Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn: Juden in der Wiener populären Kultur um 1900 [1 ed.] 9783666570520, 9783525570524


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German Pages [209] Year 2017

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Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn: Juden in der Wiener populären Kultur um 1900 [1 ed.]
 9783666570520, 9783525570524

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Klaus Hödl

Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn Juden in der Wiener populären Kultur um 1900

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher Editorial Board Ronny Vollandt, Vivian Liska and Mirjam Zadoff

Band 27

Klaus Hödl

Zwischen Wienerlied und Der kleine Kohn Juden in der Wiener populären Kultur um 1900

Vandenhoeck & Ruprecht

Veröffentlicht mit der Unterstützung durch: Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Referat Wissenschaft und Forschung Karl-Franzens-Universität Graz Gewidmet Maja Gabriele, die die Entstehung des Buches wesentlich begleitet hat.

Umschlagabbildung: Titelblatt des Notendrucks: Der kleine Cohn ist da! 1910 © akg-images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0963 ISBN 978-3-666-57052-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Tritsch GmbH, Ochsenfurt

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Tradition jüdischer Unterhaltungskünstler in Wien . . . . . . . . Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat 1.1 Zur Identifizierung jüdischer Kulturschaffender in der Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die subversive Dimension der Populärkultur . . . . . . . . . . . 1.3 Die Akkulturationsgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . Beispiele der Konstruktion des Jüdischen in der populären Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Auslassungen in jüdischen Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Zur Abgrenzung jüdischer von nichtjüdischen Zeitungen . . 1.4.2 Gründe für die selektive Berichterstattung der jüdischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Die Rezeption allgemeiner Zeitungen durch Juden . . . . . 1.4.4 Unterschiede in der Deutung von Ereignissen . . . . . . . .

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2. Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900 . . . . . . . . . . 2.1 Die Nestroysäle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Folies Comiques . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verdrängung von Jiddisch durch den Jargon . . . . . . . . . . 2.4 Die Gesellschaft Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Gesellschaften Hirsch und Kassina . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Budapester Orpheumgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen . Das Etablissement Apollo und das Danzer’s Orpheum . . . . . . .

