen: Wenn es den Weltkirchenrat nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Internationale ökumenische Netzwerkaktivitäten sind kein Hobby engagierter Ökumenikerinnen oder Ökumeniker. Sie gehören zum Kern kirchlichen Selbstverständnisses.
4.9 Die Interkonfessionelle Ökumene weiterentwickeln Das Ziel der durch das Reformationsjubiläumsjahr mit viel Rückenwind versehenen ökumenischen Bemühungen ist eine sichtbare Einheit in versöhnter
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Verschiedenheit. Diesen aus der Arbeit des lutherischen Ökumene-Instituts in Straßburg hervorgegangenen Begriff hat mit Franziskus erstmals auch ein Papst wiederholt benutzt. Das macht mir Hoffnung, dass wir uns nun auch in der ökumenischen Zielperspektive zunehmend einig sind. Nicht um eine einheitliche, aus Rom gesteuerte Organisation geht es, sondern um eine Gemeinschaft der Kirchen, die Differenzen nicht als Bedrohung, sondern als potentiellen Reichtum sieht und auf der Basis eines differenzierten Konsenses steht, bei dem die Differenzen ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben. Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre hat es vorgemacht. Und ich hoffe, dass konkrete Schritte zum gemeinsamen Abendmahl folgen. Der erste Schritt, die Zulassung evangelischer Ehepartner zur Eucharistie, ist ja bereits unterwegs und wird – trotz der Kritik Einzelner – angesichts der überraschend hohen Zustimmung in der Deutschen Bischofskonferenz nach meiner Einschätzung auch nicht aufzuhalten sein. Ich glaube, Martin Luther wäre glücklich über diese Entwicklungen. Menschen sollten sich nicht „petrisch“, „paulisch“ oder „lutherisch“ heißen – so hat er 1522 gesagt, sondern sich nach dem Namen Jesu Christi benennen. Ich bitte, man wolle von meinem Namen schweigen und sich nicht lutherisch, sondern einen Christen nennen. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, daß man die Kinder Christi dürfte nach meinem nichtswürdigen Namen nennen? Nicht so, liebe Freunde! Laßt uns tilgen die parteiischen Namen und uns Christen heißen, nach Christus, dessen Lehre wir haben.20
Nach dem langen Wachsen einer lutherischen Tradition nennen wir uns heute trotzdem lutherische Christinnen und Christen. Aber jeglicher Konfessionalismus, der die Konfession zum Selbstzweck macht, muss ein Ende haben. Unsere jeweiligen konfessionellen Traditionen können nie mehr etwas Anderes sein als Wege zur Neuentdeckung von Christus selbst.
4.10 Die Kraft der Frömmigkeit für heutige Menschen erschließen Wenn wir heute auf das schauen, was modere Menschen von heute erhoffen und ersehnen und einen Moment darüber nachdenken, ob uns das irgendwie bekannt vorkommt, wenn wir in unsere Bibel schauen und vom Gottesdienst her kommen, dann werden wir staunen. Ich glaube, dass die Kernpunkte der Bibel
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genau die Punkte sind, nach denen moderne Menschen von heute sich sehnen. Es ist uns nur noch nicht gelungen, das wirklich sichtbar zu machen. Ich nenne ein paar Beispiele: „Dankbar leben lernen“, das würden die meisten Menschen als ein wesentliches Ziel sehen. Ich wüsste nicht, welche Grundorientierung mich dankbarer machen könnte als der Glaube an den Gott, den wir als den Schöpfer der Welt bekennen. Der uns immer wieder von neuem deutlich macht, dass wir uns nicht uns selbst verdanken, sondern dass alles, was wir haben, alles, was wir sind, ein Geschenk Gottes ist, das wir jeden Tag aus der Hand Gottes entgegennehmen dürfen und „danke“ dafür sagen – etwa im täglichen Gebet. Auch die Glücksratgeber empfehlen ein Leben in Dankbarkeit. Aber wie macht man das? Wenn ich die entsprechende Seite im Glücksratgeber aufschlage und da steht: „Lernen Sie dankbar zu leben“, dann wird das erstmal nur meinen Kopf erreichen. Es muss aber in die Seele einsickern! Es braucht ein Sich-Einlassen auf eine Tradition, die mich lehrt, dankbar zu werden; die mich lehrt, über die Werke der Schöpfung zu staunen. Das ist es, was das alte Wort „Frömmigkeit“ bezeichnet. Das ist kein altmodisches Wort; ich glaube, es ist ein Zukunftswort. Wer Psalm 103 liest und verinnerlicht: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“, der lernt, dankbar zu sein. Das ist der Schlüssel zu einem wirklich erfüllten, zu einem glücklichen Leben. Nun noch ein Beispiel: Aus der Zuversicht leben lernen. Mit den Hoffnungstexten der Bibel im Rücken leben. Die Kirche lebt aus solchen Hoffnungsgeschichten, die die ganze Bibel durchziehen. Schon die im Alten Testament in vielfältigen Quellen geschilderte Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott, in die die Kirche hineingenommen ist, ist eine solche Hoffnungsgeschichte. Die Herausführung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten steht dafür, aber auch die Wüstenwanderung, die das Volk allein deswegen durchgehalten hat, weil die Aussicht auf das verheißene Land am Leben gehalten hat. Jahrhunderte später ist es die Zeit im Exil in Babylon, in der das Volk Israel am Boden liegt. Vertrieben aus dem eigenen Land. Ohne Perspektive. Scheinbar verlassen von dem Gott, der weit weg in Jerusalem im Tempel wohnte. Und dann lassen Propheten mitten hinein in ein zertrümmertes Leben die Stimme Gottes laut werden. Es ist eine Stimme der Hoffnung. Der Lebensmut kommt zurück. Einige der berührendsten Hoffnungslieder, die die Menschheit kennt, entstehen in dieser Zeit. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. […] Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. (Ps 126,1–2.5–6).
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In der Menschwerdung Gottes, die wir an Weihnachten feiern, hat die Hoffnung, aus der wir Christen leben, einen Namen und ein Gesicht bekommen. „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1 Petr 1,3). Welche Kraft in dieser Hoffnung steckt, hat Dietrich Bonhoeffer einmal so zum Ausdruck gebracht: Wenn schon die Illusion im Leben der Menschen eine so große Macht hat, daß sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat, und wie unbesiegbar ist so ein Leben. (DBW 8, 544).
Diese Hoffnung neu zu entdecken, hemmungslos und grenzenlos hoffen zu lernen, das ist vielleicht das Wichtigste, wenn wir heute die Grundlage für eine ausstrahlungsstarke Kirche der Zukunft legen wollen.
Literatur Barth, Karl: Die kirchliche Dogmatik. Bd. 1 Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Zürich 1932–1939 (KD/I). – Die kirchliche Dogmatik. Bd. 2 Die Lehre von Gott, Zürich 1940–1942 (KD/II). – Die kirchliche Dogmatik. Bd. 4 Die Lehre von der Versöhnung, Zürich 1953–1955 (KD/IV). – Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert: ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon 1947. Bedford-Strohm, Heinrich: Radikal Lieben. Anstöße für die Zukunft einer mutigen Kirche, Gütersloh 2017. Bedford-Strohm, Heinrich und Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (KMU), Gütersloh 2015. Bonhoeffer, Dietrich: Sanctorum communio: eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, Berlin 1930. – Ökumene, Universität, Pfarramt. 1931–1932, hg. v. Amelung, Eberhard und Strohm, Christoph, München 1994. Fischer, Konrad: Gegenwart Christi und Gottesbewußtsein. Drei Studien zur Theologie Schleiermachers, Berlin und New York 1992 (Theologische Bibliothek Töpelmann 55). Hartmann, Isabel und Knieling, Reiner: Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, Gütersloh 2014.
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Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998. Herms, Eilert: Art: Erfahrung II. Philosophisch. In: TRE, Berlin und New York 1982. Kühn, Ulrich: Kirche, Gütersloh 1980 (Handbuch Sytstematische Theologie 10). Luther, Martin: Eine treue Vermahnung zu allen Christen, 1522 (WA 8, 670–687). Mildenberger, Friedrich: Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981. Pohl-Patalong, Uta und Hauschildt, Eberhard: Kirche verstehen, Gütersloh 2016. Preul, Reiner: Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der evangelischen Kirche, Berlin 1997. Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (Glaubenslehre=GL), 1821/2. Aufl. 1830.
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Kirche in der Diaspora Ekklesiologische Perspektiven für eine Kirche zwischen Umbruch und Aufbruch1
1. Kirche zwischen Umbruch und Aufbruch In vielen Ländern der Welt leben Christen in der Minderheit. Auch in Regionen, in denen das Christentum traditionell die Mehrheitsreligion ist, nimmt die Zahl der Christen ab, so vor allem in Europa, während gleichzeitig in anderen Weltgegenden ihre Zahl im Wachsen begriffen ist. Das Gesamtbild ist freilich noch vielschichtiger, gilt es doch auch die unterschiedlichen Konfessionen, Konfessionsfamilien und Einzelkirchen gesondert zu betrachten. Der Protestantismus im weitesten Sinne des Wortes deckt ein breites Spektrum von Denominationen ab und wächst weltweit. Gleiches gilt für das charismatisch-pentekostale Christentum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. In Europa, auf das sich meine Ausführungen konzentrieren werden, befindet sich der Protestantismus demographisch betrachtet jedoch auf dem Rückzug. Das gilt vor allem für die traditionellen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Zwar gibt es auch in unseren Breitengraden historische Freikirchen und solche neueren Ursprungs, ein evangelikales Christentum und charismatische Gemeinden, die wachsende Mitgliederzahlen vermelden. Aber ihr Wachstum kompensiert nicht annähernd die Abnahme der Mitgliederzahlen der evangelischen Landeskirchen. Soziologisch betrachtet haben sich innerhalb der großen Kirchen unterschiedliche Gruppen und Milieus gebildet. Auch innerhalb der evangelischen Landeskirchen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gibt es, grob gesagt, „volkskirchlich-pluralistische, missionarisch-evangelistische und charismatische Visionen, ebenso ökumenisch-konziliare und politisch-emanzipatorische
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Visionen von Kirche“.2 Außerhalb und neben den bekannten kirchlichen und freikirchlichen Strukturen entstehen gleichzeitig „alternative Formen christlicher Frömmigkeit, die ihren Ausdruck in eigenständigen Denominationen und Konfessionen suchen, insbesondere im evangelikal-charismatischen Bereich“.3 Zusätzlich breitet sich infolge von Migration ein zahlenmäßig bedeutsamer orthodoxer Kirchentypus aus, der auch das ökumenische Gespräch mitbestimmt. Außerdem ist die Zahl von Migranten- oder Einwandererkirchen aus dem europäischen Ausland wie auch solcher mit asiatischer oder afrikanischer Herkunft seit den 1990er Jahren stetig gewachsen. „Ein Teil der weltweiten Christenheit lebt mitten unter uns. Es entwickelt sich eine neue stilistische Vielfalt des Christlichen.“4 Das evangelische Christentum befindet sich, gesamteuropäisch betrachtet, in einer Minderheitensituation. Selbst im Mutterland der Reformation gehören nur 28 Prozent der Bevölkerung einer der evangelischen Kirchen an. Die Zahl der Katholiken hat ebenfalls abgenommen, aber sie ist inzwischen größer als die der verbliebenen Protestanten, die doch in der Geschichte Deutschlands lange Zeit deutlich in der Mehrzahl waren. 2015 lag die Gesamtzahl der Christen in der Bundesrepublik bei 61 Prozent. Im Osten Deutschlands gehört beiden Konfessionen nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung an. Die Veränderung der religiösen Demographie durch Migration von Nichtchristen, also vor allem von Muslimen, ist zu berücksichtigen, jedoch für den Gesamttrend nicht ausschlaggebend. Als Erklärung reicht auch nicht der Verweis auf die Sterblichkeitsrate, welche die Geburtenrate im christlichen Bevölkerungsteil übertrifft. Schließlich wird man nicht als Christ geboren, sondern zum Christen getauft. Die Zahl der Taufen aber ist nochmals geringer als diejenige der Geburten. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die Kirchenaustritte, deren Zahl in den evangelischen Kirchen prozentual höher ist als in der römisch- katholischen Kirche. Infolge der kontinuierlichen Kirchenaustritte in den westlichen Bundesländern gleichen sich die religionsdemographischen Verhältnisse dort mehr und mehr denen in Mittel- und Ostdeutschland an. Der Unterschied zwischen Ost und West besteht allerdings darin, dass der Kirchenaustritt im Westen der Bundesrepublik eine bewusste Entscheidung ist, während die östlichen Bundesländer schon seit mehreren Generationen weitgehend entkirchlicht sind. Hier kehrt man nicht der Kirche den Rücken, sondern hat nie eine kirchlich-religiöse Sozialisation erfahren.5 Es sind also nicht Enttäuschungen 2 Reinhard Hempelmann 2016, 5. 3 Ebd. 4 A. a. O., 6. 5 Vgl. Andreas Fincke 2017.
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oder negative Erfahrungen mit der Kirche, die zur Abkehr führen, sondern Konfessionslosigkeit ist der Normalfall. Nun weisen Religionssoziologen zu Recht darauf hin, dass Konfessionslosigkeit nicht mit Religionslosigkeit gleichzusetzen ist. Was man heute als religiösen Indifferentismus bezeichnet, kann unterschiedliche Schattierungen annehmen. Allerdings gibt es einen verbreiteten Gewohnheitsatheismus, der sich schon längst nicht mehr an der Gottesfrage oder am Theodizeeproblem abarbeitet, sondern dem selbst die Frage nach Gott abhanden gekommen ist. So wichtig es hinsichtlich der kirchlichen Arbeit, hinsichtlich Verkündigung, Seelsorge und Religionspädagogik auch ist, zwischen verschiedenen Ausprägungen von Religionsdistanz zu unterscheiden, so fragwürdig ist die These von einem religiösen Apriori als anthropologischer Konstante, weil diese den Anspruch erhebt, vermeintlich religionslose Menschen besser zu verstehen als diese sich selbst, womit deren Selbstdeutung nicht wirklich ernstgenommen wird. Wie Gerhard Wegner halte ich die Annahme für falsch, der Umbruch, der sich in sinkenden Kirchenmitgliederzahlen niederschlägt, betreffe lediglich die kirchliche Gestalt des Christentums, also nur eine bestimmte Sozialgestalt des Christentums, nicht aber das Christentum als solches oder die Religion im Allgemeinen. Wegner hält dagegen: Die Zeiten, in denen man unwidersprochen behaupten konnte, alle Menschen hätten im Grunde genommen religiöse Interessen, pflegten sie heutzutage allerdings höchst individualisiert, und der Geltungsverlust der Kirche läge daran, dass sie durch ihre Dogmatik und ihren autoritären Stil den Menschen nicht mehr gerecht werde[n] würde, sind vorbei. Natürlich muss weiterhin zwischen Religion und Kirche unterschieden werden – aber religiöse Kommunikation findet sich ohne Kirche kaum.6
Schon zehn Jahre zuvor hat Detlef Pollack festgestellt, es sei „einfach nicht wahr, dass die Kirchen sich leeren, aber Religion boomt“.7 Von einem Megatrend Religion oder Megatrend Spiritualität kann in Anbetracht der soziologischen Faktenlage wohl tatsächlich nicht die Rede sein,8 es sei denn, man überdehnt den Begriff der Religion oder des Religiösen derart, dass am Ende alles und jedes als religiös oder „religioid“9 gelten kann. Neben ambivalenten Phänomenen von Religion und Religiosität gibt es in der deutschen Gesellschaft einen verbreiteten und weiter um sich greifenden Gewohnheitsatheismus bzw. reli6 7 8 9
Gerhard Wegner 2014, 7. Detlef Pollack 2003, 137. Vgl. Ulrich H.J. Körtner 2006. Der Begriff geht m.W. auf Georg Simmel zurück. Vgl. Volkhard Krech 1998, 66.
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giösen Indifferentismus.10 Gerichtliche Auseinandersetzungen über Kruzifixe in öffentlichen Räumen oder die Diskusionen über die Zukunft des Religionsunterrichts sind ein Indikator für die Veränderungen im gesellschaftlichen Klima, was die Rolle von Religion im öffentlichen Raum betrifft. Kritiker befürchten, Wegners These begünstige ein eng gefasstes Verständnis von Kirche und eine Selbstimmunisierung gegen innerkirchliche und innertheologische Kritik.11 Doch ist eine solche Lesart der These keineswegs zwingend. Hingegen immunisiert sich eine Religionstheorie, die das Christentum, vor allem in seiner protestantischen Gestalt, zum Sachwalter der Moderne erklärt, gegen jede Empirie und Kritik, weil ihr Konstrukt einer allgegenwärtigen subjektiven Religiosität, das moderne Subjektivität und Religion gleichsetzt, soziologisch nicht greifbar ist. Es handelt sich letztlich, mit Thomas Luckmann gesprochen, um eine „unsichtbare Religion“12. Tatsächlich zeigt sich, dass die Verbindung zur Religion schwindet, wo die Verbindung zur Kirche abreisst. Keineswegs suchen Menschen, die vielleicht schon in dritter Generation ohne kirchliche Prägung aufgewachsen sind, außerhalb der Kirchen nach anderen Formen von Religion oder Religiosität, will man nicht behaupten, wo immer die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt werde, handele es sich schon um Religion. Daher ist nicht nur die Kirchensoziologie zu neuen Ehren zu bringen, statt weiter ihre Ablösung durch Christentumsforschung zu propagieren,13 sondern das Thema Kirche ist auch systematisch-theologisch neu zu reflektieren. Pluralisierung, Indvidualisierung und Säkularisierung bilden keinen Gegensatz. Kirche und christlicher Glaube befinden sich nicht nur im Umbruch, und es sind auch nicht nur Aufbrüche zu vermelden, die Glaube und Kirche zu neuem Leben erwecken, sondern es gibt auch Abbrüche. So berechtigt die Kritik an einer vorschnellen und undifferenzierten Rede vom Traditionsabbruch auch ist, das Zauberwort Umbruch oder Transformation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es solchen Traditionsabbruch tatsächlich gibt, und zwar nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Kirchen. Teilweise wird er sogar in den Kirchen selbst begünstigt. Wolfgang Huber hat für dieses Phänomen den Begriff der Selbstsäkularisierung geprägt. Solche Selbstsäkularisierung vollzieht sich nicht zuletzt durch die Moralisierung des Evangeliums, das heißt durch seine Reduktion auf eine moralische Botschaft oder ein Ensemble ethischer Normen und Werte. 10 Vgl. Wolf Krötke 2007; Michael Domsgen 2014, 19 ff. 11 Vgl. Georg Raatz 2014. Differenzierter die Sicht von Jan Hermelink, Eberhard Hauschildt und Birgit Weyel 2014. 12 Vgl. Thomas Luckmann 1991. 13 Vgl. Detlef Pollack und Gerhard Wegner 2017.
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Pluralisierung und Individualisierung des Christentums, seine Fragmentierungen wie auch neue konfessionsübergreifende Gruppierungen und Netzwerke, die sich als transkonfessionell begreifen, werfen verstärkt die Frage nach der Identität des christlichen Glaubens und der einzelnen Kirchen auf. Die Diskussion über eine Ökumene der Profile oder eine Differenzökumene, die an die Stelle der bisherigen Konsensökumene tritt,14 zeigt, wie stark inzwischen die Frage nach der jeweils eigenen Identität in den Fokus der Ökumene gerückt ist. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie weit der Begriff der Diaspora hilfreich sein kann, um die gegenwärtige Situation der Kirche in der Gemengelage von Umbruch, Abbruch und Aufbruch theologisch zu erhellen. Mein Ziel ist es, systematisch-theologische Überlegungen zur Zukunft der Kirche anzustellen und nicht etwa nur in der Analyse der Gegenwart stecken zu bleiben.
2. Theologie der Diaspora Ein biblischer Topos, mit dessen Hilfe die Minderheitensituation von Christen oder einer Kirche benannt werden kann, ist derjenige der Diaspora. Auf christliche Gemeinden gemünzt findet sich das griechische Wort in Jak 1,1 und 1 Petr 1,1, also lediglich an wenigen Stellen und zudem in späten Schriften des Neuen Testaments. In Joh 7,35 wird er im Zusammenhang mit Juden verwendet, die verstreut außerhalb des jüdischen Kernlandes leben. Apg 8,1.4 gebraucht das Verb diaspeíresthai („zerstreut werden“) im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jerusalemer Christen, die in die Gegenden von Judäa und Samarien flüchteten. Das griechische Verb und das dazugehörige Substantiv diasporá („Zertreuung“) sind offensichtlich aus der Seputaginta übernommen worden, in der das Verb über 40-mal und das Substantiv zwölfmal vorkommt. Die Zerstreuung der Juden im gesamten östlichen Mittelmeerraum wird in Septuaginta und Judentum allerdings vom Exil (hebr. gôlā/galut) terminologisch unterschieden.15 Auch in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Kultur spielt der Diasporabegriff keine Rolle. Im modernen Hebräisch gibt es den Begriff Tefuza.16 Er bezeichnet die Diaspora, in der man ein gedeihliches und
14 Vgl. Wolfgang Huber 2007; Ulrich H.J. Körtner 2005. 15 Vgl. Tessa Rajak 1999. 16 Vgl. Joseph Dan 1999.
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geschütztes Leben führen kann, während Galut für ein Leben in Leiden, Verfolgung und Verzweiflung steht. Abgesehen von den wenigen genannten neutestamentlichen Stellen scheint der Begriff Diaspora im Christentum über lange Zeit in Vergessenheit geraten zu sein. Zur Umschreibung einer Minderheitensituation wird er nicht weiter gebraucht. Erst bei Luther findet man den Gedanken, die Kirche sei „verborgen und sehr zerstreut“17. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf hat den Diasporabegriff verwendet, um die Lage der Mitglieder der Brüder-Unität zu beschreiben, die auf dem Gebiet einer Landeskirche lebten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff prominent im Kontext der Gustav-Adolf-Stiftung, der Vorläuferin des Gustav-Adolf-Werkes, verwendet.18 Das Pendant zur evangelischen Diasporaarbeit war der katholische Bonifatiusverein, aus dem das Bonifatiuswerk hervorgegangen ist. Schon bald wurde der Diasporabegriff nicht mehr nur zur Charakterisierung einer konfessionellen, sondern auch einer kulturellen und herkunftsbezogenen Minderheitensituation gebraucht. Der theologische, der kulturelle und der nationale bzw. völkische Aspekt des Begriffs wurden auf theologisch wie politisch problematische Weise verschmolzen. In der NS-Zeit entwickelte sich die evangelische Diasporatheologie zur NS-affinen Volkstumstheologie und konnte sich von diesen Verstrickungen nach 1945 nur in einem mühsamen Selbstreinigungsprozess lösen.19 Geschichtlich belastet, ist der Diasporabegriff in Theologie und Kirche seit Jahrzehnten zunehmend problematisiert und im theologischen Sprachgebrauch an den Rand gedrängt worden. Viele Minderheitenkirchen verwenden ihn nicht (mehr), um ihre Situation als religiöse Minderheit zu beschreiben. Auf evangelischer Seite haben allerdings Wilhelm Dantine (1911–1981) und Ernst Lange (1927–1974), sowie auf katholischer Seite Karl Rahner (1904–1984) in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren wegweisende Entwürfe einer Theologie der Diaspora vorgelegt, die zu den biblischen Grundlagen zurückführen und gegenüber völkisch-nationalistischen Anklängen kritisch sind. Was die genannten Autoren verbindet, ist ein Verständnis von Diasporaexistenz als Wesensmerkmal der Kirche, und zwar auch in solchen gesellschaftlichen Kontexten, in denen die Christen oder eine Kirche die religiöse Bevölkerungsmehrheit bilden. Bei Wilhelm Dantine, der die Existenz der evangelischen Minderheit in Österreich als „protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt“20 bezeichnet hat, meint Diaspora die in die Völkergemeinschaft eingestreute 17 So Luther zu Ps 90 in seinen Psalmenvorlesungen: „Abscondita est ecclesia et valde dispera“ (Ennaratio Psalmi XC 1534/35 [WA 40/3,505,5]). Vgl. auch Hermann Riess 1983. 18 Vgl. Walter Fleischmann-Bisten 1999. 19 Vgl. Hermann-Josef Röhrig 1991. 20 Wilhelm Dantine 2001.
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Kirche. In Anspielung auf Joh 12,24 hat Dantine seine Theologie der Diaspora kreuzestheologisch zugespitzt: ‚Diaspora‘ aber heißt eingestreut sein als Weizenkorn Gottes im zerpflügten Acker der Welt. Das Weizenkorn bringt viel Frucht, wenn es stirbt. Zukunftswillige Kirche wird ‚sterbende Kirche‘. […] Sterbende Kirche ist hier wesentlich verstanden als jene Kirche, die sich um ihres Zeugnisses willen jeweils in den Tod begibt, weil sie nicht um ihrer selbst leben will. Kirche in der Nachfolge ihres Herrn ist nicht nur Kirche in der Welt, sondern Kirche ‚für die Welt‘.21
Auch Karl Rahner bestimmt die Existenz der Kirche in der modernen, säkularen Welt als Diasporaexistenz: „Die christliche Situation der Gegenwart ist […] charakterisierbar als Diaspora“.22 Die Diasporasituation ist für uns heute ein […] heilsgeschichtliches Muß, d. h. wir haben diese Diasporasituation nicht nur als leider Gottes bestehend festzustellen, sondern wir können sie als von Gott als Muß […] gewollt anerkennen und daraus unbefangen Konsequenzen ziehen.23
Und weiter: Wir haben also durchaus das Recht, ja fast die Pflicht, damit zu rechnen und nicht verstört zur Kenntnis zu nehmen, dass die Form des öffentlichen Daseins der Kirche sich wandelt. Daß die Kirche überall Diasporakirche wird, Kirche unter vielen Nichtchristen.24
Ernst Lange wiederum hat die Existenz und das Leben der Kirche im Wechselspiel zwischen Sammlung und Zerstreuung auf die Formel „Ekklesia und Diaspora“ gebracht.25 Die drei genannten Autoren wenden sich gegen das Missverständnis, Diaspora bedeute den Rückzug der Christen oder der Kirche aus der Welt in das binnenkirchliche Milieu. Gemeinsam ist ihnen die Auffassung, dass sich die Kirche, die ihrem Wesen nach stets Diasporakirche ist, von Christus in die Welt gesandt weiß. Sie hat teil an der Sendung Gottes, der missio Dei, so dass Diasporaexistenz und missionarische Ausrichtung christlicher Existenz zwei 21 22 23 24 25
Zitiert nach Ulrich Trinks 2001, 21. Karl Rahner 1988, 24. A. a. O., 26. A. a. O., 32. Siehe auch Karl Rahner 1967. Siehe dazu unten Abschnitt 3.
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Seiten derselben Medaille sind. Dantine, Lange und Rahner sind außerdem davon überzeugt, dass die Diasporaexistenz der Kirche nicht konfessionalistisch, sondern ökumenisch verstanden werden muss. Mit Hermann-Josef Röhrig kann man geradezu von einer „ökumenischen Diaspora“26 sprechen. Interessanterweise hat sich in jüngerer Zeit ein kulturwissenschaftlicher Begriff von Diaspora entwickelt, der vom theologischen und kirchlichen Sprachgebrauch ganz abgelöst ist.27 Man spricht zum Beispiel von einer pakistantischen Diaspora in Großbritannien, einer ghanaischen Diaspora in Österreich oder einer afrikanischen Diaspora in den USA. Der kulturwissenschaftliche Diasporabegriff kann die religiöse Dimension mit einbeziehen, wobei es sich keineswegs nur um christliche Denominationen handeln muss, aber die religiöse Komponente ist im kulturwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht entscheidend. Es ist jedoch eine lohnende Aufgabe, den Diskurs über eine erneuerte Theologie der Diaspora zum kulturwissenschaftlichen Diskurs in Beziehung zu setzen. Dieser Aufgabe hat sich eine Arbeitsgruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) gestellt, die 2012 mit der Ausarbeitung einer Studie „zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa“ beauftragt wurde. Das inzwischen vorliegende Studiendokument mit dem Titel „Theologie der Diaspora“28 sieht den Sinn der Diaspora in der Gestaltung von Beziehungsfülle im Sinne der Nachfolge Christi. […] Während der Begriff der Minderheitenkirche oder der Minderheitensituation diesen Beziehungsreichtum begrifflich auf eine numerische Relation reduziert und tendenziell defizitär qualifiziert ist, besteht die Stärke eines relational akzentuierten Diasporabegriffs darin, die Polyphonie der Lebensbezüge von Gemeinden in der Diaspora sichtbar zu machen und als wesentliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen.29
Wie in einer ersten Thesenreihe aus dem Studienprozess festgestellt wurde, sind im Diskurs über eine Theologie der Diaspora drei Diasporabegriffe zu unterscheiden: 1. „Ein deskriptiv-soziologischer Begriff, welcher sich auf die zahlenmäßig erfassbare Situation von Kirchen hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen in
26 Hermann-Josef Röhrig 1995. Siehe auch ders. 1993. 27 Vgl. Ruth Mayer 2005; Kim Knott und Sean McLoughlin 2010. 28 Theologie der Diaspora. Studiendokument der GEKE zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa. Das noch nicht veröffentlichte Dokument, liegt der Vollversammlung der GEKE, die vom 13.–18. September 2018 in Basel tagt, zur Beschlussfassung vor. 29 A. a. O., Manuskriptseite 3.
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einer Gesellschaft bezieht. In dieser Hinsicht wird der Begriff synonym mit Minderheitensituation verwendet.“ 2. „Ein deskriptiver Begriff, der die Selbstdeutung einer Kirche beschreibt. ‚Diaspora‘ meint dann ein bestimmtes Selbstverständnis einer Kirche angesichts ihrer Minderheitensituation.“ 3. „Ein theologischer Interpretationsbegriff, der die Minderheitensituation von Kirche(n) aus einer biblisch-christlichen Tradition heraus deutet. Im theologischen Begriff von Diaspora sind immer ein bestimmtes theologisches Geschichtsbild und eine bestimmte Ekklesiologie impliziert.“30 Das Abschlussdokument verbindet den Diasporabegriff mit dem der Fremdheit. Das Thema der Fremdheit ist nun allerdings im Neuen Testament zentral. Die biblischen Grundlagen einer Theologie der Diaspora reichen daher über die wenigen Stellen, an denen die Wortgruppe diasporá/diaspeíresthai auftaucht, weit hinaus. Das Studiendokument der GEKE bringt die Aufgabenstellung einer Theologie der Diaspora auf die Formel „Kirche in der Fremde – Fremdheit der Kirche“31. Die diasporische Existenz der Kirche als Leib Christi ist christologisch bestimmt und begründet. Die Kirche Jesu Christi existiert in der Welt, aber sie ist nicht von dieser Welt (vgl. Joh 17,16). Das wandernde Gottesvolk, als welches sie der Hebräerbrief charakterisiert, hat in der Welt keine bleibende Stadt, sondern sucht die zukünftige. Sie geht hinaus zu Christus, der „draußen vor dem Tor“ (Hebr 13,12) – außerhalb Jerusalems – am Kreuz gestorben ist. Die ihm nachfolgenden Christen sollen sich, wie Paulus schreibt, nicht dieser Welt anpassen (vgl. Röm 12,2), sondern in ihr unter dem eschatologischen Vorbehalt leben: zu haben, als habe man nicht (vgl. 1 Kor 7,29–31), denn die Gestalt dieser Welt vergeht, und das Bürgerrecht32 der an Christus Glaubenden ist im Himmel (vgl. Phil 3,20). Rudolf Bultmann hat für die paulinische und johanneische Sichtweise christlicher Existenz den Begriff der Entweltlichung geprägt.33 Papst Benedikt XVI. hat diesen in seiner Freiburger Rede 201134 aufgegriffen und damit innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche eine lebhafte Debatte ausgelöst. Tatsächlich könnte er im Sinne einer binnenkirchlichen Verengung und einer Entpolitisierung des Evangeliums verstanden werden. So gewiss das Evangelium von der in Jesus Christus angebrochenen Gottesherrschaft eine politische
30 Die englische Fassung dieser Thesen ist veröffentlicht in: Michael Bünker (Hg.): GEKE focus 20 (2013), 10–12, hier 11 (online: http://issuu.com/ecumenix/docs/gekefocus-20web?e=1141279/ 5894576 – aufgesucht am 21.3.2018). 31 Theologie der Diaspora (s. Anm. 28), Manuskriptseite 4. 32 Luther und die Zürcher Bibel übersetzen das griechische políteuma mit „Heimat“. 33 Vgl. Rudolf Bultmann 1978, 435. 34 Vgl. Benedikt XVI. 2011, online: www.faz.net/aktuell/politik/papstbesuch/papst-benedikt-xvidie-entweltlichung-der-kirche-11370087.html – zugegriffen am 21.3.2018).
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Dimension hat, ist es freilich doch nicht auf eine politische Botschaft zu reduzieren, weil das Gottesverhältnis des Menschen nicht in seiner politischen Existenz aufgeht. Bultmanns Begriff der Entweltlichung trifft darum etwas Richtiges, wenn man ihn theologisch von Joh 17,16 und Röm 12,2 aus versteht. Eine Theologie der Diaspora hat den eschatologischen Horizont, der dem Glauben wesentlich ist, neu zu Bewusstsein zu bringen. Sie hat aber zugleich in Erinnerung zu rufen, dass die Hoffnung auf die Vollendung der Erlösung, die über das irdische Leben hinausreicht, nicht von der Aufgabe entbindet, im Hier und Jetzt der Stadt Bestes zu suchen (vgl. Jer 29,7). „Eine Theologie der Diaspora hat dabei“, wie das Studiendokument der GEKE ausführt, auch Begriff und Phänomen der Fremdheit zu bedenken – der Fremdheit des Glaubens ebenso wie der Fremdheit des menschgewordenen Gottes. Die Spannung von Heimat und Fremde prägt im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne Diasporaerfahrungen und ihre theologische Deutung in Geschichte und Gegenwart.35
Im Unterschied zu einer Diasporatheologie, welche auf die Bewahrung des Eigenen in der Fremde durch den Rückzug aus der Welt setzt, plädiert die GEKE-Studie für eine Diasporatheologie, die sich als eine Gestalt Öffentlicher Theologie begreift und die Kirche wie die einzelnen Christen dazu ermutigt, „sich kritisch-konstruktiv auf die Gesellschaft einzulassen und Kirche für die Menschen in ihren gegenwärtigen Nöten und Erfahrungen zu sein“.36 Im Folgenden möchte ich nun skizzieren, was ich unter einer Theologie der Diaspora verstehe, die sich als eine Gestalt Öffentlicher Theologie begreift.
3. Öffentliche Theologie und Theologie der Diaspora Auf die Gemengelage von Religion im öffentlichen Raum reagieren unterschiedliche Konzeptionen einer Öffentlichen Theologie. In der internationalen Debatte überschneiden sich verschiedene Diskurse wie derjenige über den Begriff der Zivilreligion oder derjenige über Begriff und Konzeptionen einer politischen Theologie. Aber auch der Diskurs über kontextuelle Theologien und die verschiedenen Spielarten einer Theologie der Befreiung findet in der Debatte zur Öffentlichen Theologie seine Fortsetzung. Allerdings gibt es unter-
35 Theologie der Diaspora (s. Anm. 28), Manuskriptseite 11. 36 A. a. O., Manuskriptseite 11 f.
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schiedliche Antworten, ob Öffentliche Theologie lediglich ein neues Label für die altbekannte politische Theologie ist – die man vor 50 Jahren „neue“ politische Theologie nannte –, oder ob sich mit dem neuen Begriff auch eine neue Programmatik verbindet. Hinzu kommt der Diskurs über öffentliche Religion. Diskutierte man unter diesem Begriff seit Beginn der 1990er Jahre zunächst die Rolle von Religionen als Quelle und Prägekraft zivilgesellschaftlichen Engagements, richtet sich das Augenmerk inzwischen auch auf Religionsgemeinschaften als Institutionen und politische Akteure. Zu ihnen zählen auch Diakonie und Caritas. Der Begriff Öffentliche Religion hat inzwischen freilich auch noch eine andere Bedeutung. Namentlich im Zusammenhang mit den Fällen von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Raum – vornehmlich, aber eben leider keineswegs nur im Bereich der römisch-katholischen Kirche – ist deutlich geworden, dass die Öffentlichkeit keine Abschottung der Kirchen vor missliebiger Kritik oder gar vor weltlicher Strafverfolgung duldet. Auch beim Umgang der Kirchen mit ihrem Geld wird die Forderung nach Transparenz laut. Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und der professionelle Umgang mit den Massenmedien sind eine Facette öffentlicher Religion. Ein anderes Beispiel für die angesprochene Seite öffentlicher Religion ist die Forderung nach deutschen Predigten in hiesigen Moscheen, um die hier stattfindende religiöse Kommunikation öffentlich transparent zu machen. Wiederum bemühen sich die Moscheegemeinden selbst um den Abbau von bestehendem Misstrauen, wenn regelmäßig Tage der offenen Moschee abgehalten werden. Auch der Diskurs über Öffentliche Theologie berührt all diese angeschnittenen Fragen. Im Grunde ist Öffentliche Theologie ein urevangelisches Anliegen, nämlich eine zeitgemäße Fortentwicklung dessen, was im Augsburger Bekenntnis von 1530 als „publice docere“ (Artikel 14) – öffentliche Verkündigung und Kommunikation des Evangeliums – bezeichnet worden ist. Letztlich war Martin Luther mit seinen zahllosen Gelegenheitsschriften zu den aktuellen Fragen der Reformation, die durchwegs hohe Auflagen erzielten, ein öffentlicher Theologe avant la lettre. Gleiches gilt für die Verfasser der vielen Flugschriften, die erheblich zur Ausbreitung der Reformation beigetragen haben. Die Öffentlichkeit war der Ort theologischer Auseinandersetzungen und Urteilsbildung, auch in Gestalt von Disputationen, die von den Räten der Städte organisiert wurden, und man bediente sich mit dem Buchdruck des modernsten Kommunikationsmediums der damaligen Zeit. So gesehen, war die Reformation die Geburtsstunde Öffentlicher Theologie. Mit Florian Höhne lassen sich drei Grundfragen Öffentlicher Theologie formulieren: die sozialethische Frage nach der öffentlichen Geltung partikularer religiöser Orientierungen, die fundamentaltheologische Frage nach der öffentlichen Kommunizierbarkeit derartiger Geltungsansprüche und ihrer
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Begründungen sowie schließlich die ekklesiologische Frage nach der Rolle der Kirche in den genannten Kommunikationsprozessen.37 Alle drei Grundfragen sind nun m. E. in Richtung auf eine Theologie der Diaspora hin zu vertiefen. Die Partikularität christlicher Überzeugungen und Orientierungen hängt mit dem theologischen Thema der Diaspora aufs Engste zusammen. Konkrete Erfahrungen der Diasporaexistenz z. B. protestantischer Kirchen sind exemplarisch für die Diasporaexistenz der Kirche in dieser Welt überhaupt. In der modernen pluralistischen Gesellschaft wird die Diasporaexistenz des Glaubens zur gemeinsamen ökumenischen Erfahrung. Migration und die Existenz von Migrationskirchen und -gemeinden und ihre Auswirkungen auf die Kirchengemeinschaft sind in diesem Kontext ebenso zu bedenken wie der interreligiöse Dialog und die Pluralität der Religionen. Der australische Theologe James Haire reflektiert z. B. die Diasporasituation des Christentums im asiatischen Kontext. Eine sich als Öffentliche Theologie positionierende Theologie der Diaspora hat demnach den interkulturellen Charakter christlicher Theologie und seine Implikationen für die Frage zu bedenken, welchen Beitrag eine Öffentliche Theologie zu den Debatten einer Zivilgesellschaft leisten kann, in welcher der christliche Glaube der Glaube einer Minderheit ist.38 Im asiatischen Kontext ist „die Interaktion zwischen der christlichen Minderheitsgemeinschaft und der größeren Gemeinschaft“39 ein zentrales Thema. Dabei sieht Haire die Anliegen Öffentlicher Theologie „schon im multikulturellen Kontext der Anfänge des Christentums“ gegeben.40 Die australische, jetzt in Neuseeland lebende und lehrende Theologin Elaine M. Wainwright berichtet von der Arbeit des PaCT (Public and Contexual Theology Strategic Research Center) an der Charles Sturt University (Australien), dessen Tagungen regelmäßig Menschen aus verschiedenen pazifischen Nationen zusammenbringen. Diese Veranstaltungen und ihre Publikationen seien „Öffentliche Theologie, insofern sich Menschen mit ihrem Leben und den unvorstellbaren Herausforderungen und Möglichkeiten des Lebens in der Diaspora befassen“.41 Wie das bereits vorgestellte Studiendokument der GEKE möchte auch ich die Impulse aufgreifen und weiterführen, die sich bei Ernst Lange sowie im Werk des österreichischen lutherischen Theologen Wilhelm Dantine finden. Wie schon erwähnt, hat Lange die Existenz und das Leben der Kirche im Wechselspiel zwischen Sammlung und Zerstreuung beschrieben. Bei Sammlung 37 38 39 40 41
Vgl. Florian Höhne 2015. Vgl. James Haire 2015, 154. A. a. O., 159. A. a. O., 158. Elaine M. Wainwright 2015, 146.
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(Ekklesia) und Zerstreuung (Diaspora) handelt es sich nach Lange um einander abwechselnde und aufeinander bezogene Phasen, wobei er sein Phasenmodell auf das Gemeindeleben bezieht: In der Versammlung geht es von vornherein und ausschließlich um die Kommunikation des Glaubens, freilich in dem breiten Sinn, in dem wir das Wort zu verstehen suchten: letztlich ist die ganze Wirklichkeit Gegenstand der Verhandlung. In der Zerstreuung kann der Glaubende nur darauf hoffen, daß er, wo er präsent und verfügbar ist, Kommunikation finden und in der Kommunikation den Durchbruch der Verheißung erfahren wird. […] In der Versammlung geht es darum, die Verheißung im Licht der Wirklichkeit wahrzunehmen. Da helfen viele Augen und viele Ohren mit. In der Zerstreuung geht es darum, die Wirklichkeit im Licht der Verheißung wahrzunehmen. Da ist der Glaubende auf seine eigenen Augen und Ohren angewiesen.42 Das Problem und zugleich die Chance heutigen Gemeindelebens ist, daß die Diasporaphase gegenüber der Gemeinde in Versammlung unerhört an Gewicht und auch an Ausdehnung gewonnen hat. Die Ekklesia ist abgedrängt in einen ganz schmalen Bereich der Freizeit. Verlassen die Christen die Versammlung, dann wechseln sie buchstäblich die Welt, und zwar muß jeder den Übergang in seine Welt finden.43
Nach Lange liegt die „Last der Bürgschaft in der Diasporaphase“ weniger auf den Pfarrerinnen und Pfarrern oder anderen hauptamtlichen Mitarbeitern, als vieler „fast ganz auf den nichtbeamteten Christen, den sogenannten ‚Laien‘“44. Langes Phasenmodell ist darin wegweisend, dass es den Diasporabegriff nicht auf die demographische Minderheitensituation beschränkt, sondern auf die Existenz von Kirche und Gemeinde in der modernen säkularen Gesellschaft anwendet. Die Gegenüberstellung von versammelter Gemeinde und Vereinzelung der Christen in der Diasporaphase bietet freilich eine verengte Sicht der Präsenz der Kirche in der modernen Gesellschaft, weil kirchliche Formen der Vergemeinschaftung außerhalb des Gottesdienstes und ihre Schnittstellen zu außerkirchlichen Vergemeinschaftungsformen unberücksichtigt bleiben. Sie reichen vom Kirchenchor über diverse Gemeindegruppen und -aktivitäten, Gemeindefeste und kulturelle Aktivitäten bis zum Kindergarten. Hier wären
42 Ernst Lange 1965, 142 f. 43 A. a. O., 149. 44 Ebd.
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auch die Zusammenhänge zwischen Gemeindearbeit und Gemeinwesenarbeit zu bedenken. Wie die Diasporatheologie Langes ist auch diejenige Wilhelm Dantines ökumenisch ausgerichtet. In seinem bereits erwähnten Aufsatz „Protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt“45, der 1959 erschien, plädierte Dantine für den Aufbruch und theologischen Neubeginn seiner Kirche nach 1945. Gelegentlich konnte er die Diasporagemeinde auch als „christliche Partisanengruppe“ bezeichnen.46 Das hat ihn bisweilen in Konflikt mit seiner eigenen Kirche, jedenfalls mit der Amtskirche, gebracht. Dantine war daran gelegen, die biblische Botschaft der Freiheit in einer Gesellschaft zu Gehör zu bringen, die noch immer tief durch das Erbe der Gegenreformation und der Restauration nach dem Wiener Kongress geprägt war. Die von Gott geschenkte Freiheit grenzt Dantine gleichermaßen gegen Tendenzen zur Privatisierung des Glaubens wie gegen moderne Tendenzen der Entindividualisierung und Vermassung ab. Als Institution der Freiheit könne der „Minderheitsprotestantismus aus einem Kuriosum zu einer ‚Stadt auf dem Berge‘“ werden, freilich nur dann, wenn sich die evangelische Kirche nicht als Selbstzweck begreife. Das protestantische Abenteuer, von dem Dantine spricht, und auf das sich einzulassen er seine Kirche ermutigt, besteht darin, unter Verzicht auf jegliche Proselytenmacherei das Beste des Landes zu suchen, in dem man lebt. […] Es geht um das Abenteuer des Glaubens und der Liebe, die nie das Ihre sucht, sondern sich der Müden, Ratlosen und Gehetzten annimmt.47
Öffentliche Theologie als Theologie der Diaspora könnte ein neues ökumenisches Projekt für Europa und eine ökumenische Zeitansage werden. Nicht als Ausdruck des Rückzugs aus der säkularen Welt, sondern im Gegenteil als Ermutigung, sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes, seiner Agape oder Caritas, in Wort und Tat zu bezeugen. Versteht man Diaspora, wie es das Studiendokument der GEKE tut, als Beziehungsgeschehen, können die verschiedenen Konfessionskirchen den Anspruch erheben, im biblischen Sinne wahre Kirche zu sein, wenn „die konfessionelle Diaspora in sich, und gerade dadurch, daß sie Diaspora ist, den Ökumenismus […] als Grundstruktur eingestiftet hat“.48 Konfessionelle Identität und ökumenische Weite schließen einander nicht aus. Recht verstanden kann der Diasporabegriff zu einer Erneuerung von konfessioneller Identität in ökumenischer Offenheit einen 45 46 47 48
S.o. Anm. 20. Zitiert nach Ulrich Trinks 2001, 12. Wilhelm Dantine 2001, 46. Wilhelm Dantine 1967, 55.
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Beitrag leisten, weil er verdeutlicht, dass die eigene Identität ohne das Gegenüber zu den anderen und ohne das Miteinander mit ihnen nicht lebendig ist, sondern im Traditionalismus erstarrt. Lebendige Identität ist nicht statisch, sondern dynamisch und wandelbar, dabei aber stets auf Christus als den einen und entscheidenden Orientierungspunkt hin ausgerichtet. Gegenüber einem Verständnis von Öffentlicher Theologie, das diese im Wesentlichen als eine Gestalt der Sozialethik oder der Soziallehre der Kirche begreift, möchte ich für eine Verwendung des Begriffs plädieren, der auch das Gebiet dogmatischer Fragen einbezieht. Öffentliche Theologie hat immer auch eine apologetische Aufgabe und eine missionarische Funktion. Öffentliche Theologie ist missionarische Theologie. Dieses Thema darf nicht allein den Freikirchen, evangelikalen und charismatischen Kreisen überlassen werden. Wenn sich Theologie und Kirche auf den Diskurs mit der modernen Welt und der pluralistischen Gesellschaft einlassen, hat das Rückwirkungen auf die Bestimmung der Glaubensinhalte, mit anderen Worten auf die Dogmatik. Und darum möchte ich Öffentliche Theologie so verstehen, dass sie nicht etwa nur der Transmissionsriemen für theologisch-ethische Grundüberzeugungen ist, die bereits feststehen, sondern ein gesellschaftlicher Lernort, an dem nun gerade theologische Grundfragen in „einer ergebnisoffenen Diskursivität“ im öffentlichen Raum neu durchdacht werden. So sind ja auch staatliche Universitäten eine Form der Öffentlichkeit und keine abgeschiedenen Institutionen. Damit kommen wir aber zu der Frage, was nicht etwa nur die säkulare Gesellschaft von der Kirche oder den Kirchen lernen kann, sondern auch, was Kirche und Theologie von der säkularen Gesellschaft, der modernen Wissenschaft, dem modernen Recht, den Künsten usw. lernen können, so gewiss die Wirklichkeit Christi im Sinne Bonhoeffers über die Grenzen der Kirche hinausreicht. Zu den Aufgaben Öffentlicher Theologie, die mit der öffentlichen Rede von Gott auf biblischer Grundlage unmittelbar zusammengehören, rechne ich schließlich die Religionskritik. Grundsätzlich ist kein Bereich der Wirklichkeit von der Wirklichkeit Gottes getrennt. Es gibt so gesehen keine theologisch neutralen Zonen. Wenn Luther im Großen Katechismus erklärt, unser Gott sei das, woran wir unser Herz hängen, dann hat Theologie die kritische Aufgabe im öffentlichen Raum und in den verschiedenen Öffentlichkeiten zu fragen, woran Menschen de facto ihr Herz hängen und welche Folgen dies nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene hat. Freilich ist auch die eigene Rede Öffentlicher Theologie von Gott im Sinne des ersten Dekaloggebots der beständigen Kritik und Selbstkritik zu unterziehen, steht doch alle Rede von Gott – auch und gerade in Theologie und Kirche – in der Gefahr, für politische oder sonstige Zwecke instrumentalisiert und missbraucht zu werden.
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4. Theologie der Diaspora und Kommunikation des Evangeliums Der Auftrag der Kirche Jesu Christi lautet, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Die Kommunikation des Evangeliums, die sich zentral im Gottesdienst ereignet, aber auch in Seelsorge, Konfirmanden-, Kinder- und Jugendarbeit, in Frauen-, Männer- und Altenarbeit sowie im diakonischen Handeln, ist nicht etwa nur eine uns Menschen aufgetragen Aufgabe, sondern letztlich Gottes Werk. Die Kirche lebt für die Kommunikation des Evangeliums und aus ihr. Das Evangelium ist das tägliche Wort, von dem sie in ihrer Diasporaexistenz lebt und zehrt und das sie mit denen, zu denen sie sich gesandt weiß, teilen soll. Die theologisch zentrale, aber auch bedrängende Frage für eine Theologie der Diaspora in dem Sinne lautet, wie es um die Reichweite der Kommunikation des Evangeliums in der heutigen Gesellschaft bestellt ist. Zu fragen ist aber auch, ob die Reichweite der Kommunikation des Evangeliums – verstanden als Kommunikation Gottes mit den Menschen – an die Reichweite kirchlicher Kommunikation gebunden ist oder auch andere Wege findet. Dass der Kirche die Kommunikation des Evangeliums aufgetragen ist, bedeutet ja einerseits nicht, dass sie diesen Auftrag tatsächlich immer erfüllt. Andererseits hat die Theologie schon lange ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Kommunikation des Evangeliums auch außerhalb der verfassten Kirche und ihrer Kommunikationsformen stattfinden kann. Die Erklärungsversuche reichen von der altkirchlichen Lehre vom logos spermatikos bis zu Paul Tillichs Überlegungen zur latenten Kirche als Geistgemeinschaft,49 Karl Rahners Gedanken des anonymen Christentums50 sowie zu Trutz Rendtorffs und Dorothee Sölles Rede vom Christentum bzw. der Kirche außerhalb der Kirche.51 Aber auch die Lichterlehre des späten Karl Barth ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen.52 Zwar hält Barth am Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus fest, ohne die weder eine Erkenntnis Gottes noch eine Kommunikation über Gott möglich ist, die Anspruch auf Wahrheit erheben kann: Es kann neben dem einen Licht, das in Jesus Christus und in dem ihn bezeugenden Evangelium scheint (vgl. Joh 1,4–8), keine eigenständigen Lichter oder Offenbarungsquellen geben. Doch rechnet der späte Barth mit dem Widerschein dieses Lichtes auch außerhalb der Kirche und außerhalb des Christentums. So gibt es Lichter, zum Beispiel einen aufgeklärten Humanismus, die nicht von sich aus leuchten, die aber das eine Licht Gottes reflektieren wie der Mond 49 50 51 52
Vgl. Paul Tillich 1977, 179 ff.426 ff. Vgl. Karl Rahner 1965; ders. 1972. Vgl. Trutz Rendtorff 1969; Dorothee Sölle 1968, 117 ff. Vgl. Karl Barth KD IV/3, 40–188.
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das Licht der Sonne. Ausgehend von den Gleichnissen Jesu kann es laut Barth Worte außerhalb der biblischen Überlieferung geben, welche das eine wahre Wort Gottes selbst zu wahren Worten macht.53 Daher rechnet Barth neben der „direkte[n] Bezeugung Jesu Christi in den Worten der Propheten und Apostel“ und ihrem biblischen Zeugnis sowie der „indirekte[n] Bezeugung Jesu Christi in der Botschaft, im Handeln und Leben der christlichen Kirche“ auch mit „weltliche[n] Propheten und Apostel[n] aller Art und aller Größenordnungen“.54 Folgt man den theologischen Überlegungen Barths, aber auch Tillichs, dann ist mit Resonanzen des göttlichen Wortes nicht nur dort zu rechnen, wo es Resonanzen kirchlicher Verkündigung und Kommunikation des Evangeliums außerhalb der Kirche gibt – also dort, wo Menschen vom Evangelium Gottes in seiner biblisch-kirchlichen Gestalt zwar so oder so erreicht, in diesem oder jenem Grad von Stärke oder Schwäche berührt, in irgend einem Maß von ihm beeinflußt und bestimmt sind“55 –, sondern auch dort, wo Menschen in keinem direkten oder indirekten Kontakt zur christlichen Überlieferung stehen. Für eine Theologie der Diaspora kommt es allerdings entscheidend darauf an, nicht nur zwischen kirchlicher Kommunikation und Kommunikation des Evangeliums, sondern auch zwischen Kommunikation des Evangeliums und religiöser Kommunikation zu unterscheiden. Ob sich gegenwärtig „die Religion selbst […] in ein eigenes Feld zurückzieht“56 – was immer genau „die“ Religion sein mag – oder nicht, ist eine religionssoziologisch umstrittene Frage. Von ihr ist aber die systematisch-theologische Frage zu unterscheiden, ob sich mit Religion auch das göttliche Evangelium aus der Gesellschaft zurückzieht. Dieser Rückzug aber wäre – wenn denn die Kommunikation des Evangeliums, wie oben beschrieben, als Kommunikation Gottes zu verstehen ist – folglich als Rückzug Gottes aus der Gesellschaft zu verstehen. Dann aber wäre von einem überaus bedrängenden Schweigen Gottes zu reden, das den inneren Kern jener von Johann Baptist Metz diagnostizierten „Gotteskrise“ ausmacht.57 Theologisch ist aber zu bedenken, dass die Kommunikation des Evangeliums in unterschiedlicher Gestalt geschehen kann. Die Krise überkommener binnenkirchlicher Verkündigungsformen und ihrer Sprache darf nicht einfach mit dem Verstummen des Evangeliums gleichgesetzt werden. Allerdings stehen die Kirchen vor der Frage, was es heißen kann, das Evangelium auch den Religionslosen, Gewohnheitsatheisten und religiös indifferenten Menschen zu bezeugen. Dabei lebt Öffentliche Theologie aus dem Auftrag, das Evangelium 53 54 55 56 57
Vgl. A. a. O., 125. A. a. O., 107 (Hervorhebungen im Original gesperrt). A. a. O., 134 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Gerhard Wegner 2014, 7. Vgl. Johann Baptist Metz 1994.
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zu verkündigen, und aus dem Vertrauen, dass Gott auch über die Kirche hinaus in seiner Welt wirkt.
5. Kirche der Zukunft Die mehrfach erwähnte Studie der GEKE zur Theologie der Diaspora entwickelt einen relationalen Diasporabegriff, von dem aus sich Kirche in der Diaspora, bzw. die grundsätzlich diasporisch lebende Kirche, als Kirche in Beziehungen begreifen lässt. Was das konkret bedeutet, wird in zehn Punkten verdeutlicht, die unter der gemeinsamen Überschrift „öffentliche Bezeugung des Evangeliums“ stehen. Die Stichworte sind Gottesdienst, offene und gastfreundliche Kirche, kirchliche Feiertage, kirchliches Bildungshandeln, versöhnendes Handeln, christliche Begegnungstage, Diakonie, Seelsorge, Gemeinwesenarbeit und Kirche in multilateralen Beziehungen. Die Ausführungen und praktischen Beispiele aus verschiedenen europäischen Kirchen zu den einzelnen Stichworten zeigen, dass sich ein diasporisches Selbstverständnis der Kirche nicht im Gegensatz zu einem volkskirchlichen Selbstverständnis stehen muss. Auch auf eine Kirche, die Minderheitenkirche ist oder zu einer solchen zu werden droht, können doch folgende Merkmale eines volkskirchlichen Selbstverständnisses zutreffen, die Michael Beintker auflistet: 1. Sie ist in der Öffentlichkeit präsent und agiert nicht im Verborgenen. Sie beteiligt sich an den öffentlichen Meinungsbildungsprozessen zu gesamtgesellschaftlichen Fragen. 2. Kirchliche Arbeit wird netzwerkartig gefächert und organisiert. Die Kirche ist in der Lebenswelt der Menschen leicht erreichbar. 3. Die Kirche betrachtet Pluralität nicht als Störung, sie kann sie im Rahmen ihrer konfessionellen Gebundenheit ausdrücklich bejahen (‚Offenheit‘). 4. Die Kirche vermag unterschiedliche Teilnahme- und Nichtteilnahmeformen am kirchlichen Leben zu tolerieren und schließt diejenigen nicht aus, die dem regulären Erwartungsprofil der Kirchenmitgliedschaft nicht entsprechen. 5. Sie ist vom Staat getrennt, kooperiert aber in Teilbereichen mit dem Staat auf vertraglich geregelter Basis. 6. In ihrem diakonischen Handeln nimmt sie sich der leiblichen, seelischen und geistigen Nöte der Menschen der Gesellschaft an.58
Die Diasporasituation hat freilich erhebliche Auswirkungen auf die Organisation, die Arbeitsformen und die Ämter von Kirchen. „Die Kirche der Zukunft
58 Michael Beintker 1996, 254.
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wird nicht nur […] Diasporakirche in der Weltgesellschaft sein, sie wird aus unterschiedlichen Gründen Laienkirche sein – und zwar in allen christlichen Traditionen.“59 Ein Grund besteht in den beschränkten finanziellen Mitteln. Nun kann man es begrüßen, wenn Kirchen nicht länger nur Pastorenkirchen sind. Auch in Landeskirchen mit volkskirchlicher Struktur gibt es Lektoren und Ordinierte im Ehrenamt, die Verkündigungsdienste versehen. Dem Ehrenamt kommt auch sonst in der Gemeindearbeit erhebliche Bedeutung zu. Allerdings kann die Diasporasituation dazu führen, dass ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überfordert werden oder sich selbst überfordern. Auch sind viele Menschen heute nicht mehr bereit, sich langfristig für eine bestimmte Aufgabe zu verpflichten. Das trifft insbesondere für jüngere Menschen zu, die in Beruf und Familie mehrfach stark gefordert sind. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen klafft nicht selten eine Lücke. Ehrenamtliche, die oftmals auf sich gestellt sind, benötigen nicht nur eine sie tragende Gemeinschaft, sondern auch eine qualitätvolle Ausbildung, Fortbildung und Begleitung. Das ist heute eine zentrale Aufgabe kirchlicher Erwachsenenbildung. Eine grundsätzliche Gefahr diasporischer Existenz besteht in der Vereinzelung. Das gilt für den einzelnen Christenmenschen ebenso wie für Gemeinden, die sich in der Minderheitensituation befinden. Eben darum ist es so wichtig, neben dem Gesichtspunkt der Zerstreuung bzw. des Eingestreutseins in die Welt den Beziehungsaspekt zu betonen. So ist der Glaube stets eine höchstpersönliche Angelegenheit, und doch kann der eigene Glaube nur in der Gemeinschaft mit anderen gedeihen. Auch ist jede Gemeinde ganz Kirche und doch nicht die ganze Kirche. Eben darum ist es für die einzelnen Christenmenschen wie für die Einzelgemeinden wichtig, in Gemeinschaft mit anderen zu stehen und durch die Verbundenheit mit anderen Gemeinden und Minderheitenkirchen, aber auch durch die Verbundenheit in einer Kirchengemeinschaft wie der GEKE und weltweit, im eigenen Glauben und Handeln gestärkt zu werden. Für die protestantischen Kirchen in Europa spielt die GEKE dabei für mich eine ganz wesentliche Rolle, die in der Zukunft noch an Bedeutung zunehmen wird. Sie wird hoffentlich immer mehr zu einer Lerngemeinschaft, in der sich Kirchen und Gemeinden vernetzen, miteinander geistliche Erfahrungen und praktische Ideen teilen und sich gegenseitig beraten. Der Diasporabegriff kann, wenn er auf biblischer Grundlage neu gefasst und auch zu außertheologischen Verwendungen kritisch-konstruktiv in Beziehung gesetzt wird, hilfreich sein, um die heutige Situation der Kirche zwischen Umbruch, Abbruch und Aufbruch theologisch zu verstehen. Die
59 Harald Uhl 2008, 55 f.
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Diasporaexistenz der Kirche ist alles andere als leicht, aber sie steht unter der Verheißung von Gottes Zukunft. Darum ist es sinnvoll, den Diasporabegriff für unsere Gegenwart wiederzugewinnen, so wie es im Studiendokument der GEKE geschieht. Als Charakterisierung von Kirche im Beziehungsreichtum ist Diaspora „kein Stichwort der Vergangenheit, vielmehr ein Schlüsselbegriff der Zukunft“60.