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Inhalt

Das Kriterium der jüdischen Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der „Volkssängerkrieg“ im frühen 20. Jahrhundert . . Konflikte in der Welt der Wiener Volkssänger . . . . . . . . . . 3.1 Die Volkssängerversammlung im „Goldenen Luchsen“ am 27. Dezember 1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Fazit der Versammlung im „Goldenen Luchsen“ . . . . . 3.1.2 Die ‚Polnischen‘ in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erster österreichischer Volkssänger- und Gesangs-Artisten-Tag (27. Oktober 1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Zur Krise des Volkssängerstandes . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Volkssänger im Kontext der Moderne . . . . . . . . . 3.3 Der Übergang vom Konflikt zum „Krieg“ . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Der ‚Verrat‘ von Albert Hirsch an seinen Volkssängerkollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Von den polnischen Artisten zu den polnischen Juden . . 3.3.3 Performative Teilhabe als Kriterium der Zugehörigkeit . . 3.3.4 Der „Volkssängerkrieg“ vor Gericht . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Nachwirkungen des „Volkssängerkrieges“ . . . . . . . . . 3.4 Die Deutung des Konfliktes unter den Volkssängern . . . . . . 3.4.1 Annäherungen an Albert Hirschs Jüdisch-Sein . . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Jüdische Fluchtorte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 4.1 Der Rückzug in die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Differenz im Topos von Alt-Wien . . . . . . . . . . 4.2 Der Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart . . . . . 4.2.1 Von der Vorstadt zum Prater . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Zwei Arten von Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die flüchtige Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 „Der kleine Kohn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Zum Inhalt von Der kleine Kohn . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die verharrende Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reise nach Grosswardein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Von der Differenz zur Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Kampf gegen den Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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6. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.1.1 Die Sprache als Indiz des Jüdisch-Seins . . . . . . . . 5.1.2 Die Physis der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Das Verschwimmen von Realität und Fiktion . . . . 5.2 Eine Antwort auf den zeitgenössischen Antisemitismus . Aspekte der anti-zionistischen Persiflage . . . . . . . . . . 5.3 Artikulationsformen von Jüdisch-Sein . . . . . . . . . . . Inklusivität, Individualität, Interaktionalität, Performanz . 5.4 Das Konzept der Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Das vorliegende Buch ging aus Forschungen zum Thema „Juden und Populärkultur in Wien um 1900“ hervor, die vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) finanziert wurden. Es setzt sich mit einem Bereich der Geschichte der Wiener Juden auseinander, dem bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Neben historischen Einblicken vor allem in die lokale Volkssängerszene wird auch dem Selbstverständnis jüdischer Artisten, Volkssänger und Impresarios Aufmerksamkeit geschenkt. Dafür wurden zeitgenössische populärkulturelle Quellen analysiert und der zeitgenössische historische Kontext näher beleuchtet. In der jüngeren Vergangenheit hat es verschiedentlich Bemühungen gegeben, jüdisches Bewusstsein in Wien um 1900 auf der Grundlage kulturwissenschaftlicher Ansätze zu umschreiben. Die vorliegende Arbeit reiht sich in diese Versuche ein. Die (allgemeine, also nicht speziell jüdische) Populärkultur scheint den geeigneten Rahmen für solcherart Untersuchungen zu bilden. Das hat vor allem mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Wiens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu tun. Die Donaumetropole erlebte um die Jahrhundertwende eine enorme Zuwanderung vor allem aus den Provinzen der Habsburgermonarchie, die zusammen mit Eingemeindungen die Bevölkerung der Stadt innerhalb einer Generation um das Dreifache wachsen ließ. In den späten 1890er Jahren war weniger als die Hälfte der Einwohnerschaft in Wien geboren. Die Immigranten kamen aus unterschiedlichen kulturellen Räumen, unterhielten sich in einer Vielzahl von Sprachen und brachten unterschiedliche kulturelle Traditionen oder das, was sie dafür hielten, mit.1 Die Wiener Populärkultur wurde in starkem Maße von den Kontakten und Interaktionen dieser Zugewanderten untereinander und mit der ansässigen Bevölkerung geprägt. Juden stellten einen integralen Teil der heterogenen Wiener Gesellschaft dar. Um die Jahrhundertwende gab es in der Donaumetropole knapp 150.000 Men1 In der vorliegenden Arbeit wird bis auf wenige Ausnahmen durchgehend das generische Maskulinum verwendet.

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Vorwort

schen „jüdischen Glaubensbekenntnisses“. Gleich wie die anderen ethnischen Gruppen brachten auch sie sich in die populärkulturellen Produktionen ein und rezipierten sie mit der übrigen Einwohnerschaft. Vieles, was Juden schufen und hervorbrachten, kann auf kein jüdisches ‚Erbe‘ zurückgeführt werden, sondern war das Resultat eines Miteinanders mit Nichtjuden. In diesem Sinne war die Populärkultur ein Feld, das wie kein anderes Begegnungen und Kooperationen zwischen Juden und Nichtjuden ermöglichte. Und diese Interaktionen wirkten wesentlich auf das Selbstverständnis der jüdischen (wie auch nichtjüdischen) Akteure. Das vielgestaltige jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeflecht dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass es in der Populärkultur merkbar weniger Antisemitismus als in anderen gesellschaftlichen Bereichen gab. Diese Merkmale der allgemeinen Wiener Populärkultur wurden bisweilen bereits von Zeitgenossen angesprochen. Das kommt beispielhaft in einem Artikel zum Ausdruck, der in der Zeitschrift Das Variété erschien. Darin fragt der Autor, wie man sich einen „Koupletdichter“ vorstellen müsse. Und er meint, dass dessen Aussehen „nicht im Allgemeinen zu bestimmen (ist). Er kann oft einen ziemlich interessanten Kopf haben, wie etwa das Haupt eines Löwen, sein Gesicht kann aber auch an das eines Löwi erinnern.“2 Ohne an dieser Stelle auf die antisemitischen Implikationen in der Antwort eingehen zu wollen, weist sie in aller Deutlichkeit darauf hin, dass Juden und Nichtjuden gleichermaßen als Verfasser satirischer Gesangseinlagen infrage kamen. Ethnische ‚Herkunft‘ oder religiöses Bekenntnis spielten dabei keine Rolle. Ein weiterer Beleg bezieht sich auf Albert Hirsch, einen jüdischen Volkssänger, über den auf den folgenden Seiten noch viel zu lesen ist. Er erkannte schon früh, dass die Populärkultur aufgrund der ethnisch heterogenen Zusammensetzung ihrer Akteure und des – in der heutigen Diktion – ‚hybriden‘ Charakters ihrer Produktionen dazu beitragen könnte, Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen, und damit auch solche zwischen Juden und Nichtjuden, zu entschärfen. Bereits Mitte der 1880er Jahre forderte er seine Kollegen auf, deren Publikum aus Arbeitern und kleinen Geschäftsleuten zu erheitern und „von dem häßlichen Confessionshader, von dem bedauerlichen Nationalitätenkrieg“ abzubringen.3 Hirsch selbst ging dabei mit gutem Beispiel voran. Er setzte sich während seiner ganzen Karriere für ein Miteinander von Juden und Nichtjuden beziehungsweise Christen, wie er sie nannte, ein. Wenn es eine Konstante in seinen zahlreichen Theaterstücken, die über ein Vierteljahrhundert in Wien aufgeführt wurden, gab, dann war es sein Plädoyer für ein friedliches und verständnisvolles jüdischnichtjüdisches Zusammenleben. Kein anderer Volkssänger legte ein ähnliches Engagement dafür an den Tag. 2 Das Variété 7 (7. 12. 1902) o. S. 3 Mephisto 20 (1885) 9.

Vorwort

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Bei einer Arbeit über Populärkultur stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutung. Was genau umfasst die Populärkultur, worin lässt sie sich von anderen kulturellen Bereichen abgrenzen? Gibt es sie als eigenständiges kulturelles Feld überhaupt? Populärkultur ist zweifelsohne ein unscharfer Begriff. Es gibt keine anerkannte Definition für sie. Zwar gibt es zahlreiche Versuche, sie zu umschreiben. Allerdings ermangeln sie zumeist der erforderlichen Resonanz, um eine normative Geltung zu erlangen. Deswegen verwundert es nicht, dass das Konzept der Populärkultur bisweilen als „‚virtually useless‘“ bezeichnet worden ist, als „‚a melting pot of confused and contradictory meanings‘“.4 Zu Beginn der Arbeit am Buch wurde sie, vereinfacht ausgedrückt, als Kontrast zur Hochkultur verstanden. Das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen den beiden wurde in der eher textuellen Ausrichtung der Standard- und der stärker performativen Artikulation der Populärkultur gesehen. Da kulturelle Bedeutung in der Populärkultur vermehrt durch Praktiken hervorgebracht wird, scheint diese unklarer, verhandelbarer und fluider als in der Hochkultur zu sein. Dieses Verständnis von Populärkultur ließ sich nicht lange aufrechterhalten. Spätestens bei einem Workshop über „Populärkulturen“, der im Herbst 2013 von Rebekka Voß und Gordon Kampe in Frankfurt/M. organisiert worden war, wurde anhand von Vorträgen und Diskussionen klar, dass die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur einer faktischen Grundlage entbehrt. Auch die Forschungen zu diesem Buch haben das dichotomische Konzept einer Standardund einer im Vergleich dazu als trivial bewerteten Populärkultur hinterfragt. So ist es beispielsweise schwierig oder unmöglich, Aufführungen bestimmter Volkssängergruppen zur Populärkultur zu zählen, wenn sie von Repräsentanten der Aristokratie, Politikern und von prominenten Kulturschaffenden besucht wurden und zeitgenössisch aktuelle gesellschaftliche Themen in eine beißende Satire kleideten.5 Aber gehören sie deswegen bereits zur Hochkultur? Oder zeigt sich daran die mangelnde Sinnhaftigkeit einer kulturellen Kontrastierung? Die Bezeichnung Populärkultur, so das Fazit, scheint wenig mehr als eine Konstruktion des sogenannten Bürgertums zu sein, womit es sich von anderen Gesellschaftsschichten und deren kulturellen Äußerungen abgrenzen wollte. In der vorliegenden Arbeit sind mit Populärkultur vornehmlich kulturelle Aufführungen gemeint, deren Besuch sich alle Gesellschaftsschichten leisten konnten. Sie wurden meist in einem geselligen Rahmen rezipiert, bei lebhafter Unterhaltung, Speis und Trank. Das Publikum konnte sich durch Unmuts- oder