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60 Hermann Riess 1986, Sp. 876.
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One Love Manchester1
My presentation is going to focus on an event that took place a little over a year ago in Manchester. A concert called “One Love Manchester”. It was a benefit concert following a suicide bombing at a concert given by an artist called Ariane Grande. In my presentation I would like to raise a number of theological questions about the wider society, more specifically about God’s presence in our wider society. I want to play a brief clip from the concert itself featuring Justin Bieber so you get the atmosphere. [A Video of Justin Bieber is being played.2] Let me show you what he says at the end: “I’m not going to let go of hope. I’m not going to let go of love. I’m not going to let go of God. Put your hand up if you’re not going to let go.” That gives you a flavor of this concert, the One Love Manchester concert. A while ago I wrote a book called “Liquid Church”3. Liquid Church is an attempt to rethink church from what I call ‘solid church’. Many people share the notion the church equals a gathering or an institution or it equals a congregation. I tried to reimagine church thinking about it as ‘communication’: How does the gospel communicate in wider society? One of the things that is interesting in wider communication theory4 is that when things get communicated in media, they get lifted out of the context in which they are produced. They take on another dimension. They move. They shift. They become fluid. Sociologists talk about the notion of dedifferentiation or detraditionalization.5 What media processes do is they take Christian theology, Christian expressions,
1 2 3 4 5
The oral presentation style was maintained in this documentation. The pictures and illustrations in this documentation were part of the presentation. The author holds the rights to these illustrations, unless mentioned otherwise. https://www.youtube.com/watch?v=PjQsF2vmck0 – accessed 18 th September 2018. The clip shows a live performance of the song „Cold Water“. Pete Ward 2002. The classic example of this is found in the work of Stuart Hall 1980. Cf. Paul Heelas and David Martin (Eds.) 1998.
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they lift them out of their natural traditioned places, out of their congregational environments and they relocate them in new configurations. With “One Love Manchester” what we are looking at is a little sign of new configurations of religious communication. Let me give you some background information: “One Love Manchester” was a response to the terrible bombing of the Manchester Arena by the suicide bomber Salman Abedi. 22 people were killed, 250 people were injured. Its anniversary was three days ago.6 “One Love Manchester” was a benefit concert, a bit like Live Aid, I suppose. It was put together by Ariane Grande and her team, really within two weeks of the event. They held it in an open area, the cricket ground, and it was attended by 50.000 people. At that time it raised 2.600.000£, probably even more by now. Most of it was distributed to the families of those who survived. The artists who were involved in it are interesting. They are representatives of mainstream pop and that is terribly important for thinking about the significance of this as a whole. These people are mainstream pop, they are not the avantgarde, they are not on the edge. They are just what teenagers have been listening to around the world. I suppose Justin Bieber is one of the biggest pop stars in the world. Then Ariane Grande, the Black Eyed Peas, some members of Coldplay and Miley Cyrus played, also Marcus Mumford from Mumford & Sons played, Niall Horan, Little Mix, Katy Perry, Take That, Imogen, Heap, Pharrell Williams, Robbie Williams and Liam Gallagher. How do we look at this? Which is the way to perceive this? 1. Fluidity of discourse: I have mentioned the notion of fluidity of discourse earlier: The way that media discourses are, the way they are shifting and moving, that they are not fixed. This also is key for theological terms. What is the meaning of a theological term? It is not what the theologian says, it is not what we find in the text books, but it is what people make of it. It is the way it is linked to other things. That leads us to the second point. 2. Articulation: The meaning of something comes from its connection with other things in popular culture. The cultural studies scholar Steward Hall calls this “articulation”.7 One thing is articulated with another thing and it creates new symbolic significance. 3. Identification: What people make of something is what it means. This is fundamental to beginning to think about mission and church. What church is, what the gospel is might not be what we define it as or what we always say it is. It is what people make of it.
6 7
The attack took place on the 22nd of May 2017; the lecture was held on the 25 th of May 2018. See the interview in Lawrence Grossber 1986.
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The Roman Catholic scholar Vincent Miller is lamenting this notion in his book “Consuming Religion”.8 Miller looks at consumer culture and one of the things he points out is: Consumer culture commodifies religious symbols and practices. He thinks of this as corrosive, because it unhooks practices and symbols from historic traditions and communities of faith. That might be a way of looking at it if you are entirely located in a certain tradition of faith. But at the same time, it is uncurious about what is happening. It does not care to ask: What is this new reconfiguration? Missiologically the challenge for us is to ask: What is the significance of this new reconfiguration? We might think we own the truth, but the truth is out there now, in media spaces. And I would say the Holy Spirit is probably out there as well. It is like the wind and the fluidity of popular culture. Let us look at “One Love Manchester” for another moment. I want to point out four aspects of it: (1) the religious roots of this event, (2) the religious elements that were in this event, (3) I want to look at what I call “secular hymns” and (4) on audience participation. (1) It is really interesting that several of the people who were involved upfront said things, sang things, did things that come from religious backgrounds. Ariane Grande was Catholic but she is now reported to follow Kabballah. She left the Roman Catholic church in protest because of the church’s attitude to gay people. Her brother is gay. Scooter Braun who was the producer of the event is Jewish. Marcus Mumford’s parents founded the Vineyard church in London. Marcus has been brought up in an evangelic-charismatic Anglican home. Justin Bieber was brought up in an evangelical household. His mother wanted him to be a youth minister and then eventually he probably re-found faith through Hillsong. He has become quite an advocate of evangelical Christianity through Hillsong. Katy Perry was brought up by missionary parents, ministerial parents, but famously sang the song “I kissed a girl and I liked it”. She said: “I don’t believe in a heaven or a hell or an old man sitting on a throne. I believe in a higher power bigger than me because that keeps me accountable. […] I’m not Buddhist, I’m not Hindu, I’m not Christian but I still feel like I have a deep connection with God. I pray all the time – for self-control, for humility. There’s a lot of gratitude in it. Just saying ‘thank you’ sometimes is better than asking for things.”9
8 9
Cf. Vincent Miller 2004. http://www1.cbn.com/cbnnews/entertainment/2017/april/music-superstar-katy-perry-de��nounces-her-devoutly-christian-upbringing – accessed 18 th September 2018.
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It is a major new research in the field of sociology, in the field of non-religion. Non-religion – one of the approaches is to say: we don’t define religion and then we look for where it isn’t, we ask what we see there. One of the aspects of what we see is hybridity, i. e. the merging or coexistence of different religious practices and beliefs. And fluidity.10 And we see this throughout this event. Gary Barlow, singer of Take That, a multi-millionaire, says: “I do think about religion loads.” He is probably the most unlikely person I could think of to say this. He goes on: “It seems like quite an old-fashioned thing now but I’ve started to consider what goes on out there. You do as you get older.”11 It is a kind of openness there. I was really surprised to find that Chris Martin originates from a family that are evangelical Anglicans. This is what he said: “I’m an all theist. I’m always trying to work out what ‘He’ or ‘She’ is. I don’t know if it’s Allah or Jesus or Mohammed or Zeus. But I’d go for Zeus.”12 Will.I.am from the Black Eyed Peas was brought up in a Baptist background from what I could gather. This is what he says: If it’s the Torah, if it’s the Koran, if it’s the Bible, if it’s… whatever […]. You shouldn’t be disrespecting people’s vehicle to enlightenment […]. Muslims are great, Jews are great, Buddhists are great, Hindi are great, Christians are great. There’s great people everywhere.13
It is interesting that on one hand these artists do not want to be pinned down on a specific view, on the other hand there is an openness. In this event these people reach into what they have in their backgrounds and they introduce it as a response to terror. I think it would be a big mistake for theologians who think they know church or they know the truth to look at this and say: “But what about this? And what about that?” Instead, the first place of mission is to sit, to listen and to respect. It is the starting point, it is love: To sit, listen and respect. And actually that’s what these artists are advocating, ironically. So these people take from their tradition and they reconfigure it as a response to terror. Before we ask how adequate that is or how complete it is or where it leads, we need to listen.
10 See Lois Lee 2015. 11 http://www.mirror.co.uk/3am/celebrity-news/gary-barlow-shedding-five-stone-2866963 – ac�cessed 18 th September 2018. 12 Read more at http://www.nme.com/news/music/daily-gossip-587–1333314#zj6rr0aMzw�wIMzuP.99 – accessed 18 th September 2018. 13 Quote form an interview documented in a video on youtube: https://www.youtube.com/ watch?v=ECxjaez8slk – accessed 18 th September 2018.
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(2) Now let us look at the religious elements of this event. The first thing is the title: “One Love”. It has terribly interesting roots! I mean the place I obviously know it from is the Bob Marley song: One Love / People get ready. Let me read a little bit: “Sayin’: ‘One Love’! What about the One Heart? / Let’s get together and feel all right, / I’m pleadin’ to mankind! / Oh, Lord! / Give thanks and praise to the Lord and I will feel all right. / Let’s get together and feel all right.” These Christian notions that have been themselves reconfigured in Rastafarianism are relocated through a song that everyone knows and sings while walking down the street. It has become a standard. This notion of One Love in Rastafarianism has this connection of getting together and of well-being. But if you are looking for any more theological definition than that out of Rastafarianism you are not going to really get it. The point is – and this is another key term from cultural studies – the “affect”. What we are looking at here are the affective dimensions of popular media as they begin to use theological language. That song kind of says it: “Let’s get together and feel alright.” So the Christian roots might be in the notion of God as love and loving one another, being together (1. John 4,7). “One Love Manchester” itself produced posters that were evident in the crowd. People were praying at the event itself. People held up signs saying they were praying for Manchester. Ariane Grande and her mother lead prayer backstage before the event started. Many American popstars like Lady Gaga and Madonna do that. It is quite common. When an event starts with Marcus Mumford from Mumford & Sons, he holds a minute of silence. Again, a ritualized element that has become part of culture. There is hardly a sporting event in England now where there isn’t a minute silence. Marcus Mumford sings this song “Timshel”, which has its roots in the Bible but it also has its roots in Steinbeck’s “East of Eden”. “Cold is the water. It freezes, you’re already cold mind, Already cold mind. And death is at your doorstep. And it will steal your innocence. But it will not steal your substance. But you are not alone in this.” It is the opening song about terror. Then he shouts out: “Love casts out fear.” Justin Bieber we have seen in the clip earlier, says: “I’m not going to let go of hope. I’m not going to let go of love. I’m not going to let go of God. Put your hand up if you’re not going to let go.” A bit later he says: “God is good in the midst of the darkness. God is good in the midst of the evil. God is in the midst, no matter what’s happening in the world, God is in the midst and he loves you and he’s here for you.” He is proclaiming a Christian gospel of presence. Then there are the Black Eyed Peas and their song “Where is the love”: “People killin’, people dyin’, / Children hurt and you hear them cryin’, / Can you practice what you preach? / Or would you turn the other cheek? / Father, Father, help us / […] Where is the love?”
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This is a plea. So we see these explicitly religious elements – often drawing on Christian roots, but not necessarily – that are woven into this event. (3) Then there is this interesting phenomenon which I call “secular hymns” or resistance and defiance. In the context of this event, some of these pop songs become secular hymns. Their message is: You might kill us, but we are still going to live this life. There might be horror and terror, but we are still going to celebrate our music, our way of being. In that context, some of these songs that are not necessarily religious start to carry a deep significance: A cultural significance and a cultural message of celebration and defiance. Pharrell Williams’ song “Happy” in this context suddenly shifts. This is the point about “articulation”: The meaning of something is not defined by reading the text or lyrics. The meaning is defined by its performance and by what is made from it. Now, the text or the song affords interpretations, it affords ways that it might be read. I would never say: Things don’t mean anything! But their meaning may shift. Pharell says: “I don’t see, hear or smell any fear here this evening. All I feel is love and positivity.”14 Love and positivity is the new religion. If you have not got that, if your scene or group is not doing that – acceptance, inclusivity, positivity – then you are a heretic. One of the problems with mission in our church is that we are heretics. We want to say what is wrong. Sometimes we think structurally the gospel starts with something that is wrong. So the church becomes the heretic. Katy Perry asked the attendees of the “One Love Manchester “concert to reach out and touch the person next to them. “It’s not easy to always choose love, is it? Especially in moments like these, right?”, she said. We have to realize that some of these people fear that they will be bombed again. “Especially in moments like these, right?” she said. “It can be the most difficult thing to do. But love conquers fear …” – here again, she is drawing on her Christian roots but it is reconfigured – “… and love conquers hate. And this love that you choose will give you strength, and it’s our greatest power.” There is an ontology to this love. Is it a Christian ontology? Is it humanitarian? Well, it is fluid. Katy Perry says: “We will not be silenced” and she sings the song “Roar”. It is a great feminist song or at least an iconic song of female power. This is again an example of asserting something in the face of what someone has tried to deny.
14 https://www.theguardian.com/uk-news/2017/jun/04/grande-return-ariana-takes-manches��ter-stage-at-benefit-concert – accessed 18 th September 2018.
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Marcus Mumford says: Let’s not be afraid again.15 Take That sing their song “We can rule the world” and suddenly in this context it becomes a message of: “Our values will triumph”, similar to Pharrell Williams’ song “Happy” which we touched on earlier. Probably the most important anthem of them all is Robbie Williams’ “Angels”. In regard to the media coverage, this is what some of the people said in the press: You’ve never really heard a crowd sing until you’ve heard 50,000 Mancunians sing ‘Don’t Look Back in Anger’. The Oasis classic has become an alternative anthem for the city, and it’s [sic] stoic, fighting yet forgiving spirit seems peculiarly suited to this moment.16
The interesting thing about this song is if you try to analyze the lyrics it really is incoherent. It’s the feel of the thing. Another thing from the press: In a sense, though, this concert was not really about the music being performed on stage, it was about the place music plays in the lives of free people. It was a gathering in aid of our right to gather, a party about the fundamental humanity of partying.17
Finally, there is an extraordinary choice of the ending song by Ariane Grande: She sings “Somewhere over the rainbow”, a kind of lullaby, wistful. It is an extraordinary secular hymn. (4) I want to continue and talk about the audience participation. Just to clarify: I did not attend the event, I was not part of the crowd and could not gather my info face-to-face. I am referring to and relying on the media coverage here. But there is some indication of what is going on in the crowd. You saw the way they joined in. How they are holding up these signs and posters: Again religious notions, like “given for our angels”. These are signs that someone has printed out, maybe has handed out to the crowd. “One Love Manchester” was a year ago, and just on the way here as I was looking through my slides, I saw these pictures. We are at year one after the event and people start to memorialize. This is someone just put up on twitter. 15 Ibid. 16 http://www.telegraph.co.uk/music/what-to-listen-to/ariana-grande-one-love-manchester-con�� cert-live/ – accessed 18 th September 2018. 17 Ibid.
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Pete Ward
It shows that people begin to memorialize this event. David Walker, the Bishop of Manchester, was talking about the memorial service at the cathedral. I saw a tweet, I looked up just at the beginning of this session. At the service the cathedral was saying: “We are always there for you.”
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Now, the question is: What can we say about the future of the church from this? Where we do not want to go, I suppose, is where we went theologically in the 60s – even though some people are still in the 60s. In that period, theologians went for a post-ecclesial view of life: God’s life is outside the church, we are going to participate in the movements that are outside the church, we are going to baptize what is out there and we end up with a church that is turned inside out.18 From this angle, there is no point to church and I am not advocating that. But if our alternative is increasingly intend spaces for churches, we are lost. Because those intend spaces still need to do mission. Mission means paying attention to what is beyond. So even as we gather and create intentional churches that have a real focus on discipleship and growing in the faith, the challenge is: How do we pay attention to what the Spirit is doing beyond those spaces and what is the call, what is the challenge to us to connect? The question is: How then can we hold those things together? – I am not going to say how to do this, because I think it is going to be different in different places. But I want to make a brief reference to one of the most influential Anglican theologians of the last 20 or 30 years: The American Dan Hardy. He was a professor at Durham where I teach, and he was very influential in the Church of England and to the Church of England’s way of thinking. You will for example notice it in the Fresh Expression literature, where his language is taken up. In particular these two terms: Extensity and intensity.19 Extensity meaning the life of the church and of the gospel with the world and intensity the worshipping life of the church. In the Fresh Expressions literature on the whole, extensity is seen as a kind of “we’ll go out”-thing. Dan Hardy helps us to further explore this with the concept of “Holiness”. He says that holiness is the presence of God calling people to God’s self beyond the boundaries within the church and beyond the boundaries of the church. And that we can see God’s call, the beauty of God – that is the way Hardy talks about holiness – the beauty of God is there. Where we see people responding to that beauty or reflecting that beauty, there is an extensity. The point here is: if you link these two terms to my notion of fluidity in popular culture what we see at something like the “One Love Manchester” concert is extensity. An ecclesial mindset might say: “Ah! Those were church people out there in another place witnessing for the gospel.” Well, maybe. But I would argue that actually something more dynamic and pneumatological is taking place. Because if we ask the question “Where is Christ in this?” we should consider this: When love is named Christ comes near in this context, it is an extensity.
18 See for example John Robinson 1965. 19 Cf. Daniel Hardy 2001.
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But that extensity is only to be interpreted because we experience it in the intensity. We can see it, we recognize it, we can speak about it because of what goes on in our ecclesial spaces. Intensity and extensity are directly connected. Neither does the language of extensity and intensity simply ‘baptize’ what is out there. But neither does it allow the church to say: “In here is ‘good’ and out there is ‘bad’. In here we have the truth, out there they do not. In here we are safe, out there they are not.” We know that all these things are not really true. Intensity and extensity bind together in the “eucharistic life of the church”, as Hardy puts it.20 The church is a distinctive movement directed toward the holiness of God. The holiness of God is raised in the special performance of worship and interrelated dimensions of life. The eucharist is the supreme enactment of the holiness of God i. e. intensity. The eucharist enacts the intrinsic connection of all of these i. e. extensity to the inner dynamic of God’s holiness, which depends not on the efficacy of the dramatic action but on the efficacy of Gods action in it. Hardy is talking about a calling-in of all of that are outside. I think I’m more comfortable with saying: Then we can begin to see beyond. Maybe there is a calling for the church to ask the question: If in the wider culture there is a call toward inclusivity and love and there are these yearnings, what is our response? I think Bishop David Walker and the cathedral are one really good way: to open their doors, allow spaces where people can pray, in ways that they don’t try to control.
References Grossberg, Lawrence: On Postmodernism and Articulation. An Interview with Stuart Hall. In: Journal of Communication Inquiry 10 (1986), 45–60. Hall, Stuart: Encoding/decoding. In: Hall, Stuart; Hobson, Dorothy; Love, Andrew and Willis, Paul (Eds.): Culture, Media, Language, London 1980, 128–138. Hardy, Daniel: Finding the Church: The Dynamic Truth of Anglicanism, London 2001. Heelas, Paul and Martin, David (Eds.): Religion, Modernity and Postmodernity, Oxford 1998. Lee, Lois: Recognizing Non-Religion. Reimagining the Secular, Oxford 2015. Miller, Vincent: Consuming Religion. Christian Faith and Practice in a Consumer Culture, London 2004. Robinson, John: The New Reformation, London 1965. Ward, Pete: Liquid Church, Peabody M.A. 2002.
20 Ibid.
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Pete Ward
Thomas Schlegel
One Love and Many Meanings Eine Response auf Pete Ward
1) Am Anfang stand ein Erlebnis: Pete Ward saß an jenem Sonntag des 4. Juni 2017 – offenbar in gemütlichen Ambiente – vor dem Fernseher und schaute die LIVE-Übertragung des Wohltätigkeitskonzerts One Love Manchester. Er wollte einfach nur dabei sein, Teil eines kollektiven Ereignisses: des Gedenkens an die Opfer sowie der Selbst-vergewisserung einer freien Gesellschaft, die sich eines brutalen Angriffs erwehrt. „[A] benefit concert, a bit like Live Aid, I suppose“, so schrieb er rückblickend. Doch was ihn dann überraschte und herausforderte, war die fröhliche, ausgeglichene Ernsthaftigkeit dessen, was stattfand.1 In seinen Ausführungen gibt er genauer zu erkennen, was ihn dabei beschäftigte. Vertraute Worte der eigenen christlichen Tradition, Gesten, Inszenierungen, die – medial perfekt in Szene gesetzt – von vielen geteilt werden, ja, das Selbstverständnis der Masse zum Ausdruck bringen, Trost und Hoffnung spenden und zum Inbegriff des fröhlichen Widerstands werden. Und offensichtlich lässt sich dies sogar über den Fernseher spüren: Teil einer großen Gemeinschaft zu sein, getragen und gestärkt durch das Konzert One Love Manchester. 2) Nicht nur als Teil einer bedrohten Gesellschaft ist Ward betroffen, sondern als Wissenschaftler herausgefordert, das Erlebte zu deuten: Was ging dort vor sich? War dort Gott am Werk? Lässt sich das Erlebte auf den Heiligen Geist zurückführen? Wie verhält sich dies zum Kultus und den Ritualen konkreter Kirche? Was bedeutet das für Christen, die durch ihre Mission in diese Welt gesandt sind? Wards Präsentation – die über weite Strecken Spuren der christlichen Tradition in dem Event rekonstruiert und Parallelen zum kirchlichen Leben herausstellt – ist Teil dieses Deutungsversuchs. Er ist nicht abgeschlossen.
1 So Pete Ward in einer früheren, vorab zugesandten Version seines Vortragsmanuskripts: „Like many I sat down on Sunday evening expecting to share in a collective moment. Ariana Grande’s pop concert I anticipated might be something like LIVE Aid. What took me by surprise and challenged me was the joyful, resilient seriousness of what took place.“
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So möchte er vor allem Fragen stellen „about the wider society, more specifically about God’s presence in our wider society“. 3) So dürfte es der Fülle an Fragen und dem vorläufigen Charakter der Antworten geschuldet sein, dass Pete Ward in seinem Vortrag mit verschiedenen Begriffen spielt, sie nicht scharf voneinander abgrenzt und zum Teil synonym benutzt: Kirche, Reich Gottes, Evangelium, Gegenwart Gottes, Präsenz des Geistes etc. Auch stößt er mit seinen Deutungsversuchen in verschiedene Richtungen vor: Einmal bemüht er sein eigenes Konzept der „Liquid Church“2, dann die Terminologie von Daniel Hardy, um zueinander zu ordnen, was sich an jenem Abend als intellektuelle Herausforderung ergab: Das ‚da draußen‘ und das Vertraute ‚hier drinnen‘. Denn mit einer solchen Verhältnisbestimmung ringt der Vortrag an allen Stellen; ja, darum geht es: Um die Klärung einer Beziehung. (Die Nichtbeziehung bzw. eine Ausblendung von außen oder innen wird abgelehnt.) 4) In einem ersten – kirchentheoretischen – Deutungsversuch bemüht Ward sein eigenes Konzept der „Liquid Church“. Darin hatte er im Jahre 2002 versucht – im Anschluss an Zygmunt Baumans „Liquid Modernity“3 – eine „flüssige“ Kirche im Unterschied zu einer „starren“ Kirche durchzubuchstabieren. Kirche erscheint darin weniger als Gemeinde, Veranstaltung oder Institution, sondern als Kommunikation. Dadurch gerät auch die Gesellschaft in den Blick: Denn wo immer „christliche Redeweisen (expressions)“ auftauchen, lässt sich Kirche identifizieren – allerdings re-kontextualisiert: verflüssigt, aus dem ursprünglichen Setting befreit und verändert. Denn „theologische Begriffe (terms)“ werden nicht durch theologische Erklärungen definiert, sondern durch das, „what people make of it“. Die Bedeutung verändert sich, je nachdem wie und in welcher Kombination die Ausdrücke re-formuliert werden. Damit verabschiedet sich Ward von einer ontologischen Sicht.4 Statt der Referenz auf die Tiefe der Dinge wird ihre horizontale Verkettung entscheidend (wie schon bei Peirce): Kirche erscheint immer neu, segmentiert und re-organisiert – auch unabhängig von ihrer traditionalen Gestalt; so eben bei dem Konzert One Love Manchester. Ward folgert: „We might think we own the truth, but the truth is out there now, in media spaces. And I would say the Holy Spirit is probably out there as well. It is like the wind and the fluidity of popular culture.“ 2 Vgl. Pete Ward 2002. 3 Vgl. Zygmunt Baumann 2000. 4 Wäre als Alternative zu dieser ontologischen Ableitung statt der konstruktivistischen (wie Ward sie bietet) nicht eine dritte Begründung, die relationale, weiterführend? Sie lenkte jenseits substanzhafter Erstarrungen den Blick auf die lebendige Beziehung zu Jesus Christus, denn er – und nicht das Handeln von Menschen – konstituiert Kirche.
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5) Der zweite – ebenfalls kirchentheoretische Deutungsversuch – lehnt sich an das Konzept von Daniel Hardy in „Finding the Church“5 an. Grundlegend ist hier die Unterscheidung von „intensity“ und „extensity“ im Leben der Kirche – vielleicht am besten mit den Bewegungen des Ein- und Ausatmens vergleichbar. Die Heiligkeit Gottes verbindet nun beide Seiten, weil sie Menschen jenseits dieser Unterscheidung ruft. Wo immer Menschen in der Gesellschaft die Schönheit („beauty“) Gottes widerspiegeln und darauf antworten, trifft man auf die „extensity“ von Kirche – so eben auch in One Love Manchester. Weil dort Liebe benannt wird (die die Furcht austreibt), ist dort auch Christus zu finden; und die Kirche, denn sie ist eine „distinctive movement directed toward the holiness of God“ – mit der Eucharistie als integrierendem Moment und der wichtigsten Aktualisierung von Gottes Heiligkeit auf Erden. 6) Da es im Kern um eine Verhältnisbestimmung von „out there“ und „in here“ geht, sind neben den stärker ekklesiologischen Deutungen weitere denkbar – und meines Erachtens auch erforderlich. Vermutlich würde ein solches Weiterdenken das Wohlwollen Wards finden, denn er selber entscheidet sich nicht für einen Weg: „How then can we hold those things together? I am not going to say how to do this because I think it is going to be different in different places.“6 Ganz im Gefälle seines Ansatzes folgt er der Fluidität des Diskurses, bietet Verflechtungen in verschiedene Sprachspiele an. Weitere sollen hier angedeutet werden: 6a) Im deutschsprachigen Raum läuft die Reflexion ähnlicher massenwirksamer Großereignisse meist hinaus auf die religionsphilosophische Debatte um einen funktionalen oder substantiellen Religionsbegriff. Während Kulturhermeneuten jubeln, in samstäglichen Fußballspielen Versatzstücke gottesdienstlicher Liturgien entdecken und Fans kurzerhand zu religiösen Subjekten erklären, fragen z. B. die Säkularisierungstheoretiker dies kritisch an: Fußball ist Fußball und Religion ist Religion. 6b) Unter Religionspsychologen interessant wäre sicher der Blick auf die religiösen Biographien der Pop-Künstler. Nicht nur, was sie derzeit als ihren Glauben bekennen: zeitgemäßes Sampling von Elementen verschiedener Religionen, agnostische Unbestimmtheit und spirituelle Offenheit (wie von Ward z. T. illustriert). Sie könnten Aspekte von Dekonversion feststellen und diese als Individualisierungs- oder Säkularisierungsschub werten. Denn wie Ward ja an manchen Stellen betont: Die Sänger sind teilweise im Umfeld hoch religiöser Gemeinschaften sozialisiert worden – und für diese in der Regel verloren! Ja,
5 6
Vgl. Daniel Hardy 2001. Gemeint sind hier die Bereiche organisierter, v. a. aber intentionaler Kirche und Bereiche jenseits davon, in denen der Geist wirkt.
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man kann One Love Manchester auch als Teil des säkularen Driftens verstehen: als Etappe auf dem Weg zu einer postchristlichen Kultur. 6c) So sehr solche ergänzenden Deutungspfade auch interessant und lehrreich sind – theologisch erforderlich sind sie nicht. Anders verhält es sich mit der offenbarungstheologischen Deutung: Sie ist nicht nur unverzichtbar, ihr gehört das Prae vor der ekklesiologischen Auslegung. Denn es ist – auch in den Äußerungen Wards – evident, dass Gottes Handeln jeweils vorausgeht, zeitlich und sachlich. Eine der Schlüsselfragen seines Aufsatzes lautet: „How do we pay attention to what the Spirit is doing beyond those spaces [=churches, TS] and what is the call, what is the challenge to us to connect?” Die Reaktion der Kirchen, die missionstheologische Frage, folgt dem Handeln Gottes, d. h. was sich von ihm her dort zeigt und wie sich dies zur Offenbarung in Jesus verhält: dies ist die Frage, die zuerst zu beantworten ist. Freilich: Damit verlassen wir das experimentelle und youtube-untersetzte Kreisen um ein Happening im Jahre 2017 – und bewegen uns in den (geordneten) Bahnen der klassischen Dogmatik: Die Lehre vom Logos spermatikos, Vernunft und Offenbarung, natürliche Theologie, revelatio generalis und revelatio specialis. Die Lehrbücher der Tradition sind voll von Antworten auf diese Verhältnisbestimmung – ist sie doch für die Weichenstellungen theologischer Entwürfe zentral und deshalb Teil der Prolegomena. So verschieden die Antworten darauf auch ausgesehen haben: Ein gewisser Konsens dürfte in dem “Dass” einer Offenbarung außerhalb Jesu Christi bestehen – natürlich reicht die Spannbreite in der Bewertung derselben dann von der katholischen praeambula fidei bei Thomas bis zur radikalen Abwertung (und fast schon Leugnung) bei Karl Barth. Doch in der Response auf Pete Wards Vortrag scheint mir wichtig, den Rahmen weit zu spannen: Theologen ringen seit den Anfängen (Paulus in Apg 17) mit der Verhältnisbestimmung, um die sich Ward hier bemüht – und kommen mehrheitlich auch zu ähnlichen Antworten: Ja, da draußen gibt es so etwas wie Spuren Gottes. Er offenbart sich da – irgendwie. Und das „Irgendwie“ ist dann auch die Grenze dabei. Denn diese Offenbarung wird eigentlich niemals als ausreichend angesehen – jedenfalls nicht in soteriologischer Hinsicht. Sie hat im besten Fall vorbereitenden Charakter. Daran kann angeknüpft werden – ja, daran muss man sogar anknüpfen, weil sich die Gnade und das Heil nur in Jesus Christus erschließt. Insofern blieb die Tradition meist zurückhaltend, diese natürliche Offenbarung allzu ernst zu nehmen: Sie bereitet vor, sie bleibt aber undeutlich, unverfügbar und ambivalent, weil sie stets verschieden gedeutet werden kann. Ganz so bei Pete Ward: Mehrere Deutungen werden geboten, seine Anspielungen bleiben vage und die missionstheologischen Konsequenzen tauchen nur als Fragen auf. Was bringt es dann aber, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob der Heilige Geist „out there“ in Manchester war, wenn alles nebulös bleibt?
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7) Und so finde ich an Wards Ausführungen letztlich enttäuschend, dass er seine Interpretationen nicht weiterentwickelt bzw. zu Antworten vorstößt. Er stellt nur Fragen. Folglich: Nicht welche Wege er einschlägt (dass er etwa den offenbarungstheologischen ausschlägt) ist m. E. problematisch, sondern wie weit er sie beschreitet. 8) Möglicherweise ist dies dann doch genau die Stärke seines Aufsatzes. Denn er will nur Fragen stellen: „In my presentation I would like to raise a number of theological questions“. Er will sich vorantasten und ist „curious about what is happening“. Der demütige Modus des Beobachtens und die Haltung des Staunens sind die impliziten Glanzlichter des vorliegenden Ansatzes. Gerade in einer post-christlichen Gesellschaft, die sich auch von den problematischen Seiten einer kirchlichen Bevormundung befreit hat, ist dies m. E. die Haltung, die geboten ist: in der Theologie und in der Praxis der Mission gleichermaßen. So kann ich folgende Äußerungen Wards nur ausdrücklich unterstreichen und stelle sie deshalb an das Ende dieser Response: A mission means paying attention to what is beyond. So even as we gather and create intentional churches that have a real focus on discipleship and growing in the faith, the challenge is: How do we pay attention to what the Spirit is doing beyond those spaces and what is the call, what is the challenge to us to connect?
Literatur Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity, Cambridge 2000. Hardy, Daniel: Finding the Church. The Dynamic Truth of Anglicanism, London 2001. Ward, Pete: Liquid Church, Peabody M.A. 2002.
Matthias Sellmann
Dienstleistung an artikulierter Religionsfreiheit Ein Diskussionsvorschlag zur Frage nach der präzisen Sendung der Kirche heute1
1. Erklärungsnot Es gibt derzeit wenig unoriginellere Behauptungen als die, dass sich die verfassten Kirchen gegenwärtig in elementaren Umbruchprozessen befinden. Rund um die allgemeinen Krisensignaturen wie Kirchenschließungen, Priestermangel, Reputationsrückgang oder Gemeindefusionen ist eine enorm anschwellende Menge an Literatur entstanden, die die bedrängende Situation der Kirchen analysieren, illustrieren, kommentieren und therapieren. Schon die einschlägigen Bücher füllen mehrere Regalmeter; nähme man die gar nicht mehr überschaubare Zahl an Fachartikeln, Interviews, Blogs, dazu Leitpapiere, Vortragsmanuskripte oder auch Karikaturen mit in die Betrachtung, hätte man viel zu tun. Und je enger man mental oder professionell mit dem Weg der organisierten Kirche verbunden ist, desto weniger Spaß macht die Lektüre. Denn es sind schon epochale, alarmierende und auch entlarvende Studien, denen man sich da aussetzt. Sie kommen aus den eigenen Reihen, zum Beispiel von Priestern, aus der Soziologie, der Unternehmensberatung, dem politischen Journalismus oder der Kulturwissenschaft, um nur einige Herkunftsfelder zu benennen. Und 1
Der Text dieses Beitrages ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags zum Symposium „Kirche[n] gestalten“ des Greifswalder Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung IEEG (Mai 2018). Der mündliche Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Vor allem die in den Fußnoten genannte Literatur zeigt die Einbindung in den fachwissenschaftlichen Diskurs. Für eine erheblich ausführlichere Einsichtnahme in den hier präsentierten Vorschlag vgl. aber jetzt Matthias Sellmann: Zukunftsfähige Pfarrei in moderner Katholizität. Der Ansatz des zap-Bochum als Konkretion angewandter Pastoralforschung (= zap:workingpaper Nr. 9; www.zap-bochum.de [Suchbegriff workingpaper]). Dieses Paper wiederum liegt nun auch, nur geringfügig verändert, als englischsprachige Publikation vor; vgl. Matthias Sellmann 2018.
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sie zeigen neben einer oft konzisen Präzision des Blickes eine mitunter erstaunliche Sorge rund um das Schicksal der Kirchen. Wenige lässt das völlig kalt, dass da eine geschichtlich so prägende kulturelle Kraft schwächelt oder nach Meinung mancher sogar abdankt. Ganz aufsehenerregend sind Einlassungen von erklärt kirchendistanzierten oder sogar bekennend agnostischen Autoren, die die Kirchen auffordern, ihre eigene Bedeutung nicht zu unterschätzen.2 Der Pastoraltheologie kommt in dieser Lage eine mehrfache Aufgabe zu – jedenfalls dann, wenn man sie überhaupt als eine theologische Disziplin betrachtet, die sich vom Umbau des Kirchlichen im Christlichen her zu verstehen hat.3 Es geht zum einen um eine nüchterne Analyse der Empirie und der deutenden Hermeneutik im Diskurs. Zweitens wird man sozialwissenschaftlich mit nüchternen Referenztheorien zu erarbeiten haben, was am Umbruch der Kirchen eigentlich kirchenspeziell und was auch auf andere, säkulare Herausforderungslagen übertragbar ist. Drittens – und das ist im Fach wohl am umstrittensten – sollte das Fach Vorschläge machen, wie Kirchenreform nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen wäre. Dieser Beitrag setzt sich vor allem dem dritten Bewährungskriterium aus. Er macht einen Vorschlag, wie die Sendung der Kirchen (im ökumenischen Plural) heute zu verstehen wäre. Dies geschieht durchaus auch vor dem Eindruck, dass hier die Erklärungsnot am größten ist. Fragt man kirchliche Profis, warum jemand von Kirche profitieren sollte, wovon eigentlich genau und warum das nicht nur nett wäre, sondern etwas substanziell fehlt, wenn Kirche fehlt: dann wird es still im Diskurs. Übersetzt man also die Frage nach der Sendung der Kirchen säkular in die Frage nach Nutzen und stellt die Antwort dann sogar noch unter die performativen Öffentlichkeitsbedingungen von kommunikativer Zugänglichkeit, Verstehbarkeit und Anschlussfähigkei, dann schmilzt der Krisendiskurs auf wenige Konzepte zusammen. Denn er besteht aus viel Klage und Diagnose und aus wenig Empfehlungen. Eine solche Empfehlung soll hier erfolgen. Sie entspringt vor allem aus den Erfahrungen in der Arbeit des „Zentrum für angewandte Pastoralforschung“ (zap) in Bochum, das seine Pastoraltheologie vor allem von der Umsetzung her lernt. Das zap blickt seit seiner Gründung im Jahr 2013 auf mehr als
2 3
Vgl. als Überblick über die Diskurslage Matthias Sellmann 2015a. Dass dies mindestens für den katholischen Raum alles andere als selbstverständlich ist, zeigen die Bände aus den letzten Jahren, in denen die Fachvertreter/innen um die Identität des Faches ringen; vgl. nur Doris Nauer 2005; Norbert Mette 2012; sowie die einschlägigen Themenhefte der „Pastoraltheologischen Informationen“ Nr. 2/2000 sowie 2/2015; außerdem Nr. 1/2011 der „Lebendigen Seelsorge“. Der folgende Beitrag versteht sich als Ausdruck des Ansatzes einer angewandten Pastoralforschung im Gefolge des (Neo)Pragmatismus; vgl. dazu ausführlich Matthias Sellmann 2015b.
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40 Kooperationsprojekte mit kirchlichen und außerkirchlichen Partnern, empirische Studien, Praxisevaluationen und Prozessberatungen zurück, die allesamt mit pastoraltheologischen und religionssoziologischen Hermeneutiken zusammen in ein Konzept weitergedacht wurden, „wie Kirche heute geht“.4 Dieser Vorschlag kann hier notwendigerweise nur thetisch vorgetragen werden, bildet aber die aktuellste Fassung dieses weiterhin in Entstehung befindlichen Gesamtkonzeptes.5 Die Grundthese geht schon aus der Überschrift hervor: Kirche findet heute die Ursprungslogik ihrer Sendung in der Dienstleistungsfunktion, die moderne Errungenschaft der Religionsfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger infrastrukturell, attraktiv und hochqualitativ zu artikulieren. Diese These birgt, wie man schnell erkennt, enorme hermeneutische Erklärungsgebote. Wie genau werden die leitenden Begriffe verstanden, vor allem angesichts der großen einschlägigen Diskurse, die um sie kreisen? Was also ist „Dienstleistung“, „Funktion“, „Religionsfreiheit“ und „Artikulation“? Und warum die Adjektive „modern“, „attraktiv und qualitativ“? Diese Belege müssen an andere Publikationen delegiert werden, um den Platz für die – dadurch eben thetisch bleibende – Ausführung zu behalten. Vier Leitthesen bilden das Gerüst des Vorschlages.
2. Dienstleistung an artikulierter Religionsfreiheit: Vier Leitthesen 1. Wenn wir über Kirchenreformen sprechen, brauchen wir als allererstes eine Aufgabenbeschreibung. Reformen beziehen sich, zumindest in der Initialphase, auf Zustände, die man als nicht mehr zustimmungsfähig erkannt hat, sodass das abstrakte Reformziel die Zustandsverbesserung ist. Wir müssen also wissen, wofür, woran und vor allem woraufhin irgendetwas reformiert werden soll. Und da möchte ich Ihnen die These anbieten: Kirchenreform findet ihre entscheidende Herausforderung in der Errungenschaft der Religionsfreiheit. Ich möchte Ihnen also das Ideal der „Religionsfreiheit“ als diagnostischen Marker anbieten, der unsere ganze Arbeit organisieren soll. Kirche findet ihre Sendung, ihre Identität, ihre Relevanz, ihre Pfadabhängigkeit nach vorn und den Zugang zur Gotteserkenntnis, wenn sie den Bürgerinnen und Bürgern eine explizite, hochqualitative, mehrdimensionale Infrastruktur zur Klärung und Förderung 4 5
Vgl. insgesamt www.zap-bochum.de – aufgesucht am 19. September 2018. Der Grundgedanke wird noch weiterentwickelt und auch durch Publikationen diskursiv erprobt. Folgende Fassungen wurden bisher publiziert und bilden den genealogischen stream zum Verstehen dieses hier eingebrachten Beitrags: Matthias Sellmann 2015a; Matthias Sellmann 2015c; sowie das in Anm. 1 genannte Workingpaper aus 2018.
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ihrer positiven wie negativen Religionsfreiheit anbietet. Was im Folgenden entwickelt werden soll, ist die schlichte Beobachtung, dass die Leute auch im religiösen Sinn tun und lassen, was sie wollen. Diese Beobachtung ist zwar vergleichsweise ‚schlicht’, doch darauf sind wir als Kirche bislang weder mental, noch theologisch, noch infrastrukturell noch organisational eingerichtet. Wie also, so möchte ich fragen, kann eine Kirche gedacht werden, die Christsein organisieren will mit Leuten, die tun, was sie wollen? Und zwar auch mit den Leuten innerhalb der Kirche, die tun, was sie wollen? 2. Religionsfreiheit, was ist das und wie entspricht man ihr als Kirche? Wie baut man Infrastrukturen für Religionsfreiheit? Meine These: Religionsfreiheit eröffnet und kultiviert man, indem man einer modernen Gesellschaft das volle Potenzial von religiöser Erfahrung als Option erschließt. Die Betonung liegt hier auf dem Modalbegriff „Option“.6 Ohne dies ausführlich auslegen zu können, betont der Optionsbegriff sowohl Wahlfreiheit wie Distanz. Im Hintergrund steht der dreistellige Erfahrungsbegriff aus den Modi: Erleben, Deuten und Artikulieren. Die Pointe ist dabei, dass ich bestreite, es gäbe einen unmittelbar religiösen Erfahrungsbegriff. Vielmehr erlebt man als Subjekt etwas und artikuliert es nachfolgend unter Nutzung individueller wie kollektiv-kultureller Deutungsangebote aus. Dabei führt sogar die Deutung sowohl zu einer Rückkopplung auf das Erleben wie auf die Wahl der passenden Artikulation. Die Aufgabe von Kirchenreform lautet daher präzise: Man muss religiöse Deutungssprachen für basale Erlebnisse infrastrukturell erschließen und attraktiv artikulieren. Damit sind wir bei der Antwort auf die Frage, was die Kirche denn genuin inhaltlich zu bieten hat. Formal soll sie Religionsfreiheit sichern (These 1), aber sie tut dies natürlich in der Tradierung der jüdisch-christlichen Deutungssprache (These 2). Sie erzählt die großen Geschichten des Christentums. 3. Der dritte Leitbegriff lautet: „Kirche als Organisation“. Vor allem als Organisation vermögen Kirchen Religionsfreiheit zu sichern, zu stimulieren und zu kultivieren. Die infrastrukturelle Erschließung und die attraktive Artikulation wie Kommunikation religiöser Deutungssprachen sind bedingt durch Organisation. Der schlichte Hinweis lautet also: Kirche muss man gut organisieren. Spezifisch lautet die These: Die Wahrscheinlichkeit der wirksamen Übernahme religiöser Deutungssprachen steigt, wenn sich Kirche gut organisiert. Oder ganz schlicht: Wo Kirche sich schlecht organisiert, sinkt die Wahrscheinlichkeit attraktiven Christseins in einer modernen Kultur.
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Religiosität als „Option“ zu charakterisieren hat mit Charles Taylors beeindruckender Studie „Ein säkulares Zeitalter“ (2009) eine neue Qualität bekommen. Ich folge hier Hans Joas mit seiner kreativen Weiterentwicklung des Taylor-Argumentes z. B. in „Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums“, (2013).
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4. Das Vierte ist dann: Wie sich Kirche konkret organisieren sollte, ergibt sich aus These 1 und 2. Wenn die darin getroffenen Annahmen stimmen, dann gilt es zu prüfen, wie man ein größtmögliches Portfolio an Möglichkeiten für hervorragend artikulierte Religionsfreiheit bereithält. Kirchenreform heißt also operativ: Ich analysiere, welche Bedarfe sich im Bedürfnis nach „Religionsfreiheit“ konkret implizieren. Auf die Explikation dieses Impliziten7 hin organisiere (These 3) ich als Teil von Kirche meine Angebote, Infrastruktur und auch meine jüdisch-christlichen Deutungssprache. Mit diesen vier Punkten ist das Arbeitsprogramm beschrieben. Was ich als Gedanke anbieten möchte und womit ich die vorherrschende Ratlosigkeit über den sendungsgebotenen Auftrag von Kirche in der Moderne heute überwinden möchte, lautet: Kirche sollte ihren Stolz, ihren Platz und ihren Sinn exakt darin finden, die Menschen ihrer Zeit mit jüdisch-christlichen Deutemitteln dabei zu unterstützen, wie man aus Religionsfreiheit biografischen und gesellschaftlichen Nutzen gewinnt.
3. Religionsfreiheit: Die eigentliche Bewährungsarena von Säkularisierung Wer die einschlägigen Zeitdiagnosen der Pastoral- und Religionssoziologie studiert, stößt unweigerlich auf den Begriff der Säkularisierung. Der Diskurs dazu ist uferlos und hat bereits mehrere Phasen durchschritten. Auf der Höhe des Problems ist man heute sicher erst dann, wenn man in Rechnung stellt, dass Säkularisierung sowohl ideologiekritisch wie historisch zu präzisieren ist, dass es multiple Pfadabhängigkeiten säkularisierter Konstellationen gibt, dass es hier sowohl um einen Prozess wie um einen Begriff geht und dass man sich hüten muss, deskriptive mit normativen Begriffsgebräuchen zu vermischen.8 7
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Der Zusammenhang aus Implizitem, Impliziertem und Expliziertem gehört zu den Theoriestücken des Pragmatismus, der pastoraltheologisch noch zu entdecken ist und der dafür sorgen würde, sich auch theoretisch überraschungsoffener zu zeigen. Matthias Jung hat in seiner groß angelegten „Anthropologie der Artikulation“ (2009) im Gefolge von John Dewey gezeigt, dass das Explizierte nie die Fülle des Implizierten auszudrücken vermag und daher wohl zu unterscheiden ist zwischen impliziten Möglichkeiten und implizierten Realitäten (vgl. a. a. O., 217–221). Das Buch von Jung ist eine wichtige Quelle des hier gebotenen Vorschlages, v. a. für die nachfolgende Theorie des dreistelligen Erfahrungsbegriffs und natürlich in der Klärung dessen, was unter „Artikulation“ zu verstehen habe. Die differenzierte Fülle dieser Vorlage von Jung kann hier aber nur oberflächlich angedeutet werden. Vgl. als Einstieg in die Debatte den Artikel „Säkularisierung“ von Detlef Pollack 2018.
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Die Säkularisierungsthese ist mit der Pluralisierungsthese zu verbinden und neu mit der Tatsache interreligiöser Pluralität zu verknüpfen. All dies kann hier nicht rekapituliert werden. Worauf es mir hier ankommt, ist eine Präzision. So wichtig es ist, sich pastoraltheologisch intensiv in den Säkularisierungsdiskurs einzuarbeiten: Für die praktische Kirchenreform scheint es mir problemschärfer zu sein, die eigentliche Herausforderung in einem Mitphänomen von Säkularisierung zu identifizieren, nämlich der Religionsfreiheit. Säkularisierte Gesellschaften sind vieles und eben auch (möglicherweise sogar prioritär): religionsfreie Gesellschaften. Pastoral in säkularisierten Zeiten zu organisieren, ist sehr abstrakt. Sie aber in und für religionsfreie Zeiten aufzubereiten, bedarf erheblich mehr handwerklicher und organisationaler Präzision. Denn wie jemand säkular leben will, weiß ich nicht – wie er (oder sie) religionsfrei leben will, sehr wohl. Ich werbe also dafür, auch pastoralpraktisch auf die Höhe des Säkularisierungsdiskurses zu kommen, indem ich ihn vor allem als Religionsfreiheitsdiskurs präzisiere. Was ich zeigen will: Hier liegt der Kontext der Bewährung genauso wie die Quelle neuer Energiezufuhr. Hier liegt die Aufgabe von Kirchenreform heute; und durch das Ziel kommen auch kreativ neue Wege in den Blick. Natürlich ist es unmöglich, in einem Vortrag auch nur annähernd die großen Begriffe und historischen wie philosophischen Kontexte der Religionsfreiheit zu begehen. Ich erlaube mir daher, den Begriff alltagssprachlich zu belassen. Denn ich rede zu Personen, die Kirchenreform operativ durchbuchstabiert sehen wollen. Und auch unser Symposium ist an der Stelle angekommen, an der die konkrete Umsetzung bedacht werden soll. Alltagssprachlich wird man sagen: Religionsfreiheit ist dann gegeben, wenn Subjekte oder Organisationen etwas aus religiösen Gründen tun oder unterlassen dürfen, dazu aber von niemandem gezwungen werden können. Religionsfreiheit ist, anders gesagt, eine radikal individuelle Rechtsposition […], die ohne jede Verpflichtung auf den Staat gewährleistet und auch bei inhaltlicher Fundamentalopposition ihm gegenüber ohne Abstriche garantiert wird; sie ist eine Freiheitsgarantie, die ganz in sich selbst ruht und im Gedanken größtmöglicher personaler Autonomie gründet.9
Diese vorläufige Begriffsbestimmung hat nun sehr konkrete Realität. Und weitab von den Großkonflikten rund um Kreuz und Kopftuch hat Religionsfreiheit
9
So aus juristischer Sicht Horst Dreier 2018, 63 f. Vgl. zum ganzen Komplex rund um Religionsfreiheit, Kirche und Staat aus theologisch-sozialethischer Sicht die Münsteraner Forschungsgruppe um Karl Gabriel; etwa: Ders., Christian Spieß und Katja Winkler 2016.
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als radikale Rechtsposition und Ausdruck der persönlichen Autonomie, wie es eben hieß, ein ganz alltägliches Gesicht. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen ihr Recht in großer Selbstverständlichkeit auch wahr, könnte man sagen. Und, so will ich behaupten, das ist für Kirche in ihrem Alltag und ihren Routinen überraschend neu und überfordernd. Ich möchte das abstrakte Recht auf Religionsfreiheit daher auf die Normallage beziehen und als enorme Belastungsprobe kirchlichen Selbstverständnisses bewerten. Dies soll vierfach geschehen.
3.1. Religionsfreiheit konkret: auch in religiöser Hinsicht machen, was man will Wie genau zeigt sich ein Gegenüber, das religionsfrei lebt? Zur Illustration kenne ich nach wie vor nichts Treffgenaueres als das folgende Zitat aus dem bekannten Buch „Generation Golf “ von Florian Illies aus dem Jahr 2000. Illies zeichnet hier das Portrait der (damals) 30jährigen, und er kann das, weil er von der These ausgeht, dass hochgradig uniforme Konsumerfahrungen in bestimmten Kulturdimensionen so etwas wie einen recht homogenen Typ geschaffen haben, der mit ähnlichen Motiven kauft, wählt, erzieht, reist usw. – und eben auch glaubt: Da wir uns alles so zurechtlegen, bis es uns passt, haben wir auch ein flexibles Verhältnis zur Religion gefunden. Jeder glaubt an das, was er für richtig hält. […] Man ist katholisch, auch wenn man nicht an die unbefleckte Empfängnis glaubt, man heiratet kirchlich, weil man das irgendwie richtig findet. Mit dem eigenen Sexualleben hat Religion weder vor noch nach der Ehe etwas zu tun, der Gottesdienst am Samstagabend oder Sonntagmorgen gilt als überflüssiges Ritual. Man macht sich vor allem auch nicht mehr die Mühe, nach Argumenten zu suchen, weder für noch gegen Gott.10
In diesem Zitat und in dieser Haltung ist ein enormes, provokatives Potenzial enthalten. Und viele, die aus der pastoralen Praxis kommen, kennen dieses freundlich-wohlwollende Achselzucken, das alles aushebelt, was Kirchenprofis normalerweise mit Religion verbinden und andemonstrieren wollen. Das gönnerhafte Beliebigmachen von Religion, das in diesen Worten kenntlich wird, verträgt sich schlicht nicht mit jenem existenziellen und politischen Großernst,
10 Florian Illies 2000, 195.
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den wir mit religio, der großen Rückbindung an das Feste, Haltende, Unverfügbare und Orientierende, empfehlen wollen. Dieses Zitat von Illies zeigt als Haltung eine Art kugelsichere Weste, die alle praktisch-theologischen Projektile weich auffängt, die wir uns in den letzten zwanzig, dreißig Jahren zurechtgelegt haben: Die katechetische Patrone wird ebenso sicher abgefangen wie die wahrheitsbezogene, die moralische, die staatsbürgerliche, die pädagogische, die logische, die anthropologische. Alle Überführungsmanöver in die Richtung: „Aber man muss doch verbindlicher religiös sein“ bleiben wirkungslos – und das bei ja durchaus religionsfreundlicher Gesamtstimmung. Wer Religion braucht und wichtig findet, möge das ruhig für sich weiter betreiben. Anders gewendet: Da befürchtet jemand keine Nachteile mehr, wenn ihn das Religiöse nicht berührt und er es gelassen an sich orbei geschehen lässt. Und man wird kaum bestreiten können, dass dies genau ein Kennzeichen von Freiheit ist: keine Sanktionen fürchten zu müssen. Somit kann ein gesteigertes Präzisionsniveau unserer Ausgangsfrage erreicht werden. Die Bewährungsprobe von Kirchenreform lautet: Wie organisiert man Christsein ohne die Möglichkeit von Sanktionen? Wie macht man den Punkt wahrscheinlicher, an dem jemand aus positiver Überzeugung an das jüdisch-christliche Deutungsangebot von Leben und (gemeinsamer) Humanität herantritt, nicht, weil er bei Nichtnutzung sanktioniert wird? Wo liegt die Relevanz des Christseins für ein dezidiert religionsfreies Leben? Und wie wird Religionsfreiheit gerade nicht paradoxerweise zur kulturellen Ressource auch für Kirchenentwicklung?