4 Holt N. Parker, Toward a Definition of Popular Culture. In: History and Theory 50 (2011) 147– 170. Parker zitiert in diesem Zusammenhang einen Artikel von Tony Bennett aus dem Jahr 1980. 5 Siehe John Storey, Inventing Popular Culture. From Folklore to Globalization (Malden/MA: Blackwell Publishing2 2008).

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Vorwort

Gefallensbekundungen in die Darbietungen einbringen und sie beeinflussen. Dadurch erlangten sie oftmals den Reiz des Spektakelhaften. Mehrere Kolleginnen und Kollegen haben die Entstehung des Buches begleitet. Einzelne haben Auszüge daraus gelesen und kommentiert, andere haben mit mir über verschiedene Aspekte diskutiert. Besonders wichtig waren die Mitglieder der Arbeitsgruppe Jews and Popular Culture mit ihren Workshops in Los Angeles, Graz und Washington. Daneben hat es eine Reihe von Einladungen zu Vorträgen gegeben, bei denen ich über einzelne Punkte sprechen konnte und ein wichtiges Feedback erhielt. In diesem Sinne möchte ich Paul Lerner, Jonathan Skolnik, Mary Gluck, Marion Kaplan, Till van Rahden, Jay Geller, Asher Bieman, Gary B. Cohen, Liliane Weissberg, Yuri Zaretsky, Judith Frishman, Carsten Schapkow, Amos Morris-Reich, Peter Storer und Georg Spitaler danken. Wichtige Anregungen erhielt ich durch Gespräche und Diskussionen mit Sharon Gillerman, Kerry Wallach, Sven-Erik Rose, Leslie Morris, David Meola und Ben Baader. Mit Stefanie Schüler-Springorum habe ich im Juni 2013 in Berlin eine Konferenz über Juden und Populärkultur organisiert, die einen wichtigen Impuls für dieses Buch gebildet hat. Die zahlreichen Gespräche mit ihr haben die Entstehung des Buches wesentlich vorangetrieben. In Graz selbst waren mir Susanne Korbel, Jana Schumann und vor allem Gerald Lamprecht eine große Hilfe. Und wie niemand sonst hat Jonathan Hess die Entstehung der Arbeit beeinflusst – mit seinen eigenen Texten, die als wichtige Inspiration gedient haben, wie auch mit seinen inhaltlichen Ratschlägen.

Einleitung

An einem eisigen Dezembertag des Jahres 1900 irrte am Ufer des Donaukanals in Wien eine Mutter mit vier Kindern umher. Sie machte Anstalten, sich mit ihnen von einer Brücke ins kalte Wasser stürzen zu wollen. Ein Streckenwärter hörte das Geschrei der Kleinen und konnte die Frau von ihrem Vorhaben abhalten. Er brachte die Familie zur nächsten Polizeiwachstube. Dort stellte sich heraus, dass die suizidgefährdete Frau eine verarmte Hausiererin war, die ihre Kinder nicht mehr ernähren konnte und vor einer Delogierung stand. Ihr Mann, ein „wandernder Artist“, verdingte sich weit weg von Wien als Bauchredner. Im letzten Brief, den sie von ihm erhalten hatte, rät er ihr, die Bettfedern und das Küchengeschirr zu veräußern und mit dem Erlös Brot für die Kinder zu kaufen.1 Sie selbst hatte schon zwei Tage vor ihrem Selbstmordversuch nichts Essbares mehr zu sich genommen. Nach Bekanntwerden dieser Lebensumstände wurde an die Wiener Bevölkerung ein Hilfsappell gerichtet, der Familie in ihrer Notlage zu helfen. Er soll Gerüchten zufolge recht einträglich gewesen sein. Allerdings wurde durch die Spenden keine nachhaltige Verbesserung der Lebenslage erwirkt. Nachdem die Familie abermals Schulden angehäuft hatte, die sie nicht begleichen konnte, verschwand die Frau mit ihren Kindern aus der Wohnung. Über den neuen Aufenthaltsort war nichts bekannt.2 Im Großen und Ganzen unterschied sich die soziale Lage der Familie Katz, so ihr Name, kaum von der Situation Tausender anderer jüdischer Familien in Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ein gewichtiger Teil von ihnen lebte unter erbarmungswürdigen Umständen und hatte kaum ausreichende Mittel, um das alltägliche Leben zu fristen. Juden – aber auch Nichtjuden – wohnten bisweilen in dunklen, feuchten Kammern, mehrere von ihnen in einem Raum zusammengepfercht, oftmals das Bett mit anderen teilend. Manchmal waren auch Fremde zugegen, sogenannte Bettgeher, die lediglich einen Schlafplatz gemietet hatten. Moralische Verfehlungen, Krankheit und soziale Verwahrlosung 1 Illustrirtes Wiener Extrablatt (im Weiteren IWE) 358 (31. 12. 1900) 2–3. 2 Neues Wiener Tagblatt (im Weiteren NWT) (251 (10. 9. 1904) 5–6.

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Einleitung

fanden unter solchen Bedingungen einen idealen Nährboden vor.3 Manche Medien beschrieben die kläglichen Behausungen der Juden gar als „Wanzenburgen“ und „Pesthöhlen“, von denen eine Gesundheitsgefahr für die nichtjüdische Bevölkerung ausgehe.4 Die bedrückende Armut, die den Alltag der Familie Katz prägte, war nicht nur einem Teil der Juden, sondern auch der nichtjüdischen Wiener Bevölkerung vertraut. Solche gemeinsamen Erfahrungen von Juden und Nichtjuden zeigten sich auch im Versuch von Anna Katz, sich aufgrund ihrer aussichtslos scheinenden Misere in den Donaukanal zu stürzen. Zeitgenössische Zeitungen waren voll mit Berichten über Menschen, die an ihren Lebensbedingungen verzweifelten und keinen anderen Ausweg als den Freitod wussten. Wie dramatisch die Lage war, bezeugen vier weibliche Leichname, die ein Spaziergänger zu Beginn des Jahres 1904 im Donaukanal entdeckte. Die Frauen waren unabhängig voneinander ins eiskalte Wasser gesprungen und zusammen angeschwemmt worden.5 Im Jahre 1900, als Anna Katz aus dem Leben scheiden wollte, wählten 500 Wiener und -innen diesen Schritt.6 Nur der Selbstmord durch Erhängen und Erschießen forderte mehr Opfer als durch Ertrinken. Oftmals rissen diejenigen, die sich in der Donau ertränkten, auch ihre Kinder mit in den Tod. Anna Katz folgte mit ihrem gescheiterten Vorhaben somit einem verbreiteten Verhaltensmuster. Ihre Verzweiflungstat wurde, ob bewusst oder unbewusst, in einer kulturell vorgegebenen Weise gesetzt.7 In Osteuropa, wo die Armut unter den Juden noch viel bedrückender sein konnte als in Wien, waren Suizide weitgehend unbekannt.8 Daraus folgt, dass viele Juden in Wien in größerem Einklang mit der nichtjüdischen Bevölkerung ihrer Stadt als mit Juden in anderen Gegenden und 3 Bruno Frei, Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten (Wien/Berlin: R. Löwit Verlag 1920) 41– 60. 4 Eine Pesthöhle. In: Deutsches Volksblatt (im Weiteren DV) 3712 (4. 5. 1899) 6. 5 IWE 8 (8. 1. 1904) 3. 6 IWE 8 (8. 1. 1901) 7. 7 Die Vorstellung, dass es sich dabei um ein kulturelles Muster handelte, wird durch andere Selbstmordversuche, die beinahe in exakt gleicher Weise verliefen, bestärkt. In diesem Zusammenhang ist beispielhaft das Vorhaben der Hilfsarbeiterin Karoline Birk zu nennen, die sich Ende November 1902 mit vier Kindern von der Brigittabrücke stürzen wollte. Sie hatte einen kranken Mann, der zuvor Agent gewesen war, und lebte unter bedrückenden Verhältnissen. Wie Anna Katz, so hatte auch Karoline Birk die meisten Möbelstücke bereits verkauft, um Brot für ihre Kinder zu erstehen. Der Selbstmord wurde letzten Endes verhindert, weil ein Wachmann auf das Weinen der Kinder aufmerksam geworden war. (Siehe IWE 326 [28. 11. 1902] 2 & 327 [29. 11. 1902] 4.) 8 Mitchell B. Hart, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity (Stanford: Stanford University Press 2000) 132. Ob tatsächlich eine sozial missliche Lage einen Grund für einen Suizidversuch darstellt, oder ob er stattdessen auf eine kranke psychische Verfassung zurückzuführen ist, soll an dieser Stelle nicht interessieren. Wichtig ist allein der Hinweis, dass eine Reaktion auf spezifische Umstände nach einem kulturellen Muster gesetzt wurde.