3.2. Durchgreifend kulturelle Religionsfreiheit: ein junges Phänomen Manch einer wird nun vielleicht sagen: „Naja, Religionsfreiheit haben wir doch jetzt spätestens seit der Aufklärung.“ Das stimmt – und es stimmt nicht. Natürlich ist das Ideal der Selbstbestimmung nun mehr als 200 Jahre alt, verbunden mit den großen Namen Kant, Spinoza, Erasmus von Rotterdam und anderen. Wer sich aber dafür interessiert, ab wann ein sogar kodifiziertes Ideal auch kulturell greift und wie selbstverständlich auch gebraucht wird, der muss Geduld mitbringen. Was hier gemeint ist, kann an einem sehr bedeutenden Epiphänomen der Selbstbestimmung gezeigt werden, der sexuellen Selbstbestimmung. Diese ist in Deutschland natürlich bereits länger im Prinzip gesichert; aber kulturell greift sie erst seit den 1960er Jahren. Erst in den langen 1960er Jahren treten Paare auf, manchmal auch Dreier- und Mehrkonstellationen, die sagen: „Was zwischen mir und meinem Partner oder meinen Partnern im Bett passiert, das
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geht weder einen Staat noch ein Gesundheitsamt noch eine Kirche noch meine Eltern und Großeltern noch irgendwen anderen etwas an als genau uns drei, zwei, vier – wie auch immer.“ Sexuelle Selbstbestimmung: eine junge kulturelle Erscheinung, die heute weitgehend (zumindest im heterosexuellen Bereich) anerkannt scheint, da man sich heute eher dafür rechtfertigen muss, wenn man diesem Ideal aktiv widerspricht. Religiöse Selbstbestimmung, darauf will ich hinaus, ist als kulturelles Breitenphänomen noch jünger. Sie kommt nach den 1968ern mit den 1989ern, also mit der „Generation Golf “. Nun treten Subjekte und Gruppen auf, die sagen: „Was zwischen mir und meinem Gott, was zwischen mir und meinem Energiefeld, was zwischen mir und meinem Horoskop, was zwischen mir und meinem Guru, was zwischen mir und meinem Nichts passiert usw., das geht original weder eine Kirche noch irgendwelche Großeltern noch irgendwelche Theologen, Wissenschaftler, Humanwissenschaftler etwas an. Es geht niemanden etwas an, außer genau diesem Energiefeld, Gott, Nichts, Guru usw. und mir.“ Religiöse Selbstbestimmung als Epiphänomen der allgemeinen kulturellen Selbstbestimmung ist also sehr neu, und sie ist auch nach wie vor durchaus ungleichzeitig. Es ist noch nicht so lange her, dass man in abgelegenen sehr katholisch geprägten Regionen kritische Bemerkungen dafür erntete, wenn man erkennbar sonntags um zwölf Uhr die Rollladen im Schlafzimmer heruntergelassen hatte. Es ist soziologisch interessant, dass der Heiratsmarkt immer noch durchaus bemerkbar auf die Konfessionszugehörigkeit reagiert. Auch die Elitenbildung in Politik und Wirtschaft hat immer noch relativ starke Pfadabhängigkeiten zu Konfessionen. Aber all dies hat keine empirische Durchsetzungskraft mehr und wird sich auflösen. Als organisierte Kirche befindet man sich damit in einer deutlich neuen Situation. Und diese markiert einen paradigmatisch neuen qualitativen Ausgangspunkt für Kirchenreform: Man muss die Ziele der Kirchen durchsetzen können, weitestgehend ohne dafür Sanktionsmittel zu haben.11 11 Diesen Befund mangelnder Sanktionsmacht reformuliert Niklas Luhmann bekanntlich über die Analyse, das System Religion habe ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das kaum noch exkludieren könne. Genau darum sei die Zukunft der Religion prekär. Vgl. Niklas Luhmann 1977; sowie ders. 2000. Wichtig ist aber schon bei Luhmann, dass er von 1977 bis 2000 genau an diese Diagnose jeweils andere Bewertungen knüpft und in seinem Buch von 2000 gerade aus der breiten Inklusionsfähigkeit des Religiösen die Zukunftschancen wachsen sieht; Zukunft erwächst der Religion nun mindestens potenziell gerade daraus, dass das System Religion wie kein anderes großzügig inkludieren kann und damit den Supercode inkludiert/exkludiert sogar prominent bedient; vgl. dazu jetzt Martin Petzke 2018. Die ganze These müsste natürlich weiter differenziert werden. Wichtig ist aber die nüchterne soziologische Beobachtung, dass es ohne Exklusion nicht geht und man immer Machtmittel braucht, um Aufmerksamkeit und Loyalität zu sichern. Und diese Machtmittel hatten die Kirchen historisch bekanntlich im Übermaß. Dass die Sanktion über die Semiotik (etwa der drohenden Höllenstrafen) schwächelt, hat bereits Michael Ebertz 2004 nachgewiesen, indem er zeigt, dass die Eschatologie
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3.3. Kirche bilden in religionsfreier Kultur – es gibt keine Matrix Der dritte Punkt zur Diagnose der Religionsfreiheit als Impuls für Kirchenentwicklung ist das Fehlen jedweder Matrix. Niemand von uns kann das können. Das sage ich ausdrücklich in Entlastungsabsicht. Denn wenn jemand behauptet: „Ich weiß, wie das geht. Das müssen wir jetzt folgendermaßen machen. Jede Alternative ist häretisch.“, dann soll der mal sagen, woher er seine Informationen hat: Aus der Kirchengeschichte kann er sie nicht haben. Ich streite mich mitunter mit meinen Kollegen aus der Kirchengeschichte, ob die Völkerwanderung in der Spätantike eventuell eine ähnliche Situation bot. Das mag sein – aber wer will denn die kulturellen Paradigmenwechsel, vor allem die medialen Sprünge von Buchdruck und Digitalität, zwischen damals und heute einfach überspringen? Darum glaube ich, dass uns solch ein Vergleich nicht operativ weiterhelfen würde, selbst wenn er sachgerecht wäre. Es gilt also: Keiner von uns kann wissen, wie „das“ geht: Kirche bilden mit und für Leute, die auch religiös machen, was sie wollen. Dafür gibt es keinen Studiengang, kein Handbuch, keine Kommission. Eigentlich großartig. Theologisch salopp gesagt heißt das ja auch, dass der Heilige Geist uns Zeitgenossen sehr viel Kreativität und Entscheidungsfreude zutraut. Heute braucht er Kirchenleute, die ihre ‚sieben Sinne‘ beieinanderhaben, welche sie für Experimente und Wagnisse einsetzen, weil jetzt Zeiten herrschen, in denen der ganze Zug auf ein neues Gleis gestellt wird. Es sind Innovationszeiten, Gründerzeiten. Wer heute nachfolgen will, muss vorangehen. Wer heute Verantwortung hat, muss Fehler machen wollen – allerdings nicht immer dieselben. Es braucht heute selbstbewusste Leute, die sagen: „Mich schüchtert nicht ein, dass wir Kirche in religionsfreien Zeiten sein wollen. Ich will keinen Zustand mehr, in denen man unsicher sein musste, was die Leute zu uns führte: Sanktionen oder Freiheit. Ich will nicht Christin sein, weil man es irgendwie muss.“12
als Predigtinhalt seit vielen Jahrzehnten schlicht ausfällt. Heute kommen weitere Erosionen in den Blick, die sich vor allem juristisch so manifestieren, dass Privilegien im Religionsrecht abgebaut werden. Als wichtige Ausnahme muss aber die weiterhin enorme Sanktionsmacht der Kirchen als Arbeitgeberinnen und als vermögende Auftraggeberinnen genannt werden. Über diese Hebel besteht enorme Sanktionsmacht. Allerdings zeigen wiederum die jüngsten Prozesse und Novellen zum kirchlichen Arbeitsrecht auch hier, dass die Sanktionschancen schwinden. 12 Wie solcher Gründergeist theologisch fundiert und operativ ausbuchstabiert werden kann, zeigen jetzt Florian Sobetzko und Matthias Sellmann 2017; sowie das einschlägige Themenheft der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ 6/2017.
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3.4. Kirche in religionsfreien Zeiten: Der Beginn einer Erfolgsphase? Deswegen – und das ist mein vierter Unterpunkt – kann auch niemand sagen, dass das Design kirchlich verfassten und organisierten Christseins notwendig kulturell abdanken wird. Solche resignierten Stimmen kann man ja hören. Und hätten wir bereits entschlossen umgestellt auf religiöse Selbstbestimmung, hätten wir da schon alles Mögliche erprobt, evaluiert, kontrolliert und neu erprobt, dann wäre diese Resignation auch rational. Gerade dies aber möchte ich vehement bestreiten. Die Zeiten dieser Umstellung auf Religionsfreiheit und unserer Selbsterfahrung als Kirche in dieser Umstellung liegen noch vor uns – jedenfalls, wenn die große Rhetorik rund um Kirchenreform strukturell und mutig ernstgenommen wird. Soll heißen: Wenn wir darüber diskutieren, die kirchliche Selbstorganisation auf religiöse Selbstbestimmung umzustellen, ohne es jemals wirklich bis auf den Grund hin ausprobiert zu haben, dann kann auch niemand behaupten: „Das geht mit Sicherheit schief.“ Konkret: Wie sähe eine Liturgie für und mit Leuten aus, die auch religiös tun, was sie wollen? Wie würde man eine Predigt gestalten für religiös selbstbestimmte Menschen? Wie baut man kirchliche Gebäude, wie organisiert man Erwachsenenbildung, wie gestaltet man Ehrenamtsmanagement mit Leuten, die religiös selbstbestimmt ihren Glauben leben wollen? Das ist die Aufgabe, die sich uns stellt. Und wir können sie in sehr viele operative, kleinteilige und präzise organisierbare Aufgaben übertragen – dazu möchte ich am Ende des Beitrags kommen. Wenn aber beide Diagnosen stimmen: dass Religionsfreiheit der präzise Marker ist, von dem her sich Kirchenreform organisieren sollte, und dass das bisher nur in Anfängen erprobt worden ist, dann ergibt sich daraus eine überraschende Konsequenz: Dann könnte es sein, dass die Kirchen vor einer Erfolgsund sogar Wachstumsphase stehen statt vor dem vielbeschworenen Ruin. Es könnte sein, dass eine auf religiöse Selbstbestimmung geeichte Kirche eine Wachstumskurve nach oben entwickelt. Dass diese These nicht einfach das berühmte „Pfeifen im Wald“ ist, sondern durchaus belastbare Indikatoren besitzt, lässt sich zeigen. Ich behaupte, dass viele Bürgerinnen und Bürger nur auf eine Kirche warten, die die kulturellen Standards erfüllt, die sie auch aus anderen Gesellschaftsbereichen kennen: aus dem Wirtschaftsbereich, aus der Politik, aus den Bereichen der Kultur und des Sports, aus dem Unterhaltungsbereich und so weiter. Alle Sektoren setzen mittlerweile die individuelle Selbstbestimmung umstandslos voraus. Was also würde passieren, wenn eine Kirche das ähnlich macht? Für die Kirchen ist das bisher unbekanntes Terrain. So kommt eine Kluft in die Kultur, die kaum auflösbar ist, weil man sie als normaler Bürger kaum noch versteht.
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Mitunter wird dieses wechselseitige Fremdeln sogar für eine innerkirchliche Identitätsstrategie missbraucht. Man macht sich dann als Kulturgröße stark, in der der unterstellte „Individualismus“, die „postmoderne Beliebigkeit“ oder die „moderne Bindungslosigkeit“ gerade nicht gelten soll, weil er das große Ganze in die Irre führt. In globaler Hinsicht scheint sich jedenfalls zu bestätigen, dass es keinen notwendigen Hiatus zwischen kultureller Selbstbestimmung und Religiosität gibt. Man weiß heute komparativ um sehr moderne, sehr selbstbestimmte Gesellschaften, die zugleich sehr religiöse Gesellschaften sind: Südkorea, USA, Kanada. Dies sind, bei aller notwendigen Differenziertheit von Ländervergleichen, Gesellschaften, die offenbar auch deswegen modern sind, weil sie Kirchen und religiöse Angebote bereithalten, in denen die von mir vorgeschlagene Umstellung erfolgt ist.13 Zudem ist ja wohl auch theologisch klar zu markieren, dass Freiheit generell ein Name Gottes ist und dass schon von daher Kirchen keinen gesellschaftlichen Zustand anstreben können, in dem der Mangel an Optionswahl den Glauben vitalisiert. Eine Gesellschaft, in der man selbstständig entscheiden kann, ob und in welcher Intensität man zu einer Religionsgemeinschaft dazugehören will oder nicht, ist eine Gesellschaft, die evangeliumsgemäßer ist als andere. Zum Abschluss dieses ersten Großpunktes zur Religionsfreiheit will ich mit Ihnen ein kleines Gedankenexperiment machen. Würden Sie ernsthaft tauschen wollen mit der kirchlichen und gesellschaftlichen Situation in den vergangenen fünfziger und sechziger Jahren? – Ich stelle mir vor, dass das für uns alle ein schwieriges Tauschgeschäft wäre. Da waren zwar die Kirchen voll. Aber da war auch eine ganz seltsame soziale Erwartung im Raum; da gab es befremdliche soziale Kontrollmechanismen; da wurde auch so ein eigenartiger moralischer Elite-Anspruch zugeschrieben. Will man das wieder? Oder sagt man: „Wir wollen keinen Zustand mehr, in dem irgendwelche Sanktionen uns die Leute in die Gotteshäuser (oder: in die Verbände, Akademien, Beichtstühle, Schulklassen usw.) spülen. Da mögen bitte Leute sitzen, die angezogen sind von der Möglichkeit, ihr Leben auch religiös deuten und artikulieren zu können; Leute, die aus der typisch jüdisch-christlichen Deutungssprache schöpfen wollen – und die genau deswegen hier sitzen, weil sie die Alternativen kritisch geprüft haben.“ Ja, auch letzteres, auch die Dienstleistung an negativer Religionsfreiheit. Es ist eine enorme Errungenschaft von Demo-
13 Vgl. nur für die USA die mehrbändige Publikationsreihe des Bochumer Forschungsprojektes ‚CrossingOver‘ rund um Wilhelm Damberg, Matthias Sellmann und Andreas Henkelmann.
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kratie, dass niemand mehr religiös sein muss.14 Und das impliziert auch: Die Arbeit der Kirche kann als gelungen angesehen werden, wenn jemand sagt: „Ich habe genau verstanden, was ihr meint und ich entscheide mich dagegen, gerade weil ich verstanden habe, was ihr meint.“ Auch in diesem Fall hat Kirche einen hervorragenden Job geleistet.
4. Wie artikuliert man Religionsfreiheit? Christsein als Deutungsoption 4.1. Die Gefahr der Blutleere An dieser Stelle droht eine bekannte Falle. Nach dem bisher Gesagten könnten Theologie und Kirche versucht sein, Religion und das jüdisch-christliche Kulturangebot auf abstrakte Funktionsgesetze zu reduzieren. Wie schnell plausibilisiert sich der Glaube in der Moderne über seine Funktion – und wird dabei so lebensfern und rückt soweit ab von den Selbstdeutungen derer in der Jesus-Tradition. Wird das Christsein auf seine Modernität hin befragt und wird es, wie bisher hier geschehen, als Dienstleisterin für hochqualitative Religionsfreiheit in Stellung gebracht, dann tendiert die Antwort schnell in solche Funktionen wie: Kirche sorgt für den integrativen Kitt der Gesellschaft. Kirche inkludiert die systemisch Exkludierten. Kirche erhöht die moralische Betriebstemperatur der Gesellschaft. Kirche entschleunigt den hybrishaften Kapitalismus. Kirche erzeugt Loyalität für Demokratie. Und so fort. Und so ehrenhaft jede Aufgabe tatsächlich ist, und so sehr alles stimmen kann, so sehr merkt der kirchlich Lebende: Dafür hätte man die Bibel nicht schreiben müssen, denn diese ganze Arbeit am Ethos ließe sich auch religionsphilosophisch abstrakt herleiten. Dafür muss man keine Liturgie besuchen. Dafür muss niemand um seine Gottesbeziehung ringen. Dafür müssen wir keine Konfessionen bilden. Philosophisch gesprochen geht es um die Balance der Dritten-Person-Perspektive (von außen, objektivierend) und der Ersten-Person-Perspektive (derer, die sich über ihre Handlungen und Funktionserfüllungen identifizieren). Es 14 Dies theologisch bis auf den Grund legitimiert zu haben, ist das Verdienst Thomas Pröppers; vgl. ders. 2015. Seine Argumentation verzichtet darauf, den Menschen am Ende doch wieder als essentiell an Gott gebunden zu verstehen und Agnostikern wie Atheisten ein anthropologisches Defizit zu unterstellen. Es gelingt Pröppers überzeugend, diese Freiheit Gottes dem Menschen gegenüber und umgekehrt des Menschen gegenüber Gott aufzuzeigen, ohne einen Gottesbeweis zu veranstalten.
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geht um die Balance des Rechten und des Guten, um die Kraft lokaler, partikularer Motivation und ihrem Beitrag für das Universal Gültige. Auch diese Thematik, die etwa zwischen kommunitaristischen und liberalistischen Theorien ausgetragen wird15, kann hier nur skizziert werden. Sie ist allerdings für unsere Fragen elementar.
4.2. Der dreistellige Erfahrungsbegriff Der aktuelle Diskussionsstand ist inzwischen über den reinen Antagonismus zwischen Universalisten (Liberalismus) und Partikularisten (Kommunitarismus) hinausgegangen. Zum Thema trägt nur noch jemand etwas bei, der die Anliegen beider Seiten und Perspektiven integriert. Zudem ist die philosophische Tieferlegung der Frage enorm vorangeschritten. Eine der wichtigsten und für die Religionsphilosophie anschlussfähigsten Beiträge kommt aus der Schule rund um Hans Joas. Dessen Werk „Die Entstehung der Werte“ hat einen kräftigen Schub ausgelöst, nicht nur nach den Geltungsgründen, sondern auch nach den Motivationsquellen von Moral zu fragen und diese in notwendig konkreten, partikularen, biografischen und kollektiven Erzähltraditionen zu finden. Universal kann hiernach eine Norm nur gelten, wenn sie auch partikular verkörpert wird und vital bedeutend ist. Auf der konzeptionellen anthropologischen Ebene hat Matthias Jung die Studien bei Hans Joas weitergetrieben. Auf seiner Spur gelangen wir nun zu Wilhelm Dilthey und – zumindest implizit – zu dessen Erfahrungsbegriff.16 Dilthey ist gewissermaßen der Anwalt der Lebensfülle, ja, der Totalität des Lebensstromes. Er steht ein für die Schönheit des Religiösen, auch des ethnologisch-folkloristischen Religiösen. Berühmt ist seine Kritik an Kant und Konsorten: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.“17 Wenn man das so als Professor sagt, ist das akademisch gesehen ja fast selbstmörderisch. Aber die Stoßrichtung bei Joas, Jung, Dilthey ist klar und bestechend: Wo ist die Glut? Wozu sollte jemand etwas für Jesus investieren? Warum soll jemand beten? Warum soll jemand Jesaja stärker finden als Jeremia? Warum soll jemand Rosenkranz beten – und zwar obwohl und weil jeder ihn auslacht? Ja, bleibt der inhaltliche Anspruch
15 Vgl. weiterhin als Einstieg in die Grundfragen Axel Honneth (Hg) 1994. 16 Vgl. zum Ganzen Matthias Jung 1996; 1999; 2009. 17 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (= GS I [1883/1924]), XVIII.
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auf der Strecke, wenn es nur darum geht, Religionsfreiheit zu sichern? Oder anders: Gibt es auch und gerade unter den Bedingungen der Moderne einen anthropologischen Ansatzpunkt, der das Angebot von konkreter Religiosität als einen Gewinn religionsfreien Lebens erschließt? Kann man also auch religiös insofern religionsfrei leben, als Religion das Leben steigert statt mindert? Das ist meines Erachtens die entscheidende intellektuelle Herausforderung, der wir uns zu stellen haben. Es geht darum, religiöse Erfahrungen so zu verstehen, dass man einerseits Religionsfreiheit und Pluralität wahrt und andererseits trotzdem das Potential behält, inhaltlich Positionelles zur Geltung zu bringen. Um hier weiterzukommen, hilft uns Diltheys Erfahrungsbegriff. Dieser ist dreistellig und hierin liegt die Pointe. Er besteht aus den Schaltstellen „erleben“/ „deuten“/„artikulieren“. Dabei kommt dem Mittelglied des „Deutens“ die entscheidende Leistung zu. In moderner Sprache: Das qualitativ unmittelbare und unantizipierbare reine Erleben kann nach außen und für das Subjekt erst verstehbar gemacht werden, wenn es sich über eine Deutung in eine Bedeutung bringt. Erst die Artikulation eines Erlebnisses (mit Sprache, Gesten, Bildern, aber auch Büchern, Gebäuden oder Veranstaltungen) macht es für andere sichtund bearbeitbar; hierzu aber muss eine Ebene des Deutens benutzt werden, die den Bezug des Subjektes (Erleben, 1. Person) und den des Objektes (Artikulation, 3. Person) vermittelt. Mehr als diesen Grundgedanken kann ich hier nicht ausführen. Wichtig ist, dass er nicht additiv, sondern integrativ zu verstehen ist – und dass er wechselseitig wirkt. Das Erleben braucht die Symbole und die Sprache, um sich zu manifestieren; umgekehrt braucht die Artikulation den Bezug zum Erleben. Anders gewendet: Manche Artikulation ‚gäbe‘ es nicht ohne die implizierte Fülle im Erleben; aber auch manches Erleben wird erst dadurch motiviert, dass man es artikuliert vorgefunden hat. Die wechselseitige Dynamik wirkt somit zugleich begrenzend und ermöglichend.
4.3. Übertrag Für die Möglichkeit, relevant religiöse Inhalte auszudrücken, ist diese Theorie der Erfahrung sowohl eine enorme Kränkung wie eine – meiner Meinung nach – starke Befreiung zum eigenen Potenzial. Auch hier will ich praktisch und anschaulich bleiben. Man kann die Frage nach religiösen Erfahrungen zu einer riesigen Frustquelle machen. Wenn ein Religionslehrer oder eine Religionslehrerin sich vornimmt: „Ich will in meinen Schülern und Schülerinnen religiöse Erfahrungen erzeugen. Ich will, dass sie eine religiöse Erfahrung machen.“,
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oder wenn ein Prediger, eine Predigerin sagt: „Meine Predigt soll so geisthaltig sein, dass die Menschen eine religiöse Erfahrung machen, dass sie Gott kennenlernen“, dann ist das – jedenfalls nach Dilthey, Joas und Jung – ein Anspruch, der schlicht nicht einzulösen ist. Denn nach diesem Denken gibt es gar keine unmittelbare religiöse Erfahrung. Es gibt im Übrigen auch keine unmittelbar sportliche Erfahrung oder eine unmittelbare natürliche oder erotische Erfahrung. Was es gibt, sind Erlebnisse, die erst durch ihre Deutung zur artikulierten Erfahrung werden. Da passiert erst irgendetwas (Erlebnis), dann deutet man das Erlebnis (Deutung), und schließlich artikuliert man das in Lebensformen (Artikulation).18 Diese Triade gilt für sehr kleine Erfahrungs-/Erlebnissequenzen, sie gilt aber auch für große, sogar historische Großabschnitte, die sich als kollektive Erfahrung artikulieren lassen. Dies alles ist alles andere als abstrakte Philosophistik. Ich darf Ihnen das an einem schönen Beispiel deutlich machen. Dazu wechsle ich von der religiösen Deutungssprache in die sportliche. Vielleicht kennen Sie dieses Plakat mit einem athletischen Turner vom Landessportverband Schleswig-Holstein: „Durchhalten. Das habe ich beim Sport gelernt.“19 Wenn man diesen Turner dort so sieht, dann glaubt man ihm das sofort. Wer derart durchtrainiert an den Ringen hängt und so athletisch in den rechten Winkel kommt, der hat offensichtlich hart trainiert. Der hat gelernt, was Durchhalten bedeutet. Das lässt sich nun mit dem dreistelligen Erfahrungsbegriff sehr gut darstellen. Wir haben zunächst ein Basiserlebnis, nämlich: Es ist anstrengend. Der Körper schmerzt. Da ist Widerstand, da ist Schwerkraft. Um sich aufzurichten, rechtwinklig zu werden, muss man Kraft aktivieren. Und dies wird nun spezifisch sportlich gedeutet: „Durchhalten. Das habe ich beim Sport gelernt.“ Der Turner sagt gewissermaßen: „Durchhalten im Leben ist wie an Ringen hängen.“ Und damit ist er gut ausgerüstet. (Es ist überhaupt eine hervorragende Idee, sich mit der Deutungssprache des Sports durch sein Leben zu bringen. Ich bin Fußballfan, komme auch noch aus dem Ruhrgebiet. Ich kann fast jede meiner Lebenssituationen fußballerisch deuten: „nicht mehr absteigen“, „nicht ins 18 Kenner werden identifizieren, dass hinter diesem Dreischritt die zeichentheoretische Triade von Charles S. Peirce steht, welche den Interaktionszusammenhang von Organismus/Welt dreistufig rekonstruiert; nämlich aus firstness (qualitatives Erleben/icon), secondness (Direkte Interaktion zu Impuls und Widerstand/index) und thirdness (dezentralisierte Artikulation/ Symbol) steht. Diese inspiriert nach neuesten Funden auch Diltheys mittlere Schaffensphase; vgl. zu allem die Studien von Matthias Jung 1996; 1999; 2009. 19 Das Plakat zeigt einen Ringturner im Winkelstütz, einer anspruchsvollen Übung, bei der der Turner auf den Ringen gestützt seine Beine in einem rechten Winkel zum Oberkörper gestreckt hält. Die Abbildung lässt sich einsehen unter http://www.sh.beim-sport-gelernt.de – aufgerufen am 07. September 2018.
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Spiel kommen“, „keine Bindung zum Spiel bekommen“, „den Gegner abtasten“ und so weiter.) Der Punkt ist: Wir erleben Dinge und Situationen. Und wir benötigen Deutungssprachen, um das Erlebte intersubjektiv zu vermitteln und als Erfahrung zu artikulieren. Religion bietet eine solche Deutungssprache. Aber es gibt eben neben ihr eine große Vielzahl solcher kulturellen Deutungsangebote. Zu nennen wären Volksweisheiten und Redensarten; Natur; Politik; Erotik; der schon erwähnte Sport u.v.m.20
4.4. Fünf Folgerungen Das starke Potenzial dieser Erfahrungstheorie für die Relevanz einer Kirche in religionsfreier Gesellschaft kann man in fünf Punkten präzisieren. Zum ersten ist diese Theorie pluralitätsfähig, weil es keinen Primat des Deutens mehr gibt, für niemanden. Niemand besitzt die einzige, die an sich passende und damit ultimative Deutung für bestimmte Erlebnisse. Man kann den Tod eines lieben Angehörigen religiös deuten („er ist nun an einem besseren Ort.“); man kann das aber mit derselben sowohl subjektiven wie kulturellen Plausibilität auch etwa naturbezogen vornehmen („Werden und vergehen ist der Lauf der Dinge.“). Religionsfreiheit bedeutet, dass die subjektiv überzeugende Deutungssprache und die ihr entsprechende Artikulation im kulturellen Handeln frei wählbar ist. Damit wird Religion zur Option. Zweitens bedeutet diese Entkopplung aus Erleben und Deuten auch, dass Kirche in Bereichen deutend sein kann, in denen sich scheinbar gar nichts explizit Religiöses abspielt: Wir haben bei Pete Ward eben zahllose Beispiele dafür gesehen, wo Menschen jenseits der Kirche ihre Erlebnisse über Religion deuten: die Perrys, Biebers und Black Eyed Peas dieser Zeit.21 Dann kann eine religiöse Deutung interessanterweise auch nicht-religiös artikuliert werden. Hier wird Religionsfreiheit zur direkten Chance der Kirchen. Denn diese impliziert ja auch, dass man Kirchen nicht verbieten darf, religiöse Deutungsfiguren auch in säkulare Kulturbereiche zu tragen. Drittens ist impliziert: Die Kirchen stehen in der Konkurrenz der Deutungssprachen. Meines Erachtens ist dies, die Konkurrenz der Deutungssprachen, eine schöne operative Übersetzung für religionsfreie Säkularität. Für das Bei20 Zugegeben: Die Hintergrundtheorien zu dem, was man philosophisch statthaft als ‚Erfahrung‘ benennt, sind alles andere als einfach. Eine Übersetzung in Erwachsenenbildung und Anwendung liegt nun vor mit Kathrin Speckenheuer und Matthias Sellmann 2018. 21 Vgl. den Aufsatz im selben Band.
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spiel des Turners eben bedeutet das: Wir müssen eben auch zum „Durchhalten“ etwas Erlebnisausdeutendes sagen können, wenn wir kulturell etwas ausrichten wollen. Wie taucht das basale Erleben der Notwendigkeit von „Durchhalten“ auf, wenn man es nicht beim Sport, sondern bei der Kirche gelernt hat? Hier hat dann auch erkennbar die biblische Weisheit ihren Ort. Religion bietet eben mehr als nur abstrakte Ethik. Die jüdisch-christliche Tradition bietet mir Deutungsweisheiten für das Leben an. Und Konkurrenz bedeutet dann zum einen, dass sie das „Geschäft belebt“ und zum anderen, dass sie die Qualität erhöht, zum Wohl aller. Als Kirche muss ich eben genauso gut oder sogar besser sein mit meinen Deutungen – und mit meinen Performanzen und Artikulationen, die nach außen zeigen, was aus unseren Deutungen folgt. Viertens ist nun klar, dass wir uns als Kirche mit allen anderen Akteuren auf Augenhöhe bewegen. Es wäre töricht und sozusagen ein Verlust von Deutungs-DNA im Haushalt der Kultur, wenn man die Kirchen abschaffen wollte. Unkatholische Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Christof Türcke, Christoph Schlingensief, Navid Kermani oder Gregor Gysi mahnen ja auch laut vernehmbar an, dass die Religionen semantische Potenziale haben, die einzigartig sind und die zu geringschätzen selbstverletzend wäre. Ihr Votum ließe sich so paraphrasieren: „Christinnen und Christen, schweigt auf gar keinen Fall von eurem Kulturerbe. Ihr bringt Sätze ein, Metaphern, Bilder, Routinen, Rituale, Praxen, Gebäude, Lebensformen, auch Skurrilitäten, die andernfalls fehlen würden. Sie formulieren bestimmte Weisheitspotentiale, auf die wir dringend angewiesen sind.“ Dabei geht es ihnen nicht darum, generell frommer, religiöser oder kirchlicher zu werden, sondern vielmehr um die Fortschritte im Humanen, Demokratischen, Kommunalen, Globalen, Gerechten, Fairen, Kreativen und letztlich auch Säkularen. Sie sehen Religion also als Dienst an einer gemeinwohlverstandenen Säkularität. Religion ist ihnen, jedenfalls prinzipiell, genau deswegen so wertvoll, weil sie eine Ressource für religionsfreies Leben darstellt. Und so verstanden ist Säkularität gar nicht die Selbstaufgabe von Religion, sondern ihre Steigerungschance.22 In dieser Wertschätzung von artikulierter Religion und zwar in ihrer ganzen phänomenalen Fülle wird ein fünfter Punkt deutlich, eventuell sogar der wichtigste. Joas und Jung legen (in bester pragmatistischer Tradition) größten Wert darauf, dass die eigentliche Stärke von Religion in der Umkehrung dieser Trias aus erleben/deuten/artikulieren liegt: Religion transportiert Deutungsmöglichkeiten in eine Kultur, die das Subjekt zu bestimmten Erlebnissen überhaupt erst motiviert.23 Eine Erfahrung lässt sich also auch umgekehrt strukturieren: Artikulieren, Deuten, Erleben.
22 Vgl. ausführlicher Matthias Sellmann 2013. 23 Vgl. Hans Joas 2004; sowie Matthias Jung 2009.
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Ich darf ein anschauliches Beispiel erzählen: Langlauf, Ausdauersport. Vielleicht kennen Sie das: Man läuft und läuft und nach spätestens fünf Kilometern stellt sich die Sinnfrage ein. Da sagt man sich: „Mensch, alle anderen gucken jetzt Fernsehen und essen Chips. Ich bin der einzige, der hier mit pfeifender Lunge im verregneten Wald durch die Gegend läuft und schlammig wird.“ Selbst wenn man nicht Langlauf betreibt, kann sich jeder in diese Lage versetzen. Der Punkt ist: Jetzt muss diesem armen Kerl mal einer gesagt haben: „Wenn du das spürst, dann lauf einfach weiter. Dann kommt die zweite Luft.“ Von sich aus käme man da nicht drauf. Alles drängt zu Wohnzimmer, Chips und Fernsehen. Aber wenn man das mit der angeblichen „zweiten Luft“ einmal gehört hat von jemandem, der sich mit Langlauf auskennt und der für mich eine Autorität in dieser Beziehung ist, dann spornt das an. Man gehorcht sozusagen; man läuft weiter – und plötzlich ist alle Qual vergessen. Man segelt wie ein Adler durch den Wald, alles geht plötzlich leicht, die zweite Luft pumpt und stützt – und man bemitleidet die armen Leute vor den Fernsehern mit ihren Chipstüten. Also, wieder systematisch: Mir können kulturelle Artikulationen begegnen, die meinem bisherigen Erleben ganz konträr zu sein scheinen. Werden sie aber mit Autorität, Höflichkeit und attraktiver Kraft an mich herangetragen, können sie zu neuen Erlebniswagnissen motivieren. Religion nun steckt voller solcher überraschender Deutungsangebote. Und hier liegt ihre unersetzliche Bedeutung. Da sagt/zeigt mir einer: „Du kannst mit deiner Frau zusammenbleiben, bis der Tod uns scheidet.“ Und ich denke: „Wow! Ich hoffe, das ist lang. Aber ich wäre von mir aus nicht darauf gekommen, dass das gehen kann.“ – Da sagt/zeigt mir einer: „Dein plötzlich gestorbener lieber Mensch ist nicht für immer weg.“ Und ich schaffe es, in meiner Trauer nicht zu versinken. – Da sagt/zeigt mir einer: „Der Typ geht dir zwar auf die Nerven, aber du brauchst nicht gewalttätig werden.“ Und ich werde bereit zu friedlichen Konfliktlösungen. All dies sind Deutungs- und Artikulationsangebote, die mir aus der jüdisch-christlichen Kultur entgegenkommen, die mir die Kirche anbietet oder die mir die Predigt vorschlägt. Und dieses Vorschlagen alternativen Lebens ist der exakte Job von Kirche, ihre Sendung – immer in dem oben erarbeiteten Wissen, dass es zu ihrer Alternative auch Alternativen anderer gibt. Aber hier liegt die Aufgabe, etwa von Gottesdienst und Predigt: eine kollektive Deutungssprache so in die Kultur eintragen, dass jeder die Chance hat sie zu hören. Idealerweise geschieht das so, dass sie attraktiv erscheint, dass sie motiviert, dass sie den Eindruck vermittelt: „Ich verpasse etwas, wenn ich das nicht wenigstens mal probiere.“ Sei es das mit diesem „Bis-dass-der-Tod-euchscheidet“, das mit dem Feind oder das mit dem „Der-ist-nicht-für-immer-weg“. Damit präfiguriert religiöse Artikulation das Erleben und schafft Raum für eine Erfahrung, die man religiös nennen kann, ohne diese selbst zu erzeugen.
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Religionsfreiheit kann also auch die Möglichkeit bedeuten, dass religiöse Deutungen mit Jubel und Erleichterung aufgenommen und anerkannt werden. Denn sie bietet Deutungen an, die so noch keiner auf den Punkt gebracht hat. Joas und Jung können eindrücklich zeigen, dass vor allem qualitative Erlebnisse des Selbstüberstiegs durch religiös-kollektive Deutungssprachen in einer Präzision artikuliert werden können, die andere kulturelle Sprachen kaum zu leisten vermögen. Erlebnisse des Spiels, der Hingabe, der Faszination, des Glücks, aber auch der Gewalt, der Verführung oder der Scham drängen sozusagen von sich aus in Sprachformen religiöser oder religoider Art.24 Gerade solche Erlebnissequenzen des Selbstüberstiegs aber gehören zu den intensivsten und auch – im positiven Fall – den attraktivsten. Wir kommunizieren im Namen der jüdisch-christlichen Tradition und setzen damit auf Versprechen mit einer Reichweite, die so kein Sportverein bieten kann. Wir gehen, etwa in der Notfallseelsorge, an Orte brutalen Schicksals, an die andere sich nicht trauen. Wir sagen Menschen zu, dass sie natürlich ihre psychologischen Muster haben – dass diese aber die Person niemals komplett determinieren (Sakrament der Beichte). Wir segnen ihre Liebe, indem wir an den Tod erinnern und damit die Liebe vor wechselseitiger Hyper-Erwartung schützen (Sakrament der Ehe). Wir sagen jungen Leuten: „Ein großer Geist wirkt in Dir.“ (Sakrament der Firmung). Wir bieten allen die Optik an: „Der andere Mensch, der Dir begegnet, ist nicht Dein Freund. Wohl aber Dein Bruder.“ Niemand soll mehr zynisch sein müssen. Niemand soll mehr aus Gründen der Psychohygiene in bloßer Ironie durch sein Leben kommen müssen. Niemand soll mehr ausschließlich trauern müssen. Mein Körper ist kein Instrument, sondern ein Ort. Nichts soll mich je ganz besitzen. Die Erde ist naturaler Kosmos, und zwar als Schöpfung. Man sieht: Erst in der vollen Nutzung gerade des fragmentarischen, narrativen, postulativen, partikularen Potenzials liegt der mögliche Beitrag, in einer religionsfreien Gesellschaft zur Ressource zu werden. Dazu muss gut artikuliert werden, das leuchtet ein.25 Als Kirche besitzen wir eine wirkmächtige Deutungssprache, die sogar im gesteigerten Sinn die Kraft hat, kreativ neue Erlebnispotenziale zu wecken. Wenn wir diese Deutungen laut sagen, wenn wir sie vernehmlich kommunizieren – und das bedeutet auch, sie intelligent und auf den Punkt hin einzusetzen –, dann kann sich Kirche nicht nur trotz, sondern gerade unter der Bedingung religiöser Selbstbestimmung bewähren.
24 Vgl. v. a. Hans Joas 1999. 25 Vgl. für mögliche kirchenpraktische Konsequenzen die Betonung der Dimension „Inszenierung“ in der beeindruckenden Kirchentheorie von Jan Hermelink 2011.
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5. ‚Organisation‘ als Bedingung der Möglichkeit für wirksame kulturelle Präsenz Der dritte Leitbegriff des hier vorgetragenen Vorschlags lautet: Organisation. Ganz schlicht lautet die These: Die Wahrscheinlichkeit der wirksamen Übernahme religiöser Deutungssprachen – und damit die Wahrscheinlichkeit, in religionsfreien Gesellschaften die eigene Sendung wirksam kulturell zu präsentieren – steigt, wenn sich Kirche gut organisiert. Dies mag befremden. Mindestens im Mainstream der katholischen Pastoraltheologie liegt der Akzent bei Kirchenreform auf anderen Prioritäten. Ja, die Fokussierung auf Organisation begegnet grundlegenden Verdachtsmomenten: Kirche werde klerikalistisch verkürzt; das aktuelle Problem sei eher die Über- als die defizitäre Organisation; Machtnähe korrumpiere das authentische Glaubenszeugnis; Kirche müsse sich aus der unseligen Vergangenheit als societas perfecta gerade befreien; die Volk-Gottes-Ekklesiologie betone die interaktive Dimension; Dauerreflexion sei nicht institutionalisierbar (Schelsky); Glaube und seine Weitergabe sei nicht planbar; Kirche sei, wenn überhaupt, eine untypische Organisation; das moderne Subjekt erwarte Lebensnähe und lokale Konkretheit, nicht abstrakte Bürokratie, u.v.m. Hier ist nicht der Ort, diese Debatte zu führen. So berechtigt mancher Einwand ist und so redlich man sich unterhalten muss – mir kann hier nur der Hinweis reichen, dass man die theologische Diskussion bitte nicht mit Pappenheimern führen möge. Der Organisationsbegriff hat sich soziologisch sehr entwickelt, ist in seinen Leittheorien schon lange nicht mehr instrumentell und soziotechnologisch aufgeladen, behauptet gerade nicht die Planbarkeit der Welt und ist theologisch insofern ohnehin geboten, als die explizite Rechtsstruktur von Kirche als ekklesiologisches Grunddatum anzusehen ist. Ohne die Rechtsposition des Gläubigen innerhalb der Kirche kann man gar nicht gnadentheologisch argumentieren. Es ist auch zuzugeben, dass Kirche eine untypische Organisation ist und natürlich weder die Mitgliedschaftsrollen segmentieren noch seine Inhalte Mehrheitsentscheidungen unterwerfen kann. Zudem ist zu beachten, dass mit dem Fokus auf eine sehr gut organisierte Kirche weder gemeint ist, dass man sie nur noch als Organisation betrachtet, noch, dass alles, was religiös geschieht, organisiert sein muss. Vielmehr weisen viele Argumente der einschlägigen Debatte in die Richtung, Organisationen als Bedingung der Möglichkeit für Nicht-Organisation zu erkennen. Soll heißen (und darauf läuft auch mein Vorschlag hinaus): Gute Organisation begrenzt gerade Herrschaftsansprüche; sie weist die Zonen aus, in denen die Organisationsregeln gerade nicht gelten können und wollen; sie präferiert daher mehr als jede andere Sozialform die Exit-Option, also das geregelte und sanktionsfreie Verlassen des Set-
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tings.26 Und da wir hier über Freiheit, speziell Religionsfreiheit handeln, sind das äußerst wichtige Vokabeln. Und: Was ist die Alternative? Ich werde immer sehr skeptisch, wenn jemand pastorale Ideale entwirft und faszinierende gesellschaftliche Chancen sieht, aber nicht sagen kann, wie der Weg dahin zu gehen wäre. Schnell wird Pastoraltheologie Text über Texte über Texte, breitet eindrückliche Zitationsnetzwerke aus und weiß die einzelnen hermeneutischen Diskurse brillant zu konfundieren. Fragt man nach dem rhetorischen, analytischen oder homiletischen Feuerwerk: „So what?“, kann die Fallhöhe beträchtlich sein. Man kann sicher darüber streiten, ab wann man aus wissenschaftlicher Sicht in den Modus des bestreitbaren Rezeptwissens kommt und wo die diffuse Zone der Auftragsforschung anfängt. Sich aber aus Angst vor (banaler?) Konkretion oder aus dem Verständnis einer Arbeitsteilung gemäß des Schemas „Ich-intellektuell/Du-operativ“ in die reine Ideal- und Bewusstseinsphilosophie zu flüchten, löst weder das Theorie- noch das Praxisproblem.27 Es muss auch forscherische Verantwortung sein, wie man als Kirche konkret evoluieren soll. Oder schlichter: wie es gehen kann. Ich halte es gemäß des bis hierher Argumentierten für offensichtlich: Will man (1) in demokratischen Marktgesellschaften wie der unsrigen im deutschen Kontext eine Ressource für Humanitäts- und Gemeinwohlentwicklung sein; und will man dies (2) als genuin religiöse Formation realisieren; dann wird man (3) einen Beitrag zur religiös bedingten und bestimmten Freiheit leisten wollen; dies wird man (4) so vollziehen, dass man die jüdisch-christliche Deutung von Biografie und Gemeinwesen mit hoher Qualität artikuliert, so dass 26 Hier liegt z. B. der große Vorteil gegenüber allen pastoralen Enthusiasmen hinsichtlich normativ zugespitzter pastoraler Netzwerkmodelle. Maren Lehmann hat in ihrer Kritik an der neuesten EKD-Mitgliedschaftsstudie eindrücklich gezeigt, dass Netzwerke leicht in-, aber nur schwer exkludieren. Das mag man auf den ersten Blick begrüßen, verspricht es doch Harmonie, Heimat, Zugehörigkeit. Manch pastorale Romantik kann hier ansetzen und z. B. das volkskirchliche Modell mit seinem Akzent auf Organisation demgegenüber geringschätzen, weil es ja keine Bindung mehr erzeuge. Doch wer Freiheit auch darin sieht, nur dort gebunden zu sein, wo man dies auch will, der wird es begrüßen, dass es in Organisationen zwar kälter im Umgang ist, dafür aber autonomiefreundlicher. Vgl. Maren Lehmann 2018. Man beachte: Es gibt neben dem normativen Netzwerkdenken auch die schlicht operative Forderung nach kirchlicher Vernetzungskompetenz. Diese scheint mir stark geboten (vgl. auch unten); vgl. dazu: Miriam Zimmer u. a. 2017. 27 Wobei dieser Dualismus ohnehin praktisch-theologisch zu überwinden ist und nur scheinbar eine Leitdifferenz des Faches sein kann; es ist auch das geflissentliche Pflegen dieses Dualismus, der die gegenwärtig kirchen- und gesellschaftspolitische Unwirksamkeit der praktisch-theologischen Fächer wesentlich mit begründet. Z. B. mit pragmatistischer Praxisphilosophie kommt man da erheblich weiter und kann einerseits an naturwissenschaftlicher Anthropologie wie anderseits an sozialwissenschaftlicher Systemtheorie neu anschließen – statt beiden Polen mit einer selbstbezogenen Hermeneutik nur kontrastiv-appellativ gegenüberzustehen.
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dies in der bürgerlichen Öffentlichkeit verstanden, geprüft und adaptiert werden kann. Diese vier Ziele sind nur als Organisationsformation durchsetzbar. Nur als Organisation bleibt Kirche berechenbar, sind ihre internen wie externen Wahrheits- und Herrschaftsansprüche prüfbar; kann sie in Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Kräften ähnlicher Ziele kommen; nutzt sie die gegebenen medialen Möglichkeiten der öffentlichen Proklamation ihrer Botschaften; und erringt sich in Sachen prophetischer Gesellschaftskritik einen respektierten Platz mit Umsetzungswahrscheinlichkeit als den des Zaungastes out of the game. Dabei ist sowohl theologisch wie auch sozialwissenschaftlich keine Totalaussage über Kirche getroffen. Dies hat der Göttinger Theologe Jan Hermelink in eindrücklicher Manier erarbeitet. Er legt eine Kirchentheorie vor, in der der Status als „Organisation“ der Kirche erst die Möglichkeit verleiht, die Unverfügbarkeit der ihr vorgegebenen Wahrheiten zu sichern (Kirche als „Institution“); den Freiraum für interpersonale Begegnung und Beziehung auszuweisen und gerade dadurch die kreative Weiterentwicklung des Glaubens zu ermöglichen (Kirche als „Interaktion“); und die Botschaft des Glaubens, aber auch seinen Selbstanspruch, seine Performanz, seine Vorläufigkeit usw. wirkungsvoll nach außen zu demonstrieren (Kirche als „Inszenierung“).28 Fazit: So sehr praktisch-theologisch noch daran gearbeitet werden muss, wie die kirchliche Sendung nicht nur sozialwissenschaftlich, sondern auch systematisch-theologisch mit dem Begriff der Organisation gekoppelt werden kann, so wenig sollte dies bedeuten, der Organisationalität des christlichen Glaubens zu wenig zuzutrauen. Geht es um einen Beitrag zu einer im qualitativ-positiven Sinn religionsfreien Gesellschaft, wird dies nur über gute Organisation möglich sein.
6. Was tun? Sieben Interventionshebel, um für alle eine Ressource für Religionsfreiheit zu werden29 Der hier gebotene Argumentationsgang drängt praktisch in den Auftrag, als gesellschaftliche Größe eine Infrastruktur für religiöse Selbstbestimmung bereitzustellen und inhaltlich zu vitalisieren. Hierzu ist in aller Nüchternheit so vorzugehen, dass man (1) den Bedarf an religionsfreier Infrastruktur möglichst 28 Vgl. Anm. 25, Jan Hermelink 2011. 29 Die Ausführungen zu diesem Punkt entnehme ich weitestgehend dem in Anm. 1 genannten Workingpaper, welches leicht einzusehen ist. Dort auch die ausführliche Entfaltung jedes der sieben Schritte.
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präzise identifiziert. In der Innovationsforschung spricht man sogar von einer Granulierung von Problemen, also der Zerlegung in reale Bearbeitbarkeiten. Zweitens bildet man Strategien, wie an der Bedarfsdeckung mitgearbeitet werden kann. Dies formuliert man dann aus in Produktlinien, aber auch in Ausbildungsgänge, Kennzifferbildung, Budgetplanung und eigener Organisationsentwicklung. Drittens evaluiert man, was in der Arbeit passiert und entwickelt aus diesen Daten verbesserte Strategien. Dies ist im Kern das Forschungs- und Arbeitsprogramm des Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap). Um abschließend zu zeigen, zu welchen ersten Ergebnissen man dort kommt, kann die unten angehängte Grafik dienlich sein. Sie illustriert den eben genannten Schritt (1), nämlich die Granulierung des abstrakten Großbegriffes „Religionsfreiheit“ in sieben Konkretionslinien mit bearbeitbaren Zielformulierungen. Wiederum innovationstheoretisch hat das zap mit diesen sieben Linien einen Lösungsraum beschrieben, der als Konfigurator für Umsetzungen, z. B. in Kooperationsprojekten fungiert.30 Dabei ist die Arbeitsweise betont nüchtern. Denn der Konfigurator bezieht sich zwar auf pastoralpraktische Formate; aber generell ist er universalisierbar auf alle infrastrukturellen Überlegungen, die mit öffentlicher Freiheit zu tun haben. Als Beispiel kann der Vergleich mit einem Anbieter für Sport und Bewegung einleuchten. Unterwirft man sich als solche Organisation dem Ethos, Ressource für körperliche Selbstbestimmung zu sein, so würde man dieses Ziel für die allfälligen Interventionen in ähnliche sieben Linien granulieren wie das im Folgenden entwickelte Beispiel für religiöse Selbstbestimmung. Ganz assoziativ gelistet: Man würde Sportplätze bauen (Raumorganisation); das konkrete Sportverhalten der Bürger als Daten- und Inspirationsquelle nutzen (Kreative Rezeption); Vereine gründen, in denen man mitmachen kann (Parti30 Gemeint ist der sog. zap-Konfigurator für Pastoralplanung. Der Begriff „Konfigurator“ stammt aus der Innovationstheorie und der Kreativitätstechnik. Lernpsychologisch weiß man, dass sich bei Praxisherausforderungen vor allem dann Lösungsenergien freisetzen, wenn das gegebene Problem grob vorgegliedert und somit der Möglichkeitsraum zu erwartender Lösungen grob eingegrenzt wurde. Gute Konfiguratoren halten dabei die Balance einer mittleren Abstraktion: Sie strukturieren einerseits hilfreich vor, formatieren aber andererseits nicht schon zu detailliert. Konfiguratoren sind demnach ein unersetzlicher Bestandteil von „openinnovation“-Verfahren. Der zap-Konfigurator ist das Herzstück der Bochumer Forschungen und ihr hermeneutischer Ausgangs- und Zielpunkt. Er impliziert folgende Thesen: (1.) Gegenwärtige Kirchenentwicklung kann keiner der hier pointierten Herausforderungen ausweichen. Das bedeutet: Wer hier nicht aktiv entscheidet, über den wird entschieden. In jeder der pointierten Linien herrscht gegenwärtig ein Handlungsdruck, der in seiner Faktizität normative Kraft bekommen hat. (2.) Wir sagen nicht, dass es nicht eine achte oder neunte Linie geben kann. Wir sagen nur: An diesen Linien kommt man nicht vorbei. (3.) Die in den sieben Linien pointierten Herausforderungen gelten für nahezu jede kirchliche Akteurseinheit: sei es eine Diözese, ein Orden, eine große Pfarrei, ein Verband oder ein Krankenhauskonzern.
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zipation); Trainer und Manager ausbilden (Profession); über die Möglichkeiten informieren (Kommunikation); Testimonials von gelungenen Sporterfahrungen performen (Artikulation); und stets auf Verbesserung und Präzisionsgewinn aus sein (Innovation). Ganz ähnlich kann das für den Einsatz für religiöse Selbstbestimmung eingelesen werden, wie die Grafik am Ende dieses Textes zeigt. Sie geht auf das Praxisfeld „Pfarreientwicklung“ ein. Das zap hat inzwischen für jedes dieser sieben Felder eigene Forschungen, vor allem aber Umsetzungskonkretionen vorgelegt.31 Für eine operative Umsetzung ist der Kompetenzbegriff entscheidend, der als Brückengröße zwischen Konzeption und Realisation angesehen werden kann. Jede der sieben Linien bedingt klar benennbare und schulbare Kompetenzen. Ihre Begründung, curriculare Ausarbeitung und konkrete Erprobung in Bildungsgängen wird das zap in Zukunft beschäftigen. Freiheitlich-religiöse Selbstbestimmung benötigt infrastrukturell … Anforderungs dimension, kurz
Anforderungsdimension, erläutert
Kennzeichen einer zukunfts fähigen Pfarrei 32
… RAUM Rel. Selbstbestimmung benöORGANISATION tigt klar definierte, konkrete Einsatzräume und Sozialformen, in denen sie sich ausgestalten kann.
Die Pfarrei bietet dem Bedürfnis nach religiöser Selbstbestimmung ein attraktives und plurales Ensemble (paroikales Netzwerk) an religiösen Praxis- und Sozialformen an, das sich mit dem kommunalen Raum abgleicht.
… KREATIVE REZEPTION
Die Pfarrei ermöglicht die Vielfalt persönlicher Transformationen und Interpretationen der katholischen Tradition ko-kreativ, fördert sie aktiv und nutzt sie strategisch.
Rel. Selbstbestimmung braucht als je eigener Stil in je eigener Form – innerhalb der gegebenen Freiheitsgrenzen – soziale Anerkennung und austauschbereite Kommunikation.
31 Alle Belege im angesprochenen zap:workingpaper, vgl. Anm. 1. 32 Der zap-Konfigurator wird hier auf das Thema „Pfarrei“ gelenkt; analog kann er auch auf größere oder kleinere ekklesiale Einheiten bezogen werden.
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Anforderungs dimension, kurz
Anforderungsdimension, erläutert
Kennzeichen einer zukunfts fähigen Pfarrei 32
… PARTIZIPA TION
Rel. Selbstbestimmung braucht zu ihrer Entfaltung ein frei zugängliches Feld von Engagementgelegenheiten.
Die Pfarrei entspricht dem Wunsch nach religiöser Selbstwirksamkeit sowohl auf der Beteiligungs- wie auf der Entscheidungs- und Engagementebene aktiv und effektiv.
… PROFESSIONALITÄT
Rel. Selbstbestimmung braucht auf der Anbieterseite Kompetenz, Sicherheit, Klarheit, Ordnung und Selbstbegrenzung.
Die Pfarrei garantiert und signalisiert die Freiheits- und Gestaltungsräume religiöser Selbstbestimmung durch eine hohe Führungs- und Organisationsqualität.
… KOMMUNIKATION
Rel. Selbstbestimmung braucht eine zugängliche, verlässliche, richtige und verständliche Information der „Anbieter“, damit sie über ihre Möglichkeiten orientiert ist.
Die Pfarrei nutzt die gegebenen Möglichkeiten medialer Kommunikation, um in ihren Zielen und Strategien transparent zu sein, ihr personales Angebot zu entlasten und allianzfähig mit nichtkirchlichen Organisationen zu werden.
… ARTIKULATION
Rel. Selbstbestimmung braucht eine Kultivierung und Weiterentwicklung der individuellen religiösen Stile durch die permanente Zufuhr attraktiver, anregender und herausfordernder Deutungsangebote.
Die Pfarrei wird in allen Grundvollzügen als einladendes Portfolio unterschiedlicher, kraftvoller, authentischer religiöser Deutungen erlebbar, von denen ausgehend man seinen eigenen religiösen Stil finden kann.
… INNOVATION Rel. Selbstbestimmung braucht auf der Anbieterseite eine wirksame Dynamik gegen ein Verständnis von religiöser Tradition, welches das Lernen von der Umwelt und interne Reformen verhindert.
Die Pfarrei ist geprägt von einem systematischen Innovations-Management, welches sowohl strukturell wie kulturell alle Prozesse, Produkte und Personen in eine Bewegung der Überprüfung und Verbesserung involviert.
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Freiheit in Bindung und Verantwortung Eine Response auf Matthias Sellmann
1. In seinem Beitrag „Dienstleistung an artikulierter Religionsfreiheit. Ein Diskussionsvorschlag zur Frage nach der präzisen Sendung der Kirche heute“ legt Matthias Sellmann den komprimierten Versuch vor, eine exakte Benennung der Aufgabe und der Sendung der Kirche im Horizont moderner, freiheitlich organisierter Demokratie zu entwickeln. Damit möchte er ein verbindliches Maß für Kirchenreformen geben. In weiten Teilen kann ich dem zustimmen, was Matthias Sellmann zur Kirchenreform sagt. Es sind konfessionsübergreifende Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen und in die wir vielfach schon verwickelt sind, die einen erhöhten Reformdruck erzeugen und die in ihrer strategischen Bewertung einen umsichtigen Weitblick erfordern. Als jemand, der nun seit fast 35 Jahren in verschiedenen leitenden Funktionen an Change- und Fusionsprozessen beteiligt ist, möchte ich darauf antworten. Im Auswertungsband zur ersten Mitgliederumfrage der EKD aus dem Jahr 1975 wurde ein Aufsatz des damaligen Praktischen Theologen aus München und späteren Hamburger Bischof Peter Krusche abgedruckt mit der Überschrift: „Der Pfarrer in der Schlüsselrolle“.1 Darin macht er deutlich, dass für die meisten Menschen das Amt des Pastors/der Pastorin, des Pfarrers/der Pfarrerin, entscheidend ist für die Ausprägung des Verhältnisses zur Institution Kirche. Er wird als der „Repräsentant der Volkskirche angesehen“.2 Seitdem ist viel Literatur zum Thema Fortentwicklung und Veränderung des Pfarrerbildes publiziert worden. Wenn man sich dann die weiteren Mitgliedschaftsuntersuchungen der letzten Jahrzehnte ansieht, kommt man zu der Erkenntnis: Nichts scheint so
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Peter Krusche 1975. A. a. O., 170.
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stabil zu sein, wie das Pfarrerbild. Eigentlich könnte man diesen Aufsatz aus dem Jahr 1975 in jedem Auswertungsband nach jeder Mitgliedschaftsumfrage mit der gleichen Überschrift und dem gleichen Inhalt wieder abdrucken. Es hat etwas Liebenswertes und etwas Irritierendes zugleich, dass dieser große Tanker – Kirche – nur sehr behäbig auf Steuermanöver reagiert und sich dann auch nur sehr schwer den Transformationsbewegungen der Gesellschaft anzupassen vermag. Aus meiner Erfahrung mit Kirchenreformen weiß ich um zwei Dinge: 1. Wo jemand anfängt, etwas zu verändern, evoziert er oder sie auch in gleicher Weise Beharrungskräfte. 2. Je mehr Menschen er oder sie auf den Weg der Veränderung mitnehmen möchte, und das auch tut, desto größer ist die Zahl derjenigen, die laut rufen: „Ich bin nicht mitgenommen!“ Die Einsicht in dieses Verhältnis ist – so finde ich – entscheidend, um nicht frustriert die Finger von Veränderungen zu lassen. Dies gehört zur Genetik solcher Prozesse. Für weitsichtiges Steuern braucht man, und da stimme ich mit Matthias Sellmann überein, eine Idee, an der man sich orientiert.
2. Wenn Matthias Sellman von „attraktiver Artikulation“ spricht, dann denke ich zunächst an meine eigene Geschichte mit der Kirche zurück. Nach meiner Konfirmation bin ich aus der Kirche ausgetreten, weil ich gemerkt habe, dass da keiner war, der attraktiv artikuliert hätte, was der Glaube und die Kirche mit meinem Leben zu tun haben könnten. Den Konfirmandenunterricht besuchte ich, weil die Klassenkameraden das auch taten. Danach habe ich Schauspiel und Theaterwissenschaften studiert und am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg als Schauspieler gearbeitet. Das war Anfang der 70er Jahre, es war die Hoch-Zeit des Politischen Theaters. Wir waren davon überzeugt, das Theater habe, mit Brecht ausgedrückt, eine pädagogische Aufgabe: Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird. […] Und sie werden mir vielleicht darin zustimmen, daß die heutige Welt eine Änderung braucht.3
Das hat uns damals geleitet. In einer Spielzeit spielte ich in dem Stück „Abaelard und Heloise – Die Geschichte einer verbotenen Liebe“ mit. Ich stellte einen Mönch und einen Stu-
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Berthold Brecht 1970, 159.