Einleitung

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Kulturen handelten. Von einer einheitlichen Judenschaft, die von Nichtjuden deutlich unterscheidbar war, kann zumindest vor diesem Hintergrund nicht gesprochen werden. Juden und Nichtjuden in Wien orientierten sich oftmals an ähnlichen Handlungskoordinaten, die sich von jenen in anderen Gegenden unterschieden. Dass mit Anna Katz eine Frau dem Hausierberuf nachging, ist äußerst bemerkenswert. Ihre Tätigkeit lässt sich nämlich nur sehr schwer mit vorliegenden Narrativen über die Juden in Wien in Übereinstimmung bringen. Zwar ist eine umfassende wissenschaftliche Arbeit über das jüdische Hausierwesen in der Donaumetropole noch ausständig. Aber an den wenigen Texten, die es über sie gibt, fällt auf, dass immer nur über Männer berichtet wird.9 Jüdische Frauen scheinen in dieser Berufswelt keinen Platz gehabt zu haben. Zwar kommen Hausiererinnen in verschiedenen Darstellungen über das Leben der orthodoxen Juden in Osteuropa vor.10 Bei diesen widmeten sich Männer bisweilen ausschließlich dem Studium religiöser Schriften, während ihre Frauen für den Unterhalt der Familie sorgten.11 Für Wien gilt aber, dass Juden ihre Geschlechterrollen rasch mit vorherrschenden bürgerlichen Standards in Übereinstimmung brachten. Nach diesen steht dem Mann die Aufgabe zu, durch eine Erwerbsarbeit die Versorgung der Familie sicherzustellen.12 Anna Katzs Form der Daseinsfristung weicht von dieser verbreiteten Erzählung jedenfalls ab. Die Ursache dafür mag in der materiellen Not gelegen haben, die eine Orientierung an bürgerlichen Werten unmöglich machte. Ihr Berufsalltag glich vielmehr jenem der verarmten nichtjüdischen Bevölkerung in Wien, die recht viele Hausiererinnen aufwies.13 Die wenigen Informationen, die es über das Leben von Anna Katz gibt, zeichnen das Bild einer Frau, die sich gewandt im kulturellen Geflecht des zeit9 Siehe Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten (Wien: Böhlau Verlag 1990) 46. 10 Siehe Gershon David Hundert, Approaches to the History of the Jewish Family in Early Modern Poland-Lithuania. In: The Jewish Family. Myths and Reality, Hg. Steven M. Cohen, Paula E. Hyman (New York: Holmes & Meier 1996) 22–23. Gershon David Hundert, Jews in Poland-Lithuania in the Eighteenth Century. A Genealogy of Modernity (Berkeley: University of California Press 2004) 52. 11 Siehe Susan A. Glenn, Daughters of the Shtetl. Life and Labor in the Immigrant Generation (Ithaca: Cornell University Press 1990) 111. Dabei scheint es sich aber um eine Idealvorstellung gehandelt zu haben, wie die jüngere Historiographie erkannt hat. In der Regel dürften sowohl der Mann als auch die Frau einer Arbeit nachgegangen sein, wobei diese ihrem Mann eher unterstützend zur Seite stand als selbstständig agierte. Siehe Glenn Dynner, Yankel’s Tavern. Jews, Liquor, & Life in the Kingdom of Poland (Oxford: Oxford University Press 2014) 91. 12 Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien (Vienna: Böhlau Verlag2 1994) 208–226. 13 Siehe IWE 332 (4. 12. 1902) 6.