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denten dar. Das Stück war inszeniert wie eine Liturgie und zum Text des Stückes gehörten ganz viele biblische Texte. Die Kollegin, die damals die Heloise spielte, rezitierte in einer ihrer Monologpassagen aus dem 139. Psalm (Ps 139,5–10): Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Da geht es um die Sehnsucht nach Gottes Nähe und um die Furcht vor dieser Nähe. Eine klassische Lebensfigur im Alltag eines Menschen. Die Schauspielerin hat den Text so professionell bzw. ‚attraktiv‘ artikuliert, dass er mich packte. Das ist mein persönliches Bekehrungserlebnis. Das Interessante daran finde ich: Meine Bekehrung zum Glauben geschah nicht in der Kirche. Ich hatte mit Kirche überhaupt nichts zu tun. Diese Schauspielerin war nicht nur eine hervorragende Schauspielerin, sie war eine überzeugte und bekennende Atheistin. Ich weiß seitdem: Gottes Wort ist größer als die Organisation Kirche. Es gehört der Kirche nicht. Und Gott sucht sich seine Botinnen und Boten, die „attraktiv artikulieren“, um uns das Herz zu öffnen und uns das Wort ins Leben zu sprechen. Ich finde, auch diese Erfahrung gehört zu dem, was wir „religiöse Selbstbestimmung“ nennen. Ich kann mich auch jenseits der Kirchenmauern auf die Suche nach dem Gott der Bibel machen und von ihm gefunden werden oder – gar nicht selber suchend – durch ihn angesprochen werden. Über dieses Ereignis außerhalb der Kirche habe ich in die Kirche zurückgefunden. Meine Perspektive hatte sich gewandelt. Ich habe mich dann in einer kleinen Gemeinde im Hamburger Randbezirk engagiert. Dort bin ich Menschen begegnet, die mir zugehört haben, die meine überraschende Selbsterfahrung nicht abgelehnt haben. Und ich erlebte eine Organisation, die nicht eine Gemeinde der Wissenden war, sondern eine der Suchenden, Fragenden. Schlecht organisiert, aber sympathisch gerade deswegen, weil sie fehlerfreundlich war. Ein Kreis von ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, die selber auf der Suche waren und niemals das Gefühl hatten, sie müssten hier etwas oder jemanden retten. Was mich seitdem auch in meinen Leitungsämtern bestimmt hat: Ich habe niemals das Gefühl gehabt, ich müsste als Leitender Geistlicher die oder meine Kirche retten. Denn das weiß ich als Lutheraner: Die Wahrheit wächst nicht aus der Hierarchie des Amtes und nicht aus der strikten Organisation. Die Wahrheit wächst aus dem Diskurs der verschiedenen Suchenden und Fragenden.
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3. All das hat mich damals fasziniert – gerade auch die Fehlerfreundlichkeit dieses „Haufens“, auf den ich da traf. Das lässt mich die Rückfrage an Matthias Sellmann stellen: Wann ist eine Organisation gut organisiert und geleitet? Wann ist eine solche Gemeinschaft attraktiv? Das muss eine Frage sein, die uns beschäftigen sollte, wenn wir auf unsere Gemeinden sehen. Ich habe die Idee von Matthias Sellmann so verstanden: Kirchenreform findet ihre präzise Bestimmung in der Organisation von Religionsfreiheit. Dazu hält Kirche attraktive und passgenaue Formen zur Gestaltung von Religionsfreiheit bereit. Kirchen bieten eine organisatorische Struktur für ein umfangreiches Deutungsangebot, mit denen Erfahrungen religiös artikuliert werden können und mit denen bestimmte, die Tiefendimension des Lebens erschließende, religiöse Erlebnisse erlernt und habitualisiert werden – und in Erfahrungen verwandelt werden können. Ich sehe jedoch eine Gefahr in diesem Schema. Religion wird in ein viel zu einliniges Schema von Angebot und Nachfrage eingeordnet. Die Kirche wird dann als Dienstleistungsagentur für Deutungsleistungen verstanden. Ich meine, dass ein solches Schema dann doch die religiöse Selbstbestimmung eher unterläuft, wenn wir sie als Wert für sich nehmen. Wir dürfen religiöse Bedürfnisse nicht an die erste Stelle setzen. Wir reduzieren dann den anderen/die andere, den oder die wir doch in seiner/ihrer religiösen Freiheit anerkennen wollen doch wieder auf das Vorhandensein von Bedürfnissen, die wir schon kennen, und die Religion – genauer: die Religion, die wir anbieten – meint diese stillen zu können. Kirche wird dann zu einer scheinbar hoch professionalisierten Dienstleistungsagentur, die letzten Endes schon vorher über die Bedürfnisse ihrer „Kunden“ Bescheid weiß. Hier müssen wir aufpassen, was wir tun: Ich glaube, dass Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, als Gemeinschaft der Heiligen mehr ist, als eine Dienstleistungsagentur für religiös selbstbestimmte Menschen. Zu schnell landen wir bei einem Freiheitsverständnis, wie es degeneriert in unserer heutigen Gesellschaft oft vertreten wird als radikalisierte Autonomie: „Dich geht das gar nichts an, wie ich lebe.“ Nach Martin Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ aber gibt es Freiheit nicht ohne Bindung und Verantwortung, nicht ohne die Bindung an Gottes Wort.4 Freiheit braucht Bindung und Verantwortung. Deswegen brauchen wir Organisationen, in denen diese Bindung und dieser Raum als Raum solcher Freiheit zur Verfügung gestellt wird. Kirchen sind ein Möglichkeitsraum von Freiheit, weil sie Geschichten von
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Martin Luther 2017.
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Freiheit bewahren und sie gerade in einer Zeit zunehmender Verunsicherung auch bewähren wollen. Zu Bindung und Verantwortung gehört also auch das Bewahren und Bewähren. Matthias Sellmann hat auf Jan Hermelink hingewiesen, der deutlich macht, dass die Kirche als Organisation notwendig ist, um das Vorgegebene und Unverfügbare zu bewahren.5 Dem stimme ich gerne zu. Kirchen finden ihre Sendung in der Welt, wenn sie einen grundsätzlichen Beitrag zu einem befreiten Leben leisten, das um seine Verantwortung für diese Welt weiß.
4. Matthias Sellmann macht sich im Sinne seiner Orientierung an der Religionsfreiheit dafür stark, auch die Positionen offen atheistischer und kirchenkritischer Menschen als zentrale Ressource der Kirchenreform anzusehen. Auch dem kann ich zustimmen. Ich finde es wichtig, dass wir uns als Kirchenleitende die Frage stellen, ob es uns gelingt, bei dem zu stehen, was den Menschen am Herzen liegt. Nichts ist schlimmer, als wenn eine Kirche auf Fragen antwortet, die kein Mensch stellt. Mit der Religionsfreiheit und damit, dass der kulturgeschichtliche Hintergrund des Christentums mehr als 80 % der Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern z. B. nicht direkt verfügbar ist, werde ich als Bischof der Nordkirche täglich konfrontiert. Denjenigen, die ohne Konfession aufgewachsen sind, wird von Seiten der Kirche oft das Gefühl vermittelt, sie seien defizitär. Tatsächlich drehen sich aber gerade dort viel mehr Gespräche, als ich sie früher im Westen geführt habe, um die Frage, was mich trägt und hält. „Herr Bischof, ich bin Atheist und mich hat noch niemand zum Glauben gebracht!“ Solch ein Satz drückt eine große Distanz aus und Befürchtungen. Solche Formulierungen zeugen aber ebenso von einer großen Neugier und fordern heraus: „Erzähl mir von deinem Glauben.“ Das heißt für mich mit Blick auf die religiöse Selbstbestimmung der Menschen: Wir müssen lernen, hinzuhören und zuzuhören, was die Menschen denn tatsächlich trägt. Eine Begebenheit will ich dazu erzählen. Ich mache viele Besuche und werde auch häufig von Menschen eingeladen, die es interessant finden, mit einem Bischof am Tisch zu sitzen. Ein Gewerkschaftssekretär hatte mich zum Essen eingeladen und begann dann das Gespräch: „Herr Bischof, ich wollte schon lange mal sagen, ich finde es total verrückt, dass Sie an einen Gott glauben, den Sie mir nicht beweisen können.“ Ich hatte mich intensiv auf dieses Gespräch
5
Jan Hermelink 2011, 89.
180
Gerhard Ulrich
vorbereitet und mir jede Menge Fakten über das kirchliche Arbeitsrecht, Tarife, dritter Weg, zweiter Weg, erster Weg zuarbeiten lassen. Aber auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Aus meiner Zeit als Pastor in Hamburg und Propst in Schleswig-Holstein kannte ich solche Begegnungen nicht. Das höchste Maß an Zuwendung war oft freundliche Gleichgültigkeit in einer volkskirchlichen Umgebung. Aber hier begegnete mir jemand mit einer klaren Neugier. Und da habe ich, nachdem sich mein Erstaunen gelegt hat, gesagt: „Ich meinerseits würde verrückt werden, wenn ich nicht glauben könnte und wenn ich davon ausgehen müsste, dass alles in dieser Welt in der Menschen Hand liegen würde. Wenn ich nicht darauf vertrauen dürfte, dass da einer am Werk ist, der den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit kennt und zeigt und der höher ist als alle unsere Vernunft.“ Das war eine Situation, in der ich herausgefordert war, auszusprechen und zu bekennen, was ich glaube. Dieser Mensch ist nicht einfach nur ein Atheist, sondern ein Suchender und einer, der mich herausfordert bei dem, was mir wichtig ist, ihm aber völlig irrational erscheint.
5. Ich habe nicht zuletzt in solchen Begegnungen gelernt, demütig zu sein und dort mit Gott zu rechnen, wo er als vergessen gilt. Und da kommt die Bedeutung der Organisation so ins Spiel, dass sie offen sein muss und hinausgehen muss auch über das, was sie selber für ganz klar und unhintergehbar hält. Für mich ist Kirche eben mehr als eine Ortsgemeinde. Kirche wird konkret und greifbar in der Ortsgemeinde – ja, aber sie geht darin nicht auf. Ich glaube, dass wir in dieser Zeit gut daran tun, eine Gehstruktur auszubilden und nicht nur an den schönen Orten verkündigen, die uns geschenkt sind und die unsere Väter und Mütter gebaut haben, um das Wort Gottes auszulegen. Ich selbst versuche das in Theatern, mit Theaterpredigten zu der Inszenierung des Abends und in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr. Und ich bin ganz dankbar, dass in den letzten Jahren meiner Dienstzeit meine beiden biographischen Bögen zusammen kommen können. Andere haben andere Gaben, sie gehen woanders hin, aber hinaus! Kirche darf nicht „ganz dicht“ sein, das Heilige Wasser entspringt – so bei Ezechiel im 47. Kapitel – im Inneren des Tempels, aber draußen erst entfaltet es seine Kraft: Da, wo die Wüste ist, da, wo es trocken ist, da, wo das Wasser gebraucht wird, „und alles soll gesund werden und leben, wohin dieser Strom kommt“ (Ez 47,9). Hinausgehen, an fremden Orten predigen, das ist für mich von entscheidender Bedeutung geworden. Wir müssen immer wieder neu darüber nachdenken, was wir meinen, wenn wir Kirche sagen. Katholische und Lutherische Ekklesiologie mögen zwar unter-
Freiheit in Bindung und Verantwortung
181
schiedlich sein, haben aber vieles gemeinsam. Ich denke, dass wir zunehmend darauf angewiesen sind, unseren ökumenischen Charakter nicht zu vergessen und zu verraten. Wir sind allenfalls eine Provinz der Weltchristenheit. Und angesichts der horrenden Angst vor fremden Kulturen und fremden Religionen könnten unsere großen Netzwerke, die wir als Kirchen in alle Welt haben, noch von größter Bedeutung für diese Gesellschaft sein. Deswegen glaube ich, ein Beitrag für den Umgang mit religiöser Selbstbestimmung ist auch dieser Hinweis: Wenn wir von der Kirche reden, dann sollten wir weit denken.
Literatur Brecht, Berthold: Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? In: Ders.: Über experimentelles Theater, Frankfurt a. M. 1970, 158–159. Hermelink, Jan: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011. Krusche, Peter: Der Pfarrer in der Schlüsselrolle. Berufskonflikte im Schnittpunkt religiöser Erwartung und theologischer Normen. In: Matthes, Joachim (Hg.): Erneuerung der Kirche – Stabilität als Chance, Gelnhausen 1975, 161–188. Luther, Martin: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Kommentiert und herausgegeben von Jan Kingreen, Tübingen 2017.
Stefan Paas
Leadership in Mission1 Church Governance in an Age of Change
1. Introduction Leadership is a contested issue in the church. On the one hand, I think it’s fair to say that most missiologists and missionary practitioners – and not just North Americans! – agree that human leadership is crucial for our participation in God’s mission. Back in 1989 Lesslie Newbigin already wrote a (brief) chapter on “Ministerial Leadership for a Missionary Congregation” in his The Gospel in a Pluralist Society.2 Ministers are to “mobilize” the congregation for its mission, by leading it into “the warfare of the kingdom against the powers which usurp the kingship”. They do so, first and foremost, by their personal discipleship – by prayer and daily consecration.3 Even more explicit, to mention just one other example, is the famous report Mission-Shaped Church, which asserts with regard to so-called ‘fresh expressions of church’: “No one practical factor has greater influence than the quality of leadership”.4 Many similar statements from recent studies could be listed here. However, there is also a counter-movement to leadership in the church. Most of this suspicion is inspired, or so do I believe, by the associations of ‘leadership’ with power and domination. Strong men (always men) at the top, telling others what to do, and immunizing themselves against criticism by refering to their supposed “calling” or “vision”. Sadly, this picture of Christian leadership holds some truth. One of the most outspoken defenders of strong vision1 2 3 4
The oral presentation style was maintained in this documentation. The pictures and illustrations in this documentation were part of the presentation. The author holds the rights to these illustrations, unless mentioned otherwise. Lesslie Newbigin 1989. Ibid., 240 f. Church House Publishing 2004, 132.
184
Stefan Paas
ary leadership in the church over the last decades has been Willow Creek’s Bill Hybels. He famously said: “The local church is the hope of the world. And its future rests primarily in the hands of its leaders”. This is, of course, mobilization rhetoric rather than sound theology; thank God that it is not true. Apparently, this culture of strong leadership (focus on efficiency; adopting business models; hiring and firing; visionary “outlining” of the organization at the expense of diversity) has allowed structural sexual harassment, leading to Hybels’ early retirement, and who knows what more. This also highlights a paradox inherent in pleas for strong leadership: by removing checks and balances and thus increasing the executive power of leaders, the church may grow in efficiency, but at the same time it becomes more vulnerable to abuse of power. Also, the increase of efficiency is usually bound up with an increase of homogeneity, rendering the church more vulnerable to rapid changes in the environment of the church. A culturally homogeneous church, outlined by visionary leadership, is indeed able to take decisions with more speed and efficiency, but it also loses the capability to respond to new challenges and new generations. This is why highly successful, visionary churches usually have a shelf-life of no longer than one founding pastor. His or her success is based to a large extent on the ability to cast a strong vision, and to organize the church along the lines of this vision. To the extent that this is successful dissenters are removed from the church (or from its leadership at least), usually by urging them to look for another church. Actually, I have heard Bill Hybels giving this advice to ministers at one of his Leadership Summits: “If somebody does not comply with your vision, kindly ask him to go to another church that fits better with his or her calling”. Such churches become completely geared to one specific cultural and historical situation, rendering them completely helpless when this situation shifts. There you have the fate of many so-called “mega-churches” of the 1980s and 1990s, and the same will happen with the mega-churches of today within ten years from now.
2. Leadership and Ministry Such stories (and we all know similar stories) explain why leadership has a somewhat ambiguous reputation in the church. All the same, leadership cannot be ignored. All things are being led in some way, and churches do not make an exception. I recognize that the vocabulary of “leadership” is somewhat awkward for churches, especially for churches with long and precious traditions of sacred offices (Ämter). I also recognize that the language of “leadership” does not cover what the church usually means with “ministry”. On the other hand,
Leadership in Mission
185
it would be no use to deny that there is a lot in preaching, teaching, and equipping the saints which is described in secular literature in terms of leadership, such as taking initiative, helping people to see things differently, pointing the way, and making sense of reality. I suggest that we consider the field of leadership studies more or less as an ancillary discipline (Hilfswissenschaft), just like psychology in pastoral theology or the art of rhetoric in homiletics. We all know that preaching is more than public speech, but it is certainly no less than that. The same is true for leadership versus ministry: ministry implies leadership, and it is a dysfunctional ministry that denies this. Leadership (initiative, giving direction, etc.) is part of creation, and theologically it is a matter of wisdom to accept this. At the same time, some concepts of leadership are more qualified to be used in theology than others. I think that we must be careful not to identify leadership too much with ‘leaders’ – figures of authority. I prefer Gayle Avery’s definition of leadership as “the factor that provides direction and cohesion to a group”.5 Anything that provides direction and cohesion to a church is relevant to leadership. This includes local history, theological and confessional traditions, symbols, spirituality, culture, and so on. Of course, within the church there are persons who somehow symbolize such factors or are seen by the congregation as representatives of what it is that gives direction and cohesion. They may be people who more than others know how to articulate the culture of this church, or people who are generally seen as the ones to go to if you want to engage with the neighbourhood. Such people we may call ‘leaders’, but we should note that these persons are leaders only insofar they interact creatively with the history, theology, spirituality and context of the church, and are recognized as such by the congregation. Talents play a role, but leadership is not some innate “gift” of a chosen few; it is always something that happens in a rather mysterious process in which God raises some people as leaders – at least for some time. And more often than not these leaders may be informally accepted rather than formally appointed.
3. Building Blocks I have been doing research into missional leadership for quite some years now. Let me make clear, however, that I am not an expert in leadership studies. I approach these issues as a theologian and a missionary practitioner. In this
5
Gayle Avery 2005, 11.
186
Stefan Paas
lecture I will do the same, and I will concentrate on leadership in the context of the congregation. Of course, there is a lot more to Christian and missional leadership than just church ministry. Think of Christian journalists, politicians, artists, and so on. But here I focus on the interaction between ministry (church governance) and leadership. There is no end to leadership studies, so I will not go into all that. Let me just point out two building blocks that I have found particularly helpful throughout the past years. One is a matrix of leadership roles associated with different types of organization, derived from the Competing Values Framework of K.S. Cameron and R.E. Quinn.6 This framework helps me identify the complexity of leadership, and also its paradoxical nature: clearly, different roles must be assumed in different organizations, while organizations (including churches) have the tendency to go through a life-cycle, with different leadership requirements over the years. Thus, this model can help us to identify specific skills that must be learned in leadership, and to develop our own leadership. Basically, this framework rests on the assumption that every organization (and, indeed, every individual) is caught between competing values that cannot be realized at the same time. One set of competing values is the need for flexibility vs. the need for control; the other is the need for internal focus (integration) vs. the need for external focus (and thus differentiation). This results in a matrix with four organization types: (1) the clan (or family), characterized by a focus on integration and flexibility (usually small, informal relations, family business, rural churches dominated by family bonds, etc.); (2) the hierarchy (or bureaucracy), characterized by a focus on integration and control (think of
6
Cf. K.S. Cameron and R.E. Quinn 1999.
Leadership in Mission
187
government offices, or many traditional denominations or mainline churches); (3) the market (or vision-driven organization), characterized by external orientation and control (think of Willow Creek); and (4) the adhocracy, characterized by external focus and flexibility (emerging churches, start-ups in business). Note that organizations often go through different stages: a rather inward- focused family church may become a bureaucracy when it grows larger, whereafter a change of context may challenge the church to become more outward-focused and market-oriented, and so forth. Also, this clearly shows how different leadership skills are needed in different corners of the matrix, in different stages of the church’s life-cycle, and in different dimensions of one church (since larger churches often have different dynamics going on in one community). Important skills in a clan organization are, for example, managing teams, practicing reconciliation, giving feedback, coaching and supervising people, and giving lots of personal attention. Market skills would entail vision-casting, pushing for excellence, and the like. Bureaucracies would require hierarchical skills, such as knowing who is who, and finding the most effective way to get things done, developing clear structures, and installing effective procedures to measure output. Adhocracies, finally, would require entrepreneurial skills such as being extremely flexible and responsive to the context, and having a high tolerance for experiment and failure. An extremely important point to make in this context is that leadership is not a matter of a single leader. There is a huge range of relevant leadership skills, and it is impossible for one person – however gifted – to acquire them all, partly because there are too many, and also because many of these skills are paradoxical, that is, bound up with opposing character traits and life experiences. So, apart from other reasons, this theoretical framework clearly shows that leadership is teamwork. This runs counter to many assumptions in the secular world, but also in the church, especially churches with a strong theology of offices and ministry. This is even more a problem in times of rapid change, like our age, because then the full range of leadership skills is needed, and this is only possible when leadership is located in groups, teams and communities rather than in one minister. Churches which are looking for this one, strong leader to lead them out of Egypt to the promised land of revival and church growth will either fail to find somebody, or they will end up with a narcissist. It is a consistent result of our research in the last years that missional churches value teamwork highly, even if one or two people carry more formal responsibility than others. Of course, there are roles in teams, and one of these roles may be to cut knots when discussions run aground, but that does not mean that this particular person is the ‘leader’, and others are mere ‘followers’. Teamwork stands or falls with mutual trust and respect for each others’ skills and insights, and this can only be developed by working intensely together, and sharing each
188
Stefan Paas
others’ lives. It is not easy to build a good team, but I believe it is crucial to missional leadership in an age of change. Another building block that I like to use in my own work is a more or less generic definition of missionary leadership, developed and explained by Robert Doornenbal in his 2012 PhD-dissertation Crossroads, on emerging churches: Missional leadership refers to the conversational processes of envisioning, cultural and spiritual formation, and structuring within a Christian community that enable individual participants, groups, and the community as a whole to respond to challenging situations and engage in transformative changes that are necessary to become, or remain, oriented to God’s mission in the local context.7
Without going into detail: this definition stresses conversation as the central leadership process of leadership (again, assuming team-work), and this conversation must lead to vision-casting, formation, and structuring. Also, the definition emphasizes “transformative changes”. I think this definition aptly summarizes what is being written about missional leadership in contemporary literature. Much of this has to do with so-called ‘entrepreneurship’, so let me say a bit more about that.
4. Entrepreneurship In secular leadership literature entrepreneurship is usually linked with characteristics like risk-taking, resourcefulness, and innovation. Often it is also associated with somewhat heroic or romantic connotations. An entrepreneur reflects a kind of person willing to put his or her career and financial security on the line and take risks in the name of an idea, spending much time as well as capital on an uncertain future. Entrepreneurs are pioneers, innovators, leaders and inventors. They are at the forefront of technological and social movements. While entrepreneurs need political power to facilitate their efforts, their change-procedure is not based on coercion or obligation, but on creativity, innovation, and inspiration. This enables enterprises to be highly motivating, challenging, and resourceful on the one hand, while vulnerable for disappointment and exhaustion on the other. I think there are good reasons to look into entrepreneurship as one of the keys to develop missional leadership in an age of change. Here I resonate with
7
Robert Doornenbal 2012, 357.
Leadership in Mission
189
much of what is written by Alan Roxburgh, Patrick Keifert, Dwight Zscheile, and Michael Moynagh. One of the elements in their analysis of our culture is its indeterminacy. We know that we are entering a post-Christendom age, in some countries more so than in others. This means that church and state are increasingly separated, and that the church is forced to compete on a religious “market” with other churches and other religious organizations. Post-Christendom is a narrative that revolves around the loss of power, predictability, and growing plurality of life-options. In terms of leadership this means that churches can no longer expect that people will come anyway, and that they will respect the message of the church. In other words, churches will have to go out and find them, listen carefully, and do their best to establish contacts with new groups and generations. This is a typical context for entrepreneurship and pioneering. This context is characterized by a growing awareness that things have changed, that our mental and theological maps do no longer reflect reality as we once knew it, but at the same time that we have not yet found a new way to do church and mission. Alan Roxburgh talks about “liminality” in this context.8 Liminality (from Latin limen – “boundary”) refers to a situation where we are stuck, as it were; it is a situation of unclarity and uncertainty. Take, for example, a hedgehog that encounters cars for the first time in its life. All of a sudden its infallible defence against predators (rolling up and outwaiting the danger) begins to work against him. More or less in the same way churches find out that their very best routines and skills have become their worst overnight. Clearly, this is not a time to rely on established habits (because they have always worked so well), but to go and try new things. Perhaps, those hedgehogs who were never good at rolling up in the first place, will take the lead here. Liminal space is often a space where those who were marginalized for all sorts of reasons come forward, and begin to symbolize the new factors that give direction and cohesion to the group. As this is an age where predictability and control are crumbling away, entrepreneurship seems to be the way forward. Our own research at Vrije Universiteit Amsterdam seems to confirm this. For example, in his study of church planters and ‘regular’ pastors in a number of smaller Reformed denominations in the Netherlands, my student Alrik Vos found interesting and significant differences in self-identification between these two groups of pastors.9 I think the picture speaks for itself: church planters predominantly identify themselves as entrepreneurs, while ‘regular’ pastors identify themselves mostly as teachers. This is even more significant given the fact that all these pastors came from
8 9
Cf. Alan Roxburgh 1997. Cf. Alrik Vos 2012.
190
Stefan Paas
the same denominations and similar theological backgrounds (Unfortunately, I only have the picture in Dutch, but ‘Ondernemer’ means ‘entrepreneur’ and ‘docent’ means ‘teacher’.) This self-identification was confirmed by further study into self-perception, perception of the environment, active involvement in evangelism, and resource perception. I simply list the data here for you to browse, and summarize the most important conclusions. In terms of self-perception, church planters consider themselves far more than ‘older’ pastors as evangelists and missional coaches of their congregations. When it comes to perception of their environment, it is striking to see that the church planters on the one hand have a far more pessimistic view of the actual missional situation in the Netherlands, while on the other hand they have a far more optimistic view of the missional opportunities that arise from it. Finally, church planters are more convinced that their congregations want them to do mission, and that they will support them when they do so.
191
Leadership in Mission
A. Perception of self How many hours per week do you spend in coaching members so that they can reach out to non-churched people? 0–2
Leaders of older churches
Church planters
84.5 %
42.8 %
3–4
9.5 %
21.4 %
5 or more
3.1 %
35.7 %
Leaders of older churches
Church planters
1–4 (out of 7)
20.8 %
0 %
5–7
79.2 %
100 %
Leaders of older churches
Church planters
1–4 (out of 7)
57.1 %
11.2 %
5–7
42.9 %
88.8 %
I feel called (by God) to reach non-churched people
People expect me to reach non-churched people
Congruous with their self-perception as entrepreneurs, leaders of younger churches usually have a more specific perception of their context than leaders of older churches. In other words, they seem more market-oriented. B. Perception of Environment Leaders of older churches
Church planters
Centripetal (attractional) view of mission
39.1 %
7.1 %
Centrifugal (incarnational) view of mission
60.9 %
92.9 %
An ‘incarnational’ view of mission means an active, outgoing approach in a competitive environment, while an ‘attractional’ view puts more emphasis on the passive, ‘welcoming’ attitude of the church in a more or less sympathetic environment. Also, church planters are clearly more convinced that the so-called ‘Great Commission’ (the task Jesus gave to his disciples according to Mt 28:16–20) is the most important task for the church today.
192
Stefan Paas
Great commission is the most important task of the church
Leaders of older churches
Church planters
Yes
46.2 %
71.1 %
No
53 %
29.6 %
Leaders of older churches
Church planters
0–2
20 %
0 %
3–4
42.5 %
35.7 %
5 or more
37.5 %
64.3 %
Leaders of older churches
Church planters
Sad
38.7 %
56.3 %
Neutral
55.2 %
25 %
Happy
6.1 %
18.8 %
Leaders of older churches
Church planters
21.4 %
0 %
How many topics can you mention that are important for non-churched people in your neighbourhood?
How would you consider the current missionary situation of the church in the Netherlands?
What is your own emotional mood when you think of the missionary opportunities for the church in the Netherlands? Sad Neutral Happy
35 %
6.3 %
43.6 %
93.8 %
As mentioned above, church planters seem to have a slightly more sombre view of the current missionary situation in the Netherlands, while they are much more optimistic about the missionary opportunities that arise from this situation. Again, this indicates an entrepreneurial profile. Finally, church planters are much more convinced than other church leaders that their own organizations support them strongly in their desire to reach people who do not belong to the church yet. Moreover, they have a much higher opinion of the spiritual quality and the attractiveness of their churches. In short, it seems that church planters have a high view of the resources that are available to fulfil their task.
193
Leadership in Mission
C. Resource Perception Our congregation desires to grow through people who become Christians
Leaders of older churches
Church planters
Strong
27.6 %
86.7 %
Somewhat/a bit
72.4 %
13.3 %
Leaders of older churches
Church planters
5–7 (out of 7)
50.9 %
83.3
1–4 (out of 7)
49.1 %
People in our church are highly expectant of what God will do in the life of a new member
16.7 (only 4, no 1–3)
A new convert in our church will clearly notice that God renews the lives of people
Leaders of older churches
Church planters
5–7 (out of 7)
55.2 %
90 %
1–4 (out of 7)
44.7 %
11.1 % (only 4, no 1–3)
In our church there is a strong expectation that non-churched people will come to the faith this year
Leaders of older churches
Church planters
5–7 (out of 7)
21.1 %
94.5 %
1–4 (out of 7)
78.9 %
5.6 %
Leaders of older churches
Church planters
Regularly/often/always
34.3 %
80 %
Never/seldom/sometimes
65.7 %
20 %
Leaders of older churches
Church planters
In our church the members invite non-churched people for activities and meetings
Our church actively enters its context in order to meet non-churched people wherever they are Never/sometimes
73.6 %
6.3 %
Regularly/often/always
26.3 %
93.7 %
194
Stefan Paas
Our church is flexible with regard to changes
Leaders of older churches
Church planters
1–4 (out of 7)
45.6 %
5.6 %
5–7
54.4 %
94.4 %
Leaders of older churches
Church planters
Reasonably/very
73.6 %
94.8 %
Not/hardly/a bit
23.3 %
0 %
3.1 %
5.2 %
Our members are proud of their church
I don’t know
That there are important differences between various groups of pastors is also demonstrated by our study of psychological traits among hundreds of church planters (missionary pioneers) and ‘regular’ pastors (i. e., pastors in churches older than 10 years) in Europe.10 Here we have used the so-called Big Five model of personality traits: 43 self-scored items distributed over five clusters, each representing a personality dimension. The model is often used in leadership and entrepreneurial studies, indicating that entrepreneurs (compared with managers) have usually higher scores on openness, conscientiousness and extraversion, and lower scores on agreeableness and neuroticism. Our research confirms this with regard to church planters and ‘regular’ pastors, with the exception of agreeableness: no significant differences here. Without going into this now, there are also age and gender differences: church planters are generally younger (avg. age: 41) and more predominantly male than ‘regular’ pastors (avg. age: 48). Dimension
Group
N
Mean
SD
SE
Openness
Church planter Regular pastor
215 307
3,94 3,62
0.48 0.56
0.03 0.03
Conscientiousness
Church planter Regular pastor
215 307
3,84 3,55
0.63 0.56
0.04 0.03
Extraversion
Church planter Regular pastor
215 307
3,61 3,41
0.78 0.60
0.05 0.03
10 Cf. Annemarie Foppen, Stefan Paas and Joke van Saane 2017.
195
Leadership in Mission
Dimension
Group
N
Mean
SD
SE
Agreeableness
Church planter Regular pastor
215 307
3,97 3,93
0.60 0.39
0.04 0.02
Neuroticism
Church planter Regular pastor
215 307
2,39 2,53
0.73 0.55
0.05 0.03
Big Five scores (church planters, regular pastors)
5. Sense-Making and Experimentation How does this missional entrepreneurship work in practice? Let me here focus on what I see as the most important aspect of leadership in an age of change, what Michael Moynagh calls “sense-making”.11 Enabling Christians to remain or become participants in God’s mission has everything to do with helping them to find their place in a larger narrative where God and context are thought together. In a liminal age, characterized by insecurity, Christians need to find a story that tells them who they are, and what they can believe in for the future. Or more concretely, in contexts of deep secularization (such as Eastern Germany) we have to ask the question: “What does God have to do with this?”. A question like this will force us to dig deep into our resources, and to renew our view of what Christian faith is about. Currently I am working on a book, a missional ecclesiology for small Christian communities in a very secular context (Pilgrims and Priests). What does it mean to do mission in such an environment? I believe the stories of exile and diaspora in the Bible can help us here to find our bearings. The destruction of God’s promises, the temple, religious institutions, and the royal dynasty – in short, everything Israel hoped for and relied on, brought about a profound reflection (together with a lot of grief and despair) about God’s plan in all of this. Israel discovered that God was there, after all, in their exile. Even more, he was there in new ways, as the God of all the earth, the God who raises very unlikely servants, such as the pagan king Cyrus, to rescue his people. And perhaps, Israel had to lose all its institutions and its religious culture, it had to leave behind the “God of the fathers” in order to find the “God of all creation”, the “God of the nations” and the ends of the earth. And it was this that allowed them to make sense of what had happened to them, and thus to survive and flourish and to renew its mission to the nations.
11 Cf. Michael Moynagh 2017.
196
Stefan Paas
Perhaps we need a new language to do so. For a long time in the modern missionary movement the language of the military was extremely popular. “Armies” of missionaries were “recruited and trained and sent out” to “conquer” and “crusade” and “occupy” foreign “territories”. Mission organizations were automatically referred to as “headquarters”, with big maps of the world on their walls, covered with pins and flags. Somewhere in the last century this language was replaced by the language of business: the vocabulary of strategy, budgets, planning, vision-casting, and outlining organizations. But language is not innocent; it creates its own reality. If we talk about mission as if it were a war, we tend to construct other people as opponents or enemies, who must be conquered or saved from the clutches of demonic powers. We tend to dehumanize them, and we will have great difficulty to see them as the “people of peace” that Jesus talks about. The same is true with the language of business: evangelism becomes marketing, people become consumers or customers, mission becomes church growth or membership recruitment. All this goes together with theological constructions about the relationship between church and kingdom. Easily the church becomes the instrument of the kingdom, the means selected by God to change the world. Mission is about “growing” the church, becoming bigger and more visible; it is about “transforming” society (returning to the Christendom dream). And missional leadership is all about analyzing society, identifying opportunities, casting vision, and developing strategies with clear outcomes. But what if we adopted a new language, reflecting a much more modest relationship between church and kingdom. What if the church is more like a “witness”, a “sign”, or perhaps (once in a while) a “foretaste” of the kingdom? What if we approached mission not in military or business terms but, for example, in terms of art production? Creating art has little to do with success or growth or output; a beautiful painting or a musical composition may not change the world. But it does give something to think about; it creates a longing for a different kingdom. While “instrumental” language reflects God’s power (which all too easily becomes identified with our power), the language of art reflects God’s beauty and mystery. And this may be what small Christian communities need in an age of diaspora: an approach of mission that helps them to see that it is good in itself – a work of beauty – to serve the poor and to evangelize, regardless of what it produces in terms of church growth and societal change. Anyway, this – the conviction to be part of a greater story – is what we have found to be the single most important source of resilience for missionary pioneers in the secularized parts of Europe.12 Sense-making is what it is all about.
12 Cf. Stefan Paas and Marry Schoemaker-Kooy 2018.
Leadership in Mission
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This sense-making in terms of a larger narrative of what God is out to do in the secularization of our cultures, also forms the background of all sorts of leadership practices in the church. Here Moynagh is helpful again. He explains that in entrepreneurial theory there are two approaches of how entrepreneurs find opportunities. One approach is about “causation”: clearly define objectives, search out the means, and ‘cause’ the objectives to happen. Causation focuses on longterm plans, analyzing the market, identifying competitors, developing strategies to compete. It is bound up with the idea that opportunities for mission are “out there” to be discovered and analyzed by smart people with the right tools. It also betrays a certain amount of determinism, as it assumes that our opportunities are shaped by the outside world. This lines up well with the traditional approach of churches of their environment in the age of secularization. For decades, churches have appointed sociologists, for example, to help them understand the times, and possibly to get a grip on the developments. This has also created or reinforced a mind-set of fatalism; secularization is “out there” and it will go on regardless of what we do. We must adapt to what cannot be avoided. So, “causation” does not seem very promising when it comes to mission in a secular culture. However, there is another approach, and that is the “creation view”: opportunities are actively construed by organizational participants and their ‘mental models’. The environment is not something that is taken as a given, but instead is ‘enacted’ by entrepreneurs. Opportunities are thus seen as social constructions formed through the entrepreneurs’ perceptions and effectuated through the interactions between the entrepreneurs and their environments. An opportunity is “an ‘image’ in the entrepreneur’s mind”.13 Moynagh calls this approach “effectuation” (as opposed to “causation”).14 It assumes that reality is shaped by us, and it thus uses short-term experiments to identify opportunities within an unpredictable future. Here we proceed experimentally, we form strategic partnerships to reduce uncertainty and to minimize the cost of experimenting. Rather than focussing on objectives, and a future that we can predict, we focus on what we have got, and on the small steps we can control (experiments). The key dynamic is: make it a learning experience, focus on reflection on practices. I believe this fits much better into the reality that we know. After all, even secularization is not a law of nature. It is not like gravity. Essentially, it is the product of millions of decisions by millions of people. So, why should human decisions taken in faith not be able to influence the course of secularization, even if just a little? A good friend of mine is an evangelist in the Dutch city of Rotterdam. He always tells me: “Stefan, the fields are white for harvest. People in this city are so
13 Edith Penrose 1995, 42. 14 Michael Moynagh 2017, 60–63.
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Stefan Paas
hungry for the gospel. We need more workers!”. I am an academic, so I say to him: “White for harvest? Hungry? That is not what the best studies tell us. On the contrary, secularization is continuing, and there is no reliable statistic that indicates that people are becoming more interested in the gospel”. But then again, he tells me that he meets these people, every day. And I believe him, because he is a gifted evangelist, a nice person, and a good listener. Out there on the streets we don’t meet statistics; we meet people. And in these encounters what we believe and how we are matters; we are creating statistics right on the spot. Reality is constantly in flux, and by our interventions we help shaping it. Therefore, it is so important for leadership to invest in sense-making, retelling stories of God and the world, and experimenting with evangelism and other forms of mission.
References Avery, Gayle C.: Understanding Leadership. Paradigms and Cases, London 2. Aufl. 2005. Cameron, Kim S. and Quinn, Robert E.: Diagnosing and Changing Organizational Culture. Based on the Competing Values Framework, San Francisco 1999. Church House Publishing: Mission-Shaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context, London 5. Aufl. 2004 [Auf Deutsch erschienen als Herbst, Michael (Hg.): Mission bringt Gemeinde in Form. Gemeindepflanzungen und neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in einem sich wandelnden Kontext, Neukirchen-Vluyn 2006 (BEG Praxis)]. Doornenbal, Robert: Crossroads. An Exploration of the Emerging-Missional Conversation with a Special Focus on ‘Missional Leadership’ and Its Challenges for Theological Education, Delft 2012. Foppen, Annemarie; Paas, Stefan and van Saane, Joke: Personality Traits of Church Planters in Europe. In: JET 30 (2017), 25–40. Moynagh, Michael: Church in Life. Innovation, Mission and Ecclesiology, London 2017. Newbigin, Lesslie: The Gospel in a Pluralist Society, Grand Rapids 1989 [Auf Deutsch erschienen: Newbigin, Lesslie: Das Evangelium in einer pluralistischen Gesellschaft, hg. v. Stahl, Benjamin, Neukirchen-Vluyn 2017 (BEG Praxis)]. Paas, Stefan; Schoemaker-Kooy, Marry: Resilience and Crisis among European Church Planters. In: Mission Studies 35 (2018), 366–388. Penrose, Edith T.: The Theory of the Growth of the Firm, Oxford 3. Aufl. 1995. Roxburgh, Alan, J.: The Missionary Congregation, Leadership and Liminality, Harrisburg 1997. Vos, Alrik: Hoop. Een onderzoek naar de missionaire effectiviteit van kerkplantingen binnen de NGK, CGK en GKV in Nederland, [unveröffentlichte Masterarbeit], Amsterdam 2012.
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Stefan Paas
Sarah Dunlop
‘Sense-Making’ Leadership in a Post-Christendom Church Response to Stefan Paas
This chapter from Stefan Paas contains arguments that are crucial to our thinking about the future of the church. We need his new ideas about leadership in our current situation. His call to ‘sense-making’, retelling the stories of God and experimentation rings true and inspires us. At the beginning of his chapter, Paas refers to Newbigin’s paper, ‘Ministerial Leadership for a Missionary Congregation’ in which it is argued that the role of church leaders is to mobilize the congregation for mission. In my research, I have been studying the theological motivations of church members to serve within their churches and communities. I found that in most of the large churches we studied in London, social engagement was a central aspect of the church’s mission. I asked church leaders how they mobilised people for doing this, and they spoke about giving sermons, teaching, workshops, testimonies, Bible studies and book recommendations. However, when I spoke to church members about why they serve and what factors contributed to their volunteering, they told stories about encounters with God. They had met God, and this relationship had transformed them. They now looked at other people in their communities differently, like brothers and sisters who also could be transformed by the love of God. They told me that they serve primarily, because they love people. An encounter with the love of God has changed them and now they are ready to change the world. So, what does this tell us about church leadership? In fact, very few people mentioned sermons, teaching, workshops or books as motivators. Although these activities may have created an environment for encounters with God, these were not the main motivating factors. Instead, it was the personal experience of the love of God that drew people into missional activities. So, based on this study, I would argue that the main task of the missional leader is to facilitate encounters with the living, missional God who is already on a mission.
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Sarah Dunlop
Furthermore, it is worth emphasizing that we need a variety of missional leadership styles. Paas is right to be suspicious of the narcissistic, visionary leader. He warns that leadership is not a matter of a single super leader: Churches which are looking for this one, strong leader to lead them out of Egypt to the promised land of revival and church growth will either fail to find somebody, or they will end up with a narcissist.
Let us take a closer look at this example of the Exodus, inspired by Michael Volland’s book about the missional leader as entrepreneur.1 He reflects on how leadership worked in practice to rescue and transport the people of Israel out of Egypt. Moses was the visionary leader who led thousands (a mega-people!) out of Egypt. But he also had Aaron to help him administrate and organise this massive undertaking. He had his sister Miriam who helped to keep him grounded in reality. And then it was Joshua, the entrepreneur, who led them into the promised land to set up a new life in a new place. Therefore, we need all three types of leadership through the various eras of the church, the variety of contexts around the world and the different stages in the life and growth of an individual congregation. This means that when people are exploring a possible vocation to ministry, they should be evaluated by this expanded vision of leadership. Not all leaders have to be entrepreneurs (or as we say in the UK ‘Pioneers’), they must just appreciate and value those who do have this gift. As Paas says, teamwork is crucial. Paas helpfully highlights the variety of leadership styles needed in our current challenging context by using the matrix of leadership roles. Indeed, this model demonstrates that in training future church leaders we do not aim to create ‘cut out’ monochrome leaders, but people who are able to adapt as their situations and church contexts change around them. The skill is in recognising the sort of leadership that might be needed at a given time and in a certain place. However, Paas emphasises entrepreneurship as a characteristic needed for missional church leaders. Although I understand his good reasons for this, I resist the corporate nature of this word, just as I resist borrowing from other aspects of our consumer driven culture in a quest to prove that church is relevant. In Paas’ analysis of his student’s data, pastors who are aware of the needs within their local congregation and context are called ‘market-oriented’. There is a danger that we can become caught up in seeing the world as one big market place, and we are selling our wares of Christianity. The relationships with people
1
Cf. Michael Volland 2015.
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in our ministries become systems for generating social capital. Let us not get caught up in leadership notions from the corporate world that cloud the issues. Instead, I feel more comfortable digging deep into the resources of our faith to frame our conceptions of leadership. In reference to John 12:24 I want to ask church leaders: Are we willing to ‘die’? This is not only about making personal sacrifices for the sake of the gospel. Are we willing to sacrifice the institution of the church? Christendom has passed, and we should stop wasting energy trying to maintain that which has been irrevocably lost. Often Bishops and church overseers in other denominations do not get to their positions of leadership without being people who work hard to maintain the status quo. But we need leaders who have a Christian imagination and a willingness to chart a whole new world post-Christendom. In my experience of training students for ministry in the Church of England I have found that it is easy to convince them that in our current situation, mission is crucially important. And they are usually open to seeing that starting and planting contextually responsive (mission-shaped) ecclesial communities is an excellent strategy. But they get stuck on the question of whether this activity is really a church. This is why at times there seems to be panic over emerging forms of church: “Will my bishop think I am doing my job if I invest in this? What if it never becomes ‘proper church’ – have I failed? I thought I signed up to lead traditional churches – but this new territory seems so undefined that I’m not sure how to even know whether it is church.” Church planting and new ecclesial communities are uncomfortable, untamed animals. Nurturing them takes us into unfamiliar territory. Many churches can be threatened by questions of whether a Christian missional community might be a church. For example, one of my students studied an independent charismatic church which held Alpha courses for people coming out of prison. This developed into a weekly, Monday evening Bible study with a meal. It has gathered an increasing number of people, as word spread. The founding church provides occasional but intermittent leadership via a rota system. Church leadership, when asked whether this group could be considered a church, categorically states that it is not, and that the aim is for people to eventually come to ‘proper’ church on Sundays. However, the educated, middle class, student dominated services feel like a foreign country according to attenders of the Monday night group. For them, their Christian community, their church, happens Monday nights as they eat together, hear a short talk, discuss a Bible passage, and sing a song. Why does the sponsoring church resist seeing this ‘ministry’ as church? Perhaps it has to do with resource. If they call it a church they will have to pay for a minister. Maybe it has to meet on Sundays instead. They will have to put in place governance structures and become a charity. They may not feel they have
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Sarah Dunlop
the capacity and resources to pastor and disciple the members. They argue that since it has the vision, roots and oversight from the main church, that it is and should remain a ‘specialist mission’. I wonder whether there could be a measure of class snobbery lurking beneath the surface? My student decided to side with the group members, and call this Monday night group a church, mostly because the people within it considered it to be a church and it was their main site of worship and discipleship. As Stefan Paas says: “If ecclesiology cannot do justice to the real, living church, it does not describe the church at all.”2 In conclusion, it seems to me that we who are leaders must lose our sense of self-importance. This is God’s mission. And he calls all people to join in his mission. Leadership is about equipping and envisioning others to respond to God. In the UK we have a new initiative, ‘Setting God’s People Free’, in which the Church of England outlines the importance of lay people for leading in ministry, mission and discipleship. As Christendom has died, we should face that the busy, over-worked and self-important clergy person, who does all the mission and ministry, needs to change. But of course, this is not to say that leadership does not have a crucial role to play in the post-Christendom place in which we find ourselves, as Paas has so clearly laid out. We find that attractional church is no longer attractive, and so we must imagine again what kinds of communities God is calling us to be. Like a GPS from twenty years ago that doesn’t update, we must throw it away and venture out together, guided by God: our Father, Jesus Christ and the Holy Spirit.
References Paas, Stefan: Church Planting in the Secular West. Learning from the European Experience, Grand Rapids 2016. Volland, Michael: Minister as Entrepreneur: Leading and Growing the Church in an Age of Rapid Change, London 2015.
2
Stefan Paas 2016, 210.
Steffen Fleßa
Change Management und Innovation Beharrung, Krisen und Chancen in Unternehmen und Kirchen
Change Management und Innovation sind geflügelte Worte, die in Vorträgen und Publikationen häufig verwendet werden. Selbstverständlich muss die Automobilindustrie innovativ sein, um auf Weltmärkten bestehen zu können. Die zahlreichen Veränderungen erfordern dabei auch ein Change der Belegschaft, was durch Change Management und eine großen Zahl von Beratern und Supervisoren erreicht werden soll. Unternehmen müssen innovativ sein – aber Kirchen? Sollen sie nicht lieber der Ort der Bewahrung des Guten und Erreichten sein? Sollen sie sich verändern? Müssen sie sich verändern oder ist diese Veränderung nicht der Verrat an der eigenen Berufung? Im folgenden Artikel soll dargelegt werden, dass Veränderung und Innovation in einem dynamischen, offenen System ohne Alternative sind, weil Beharrung zu Zerfall führt. Innovation ist dabei die Antwort auf den Veränderungsdruck und eine Führungsaufgabe. Innovation entsteht nicht zufällig, sondern ist geplant und die Überwindung der Innovationsbarrieren muss systematisch angegangen werden. Auch Kirchen sollten deshalb innovativ sein, oder sie werden sich in wenige und sehr kleine Nischen zurückziehen müssen. Die Grundaussage ist dabei, dass in der Veränderung die ursprüngliche Funktion und Aufgabe bleibt, sich jedoch die Form, mit der die Aufgabe erfüllt wird, wandelt. In diesem Sinne müssen auch Kirchen darüber nachdenken, wie sie ihre eigene Sendung (Mission) erhalten können, jedoch die Form ihrer Auftragserfüllung zeitgerecht anpassen.
Einführung Innovation ist der Schlüssel zur Nachhaltigkeit bzw. Überlebensfähigkeit von Organisationen. Dies soll anhand eines einfachen Beispiels dargestellt werden: der Rechenschieber. Der Rechenschieber ist eine Rechenhilfe, die bei ihrer Erfindung im 17. Jahrhundert eine großartige Innovation darstellte. Mit Hilfe
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Steffen Fleßa
von logarithmischen Skalen können komplexe Multiplikationen und Divisionen auf einfache Additionen und Subtraktionen zurückgeführt werden, sodass schnell ein hoher Bedarf, insbesondere der jungen, industrialisierenden Länder, entstand. 1892 wurde der erste Rechenschieber der Fa. Faber-Castell auf dem Markt eingeführt, der bereits nach wenigen Jahren eine hohe Marktpräsenz zeigte. Umsatz und Marktanteil gingen steil nach oben, für längere Zeit war Faber-Castell der Weltmarktführer für Rechenschieber. Im Jahr 1972 wurde der erste elektronische Taschenrechner (HP–35) auf den Markt gebracht, was zuerst von Faber-Castell ignoriert wurde. Erst als die Nachfrage nach Rechenschiebern stark zurückging, begann man über das Konkurrenzprodukt nachzudenken. Tatsächlich hätte Faber-Castell damals wohl noch in den Markt für Taschenrechner einsteigen können, man entschied sich jedoch stattdessen dafür, den Rechenschieber zu optimieren und insbesondere äußerlich schöner zu machen. Dies führte tatsächlich zu einem kurzfristigen Anstieg der Verkaufszahlen, spätestens jedoch mit der Abschaffung des Rechenschiebers in Schulen (in Westdeutschland 1978) verfiel der Markt vollends bis er letztlich sein Dasein in Museen oder als Spielzeug fristen durfte. Der Fehler der Unternehmenspolitik von Faber-Castell ist typisch für den Umgang mit Veränderungen. Eine Innovation der Vergangenheit wird in die Zukunft fortgeschrieben, wobei man übersieht, dass Menschen kein Interesse an einem Rechenschieber per se, sondern an einer Rechenhilfe haben. Der Rechenschieber ist nur das Instrument, d. h. die äußere Form des Bedürfnisses nach einer Rechenhilfe. Bietet sich eine bessere Form, wird zwar das Bedürfnis beibehalten, jedoch durch das neue Produkt befriedigt. Es ist deshalb sinnvoll, zwischen Funktionale und Formale zu unterscheiden. Die Funktionale entspricht der eigentlichen Aufgabe (Rechenhilfe). Die Formale hingegen ist eine konkrete Form und Struktur, wie die Aufgabe umgesetzt werden kann. Die primäre Funktion von Organisationen (von der Landwirtschaft über die Automobilindustrie bis hin zu Krankenhäusern) ist die Befriedigung einer spezifischen Nachfrage, die sich aus dem Bedürfnis nach einer konkreten Funktion ergibt. Hierzu ist es sinnvoll, die Entwicklung der Nachfrage aus dem objektiven Mangel genauer zu betrachten. Wie Abb. 1 zeigt, steht am Anfang einer Nachfrageentwicklung stets ein objektiver Mangel, z. B. Hunger, Durst, Einsamkeit o. ä. Dieser Mangel wird zu einem Mangelerlebnis, wenn das Individuum subjektiv den Mangel wahrnimmt und das Streben entwickelt, den Mangel zu beseitigen. Aus dem Bedürfnis wird ein Bedarf, wenn das Bedürfnis auf ein konkretes Gut projiziert wird und somit der Wunsch nach konkreten Gütern zur Bedürfnisbefriedigung entsteht. Aus dem Bedarf wird schließlich die Nachfrage, wenn bestimmte Filter überwunden werden, insbesondere wenn genug Kaufkraft vorhanden ist (Kaufkraftfilter), der Ort der Bedürfnisbefriedigung nicht zu weit entfernt ist (Distanzfilter), die Qualität ausreichend ist (Quali-
Change Management und Innovation
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tätsfilter) und das Gut eine ausreichende Priorität im Verhältnis zu anderen Gütern hat (Prioritätsfilter). Tatsächlich verändern sich objektiver Mangel und Bedürfnis wenig. So ist beispielsweise das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme im Europa des Jahres 2018 ziemlich identisch mit dem Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme in China im Jahr 1000. Das konkrete Gut, mit dem diese Nahrungsaufnahme verbunden wird, unterscheidet sich erheblich. Der mittelalterliche Chinese hätte sicherlich an nichts anderes denken können als an eine Schale Reis, während der Europäer des 21. Jahrhunderts vielleicht einen Hamburger wünscht, um sein Bedürfnis zu stillen, d. h., objektiver Mangel und Bedürfnis bleiben konstant, während der Bedarf sich mit Zeit und Raum wandelt. Trifft dieser veränderte Bedarf auf eine konstante Problemlösung (Gut) so ist ein Funktionsdefekt unvermeidbar. Der Wandel führt zwar nicht zu einer Veränderung des Bedürfnisses, aber des Bedarfes, der sich ein anderes Angebot suchen wird, wenn das bestehende Angebot sich nicht wandelt. Damit ist deutlich, dass die Formale lediglich eine konkrete Form und Struktur ist, wie eine Aufgabe umgesetzt wird. In Krisen von Organisationen und Unternehmen bleibt die Funktion meist erhalten, die Formale wird jedoch massiv in Frage gestellt.
OBJEKTIVER MANGEL
BEDÜRFNIS
BEDARF
NACHFRAGE Abb. 1: Ökonomisches Rahmenmodell (Steffen Fleßa und Wolfgang Greiner 2013)
Am Beispiel des Rechenschiebers lässt sich der Umgang mit Krisen verdeutlicht. Der Umsatzrückgang ab dem Jahr 1972 wurde tatsächlich als Krise wahrgenommen und eine Suche nach Verbesserungen eingeleitet. Wahrscheinlich (was sich heute aber nicht mehr nachweisen lässt) gab es damals durchaus die Überlegung, in den Taschenrechnermarkt einzusteigen. Das typische Argu-
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Steffen Fleßa
ment, wenn ein Unternehmen sein altes Produkt aufgeben und in ein völlig neues Produkt investieren soll, ist jedoch: „Das haben wir noch nie gemacht“. Darüber hinaus impliziert eine komplette Produktumstellung natürlich erhebliche Investitionskosten. Die Folge war ab 1973 die angedeutete Abwehrhaltung mit der Entwicklung des „Edelschiebers“, die jedoch das Problem nicht löste, sondern 1978 den Kollaps herbeiführte. Mit einer Verzögerung von 5 Jahren implizierte dies nicht nur die Insolvenz eines wichtigen Teils von Faber-Castell, sondern auch die Unfähigkeit, auf den dann bereits etablierten Taschenrechnermarkt einzudringen. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, wie Organisationen scheinbar irrational mit Veränderungsdruck umgehen. Ein gut dokumentiertes Beispiel ist das Ende der Wikinger auf Grönland.1 Während um das Jahr 1100 in Europa ein sehr gemäßigtes Klima vorherrschte und die skandinavischen Wikinger in den fast abgetauten Bereichen Grönlands siedeln konnten, führte die zunehmende Abkühlung ab dem späten 13. Jahrhundert zu einem stetigen Verlust der Lebensgrundlage in diesem nördlichsten Siedlungsgebiet. Tatsächlich hätten die Wikinger ihre Siedlung in Grönland längst aufgeben müssen, sie entschieden sich jedoch dafür, bis ans Ende zu beharren, wobei die immer länger werdenden Winter letztendlich zum Hungertod der Bevölkerung führten. Eine freiwillige Anpassung an die veränderte Formale (hier die Klimabedingungen) hätte das Überleben der Bevölkerung gesichert. Man entschied sich de facto jedoch dafür, lieber aufrecht in den Tod zu gehen, als eine Veränderung durchzuführen. Die Beispiele des Rechenschiebers und der Wikinger sind typisch für den Umgang von Organisationen mit Krisen. Krisen erschüttern selten die grundlegenden Bedürfnisse von Menschen, d. h., die Funktionale bleibt erhalten. Die Formale bzw. die Strukturen überholen sich jedoch regelmäßig. Dieser Wandelt hat immer dann, wenn Menschen eine Wahlmöglichkeit für ihre Bedürfnisbefriedigung haben, gravierende Folgen. Bietet eine Organisation nicht die Leistung an, die die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt, suchen die Abnehmer der Leistung die Alternative: sie gehen zu anderen Anbietern. Ihre Bedürfnisse sind noch gegeben, nur das Gut, auf das sie ihre Bedürfnisse projizieren, ändert sich. Damit ist deutlich, dass Stillstand immer Rückschritt und meistens sogar die Selbstauflösung impliziert. Wer nicht innovativ ist, geht unter. Innovation ist der Schlüssel für das Überleben und die Nachhaltigkeit von Organisationen.2
1 2
Vgl. Jared Diamond 2014. Vgl. Thomas Reichart 2008.
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Innovationstheorie Die Wissenschaft, die sich mit der Entwicklung und Diffusion von Innovationen beschäftigt, ist die Innovationstheorie.3 Hierbei muss zwischen der eigentlichen Invention, d. h. der Erfindung von etwas Neuem (Idee, Substanz, Organisation), und der Innovation, d. h. der Annahme des Neuen als Problemlösung von einer größeren Zahl von Adoptoren, unterschieden werden. Die grundlegenden Fragen, die die Innovationstheorie zu bearbeiten hat, sind: Ȥ Warum brauchen wir Innovationen und warum besonders heute? Die Antwort darauf gibt die Theorie dissipativer Systeme. Ȥ Was induziert Invention und Innovation? Die Antwort darauf gibt die Krisentheorie. Ȥ Wie verlaufen die Innovationsprozesse? Die Adoptionstheorie, als Teilbereich der Innovationstheorie, adressiert diese Fragestellung. Die Theorie dissipativer Systeme4 geht davon aus, dass sich ein stabiles System in einem alten Gleichgewicht befindet (vgl. Abb. 2). Dieses alte, synchrone Regime wird durch eine externe Perturbation gestört und gerät in Schwingungen. Es entsteht also eine Phase eines diachronischen Systemregimes, wobei ab einem bestimmten Punkt klar ist, dass das alte Gleichgewicht nicht mehr erreicht wer-
Abb. 2: Transformation eines Systemregimes (Wigand Ritter 2001) 3 4
Vgl. Matthias Leder 1989, Everett Rogers 1995, Alexander Gerybadze 2004, Jürgen Hauschildt und Sören Salomo 2011, Marcus Disselkamp 2012, Oliver Gassmann und Philipp Sutter 2013. Vgl. Erich Jantsch 1982, Ilya Prigogine 1985, Kurt Dopfer 1990, Ulrich Witt und Kurt Dopfer 1990, Ulrich Witt 1994.
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Steffen Fleßa
den kann. Es ist an dieser Bifurkation genannten Stelle nicht bestimmt, ob das System auf ein neues, meist höheres Gleichgewichtsniveau bzw. ein neues synchrones Regime zusteuert oder ob es zugrunde geht. In der Regel sind energiereiche Systeme jedoch in der Lage, Perturbationen so zu verarbeiten, dass sie zwar ihre Funktionen beibehalten, jedoch ihre Struktur derart verändern, dass der Wachstumspfad auf ein neues Gleichgewicht möglich ist. Die entscheidende Frage ist dabei, wie häufig eine derartige Veränderung passiert. Hier unterscheidet Rieckmann vier Zonen.5 In Zone I erfolgt das diachronische Regime in der Regel nur einmal pro Generation. Im Mittelalter waren die Verhältnisse beispielsweise relativ stabil, und sehr selten war, z. B. durch die Entwicklung eines neuen Werkzeugs, ein Umdenken und Umlernen notwendig gewesen. Der größte Teil des Lebens verlief in sehr stabilen Bahnen. In Zone II (Industriezeitalter) tritt die Zahl der Krisen deutlich häufiger auf, jedoch sind zwischen den diachronen Systemregimen immer noch lange Phasen eines stabilen Regimes. In Zone III, die typisch für die postmoderne Gesellschaft ist, führt die Überwindung einer Krise meist unmittelbar in die nächste Krise, d. h., es fehlen die stabilen Gleichgewichte bzw. synchronen Systemregime. Die Tendenz ist jedoch immer noch, dass das Energieniveau insgesamt steigt, so dass eine gewisse Voraussehbarkeit noch gegeben ist. Dies unterscheidet Zone III vom Chaos, bei dem zwar auch eine Krise die andere jagt, jedoch überhaupt keine Entwicklungstendenz mehr voraussehbar ist. Abb. 3 skizziert die vier Zonen. Komplexität
Chaotisches System
Zone I System
Zone III System Zone II System
Zeit
Abb. 3: Dynaxity und Systemregime (eigene Darstellung)
5
Vgl. Heijo Rieckmann 2000 und 2005.
Change Management und Innovation
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Das hier beschriebene Modell umschreibt typisch die Situation in der postmodernen Gesellschaft, die von hoher Dynamik, Komplexität und Unsicherheit geprägt ist. Die Komplexität drückt sich aus in einer hohen Anzahl strukturverschiedener Elemente sowie einer entsprechenden unüberschaubaren Zahl der Relationen zwischen den Elementen bzw. zwischen dem System und seinen Umsystemen. Die Dynamik impliziert eine hohe Schnelligkeit des Entstehens neuer Systemelemente bzw. des Auftretens neuer Relationen. Aus der Dynamik und Komplexität ergibt sich, dass die Veränderung in der Zeit kaum mehr vorhersehbar ist. Die Konsequenz ist Unsicherheit, d. h., Entwicklungen sind nicht mehr vollständig vorhersehbar und die Menge der relevanten Elemente und Relationen nicht bestimmbar. Stochastische Prozesse bestimmen die postmoderne Gesellschaft. In Zone II ist zwar die Veränderung von Organisationsstrukturen, Institutionen und Prozessen während der diachronischen Systemregime notwendig, grundlegend ist Zone II jedoch durch lange, stabile Phasen geprägt, in denen diese Elemente quasi eingefroren werden können. Wenn überhaupt, so werden die großen Organisationen durch entsprechende Delegation etwas verschlankt, jedoch dominieren die klassischen Organisationsformen diese Zonen. In Zone III hingegen ist die Dynamik, Komplexität und Unsicherheit so groß, dass sich keine stabilen Organisationsformen mehr ausbilden können. Stattdessen werden für bestimmte Funktionen fast spontan Arbeitsgruppen gebildet, die sich intensiv miteinander vernetzen. Die Konsequenz ist auch, dass die einzelnen Einheiten innerhalb des Netzwerkes vergleichsweise klein, jedoch hoch flexibel sein müssen. Sie begeben sich in Zone III auf die ständige Suche nach alternativen Lösungen für bestehende Probleme, entwickeln ihre Organisationen so basisnah wie irgend möglich und leben Netze statt Hierarchien. In dieser Situation ist der stetige Wandel die Normalität. Der zweite Teilbereich der Innovationstheorie ist die Unternehmenskrisentheorie.6 Wie bereits dargelegt, haben Organisationen ein tendenziell abwehrendes Verhalten gegenüber Veränderungen und reagieren auf Krisen erst, wenn der Druck entsprechend groß ist. Abb. 4 zeigt systematisch den Umgang mit Krisen. Die sich aus der Veränderung ergebende Krise wird von der Organisation wahrgenommen, wenn die Kapazität des Systems den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Es treten Engpässe auf, die insbesondere in der Mikrostruktur wahrgenommen werden. Das Unternehmen oder die Organisation begibt sich anschließend auf die Suche nach alternativen Lösungen und generiert Inventionen. Bei der Frage, ob die Invention tatsächlich zur Innovation wird, d. h. ob sie von einer größeren Zahl von Adoptoren
6
Vgl. Jürgen Hauschildt, Christian Grape und Marc Schindler 2006, Nils Schulenburg 2008.
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in der Organisation oder auch außerhalb wirklich angenommen wird, hängt nun davon ab, wie leicht die Innovation in dem Unternehmen etabliert werden kann. In der Regel stößt eine Invention erst einmal auf eine Blockadehaltung, denn die grundlegenden Veränderungen würden zu finanziellen, emotionalen und politischen Kosten führen und werden deshalb abgelehnt. Die Invention wird in eine Nische abgedrängt, wo sie die Kinderkrankheiten überwinden und zu einem Innovationskeimling reifen kann. In der Realität wird die bestehende Lösung verbessert und alle Veränderungsdrücke zu neutralisieren gesucht. Dadurch kann sich eine metastabile Phase entwickeln, bei der die potenziellen Adoptoren die Engpässe durch geringe Veränderungen der alten Systemstruktur abmildern, Fluktuationen und Innovationen jedoch unterdrücken.7 Es entsteht eine künstliche Stabilität durch Subvention des alten Systemregimes, was bei zunehmender Veränderung jedoch unter Umständen zum Kollaps führen kann. Typische Beispiele sind der Rechenschieber oder die Wikinger auf Grönland. Wenn die Metastabilität es zulässt, kann aber auch ein evolutorischer Sprung eintreten. Der Druck des Umsystems auf das alte Systemregime wird hierbei so groß, dass das System nicht mehr stabilisiert werden kann. Es entwickelt sich dann ein neues Systemregime, wobei der Innovationskeimling die Richtung bestimmt, in die sich das System am Bifurkationspunkt entwickelt. Über die Innovation ist eine Metamorphose eines Systems hin zu einem höheren Systemregime in einem neuen Gleichgewicht möglich. Veränderung Krise Suche nach alternativen Lösungen
Invention Optimierung der alten Lösung
Blockade
Innovationskeimling
Metastabilität
Kollaps
Reifung in Nische
Innovation
Abb. 4: Anpassungsprozess und Suche nach Innovationen. Eigene Darstellung in Anlehnung an (Thomas Reichart 2008) 7
Vgl. Steffen Fleßa 2002 und 2006a.
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Change Management und Innovation
Innovationen haben folglich immer einen Doppelcharakter.8 Sie stellen für die Organisation die Lösung einer Krise dar. Für alle anderen Organisationen hingegen ist genau diese Innovation der Auslöser der nächsten Krise. In einer Marktgesellschaft bzw. einer freien Gesellschaft ist das Leben damit eine Folge von Innovationen als Lösung und Auslöser von Krisen und als Grundlage für die Weiterentwicklung. Die stetige Verbesserung des Systems ist die Frucht der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Krisen. Die Innovationstheorie leistet dabei einen wichtigen Beitrag, um die Innovationsbarrieren zu kennen und sie zu überwinden. Abb. 5 zeigt die Innovationsbarrieren systematisch. Aus einer Invention wird eine Innovation, wenn sich Promotoren finden, die diese Invention unterstützen. Tatsächlich ist dies nur möglich, wenn entsprechende Systemmängel existieren und auch wahrgenommen werden bzw. nicht durch Ausgleichsmechanismen künstlich stabilisiert werden. Die Wahrnehmung von Systemmängeln allein führt jedoch noch nicht zur Innovation. Es müssen zusätzlich die Innovationsbarrieren überwunden werden. Eine zentrale Innovationsbarriere sind die Innovationskosten. Es ist durchaus rational, bei der bestehenden Lösung zu bleiben, weil jede Veränderung finanzielle (Investitionskosten), emotionale (z. B. der Schmerz, das seit vielen Jahren vertraute Leistungsspektrum zu verändern) und politische (z. B. erhebliche Gegenwehr von Bürgerinitiativen) Kosten impliziert. Je höher die Innovationskosten sind, desto geringer ist die Neigung, als Promotor aufzutreten. Zeitpräferenz
Komplexität der Entscheidungssituation
Risikoneigung
Führungsstil
Innovationsneigung
Eigeninteresse der Stakeholder
Existenz und Einfluss der Promotoren
Invention
Innovation
Wahrnehmung von Systemmängeln Ausgleichsmechanismen
Funktionalität bisheriger Systemlösung
Künstliche Stabilität
Abb. 5: Modell der Innovationsadoption (Steffen Fleßa 2006a) 8
Vgl. Steffen Fleßa 2018.
Innovationskosten
214
Steffen Fleßa
Weiterhin sind die Eigeninteressen der Entscheidungsträger zu berücksichtigen. Eine Innovation, die sich bewusst gegen die Eigeninteressen wichtiger Entscheider wendet, wird deshalb wenig Unterstützung finden. Von hoher Bedeutung ist auch die Innovationsneigung. Je höher die Zeitpräferenz ist, d. h. je stärker die Gegenwart priorisiert wird, desto geringer wird die Bereitschaft sein, in innovative, aber sich erst langsam bezahlt machende Lösungen zu investieren. Die bestehende Systemlösung ist meist die kurzfristig bessere. Die Innovationsneigung hängt weiterhin von der Risikoneigung ab, je risikofreudiger ein Individuum ist, desto eher wird es sich für eine Innovation entscheiden. Eine weitere Determinante der Innovationsneigung ist der Führungsstil. Je partizipativer die Führung ausgerichtet ist, desto eher werden Ideen und Innovationen von vielen Personen auf fruchtbaren Boden fallen. Schließlich entscheidet die Komplexität der Entscheidungssituation über die Bereitschaft der Promotoren, diese zu unterstützen. Je einfacher eine Innovation ist und je besser sie verstanden werden kann, desto größer ist die Bereitschaft, diese Innovation anzunehmen. Die genannten Innovationsbarrieren tragen nun maßgeblich dazu bei, dass der Umgang mit Krisen ein regelhaftes Muster aufweist. Abb. 6 zeigt dies am Beispiel der individualisierten Medizin. Die Standardmedizin („one size fits all“) kommt angesichts der steigenden Bedeutung chronisch-degenerativer Diffusion
Stabilität Innovation Systemstabilität
Systemstabilität alternativer Pfad
Standard time A
B
C
D
E
F
A: Synchrone Phase des alten Systemregimes, Invention der Innovationstechnologie B: Erste Krise, erste Diffusion der Innovationstechnologie C: Metastabilität des alten Systemregimes, Rückzug der Innovationstechnologie auf Nische D: Massive Krise des alten Systemregimes; Reifephase der Innovationstechnologie E: Nach dem Birfurkationspunkt schnelle Übernahme der Innovationstechnologie als neuer Standard F: Synchrone Phase des neuen Systemregimes
Abb. 6: Transformationsprozess (Steffen Fleßa und Paul Marschall 2012)
Change Management und Innovation
215
Erkrankungen zunehmend in die Krise, was durchaus eine Suche nach Alternativen wie der individualisierten Medizin impliziert. Tatsächlich wird jedoch die individualisierte Medizin nicht sofort als Standardlösung übernommen, sondern reift in wenigen Nischen heran (z. B. Onkologie seltener Krebsformen), während für die allermeisten Erkrankungen die traditionelle, auf Großgruppen ausgerichtete Medizin persistiert. Es ist durchaus rational, dass die Medizin nicht das Risiko einer völlig neuen Technologie mit erheblichen finanziellen Kosten eingeht, sondern stattdessen die bestehenden Heilungsmethoden weiterentwickelt. Erst wenn das bestehende Paradigma überhaupt nicht mehr in der Lage ist, die Heilung durchzuführen, wird die individualisierte Medizin – für viele überraschend – zum neuen Standardparadigma werden. Tatsächlich muss der Krisendruck ausreichend hoch sein, um die Innovationsbarrieren zu überwinden, d. h., Organisationen brauchen Krisen, um innovativ zu sein. Sie brauchen hierzu Nischen, um Innovationskeimlinge produzieren und weiterentwickeln zu können. Wir können folglich festhalten, dass Innovationen die Grundlage für die Weiterentwicklung sind, sowohl für die Gesellschaft als auch für einzelne Organisationen. In der Postmoderne sind Innovationen die einzige Möglichkeit, in einem Zeitalter von Komplexität, Dynamik und Unsicherheit zu überleben. Die Annahme von Innovationen bis hin zur Standardlösung ist dabei kein Selbstläufer, sondern erfordert ein strategisches Management. Der dynamische Wandel ist also eine definitorische Eigenschaft der Moderne und die Grundlage jeder Innovation.
Change Management Ausgangspunkt des systematischen Veränderungsmanagements ist die Feststellung, dass jede Form der Veränderung von Organisationen eine bewusste, strukturierte und geplante Steuerung erfordert. Change Management kann damit als die Summe aller Aufgaben, Maßnahmen und Tätigkeiten definiert werden, die eben diese umfassende bereichsübergreifende und inhaltlich weitreichende Veränderung in einer Organisation bewirken soll.9 Im engeren Sinne wird Change Management gerade im Gesundheits- und Sozialsektor oftmals auf das Coaching von Veränderungsprozessen reduziert, d. h. auf die individuelle Begleitung von Mitarbeitern, sodass diese die Veränderungen bewirken
9
Vgl. Klaus Doppler und Christoph Lauterburg 2008, Annamarie Sisignano 2008.
216
Steffen Fleßa
und annehmen können. Im weiteren Sinne umfasst das Change Management jedoch ein sehr viel breiteres Feld, nämlich das Management von Transitionsprozessen von Organisationen. Hierzu gehören neben dem genannten Coaching auch die Finanzierung der Lebensabschnitte, die Organisationsentwicklung, die Geschäftsfeld- und Produktpolitik in Transitionsprozessen, die Innovationspolitik, die Personalpolitik des Wandels und die Integrationspolitik. Wie Abb. 7 zeigt, sind diese Elemente interdependent miteinander verbunden und wirken gemeinschaftlich auf den geforderten Change hin. Die Reduktion des Change Managements auf Aspekte der individuellen Personalführung greift viel zu kurz und ermöglicht nicht die Transition von einer Lebensphase des Unternehmens in die andere. Mitarbeiter
Motivation, Alter, Förderung
Fehlertoleranz Innovationsfördernder Führungsstil
Hohe Risikofreude Verlässlichkeit Hohe Zukunftsorientierung
Wahrnehmung von Systemmängeln
CHANGE (Mitarbeiter, Führungskräfte, Organisation, Leistung, …
Offenheit
Teilprobleme
Suche nach Innovationen
Geringe Komplexität
Förderung der Promotoren
Integration von Eigeninteressen
Freiräume
Freiräume, Vertrauen, Integrität, Zielsystem
Führungskräfte
Abb. 7: Systemmodell Change Management (eigene Darstellung)
Im Folgenden sollen einige ausgewählte Aspekte des Change Managements dargestellt werden, soweit sie für das Verständnis von Innovationen begleitende Veränderungen notwendig sind. Grundlage aller Veränderungen ist dabei die Produktpolitik.10 Zuerst wird in der Geschäftsfeldpolitik festgelegt, welche Kunden mit welchen Bedürfnissen grundsätzlich befriedigt werden sollen. Im Rahmen dieser Festlegung wird in der Produktpolitik determiniert, mit welchen
10 Vgl. Wolfgang Domschke und Armin Scholl 2008.
Change Management und Innovation
217
Leistungen in diesen Geschäftsfeldern konkret die Kunden bedient werden sollen. Typische Instrumente der Produktpolitik sind die Produktmarktmatrix, die Lebenszyklusanalyse und die BCG-Matrix. Wie Tabelle 1 zeigt, spannt die Produktmarktmatrix die Dimensionen Produkt und Markt auf, wobei jeweils gegenwärtige und neue Produkte bzw. Märkte kombiniert werden.11 Für die vier Felder werden Normstrategien entwickelt, z. B. für die gegenwärtigen Märkte und für gegenwärtige Produkte die Marktdurchdringung. Ziel ist eine systematische Erfassung der eigenen Leistungen, um anschließend Strategien festzulegen, wie diese Produkte bestmöglich die Ziele des Unternehmens unterstützen und die Bedürfnisse der Kunden befriedigen. Dabei unterscheiden sich die vier Felder der Matrix fundamental bezüglich ihrer Veränderungsnotwendigkeit. Gerade eine Produktentwicklung oder eine Marktentwicklung erfordert in der Regel eine Innovation, nicht nur die Intensitätserhöhung des Bestehenden (Marktdurchdringung). Wer Märkte oder Produkte entwickeln will, muss sich auf Neues einlassen. Die Diversifikation ist in jeglicher Beziehung eine Innovation für das Unternehmen und führt es in komplett neue Märkte mit neuen Produkten. Tabelle 1: Produkt-Markt-Matrix (Heribert Meffert 2000) Gegenwärtige Märkte
Neue Märkte
Gegenwärtige Produkte
Marktdurchdringung
Marktentwicklung
Neue Produkte
Produktentwicklung
Diversifikation
Ein weiteres Instrument ist die Produktlebenszyklusanalyse, wie in Abb. 8 dargestellt. Das Produkt durchläuft mehrere Phasen über Wachstum und Reife bis hin zu Sättigung und anschließendem Verfall. Hierbei ist es wichtig festzustellen, dass nicht das zugrundeliegende Bedürfnis verfällt, sondern das Produkt, mit dem dieses Bedürfnis gestillt wird. Weiterhin ist zentral, dass das Unternehmen nicht erst anfängt, ein neues Produkt auf den Markt zu werfen, wenn das alte Produkt bereits in der Verfallphase ist, sondern in der Reifephase. Nur unter dieser Bedingung kann es gelingen, dass das Unternehmen immer Produkte anbietet, die einen hohen Marktanteil abschöpfen. Wer hingegen seine Funktion mit derselben Form erfüllen will, wird unweigerlich untergehen.
11 Vgl. Heribert Meffert 2000.
218
Steffen Fleßa
Umsatz
Umsatz
Wachstum
Reife
Sättigung
Verfall
Einführung
Zeit
B
A
C
D
E
F
Zeit
Abb. 8: Produktlebenszyklus (Helmut Schmalen und Hans Pechtl 2013)
Ein drittes Instrument (vgl. Abb. 9) ist die sogenannte BCG-Matrix. Hier werden die Dimensionen „relativer Marktanteil“ und „Marktwachstum“ aufgetragen und die Produkte in die vier Felder der Matrix eingetragen. Fragezeichen sind Produkte, wo das eigene Unternehmen relativ unbedeutend auf dem Markt ist, jedoch der Markt ein hohes Zukunftspotential hat. Bei Stars ist das eigene Unternehmen von hoher Bedeutung auf dem Markt und der Markt wächst nach wie vor. Cash Cows sind Produkte auf konstanten oder schrumpfenden Märkten, wo das Unternehmen jedoch eine hohe Dominanz entwickelt hat. Probleme oder Marktwachstum p.a. in % 18 %
Stars 7%
Fragezeichen
0%
-4 %
Poor Dogs Cash Cows 30 mal
1 mal
Relativer Marktanteil
Abb. 9: BCG-Matrix (Georg Schreyögg und Jochen Koch 2007)
0,1 mal
Change Management und Innovation
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„arme Hunde“ sind Produkte, bei denen weder ein hoher Marktanteil noch ein relevantes Marktwachstum vorliegen. Den vier Feldern sind Normstrategien zugeordnet: Fragezeichen müssen weiter untersucht werden, Stars müssen weiter ausgebaut und Investitionen getätigt werden, während Cash Cows gemolken werden. Die überflüssigen Cashflows der Cash Cows werden für die Fragezeichen verwendet. Probleme oder arme Hunde müssen abgestoßen werden. Die BCG-Matrix und der Produktlebenszyklus werden miteinander verbunden. Produkte in der Wachstumsphase sind oft Fragezeichen, die, wenn alles gutgeht, in der Reifephase zu Stars werden und in der Sättigungsphase zu Cash Cows. Am Ende ihrer Lebenszeit degradieren sie in der Schrumpfungsphase zu Problemfällen. Eine weitere Unternehmenspolitik, die für das Change Management von Relevanz ist, ist die Personalpolitik. Hier geht es nicht nur um die Personalführung, sondern auch um die Personalauswahl. Im Sinne eines systematischen Veränderungsmanagements müssen die Einstellungskriterien daraufhin überprüft werden, ob Innovationsfreude, Querdenken und Neugierde systematisch abgefragt, bewertet und in die Personalentscheidung einbezogen werden. Besonders ungerade Lebensläufe, die auf ein hohes Maß an Kreativität und Nonkonformität zurückschließen lassen, müssen systematisch erkannt und für den Nutzen der Innovativität im Unternehmen bewertet werden. Darüber hinaus spielt natürlich auch im Change Management im weiteren Sinne die Personalführung eine große Rolle, denn Innovation stellt eine Herausforderung an jeden Mitarbeiter und damit auch an die Führenden dar.12 Innovation und Change sind einerseits eine Bedrohung der Mitarbeiter, weil sie die Sicherheit in Frage stellen, andererseits können sie den Mitarbeitern auch Sinn in der Arbeit geben, weil gerade die Innovationen und der damit verbundene Veränderungsprozess ein noch besseres Produkt für eine noch bessere Kundenbefriedigung ermöglicht. Ziel ist dabei, eine Win-Win-Situation zu erreichen, bei der der innovationsfreudige Mitarbeiter sich bewusst für seine eigenen Ziele der Sinnfindung in der Arbeit und des Beitrags für die Gesellschaft widmet und dadurch auch einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Unternehmens leistet. Manchmal ist für die Einführung von Veränderungen jedoch auch bei bester Überzeugung keine Begeisterung zu erreichen, hier ist jedoch auch eine starke und eindeutige Führung notwendig. Zur Personalpolitik gehört auch die explizite Förderung von Fachpromotoren, die die Aufgabe haben, das Nichtwissen zu überwinden.13 Hierzu gehört eine Investition in die Mitarbeiter, die Zeit haben müssen zum Nach-
12 Vgl. Horst Steinmann, Georg Schreyögg und Jochen Koch 2005 13 Vgl. Jürgen Hauschildt und Sören Salomo 2011.
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Steffen Fleßa
denken. Mitarbeiter, die stetig nur ihre originäre Aufgabe erfüllen und nicht über Veränderungsprozesse nachdenken können, schöpfen ihr kreatives Potential nicht aus. Zur Förderung der Fachpromotoren gehört auch, ihnen Zeit zum Lernen und Ausprobieren zu geben sowie die Sicherheit, dass Probierprozesse nicht zur Bestrafung führen, selbst wenn sie scheitern. Darüber hinaus sollen auch Machtpromotoren gefördert werden, indem insbesondere innovationsfreundliche Führungskräfte ausgewählt werden. Da bekannt ist, dass die Risikoneigung und Gegenwartsorientierung nicht bei jedem Mitarbeiter gleich ist, spielt auch die Auswahl und Förderung von Mitarbeitern mit hoher Risikoneigung und hoher Zukunftsorientierung eine wichtige Rolle. Mitarbeiter mit einem kreativen, neugierigen und jugendlichen Herangehen an Probleme müssen deshalb ausgewählt und gefördert werden. Dazu gehört auch, dass man bewusst mal einen „flippigen“ Typen ins Unternehmen aufnimmt und ihn gute Erfahrungen mit dem Einbringen von Ideen sammeln lässt. Der individuelle Führungsstil ist ebenfalls von großer Bedeutung für den systematischen Innovations- und Change-Prozess. Innovation erfordert Freiräume zum Experimentieren, Scheitern und zur Weiterentwicklung. Die Führungskraft muss diese Freiräume schaffen, denn nur Vertrauen eröffnet Freiräume, während Kontrolle Freiräume schließt. Dies ist möglich, wenn die Mitarbeiter sich voll und ganz mit dem Unternehmen und seiner Aufgabe identifizieren können, d. h., wenn ein klares, kommuniziertes Zielsystem vorliegt, eine integre Führungspersönlichkeit existiert und die Gruppen so überschaubar sind, dass man sich damit identifizieren kann. Führung ist hierbei stets als ein Abwägen zwischen Liebe und Vertrauen zu sehen, Vertrauen ist die Voraussetzung für Delegation und für Innovation, d. h., ohne Vertrauen können Mitarbeiter nicht innovativ sein. Vertrauen setzt aber auch den Verzicht auf Kontrolle voraus, wodurch eine direkte Steuerung unmöglich wird. In gewisser Weise ist Vertrauen gefährlich, aber absolut notwendig. Führung ist damit immer ein Abwägen zwischen Vertrauen und Kontrolle. Abb. 10 zeigt diese Dimensionen noch einmal in einer anderen Ausdrucksweise als Abwägungen von Liebe und Vertrauen sowie die sich daraus ergebenden idealtypischen Arbeitskonstellationen.14 Während ein liebevoller und respektvoller Umgang ohne Wahrheit und Freiheit leicht zum Kuscheljob degradiert und der wahrhaftige und freiheitliche Umgang ohne Vertrauen, Liebe und Geborgenheit zur Brutalo Gang wird, sind die meisten Unternehmen Kompromissteams, die wie die Stachelschweine ein Maß an Nähe suchen, das ihnen noch eine gewisse Geborgenheit vermittelt, jedoch gleichzeitig den nötigen Abstand halten, um sich nicht gefährlich nahe zu kommen.
14 Vgl. Heijo Rieckmann 2005.
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Diese Kompromissteams sind jedoch in der Zone III mit hoher Unsicherheit, Komplexität und Ungewissheit ungeeignet, um tatsächlich die grundlegenden Probleme der Postmoderne zu überwinden. Gesucht sind selbstorganisierende Teams, die ein hohes Maß an Vertrauen wagen und gleichzeitig vollkommen ehrlich und offen miteinander umgehen. Diese Kombination von Liebe und Wahrheit ist die ideale Voraussetzung für einen systematischen Veränderungsprozess, der einerseits die Sicherheit und Geborgenheit erfordert, um Veränderungen wagen zu können, andererseits Ehrlichkeit und Freiheit, um die Veränderungsnotwendigkeit offen und ehrlich zu besprechen. Liebe, Vertrauen, Geborgenheit
Selbstorganisierendes Team
Kuschel-Club Perversion
Stachelschweine
Lüge, Sklaverei, Zwang
BrutaloGang
Wahrheit, Freiheit
Hölle Hass, Angst, Misstrauen
Abb. 10: Liebe und Wahrheit als Team-Dimensionen (Heijo Rieckmann 2005)
Abschließend soll noch erwähnt werden, dass sich auch die Ablauf- und Aufbauorganisation eines Unternehmens an die Veränderungen des Umsystems anpassen muss (Organisationsentwicklung). Die Möglichkeiten und Grenzen von Vertrauen und Kontrolle, persönlicher und schriftlicher Kommunikation, ad-hoc und standardisierter Entwicklung sowie Delegation und Direktion hängen von der Größe und Reife eines Unternehmens ab und verändern sich im Laufe seines Lebens. Damit geht auch eine veränderte Qualifikationsanforderung der Führungskräfte einher. Wichtig ist hierbei, dass gewöhnlich die Lösung der Krise (n) bereits die Grundlage der Krise (n+1) impliziert (Greiner-Kurve).15 Organisationsentwicklung ist damit ein zentraler Bestandteil eines Change Managements, der weit über das persönliche Coaching der Führungskräfte hinausgeht.
15 Vgl. Steffen Fleßa 2015.
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Wichtig ist hierbei, dass der Anteil des Fachwissens der Führungskräfte bei wachsenden Unternehmen immer mehr zurückgeht, während Führungswissen und -fähigkeiten von größerer Bedeutung werden. Während der Handwerksmeister traditionell vor allem sein Handwerk beherrschen muss, verlangt die gewachsene Unternehmung nach professionellen Managern. Der Übergang der Organisationsformen erfordert aktive Planung und häufig auch eine Professionalisierung des Managements. In der Industrie hat man hierfür Doppelhierarchien eingeführt, damit aus dem „besten Ingenieur“ auf der Karriereleiter keine „drittklassige Führungskraft“ wird, sondern ein Profi-Manager die Administration übernimmt, während der Ingenieur weiterhin seine eigentliche Aufgabe erfüllen und trotzdem „aufsteigen“ kann.16 Zusammenfassend können wir festhalten, dass Innovation und der damit verbundene Wandel die wichtigsten Aufgaben einer Führungskraft darstellen. Die bewusste, strukturierte und geplante Überwindung von Innovationswiderständen erfordert ein aktives Innovations- und Change Management, wobei sich Change Management nicht im Coaching erschöpft, sondern Geschäftsfeld, Produkt, Finanzierung, Standard, Politik und weitere Entscheidungen umfassen muss. Innovation und Change beginnen hierbei mit der Auswahl von Persönlichkeiten, die besonders kreativ und zukunftsorientiert sind. Die innovationsförderliche und Wandel belohnende Führung ist dann der Schlüssel zur Nachhaltigkeit des Unternehmens.
Anwendungsbeispiel Kirche Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit die Aussagen der Innovationstheorie und des Change Managements auf die Kirche17 als Institution übertragbar sind. Hierbei muss vorausbemerkt werden, dass alle weiteren Ausführungen sich ausschließlich auf die äußerliche Gestalt der Kirche (ecclesia visibillis) beziehen. Auch die Kirche hat dabei eine Formale und eine Funktionale. Die Formale der Kirche sind die Gebäude, der Musikstil, die Kleidung u. ä. formale Elemente. Die Funktionale der Kirche ist der eigentliche Auftrag. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass Menschen ein grundliegendes Bedürfnis nach Sinn, Annahme, Beziehung und Heil haben und damit das Bedürfnis, das Heil in Jesus kennenzulernen und anzunehmen. 16 Vgl. Henry Mintzberg 1989. 17 Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die meisten Aussagen sind aus Sicht des Autors jedoch durchaus auf andere Kirchen (z. B. katholische Kirche) übertragbar.
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Auch für die Nachfrage nach kirchlichen Dienstleistungen existiert der fundamentale Zusammenhang von Bedürfnis und Nachfrage. Der grundlegende Mangel ist hierbei ein Mangel an Ganzheit, Heilung, Annahme, Gewissheit und Freiheit, d. h. das, was in kirchlicher Tradition als „Heil“ bezeichnet wird. Das sich daraus ableitende Bedürfnis nach Heil ist erst einmal unverändert und völlig losgelöst davon, ob der Mensch sich dessen bewusst ist oder nicht. Der Bedarf wiederum sind die Güter und Leistungen, mit denen Menschen ihre Bedürfnisse nach Heil zu stillen suchen. Dieser Bedarf hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. In Rückgriff auf Abb. 1 kann also konstatiert werden, dass der objektive Mangel nach wie vor existiert (z. B. Zugehörigkeit, Liebe, Sinn, Annahme Freiheit), das subjektive Mangelerlebnis jedoch nicht automatisch mehr wahrgenommen wird. Es gibt die Situation, dass zwar ein objektiver Mangel besteht, jedoch viele diesen Mangel gar nicht mehr spüren. Dann kann auch kein konkreter Bedarf, d. h. die Projektion des Bedürfnisses auf ein konkretes Gut, entstehen. Tatsächlich kann man durchaus konstatieren, dass die kirchlichen Angebote sich nicht mehr mit den Wünschen vieler Menschen decken, obwohl sie deren Bedürfnisse grundlegend befriedigen könnten. Das abweichende Angebot führt dazu, dass die Bedürfnisse nicht mehr ausreichend befriedigt werden können, sodass man einen Funktionsdefekt konstatieren muss. Die Grundannahme ist hierbei, dass die Funktionale unveränderlich ist. Wenn die Kirche ihre Funktion als Verkünderin des Heils verliert, hat sie ihre Existenzberechtigung verloren. Die Formale hingegen ist veränderlich. Sie muss sogar verändert werden, um die Funktion und die sich wandelnden Rahmenbedingungen aufrechterhalten zu können. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das Funktionsdefizit bereits aufgetreten ist bzw. ob sich die Kirche in einer Krise befindet. Zuerst muss man feststellen, dass es einen Wandel in unserer Gesellschaft gibt. Die soziale und räumliche Mobilität nimmt zu, die Machtdistanz reduziert sich, es kommt zu einer Individualisierung und zu scheinbaren Alternativen der Bedürfnisbefriedigung. Hinzu kommt ein hohes Maß an Säkularisierung, sodass die christliche Kirche ihren Monopolcharakter für Sinnfragen verloren hat. Hieraus ergibt sich eine veränderte Nachfrage, die sich weitestgehend im stark reduzierenden Gottesdienstbesuch, teilweise erschreckender Mitgliederentwicklung und einer großen Vielschichtigkeit der Sinnangebote niederschlägt. Man kann folglich ohne Übertreibung konstatieren, dass ein Großteil der Kirchen in Westeuropa sich in einer Krise befindet und die Formale den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr entspricht. Die Antwort kann nur ein systematisches Innovations- und Change Management sein,18 wozu die
18 Vgl. Steffen Fleßa 2006b.
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Instrumente der kirchlichen Produktpolitik, der kirchlichen Personalführung und der kirchlichen Innovationspolitik relevant sind. In Anlehnung an Tabelle 1 (s. o.) kann eine Produktmarktmatrix für die Kirche entwickelt werden. Tabelle 2 zeigt das Ergebnis eines Brainstormings auf der Fachtagung „Kirche[n]gestalten. Re-Formationen von Kirche und Gemeinde in Zeiten des Umbruchs“ (24.–26.05.2018). Die Teilnehmer waren aufgerufen, ihre kirchlichen Leistungen in die vier Felder einzugruppieren, wobei keine Bewertung oder Kommentierung durch den Autor erfolgte. Aus dieser Methodik ergibt es sich, dass die Einordnung kirchlicher Leistungen auf die vier Felder weder die Meinung des Autors widerspiegelt noch eine ausreichende empirische Evidenz hat, sondern lediglich die grundsätzliche Möglichkeit einer Produkt-Markt-Matrix aufzeigen soll. Während alte Produkte und alte Kunden beispielsweise die traditionellen Gottesdienste sind bzw. sich auf diese beziehen, werden für die alten Kundengruppen auch immer wieder neue Leistungen entwickelt, wie z. B. die Predigt nach Wunsch, bei der vorher im Internet über den Predigtinhalt und Predigttext abgestimmt werden kann. Auch für neue Kundengruppen werden alte Produkte angeboten, wie z. B. die Zeltmission, die durch eine sehr konventionelle Methode Menschen ansprechen möchte, die bislang ihre Bedürfnisse nicht durch kirchliche Leistungen zu stillen suchen. Ein neues Produkt für neue Kunden wäre beispielsweise eine Internetmission für Asylanten in der jeweiligen Landessprache. Bemerkenswert erscheint, dass das Feld „neue Produkte für neue Märkte“ die meisten Items erhalten hat, was durchaus für das innovative Potential spricht. Wie Tabelle 1 zeigt, sind den vier Feldern die Strategien Marktdurchdringung (gegenwärtige Produkte und gegenwärtige Märkte), Marktentwicklung (gegenwärtige Produkte und neue Märkte), Produktentwicklung (neue Produkte und gegenwärtige Märkte) sowie Diversifikation (neue Produkte für neue Märkte) zugeordnet. Aus dem nicht-repräsentativen Brainstorming könnte man – mit aller gebotenen Vorsicht – ableiten, dass ein hohes Diversifikationspotential in der Kirche existiert. Allerdings impliziert Diversifikation in der Regel auch hohe Widerstände, da Widerstände der bisherigen Stakeholder der Produkte, Märkte, Regularien, Strategien und Führungskonzeptionen überwundern werden müssen.
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Gegenwärtige Märkte
Neue Märkte
Gegenwärtige Produkte
Traditioneller Gottesdienst Pfarrpersonen im Talar Orgelmusik Frauenhilfe
Predigt nach Wunsch „Bibel-Erzähl-Omis-und-Opis“ „Deep people“-Vertiefungskurs für lebendiges und mündiges Christsein Hillsong Worship Angebote für 25–35jährige ohne Kinder mit und ohne Partnerschaft Hauskreise lebendiger Adventskalender
Neue Produkte
Tabelle 2: Produkt-Markt-Matrix, Beispiele (eigene Darstellung)
Zeltmission Exerzitien, Krabbelgruppe für Teenie-Mamas Kirchenliedersingen mit Babys Glaubenskurse Hauskreise „Kirche Freizeit-orientiert denken“ junge Männer zwischen 25–45
Internetmission für Asylanten Wochenende für Väter und ihre Kinder/Jugendlichen Kirchliche Volksbildung in Erneuerung Exerzitien auf der Straße MTB-Pilgern mit Männern Discovery Children’s Museum mit Raum zum Träumen & Zeit für Eltern Evangelische Pop-Akademie Brettspiel-Café „Fellowship of the Table“ Herausforderung Mann-Sein für Sinnsucher und Gottfinder
Auch eine BCG-Matrix ist für eine Kirche bzw. Kirchengemeinde durchaus denkbar. Abb. 11 zeigt das Ergebnis des Brain Stormings auf der o. g. Fachtagung, wobei wiederum die grundsätzliche Möglichkeit der Typologisierung aufgezeigt werden soll, nicht deren empirische Relevanz. Widersprüche sind deshalb Ausdruck der Befragungsmethodik, diskreditieren hingegen die Portfolio-Matrix als Instrument kirchlicher Leistungspolitik nicht. Typische Fragezeichen, bei denen unklar ist, was aus ihnen noch werden wird, könnten beispielsweise Heilungsgottesdienste oder die Internetseelsorge sein. Mancher kirchlicher Bastelkreis ist vielleicht eher als „poor dog“ zu bezeichnen. Die Kirchenmusik und die traditionellen Kasualien (Taufe, Trauung und Beerdigung) können als Cash Cows verstanden werden, bei denen ein hoher Marktanteil besteht, aber kaum Wachstum existiert, während es explizite Stars gibt, bei denen immer mehr Menschen dazukommen und gleichzeitig die Kirche immer noch einen hohen Marktanteil hat, wie z. B. bei den Segnungsgottesdiensten.
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Ausgangspunkt kirchlicher Innovationspolitik muss folglich eine systematisch Erfassung und Bewertung kirchlicher Angebote sein. Die Fragen „Warum bieten wir das an?“, „Wer hätte ein Problem, wenn wir das nicht anbieten?“, „Wie zukunftsfähig ist diese Leistung“?, „Können wir dieselben Bedürfnisse auch ganz anders stillen?“ müssen sich die Führungskräfte immer und immer wieder stellen. Dabei gibt es in vielen Nischen bereits zahlreiche Innovationen, die jedoch häufig nur an einer Stelle bleiben und nicht durch die gesamte Kirche diffundieren. Das „Here-not-invented-Syndrom“ scheint es auch in der Kirche zu geben.
Marktwachstum
Stars
Kirchlicher Bastelkreis überregionale Massenevangelisation Altenkreis Orgelmusik Traditionelle Bibelstunde Buße beim Pfarrer Kirchenchor Frauenfrühstück Gemeindekirchenrat
Poor Dogs
Cash Cows
Hauskreise Traditioneller Gottesdienst, Kasualien Kirchenchor Posaunenchor Kirchentag Mutter/Eltern-Kind-Kreis Krankenhaus-Seelsorge
Internet-Seelsorge Heilungsgottesdienste Mentoring Umgestaltung alter Kirchen Hausgemeinden Lichtinstallation und Musik in der Kirche Kirchengebäude für andere Zwecke Hausbesuche
Fragezeichen
hoch
Segnungsgottesdienst Motorradgottesdienste Hausgemeinden Discipleship + Leadership Training Arbeit mit Flüchtlingen neue geistliche Lieder Bring & Share – miteinander Essen Gospel-Konzerte Taizé Gebetshaus-Bewegung Prayer & Worship Gatherings Christliche Gemeinde am Arbeitsplatz Freizeiten Sportangebote Sucherorientierte Gottesdienste Hauskreise
niedrig
niedrig
hoch
Marktanteil Abb. 11: BCG-Matrix, Beispiele (eigene Darstellung)
Interessanterweise laufen Theologie und Ökonomie in dieser Fragestellung durchaus in eine ähnliche Richtung. Die Theologie muss fragen, welche kirchlichen Angebote bzw. Dienstleistungen nur der Tradition bzw. welche kirchlichen Angebote und Dienstleistungen explizit dem biblischen Auftrag entsprechen. Das Entscheidungskriterium ist hier stets die Verkündigung des
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Evangeliums als Kernleistung kirchlicher Organisationen. Keine Tradition und auch keine Aktion kann diese Kernleistung ersetzen. Die Ökonomie der Kirche fragt, welche äußeren Formen verhindern, dass die Kirche die Menschen des 21. Jahrhunderts in ihren Bedürfnissen ernst nimmt, welche Bedürfnisse die Menschen wirklich haben und wie sie mit maßgeschneiderten Angeboten befriedigt werden können. Langfristig überleben dabei nur kirchliche Leistungen, die die Bedürfnisse der Menschen wirklich befriedigen. Ökonomie der Kirche und Theologie laufen folglich in dieselbe Richtung. Gefragt ist deshalb eine stetige Analyse der eigenen Leistungsangebote – und dies durchaus in guter lutherischer Tradition, aber eben nicht die Tradition des 16., sondern des 21. Jahrhunderts mit einem Ernstnehmen der gewandelten Bedarfe der Menschen. Auch die kirchliche Personalauswahl als Kern der Personalpolitik muss Innovations- und Change Management berücksichtigen. Hierbei zeigt es sich, dass das Theologiestudium an deutschen Universitäten einen starken Fokus auf Geisteswissenschaft und Sprachen legt. Gleichzeitig ist die Karriere des Pfarrers in der Regel durch eine sehr frühe Entscheidung für diesen Karriereweg gekennzeichnet. Durch die Vorgabe einer Altersgrenze für die Verbeamtung gibt es derzeit kaum Chancen für ungerade Wege. Es soll an dieser Stelle nur angedeutet werden, dass all diese Eigenschaften und Wege selbstverständlich Auswirkungen auf die Kreativität und Innovationsfähigkeit der kirchlichen Mitarbeiter und damit der Kirche haben. Die Auswahl von Pfarrerinnen und Pfarrern sollte explizit die Kreativität, die Innovationsfreude und das unkonventionelle Denken der Kandidaten als wichtiges Entscheidungskriterium einbeziehen. Aber auch die Führungsstärke, die strategische Denkfähigkeit und die Zukunftsorientierung der zukünftigen Leistungsträger der Kirche müssen routinemäßig erfasst und als Kriterium der Personalentwicklung herangezogen werden. Es scheint, dass hier noch etliches an Arbeit zu tun bleibt. Ein weiterer Aspekt der Personalpolitik ist die Personalführung, die garantieren muss, dass Innovation in der Kirche kein Zufall, sondern das Ergebnis eines systematischen Prozesses ist. Die kirchliche Führung muss sich fragen, ob sie genug Wahrheit und Liebe in der Organisation wagt, und ob nicht vielmehr die Kompromissteams bzw. Stachelschweine gefördert werden, die nie über die Grenze hin zu einem selbstorganisierenden Team kommen. Die kirchliche Personalführung muss Freiräume und flache Hierarchien erlauben, Partizipation als Basis für Invention und Innovation. Die kirchlichen Führungskräfte und insbesondere Bischöfe bzw. kirchenleitende Personen in den Landeskirchen müssen Machtpromotoren werden und die Barrieren notfalls durch Anweisung überwinden, wenn die Veränderung beschlossen wurde. Dabei ist stets ein Win-Win-Agreement zu suchen, damit sich die Innovation tatsächlich zum Nutzen aller entwickelt.
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Die Veränderungsprozesse der postmodernen Gesellschaft erfordern auch eine Organisationsentwicklung. Unter der Annahme, dass die Greiner-Kurve auch in der Kirche gilt, impliziert dieser Wandel eine Professionalisierung der Kirchenführung. Bislang wurden Leitungspositionen überwiegend auf Grundlage der Fachqualifikation („Der ‚beste‘ Pfarrer wird Dekan“) besetzt, obwohl eine Führungsqualifikation hierfür deutlich wichtiger wäre. Gleichzeitig wurden somit Pfarrer ihren originären Aufgaben der Seelsorge und Verkündigung entzogen. Eine Innovation wäre eine Doppelhierarchie, in der professionelle Manager als gleichberechtigte Führungskräfte die Kirchenleitung übernehmen. Der Dekan und Bischof könnte sich damit seinen primär seelsorgerlichen Aufgaben zuwenden, während das operative und strategische Management in den Händen des gläubigen Laien liegen könnte, der auf Grundlage seiner Ausbildung und seines Karriereweges hierfür geeignet ist. In der Zukunft muss sich zeigen, ob bzw. wie die Kirchen mit der derzeitigen Krise umgehen können. Abb. 4 zeigt ein Beispiel für einen Innovationsprozess, der in einer Blockade endete. Es handelt sich um ein Beispiel, das der Autor als Mitglied einer Kirchensynode selbst erlebt und reflektiert hat. Ausgangspunkt war eine Gruppe von Pfarrern und Laien, die den Funktionsmangel kirchlicher Leistungsangebote wahrnahm und sich auf die Suche nach Alternativen machte, die insbesondere Kirchenferne und Menschen ohne kirchliche Sozialisation anspricht und niederschwellige Angebote macht. Nach einiger Zeit etablierte sich eine neue Form von Gottesdienst und verbindlicher Gemeinschaft, die theologisch als Gemeinde verstanden werden kann. Der logische Schritt war der Antrag an die Synode, diese Gemeinschaft als Richtungsgemeinde anzuerkennen. Dies wäre ein wichtiger Schritt gewesen, um Kirchenferne zu erreichen. Die Synode konnte sich allerdings nicht dazu durchringen, wobei in den Diskussionen letztlich stets das Argument wiederholt wurde, man müsse die bisherigen Formen nur etwas verbessern und bräuchte keine grundlegende Neuerung. Abb. 12 steht exemplarisch für den Umgang mit Krisen. Zwar hat sich in vielen Landeskirchen eine Suche nach Alternativen eingestellt, die flächendeckende Umsetzung hingegen scheitert an der Blockadehaltung der leitenden Gremien, die letztendlich zu einer metastabilen Situation und bei weiteren Veränderungen zum Kollaps führen wird. Damit wird auch verhindert, dass diese Alternativen in Nischen heranreifen, zum Innovationskeimling werden und schließlich als überraschende Innovation für alle Gemeinden zur Verfügung stehen.
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Mobilität, Selbstbewusstsein, Wahlfreiheit, Differenzierung
Geringer Gottesdienstbesuch
Suche nach Alternativen
Alternative Gottesdienste und Gruppen Versuche, die Parochie als ausschließliche Lösung zu retten
Synode: keine Richtungsgemeinde
???
Kollaps
Reifung in Nische
Innovationskeimling
Innovation ?????
Abb. 12: Umgang mit Krisen: Beispiel Richtungsgemeinde
Fazit Mit dem Eingangsbeispiel des Rechenschiebers wurde gezeigt, dass die Funktionale bestehen bleibt, auch wenn die Menschen eine andere Formale suchen. Der Rechenschieber basiert auf dem Bedürfnis nach einer Rechenhilfe, welches völlig unverändert ist, auch wenn der Taschenrechner den Rechenschieber verdrängt. Die fehlende Reaktion auf Veränderung führt zur kompletten Auflösung des Anbieters der veralteten Form. Es stellt sich die Frage, ob diese Aussage auch für die Kirchen in Deutschland denkbar wäre. Dabei gehen wir davon aus, dass die Funktionale völlig unverändert besteht, d. h., die originäre Funktion der Kirche dem Bedürfnis nach Gottes Heil zu begegnen besteht fort. Die Kirche hat die Aufgabe der Verkündigung des Heils für alle Menschen.
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Die Formale hingegen muss sich wandeln, und hier haben sich etliche Formen längst überholt. Der Bedarf der Menschen des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr mit dem des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Ansprüche an Gebäude (Temperatur, Bequemlichkeit, Geruch) Musikstil, Kunst, Uhrzeiten u. ä. sind einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen. Die grundlegende Frage ist, ob es der Kirche gelingt, diese Prozesse zu erkennen und ihr Angebot entsprechend zuzuschneiden. Allgemein wird eine Krise konstatiert, die komplette Metastrukturen in Frage stellt. Wir müssen heute agieren oder untergehen wie die Rechenschieberfabrik. Es stellt sich damit die Frage, welchen Weg die Kirche geht, d. h., ob sie eher die Metastabilität und den anschließenden Kollaps wählt, oder ob sie eine echte Innovation wagt und die an mehreren Stellen entstandenen Innovationskeimlinge wirklich anwendet. Dabei ist der alte Satz „ecclesia semper formanda“ auch auf diese Fragestellung anzuwenden, denn auch die Erfindung des elektronischen Taschenrechners war ja nicht das Ende. Tatsächlich ist der Taschenrechner mit Ausnahme von Schulen und Hochschulen kaum mehr in Gebrauch, da die meisten Menschen die Taschenrechnerfunktion auf ihrem Smartphone verwenden. Die Innovation des Jahres 1973 wurde folglich selbst zu einem „poor dog“ bzw. einem Auslaufmodell. Auch im kirchlichen Bereich sind solche Veränderungen durchaus bekannt. Während in den siebziger und achtziger Jahren der Overheadprojektor in manchen Gemeinden das Gesangbuch (gegen großen Widerstand!) nahezu verdrängte, wird heute der Overheadprojektor durch den Beamer abgelöst, wobei manchmal dieselben Personen, die als „junge Wilde“ der 1970er Jahre den Overheadprojektor einführten, nun die Innovation Beamer mit theologischen Argumenten zu verhindern suchen. Weder bei Taschenrechner und Smartphone, noch beim Overheadprojektor und Beamer ist damit zu rechnen, dass die derzeitige Form das Ende der Entwicklung sein wird. Innovationen und Veränderungen sind stetige Prozesse. Die Bedarfe, Wünsche und Ansprüche der Menschen werden sich auch in Zukunft verändern. Als Christen müssen wir entscheiden, ob wir Opfer oder Gestalter dieser Veränderungsprozesse sein wollen. Der Auftrag der Kirche als Verkünderin des Heils ist es aber definitiv wert, die Formale stetig anzupassen.
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Kirchliches (Corporate) Entrepreneurship? Unternehmerisches Handeln im ‚Traditionsunternehmen‘ Kirche
Ich kann mich noch erinnern, dass das Märchen vom Schlaraffenland in meiner Kindheit wirklich als Märchen angesehen wurde. Wenn wir Hunger hatten, dachten wir daran. Soviel essen können, wie man will, ja sogar so viel Kuchen oder Torte essen können, wie man will. Ein Märchen eben. Wir Kinder und auch die Erwachsenen konnten sich nicht im Traum vorstellen, dass noch in unserer Generation das Märchen Wirklichkeit werden würde. Ja mehr als das: Wir sind durch das Stadium eines erfüllten Menschheitstraums hindurchgegangen, ohne es richtig zu merken. Die Glocken haben nicht geläutet. Keine Feier wurde veranstaltet. Heute sind wir jenseits des Märchens. Aus dem Traum, so viel Kuchen essen zu können, wie man will, ist fast schon ein Albtraum geworden.1 Die Ökonomie hat ihre Aufgabe erfüllt. Sie hat uns von materieller Not befreit. Jedenfalls in den reichen Ländern.2 Unser Wirtschaftssystem ist zu großer Form aufgelaufen. Der amerikanische Soziologe und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin sagt, wir stünden vor einer ganz neuen Realität, die zu erfassen uns noch schwerfalle. Wir hätten uns die Ökonomie der Knappheit derart einreden lassen, dass wir an die Möglichkeit einer Überflussökonomie nicht glauben wollen. Die großen richtungsweisenden Ökonomen der Geschichte haben immer vor dem Hintergrund von Mangel argumentiert. Die Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel prägte ihre Denkweise. Die Zeit der Knappheit aber weiche der Zeit des Überflusses, so Rifkin. Der Wohlstand eines durchschnittlichen Angehörigen
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60 Prozent aller Frauen in den USA, lesen wir in den Statistiken, haben Gewichtsprobleme, sind übergewichtig. Ungefähr 30 Prozent sind sogar schwer übergewichtig. 2 Aber sie hat auch in den armen Ländern Fortschritte bewirkt. In ihrer Untersuchung errechneten Maxim Pinkovskiy vom MIT und Xavier Sala-i-Martín von der Columbia University, dass der Anteil der Menschen, die am Tag nicht mehr als einen Dollar zur Verfügung haben – inklusive der Nachkorrektur für Inflation –, zwischen 1970 und 2006 um 80 Prozent gesunken ist. Es sei der größte armutsbekämpfende Erfolg der Weltgeschichte, so die Autoren.
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der oberen Mittelschicht übertreffe heute den von Kaisern und Königen nur 400 Jahre zuvor. Jetzt, wo wir diese Stufe der Überwindung des Mangels erreicht haben, sollten wir einen Moment innehalten. Wir brauchen eine Zäsur. Versuchen wir also, den Wendepunkt, an dem wir uns befinden, etwas besser zu verstehen. In einer Welt des Mangels an Lebensmitteln entwickelt das Märchen vom Schlaraffenland typischerweise eine Vorstellung, die von diesem Mangel her gedacht ist. Und es endet mit gebratenen Tauben, die den Menschen in den Mund fliegen. In einer Welt, in der kein materieller Mangel mehr herrscht, spielen die materiellen Güter keine zentrale Rolle mehr. Anders ausgedrückt: Ökonomie wird zur Nebensache. Wir werden das Glück nicht länger in materiellen Gütern sehen. Nicht weil wir edlere Menschen werden oder ein höheres Bewusstsein erlangen, sondern schlicht, weil die materiellen Güter nicht mehr knapp sind. Diese Schlussfolgerung steht, wie wir alle wissen, in völligem Gegensatz zum Alltag, in dem wir leben. Ökonomie nimmt in ihrer Bedeutung keineswegs ab. Eher wird man feststellen müssen, dass die Ökonomie immer stärker auch in andere Lebensbereiche hineinwirkt. Die Ökonomie hat sich verselbstständigt. Sie geht mit freien Gütern wie Luft, Wasser und Land um, als seien sie für immer gegeben und könnten beliebig verbraucht werden. Damit ist sie nicht länger Dienerin der Menschen. Der Geist ist aus der Flasche entwichen. Was also tun, wenn der Mangel zu Ende geht? Die Antwort ist klar: Man muss ihn künstlich erzeugen. Klaus Wiegandt, lange Zeit Chef der Metro-Handelskette, heute überzeugter Vertreter einer ökologischen Denkweise, eine Art ,Saulus-zu-Paulus‘ in modern, hat gesagt: „Wir können so nicht weitermachen, das ist völlig absurd. Wir müssen jetzt Ökologie betreiben und radikal umdenken.“ Und er hat sich gefragt: „Wie kommt es, dass der Mangel beseitigt wurde und die Ökonomie trotzdem weitermacht wie bisher, als sei nichts passiert?“ Er erläutert den Beginn dieser Entwicklung am Beispiel der Nachkriegszeit der USA, 1945. Der Krieg ist vorbei. Die Rüstungsproduktion geht schlagartig zurück. Arbeitslosigkeit droht. Sie droht, sprunghaft anzusteigen. Die politische Antwort darauf? Der private Konsum muss angekurbelt werden. Die Menschen sollen mehr Waren kaufen. Sogar dann, wenn sie diese von sich aus nicht kaufen würden. Man muss die Werbetrommel rühren. Ja, man muss Marketing in einer Weise ausbauen – über das Zu-Markte-Tragen hinaus –, dass sogar solche Konsumenten, die ein Produkt gar nicht wollen, zum Kauf überredet werden. Eine Marketingoffensive muss her. Mehr Bedürfnisse wecken. Das Gefühl des Mangels im Menschen installieren. Man kann es die Geburtsstunde einer neuen Epoche nennen: Der Mangel muss suggeriert werden. Wenn ich es richtig verstehe, hat Moses den Aufstand rund um das Goldene Kalb blutig niedergeschlagen, den Aufstand gegen ihn und die göttliche Füh-
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rung. Heute kann man sagen: Die Aufständischen haben gewonnen. Global, in einem unglaublichen Ausmaß, hat es diesen Schwenk gegeben. Obwohl alle Religionen und Weisheitslehren dieser Welt sagen, dass das Anhäufen materieller Güter, das sich im Symbol des Goldenen Kalbs widerspiegelt, nicht zum Glück führt. Heute dominiert der Tanz ums Goldene Kalb alle Lebensbereiche. Was bedeutet das für uns? – Eine Illustration: Walt Disney, selbst ein erfolgreicher Entrepreneur, hat die Figur des Onkel Dagobert erfunden. In der Figur zeichnet er einen Charakter, der in Goldstücken schwimmt und immer noch mehr davon haben will. Er vergeudet seine Lebenszeit, er hat kaum Freunde, ist schlecht angesehen. Selbst jedem Kind wird klar, dass das Immer-Mehr-Anhäufen-von-Geld eher lächerliche Züge trägt. Dagobert ist eine tragische Figur, er verdient unser Mitleid und scheint emotional auf der Stufe von Vierjährigen stecken geblieben zu sein. Ich finde, es ist die beste der Figuren, die Walt Disney entwarf. Aber es ist ihm damit nicht gelungen, einen entscheidenden Schlag gegen diese Mentalität zu führen. Warum? Weil Kapitalakkumulation und Zinseszins wie eine Lokomotive sind, die auf voller Fahrt fährt. Man kann sie nicht so leicht aufhalten. Dazu müsste ich weiter ausholen, um das auszuführen. Nur so viel: Ich bin kein Anhänger von Marx. Als ich anfing, an der Freien Universität in Berlin Entrepreneurship-Kurse zu geben, hieß es, ich züchte kleine Kapitalistenschweine. So wurde das Thema Entrepreneurship damals betrachtet. Entscheidend ist heute allerdings: Wie geht man mit der Tatsache um, dass der Mangel weitgehend beseitigt wurde? Wie geht die Kirche damit um? Und wie gelingt es, dass wir dieses künstliche Anheizen der Bedürfnisse nicht übernehmen? Zunächst: Unser Wirtschaftssystem ist das Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe für Freiheitsrechte, etwas, das wir nicht geringschätzen sollten. Die Ansicht: „Der Kapitalismus ist schlecht. Wir brauchen eine andere Ordnung“ halte ich für eine leicht naive These, weil das System, das wir haben, viele Freiheitsgrade besitzt: Gewerbefreiheit, die Freiheit der Berufswahl, der freie Zugang zum Markt – es sind historische Errungenschaften. Ebenso die Vertragsfreiheit und der Schutz des Privateigentums vor Willkür der Fürsten – die beiden Grundpfeiler unseres Wirtschaftssystems. Aber was ist da schiefgelaufen? Müssen wir wirklich alles hinnehmen, was die moderne Ökonomie mit uns unternimmt? Die Verdummung, die Täuschung, die Manipulation und der Ruf nach noch mehr quantitativem Wachstum? Heute ist viel von Nachhaltigkeit die Rede, aber mit gespaltenen Zungen. Die Politik sagt: „Nachhaltigkeit“, und im nächsten Moment dreht sie sich um und sagt: „Wachstum. Wir brauchen höhere Einkommen. Mehr Steuereinnahmen. Wenn wir nicht mehr Wachstum haben, werden durch Rationalisierungen Menschen ihre Arbeit verlieren.“ Also, auf der einen Seite ist die Rede von der Nachhaltigkeit, was Wachstum eigentlich verbietet. Gleichzeitig wird auf der
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anderen Seite mehr Wachstum gefordert. Auch die Unternehmen pochen auf Wachstum. Die PR-Abteilungen jedes Unternehmens, einschließlich Volkswagen, können mit den blumigsten Worten erklären, warum Nachhaltigkeit die Aufgabe der Stunde ist. Und im nächsten Moment schauen sie, wie sie in der Quartalsbilanz den Umsatz erhöhen und die Gewinne. Die Ökonomie durchdringt zunehmend mit ihrem Kalkül alle Lebensbereiche. Das Kalkül lautet: Unsicherheit versus Gewinnchance. Wie verhält sich das Risiko zu den Gewinnaussichten? Bei niedrigem Wagnis und hoher Gewinnchance: Investition. Bei hohem Risiko und niedrigen Gewinnaussichten: keine Investition. Und wie ist es mit den Werten? In Adam Smith’ berühmtem Bäckerbeispiel wird der Wunsch des Bäckers, Überschuss zu erzielen, abgebremst – man könnte auch sagen: ausbalanciert – durch das Wertesystem seiner Zeit, in dem er sich bewegt. Er reizt den Preisspielraum nach oben nicht aus, weil er sich im Gedankengut des gerechten Preises bewegt. Er verfolgt nicht maximalen Gewinn ohne Rücksicht auf das Wertesystem seiner Zeit. Betrachten wir das moderne ökonomische Kalkül, vor einer Entscheidung die Risiken gegen die Gewinnchancen abzuwägen. Ich maximiere meinen Gewinn am sichersten, wenn ich die glückliche Konstellation vorfinde, bei niedrigem Risiko hohe Gewinnchancen zu haben. So steht es in jedem Lehrbuch. Eine eher risikolose Methode, sich schnell zu bereichern, ist es, einer alten Frau die Handtasche zu entreißen und unterzutauchen. Es ist, um im obigen Sprachgebrauch zu bleiben, eine einfache und naheliegende Gelegenheit, Gewinnmaximierung zu betreiben. Trotzdem tun es die meisten von uns nicht. Warum nicht? Weil uns schon der Gedanke empört, weil uns ein Grundanstand verbietet, so zu handeln. Wir sind deswegen noch lange keine edlen Menschen oder auch nur ehrenhaft, sondern nehmen eine Haltung ein, die selbstverständlich und völlig normal ist. Nur den Ökonomen gestehen wir zu, dass sie Gewinnmaximierung als oberstes Ziel setzen. Und damit alle anderen Ziele auf Plätze weiter hinten verweisen. Wenn der Gewinn oberstes Ziel ist, folgt daraus logisch, dass die Qualität des Produkts es nicht ist. Ebenso wenig wie die Mitarbeiter, die Natur, die Kunden oder das Preis-Leistungs-Verhältnis des Produkts. Wenn der maximale Gewinn an erster Stelle steht, wird der „Rest“ zu Variablen, eben dieses oberste Ziel zu erreichen. Ökonomie kommt nicht ohne Wertesystem aus. Ohne diesen moralischen Kompass werden die Trickreichsten, die Skrupellosesten mächtig werden. So mächtig, dass wir sie kaum noch stoppen können. Lassen Sie mich versuchen, diese Gedanken am Beispiel der Werbung zu zeigen. Professor Christian Kreiß von der Hochschule Aalen sagt: „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass wir in einer Normalität aufwachsen, die durch Lüge gekennzeichnet ist. “
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Er hat ein Buch geschrieben über Werbung3, in dem er sagt: „Alles das, was in den Lehrbüchern der Ökonomie steht, dass Werbung informiert, dass Werbung Vergleich ermöglicht, ist falsch.“ Wir sollten in der Tat nicht hinnehmen, dass die Lüge zur Normalität wird – unter christlichen Aspekten schon gar nicht. Ich habe mich bemüht, dieses moderne Werbedenken in eine Figur zu bringen: Ich nenne sie das „Marketingmonster“. Bei Marketing denken wir harmlos: Man muss die Waren doch zu Markte tragen. Herstellen allein reicht nicht. Man muss die Waren verpacken, sie transportieren. Schließlich soll man die Waren auch finden. Marketing sei notwendig. Was für ein wunderbares Versteck! Es stimmt natürlich, dass es das Zum-Markte-Tragen gibt. Aber die Kosten dafür betragen nur einen kleinen Teil des Marketingbudgets. Ja, sie sind sogar im Laufe der Zeit eher unbedeutend geworden. Die Transportkosten sind viel geringer als früher, die Kosten für Telekommunikation noch mehr. Wenn es um diesen Teil des Marketings ginge, würde das „Marketingmonster“ immer dünner, nicht dicker. Es gibt aber noch einen zweiten Teil des Marketings, der ganz anders aussieht. Nennen wir ihn die ‚Schlacht um den Konsumenten‘. Ökonomen würden es den Übergang von der Angebots- zur Nachfrageökonomie nennen. Auf die Generierung von Nachfrage kommt es an. Die Marken werden entscheidend. Daher der hohe Aufwand für Image und Vertrauensbildung. Wer es gut kann, wird hoch bezahlt. Kapital kauft Kopf. Inzwischen gibt es Universitäten mit eigenen Fakultäten für Marketing. Ich bin durch Asien geprägt, wo diese Trends noch viel stärker erkennbar sind als bei uns. Da sieht man Schilder wie Mehrfamilienhäuser, 30 Meter lang, 20 Meter hoch, auf schweren Stahlgerüsten. Auf ihnen steht: „Samsung“ oder „Philipps“ oder „Siemens“. Das ist der Informationsgehalt. Mit jeder Tafel könnte man wahrscheinlich drei Einfamilienhäuser bauen. Und wenn man von Bangkok zum neuen Airport fährt, sieht man 249 dieser Gebilde, alle von dieser Art. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich bin Ökonom. Ich liebe mein Fach. Seit der Antike ist der Grundgedanke der Ökonomie als sparsamer Umgang mit den vorhandenen Ressourcen verstanden worden. In der Denktradition der Ökonomen wie der großen Philosophen, von Aristoteles bis in die Neuzeit, hat wirtschaftliches Handeln stets eine dienende Funktion eingenommen. Was wir heute erleben ist das Gegenteil. Wir erleben, dass die Verkaufspreise ein Vielfaches der Herstellungskosten betragen. Das meiste Geld wird in die emotionale Aufladung von Produkten gesteckt. Damit ent-
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stehen Preise, die man in der Wirtschaftsgeschichte früher als schweren Wucher bezeichnete. Versuchen wir, diesem Trend ein Bild zu geben: Es wird ein Feuerwerk erzeugt, um die Aufmerksamkeit auf die eigenen Produkte zu lenken. Marken und Markenpflege werden entscheidend. Daher der hohe Aufwand für Marken. Die Herstellung von Waren ist heute nicht mehr das Problem. Der Absatz ist es. Deswegen wird das Marketing aufgerüstet, gewinnt eine zentrale Funktion in der Wachstumsgesellschaft, wächst zu ungeahnter Größe. Längst tritt es selbstbewusst auf, ist sich seiner Macht und Bedeutung sicher. Es geht um emotionale Aufladung, nicht um das physische Produkt. Es geht um „Lebensgefühl“, um „Empfinden“, um „Flair“. Und diese werden von der Marke erzeugt. Aber auch: Wie kann ich die Minderwertigkeitsgefühle der Menschen nutzen, um sie zum Kauf zu bewegen? Wie kann ich suggerieren, durch Statussymbole Selbstvertrauen zu gewinnen? Und mehr als das: Durch Marken gebe ich den Menschen Identität. Ich sage ihnen, was sie haben müssen, um sie selbst zu sein. Mich erinnert das an Goethes Mephisto: „Verkaufe mir deine Seele, und ich lege Dir die Welt zu Füßen.“ Sehen wir uns Marketing an am Beispiel Kaffee: Kaffee ist zunächst eine Commodity, etwas ganz Gewöhnliches, Handelsübliches, überall leicht zu Beziehendes. Unter diesen Umständen ist es schwer, mit dem Verkauf von Kaffee Geld zu verdienen. Es sei denn, man lässt sich etwas einfallen für das Marketing des Produkts. Es fängt an mit der emotionalen Aufladung des Produkts, etwa mit Begriffen wie „Krönung“ bei Jacobs oder mittels Packungsdesign, wie die Espresso-Blechdose von Lavazza. Strategien, um einen höheren Preis als für die Commodity zu erzielen. Aber es gibt noch eine Klasse für sich: Nespresso. Damit gelingt der Sprung in ein deutlich höheres Preisniveau. Der Kaffee kann jetzt um das Zehn- bis Fünfzehnfache teurer verkauft werden. Wenn Sie noch nie in einer Nespresso- Filiale waren, sollten Sie das unbedingt nachholen. Beeindruckende Ästhetik, ein Rausch der Farben und der Harmonie, und das alles für ein gewöhnliches Produkt wie Kaffee. Besser kann man die emotionale Aufladung und den Schein der Besonderheit nicht inszenieren. Vielleicht ist Nespresso erst der Anfang. Vielleicht ist das Meisterstück noch in Arbeit: mit einem Produkt, das alle brauchen, das aber in der Herstellung fast nichts kostet: Wasser. Wir treten also gegen mächtige Vertreter einer Ökonomie an, die neue Bedürfnisse weckt, künstlichen Mangel erzeugt. Ich meine, der Weg des Entrepreneurship der Kirche müsste lauten: Einmischen. Heute geht es darum, eine intelligentere, weniger Zerreißproben provozierende Ökonomie herbeizuführen. Dazu brauchen wir Menschen, die von anderen Wertvorstellungen geleitet sind, statt von Expansion zu schwärmen, die eine nachhaltig effizientere und
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sozial verträglichere Ökonomie entwerfen und in die Praxis umsetzen. Gewinnmaximierung kann nicht oberstes Prinzip sein, auch wenn das in den Lehrbüchern der Ökonomie steht. Und es verträgt sich nicht mit der Begrenztheit dieses wunderschönen Planeten und der Schöpfung, die wir auf diesem Planeten erleben. Wie könnte man sich ein Engagement der Kirchen vorstellen? Zunächst: Die Kirche mischt sich bereits ein. Da ist das Unternehmen GEPA, das eine Gemeinschaftsaktion der Kirchen ist, zum partnerschaftlichen Handel mit der Dritten Welt. Ein anderes Projekt ist „Leitungswasser statt Flaschenwasser“. Wir wissen, dass wir viel zu viel Plastik produzieren und wegwerfen, das für Jahrzehnte im Meer schwimmt. Es gibt meines Wissens eine Studie der Evangelischen Kirche, die sagt: Leitungswasser hat ökologisch den Faktor 300 an Einsparung gegenüber Wasser in PET-Flaschen. Denn diese Flaschen muss man zuerst in den Einzelhandel transportieren, mit nach Hause nehmen, entsorgen und so weiter. Ein Faktor 300! Es kommt ein weiteres gewichtiges Argument dazu: Die gesetzliche Trinkwasserverordnung, die Vorgaben zur Beschaffenheit, Aufbereitung und zu den Pflichten der Versorgungsunternehmen vorgibt, ist viel strenger als die Vorschriften zu Flaschenwasser – das ist bei Stiftung Warentest nachzulesen. Leitungswasser hat also die bessere Qualität. Aber was passiert? Nestlé kauft weltweit Quellen auf, um uns in den reichen Ländern das Wasser zu einem Vielfachen der Herstellungskosten zu verkaufen. Jemand hat ausgerechnet: Ein 50.000-Liter-Wassertransporter, der abgefüllt wird in Ein- Liter-Flaschen zu 1,50 Euro hat eine Gewinnspanne von 50.000 Prozent. Das ist ein gewinnträchtiges Geschäft für Nestlé. Was bedeutet das für uns? Gibt es eine andere Ökonomie? Können wir gegen Nestlé antreten? Ich behaupte: Ja! Erlauben Sie mir als Beispiel eine eigene Gründung: die Teekampagne. Mir war auf Reisen in Entwicklungsländer aufgefallen, dass Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker, Tee bei uns ungefähr zehnmal mehr kosten als dort. Was macht die Produkte bei uns derart teuer? Und warum war gerade Tee in Deutschland exorbitant teuer, selbst im Vergleich zu anderen europäischen Ländern? Dabei handelte es sich um ein Produkt, das anders als Kaffee, mit dem Verlassen der Plantage eigentlich fertig ist. Lag es an den Frachtkosten, der Versicherung oder etwa den hohen Gewinnspannen der Kaufleute? Nach eingehender Recherche stellte sich heraus: Teuer machen den Tee nicht etwa diese Kosten, sondern die zahlreichen Stufen des Zwischenhandels, die vielen Stationen, die der Tee auf dem Weg zum Verbraucher durchläuft. Kann man nicht stattdessen die Teepflückerinnen besser bezahlen und in die Umstellung auf biologischen Anbau investieren? – Man kann! Da man Tee gut drei Jahre ohne Verlust an Aroma lagern kann, haben wir den Tee in Großpackungen zu einem Kilo verkauft. Obwohl die Marketingexperten erklärten, dass man ihn zu 100 Gramm verkaufen sollte, weil der Kunde kleine Abpackungen gewöhnt
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sei. Keiner hat an einen Erfolg unserer Kampagne geglaubt; aber wir waren nach vier Wochen ausverkauft. Wir waren um zwei Drittel günstiger als das damals größte Teeversandhaus. Es war eine Skandalgeschichte. Der Chef des Deutschen Teeverbandes spottete: „Bei einem so niedrigen Preis kann es sich nur um Stroh handeln.“ Unser Marketing entstand dadurch, dass wir mit dem Teehandel in Konflikt gerieten. Wir waren nach 14 Tagen vor Gericht. Aber je mehr wir angegriffen wurden, desto mehr Menschen haben sich mit uns solidarisiert – auch die Medien. So sind wir groß geworden, ohne teure Werbung. Es ist im Grunde genommen die Geschichte von David gegen Goliath. Wenn David mit den Waffen des Goliaths antritt, verliert er. David kann nur antreten, wenn er die besseren Waffen hat. Das war in unserem Fall ein anderes Wertesystem, der Verzicht auf kostenintensive Werbung und emotionale Aufladung durch eine Markenwelt. Wir hatten das Gefühl, die Menschen hätten auf solch eine Alternative, so klein sie auch war, gewartet. Professor Binswanger aus der Schweiz sagt: „Anders als bei politischen Wahlen können wir im Grunde täglich abstimmen – mit unseren Geldscheinen.“ Wir haben die Chance, auf diese Weise Alternativen zu favorisieren und zu unterstützen. Die Voraussetzung ist, dass es solche Alternativen gibt. Die Waschkampagne ist ein Beispiel, das zeigt, dass man sogar gegen die ganz Großen antreten kann, gegen Unternehmen wie Procter & Gamble, Henkel oder Unilever. Obwohl es drei verschiedene Wasser-Härtegrade gibt, produzieren diese Konzerne nur ein einziges Waschmittel, egal ob der Kunde weiches oder hartes Wasser hat. Da zum Waschen aber weiches Wasser benötigt wird, ist allen Waschmitteln Enthärter beigefügt. Je härter das Wasser ist, umso mehr Waschpulver muss also verwendet werden, um ausreichend Enthärter bereitzustellen. Dabei würde es völlig ausreichen, nur die Menge des Enthärters zu erhöhen. Weil aber herkömmliche Waschmittel hier nicht differenzieren, verwendet der Verbraucher automatisch zu viel waschaktive Substanzen, obwohl gar keine höhere Menge gebraucht wird. Viele dieser Tenside landen damit ungenutzt im Abwasser. Die Waschkampagne bietet Waschmittel an, die zum jeweiligen Härtegrad des Wassers passen. Warum machen das die großen Konzerne nicht? Weil es nicht gewinnmaximierend ist. Denn wenn ich statt eines Waschmittels drei herstellen muss, die unterschiedliche Herstellungsprozesse, verschiedene Etiketten und Werbemaßnahmen benötigen, ist das kostenintensiver als ein einziges Produkt. Ich glaube, dies sind Beispiele, die einleuchten: Dass wir nicht Flaschenwasser kaufen sollten, dass wir Tee in Großpackungen und auf Vorrat kaufen können oder Waschmittel zur Verfügung haben, das dem tatsächlichen Härtegrad des Wassers entspricht. Es sind kleine Beispiele, aber sie sind richtungsweisend. Wenn David gegen Goliath antreten will, muss er eine Ökonomie der Produktwahrheit und der Produktklarheit betreiben. Am Beispiel Tee:
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Darlegung der Inhaltsstoffe, der Herstellungsbedingungen, der Folgen für die Umwelt und der Folgen für die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft. Nachhaltigkeit bedeutet den Verzicht auf technische und modische Obsoleszenz. Die Kernpunkte sind Transparenz und ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, das würde vor allem den sozial schwächeren Schichten zugutekommen. Wir können die Produkte viel preiswerter machen, wenn wir nicht in Markenwelten investieren. Seien wir fair und aufrichtig zu allen Beteiligten: zu den Menschen hier bei uns und in der Dritten Welt. Wir haben die Chance, eine bessere Welt zu bauen. Liebevoller, feinfühliger und vertrauensvoller, als es je zuvor möglich gewesen ist. Aber wir müssen selbst in den Ring steigen, es selbst in Gang bringen, es selbst unternehmen.
Literatur Kreiß, Christian: Werbung – nein danke. Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten, München 2016.
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Kirchliches Entrepreneurship – Apostolisches Handeln der Menschen, die sich Kirche nennen Eine Response auf Günter Faltin
„Wir haben die Chance, eine bessere Welt zu bauen. Liebevoller, feinfühliger und vertrauensvoller, als es je zuvor möglich gewesen ist. Aber wir müssen selbst in den Ring steigen, es selbst in Gang bringen, es selbst unternehmen.“ So endet Günter Faltins Vortrag zu kirchlichem Entrepreneurship. Ganz ehrlich, ich hätte einen anderen Vortrag erwartet, einen über Leitungsstrukturen und Organisationsentwicklung oder einen mit innovativen Ideen und Handreichungen für Kirchenentwicklung und Kirchenleitung in unternehmerischer Perspektive. Wohl auch einen Vortrag mit ganz vielen Literaturangaben und Fußnoten aus der hippen Entrepreneurship-Literatur. Stattdessen habe ich etwas anderes gehört: eine ‚prophetische‘ Stimme von außen, die eine utopische Hoffnung auf Gerechtigkeit und ökologische Sorgsamkeit beschreibt und die in diesem Prozess der Kirche eine große soziale und ethische Verantwortung zutraut. Eine Stimme, die von der Kirche erhofft, dass sie sich nicht nur um sich selbst dreht, sondern aktiv partizipiert am Kampf für eine gerechtere Welt. Ob da wohl von außen her der Kirche mehr zugetraut wird, als sie sich selbst und ihren Mitgliedern von innen her zutraut? In dieser Response möchte ich Faltins Gedanken nachgehen, aber an einigen Punkten auch ekklesiologische Problemanzeigen machen. Die Response ist in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Teil wird der Appell zur Bewahrung der Schöpfung und zum Einsatz für gerechte Strukturen als kirchlicher Auftrag behandelt. Dabei kommt auch die Frage danach auf, wer die Kirche ist und wer darin als Social Entrepreneur handeln soll. Daraus folgt der zweite Teil: Vom Sollen, Wollen und Nicht-Können, diese Grunderfahrung menschlicher Existenz, welche beispielsweise auch in Röm 7 thematisiert wird. Abgeschlossen wird mit einem Teil, der nicht nach einer ökonomischen, sondern einer theologischen Entrepreneurin fragt. Die Grundlagen dieser innovativen Tätigkeit werden im traditionellen apostolischen Handeln verankert.
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1. Bewahrung der Schöpfung – ein kirchlicher Auftrag Günter Faltins Appell soll den Kirchen Mut machen zum sozialen und ökologischen Handeln: Mut, die Stimme (oder sind es Stimmen?) zu erheben, Mut, gegen den Trend von Konsum und Verschwendung einen anderen Trend zu setzen. Ich höre einen kirchlichen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung und zum Einsatz für Fairness und Gerechtigkeit. Und implizit höre ich auch die Frage nach einer Kirche als Vorreiterin und Sinnstifterin. Einer Kirche, die echte lebenserfüllende Alternativen zur Verfügung stellt. „David gegen Goliath“, „Kirche mischt sich ein“, das waren Faltins Worte. Dass Bewahrung der Schöpfung, diakonische Tätigkeit für Hilfsbedürftige und der Einsatz für Gerechtigkeit alles Themen sind, welche die Kirche auch für sich beansprucht, sei unbestritten. Es gibt genügend EKD-, SEK- und GEKE-Papiere, dazu noch Handreichungen, Verlautbarungen und Appelle für ethisch und ökologisch verantwortliches Handel der einzelnen Landeskirchen, Kantonalkirchen, Kirchenkreise und natürlich auch Ortsgemeinden.1 Warum aber ist es so, dass aus der Kirche und von ihren Mitgliedern wenig Konkretes und Praktisches im Sinne des Social Entrepreneurship hervorgeht? Warum wird die Kirche nicht als die Stimme wahrgenommen, welche sich gegen unfaire Arbeitsbedingungen, für faire und biologische Produkte, gegen giftige Sprühmittel, für weniger Fleischkonsum und gegen Unternehmen wie Nestlé einsetzt? Warum begegne ich in kirchlichen Einrichtungen und in kirchlichen Bildungshäusern regelmäßig Nespressomaschinen und -kapseln? In der Schweiz hängt dies u. a. am theologischen Pluralismus, der vielfältige Meinungen – auch in ökologischen Belangen – zulässt. Zusätzlich sind der Respekt und die Achtung vor der individuellen Lebensführung der Mitglieder hoch. Geld, Konsum, politische Meinungsbildung und die Art der Lebensführung sind Privatsache, auch in der Kirche. Die Kirche soll Sinn stiften in religiösen Bezügen, aber sich nicht zu stark in das Leben der einzelnen Menschen einmischen. Und schon gar nicht in die Geschäftstätigkeit internationaler Konzerne, die in der Schweiz Steuern zahlen. Häufig hält sich die Kirche daran, nicht zu politisch zu werden und nur ein bisschen sozial und ökologisch, aber nie so stark, dass es für die Mitglieder eine 1
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konkrete Veränderung im Leben bedeuten würde. Liegt hinter der Zurückhaltung der Kirche die Angst, gute Steuerzahlende zu verlieren? Führen die finanziellen Ängste zu einer Kirche, die sich nicht öffentlichkeitswirksam einmischt? Oder hängt es auch ganz einfach an der menschlichen Bequemlichkeit? Fair und öko ist nicht immer einfach, nicht immer hipp, teilweise aufwändig und manchmal teuer. Was zudem als wesentliches Element hinzukommt: Die Werte und die politischen, sozialen und ethischen Überzeugungen gerade in Kirchgemeinden sind nicht fix – sie sind sehr vielfältig und divers. Erwähnt sei hier ein Beispiel aus der Praxis: Ich war sechs Jahre Pfarrerin in Bäretswil, einem schweizer Dorf mit 4000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Ich habe fünf Jahre dafür gekämpft, dass der Tee und Kaffee, den wir ausschenken, fairtrade zertifiziert ist. Beim Vorschlag, zukünftig Ökostrom für das Kirchgemeindehaus zu beziehen, wurde ich nur ausgelacht. So frage ich mich, ob das, was Günter Faltin als selbstverständlich vorausgesetzt hat, nämlich die kirchliche Einigkeit über die Werte und dass mangelnde Motivation und fehlende Begeisterung wohl nicht das Problem der Kirche sei, eben doch gewichtige Themen sind. Sind die Motivation und der Mut zur Veränderung und die Begeisterung wirklich gegeben in der Kirche? Wie steht es mit dem Sollen, Wollen und Nicht-Können, mit der menschlichen Begrenztheit, das Gute tun zu wollen und doch kläglich daran zu versagen?
2. Vom Sollen, Wollen und Nicht-Können – Römer 7 Dass das Sollen und Wollen nicht immer zu einem Können führt, darüber verzweifelte schon Paulus in Röm 7,18b-19: „Denn das Wollen liegt in meiner Hand, das Vollbringen des Rechten und Guten aber nicht. Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das treibe ich voran.“ Der Mensch ist limitiert, er ist nicht immer im Stande, von Werten geleitet vom Sollen oder Wollen zu einem Können zu kommen, aus welchen Gründen auch immer. Reine Appelle hören wir in- und außerhalb der Kirche schon genug. Nur über einen moralischen Appell kann kein ökologisches und soziales Bewusstsein geschaffen werden. Natürlich kann Aufklärung etwas bewirken. Aber echte Veränderung, Social Entrepreneurship in der Kirche, die Motivation und der Mut zur Veränderung gründen in etwas anderem. Nachhaltige kirchliche Veränderungsprozesse brauchen BeGEISTerung – brauchen Theologie. Sie gründen in einer Berührung des Geistes, in einem heiligen Zorn gegen die ungerechten Handelsbedingungen und gegen Diskriminierung. Daraus entspringt auch der Mut für kreative und innovative Wege in den Kirchen.
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Sabrina Müller
Ein Beispiel aus der Schweiz möchte ich dazu vorstellen: die GEBANA.2 Die GEBANA geht auf die Pfarrfrau Ursula Brunner zurück. Brunner organisierte in den 1970er Jahren in Frauenfeld, in der Ostschweiz, eine Gruppe von Frauen, welche sich „Bananenfrauen“ nannten und unter der Prämisse der Gerechtigkeit einen Mehrpreis für Bananen zugunsten der Bananenproduzenten in Entwicklungsländern (besonders in Nicaragua) durchsetzen wollten. Unter dem Motto „Warum ist eine Banane billiger als ein Apfel?“ sensibilisierten die Bananenfrauen die Öffentlichkeit für die Problematik des Welthandels und die sozialen und ökologischen Missstände im Bananenanbau. Die Bananenfrauen, die zuerst ausgelacht wurden, gelten nun als Wegbereiterinnen des „Fairen Handels“ in der Schweiz. 2012 trugen in der Schweiz 27 958 Tonnen oder 54 % der im Einzelhandel verkauften Bananen das Fairtrade-Gütesiegel. Die Bananenfrauen würden heute vielleicht als Entrepreneurinnen bezeichnet. Aus Überzeugung und eigenem Antrieb, mit Risikobereitschaft und Begeisterung und vielleicht auch aus einer Vision einer gerechteren Welt heraus veränderten sie einen Markt in der Schweiz.
3. Apostolisches Handeln – die theologische Entrepreneurin Dies führt mich unmittelbar zu meinem dritten Punkt. In Günter Faltins Vortrag wurde ganz selbstverständlich vom „Traditionsunternehmen“ Kirche gesprochen. Auf der einen Seite kann man Kirche aus dieser Perspektive betrachten, als Großinstitution, als Organisation und insofern auch als Unternehmen. Doch wie das Beispiel der Bananenfrauen zeigt, sind es auf der anderen Seite häufig gerade Einzelne oder eine kleine Gruppe von Menschen, die eine Veränderung anstoßen. Es sind Menschen mit Leidenschaft und Vision, die den Mut haben, Risiken einzugehen, auch wenn sie verspottet werden. Das führt mich zurück zu Günter Faltins Definition von Entrepreneurship: Entrepreneurship heißt, das Neue, das Ungewöhnliche, das Nicht-Selbstverständliche denken. Neue Sichtachsen finden, neue Aspekte einbringen, von außen an die Dinge herangehen. Und dieses Neue – mit Feingefühl aber auch Durchhaltevermögen – in die Praxis implementieren. Was aber sind solche Entrepreneure für Menschen? Welche Qualitäten und welche Charaktereigenschaften zeich-
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„Bio-Lebensmittel aus fairem Handel online einkaufen – Weltweit ab Hof “, https://www.geba�na.com/shop?gclid=Cj0KCQjwrszdBRDWARIsAEEYhrchVqneYf0etAdA2ycgnJUus_xgH_IrtAEnEx6wN6WXgXixMnjSicaApJoEALw_wcB – aufgesucht am 02. Oktober 2018.
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nen sie aus? Auf der Homepage gruenderszene.de wird der Entrepreneur, die Entrepreneurin, folgendermaßen beschrieben: Im Englischen beschreibt das ursprünglich französische Wort Entrepreneur eine Persönlichkeit, die bereit dazu ist, hohe Verantwortung und hohes Risiko zu tragen. Es geht bei dem Wort Entrepreneur also nicht nur um die stumpfe Übersetzung zum Unternehmer, sondern auch um Charakter, eine gewisse Lebenseinstellung und die Fähigkeit immer wieder neue Innovationen hervorzubringen. […] Das bedeutet, dass sich Entrepreneure vor allem durch eine besondere Geisteshaltung auszeichnen, die ihnen dabei hilft, außergewöhnlich gut mit Unsicherheit und Risiken umzugehen und ihr Unternehmen zum Erfolg zu führen.3
Im Horizont von Ekklesiologie und Theologie ist diese moderne Beschreibung eines Entrepreneurs nahe an dem, was biblisch und theologisch als Apostel bezeichnet wird. Ich ziehe nochmals Paulus als Beispiel heran: Er war wohl der emsigste Entrepreneur des frühen Christentums. Er war bereit, große Verantwortung und noch größere Risiken auf sich zu nehmen, um das Evangelium zu verkünden und neue Gemeinden zu gründen.4 Doch nicht nur Paulus war ein fleißiger, begeisterter und risikofreudiger Entrepreneur: Das Christentum selbst ist geprägt von solchen Menschen, welche sich durch eine besondere Geisteshaltung auszeichnen und gut mit Unsicherheit und Risiken umgehen können. Erinnert sei an die ersten Gemeinden, bei denen alle gmeinsam aßen und beteten und wo die Hierarchien zwischen Sklaven, Frauen, Kindern und Männern aufgehoben waren. Überzeugte Christinnen und Christen kümmerten sich um Sterbende und Kranke, errichteten Krankenhäuser, Schulen und Waisenhäuser. In der ganzen Geschichte des Christentums lassen sich mutige Apostel und Apostelinnen entdecken, die aus BeGEISTerung mutig handelten. Berühmte Persönlichkeiten wie Franz von Assisi, Martin Luther, Martin Luther King oder Mutter Theresa gehören dazu, aber auch unzählige weitere Engagierte, deren Namen kaum bekannt sein dürften, wie beispielsweise jene Bananenfrauen. Im Moment boomt in der Schweiz der Trend ‚theologieleere‘ Begriffe und Konzepte in die Kirchenentwicklung zu importieren und sie als kirchliche Innovation zu implementieren. Wie zukunftsfähig diese Tendenz für das „Traditionsunternehmen“ Kirche ist, sei dahingestellt. Das Potenzial für kirchliches soziales
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„Entrepreneur Definition“, in: Gründerszene Magazin, https://www.gruender–szene.de/lexi� kon/begriffe/entrepreneur – aufgesucht am 02. Oktober 2018. Vgl. u. a. Apg 13–21.
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Sabrina Müller
und ethisches Entreneurship liegt m. E. in der urchristlichen Idee des Apostels und des apostolischen Handelns der Menschen, die sich an Jesus Christus orientieren. Dabei ist Innovation auf der Basis von Tradition und Kontext notwendig.5 Für dieses apostolische Handeln werden momentan diverse Begriffe verwendet wie eben Entrepreneuer oder Pioneer im angelsächsischen Raum.6 Diese gesellschaftskritischen, emsigen und unbequemen Apostel und Apostelinnen gibt es immer noch. Schlussendlich müssen sich aber die (Landes-) Kirchen fragen, ob sie diese Menschen dabeihaben möchten und ihnen Raum geben wollen. Möchten sie apostolisch handelnde Personen beheimaten, die von Begeisterung, Veränderungswillen, Idealismus und Aktivismus getrieben sind und bestehende Strukturen, Gegebenheiten und Werte in Frage stellen? Gibt es in der Kirche Platz für unbequeme Menschen und wird ihnen Gestaltungsfreiraum eingeräumt? Solche Menschen sind Entrepreneurinnen und Entrepreneure, welche Veränderungen in Traditionsunternehmen bewirken können. Deshalb als Abschluss dieser Response zwei Thesen, welche am Ursprung von kirchlichem apostolischem Handeln stehen: 1. Nachhaltige Entwicklung und Veränderung in der Kirche muss von der BeGEISTerung beseelt und theologisch geleitet sein. 2. Soll in der Kirche Veränderung geschehen und Neues entstehen, braucht es Menschen, die apostolisch Handeln. Damit sich diese Menschen entfalten können, ist eine fehlerfreundliche, risikofreudige, Freiraum spendende und unterstützende Atmosphäre und ein großzügiges Ekklesiologieverständnis wesentlich.
Literatur Müller, Sabrina: Fresh Expressions of Church – Beobachtungen und Interpretationen einer neuen kirchlichen Bewegung, Zürich 2016. Shier-Jones, Angela: Pioneer Ministry and Fresh Expressions of Church, London 2010.
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Vgl. Sabrina Müller 2016, 286 f. Vgl. z. B. Angela Shier-Jones 2010.
Graham Tomlin
The Church of the Future
It is not uncommon to hear the charge that the church in Europe is facing a crisis. This is of course not news to anyone, and is perhaps the unspoken premise behind this conference. Church buildings and church communities still stand as witness to a way of life that sustained the lives of millions of people over the centuries in Europe. Year after year for centuries, people gathered in these buildings to pour out their hopes, fears and dreams to God in prayer; husbands and wives made life vows to each other, baptised and gave thanks for the birth of their children around fonts; people of all ages took bread and drank wine at ancient altars and buried their dead in graveyards. Meanwhile, these buildings kept standing through reformations, civil wars and revolutions, and provided a continuity that held together the changing fortunes and moods of their local community for a millennia and a half. Now however, the buildings remain, and often the complex organisational infrastructure that surrounds them, but popular participation levels have dropped so severely, that this whole network is threatened with questions about its very survival. Harsh winds are blowing, whether secularist or explicitly atheist voices severely critical of Christianity, church scandals that deservedly cast shame on the church itself, or just the growing affluence of European society, which thinks of God as just an unnecessary burden. Whatever the reasons, it’s a valid question to ask how the church can adapt and survive into this new world facing Europe at this moment of change. In that context, what will the church of the future look like? How can we envision the church of tomorrow? In answering that question, it is tempting to offer a list of characteristics that successful churches will possess as we move into the challenging waters of a continent that is fast losing its faith in traditional Christianity. And there is no shortage of books offering a blueprint for what the church of the future will look like.1 Yet in this lecture I want to offer
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Notable examples would include: Michael Frost und Alan Hirsch 2003; Bob Jackson 2003; id. 2005; Ian Coffey and Eddie Gibbs 2001; Duncan MacLaren 2004; Nick Page 2004.
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an analysis that suggests we need a multi-faceted and varied approach to envisioning the future of the church in coming times. Because it is not just churches that are facing these crises. It is well known that participation in institutions and social activities has declined across the board, memorably charted in the American context in Robert Putnam’s influential book “Bowling Alone”.2 Membership of political parties in the UK at least has dropped severely in recent years, and a number of other well-loved social institutions are facing similar challenges. To take one example, in England, we have our beloved and rather quaint game of cricket. On one level it is a simple game, like football, involving 11 players on each side, one side throwing (or ‘bowling’) a ball at a batsmen, trying to get him out, the other side trying to hit the ball to score points, known as ‘runs’. I know it is not much played in Germany, but it is a standard and established part of the English summer. In villages and towns up and down the country, you can still see cricket pitches, with cricketers dressed in white playing the game on Saturdays and Sundays, and sometimes on weekday evenings all the way through the summer (as long as it’s not raining!). Cricket is such an established part of English life, that it’s hard to imagine England without it. Cricket on the village green is part of our national self-image, an integral part of English life, one that still occupies a significant place within the nation’s imagination. As a sport, it was exported in the nineteenth century throughout the British Empire, so that many countries formerly part of that empire are now devoted followers of cricket, such as India, Pakistan, Sri Lanka, Australia, New Zealand and the West Indies. Cricket is an intricate game with complicated scoring and rules that are notoriously confusing for outsiders. Americans for example, can never quite grasp our fascination for a game that can last five days, and still end in a draw! From the 1890s to the 1950s, cricket was undoubtedly the major sport in England. In 1892, 34,000 people went to watch a day’s cricket between Surrey and Nottinghamshire.3 In the 1920s, 20,000 people regularly turned up to watch games at Lords, the main cricket ground in London, and still the most famous cricket ground in the world.4 These matches, played between the different English counties usually lasted around three days. The performances of different batsmen and bowlers were analysed carefully, results were studied fanatically, and great cricketers were the heroes of the nation, with young boys and sometimes girls avidly collecting cigarette cards with their faces on them. If we think
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Robert D. Putnam 2000. Derek Birley 1999, 155. Ibid., 213.
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of the mass popularity of football across Europe today, cricket had a similar profile in England at that time. Cricket also had a kind of code of conduct. It stood for politeness and sportsmanship, crowds watched and applauded quietly, fair play was a hugely valued element of the game, and displays of emotion – anger, frustration or delight, such as you see regularly on football pitches – was frowned upon. In the 1950s and 1960s, as post-war affluence began to offer other leisure activities, football gained in popularity and the emergence of TV changed public attitudes to entertainment, cricket began to struggle. By the early 60s, annual attendances had dropped by 2 million to around 700,000.5 If you go to a county cricket match today (a form of the game that still takes three days for a single match), you might often find yourself one of a few hundred people, scattered across a large stadium, with the nearest person in the crowd sitting 100 yards away. International cricket still continues to be popular, with sell-out crowds at stadiums in England at least, although this form of the game takes five days, needs a lot of patience, is sometimes difficult to understand, and its popularity is declining in other parts of the world. As a result, commentators on cricket have given predictions of doom and gloom about the future demise of cricket, in a strikingly similar way to what we have seen in the church. Faced with this crisis, cricket has had to reinvent itself. In recent years new forms of the game have emerged. In the 1970s, one-day cricket was invented, with a game lasting just one day rather than the traditional three, or even five. That became very popular for a while, yet even that did not stem the tide of decline. In the early 2000s, a new format was invented, called 20:20 cricket, a form of the game that only lasts a few hours, so it could be played in an evening, after work hours. Cricketers wear coloured clothing, rather than the traditional white. The game moves at a faster pace. Cricket, a little like baseball, involves hitting a hard small ball with a wooden bat. In recent years technology has enabled bats that can hit the ball harder and further. The combination between this new technology, fitter players and the new format, encouraged faster scoring, bigger hitting, heroic fielding and catching, a much more exciting and dramatic style of play. These matches have cheerleaders, flamethrowers, entertainment around the edges of the field of play, and crowds are encouraged to be as noisy as possible, rather than the traditional hush that accompanied games of cricket. Cricket balls were always red. Now that many of these games are played at night under floodlights, the balls have changed colour. Some are pink, for
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Ibid., 293.
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games played during the day into the night, others are white, for shorter games played solely at night. This new format took off dramatically in India, with what has become known as the Indian Premier League, a tournament which started in 2008. This has been an extraordinary success, with the brand valuation estimated at around $ 5.3 billion in 2017 due to TV rights, and the involvement of the world’s best and most exciting players. In Australia, the Big Bash League, playing the same basic form of the game, has attracted crowds of over 80,000 people to a single game, and is now among the top 10 most valuable sports franchises in the world. In England at the moment, there is controversy over a new proposed form of the game. This would abandon the traditional county teams, and instead have teams based on the major cities of England. The game would be even shorter – 100 balls bowled. All kinds of innovations are planned for this and a significant debate continues to rage around it. Devotees of the traditional forms of the game tend to view these innovations with disdain. They think that they are vulgar, populist and demeaning forms of cricket, and have lost vital aspects of the game itself. To such people, these new forms are hardly cricket at all. On the other hand, these new forms of cricket are proving immensely popular. Whereas a traditional three-day county game might attract a crowd of 500 on any given day, a 20:20 match can attract around 20,000 on a summer’s evening. Those who are drawn to these new forms of the game often look at the longer, more traditional forms with bemusement: The rules and regulations are so complicated, the game is so slow, so hard to understand, that they cannot see why anyone would be interested. What will the future of cricket look like? It is almost impossible to say – as hard as it is to predict the future of the church. Cricket now exists in a number of different formats – international 5-day ‘Test’ matches, matches between English counties or Australian states lasting three days, one-day games, daynight games, 100 ball cricket and so on. The newer forms are massively popular; traditional cricket is less so. Within the broader economy of the sport however, the less popular ones are in fact kept afloat by the money generated by the more popular ones, because there is a commitment to all forms of the game, as each expresses something a little different about its richness. Because each format expresses something different of the essential genius of the sport itself, there is, at least at present, a commitment within the game to support all forms, even though some don’t always pay their way. Having said that, not all innovations are acceptable. Recently, the Australian international team was caught trying to alter the state of the ball in a match by using sandpaper to make it act differently. This was roundly condemned as not a valid innovation, but as cheating. Innovation in cricket is
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encouraged, but not limitless innovation that does offend against the identity and core of the sport.
Changing Cricket and Changing Church The parallels with church are perhaps obvious. Traditional forms of church life, much loved by those brought up within the church, or perhaps attracted by its arcane and intricate rituals, sometimes perhaps because, rather than despite their mysterious nature, are proving less and less attractive to more and more people, especially younger ones. As a result, many in the church have sought to create new forms of church: fresh expressions, café churches, megachurches and the like. These look decidedly unfamiliar to those steeped in more traditional ways of expressing Christian life. Because they feel so different, it seems as if they have abandoned something essential. They no longer have robed clergy, sacramental reverence, erudite sermons, hymns and organs, ancient music sung by classical choirs, accompanied by a hushed silence throughout the rest of the service. Instead they seem brash, noisy, irreverent. The loud contemporary songs seem more like a concert than an act of worship. Those attracted to these new forms of church, whether edgy fresh expressions, or loud, contemporary worship-based services, see the complex, formal and confusing rituals of traditional church as hopelessly out of date, confusing and remote from ordinary life. Compared to the thrill and excitement of singing praise in loud contemporary music, sermons that are more practical than philosophical in content, and the chatter of friends greeting each other, the more hushed and respectful atmosphere of traditional worship seems overcomplicated, impersonal and hard to understand. Yet such apparent differences are not as straightforward as we think. This is true in cricket as much as it is in church. For example one of the aspects of modern cricket has been the development of a large betting industry surrounding the game, which has led to some controversies and malpractice. What is often not noticed is that in the 18th century, when the game began, betting was widespread on cricket matches, so that this practice is a return to the origins of cricket not a departure from it. Similarly, while traditionalists might complain about the rapid nature of the current game and the big hitting involved, scoring rates in the late 19th century indicate that the game was played at a quite fast pace then, with very quick and high scoring involved. Traditionalists are in fact only holding onto a form of the game which existed for a few decades in the early 20th century, rather than something abiding and eternal about it.
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In a similar way, church traditionalists may complain about boisterous congregations and contemporary forms of music. However an analysis of St Augustine’s sermons for example, suggest high levels of audience participation, involving cheering, booing, interjections at many points which the preacher had to engage with as he went along. Similarly at one point, organ music was a new-fangled innovation, just as much as guitars or jazz are today. The game of cricket has effectively developed a number of different formats for the same sport. Some things have changed, and yet arguably, the essence has remained the same. The colour and style of clothing, the length of the game, the atmosphere of the crowd, the colour of the ball, the rate of scoring have all changed dramatically. Yet, however much these new formats of the game have changed, they are all still recognisably the game of cricket. They still have 11 people in each team, are made up of batsmen and bowlers, batsmen score runs, and bowlers try to get them out in exactly the same way; the scoring system remains the same, the length and size of the pitch and so on. In other words, the sport of cricket is now a rich ecology of forms, held together by a set of common practices and basic expectations. In the same way, the Christian church is also a rich ecology of forms, held together by a set of common practices and basic expectations. Those practices include the celebration of the sacraments, the reading of Scripture, instruction in Christian teaching, the offering of praise and worship, and meeting together to engage in these practices. The expectations include seeking to reach out to one’s neighbour in love, service of a local community, mutual support within the Christian fellowship and so on. Of course the boundaries between core practices and those that can be changed are subject to some debate, as they are within the evolving sport of cricket. Nonetheless, the principle remains the same.
The Marks of the Church? Cricket has managed to develop an implicit distinction between the basic elements of the game and the different formats in which it is played. In the same way, the church has, over time, developed that same distinction. As cricket has evolved a range of different formats, with a common simple structure, each one manages to bring out a different aspect of the rich possibilities that exist within this particular sport. The longer games have the intricacy of tactics, the ebb and flow of the match, the subtleties introduced by the state of the pitch, the atmosphere of the air which affects the way the ball moves – all of which are of fascination to the traditional cricket lover. On the other hand, these forms of cricket are notoriously slow, and to the outsider seem simply boring.
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The newer forms of cricket are exciting, dramatic, full of thrills and knife edge finishes. There is no such thing as a draw in 20:20 cricket! They lack the tactics, the subtlety and intricacy of the traditional forms, but their simpler, more energetic and culturally attuned formats have an appeal to a wider audience, including women and children who have not been brought up on traditional cricket. If the first resembles a game of chess, the second is closer to football or a TV thriller. However many devotees of one kind may disparage the other, it is evident that different forms of cricket bring out different aspects of the richness of the whole. I would suggest this approach – that different formats express parts that others cannot fully express –, is a good way of thinking about our different forms of church. The church has always operated with some kind of distinction between its core practices, beliefs and identity, and the forms in which those are expressed. Especially at times of rapid cultural change, definitions of the essentials, or ‘marks’ of the church have proved to be particularly useful. This was particularly true at the time of the Reformation when the church went through some significant rethinking of its shape, ministry and format. Questions of the marks of the church became central to some of the Reformation debates. We might think for example of John Calvin’s famous definition of the church: “wherever we see the word of God purely preached and heard, and the sacraments administered according to Christ’s institution, there, it is not to be doubted, a church of God exists”.6 Or more recently, a definition offered by Rowan Williams: “believers assembled in the company of the living Jesus, called into fellowship and equipped to call others.”7 Such definitions can act as touchstones, or reference points, as the common ground that holds the different formats of church together, just as the basic elements of cricket also hold the sport together despite its different formats. We might be tempted to think of such definitions as a bare minimum – something smaller than the forms of church which we see in practice – the least you can get away with. However, it might be better to see it the other way round. These definitions offer us a large and expansive vision of church. Calvin’s definition, for example, is fundamentally Christological. It asserts that the church gathers around Christ, who makes himself known and present in both Word and Sacrament. Rowan Williams’ definition similarly focuses on the centrality of Christ, and the life which he calls us to. The identity of the church he outlines – a church that is people gathered around the living Christ – and the tasks he describes are
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John Calvin 1995, IV.1.9. Steven Croft (Ed.) 2006, 59.
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lifelong callings, can be explored and developed in all kinds of ways in local cultures. These are wide, expansive and full pictures of what it means to be church. To truly fill out the picture of what it means to be church in terms of behaviours, emotions, actions and transformations, many different expressions of church are necessary, not one simple blueprint, and each particular format of church expresses just a part of this grand vision. In re-thinking and re-envisioning the church, we are not replacing one older version with a new one, we are adding different perspectives onto a whole that is bigger than any one expression of church. Another way of putting this is to use a distinction that has fuelled much recent ecclesiological thinking – that between the church and the kingdom. If the church is fundamentally oriented towards the kingdom, no one expression of church can do just to the full measure of the kingdom of God. We will need many forms of church to get anywhere near expressing that. To fill out this point, it is worth spelling out a number of forms of church and what they offer in filling out this big picture of the Church and the Kingdom.
Parish Church Last year I became very involved in the aftermath of the fire at Grenfell Tower in London, where 71 people were killed when a tower block caught ablaze. One of the stories that resonated across the UK at the time, was the response of the church. While the fire was raging in the early hours of the morning, one of the first buildings that opened its doors to receive survivors, and evacuees from local properties was the local parish church. Over the next few days churches became respite centres, receiving donations and gifts, as well as vital community centres where crucial meetings took place. When the Prime Minister came to visit the site, I found myself chairing a meeting between the Prime Minister and members of the local community, in the body of the local parish church. At a time when the local council struggled to respond, local churches became vital centres of community response. What made the church different? Many other charities offered their help. Experts came from far and wide, as well as the 24/7 media machine. People came in to volunteer from all over London. The difference with the church is that we were already there. The church did not have to come in to help the local community, it was already embedded within it. That particular local parish church had been in that area for over 150 years, had built up a great deal of local trust, and so when a moment of crisis came, it was the natural place to turn to. The parish priest, who lives in the local area, and the church building which opened its doors on the night of the fire and over the crucial days which fol-
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lowed, all supported by the resources of the wider church, gave an eloquent testimony to Christ during that time. It spoke of the value and power of simple presence. It offered a space that was not aligned with any particular political party, or community group with an axe to grind, or any other particular agenda other than compassion and the offer of space. It is a form of church focused upon the Eucharist. It uses robes, incense, complicated liturgical language, and intricate mysterious actions by the priest and those who assist him during the service. A bit like some of the complicated technicalities of more traditional forms of cricket, it is perhaps alien to most people who would be looking for something a bit more accessible, and yet its very mystery ushers us into the realisation that ultimately God is to be encountered rather than understood, that physical reality is capable of displaying the glory of God, and that God offers himself to us, not just in ecstatic experiences but in the ordinary things of life – bread and wine, our neighbours and friends. It is a church that sees the Incarnation as the central fact of Christian life. This small parish church is therefore a sign of God’s deep identification with every single community. It is a sign of God’s commitment to earth, to places, to particularity, not generality. The God who becomes incarnate in Jesus Christ, in the specificities of first century Jewish culture, is the God who can be found not so much in abstract ideas but in the ordinary details of life and commitment to local communities.8 Yet it struggles to attract many people on a Sunday. Its forms of worship are strange to eyes that are not accustomed to Anglican liturgy – they are quiet, understated and restrained, which in a culture of non-stop stimulus and information seems dull and unattractive to many. As a result, it does not have a great appeal to the many younger people in the neighbourhood, and its longterm financial viability is doubtful – without support from the wider church, it could not survive.
Cathedral Shortly after the Grenfell Tower fire, I was speaking with one of the survivors from the tower who had emerged as a significant community leader, about how those who had died would be remembered going forward. We thought about ways of remembering them and finding a way to express solidarity with the
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See Steven Croft (Ed.) 2006. For a helpful set of essays looking at the prospects for the parish in the future.
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local community, and to ensure that the nation did not forget. The idea emerged of a major national act of remembrance, and so we began to put in place the arrangements for the service which took place exactly 6 months after the fire, which was televised live on the BBC, in the presence of the Royal family, and the Prime Minister and senior politicians, but most importantly, the survivors, the bereaved, and those who had volunteered help in the intervening time. There was only one place where this could happen. This community leader was a Muslim, but he was in no doubt that it had to take place in St Paul’s Cathedral, the major place of worship in London, our capital city. What emerged was an intensely moving, powerful and healing act of Christian worship. The congregation included many Muslims, people of all faiths and none, and yet the structure of the service was clearly Christian, offering a mix of lament, repentance and hope. The grandeur, size and history of the cathedral, as well as its significance as a place of prayer over many centuries made it a venue in which a very fractured and divided community could come together and find a measure of unity. At the time, in my sermon I said this: There is something about a Cathedral – it is a place where we are aware we are in the presence of something – someone – bigger than ourselves. As we cross the threshold into this building, it doesn’t matter whether we are politicians, religious leaders, volunteers, survivors, bereaved, residents – we are all equal in the eyes of God. Love makes no distinctions. We are all neighbours to each other and we are called to love our neighbours.
Cathedrals can host large-scale acts of worship. They can testify to the breadth and capacity of Christian faith to hold together all kinds of other strands and groups within society. Cathedrals often host major civic occasions, and thus are a sign of God’s embrace of the whole of human life, that regardless of background, or the state of one’s spiritual life, can come before God and bring fears, hopes, the anxieties and longings, and find space within the house of God which is a large and spacious place. At the same time cathedrals can be somewhat impersonal, allowing people to slip in and out without really engaging with anyone else. They can foster a slightly distant spirituality, which enjoys the presence of the numinous, but does not go further to any personal challenge for change. They also struggle to establish a strong sense of community, within which Christian life needs to be lived, and tend not to have a particular practical commitment to a particular local community.
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Megachurches The USA boasts 1600 megachurches, defined as a church with more than 2000 people in weekly attendance. Over half of all the people who go to church in the USA attend a megachurch. Of course they vary a great deal. Some, such as Lakewood Church in Texas, which is up to 50,000 attendees, serve as a platform for the hugely popular, yet not uncontroversial Joel Osteen and his TV ministry, focused upon feelgood motivational talks, and high quality production. Mars Hill Church in Grand Rapids on the other hand features Rob Bell, controversial in a different way from Joel Osteen, and with a very different clientele. The Hillsong phenomenon is one of the major movements in world Christianity, with huge congregations in major world cities. Its Australian home in Sydney has around 40,000 people. Its music is contemporary, loud, energetic and catchy – the church has produced over 40 albums which have sold over 1 million copies. Its message is upbeat, focusing upon human potential, and of the power of faith in Christ to enable a person to realise that potential. Most are built on the ministry of particularly talented and dynamic leaders, emphasise accessibility, with intentional welcome, and informal style of music and practical teaching that places less of a hurdle of understanding to the average person with no church background.9 Like the newer forms of cricket, traditional churches and others are often quick to criticise Hillsong and megachurches like it. It is flashy, loud, and to some a vulgar, populist form of Christianity, but lacks the dignity and depth of more traditional forms. Critics point out that megachurches, like cathedrals, because of their size and scale, do not encourage genuine community or focused discipleship. Like a cathedral, where it is easy to attend simply to enjoy the quality of the choral music, in the same way megachurches can encourage a passive form of church involvement, encouraging spectators rather than worshippers. While some of these churches do encourage and enable significant social action ministries, because they recruit people from such a large area, they struggle to be embedded in the life of any particular community in a way that parish churches are. Yet there is no doubt, that like new formats of cricket, it is attracting significant numbers of young people, who are simply not attracted to other forms of church life. They capture the exuberance of Christian faith, the sense of being caught up in something much bigger than yourself, and while 9
Stephen Ellingson 2007 is an example of a study of how Lutheran churches in America are adapting to new cultural conditions by moving in a more ‘megachurch’-like direction. The book is evidence of a concern that such churches do sacrifice something essential to Lutheranism – like cricket traditionalists criticizing 20:20 cricket for doing the same!
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they are not clearly embedded in any particular local community, they are in other ways deeply contextual. They are an attempt to express Christian faith in terms familiar to young, contemporary urban culture. They use the forms of music, verbal communication, and even the motivational style of the TED talk generation. They are the 20:20 cricket of contemporary Christianity. Those who attend megachurches, especially ones like Hillsong, tend to be far younger than the average attendee of a traditional parish church, and are often from backgrounds where churches are simply not part of their experience. A Hillsong worship service feels very much like going to a concert with audience participation. There is a recognition even within megachurches themselves of the weaknesses of the model. As one megachurch pastor put it: The reality is, we megachurches don’t do discipleship well. And it’s because of the time and energy we spend on the big event every weekend. […] However, there is a movement within the last five or ten years, where megachurch pastors are really taking a good internal look and saying, ‘Do we have just a lot of people coming? Or are we truly discipling people?’10
There is evidence to suggest that, like those initially attracted to 20:20 cricket, who then gravitate to the more traditional forms, many who are initially attracted by the bright lights and energy of mega-churches ultimately find themselves drawn to more local, small scale, community-focused churches.
Fresh Expressions The Fresh Expressions movement emerged out of the 1990s movement of church planting, recognising that changes of culture and ways of approaching church required a much deeper reimagining of church – one that tried to express the life of the church in local cultural forms, going to where people were, rather than expecting people to come to what was called ‘inherited forms of church’. The 2004 report in the UK, Mission-Shaped Church was a vital moment that brought this movement into the mainstream.11 It was the most widely read Church of England report ever. It gave permission for a whole generation of young pio-
10 See https://www.premierchristianity.com/Past-Issues/2018/May-2018/I-visited-six-US-mega�churches.-Here-s-what-I-learned – accessed 11 th May 2018. 11 The Archbishops’ Council 2004.
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neers, often frustrated with the structures of traditional forms of Christian life, to rethink church from the bottom up. It defined Fresh Expressions as „new forms of church that emerge within contemporary culture and engage primarily with those who don’t go to church”. The basic idea was that the church could emerge organically from within existing cultural subgroups, rather than existing separately. This church is something that you are rather than something you go to. Different denominations have come on board. Studies conducted between 2012 and 2016 identified 1109 Fresh Expressions of Church across the UK with 50,600 attending them. Around the world it is estimated that around 3000 such Fresh Expressions exist, from family focused messy churches to new monastic communities and alternative worship. They are not a way of getting into church – they are church itself. Many fresh expressions have proved a more flexible and adaptable way for people with no church background to engage with the Christian faith. They have certainly been a major aspect of church growth and outreach in the UK and in many other churches in recent years. At the same time, because they are so flexible, and refuse to adapt inherited forms, they sometimes lack stability and durability. Traditional parish church with set liturgy, familiar hymns, and established pattern of worship that is familiar and comfortable does have a certain stability about it, even if it lacks the excitement and freshness of new forms. As each Fresh Expression has to a certain extent to invent itself, it leaves a great deal of pressure on the individual leader, and while many have survived and thrived, many other such initiatives have struggled to establish themselves. Fresh Expressions express something of the nimbleness, the adaptability and freshness of the gospel, and the way in which the kingdom of God is ever new, never dull, and is always finding new ways to express itself. At the same time it has been criticised for irresponsibly loosening the link between form and content in the presentation of the gospel,12 and pandering to cultural fads of novelty,13 while lacking the sense of stability and history of more traditional forms of church life, such as cathedrals and parish churches, it still echoes something essential to the life of the kingdom that such ways of church sometimes lack. Just as cricket has evolved into a sport with a number of different formats, each of which express a particular aspect of the game’s richness, all of which share a common core of practices and structures, in the same way, the Christian church also needs to see itself as existing in a number of different formats, each of which express something of the richness of the kingdom of God, all sharing a common core of practices and structures.
12 Cf. Andrew Davison and Alison Milbank 2010. 13 Cf. Martin Percy and Luise Nelstrop 2008, see chapter 3.
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There is not, nor has there ever been, one particular form of church that will thrive and survive. What is needed for the long-term flourishing of this ecology of church are a number of things: 1. A willingness to experiment, try new formats, and to take risks of expressing Christian faith in varied cultural forms. 2. A generosity of spirit between different forms of church, that recognises the strengths and weaknesses of each, and that each has something particular and prophetic to say about the kingdom of God. 3. A willingness to resist the temptation of any one particular form of church to think of itself as the only true and valid form of Christianity. Christian faith exists in a number of different forms – always has done, and always will. 4. A mutual ethic of support across these formats. Just as the more popular forms of cricket financially support the less popular ones, in the same way the richer, popular forms of Christian faith have a responsibility to help and support other forms of church life, which express something else about the nature of the gospel that they cannot. Traditional parish life may be less exciting, and generate less income than megachurches or larger seeker-friendly churches, yet there is arguably a case to express the full nature of the Kingdom of God, the one should support the other, the strong helping the weak, for the benefit of both, and ultimately for the sake of the whole. This paper has argued that the future of the church will be multi-faceted not simple. We need to encourage the development of various forms, while remaining alert to the core identity of the Christian church. Some forms will evolve and flourish, others may struggle to survive. Yet the church is sustained by the promise of Christ that whatever forms may emerge, the gates of hell will never prevail against it.
References Birley, Derek: A Social History of English Cricket, London 1999. Calvin, John: Institutes of the Christian Religion, London 1995. Coffey, Ian and Gibbs, Eddie: Church Next – Quantum Changes in Christian Ministry, Leicester 2001. Croft, Steven (Ed.): The Future of the Parish System, London 2006. Davison, Andrew and Milbank, Alison: For the Parish. A Critique of Fresh Expressions, London 2010. Ellingson, Stephen: The Megachurch and the Mainline. Remaking Religious Tradition in the Twenty-First Century, Chicago 2007.
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Frost, Michael and Hirsch, Alan: The Shaping of Things to Come. Innovation and Mission for the 21st-Century Church, Peabody (Mass.) 2003. Jackson, Bob: Hope for the Church. Contemporary Strategies for Growth, London 2002. – The Road to Growth. Towards a Thriving Church, London 2005. MacLaren, Duncan: Mission Implausible: Restoring Credibility to the Church, Milton Keynes 2004. Page, Nick: The Church Invisible. A Journey into the Future of the UK Church, Grand Rapids 2004. Percy, Martin and Nelstrop, Luise (Ed.): Evaluating Fresh Expressions. Explorations in Emerging Church, Norwich 2008. Putnam, Robert D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York and London 2000. The Archbishops’ Council: Mission-Shaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context, London 2004.
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Kirchliche Leitungsverantwortung im Spannungsfeld von Tradition und Transformation1
Unter dieser Überschrift ist mein Vortrag im Programmflyer angekündigt. Im näheren Vorfeld der Tagung hatte ich hingegen die etwas umständlichere Überschrift „Verantwortliche Kirchenleitung im Spannungsfeld von vier giftigen ‚P‘: Polarisierung, Populismus, Protektionismus und Postfaktizität“ vorgeschlagen. Diese Diskrepanz entdeckte ich bei der Vorbereitung dieses Vortrags am Pfingstwochenende. Was tun? Worüber also reden? Das Spannungsfeld von Tradition und Transformation ist im Grunde eine Konstante von Leitungsverantwortung. Und das nicht nur im kirchlichen Bereich, sondern in jeglicher Leitungsverantwortung. Dabei unterscheidet sich jedoch, zumindest äußerlich gesehen, oft die Gewichtung der beiden Komponenten. Ist zum Beispiel im Wirtschaftsleben die ständige Transformation im Wettbewerb der cantus firmus, so ist im Kirchenleben eher die Tradition im Fokus. Das mag an sich auch nicht weiter verwundern in einer Bewegung, deren „Geschäftsidee“ nicht gerade ein start-up ist, sondern sich in einzigartiger Weise 2000 Jahre lang bewährt hat. Warum soll man um jeden Preis verändern, was Jahrhundertstürme en masse überlebt hat? Das wäre eher töricht. Von daher ist es verständlich, wenn Tradition in der Kirche oft relativ unproblematisch zum Wahrheitszertifikat wird. Je näher an der Tradition, desto echter und wahrer (und desto „klassischer“ die Theologie). Von daher ist es außerdem verständlich, dass gerade in Zeiten der Unsicherheit und Infragestellung die frühe Kirche als Ort der guten Traditionsbildung idealisiert und romantisiert wird. Oder es wird eben eine andere Periode der Kirchengeschichte zum Ideal erhoben, von dem die jetzige Kirche und ihre Leitung mehr oder weniger abgefallen sind. Oder ein anderer Teil der weltweiten Kirche wird als Ort besonderer Traditionstreue und Rechtgläubigkeit hervorgehoben, wieder mit dem Ziel, die aktuelle Kirche und ihre Leitung als defizitär zu entlarven.
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Der Vortragsstil dieses Beitrags wurde beibehalten.
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Dieses Tauziehen um die Tradition ist nichts Neues, und nichts deutet darauf hin, dass es je aufhören wird. Dennoch ist, wie wir wissen, die Tradition nicht unbehelligt durch die Jahrhunderte gewandert. Ohne Phasen besonders lauter Traditionskritik und ohne das ständige, leise Herumschrauben an der Tradition wären wir nicht wo wir sind. Ja, in gewisser Weise ist Tradition, das Weitergeben des zu Tradierenden, schon Transformation. Denn dieser Prozess setzt Kommunikation voraus, und Kommunikation beinhaltet immer auch Möglichkeit und Wirklichkeit von Transformation. Darüber hinaus ist der Inhalt der christlichen Tradition kongenial mit dem Ruf zur Transformation. Wenn das Leben in der Taufe ein Leben in ständiger Umkehr ist, wenn der Pfingstgeist ein Geist der Erneuerung ist, dann folgt daraus, dass auch die Kirche, das Volk Gottes, ständiger Transformation bedarf. Dabei geht es nicht um Veränderung als Selbstzweck, sondern als fortwährende Erneuerung oder Reformation. Semper reformanda eben. Ich liebe übrigens das Gerundivum in diesem Ausdruck – ist es doch ein deutliches Korrektiv zu der Geschäftigkeit, zu der wir gern neigen, wenn es denn um Erneuerung gehen soll. „Semper reformanda“ bedeutet ja eben nicht, wie oft im Englischen wiedergegeben „always reforming“, sondern „always in need of being reformed“, immer erneuerungsbedürftig. Im Jahr nach dem Reformationsjubiläum mag es am Platze sein, daran zu erinnern, dass Erneuerung und Transformation vielleicht besonders gut gelingen, wo wir uns der Begegnung mit dem Anderen stellen. So fordert uns der zweite Imperativ in der lutherisch-katholischen Schrift „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ auf, uns selbst ständig durch die Begegnung mit dem Anderen und durch das gegenseitige Zeugnis des Glaubens verändern zu lassen. Und gerade jetzt in der Pfingstwoche lässt sich ein rechtes Verhältnis zur Tradition ganz gut ausdrücken mit Worten aus dem bekannten 800 Jahre alten Pfingstgebet, das dem Bischof Stephen Langton zugeschrieben wird, der Pfingstsequenz Veni Sancte Spiritus. Dort heißt es in der Übersetzung von Maria Luise Thurmair und Markus Jenny (Gotteslob 344): Wärme du, was kalt und hart, löse, was in sich erstarrt. Dieses Gebet drückt passenden Umgang mit Tradition aus. Das gute Spannungsfeld zwischen Tradition und Transformation ist also die Lebensluft aller Leitungsverantwortung, auch der kirchlichen. Lassen Sie uns nun aber fragen, wie dieses Spannungsfeld speziell in dieser Zeit aussieht. Und das bringt mich dann doch zu dem etwas umständlicheren Titel: „Verantwortliche Kirchenleitung im Spannungsfeld von vier giftigen ‚P‘: Polarisierung, Populismus, Protektionismus und Postfaktizität.“ Diese vier P hängen zusammen und verstärken einander. Zusammengenommen bilden sie einen verführerischen, aber giftigen Cocktail, an dem heutzutage vielerorts eifrig herumgesüppelt wird. Und die Kirche ist davon natürlich keineswegs ver-
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schont. Erstens sind die vier P kirchenintern wirksam, zweitens ist Kirche als Kirche in der Welt auch in dieses eher giftige Spannungsfeld eingebunden und drittens wird Kirche in diesem Spannungsfeld auch immer wieder so instrumentalisiert, dass sie sich in dem kritischen Spiegel, der ihr vorgehalten wird, nur schwerlich selbst wiedererkennen kann. Dabei erlebe ich eine zunehmende Bewusstheit der Dynamik der vier P als ein hoffnungsvolles Zeichen. So arrangierte jüngst der Lutherische Weltbund zusammen mit mehreren Partnern in Berlin eine Konferenz mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus 25 Ländern weltweit zum Thema Churches as Agents for Justice and Against Populism (2.–4. Mai 2018). Im Rahmen dieser Konferenz fand auch ein gut besuchtes öffentliches Abendprogramm statt unter der Rubrik: Weltoffen und standhaft: Kirche in Zeiten des Populismus. Weltoffen und standhaft – das halte ich für eine gute Beschreibung einer adäquaten Haltung in Zeiten des Populismus. Offen für die Welt, kritisch und selbstkritisch, wissbegierig und gleichzeitig standhaft: fest verankert im Evangelium und damit auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die ja viel Inspiration aus der christlichen Glaubenstradition in sich trägt. Polarisierung ist eine Folge der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen den Menschen, die über viel Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Macht verfügen und denen, die über all das eben nicht verfügen. Dass acht Männer zusammen reicher sind als insgesamt 3,6 Milliarden Menschen (die Hälfte der Weltbevölkerung), sagt etwas über das Polarisierungspotenzial unserer Welt. Auch in weniger globaler Perspektive sehen wir es: Was in einem funktionierenden Gemeinwesen zusammengehört, wird immer weiter auseinandergezogen oder gar zerrissen. Die Folge ist Unverständnis für die Lebensumstände der jeweils anderen, bis hin zur offenen Feindseligkeit. Das Gefühl, zu den Benachteiligten zu gehören, verstärkt auch den Hang zum Protektionismus, der sich oft als Nationalismus zu erkennen gibt. Die Brexit-Abstimmung hat deutlich gezeigt, wie Polarisierung zwischen Stadt und Land, Jüngeren und Älteren, höherem oder niedrigerem Bildungsgrad, Wirklichkeitsauffassungen in eine protektionistische Richtung beeinflussen kann. Wie wir wissen, bedeutet das aber keineswegs, dass Populismus nur bei zornigen, sich benachteiligt fühlenden jungen Männern mit kurzer Ausbildung zu finden ist. Der Brexit ist bekanntlich auch ein Paradebeispiel für den Einfluss des Postfaktischen. Dabei ist die Einsicht, dass die alte Weisheit „Lügen haben kurze Beine“ bei einzelnen tongebenden Politikern und Meinungsbildnern durch ihr Gegenteil ersetzt zu sein scheint, nicht einmal das Schlimmste. Dass Lügen plötzlich lange Beine haben und der ertappte Lügner statt Scham zu zeigen, mit Schamlosigkeit stolziert, ist im Grunde ein Angriff auf das gesamte menschliche Beziehungsgeflecht. Menschliche Beziehungen, die unsere Gesellschaften tragen können, setzen ja ein relativ hohes Maß an Vertrauen voraus. Wenn es
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durch Postfaktizität gelingt, sowohl dieses Vertrauen als auch das grundlegende Wahrheitsgefühl aus den Angeln zu heben, dann ist der Streit darum, wieviel Relativismus dem Postmodernismus denn nun eigentlich auf den Spuren folgt, nur noch ein Hobbygeplänkel. Denn ohne grundlegendes Wahrheitsgefühl kann die Demokratie auf die Dauer nicht funktionieren. Dabei mag es durchaus richtig sein, dass wir nach dem postmodernistischen Reinigungsbad nun doch auch wieder für einen aufgeklärten Universalismus argumentieren und eintreten. Wenn in postmodernistischem Übereifer hinter jedem Wahrheitsanspruch nur ein zu dekonstruierender Machtanspruch gesehen wird, bleibt der Universalismus völlig auf der Strecke. Die Sorge für das Allgemeine, sei es in der Form von allgemeinen Interessen, sei es in der Form allgemeiner Werte, weicht dann den Stammesinteressen. Universalismus wird durch Stammesdenken ersetzt.2 Vielleicht ist es deshalb neuerdings wieder schwerer, Gehör zu finden für den Gedanken, dass zumindest Judentum, Christentum und Islam vom gleichen Gott sprechen, da es ja logischerweise schwerlich mehrere Schöpfer des Universums geben kann. Denen, die das Bedürfnis haben, unter dem Motto „unser Gott ist das Gegenteil von Allah“ vor allem den Islam auszugrenzen, macht es anscheinend gar nichts aus, dass sie dabei Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erden, zu einem Stammesgott reduzieren. Doch zurück zur Postfaktizität. Wo Beziehungsgeflechte und Wahrheitssinn verletzt werden, leidet die fundierte gesellschaftliche Meinungsbildung. In Anlehnung an den Philosophen Byung-Chul Han lässt sich dann sagen: Kollektive bürgerliche Meinungsäußerungen werden von digitalen Schwärmen verdeckt, die genauso massiv auftauchen, wie sie schnell verschwinden; die Verantwortung wählender Bürger wird verwechselt mit dem Drücken auf Smiley- oder Gefällt-mir-Knöpfe; Bürger und Bürgerinnen werden zu Konsumenten reduziert.3 Wo aber Demokratie und Kirche der Unterhaltungskultur unterstellt werden, lauert Gefahr. Auch wenn kirchliches Sein und Handeln durchaus Unterhaltungswert haben kann, ist der eigentliche Sitz im Leben von Kirche nie die Unterhaltungsbranche, sondern eher die Herausforderungsbranche. Hans Ansichten des Digitalen verdienen durchaus theologische Reflektion. Der digitale Schwarm ist etwas ganz anderes als demonstrierende Menschen. Der Schwarm hat weder Seele noch Geist, kein „wir“, keine Stimme. Er ist Lärm. Das ist etwas anderes als die Dialektik von Verkündigung des Wortes als viva vox evangelii und Gottes Nähe in der Stille, an die wir theologisch gewöhnt sind. Die digitale Kultur führt zu Selbstausbeutung, meint Han. Pausenlos geben wir
2 3
Vgl. Susan Neiman 2017, 57 ff. Byung-Chul Han 2013, 87–90.
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Daten von uns, von deren Verwertung wir kaum Ahnung haben. Wir wissen nicht, welche Systeme der Überwachung und Manipulation wir damit speisen. Die Cambridge Analytica Affäre hat zumindest in dieser Hinsicht Han Recht gegeben. Transparenz und ständige Gegenwart stehen im Zentrum.4 Geschichte und Zukunft erscheinen leer, was mit der Bedeutsamkeit theologischer Kategorien wie Heilsgeschichte und Verheißung nur schwer zu vereinen ist. Eine eher ziellose Beschleunigungskultur tritt an die Stelle von Wachstums- und Reifeprozessen. Das Smartphone wird zur Ikone der individualisierten digitalen Kultur. Die konkrete Wirklichkeit tritt zurück zugunsten des Imaginären. Das Smartphone eröffnet einen narzisstischen Raum der Selbstbespiegelung.5 Digitus bedeutet bekanntlich Finger. Finger, der vor allem zählt. Vom Handeln zum Fingern.6 Han stellt fest: „Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht. […] Auch Facebook-Freunde werden vor allem gezählt. Die Freundschaft ist aber eine Erzählung.“7 Das gilt natürlich auch für die Freundschaft Gottes. Erzählung! Narrativ! Kann Theologie, auch im digitalen Zeitalter, je ohne Erzählung auskommen? Was hat nun dieser Ausflug ins Digitale mit den vier P zu tun? Ich glaube, dass die vier P und die Digitalisierung einander beeinflussen und auch verstärken können. Han behauptet: „Die Phänomenologie des Digitalen ist […] frei vom dialektischen Schmerz des Geistes. Sie ist eine Phänomenologie des Gefällt-mir.“8 Das klingt wie eine ziemlich ideale philosophische Fundierung für eine vier-P-Welt. Aus dem Gesagten versteht sich von selbst: Kritisches Hinterfragen und Quellenkritik sind notwendiger als je zuvor. Dass dies in Schulen, Universitäten und der Erwachsenenbildung gelehrt wird, ist so wichtig wie eh und je, ja vielleicht sogar wichtiger denn eh und je. Aber wenn das Misstrauen einen kritischen Wert überschreitet und aufgrund von Manipulationen auf so gut wie nichts mehr Verlass ist, dann ist auch Quellenkritik nur noch von begrenztem Nutzen. Es gibt Anzeichen der Gefahr, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dazu gehören einerseits der Verlust von Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit, Respekt vor dem Anderen, Kompromissbereitschaft, und sozialem Zusammenhalt (social cohesion); andererseits die Zunahme von Hassrede und fake news, das Propagieren von reinen Lügen oder Halbwahrheiten, die Identifikation und Ver4 5 6 7 8
A. a. O., 30. A. a. O., 34 ff. A. a. O., 45. A. a. O., 50. A. a. O., 70.
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folgung von Sündenböcken, Dämonisierung von Gruppen, Einschränkungen des Aktionsraums für die Zivilgesellschaft, mehr oder weniger subtile Wortverschiebungen. Ohne dafür gleich Victor Klemperers LTI zu bemühen, gibt es zumindest in Schweden eine Reihe von Beispielen für einen gleitenden Gebrauch der Sprache, besonders, wenn von Zuwanderung und von Islam die Rede ist. Die Dämonisierung des Islams weckt nur noch wenig Aufsehen. Gerade vor ein paar Tagen bekam ich folgenden Tweet: „Wahre Muslime schneiden Christen den Hals ab, und wenn es ein Bischof ist, bekommen sie eine besondere Belohnung im Himmel.“9 Dazu kommt dann auch die Zunahme von Ethno-Nationalismus – ein Phänomen, das nicht auf Europa und Nordamerika beschränkt ist, wie beispielsweise die Hindutva-Ideologie in Indien zeigt. Der Populismus ist Nutznießer der Krise des Journalismus in einer veränderten Medienlandschaft – jedenfalls in Schweden. Es gibt zu wenig Journalisten, die die notwendige Sicherheit in ihrer Anstellung und die nötigen Ressourcen haben, um gezielt und gründlich zu recherchieren. Zu viele sind gezwungen, sich Informationen aus den sozialen Medien zu holen. Damit ist dann das Risiko verbunden, die dort so oft vorkommende Schwarz-Weiß- Malerei auch in den konventionellen Medien zu verstärken und damit zur Polarisierung beizutragen. So entsteht eine Kultur, in der Randphänomene schwellen, während die breite Mitte schrumpft und aus der Mehrheit scheinbar eine Minderheit wird. Das Marginale marginalisiert die Mitte! Da Kirche Teil der Welt ist, finden sich diese Dynamiken natürlich auch in den Kirchen. Auch hier wird polarisiert, auch hier werden fake-news produziert. Es bilden sich Allianzen, die alles andere als heilig sind, und es ist relativ leicht, nach dem populistischen Kochbuch gegen Kirchenleitungen Misstrauen zu säen: den Kontakt mit dem Volk verloren; Elite, die mit Minoritäten flirtet, statt für die Einheit der Kirche zu sorgen. Religionsdialog (besonders wenn es um den Islam geht), Engagement in der Öffentlichkeit sowie Streben nach Inklusion und Gleichberechtigung erscheinen in populistischer Rhetorik als liberaler, linker, feministischer Verrat an der Kirche. Die populistische Propaganda gegen die Kirche schmückt sich gern mit dem Aphorismus: „Früher trat man aus der Kirche aus, weil man nicht an Gott glaubte, jetzt tritt man aus, weil man an Gott glaubt.“ Auch wenn eine mit wissenschaftlicher Akribie durchgeführte soziologische Untersuchung zeigt, dass dies einfach nicht wahr ist, wird es so lange wiederholt, bis es zumindest wahr erscheint. Und es dauert dann nicht lange, bis der erste Journalist eines Mainstream-Mediums die Frage
9 @BiskopAntje sanna muslimer skär halsen av kristna och om det är en biskop så får de en extra merit i himlen. 8:01 PM – 17 May 2018 Avsändare Jan Åke Ek @janakeeks.
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stellt: Wie ist Ihr Kommentar dazu, dass gläubige Menschen aus der Kirche austreten, weil diese zu politisch geworden ist? Und voilà, eine neue Pseudowahrheit hat einen hübschen Legitimitätsstempel bekommen. Von der Schwedischen Kirche wird gefordert, schwedischer, das heißt nationalistischer, und mehr Kirche zu sein, das heißt, vor allem gegen den Islam Front zu machen. Der Vorwurf, die Kirche sei politisch statt christlich, wenn sie sich zu öffentlichen Fragen äußert, kommt oft von Leuten, die selbst dezidiert politisch Stellung bezogen haben. Die sogenannte Politisierung der Kirche ist oftmals mehr eine Projektion „von außen“ als eine Strategie „von innen“. Doch ist es eine durchaus wirkkräftige Projektion. Sie stülpt dem Reden und Handeln der Kirche im öffentlichen Raum den Mantel des Verdächtigen über, was zu Entmutigung, Selbstzensur und schließlich zum Verstummen führen kann. Vor etwa einem Jahr verschaffte sich ein Reporter einer regionalen Tageszeitung mit Wallraff-Methoden Zugang zu einer sogenannten „Trollfabrik“.10 Nach seiner Rekrutierung bekam er als ersten Auftrag, der Kirche zu schaden. Mit 6 Millionen Mitgliedern ist die Schwedische Kirche die größte Organisation der Zivilgesellschaft. Ihre Destabilisierung scheint attraktiv. Dabei sehen wir bisher weniger groß angelegte Angriffe, als vielmehr stetiges Einschüchtern. Wir stehen nicht direkt vor Wasserkanonen, sondern eher unter einem undichten Wasserhahn. Zunächst bleibt das ständige Tropfen fast unbemerkt, dann irritiert’s, und zuletzt geht’s nur noch darum, dieser Tortur zu entkommen. Die erste Frage ist dann nicht mehr, was wollen und sollen wir sagen und verkündigen, sondern: welche negativen Reaktionen bringt das, was wir sagen wollen, denn nun wieder, und vielleicht sollten wir es dann lieber doch nicht sagen, oder jedenfalls nicht gerade jetzt … So kann es zu Diskursverschiebungen kommen, die verwirren. Alarmismus kann die Sicht verstellen und zum resignierten Achselzucken verführen, wo kritische und selbstkritische Analyse und entschlossene Tatkraft besser wären. 10 https://www.ekuriren.se/tjanster/granskning-sa-styrs-den-svenska-trollfabriken-som-spri��der-hat-pa-natet/ (Englisch: https://www.ekuriren.se/sormland/the-secret-swedish-troll-fac�tory/) – aufgesucht am 24. August 2018: „After that Johan is ready to apply for a job in the troll factory. They are constantly looking for new callers on their website. Those who get more than three thousand clicks on their clip is offered one thousand Swedish kronor in payment and I start by sending an email to an administrator called Erik to ask how it works. ‚You get 1000SEK from another one of our listeners if you get a clip published by us‘, is the answer. ‚Who is the best to call to get a flying start? Anyone in particular you’d like to get to that I should call?‘ ‚Would you like to call the Church of Sweden and ask about their gay positivism? Jesus has said that men should not lie with men, but now the Church is wedding homosexuals and even has homosexual couple within the priesthood. Perhaps that could be something?‘“
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In dieser Situation bestehen deutliche Risiken: die Zivilgesellschaft erodiert, politische Parteien handeln kurzsichtig reaktiv, Visionen fehlen, die Demokratie wird geschwächt. Was tun? Die Kirche darf in dieser Situation nicht dazu gebracht werden, nur auf sich selbst aufzupassen. Sie darf sich nicht mit weniger zufrieden geben als mit dem, was zum Beispiel die Vision des Lutherischen Weltbundes so ausdrückt: Befreit durch Gottes Gnade, eine Gemeinschaft in Christus, die gemeinsam lebt und arbeitet für eine gerechte, friedliche und versöhnte Welt. Das gilt es, wie stets in der Geschichte des Christentums, durch Gebet und Arbeit zu verwirklichen. Ora et labora – bete und arbeite. Wie kann das aussehen? Dazu sieben Punkte: 1. Ich denke, es ist wieder neu wichtig, ganz bewusst die weltweite Gemeinschaft der Kirche hervorzuheben. Kirchlicher Provinzialismus ist keine Tugend. Das Evangelium Jesu Christi war und ist grenzüberschreitend – „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Die Ambitionen, die wir im LWB für das Reformationsjubiläum ausgedrückt haben, lassen sich auch für das Jahr danach gut formulieren: wir wollen ökumenisch verantwortlich, global bewusst und zukunftsfreudig Gottesdienst feiern, denken und öffentlich handeln. Dabei treten wir vielleicht weniger für radikal neue Ideen ein, als vielmehr für Erneuerung des Denkens. Und für gute Allianzen, die Hoffnung, Gerechtigkeit und Frieden stärken. 2. Es ist auch wichtig, die Rolle der Kirche im öffentlichen Raum mutig und konsequent zu durchdenken. Selbstverständlich ist Glaube nicht nur privat. Er ist auch persönlich und führt zu Konsequenzen im öffentlichen Raum – sowohl für uns als einzelne als auch für Kirche als Gemeinschaft und Organisation. Dabei geht es nicht um Parteipolitik, sondern eher darum, durch Hintergründe und Orientierungen Politikern ihre Arbeit etwas leichter zu machen. Dabei finde ich das LWB Studiendokument Die Kirche im öffentlichen Raum hilfreich. Dort finden sich fünf Leitlinien des Handelns im öffentlichen Raum: a) Partizipatorische Mitwirkung im öffentlichen Raum ermöglichen b) Vertrauensvolle Beziehungen aufbauen c) Gegen Ungerechtigkeit vorgehen d) Zeichen der Hoffnung entdecken e) Menschen in Not unterstützen und stärken. 3. Wir müssen auch einsehen, dass die Demokratie in jeder Generation neu erobert werden muss. In Schweden feiern wir in diesem Jahr 100 Jahre Demokratie (Einführung des gleichen und allgemeinen Stimmrechts durch Reichstagsbeschluss 1918). Bis vor einigen Jahren fühlte es sich so an, als sei die Demokratie stabil wie eine jahrhundertealte Steinmauer – unverwüstlich und trotz Wind und Wetter im Wesentlichen unterhaltsfrei. Nun müssen wir sie eher mit einem Holzhaus vergleichen, an dem ständig etwas zu
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tun ist, wenn es denn Sturm und Regen trotzen soll und seinen Bewohnern und Gästen nicht nur Schutz sondern auch gutes Miteinander bieten soll. Dieses Miteinander ist unabdingbar, da wir uns nicht nur mit dem Populismus auseinandersetzen müssen, sondern auch Kräfte brauchen für den Klimawandel und die sogenannte vierte industrielle Revolution. Demokratie braucht Demokraten. Diese fallen nicht einfach vom Himmel, sondern wachsen durch Bildungsprozesse heran. 4. Wenn Demokratie überleben soll, muss sie ständig mit Werten gefüttert werden. Dazu braucht es dann nicht nur Demokraten, die füttern, sondern auch Futter – eben Werte, die aus der immer wieder neuen Begegnung mit den großen Ideentraditionen der Menschheit entspringen. Ein Teil dieser Werte werden immer auch religiöse Wurzeln haben, denn vieles spricht dafür, dass Modernität und Wissenschaftsentwicklung eben nicht zum Verschwinden von Religion führen. Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften deuten eher darauf hin, dass der Mensch ein homo religiosus ist. Kollektiv gesehen bedeutet das, dass trotz Kritik am Böckenförde-Diktum etwas dran ist: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Oder im Sinne von Habermas: die Vernunft, die Selbstkritik und ihre eigenen Grenzen ernst nimmt, kommt nicht umhin, auf das zu treffen, was die Vernunft überschreitet. Das ist nicht dasselbe wie ein Abdriften ins Irrationale, das ist nicht weniger als Vernunft, sondern das ist Offenheit für das, was mehr als bloße Vernunft ist. Die grenzbewusste Vernunft kann sich deshalb einem theologischen Interesse kaum entziehen. In dem Sinne ist es auch im Interesse von Demokratie, klug mit den Quellen kultureller Werte umzugehen. Und dazu gehören nun einmal unabdingbar die großen Glaubenstraditionen und die Organisationen, die diese in besonderer Weise tragen, wie die Kirchen. Das schließt Kritik und Selbstkritik von Traditionen und Institutionen selbstverständlich ein, schließt aber pauschale Verachtung oder Verbannung aus dem öffentlichen Raum genauso selbstverständlich aus. 5. Populistische Strömungen stellen Kirchen sowohl vor positive als auch vor negative, riskante und schmerzhafte Herausforderungen. Zu den positiven zähle ich einen festeren Schulterschluss mit den Wissenschaften. War es lange bequem, Glaube und Wissen (und besonders die Naturwissenschaften) als Gegner darzustellen, zeigt sich jetzt im Lichte des Populismus viel deutlicher, wie beide dem Dienst an der Wahrheit verpflichtet sind. Das heißt, konstruktive Partnerschaft statt Gegensatz; das heißt, praxisorientierter Dialog statt seitens der Theologie scheinbar verlorener Machtkampf. Dieser Dialog kann uns auch helfen, populistische Beschuldigungen, die Kirche betreibe Politik statt Christentum, als Scheinmanöver zu entlarven. Denn was als ungebührliche politische Einmischung kritisiert wird, ist oft nur
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die Frucht guter Übersetzungsarbeit. Klar, dass sich im öffentlichen Raum nicht ohne Weiteres direkt mit Bibelstellen argumentieren lässt. Wenn wir öffentlich für die Bedeutung der Kinderperspektive plädieren, tun wir das meistens nicht, indem wir Jesu Kindersegen oder seine Worte vom Größten im Himmelreich zitieren, sondern in dem wir auf die UN-Kinderrechtskonvention hinweisen. Wenn wir das mit der gleichen übersetzerischen Sorgfalt tun, wie wir heute selbstverständlich von Gottes Schöpferhandeln in der Terminologie der Evolution sprechen, können wir uns gewiss sein, dass die öffentliche Stimme der Kirche im Einklang mit dem Evangelium und der Liebe Gottes zur Welt steht. 6. In der Auseinandersetzung mit den vier P wird oft ein neues Narrativ der Hoffnung und der Teilhabe eingefordert. Dem ist zuzustimmen. Dabei ist Hoffnung, im Unterschied zu Optimismus, eine theologische Kategorie. Optimismus ist im Grunde nicht mehr als die Extrapolation von Tatsachen, so wie sie gerade aufgefasst werden. Seine Basis ist nicht unbedingt zuverlässig. Die Philosophin Susan Neiman sagt gar: „Optimismus ist eine Verkennung der Tatsachen; Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern. Hoffnung als Ideal zu verstehen, bedeutet, dass sie nicht einfach gegeben ist, sondern errungen werden muss.“11 Dass sie auch errungen werden kann, will ich als Theologin hinzufügen. Kann, weil sie sich an der Verheißung Gottes orientiert, mit der Gott uns sozusagen aus der Zukunft entgegenkommt. Anders als Optimismus basiert sie nicht auf dem wackelnden Grund unserer mehr oder weniger geglückten Erkennung und Deutung von Tatsachen, sondern hat ihren Grund im Heilshandeln Gottes. Deshalb halten wir dem Pessimismus unserer Zeit nicht einfach Optimismus entgegen. Deshalb antworten wir auf die Dystopien unserer Zeit nicht mit spiegelbildlichen Utopien. Stattdessen behaupten und gestalten wir Hoffnung: als Salz der Erde, auch in Form öffentlicher Theologie und des Priestertums aller Gläubigen, als Anwälte für einen öffentlichen Raum, der allen volle Teilhabe und Partizipation erlaubt, als Menschen, die Kraft ihrer Hoffnung Ambiguität und Komplexität nicht nur aushalten können, sondern auch deren Fruchtbarkeit beweisen.12 7. In Zeiten des Populismus werden wir auch widerstehen müssen und dabei sowohl den Schmerz unserer eigenen Wunden als auch den der Wunden anderer fühlen. „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Das sagte Jesus zu seinen Freunden, als sie ihn nach sei-
11 Susan Neiman 2017, 75. 12 Zum Beispiel: Universalismus und Partikularismus nicht gegeneinander ausspielen. Bei lutherischer Marinade sollte dies selbstverständlich sein!
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ner Auferstehung wiedersahen. Sie sahen nicht nur den besiegten Tod, sie sahen auch die Wunden, die Spuren der Nägel, die die Angst der Menschen durch seine Hände und Füße getrieben hatte. Der skeptische Thomas wurde sogar eingeladen, die Wunden zu befühlen. „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Ja, ich möchte diesen Frieden, aber wenn ich mir die Wunden anschaue – will ich so eine Sendung wirklich? Will ich den Auftrag des verwundeten, so ohnmächtig ausschauenden Gottes? Nur weil ich gewiss bin, dass es der Auferstandene, der Lebendige ist, der diese Wunden trägt. Deshalb: weltoffen und standhaft! Und dabei tut Mut gut. Außerordentlich gut!
Literatur Han, Byung-Chul: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin 2013. Neiman, Susan: Widerstand der Vernunft: Ein Manifest in postfaktischen Zeiten, Salzburg 2017.
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et spiritus sancti – Geistliche Herausforderungen kirchlicher Re-Formationen1
In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Amen. So – oder eben auf Deutsch „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ – beginnt seit Jahrhunderten der christliche Gottesdienst. Mit Hilfe der Anrufung des Gottesnamens findet das kirchliche Handeln seine Legitimation und seinen eigentlichen Rechtsgrund.2 Das, was wir als Kirche in unserer ureigenen Funktion tun, tun wir im Namen, und das heißt im Auftrag und in der Autorität Gottes. Wir machen in den letzten 60 Jahren in Ostdeutschland, und vielleicht noch zugespitzt in Pommern, einen Wandel durch, für den es in der Kirchengeschichte kaum Analogien gibt, wenn man nicht etwa auf die gewaltsame Eroberung Nordafrikas und des Nahen Ostens durch den Islam im 7. und 8. Jahrhundert verweisen will. Aber die jetzige Veränderung geschieht – wenigstens bei uns – nicht durch den Islam, auch nicht gewaltsam, sondern still und leise, aber sehr schnell. Der kirchliche Wandel der letzten Jahrzehnte in Pommern ist atemberaubend – und schmerzhaft. Zugleich bin ich zuversichtlich, dass Gottes Geist jetzt und zukünftig bei uns wirkt. Insofern habe ich gerne das Angebot angenommen, unter dieser Überschrift meine Überlegungen auf diesem Symposium mit Ihnen zu teilen. Ich möchte mit diesem Vortrag einen Mittelweg wählen und kirchliche Realitäten genauso wie theologische Grundüberlegungen in zehn Abschnitten darstellen und anschließend ein Fazit ziehen. In einem ersten Themenkreis (Abschnitte 1.–4.) beginne ich daher mit einer Standortbestimmung, zunächst trinitarisch und dann mit einer Einführung in die kirchliche Situation vor Ort. Es ist eine Zeit schleichender und zugleich weitestreichender Transformationen. Die Antwort darauf kann nur sein, dass wir uns auf unseren missionarischen Auftrag besinnen. Auf welche Art, erläutere ich in einem zweiten Themenkreis (Abschnitte 5.–7.). Der Geist Gottes ist dabei ungeheuer wirksam. Inwiefern er inmitten der Herausforderungen kirchlicher Re-Formationen neu zu entdecken ist, erläutere ich im dritten und letzten Themenkreis (Abschnitte 8.–10.).
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Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vgl. Rudolf Bohren 1974, 89–105.
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1. Trinitarische Verortung Gott ist der dreieinige Gott. Er begegnet uns als Vater, als Schöpfer dieser Welt. In der Gestaltung kirchlicher Strukturen dürfen wir daher nicht den Anschein erwecken, als seien die Gesetzmäßigkeiten, die ansonsten für diese Welt gelten, außer Kraft. Also müssen die in der Schöpfung angelegten sozialen Gesetzmäßigkeiten für das Werden und Vergehen von Institutionen, Organisationen und sozialen Bewegungen Beachtung finden. Ist die Kirche auch Institution, auch Organisation und auch soziale Bewegung, dann dürfen die hier bisher erkannten Gesetzmäßigkeiten für die Entwicklung von Institutionen, Organisationen und sozialen Bewegungen nicht übergangen werden. Gott begegnet in der Lehre, im Handeln und im Geschick Jesu Christi. Mit Jesus Christus gewinnt die Kirche ihr inhaltliches, ihr einmaliges Profil. Jesus ist sozusagen die DNA der Kirche. Egal, ob als Institution, als Organisation oder als soziale Bewegung, die Form der Organisation der Kirche darf und kann – wenn sie Kirche sein und bleiben will – ihrer DNA nicht widersprechen, weil sie sonst mit ihrer Gestalt eine andere Botschaft aussendet als mit ihrem Inhalt, für den sie ins Leben gerufen worden ist. Dabei gilt: Form follows function. Ist es die Aufgabe der Kirche, die durch Jesus Christus bewirkte Versöhnung von Gott und Mensch zu bezeugen und Hilfen für ein Leben aus der Versöhnung zu geben, dann ist die entscheidende Frage, ob die Kirche so aufgestellt ist, dass möglichst viele Menschen Versöhnung erfahren und aus der Versöhnung leben können. Bleibt die Kirche aufgrund ihrer Struktur unter ihren Möglichkeiten und verschließt so Menschen die Wirklichkeit der Versöhnung, ist sie eine unbarmherzige Kirche. Gott als Heiliger Geist fügt inhaltlich nichts Neues hinzu, was in der Kirche nicht schon durch Jesus Christus angelegt ist. Aber durch den Heiligen Geist tritt die Kirche als die Gestalt einer neuen Menschheit erst in Erscheinung. Der Heilige Geist aktualisiert Jesus Christus als Inhalt der Kirche. Er macht die von Jesus begründete und in seinem Namen sich zusammenfindende Gemeinschaft zum Leib Christi. Der Heilige Geist bewirkt, dass die sich nach den soziologisch erforschten Gesetzen der Institution, der Organisation und der sozialen Bewegung darstellende Gemeinschaft wirklich Kirche ist. Durch den Heiligen Geist werden die von Jesus Christus erwirkten Inhalte für den einzelnen Glaubenden heute wirksam: Erlösung, Versöhnung und Anteilgabe am Reich Gottes. Ohne den Heiligen Geist gehörte der christliche Glaube in die Geschichte und die verschiedenen Kirchen ins Museum. Durch den Heiligen Geist, und nur durch ihn, haben wir die Verheißung, heute Kirche Jesu Christi sein zu können und die Wohltaten des Reiches Gottes zu schmecken. Wenn der Heilige Geist mit und unter den sozialen Vollzügen der
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kirchlichen Vergemeinschaftung seine Kraft zeigt, dann wird die eigentümliche Kraft des Glaubens für die Entwicklung von Gemeinden und anderen Sozialformen fruchtbar. Ich möchte in den folgenden Ausführungen versuchen zu zeigen, wie auch unter schwierigen Realitäten durch den Geist Gottes inmitten kirchlicher Formierung und Reformierung Kirche und Gemeinde werden kann.
2. Kirchliche und strukturelle Voraussetzungen In wenigen Regionen Europas hat sich die kirchliche Gestalt in den letzten gut 70 Jahren so radikal geändert wie in Pommern. 1939, vor dem II. Weltkrieg, hatte die Pommersche Kirchenprovinz der Altpreußischen Union 1,93 Millionen Gemeindeglieder. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte die Teilung Pommerns mit sich, bei der vier Fünftel des Gebiets Polnisch wurden (einschließlich der eigentlich vorpommerschen Hauptstadt Stettin) und ein Fünftel Teil der sowjetischen Besatzungszone. Dies hat die Kirche bereits zu einer grundsätzlichen strukturellen Neuorientierung gebracht. Darüber hinaus hatten Flucht und Vertreibung große Auswirkungen auf die pommersche Kirche und ihre Gemeinden. Die Marginalisierungs- und Diskriminierungspolitik der DDR wirkte sich massiv auf die Kirchlichkeit in unserer Region aus. Im Jahr 1959 lebten 700.000 evangelische Gemeindeglieder in Vorpommern, während Mitte der 1990er Jahre nur noch rund 140.000 Menschen in Vorpommern evangelisch waren.3 Heute sind es rund 80.000 bei einer Wohnbevölkerung von 486.747 (Stand: 01.04.2018), also 16 % der Bevölkerung. 1993 gab es noch 15 Kirchenkreise mit circa 400 Kirchengemeinden4, 1997 wurde die Zahl der Kirchenkreise bereits auf vier reduziert. 2005 wurde die Verwaltung der vier Kirchenkreise mit der landeskirchlichen Verwaltung in Greifswald zusammengelegt und ein einziges Verwaltungszentrum für die ganze Landeskirche geschaffen. Im Jahr 2012 vereinigten sich die drei Landeskirchen Nordelbien, Mecklenburg und Pommern zur Nordkirche. Diese ist ein deutschlandweit einmaliges Projekt, da hier West- und Ost-Kirchen auf Augenhöhe einen Zusammenschluss gewagt haben. Im Zuge der Nordkirchenwerdung wurde aus der vormals stolzen selbständigen „Pommerschen Evangelischen Kirche“ (PEK) der „Pommersche Evangelische Kirchenkreis“ (PEK) der Nordkirche, also ein Kirchenkreis von 13 – großen (den größten innerhalb der EKD) – Kirchenkreisen einer Landeskirche, die von der dänischen bis zur polnischen Grenze reicht. Heute zählen
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Hans-Günter Leder 1997, 52. Eckhard Gummelt 1993.
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wir im pommerschen evangelischen Kirchenkreis drei Propsteien und insgesamt gut 150 Kirchengemeinden. Innerhalb eines Menschenlebens haben sich die kirchlichen Strukturen vor Ort massiv verändert und mehrfach neu formiert.
3. Gemeindealltag in Vorpommern Nach dieser organisatorischen Kärrnerarbeit erleben wir derzeit vor Ort eine Phase der Konsolidierung in den Bereichen der Struktur und Verwaltung von Kirche. Die Zahlen der Gemeindefusionen hat sich deutlich reduziert, die Zahl der Pfarrstellen könnte – so genügend Bewerberinnen und Bewerber vorhanden sind – die nächsten Jahre konstant erhalten bleiben. Die konjunkturelle Entwicklung der Bundesrepublik, die solidarische Finanzverteilung sowohl in der Nordkirche als auch in der EKD und die günstigen Voraussetzungen durch den Staats-Kirchen-Vertrag in Mecklenburg-Vorpommern geben uns eine finanzielle und politische Sicherheit. Die äußeren Bedingungen sind günstig. Befreit von diesem Druck akuter struktureller Veränderungen schauen wir auf die Prozesse, die in unseren Gemeinden und in unserer Kirche geschehen. Wir müssen feststellen: Fast alle unsere Gemeinden schrumpfen. Was das bedeutet, möchte ich an zwei Beispielen deutlich machen. Ich denke beispielsweise an eine Gemeinde in der Tiefe des pommerschen Landes, auch wenn sie im Einzugsbereich der einzigen pommerschen Metropole Stettin liegt. Der Gemeindepastor der Kirchengemeinde Retzin hat es vor einiger Zeit sogar zu einer gewissen televisionären Berühmtheit gebracht. Der NDR drehte über seine Tätigkeit den Film: „Der Herr der 13 Türme.“ Die Filmautoren waren durchaus beeindruckt, wie der Pastor sonntags bis zu vier Gottesdienste hält, selbst den Chor leitet, manchmal die Orgel spielt, für zahlreiche Friedhöfe und unendlich viele Baufragen zuständig ist. Völlig andere Bedingungen finden wir in Tourismusgebieten vor. Die Kirchengemeinde Ahlbeck auf Usedom etwa hat für ihre 605 Gemeindeglieder ein unglaublich aktives Programm. Zu den sonntäglichen Gottesdiensten erscheinen im Sommerhalbjahr bis zu 150 Besucherinnen und Besucher. Ein reichhaltiges Kulturprogramm, bestehend aus Konzerten und gelegentlichen Vorträgen oder anderen künstlerischen Darbietungen, zieht ebenfalls regelmäßig um die Hundert oder mehr Teilnehmende in die Kirche. Neben diesen ländlich strukturierten Gemeinden gibt es auch einige Städte in unserer Region. Das gemeinsame Oberzentrum Stralsund-Greifswald zählt zusammen knapp 120.000 Einwohner, die sich etwa hälftig auf die beiden Städte verteilen. Hier sieht die Situation etwas anders aus, allerdings zeigt ein Blick auf die Greifswalder Johanneskirchengemeinde auch eine ähnliche Tendenz (s. u.). Ich habe lebendige Gemeinden in unserem Kirchenkreis geschildert. Aber
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alle leiden unter einem rasanten Rückgang der Gemeindegliederzahlen. Trotz einer nicht mehr zu steigernden Aktivität in der Gemeinde Retzin ist hier im Hinterland die Gemeindegliederzahl zwischen 2012 und 2017 um 17 % zurückgegangen. In der touristisch geprägten Gemeinde Ahlbeck auf Usedom hat die Gemeindegliederzahl in diesen Jahren um 19 % abgenommen. Der durchschnittliche Rückgang im gesamten pommerschen Teil des Sprengels betrug in diesem Zeitraum 12 %. Diese Zahlen sind ernüchternd. Sie sind allerdings beispielhaft für die Situation in Ostdeutschland. Auch in Mecklenburg, Anhalt oder der ehemaligen Kirchenprovinz Sachsen sieht es ähnlich aus.
4. Theologische Anfragen zur gegenwärtigen Lage Nachdem wir strukturell die frühere Landeskirche neu aufgestellt haben, stehen wir vor der großen Herausforderung, die Veränderungen unserer Zeit verstärkt inhaltlich zu verarbeiten und zu gestalten. Ich glaube, dass wir jetzt in besonderer Weise aufgefordert sind, geistlich an der Erneuerung unserer Kirche zu arbeiten, denn es geht um Menschen, die die Kraft der Versöhnung in ihrem Leben brauchen, aber häufig nicht erfahren. Wir können uns nicht immer mit Strukturfragen beschäftigen. Die Re-Formation einer Kirche ist nur in vom Inhalt abgeleiteter Weise eine Strukturfrage. Abermals gilt: Form follows function. Damit Versöhnung geschehen kann, muss die Kirche eine Struktur haben, die die Botschaft und die Kraft der Versöhnung möglichst viele Menschen hören und erfahren lässt. Wahrscheinlich wird die Kirche in 50 Jahren sehr anders strukturiert sein als heute. Damit diese Transformation gelingen kann, arbeiten wir in besonderer Weise an den geistlichen Grundlagen. Die größte theologische Herausforderung sehe ich in dem Umstand, dass wir einen nach wie vor eminenten Bindungsverlust haben. Die Botschaft von der freien Gnade Gottes hören einerseits zu wenige Leute und offensichtlich gelingt es andererseits auch nur in einem geringen Anteil, diese Menschen zur Weitergabe ihres christlichen Glaubens anzuleiten. Die Taufzahlen in unserem Landstrich sind gering. 2016 wurden in unserem Kirchenkreis 537 Menschen getauft. 2000 waren es noch 981.5 Schauen wir auf diese Zahlen, so ist die Frage im Raum: Hat Gott seine Kirche noch im Blick? Auch wenn wir als Christen erstmals seit über 800 Jahren in dieser Region in der Minderheit sind, bedeutet das nicht, dass wir resignieren müssen. Wir müssen eine Antwort auf diese Krise finden, die uns sowohl geistlich und theo-
5 S.a. https://www.nordkirche.de/ueber-uns/statistiken/ – aufgesucht am 23. August 2018.
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logisch überzeugt als auch neue Wege in die Zukunft eröffnet. Ich will es daher weder dabei belassen, die Herausforderungen in geringen Zahlen zu sehen, noch bei der Benennung der Probleme zu verbleiben. Im Blick auf die Rolle der Kirche in der Gesellschaft heute und in Zukunft haben wir große Chancen. Aber sie sind verbunden mit dem schmerzhaften Verlust alter Gewissheiten. Wie deuten wir also das Schrumpfen unserer Gemeinden? Eines ist es ganz sicher nicht: Wir erleben kein Gesundschrumpfen. Die immer wieder geäußerte Hoffnung, dass bei einem Schrumpfungsprozess lediglich der ohnehin am Gemeindeleben desinteressierte Rand der Mitglieder austritt und der Kern erhalten bleibt, ist falsch. Der Kern schrumpft mit. Deshalb wird durch den kirchlichen Schrumpfungsprozess die Kirche auch nicht gesund. Es ist falsch, auf einen heiligen Rest zu setzen und darüber hinaus die Veränderungen der Zeit reaktionslos hinzunehmen.
5. Das Konzept der Missio Dei als Chance zur kirchlichen Erneuerung Heinz Zahrnt6 hat es schon vor vielen Jahren – vor dem Hintergrund der als radikal empfundenen Entkirchlichung in Westdeutschland im Gefolge der 68er Bewegung – in einer dialektischen These so zugespitzt: Die entscheidende Frage lautet […], ob die Christen bereit sind, sich auf den volkskirchlichen Schrumpfungsprozess einzulassen. […] Ich plädiere für eine offensive Vorwärtsstrategie unter der Parole: nicht gesundschrumpfen, sondern gesundwachsen!
Und später formuliert er: „Nicht gesundschrumpfen, sondern gesundwachsen – und darum Mission!“ Wir brauchen Mission, aber eben nicht als eine Tätigkeit, die personell oder zeitlich einzuschränken wäre. Wir brauchen eine offene und den Menschen zugewandte Haltung, in der sich Mission ausdrückt. Es ist noch nicht lange her, da war das Wort ‚Mission‘ eine Art Schmuddelkind, mit dem niemand in der Evangelischen Kirche in Deutschland so recht spielen wollte. Doch hier hat sich etwas gewandelt, wenn auch der Wandel noch nicht zu einem Mentalitätswandel unserer Kerngemeinde geführt hat. Bei Berücksichtigung aller Abgründe der Missionsgeschichte, so schreibt Wolfgang Huber kürzlich
6
Vgl. Margot Käßmann (Hg.) 2015.
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in der Zeitschrift ZeitZeichen, über die Mission: „Zur Zurückhaltung gibt es in der Geschichte der Kirche viele Gründe, zum Missionsverzicht nicht.“7 Die Frage ist also nicht, ob wir Mission brauchen, sondern wie diese aussehen soll. Unter den neueren Ansätzen scheint mir der Ansatz des Wuppertaler Missions- und Religionswissenschaftlers Henning Wrogemann beachtenswert. Er hat ausgehend von der Missio Dei die prägnante Formulierung gebraucht: Christen sollen „den Glanz widerspiegeln“.8 Das ist gleichzeitig eine bescheidende wie deutliche Aufgabenzuschreibung für uns Christen. Sie setzt dabei voraus, dass Gott in diese Welt kommt. Das wirft ein großes und einmaliges Licht auf unsere Realität. Gott kommt mit seinem Glanz und seiner Herrlichkeit und verändert alles. Er bringt Erlösung, Rettung und Versöhnung. Unsere Aufgabe als Versöhnte ist es lediglich, den Glanz der Versöhnung durch Gott widerzuspiegeln. Wir sind es nicht, die retten, erlösen oder versöhnen. Wir reflektieren nur Gottes Herrlichkeit. Mission orientiert sich nach diesem Verständnis nicht an Zahlen, ist letztlich auch nicht Folge kirchlichen Relevanzverlustes. Mission ist auch nichts, was von einzelnen Menschen gleichsam aus ihnen selbst heraus geschieht. Wrogemann formuliert ein Verständnis von Mission, nach dem Christinnen und Christen Anteil haben an der Mission Gottes in dieser Welt. Gott wirkt durch sie. Mission ist damit mehr, als eine einfache missionarische Handlung. Mission wird zu einem Teil meiner Haltung. Es geht darum, die kirchlichen und privaten Vollzüge als Christ zu tun. Indem ich so handle, lege ich vor meiner nicht-christlichen wie auch christlichen Umgebung Zeugnis davon ab, was mich wirklich trägt. Wenn ich bewusst als Christ agiere, habe ich bereits Anteil an der Sendung in der Welt. Indem ich auskunftsfähig9 und auskunftswillig bin, werde ich zum Missionar Gottes.
7 Wolfgang Huber 2017, vgl. https://www.zeitzeichen.net/no_cache/meinung/bedeutung-dermission – aufgesucht am 27. August 2018. 8 Henning Wrogemann 2009. 9 Hier ist allerdings eine große Hürde zu überwinden: Die V. KMU zeigt auf, wie sehr die Inhalte des christlichen Glaubens ausgehöhlt werden und die glaubensspezifische Sprachfähigkeit abnimmt, selbst wenn die äußere Stabilität der Kirche dies nicht widerspiegelt, vgl. Michael Herbst 2018, 98–100.
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6. Konkretionen der Missio Dei in Vorpommern: Zeichen christlicher Solidarität Für Gemeinden liegt darin auch eine große Entlastung. Ich denke z. B. an eine Gemeinde in einer pommerschen Kleinstadt. Mit großem Einsatz der örtlichen Pastorin und der weiteren haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stemmt die Gemeinde dort eine Arbeit, die weithin klassisch volkskirchlich geprägt ist. Zwei Pfarrstellen, eine Kirchenmusikerin, eine Sekretärin und ein Gemeindepädagoge mit unterschiedlichen Beschäftigungsanteilen10 sorgen dafür, dass in den zwei Stadtkirchen und drei umgebenen Dorfkirchen viel Leben ist: fünf Chöre, Kindergottesdienste, Kinderkirche, Christenlehre, Junge Gemeinde, Bibelkreis, drei Seniorenkreise und vieles mehr. Die rund 2300 Gemeindeglieder erleben eine vitale und beeindruckende Gemeindearbeit. In der Selbstwahrnehmung der Gemeindeleitung ist dies jedoch nicht der Fall. Der Kirchengemeinderat stellt erschüttert fest: „Wir können keine missionarische Kirche mehr sein.“ Selten wurde so deutlich, worin die Herausforderung unserer Tage besteht. Wir können nicht mehr an allen Orten gleichermaßen volkskirchliche Strukturen vorhalten, wie sie vielleicht vor 90 Jahren – und selbst zu DDR Zeiten – noch möglich waren. Solange wir Mission als etwas verstehen, was als zusätzliche Aufgabe noch ergänzend zu den übrigen Verpflichtungen aufgesattelt wird, erleben wir die Gefahr, uns selbst und unsere Gemeinden zu überfordern. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, sämtliche Handlungen, auch solche im pädagogischen und diakonischen Bereich, in der Haltung des missionarisch bewussten Christenmenschen zu tun. In dem Bewusstsein, nicht alles Gebotene erfüllen zu können, wird jede erledigte Aufgabe zu einem exemplarischen Zeugnis. Wenn ich das Zutrauen haben darf, dass Gott durch mich handelt, ohne dass ich über meine Kräfte handeln muss, dann schenkt mir dies Gelassenheit. Was das bedeutet, wird in dem Zitat eines Mitglieds einer pommerschen Landgemeinde deutlich. Ein Mitarbeiter einer ländlichen Diakoniestation brachte es im Gespräch so auf den Punkt: „Christen pflegen anders“. So umschrieb er das diakonische ‚plus‘ seiner Arbeit. Ich kann auch sagen: Christinnen und Christen pflegen aus einem anderen Geist heraus. Sie nehmen sich mehr Zeit, gehen auch den,hoffnungslosen Fällen‘ nach, die sich nicht nach den Abrechnungstabellen finanzieren lassen, üben Seelsorge, die sich überhaupt nicht abrechnen lässt, und beten gegebenenfalls mit den Betreuten. Wer gepflegt wird, wird auch nicht als
10 Nicht alle Stellen sind z. Zt. besetzt.
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„Kunde“ verstanden, wie es die betriebswirtschaftliche Logik des Sozialwesens nahelegt, sondern als Nächster, der Hilfe braucht. Er beschrieb, wie unterschiedlich Menschen auf die Pflege von diakonischen und säkularen Diensten reagieren. Nun wäre es sicherlich eine sehr weitgehende Vereinfachung, alle diakonischen Pflegedienste unter ein solches Selbstverständnis zu summieren. Es ist allerdings eine Tendenz, die auch an anderen Stellen deutlich wird, wo Christenmenschen bewusst ihre Verantwortung in der säkularen Gesellschaft wahrnehmen. Sie üben eine Solidarität zu denen aus, die in ihrer Nachbarschaft leben und sie tun es, ohne zuerst nach der Kirchenmitgliedschaft zu fragen. Zu denken ist an die Bürgermeisterin auf dem Dorf oder in der Kleinstadt, die den Kontakt zur Kirchengemeinde sucht, weil hier Menschen spürbar anders leben und ein anderer Geist herrscht. Ich denke an die Lehrerin an einer evangelischen Schule, die überhaupt nur dank eines besonderen Einsatzes aller an der Schule Wirkenden bis auf den heutigen Tag existiert und die die abgehängte Region mit revitalisiert. Ich sehe bei den Christinnen und Christen bei uns im Nordosten nicht selten einen besonderen Einsatz für die Kirche, aber auch in uneigennütziger Weise für das Gemeinwesen. Es ist ein besonderer Geist, der die Menschen antreibt und zu beachtlichen Aktivitäten in Gemeinde und Gemeinwesen befähigt.
7. Die paulinische Antithese von Buchstabe und Geist als Herausforderung Mit Blick auf die Veränderung, also die Re-Formation von Kirche ist Röm 7,6 aufschlussreich. Dort steht: „Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und dem gestorben, was uns gefangen hielt, sodass wir dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens.“ Diese paulinische Antithese zwischen dem Buchstaben, gramma, und dem Geist, pneuma, hat Gerhard Ebeling zutreffend als Differenz zwischen Gesetz und Geist charakterisiert. „Denn das geschriebene Gesetz vermag nicht das Herz zu ändern, während der Geist das umwandelnde Geschehen und Vernehmen der göttlichen Selbstmitteilung ist.“11 Die Herausforderung besteht darin, nicht dem Gesetz der Zahl zu folgen. Das Absinken der Gemeindegliederzahl hat keine normgebende Bedeutung. Es ist falsch, sich allein von Zahlen Ziele geben zu lassen. Als ich vor 17 Jahren Bischof in Pommern wurde, hörte ich oft den Wunsch: „Wir müssten darauf hinarbeiten, dass es wieder selbstverständlich
11 Gerhard Ebeling 1958, 1291.
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in Greifswald ist, evangelischer Christ zu sein.“ Gemeint war die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Damals waren ca. 90 % der Bevölkerung evangelisch. Wollte man versuchen, bei einer heutigen Einwohnerzahl von ca. 58 000 und davon 8740 Evangelischen (also 15 %, Stand 31.12.2017) die Zahl der Evangelischen innerhalb von 30 Jahren wieder auf 90 % zu bringen, so müssten pro Monat ca. 120 Taufen durchgeführt werden. Im Moment sind es vielleicht fünf. Das heißt doch: Die gute alte Zeit wird nicht wiederkommen. Zumindest werden wir es nicht erleben. Sich an einer bestimmten Taufquote zu orientieren, bedeutet, sich dem Gesetz zu unterwerfen. Zahlenfetischismus ist Buchstabendienst. Davon sind wir frei. Es zeigt uns auch etwas im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung: Wo die Volkskirche verloren gegangen ist, ist ein wirklicher Paradigmenwechsel eingetreten. Die intensive Sehnsucht der kirchlichen Kerngemeinde wird uns die Volkskirche auch nicht wieder zurückbringen. Wir sind vom Gesetz frei. Wenn Menschen sich als Erwachsene bekehren und taufen lassen oder ihre Kinder zur Taufe bringen, dann sollen sie das völlig frei und ohne irgendwelche Hintergedanken tun. Weil sie Erfahrungen mit Gott gemacht haben, werden sie zur Taufe kommen bzw. werden sie ihre Kinder zur Taufe bringen. Oder sie werden nicht kommen, weil sie keine Erfahrungen mit Gott gemacht haben, zumindest diese nicht wahrnehmen, wahrnehmen können oder noch nicht wahrgenommen haben. Weil sie eine Sehnsucht nach mehr haben, nach Gemeinschaft und Sozialität, aber auch nach Ewigkeit und Transzendenz werden sie an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen oder auch nicht teilnehmen, wenn ihnen der Sensus dafür fehlt. Auf jeden Fall will der moderne Mensch in aller Freiheit entscheiden, ob er glaubt, nicht glaubt oder auch keine Stellung dazu einnimmt. Das Gesetz der Zahl ist abgetan, wir sind dem gestorben, was uns gefangen hielt. Ich sage das auch persönlich, bewusst auch an diesem Institut, wir haben uns vor 15 Jahren zu schnell anstecken lassen von dem Slogan: „Wachsen gegen den Trend“. Das war verführerisch, weil es einen Kontrapunkt setzte gegen die damals – und heute – weit verbreitete Lethargie, die aus einer negativen Faszination für die Zahlen entsteht. Wer als Pfarrer auf die Zahlen seiner Gemeinde schaut wie das Kaninchen auf die Schlange, hat aber von vornherein den falschen Zugang gewählt. Wir dienen im neuen Wesen des Geistes. Da entdecken wir – zum Teil aus der bisherigen Gestalt der Kirche hervorgehend – etwas Neues. Es ist schwer, Beispiele auszuwählen, denn wir haben in Vorpommern ein reiches geistliches Leben. Jede lebendige Gemeinde, die ich jetzt nicht erwähne, ist ein Verlust für dieses Symposium, denn jede Gemeinde hat ihre spezifische, reiche Geschichte und eine erfüllende Gegenwart, die natürlich jeweils anders ist. Ich wähle jetzt bewusst nicht das Extraordinäre und aus dem Bisherigen Herausragende, nicht Ideen wie Greifbar, die Jugendkirche in Stralsund oder das Bergener Projekt „nebenan“, die den „fresh expressions“ nahe kommen.
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Solche Impulse tun gut, aber sie sind nicht in der ganzen Breite der kirchlichen Landschaft umsetzbar, sondern sie füllen eine Nische. Ich wähle heute direkt daneben existierende und auch in Verbindung mit diesen stehende, aus der verfassten Kirche selbst hervorgegangene Gemeindeentwicklungen, die einerseits ganz unspektakulär sind, andererseits doch viel Zukunftspotential haben. In Bergen auf Rügen hat die örtliche Kirchengemeinde eine hoffnungsvolle Entwicklung genommen, die sich allerdings nicht oder kaum in den Zahlen niederschlägt. Aber es ist eine mündige, lebendige Gemeinde entstanden, die einen kirchenmusikalischen Schwerpunkt hat, auch Glaubenskurse anbietet, sich in lebendigen Zellen von Hauskreisen oder Projekt- und Aktionsgruppen trifft und authentisch Gemeinde vor Ort lebt. Ähnliches gilt für die Lutherkirche in Stralsund oder die Johanneskirche in Greifswald. Den Zahlen nach ist die Greifswalder Johanneskirchengemeinde in den vergangenen Jahren geschrumpft: Von 967 (9/2012) auf 822 (12/2017), das entspricht einem Rückgang um 15 %. Allerdings gilt dies nur für die Zahl der Kirchenmitglieder. Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist zwischen 2010 und 2017 von durchschnittlich 61,4 auf 86,9 Personen gestiegen. Und, was mit Blick auf die Kirche der Zukunft besonders positiv ist: Die Zahl der Kinder ist in diesen Gottesdiensten, zu denen auch parallel Kindergottesdienste angeboten werden, im gleichen Zeitraum von 6,7 auf 13,7 gestiegen. Nun sind auch solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen, denn es wäre fatal, unliebsame Zahlen abzulehnen, willkommene Zahlen hingegen in Szene zu setzen. Darum geht es mir freilich nicht. Mir geht es darum, die Lufthoheit über die statistische Auswertung gemeindlichen Lebens nicht einer einseitigen Statistik zu überlassen. Es gibt Entwicklungen, die mit der Größe der Gemeindegliederzahlen allein nicht abgebildet sind. Der Heilige Geist wirkt nicht nur in Gemeinden mit mindestens 2000, 3000 oder 4000 Gemeindegliedern. Manchmal – durchaus nicht immer – treffe ich bei den bischöflichen Besuchswochen gerade in kleinen Gemeinden auf ein intensives Gemeindeleben. Der Geist Gottes ist eben dort, wo zwei oder drei in Jesu Namen zusammenkommen (vgl. Mt 18,20). Natürlich dürfen es gern auch mehr sein. Aber Quantität ist keine Voraussetzung für den Geist Gottes. Ich gestehe, dass ich aus diesem Grund die stete Vermehrung der Gemeindeglieder-Pfarrstellen-Relation in fast allen Landeskirchen der EKD äußerst kritisch sehe. Es geht nicht darum, dass von Zeit zu Zeit Anpassungen an Größenordnungen vorgenommen werden müssen. Wo früher 1500 Gemeindeglieder gewesen sind und heute 200, kann es keine ganze Pfarrstelle mehr geben. Das sieht jeder vernünftige Mensch ein. Warum aber dort, wo immer 1200 Gemeindeglieder zur Besetzung einer Pfarrstelle im dörflichen Bereich ausreichten, wo es ein reiches gottesdienstliches Leben gibt und eine Gemeinde viele Aktivitäten entfaltet, heute Zusammenlegungen mit Nachbargemeinden notwendig werden, leuchtet mir nicht ein. Hier werden die Prioritäten falsch
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gesetzt. Ohne lebendige Ortsgemeinden wird die Kirche untergehen. Der Geist Gottes braucht einen Resonanzraum, um Wirken zu können. Wir brauchen in den Gemeinden keine großen Einheiten, sondern, um an ein altes Gemeindeaufbaukonzept anzuknüpfen, „überschaubare Gemeinden“12. Ein weiteres Beispiel betrifft die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in unserem Bundesland am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen. Tatsächlich liegt die Quote bei rund 40 % im Grundschulbereich, im Gymnasium sind es sogar noch mehr. Das bedeutet, dass nur ein Bruchteil der Schülerinnen und Schüler im evangelischen Religionsunterricht auch evangelisch sind. Es gibt also einen beachtlichen Kontakt zur jungen Generation, auch wenn dieser außerhalb der Kirchenmauern stattfindet. Religion ist wichtig für Schülerinnen und Schüler – und deren Eltern. Das machen diese Zahlen klar. Es wird deutlich, dass sinkende Mitgliederzahlen zu Unrecht als Beweis für ein scheinbar unumstößliches Gesetz des Relevanzverlustes verwendet werden. Es gibt also beides in unserer Region. Es gibt den Niedergang und es gibt zugleich eine religiöse Lebendigkeit. Es gilt, beständig danach zu fragen, worauf der Fokus liegt und was nachgeordnet sein sollte. Es ist im Kern die Betonung einer geistlichen Herausforderung anstelle einer Resignation, die vor dem Gesetz der (Mitglieder-)Zahl einknickt.
8. Kirche als geistliche Erfahrungsgemeinschaft Die Kirche für morgen ist gut beraten, wenn sie die Geister scheidet, und dem lebensabtötenden Buchstaben den lebensschaffenden Geist entgegenhält. Wie kann das geschehen? Ich sehe einen wesentlichen Schritt in dem Dictum Karl Rahners, dass der Fromme ein Mystiker sein müsse, also jemand, der etwas erfahren habe.13 Wir leben aus der Erfahrung heraus. Sie trägt uns durch Krisen und Herausforderungen hindurch. Dabei macht die Erfahrung auch vor unserem Glauben nicht halt. Wir erleben im ganzen menschlichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen den Geist Gottes. Er wirkt und transzendiert unsere gesamte Existenz und wird so erfahren. Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so gesagt:
12 So der damalige Herner Superintendent Fritz Schwarz 1980 und weitere Bände. 13 „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann. Die Mystagogie muß von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, daß des Menschen Grund der Abgrund
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Ein Christenleben besteht nicht in Worten, sondern in Erfahrung. Niemand ist Christ ohne Erfahrung. […] Die Erfahrung von der hier die Rede ist, führt uns in die Tiefe der Hölle und in den Rachen des Todes und in den Abgrund der Schuld und in die Nacht des Unglaubens. Aber in dem allen will Gott seinen Frieden nicht von uns nehmen.14
Diese Wertschätzung der Erfahrung leuchtet in Pommern im Jahr 2018 unmittelbar ein. Man ist – das lässt sich zumindest für unsere Region sagen – nicht einfach mehr Kirchenmitglied, sondern man hat sich dazu entschieden, es entweder zu bleiben oder sogar zu werden. Kirche ist nicht mehr selbstverständlich. Das wird von der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung unterstrichen. Sie hebt den Wandel der Kirche von der Institution zur Organisation hervor.15 Kirche von heute ist begründungsbedürftig. Sie wird nur dort akzeptiert, wo Menschen einsehen, dass ihr Dasein sinnvoll und hilfreich ist. Die Entscheidung zur Kirchenmitgliedschaft wird natürlich auch mit der eigenen Erfahrung erklärt und vor sich selbst gerechtfertigt. Wir können Kirche heute nur so begründen, indem wir uns immer wieder auf unseren Grund selbst beziehen – und der ist Christus, vergegenwärtigt durch den Heiligen Geist. Zugespitzt lässt sich sagen: Wir sind als Kirche keine Moralagentur, keine bürgerliche Instanz, kein Denkmalschutzverband, sondern wir sind eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen, die Versöhnung erfahren haben. Dabei gilt selbstverständlich, dass wir etwa auch Überzeugungen haben, die sich ethisch oder auch politisch niederschlagen. Wir sind aber zuerst und zuletzt die Gemeinschaft von Menschen, die der Geist bewegt hat. Wir haben etwas erfahren und geben dies weiter (vgl. 1Kor 15,3). Unsere Erfahrung ist unser Charisma. Sie ist der Grund, weshalb wir in dieser Welt glaubwürdig sind. Und Glaubwürdigkeit hat nichts damit zu tun, ob eine Gemeinde groß oder klein ist. Für die Gemeindearbeit bedeutet dies, dass es diesen Erfahrungsbezug braucht und zugleich Felder, auf denen Menschen diese Erfahrungen machen und einordnen können. Christenlehre, Konfirmandenarbeit, Glaubenskurse und ansprechende Gottesdienste sollen beides zugleich sein. Sie sollen Raum
ist: daß Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; daß seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilende Liebe kommt.“ Karl Rahner 1971, 22–23. 14 Dietrich Bonhoeffer 1998, 474. 15 „Ein Wachsen gegen den Trend der Demografie, der Säkularisierung und der Deinstitutionalisierung dürfte ein kraftvolles geistliches Geschehen zur Voraussetzung haben – ein solches außerordentliches Geschehen ist weder durch Geld noch durch Reformen zu initiieren oder sonst wie zu erzwingen.“ S.a. Thies Gundlach 2014, 128 f.
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geben, den Geist Gottes zu erfahren und zugleich zu deuten. Der Weg zum Glauben vollzieht sich in einem Beziehungs- und Kommunikationsgeschehen.16 Es kann nur erfolgreich sein, wenn in ihm Raum ist, Gott selbst wirken zu lassen. Oder anders gesagt: Wenn es der Spiritus Sanctus ist, durch den wir Gott erfahren haben, müssen wir auch der Spiritualität den ihr gebührenden Rang einräumen. Dabei lässt sich nicht leugnen, dass Spiritualität in unserer Kirche sehr divers ist.
9. Spiritualität als Teil evangelischer Existenz Vielleicht liegt es unter anderem daran, dass in unserem reformatorischen Erbgut ein Bewusstsein vorhanden ist, das um die Ambivalenz von Spiritualität weiß. Luther selbst hatte seine liebe Not damit, sich von der Schwärmerei der Spiritualisten einerseits und von frommen Werken der Altgläubigen andererseits abzugrenzen. Allerdings zeigte er sich in seiner Schrift „Wie man beten soll: Für Meister Peter den Barbier“ (1535) als leidenschaftlicher Beter, der im kontinuierlichen und durchaus auch ritualisierten Gebet Glaubenszuversicht findet. Hier sind es biblische Worte, die die spirituelle Grundlage bilden. Evangelische Spiritualität ist von der Bibellektüre geprägt.17 Insofern galt Luthers ‚sola scriptura‘ auch für die Entwicklung einer evangelischen Spiritualität, die in Auseinandersetzung mit der Überbetonung der guten Werke stets ihr ‚sola fide‘ postulierte. Bei aller Kritik an unangemessenen Konkretionen des Glaubens darf allerdings nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden. Der Geist Gottes weht in dieser Welt. Dem gilt es sich zu öffnen. Wie sehr das aktive Einüben einer geistlichen Haltung das Glaubensleben bereichert, zeigt etwa das Haus der Stille in Weitenhagen, wenige Kilometer vor den Toren Greifswalds. Hier hat Spiritualität einen Ort. Menschen erleben dort, dass Gottes Geist wirkt. Es bedarf solcher Orte, um dem Geist bewusst zu begegnen. „Spiritualität als Unterbrechung des Alltags“18 funktioniert hier, indem Menschen physisch ihr Alltagsleben hinter sich lassen und an einen anderen Ort gehen. Spiritualität als Unterbrechung des Alltags ist jedoch auch in anderen Zusammenhängen möglich: Kirchliche Mitarbeitende versammeln sich zur Andacht und erleben im gemeinsamen Singen und Beten eine andere 16 Michael Herbst 2013, 216–224. 17 Als prominentestes Beispiel mag hier die Lektüre der Losungen dienen, s. a. Karl-Friedrich Wiggermann 2000, 710. 18 S.a. Uta Pohl-Patalong 2017, 155.
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Form der Gemeinschaft. Immer wieder erfahre ich von Mitarbeitenden, dass das Miteinander am Arbeitsplatz in der Kirche etwas Besonderes ist. Ganz wesentlich ist auch die persönliche Spiritualität im eigenen Leben und im Leben als Familie. Wo Menschen gemeinsam auf Gottes Wort hören, und sei es ein Vers aus den Losungen am Morgen, zusammen beten und vielleicht sogar singen, da wächst etwas von einem gemeinsamen Geist. Auch Luther selbst schätzte das regelmäßige Gebet und die Kontemplation. Sein Morgen- und sein Abendsegen zählen zu den schönsten Gebeten unserer spirituellen Tradition. Diese Gebete an der Schwelle von Tag und Nacht sind zeitlos. Wo immer Menschen auf Gott hören und sich seinem Willen öffnen, gewinnt der Geist Raum, der auch die Kirche verändern wird.
10. Professionelle Geistliche: Pastoraler Dienst heute In unserer Region versuchen wir diesen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen. Weil die Verwaltungsaufgaben der Gemeinden intensiver werden, hat der Kirchenkreis Pommern im vergangenen Jahr das Modell der Pfarramtsassistenz eingerichtet. Es wurden Gelder bereitgestellt, damit Personen angestellt werden können und Pastorinnen und Pastoren mehr Zeit für Seelsorge und Verkündigung haben. Anstatt sich um die Anträge zur Kirchensanierung kümmern zu müssen, ist es ihre Aufgabe, Seelsorge zu treiben oder Glaubenskurse zu veranstalten. Die Pastorinnen und Pastoren sollen geistlich wirken können, das ist ihr Beruf und ihre Aufgabe. Sie sind Geistliche und werden von den Menschen so gesehen – egal ob diese Kirchenmitglieder sind oder nicht. Wo Menschen nicht mehr automatisch mit Kirche und Glauben vertraut sind, erwarten Sie von den Mitarbeitenden im kirchlichen Dienst auch ein entsprechendes geistliches Profil. Das steht in einer gewissen Spannung zur Selbstwahrnehmung mancher Geistlicher. Es gab eine Zeit, da scheuten sich Pastorinnen und Pastoren, in Kasualgesprächen mit den Menschen zu beten. Sie wollten ja niemandem zu nahe treten. Das war vermutlich niemals richtig und trifft gegenwärtig überhaupt nicht zu. Menschen wollen das Gebet, gerade von Amtsträgerinnen und Amtsträgern der Kirche erwarten sie es. Das ist per se die Aufgabe von Geistlichen. Sie treten als Menschen auf, die einen geistlichen Auftrag haben und die als Fachleute im Bereich Gottesbeziehung geschätzt werden. Auch hier liegt eine Entlastung. Pastorinnen und Pastoren sollen ihre Aufgaben bewusst als Geistliche und eben geistlich erfüllen, dann spiegeln sie etwas vom Glanz Gottes wider. Damit werden sie auch zum Vorbild ihrer Gemeinden, die sich so neue Wege zutrauen und geistlicher werden.
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11. Fazit Vor dem Hintergrund des Gesagten sehe ich daher keine Alternative zum missionarischen Gemeindeaufbau. Gemeinden sollen sich tragen lassen von der Sendung Gottes in diese Welt. Letztlich sollte jede Aufgabe so begriffen werden, dass mit ihr ein Zeichen des Glaubens gesetzt wird. Gemeinden sind gut beraten, die Tore weit zu öffnen und die Menschen hereinzulassen. Sie dürfen das froh und auch ganz wörtlich selbstbewusst tun. In ihnen wirkt Gottes Geist aus sich selbst heraus. Sämtliche Gemeindeaktivitäten sollen dabei auch unter der Fragestellung betrachtet werden, inwiefern durch sie ganz selbstverständlich der Glanz Gottes aufleuchtet. Auf diese Weise reformiert sich die christliche Kirche und ist beides zugleich: ein Senfkorn, das klein ist und doch gehörig wächst, und ein Sauerteig, der seine Umgebung durchsäuert (Mt 13,31–33). In diesem Sinn besteht die Herausforderung darin, insgesamt geistlicher zu werden. Die Kirche kann nur überleben – und mehr noch: sie kann sich nur entfalten und blühen – wenn sie geistlich ist. Die zentrale neue Erfahrung des frühen Christentums ist die wirkliche und unmittelbare Präsenz Gottes in Menschen durch den Geist.19 Es ist der Geist, der lebendig macht. Wo er wirkt, erfahren Menschen Christus und werden von ihm erfüllt. Die Barmer Theologische Erklärung formuliert es so: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern [ich ergänze: und Schwestern], in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt.“ (Barmen III, Hervorhebung durch den Autor) Der Heilige Geist macht uns Jesus Christus in der Kirche gegenwärtig. Die Gemeinde lebt als Kirche in diesem neuen Geist. Die Anwesenheit Jesu als neue, geistige Macht bewirkt, dass aus vorher Fremden Geschwister werden. Diese Art von Gemeinschaft kann nur der Heilige Geist stiften. Dass Kirche sich verändert und auch verändern muss, ist ein kirchentheoretischer Allgemeinplatz. Dennoch ist es hier und in dieser Zeit so brisant wie selten. Vielleicht sind wir gerade im Nordosten eine Art Avantgarde,20 ein Laboratorium für eine Gesellschaft, die in der weiten Mehrheit säkular ist. Hier im Osten haben wir Gelegenheit, ‚ecclesia semper reformanda‘ zu sein und zwar auf eine ganz existentielle Weise. Ja, die Kirche im Jahr 2050 wird eine andere sein, als wir sie heute kennen. Das Entscheidende ist dabei: Der Geist Gottes formt sich seine Kirche, so wie er es will und wie es für die Menschen das Beste sein wird. Wir sind nicht Gottes Strategen, sondern höchstens seine Handlanger.
19 Klaus Berger 1984, 194. 20 Wolfgang Engler 2002.
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Aber wir sollten dem Heiligen Geist auch nicht im Wege stehen, wenn er Neues schafft. Der Heilige Geist wirkt auf vielfältige Weise, weil seine Menschen auch sehr vielfältig sind. Für einige, auf keine andere Weise zu erreichende Menschen werden neue Wege im Sinne der fresh expressions of church zu gehen sein und ich bin von Herzen allen dankbar, die bereit sind in großer Hingabe diesen Weg zu gehen. Den Hauptstrom des Handelns Gottes in der Zukunft sehe ich hier nicht. Vielmehr nehme ich in der verfassten Kirche einen Wandlungsprozess in eine noch offene Zukunft wahr. Es deutet sich an, dass für diese Zukunft die Themen Erfahrungsbezug, Mündigkeit der Gemeindeglieder, Spiritualität und Offenheit in den Formen ausschlaggebend sein werden. Ich schließe mit einer persönlichen Erfahrung. Als mich vor 46 Jahren im tiefen Westdeutschland unser Hausarzt fragte, was ich denn nach dem Abitur studieren wollte und ich antwortete: „Theologie“, da fuhr ihm ein Schrecken in die Knochen. „Hans-Jürgen, mach das doch nur nicht. Mit deinem Abitur hättest du doch ganz andere Chancen. Wirf dein Leben doch nicht weg! In fünf oder spätestens zehn Jahren wird es die Kirche nicht mehr geben. Was willst du denn dann machen? Wovon willst du leben?“ Anfang der Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts standen wir in der BRD im Bann der 68er Bewegung und unter dem Eindruck des Zusammenbruchs bisheriger Selbstverständlichkeiten. Viele hielten damals die Kirche auch in Westdeutschland für völlig überholt und aus der Zeit gefallen. Mutig habe ich damals geantwortet: „Ich möchte mich dafür einsetzen, dass es auch in 50 Jahren noch eine Kirche gibt, weil ich glaube, dass wir eine Kirche brauchen.“ Totgesagte leben länger. Auch diese Tagung wird von der bangen Frage einer Journalistin begleitet: „Ist die evangelische Kirche bald tot?“21 Nein, gewiss nicht, denn wer die Kirche betrachtet, stößt auf einen beachtlichen Wandel, aber auf keinen Sterbeprozess. Natürlich ist der Befund von Ort zu Ort unterschiedlich, aber in der Summe stelle ich viele, größere oder kleinere lebendige Zellen fest, die insgesamt einen vitalen Organismus bilden. Dieser Organismus ist in einem umfassenden Entwicklungsprozess hin zu einer neuen Gestalt von Kirche. Die Herausforderung unserer Zeit ist es, diese Veränderungsprozesse als einen geistlichen Vorgang zu betrachten. Die Kirche wird sich nur positiv entwickeln, wenn sie zugleich solidarisch und spirituell ist, zugleich Gott und den Menschen nah.22 Dazu sollte sie sich ganz auf ihre missionarische Haltung besinnen und sich vom lebendigen Geist und nicht vom toten Buchstaben leiten lassen.
21 Sybille Marx in der Ostsee-Zeitung. Greifswalder Zeitung vom 24. Mai 2018, 12. 22 S.a. Paul Zulehner 2003, 41–51.
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Literatur Berger, Klaus: Art. Geist/heiliger Geist/Geistesgaben III. In: TRE Bd. 12, Berlin und New York 1984, 178–196. Bohren, Rudolf: Predigtlehre, München 3. Aufl. 1974. Bonhoeffer, Dietrich: Predigt zu Römer 5,1–5 (9.3.1938). In: Ders.: Illegale Theologenausbildung. Sammelvikariate 1937–1940, hg. v. Schulz, Dirk, Gütersloh 1998 (DBW 15). Ebeling, Gerhard: Art. Geist und Buchstabe. In: RGG3 Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1290 ff. Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002. Gummelt, Eckhard: Kleines ‚ABC‘ der Landeskirche, Greifswald 1993 (im Selbstverlag des Konsistoriums der Pommerschen Evangelischen Kirche erschienen). Gundlach, Thies: Erste Überlegungen zu den Ergebnissen der V. KMU. In: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 128–132. Herbst, Michael: Aufbruch im Umbruch, Göttingen 2018. – Kirche mit Mission. Beiträge zu Fragen des Gemeindeaufbaus, Neukirchen-Vluyn 2013. Huber, Wolfgang: Mission ist unverzichtbar. Zurückhaltung ja, Aufgabe niemals. In: Zeitzeichen 10 (2017). Käßmann, Margot (Hg.): Gott kann nicht sterben. Das Heinz-Zahrnt-Lesebuch, Gütersloh 2015. Leder, Hans-Günter: Art. Pommern. In: TRE Bd. 27, Berlin und New York 1997, 39–54. Pohl-Patalong, Uta: Spiritualität in kirchentheoretischer Perspektive. Kommentar und Reflexion zu drei Fallbeispielen spiritueller Angebote in der evangelischen Kirche. In: PrTh 52 (2017), 151–158. Rahner, Karl: Frömmigkeit früher und heute. In: Ders.: Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln 2. Aufl. 1971. Schwarz, Fritz: Überschaubare Gemeinde. Bd. 1 – Grundlegendes, Gladbeck 2. Aufl. 1980. Wiggermann, Karl-Friedrich: Art. Spiritulität. In TRE Bd. 31, Berlin und New York 2000, 708–717. Wrogemann, Henning: Den Glanz widerspiegeln. Vom Sinn der christlichen Mission, ihren Kraftquellen und Ausdrucksgestalten. Interkulturelle Impulse für deutsche Kontexte, Frankfurt a. M. 2009. Zulehner, Paul: Aufbrechen oder untergehen. So geht Kirchengestaltung, Ostfildern 2003.
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Und nun, Ecclesia? Eine zusammenfassende Betrachtung zum Symposium „Kirche[n]gestalten“1
Caspar David Friedrich schuf Bilder, die Menschen sehr berühren können, denen die Kirche am Herzen liegt. Um 1815 malte er erneut ein Bild mit besonderem Bezug zu Greifswald: die Jacobikirche.2 Dieses Bild findet sich auch in unserem Evangelischen Gesangbuch, direkt vor dem Lied 241 („Wach auf, du Geist der ersten Zeugen“) abgedruckt.3 Friedrich malte die Greifswalder Jacobikirche, eine unserer drei großen Backsteingotik-Kirchen in der Greifswalder Innenstadt, als komplette Ruine. Als ich das Bild vor gut 20 Jahren als Neu-Greifswalder zum ersten Mal sah, habe ich versucht herauszufinden, wann diese Kirche tatsächlich einmal so zerstört gewesen ist, und musste feststellen: Diese Kirche ist nie zerstört worden. C.D. Friedrich zeichnete hier – wie er das häufig tat – mit einem äußeren Bild einen inneren Zustand. Mir schien es während unserer Tagung, als sei das so etwas wie der rote Faden der letzten zwei Tage. Fast alle Vorträge begannen mit einer Darstellung von Abbruch, Rückgang, Krisen – sozusagen: Ruinen. Bei Pete Ward (ab S. 127) hieß es z. B., wir lebten in den Ruinen der christlichen Kathedrale. Ist das so?
1. Alle reden von der Krise – wir auch! Alle reden von der Krise. Aber wie tun wir das? Wir haben diese Krisensemantik in unterschiedlichster Form angeboten bekommen. Gestern Abend hat uns Bischof Graham Tomlin (ab S. 253) die Krise sogar mit Hilfe des Cricket vor1 2
Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vgl. z. B. die Abbildung: http://www.jacobigemeinde.info/St-Jacobi/Caspar-David-Friedrich – aufgesucht am 4. September 2018. 3 Vgl. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs und für die Pommersche Evangelische Kirche, 452.
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geführt: Also, das muss man schon sagen, die krisenhaften Wandlungen des Cricket-Sports als Metapher für kirchliches Leben vor überwiegend deutschen Hörern, das war schon tapfer. Aber auch in den anderen Vorträgen zeigte sich Ähnliches. Wir bekamen im Vortrag des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm (ab S. 77), also aus einer kirchenleitenden Perspektive, den Hinweis auf die Um- und Abbrüche der Kirche, nicht zuletzt wahrnehmbar in verbreiteter religiöser Indifferenz. Wir hörten von der Kirche in der Diaspora im systematisch-theologischen Beitrag aus Wien von Ulrich Körtner (ab S. 103). Etwas näher rückte das alles in der Vorstellung der pommerschen Situation durch Bischof Hans-Jürgen Abromeit (ab S. 285). Wir haben also unterschiedlichste Dinge angeschaut: die Kirchenaustritte, die Indifferenz gegenüber dem Glauben, die nachlassende Anerkennung christlicher Überzeugungen in öffentlichen Diskursen, das Schrumpfen selbst der einst so stabilen Zahlen bei Kasualien. Christel Gärtner (ab S. 39) verwies uns auf einen Aspekt dieser Krise, der mir im Augenblick am meisten Sorgen bereitet: die Beziehung junger Menschen zum christlichen Glauben und zur Kirche. Nehmen wir die Ergebnisse der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) ernst, dann müssen wir uns fragen, wie das kommt: Der Einsatz für Kinder und Jugendliche in den Gemeinden und in der Kirche insgesamt ist enorm. Es wird viel getan, Fantasie, Liebe, Zuwendung und viele Ressourcen fließen in Kindergottesdienst und Kindertagesstätten, Kinderchöre und Jungschargruppen, Jugendgruppen, Pfadfinder, Freizeiten, Konfirmandenarbeit und Religionsunterricht u.v.m. Und trotz allem zeigt die jüngste Kohorte der Befragten in der KMU die größte Distanz zu Glauben und Kirche und auch die größte Austrittsbereitschaft von allen Alterskohorten.4 Es wird immer deutlicher, dass der Ausfall der familiären Weitergabe des Glaubens nicht so einfach auszugleichen ist – wenn überhaupt! Wir müssen also dringend danach fragen, wie wir Familien stärken können, dass in ihnen wieder Eltern und Kinder gemeinsam glauben lernen. Hier sind am ehesten hybride Formen von kirchlicher Arbeit geeignet, die sowohl die Eltern als auch die Kinder adressieren und beide miteinander im Entdecken des Glaubens zusammenbringen (wie etwa in den Anglikanischen messy churches).5 Jetzt habe ich die Reihe der Probleme um ein weiteres verlängert! Wie aber reden wir angemessen von diesen krisenhaften Phänomenen? Sprechen wir vom Übergang zur Minderheitskirche, vom Verlust des religiösen Monopols, vom nicht ganz freiwilligen Wandel, von „the end of christendom“6 oder ein4 5 6
Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2014, 60–72. Vgl. Lucy Moore 2006, aber auch das ORANGE-Programm, etwa bei Reggie Joiner 2012. Von diesem „end“ oder „demise of christendom“ ist z. B. in der Anglikanischen Studie „Mission-shaped Church“ die Rede; Church House Publishing 2004, 12.
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fach nur von einer erneuten Transformation der Kirche? Was ist das eigentlich, was wir da erleben? Ich möchte drei Anregungen geben: (1) Die Krise nötigt zum Abschied von der Selbstzufriedenheit. (2) Für die, die das Dringliche spüren, zeigt sich, wie abhängig wir von Gottes erneuerndem Geist sind. (3) Und wir sind gerufen, die Platzanweisung als Kirche in der Diaspora anzunehmen, ohne uns zurückzuziehen. 1. Wenn das Reden von den Abbrüchen und von der Krise der Kirche nicht nur dazu angetan ist, eine ekklesiogene Depression zu erzeugen, dann wäre schon viel gewonnen, wenn es uns ein Gefühl von der Dringlichkeit der Lage vermittelte. Bevor wir nun – theologisch korrekt – gegen ein solches Gefühl das feste Vertrauen auf Gott, der seine Kirche erhalten wird, in Anschlag bringen, möchte ich auf einen Unterschied hinweisen: Es ist eines (und hätten wir nur mehr davon!), vertrauensvoll auf den Geist Gottes zu hoffen. Aber es ist ein anderes, selbstzufrieden wie im Kölner Karneval (gemäß dem „kölsche Jrundjesetz“) zu denken: „Et kütt wie et kütt!“ Und: „Et hät noch immer jot jejange!“7 Das ist es eben nicht. Selbstzufriedenheit ist etwas ausgesprochen Gefährliches und sollte nicht mit starkem Glaubensmut verwechselt werden. Wir wollen doch bitte nicht so enden, wie es Steffen Fleßa (ab S. 205) in seinem Vortrag vorführte, als er auf die beharrliche Selbstzufriedenheit und den folgenden Niedergang einer ehemals bedeutenden Marke verwies, deren großes Produkt, der Rechenschieber, am Ende nur noch für das Spielzeugmuseum taugte.8 Wer will das schon? Der Innovationsforscher John P. Kotter hat in seiner Analyse des Scheiterns von Innovationen in Unternehmen herausgearbeitet, dass der erste von insgesamt acht Gründen, warum Innovation scheitert, das Fehlen von „urgency“, von Dringlichkeit ist.9 Er zeigt, wie Selbstzufriedenheit jedes Empfinden von Dringlichkeit verhindert und uns davon abhält, Erneuerung wirklich in Angriff zu nehmen. Und von daher glaube ich, dass eine Folgerung aus unserer Tagung sicherlich ist: Es wird Zeit. Wir haben noch Optionen und wir haben noch Ressourcen. Noch. 2. So sehr wir also zu Recht vor einer Verfallssemantik gewarnt werden, die nichts Gutes mehr in der Kirche finden kann (oder will?), so gefährlich wäre es auch, sich in den kirchlichen Reservaten einzurichten, die noch stabil und vital erscheinen, oder gar in jeder Veränderung gleich wieder eine Gefährdung zu erblicken. Wenn wir aber die Dringlichkeit spüren und uns von der Selbstzufriedenheit verabschieden, wenn wir uns ausstrecken nach der Kirche der 7 Vgl. https://ksh.wikipedia.org/wiki/Et_kölsche_Jrundjesetz – aufgesucht am 4. September 2018. 8 Vgl. http://www.omnia.ie/index.php?navigation_function=3&europeana_query=Faber+Cas�tell&europeana_cursor=%2A&europeana_prev_cursor=%2A&dpla_nav_start=0&prev_ obcnt=-1097 – aufgesucht am 4. September 2018. 9 Vgl. John P. Kotter 1996, 35–49.
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Zukunft, wenn uns dann möglicherweise die Sorge ereilt, wie das nur alles gehen soll, dann haben wir zu hören, was uns der Ratsvorsitzende mitgegeben hat, der vom Vertrauen oder einer „Mentalität der Fülle“ gegenüber einer „Mentalität des Mangels“ gesprochen hat. Bei aller Mühe um Innovation leben wir im Blick auf die Kirche nicht von dem, was wir selbst zustande bringen können, sondern von dem, was wir erhoffen können. „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen“, hörten wir in der Andacht von Benjamin Stahl (Sach 4,6). 3. Auf ein letztes Bild aus den vielen Gegenwartsanalysen unserer Tagung möchte ich hinweisen; es war eine sehr erhellende Auskunft von Ulrich Körtner, dass Diaspora nicht der Katastrophenfall der Kirche Gottes, sondern der Normalfall ist. Und ich glaube, dass wir uns darauf innerlich neu einzustellen haben und einen diasporafähigen Glauben entwickeln sollten.10 Mit anderen Worten: Wir sind „resident aliens“ in dieser Welt.11 Ansässig und doch fremd, ganz hier, aber nicht von hier. Die geschrumpften Verhältnisse und unsere derzeitige Größenordnung sind doch tatsächlich ehrlicher als die vor 50 Jahren, als wir dachten, alle gehören sowieso zu uns. Seit Paul Zulehner vor einigen Jahren zum zehnten Geburtstag unseres Institutes über diese Frage gesprochen hat12, ist das eine wichtige Spur für unsere Arbeit: Es ist doch nicht so, dass früher tatsächlich alle begeistert zu uns gehört haben und es jetzt leider, dummerweise, von Jahr zu Jahr weniger werden. Es wird doch in den Abbrüchen auch der Mitgliedschaftszahlen etwas sichtbar, was immer schon unser Problem war: nämlich eine große innerliche Distanz vieler Menschen gegenüber Glauben und Gemeinde, die dem Namen nach zur Kirche gehören. Die mit Ernst Christen sein wollen, sind eine Minderheit. Sie sind als Minderheit in der Diaspora, wie das Volk Gottes immer wieder und an vielen Orten Minderheit in der Diaspora war. Und als Minderheit lebt die Kirche in der Diaspora nicht in „splendid isolation“. Sie zieht sich nicht zurück, sie distanziert sich weder innerlich noch äußerlich. Sie ist nicht bereit, zum privaten Verein zur Pflege einer etwas seltsamen Religiosität zu verkommen. Sie bleibt freundlich, dienend, betend, bezeugend, einladend, prophetisch-kritisch auf das Ganze und die anderen bezogen. Mit diesem Diasporabegriff ist also nicht gemeint, dass wir uns jetzt hinter sichere Kirchenmauern zurückziehen. Die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén (ab S. 271) hat heute Morgen gesagt, der Glaube sei eben nicht nur privat. Und von daher ist Glaube in der Diaspora immer auch öffentlich und missionarisch.
10 Vgl. auch Johannes Zimmermann 2010, 39–62 11 So Timothy Keller 2012, 146–153. 12 Vgl. Paul Zulehner 2015, 10–19.
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2. Bedingungen des Wandels Der zweite Gedanke, den ich vortragen möchte, betrifft die Bedingungen des Wandels. Was tun wir eigentlich mit dieser wahrgenommenen Krise? Ich sehe sechs Aspekte: 1. Der erste Aspekt: Wir befinden uns in unbekanntem Gelände. Das walisische Cynefin-Framework zeigt uns verschiedene Ausgangsbedingungen strategischen Handelns und fragt danach, wie sehr unsere ‚Vor-Erfahrung‘ taugt, uns in unserer gegenwärtigen Lage zu leiten.13 In einfachen Kontexten ist das recht klar: Wir wissen aus Erfahrung, wie man das macht, und unsere „best practice“ taugt auch für unsere gegenwärtigen Herausforderungen. Aber diese Gewissheit nimmt immer mehr ab, wenn unsere Kontexte nicht „simpel“, sondern kompliziert oder komplex oder gar chaotisch sind, sodass wir immer weniger gewiss sein können, für die gegenwärtigen Herausforderungen mit unseren bisherigen Erfahrungen gut ausgestattet zu sein. Wir denken vielleicht, jahrhundertelang bewährte kirchliche Praxis könne doch so schlecht für die Gegenwart in stark säkularisierten Zonen nicht sein. Aber es funktioniert nicht. Wir haben keine „best oder good practice“ mehr. Wir laufen im Nebel! Wir müssen etwas riskieren. Wir müssen Neues ausprobieren, ohne die Gewissheit, dass unsere Versuche sofort zum Erfolg führen – in diesen seltsam ungewohnten Kontexten, in denen wir Kirche bauen sollen. Und ich glaube, dass wir uns gerade in komplizierten und komplexen Verhältnissen bewegen und uns gegenseitig eingestehen müssen: Auch in dem Streit der Konzeptionen und in dem Ringen um den Weg der Kirche sind wir weit weniger gewiss, als wir vorgeben zu sein. Hand aufs Herz: So ganz genau weiß keiner, was eigentlich funktionieren wird. Ja, wir haben diese Unsicherheit und sie ist durch die Voraussetzungen unseres komplizierten oder gar komplexen Kontextes unausweichlich. Da ist schon etwas gewonnen, wenn wir uns in unseren Streitigkeiten, auf die ich ja in meinem Vortrag auch hingewiesen habe, auch einmal eingestehen: Es ist ein Ringen, ein Tasten, ein Suchen, ein Versuchen, ein Vertrauen. Und dann müssen wir schauen, was daraus wird. Wir sitzen wie Petrus im Boot und tun den ersten Schritt über die Kante hinaus in ungewohntes Gewässer. Wir tun es, weil wir vertrauen, nicht weil wir schon wüssten, wie man auf diesem Wasser läuft (Mt 14,22–32).14
13 Vgl. Dave J. Snowden und Mary E. Boone 2007. Vgl. auch Isabel Hartmann und Reiner Knieling 2014. 14 Vgl. John Ortberg 2002.
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2. Der zweite Aspekt betrifft die Beweglichkeit von alten Institutionen. Meine Beobachtung ist, dass große Institutionen in Deutschland, im Vergleich etwa zur Anglikanischen Kirche, tatsächlich eine gewisse Schwerfälligkeit aufweisen, wenn es darum geht, auf Veränderungen des Umfeldes zu reagieren. In der Kirche unserer Tage liegt das auch an der eigentlich lobenswerten allgemeinen Mitbestimmung. Es reden, das gilt besonders seit 1968, viele immer bei allem mit und wollen gehört werden. Es sind Ausgleiche zu erreichen, es werden Interessen miteinander ins Spiel gebracht und die Verantwortung, die die Menschen in kirchenleitenden Ämtern haben, drückt. Sie wissen um das Gewicht dessen, was passieren kann, wenn Veränderungen „vor die Wand fahren“. Und von daher ist unsere Krisensituation nicht leicht zu steuern und zu managen. Aber ich würde auch hier dem Ratsvorsitzenden zustimmen und fragen: Muss unser innerer Aufbau immer so komplex, bürokratisch, gremienlastig und langwierig sein? Brauchen wir wirklich so viele Instanzen und Entscheidungsebenen, wie wir sie derzeit in der Kirche haben?15 Manchmal beneide ich die Anglikaner, wenn sie etwa mit ihrer „Bishops’ Mission Order“16 auch mit bischöflicher Autorität gelegentlich Reformen gegen selbstzufriedene Beharrlichkeit durchsetzen können, auch wenn noch nicht alle davon begeistert sind. In jedem Fall wünschte ich mir etwas mehr Mut zum Experiment, Fehlerfreundlichkeit und Gelassenheit, vielleicht sogar Ermutigung, etwas Neues zu wagen. Petrus auf der Kante (siehe oben) lässt grüßen! 3. Ein dritter Aspekt kam unter anderem im Vortrag von Steffen Fleßa (ab S. 205) zur Sprache. Ich habe in Anlehnung an Peter Senge Ähnliches in meinem Beitrag (ab S. 15) gesagt: „Today’s problems come from yesterday’s solutions.“17 Als ich danach suchte, wie ich das sichtbar machen kann, fand ich eine Karrikartur von einem Mann mit einem Dominospiel. Der sitzt auf seinem Stuhl inmitten einer langen Reihe von mannshohen Dominosteinen. Der Sitzende hält es für eine gute Idee, den ersten Stein umzustoßen. Dummerweise stehen die Steine im Kreis. So wird der letzte Stein ihn, der den Anstoß gab, umhauen. Es ist eine ziemlich gefährliche Entscheidung, die der Mensch auf dem Stuhl da trifft. Systemisches Denken zeigt uns: Das Beharren auf bestimmten Lösungen verschärft – nach kurzer, zwischenzeitlicher Entlastung – das Problem. Wir haben z. B. Probleme, die „Versorgung in der Fläche“ aufrecht zu erhalten und die pastoralen Ressourcen so zu verteilen, dass möglichst viele Orte am kirchlichen Leben teilnehmen können. Unsere Lösung ist häufig: Wir fusionieren, wir strecken die Rhythmen, wir konzentrieren an Zentralorten, wir dehnen die 15 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm 2018, 7. 16 Vgl. https://www.churchofengland.org/more/parish-reorganisation-and-closed-church-build�ings/bishops-mission-orders – aufgesucht am 4. September 2018. 17 Peter Senge 2010, 57.
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Zuständigkeit der Pfarrerinnen und Pfarrer aus. Das schafft Entlastung. Auf Dauer aber verschärft in vielen Fällen diese „Lösung“ das Problem: Kirchliche Angebote entfernen sich von den Menschen und werden seltener und weniger gut sichtbar angeboten. Das aber schwächt – mit etwas Verzögerung – das lokale kirchliche Leben. Es überfordert viele Pfarrerinnen und Pfarrer. Es ist nicht dazu angetan, Menschen neu zu gewinnen oder die, die da sind, zu stärken, so dass sie selbst Kirche am Ort gestalten können. „Versorgung“ ist an sich schon das Problem: Nicht weil sie nicht gewährleistet werden kann, sondern weil sie eine falsche Vorstellung vom Leben getaufter Christen vermittelt, die eben „versorgt“ werden sollen. Dann aber ist die Stärkung der Christenmenschen vor Ort, ihre Ermutigung zu selbstständigem Handeln als aktive Gemeindeglieder, das Gebot der Stunde. Darauf sollte der pastorale Dienst besonders ausgerichtet werden – und nicht auf den verzweifelten Versuch, pastorale Ressourcen auf immer mehr Orte zu verteilen, um vorwiegend durch Pfarrerinnen und Pfarrer lokales und regionales kirchliches Leben aufrechtzuerhalten. 4. Als Viertes möchte ich unsere innerkirchliche Verunsicherung im Glauben nennen, die bis hin zur Selbstsäkularisierung gehen kann. Wir sind uns in der Kirche häufig der Grundlagen unseres Glaubens nicht mehr gewiss. Ich werde Ihnen nicht verraten, wer es war, aber es war ein hohes kirchenleitendes Mitglied, das in einer Kommissionssitzung vor wenigen Tagen sagte: „Wir haben ein hoch erfolgreiches Jubiläumsjahr hinter uns (das Reformationsjubiläum) – und wissen nach diesem Jubiläumsjahr noch weniger als vorher, wer wir sind.“ Auch das kann nachdenklich stimmen. 5. Ich hoffe aber fünftens, dass wir uns, auch wenn wir sehr vorsichtig und ein bisschen schwerfällig sind, vielleicht darauf einigen können, verträgliche Dosierungen des Neuen zu riskieren. Das ist meine Bitte an die, die in der Kirche Verantwortung tragen: dass Sie denen, die neue Ideen ausprobieren möchten, dafür Freiraum geben, Vertrauensvorschuss, ein wenig Begleitung. Steffen Fleßa hat den Begriff der „Nische“ erwähnt und gesagt: In Nischen können Innovationskeimlinge heranwachsen und reifen, bis sie dann für die Kirche erprobt, wenn nötig auch adaptiert werden können.18 Ob wir das Erprobungsraum nennen, ob wir es Projekt nennen, ob wir von Nischen sprechen, oder von Freiraum für Innovation – ich wünsche mir gerade in meinem Berufsfeld für die Generation von Theologiestudenten und -studentinnen, die wir ausbilden, dass sie eine Kirche erleben, in der ihnen gesagt wird: „Wir vertrauen euch, wenn ihr etwas Neues versucht. Versucht es bitte, und wir sind dabei. Und wenn es scheitert, in Ordnung, das kann passieren, dann lasst uns überlegen, wie wir wieder neu anfangen können. Auch wenn es scheitert! Dann haben wir es wenigstens
18 Vgl. auch schon Steffen Fleßa 2006, 154–183.
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versucht! Und etwas lernen können wir auf jeden Fall!“ Ich wünsche mir als jemand, der gerne zur Landeskirche gehört und ihre Stärken schätzt, dass die jungen Leute, die wir ausbilden, nicht gehen müssen, um Neues ausprobieren zu können. Ich wünsche mir, dass sie nicht zu Hillsong und ICF gehen müssen, sondern in der Landeskirche Räume bekommen, neue Gemeindeformen auszuprobieren. Da möchte ich noch einmal unseren Ratsvorsitzenden zitieren: Haben wir angesichts des Grundtrends schrumpfender Kirchenwirklichkeit schon ausreichend Erprobungsräume eingerichtet, die neue Begegnungen eröffnen, die Entdeckungen jenseits aller mentalen und tatsächlichen Kirchenmauern und Konfessionsgrenzen erlauben? Haben wir das?19
Nein! Haben wir definitiv nicht. 6. In manchen Vorträgen kam ein Bild von unserer Kirche in den Blick, das man als ein Netzwerk charakterisieren kann. Ich selber habe versucht, es in das vom EKD-Zentrum für Mission in der Region und vom IEEG gemeinsam entwickelte Bild der Regiolokalität einzuzeichnen.20 Ich glaube, dass das tatsächlich eine hoffnungsvolle Perspektive ist, eine Mixed Economy21 von traditionellen Kirchengemeinden (unterschiedlichster Art!), von neuen, „frischen“ Gemeindeformen, auch von funktionalen Diensten in Kliniken, Altenheimen, Schulen usw., von Glaubensorten wie Gebetshäusern, Kommunitäten und Akademien. Wir haben noch nicht viel über Diakonie, über Krankenhausseelsorge, über Schulseelsorge, über Begleitung in Gefängnissen, bei der Bundeswehr und dergleichen gesprochen, aber sie alle gehören mit hinein in diese Mixed Economy. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal an Graham Tomlin anschließen, der am Ende seines Vortrags ein paar kulturelle „Marker“ für eine großzügige Kirche genannt hat. Diese Markierungen fassen eigentlich das meiste zusammen, was ich sagen wollte. Experimente werden begrüßt, unterstützt und begleitet. „It’s fine to fail.“ Wir sind gespannt auf die Zukunft und nicht verliebt in die Vergangenheit. Wir arbeiten an unseren Gefühlen von Neid, Arroganz und Überlegenheit. Da steckt eine seelsorgliche Aufgabe an unserer inneren Kirchenkultur darin, auch in der Begegnung von Pfarrerinnen und Pfarrern untereinander. Wenn es heißt, dass Neid immer noch eine beliebte Form der Anerkennung in der Kirche ist, dann ist das jedenfalls nicht gesund. Und wenn diejenigen, die aufbrechen, mit dem Gefühl der Überlegenheit auftreten, dass sie es ja viel besser können als diejenigen, die sich in den traditio-
19 Heinrich Bedford-Strohm 2018, 7. 20 Vgl. Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe 2017. 21 Vgl. Steven Croft 2016, 13–20.
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nellen Formen abmühen, machen sie viel kaputt. Also an den Gefühlen von Neid, Arroganz und Überlegenheit zu arbeiten, wäre eine gute binnenseelsorgliche Aufgabe. Dann achten wir den Einsatz und das Werk der anderen oder erwarten nicht, dass der andere so ist oder wird wie wir selbst und so arbeitet, wie wir selbst es tun. Wir bleiben im Austausch über das, was unsere Region braucht und was wir jeweils dazu beitragen können. Wir ergänzen einander. Wenn es Wettbewerb zwischen uns gibt (warum eigentlich nicht?), dann ist er sportlich und nicht kriegerisch.
3. Ein paar Tugenden für die Kirche in der Diaspora 1. Die erste Tugend heißt: Du sollst neugierig sein. Neugierig auf Menschen. Neugierig auf die, die anders sind. Neugierig auf religiöse Fragen, die sich an überraschenden Orten finden. Neugierig auf Geschichten. Neugierig auf die, die noch nie dazugehört haben. Neugierig auf die, die immer schon da waren. Wir haben einen sehr interessanten Beitrag von Pete Ward gehört über One Love Manchester. In seinem Vortrag gab es einen Satz, über den ich seither mehrfach nachgedacht habe. Ich gebe Pete Ward sinngemäß wieder: „Love and positivity, inclusion and respect are the new religion. If you don’t have that, you are a heretic.“ Das ist wohl tatsächlich die Kommunikationsbedingung, wenn wir nicht in unseren binnenchristlichen Kreisen verharren wollen. Wie wir aber unter solchen Kommunikationsbedingungen das Christusbekenntnis aussprechen können, halte ich für die große Herausforderung. Mir hat sehr geholfen, mich an Charles Taylor zu erinnern, der vom Glauben als Option spricht.22 Und ich würde es gern mit Matthias Sellmann (ab S. 145) so aufnehmen: Glaube als Option der von und zur Religion freien Zeitgenossen. Religionsfreiheit ist nicht der Feind. Vielmehr wird Glaube persönlich (in Freiheit) erworben. Nicht ererbt. Ich dachte als vom Pietismus geprägter lutherischer Theologe, das ist doch Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein. Das haben wir eigentlich immer gesagt seit Philipp Jakob Spener und Johann Arndt. Wie geht dann Evangelisierung? Wir können neue Erfahrungen mit dem Wort Gottes machen. Matthias Sellmann sprach von erleben, deuten und artikulieren (oder aber auch mal umgekehrt: artikulieren, um überhaupt Erlebnisse möglich zu machen, die dann auch gedeutet werden können). Und sie können auch unter den Konstitutionsbedingungen, die Pete Ward nannte, von Christus her gedeutet werden und den Weg zu ihm weisen.
22 Vgl. Charles Taylor 2010.
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2. Meine zweite Empfehlung folgt dem Hinweis von Ulrich Körtner auf die Laienkirche, oder wie ich es mit Ernst Lange gesagt habe, auf die „Kirche der Wachsenden“.23 Ich glaube, dass das eine dringende Aufgabe für uns ist: für lebendiges, mündiges Christsein zu bilden. Und dann wird der Pfarrdienst der Zukunft bescheidener, fokussierter, regionaler und indirekter sein. Nämlich ausgerichtet auf solche Bildung für lebendiges, mündiges Christsein. Und das kirchliche, das christliche Leben in einem Dorf ist dann nicht das, was der Pfarrer lebt, sondern das, was die Christen leben, unterstützt und getragen auch von dem, was Pfarrerinnen tun können. Stefan Paas (ab S. 183) hat von missional leadership gesprochen und sicherlich dabei nicht nur an Pfarrer gedacht. Er hat überhaupt jeden Great Man Mythos abgelehnt, aber er bringt uns auf die Spur zu fragen: Was ist denn der Anteil pastoralen Arbeitens an der Leitung? Und auch der Ratsvorsitzende fragt: Wozu bilden wir eigentlich Pastorinnen und Pastoren aus? Wie lernen sie ihren Part in missionaler Leitung? Meine Vermutung ist, es wäre gut, wenn der pastorale Part an missionaler Leitung gerade in dieser Ausbildung für lebendige, mündige Christen bestünde. 3. Meine dritte Empfehlung zielt auf etwas mehr Gelassenheit, wenn uns unser Weg Verzicht und sogar Sterben auferlegt. Es ist ein Bild, das in der Anglikanischen Kirche immer wieder mit Bezug auf Joh 12,23 zitiert wird und auf die Kirche hin gedeutet wird: Das Weizenkorn, das für sich bleibt, bringt keine Frucht. Das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, bringt viel Frucht. Ich glaube, dass wir noch davor stehen, miteinander geistlich zu bedenken, was es bedeutet, als Kirche zu sterben. Alter Macht, alter Bedeutung, alten Einflusses, alter Größe, alter Kommunikationsstrukturen, alter Gemeindeformen zu sterben und bereit zu sein für die Frucht, die daraus wachsen kann. Anders gesagt: Erneuerung gibt es zuweilen nur aus der Bereitschaft zu sterben – und zu etwas Neuem erweckt zu werden. 4. Zum Schluss – das ist keine Fußnote – erinnere ich daran, dass Benjamin Schliesser (ab S. 55) bei seinen Überlegungen als Erstes die Wiederentdeckung des Glaubens genannt hat. Hans-Jürgen Abromeit hat im letzten Vortrag gesagt, Jesus sei die DNA der Kirche. Und dann bin ich wieder bei der Greifswalder Jacobikirche. Denn wie immer hat Caspar David Friedrich in dieses Bild den Gekreuzigten eingezeichnet. Wenn man genau hinguckt, sieht man auf diesem Bild, dass nicht alles ganz kaputt ist. Es gibt in dieser Ruine einen Altar, es gibt in dieser Ruine eine Kanzel, also die Grundvollzüge, die das Kirchesein von Kirche begründen, die Verkündigung des Evangeliums und die Sakramente von Taufe und Abendmahl (CA 7). All das verweist auf den Gekreuzigten und zieht in seine Nähe. Und in seiner Nähe allein erneuert sich die Kirche. Von daher
23 Vgl. Ernst Lange 1980.
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bin ich dankbar für den Schlussakzent, den unser Bischof Abromeit gesetzt hat. Letztlich ist das, worüber wir hier sprechen, nicht einfach nur eine technische, organisatorische, strukturelle Aufgabe, sondern es ist eine geistliche Aufgabe und es ist der Ruf, uns selbst in die Nähe des Gekreuzigten zu begeben. Die Ruine der Jacobikirche, also die Kirche in ihrer Krise, ist trotzdem und gerade die Kirche, in der wir arm und selig werden dürfen. In der Nähe des Gekreuzigten.
Literatur Bedford-Strohm, Heinrich: Den Sinn des Kreuzes öffentlich machen. In: FAZ Nr. 105 vom 7. Mai 2018, 7. Croft, Steven: Nine Lessons for a Mixed Economy Church – Neun Lektionen für eine Kirche in vielfältiger Gestalt. In: Pompe, Hans-Hermann; Todjeras, Patrick und Witt, Carla J. (Hg.): Fresh X – Frisch. Neu. Innovativ. Und es ist Kirche, Neukirchen-Vluyn 2016, 13–20 (BEG-Praxis). Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014. Fleßa, Steffen: Innovative Theologie – Theologie der Innovation. In: Bartels, Matthias und Reppenhagen, Martin (Hg.): Gemeindepflanzung – ein Modell für die Kirche der Zukunft?, Neukirchen-Vluyn 2006, 154–183 (BEG, Bd. 4). Hartmann, Isabel und Knieling, Reiner: Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, Gütersloh 2014. Herbst, Michael und Pompe, Hans-Hermann: Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können, Dortmund 2017 (ZMiR:klartext). Joiner, Reggie: Lebe orange. Gemeinde und Familie – gemeinsam stark, Asslar 2012. Keller, Timothy: Center Church. Doing Balanced Gospel-Centered Ministry in Your City, Grand Rapids 2012. Kotter, John P.: Leading Change, Boston 1996. Lange, Ernst: Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche, München 1980. Moore, Lucy: Messy Church. Fresh Ideas for Building a Christ-centred Community, Abingdon 2006. Ortberg, John: Das Abenteuer, nach dem du dich sehnst, Asslar 2002. Church House Publishing (Hg.): Mission-shaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context, London 2004. Senge, Peter: The Fifth Discipline. The Art and Practice of the Learning Organization, New York 3. Aufl. 2010.
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Snowden, Dave J. und Boone, Mary E.: A Leader’s Framework for Decision Making. In: Harvard Business Review Heft 11 (2007), 69–76. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2010. Zimmermann, Johannes: Diasporafähiger Glaube: Eine Herausforderung für christliche Gemeinden in einer pluralen Gesellschaft. In: Reppenhagen, Martin (Hg.): Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, Neukirchen-Vluyn 2010, 39–62 (BEG Bd. 15). Zulehner, Paul: Wir sind Teil eines Anfangs. Von der Expertenkirche zu einer Kirche der Laien. In: Moldenhauer, Christiane (Hg.): Stationen einer Reise. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des IEEG, Greifswald 2015, 10–19.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Hans-Jürgen Abromeit, Dr. theol., Bischof em. im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Evangelisch-Lutherischen Kirche Norddeutschlands, Greifswald. Heinrich Bedford-Strohm, Prof. Dr. theol., Landesbischof der Evangelisch-Luthe rischen Kirche in Bayern, Ratsvorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover. Sarah Dunlop, Dr. theol., Dozentin für Praktische Theologie am Ridley Hall College in Cambridge. Günter Faltin, Dr. Dr. h. c., Prof. em. für Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin, Vorstand der Stiftung Entrepreneurship, Berlin. Steffen Fleßa, Dr. rer. pol., Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Universität Greifswald, Prorektor der Universität Greifswald. Christel Gärtner, Dr., apl. Professorin für Religionsoziologie und Research Fellow am Exezellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster. Michael Herbst, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie und Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Antje Jackelén, Prof. Dr. theol., Dr. h. c., Erzbischöfin der Kirche von Schweden, Uppsala. Kolja Koeniger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Ulrich H.J. Körtner, Dr. theol., DDr. h. c., Professor für Systematische Theologie und Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. Jens Monsees, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Sabrina Müller, Dr. theol., Zentrum für Kirchenentwicklung der Universität Zürich, Leitung der ökumenischen Bewegung fresh expressions Schweiz, Zürich. Stefan Paas, Dr. theol., Professor für Missionswissenschaften und interkulturelle Theologie an der Freien Universität Amsterdam, Professor für Missionswissenschaften an der Theologischen Universität Kampen und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften an der Universität Pretoria.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Thomas Schlegel, Dr. theol., Kirchenrat der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Erfurt. Benjamin Schliesser, Dr. theol., Außerordentlicher Professor für Neues Testament an der Universität Bern. Matthias Sellmann, Dr. theol., Professor für Pastoraltheologie und Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) an der Katholisch- Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Graham Tomlin, Dr. theol., Bischof von Kensington in der Church of England, London. Gerhard Ulrich, Dr. h. c., Landesbischof em. der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (2013–2019) und von 2011–2018 Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Schwerin. Pete Ward, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Universität Durham und der MF Norwegian School of Theology in Oslo.