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Einleitung

genössischen Wien bewegte. Es scheint, dass ihr Alltag über weite Strecken jenem von Nichtjüdinnen ähnlich war. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich zuvorderst mit diesen identifizierte und keine jüdischen Bewusstseinsfacetten gehabt sowie zur Wiener Judenschaft keine sozialen Beziehungen gepflegt hätte. Der Umstand, dass die finanzielle Unterstützung, die Anna Katz infolge des öffentlichen Spendenaufrufs nach ihrem Selbstmordversuch erhielt, von Juden stammte, lässt vermuten, dass sie auch Beziehungen mit der jüdischen Gemeinschaft unterhielt.14 Anna Katz dürfte sowohl in der jüdischen wie auch nichtjüdischen Sphäre zu Hause gewesen sein. Sie führte ein Dasein, das es in Wien wahrscheinlich häufig gegeben hat, viel öfter, als aus der vorliegenden Literatur geschlossen werden kann. Dass entsprechende Belege dafür eher rar sind, ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Historiker und –innen bisher kaum nach ihnen gesucht haben.15 Sie lassen sich in das vorherrschende Bild über Juden nämlich nur schwer einfügen oder widersprechen ihm sogar. Nach diesem sind Juden entweder Teil einer weitgehend geschlossenen, meist religiös-jüdischen Welt, oder sie verlassen diese, indem sie sich an den nichtjüdischen Gesellschaftsteil ‚assimilieren‘ bzw. ‚akkulturieren‘. Den Ansatz, dass sich die jüdische und nichtjüdische Sphäre überlappen und die Grenzen zwischen ihnen eher durchlässig als solide sind, gleichzeitig sich immer wieder ändern und neu ausgehandelt werden müssen, findet man in diesen historiographischen Darstellungen kaum.16 Ein Beispiel für eine Begegnung von Juden und Nichtjuden, die klare Unterscheidungen zwischen ihnen auflöst – und gleichzeitig auch zur Berufsausübung von Anna Katz passt -, stellt der jüdische Hausierer Samuel Scholder dar. Er bot im Dezember 1896 in der Rotenturmstraße Spielwaren an, als ein Angestellter eines nahen Geschäfts sich an ihn wandte. Zunächst beschimpfte er ihn lediglich antisemitisch, dann griff er ihn auch tätlich an.17 Soweit scheint der Fall ein weiterer Beleg für das schwierige Los zu sein, das jüdische Hausierer in Wien zu tragen hatten. Sie zögen, so wird in der Literatur gemeinhin – und in weitem Maße zweifelsohne korrekt – behauptet, den Konkurrenzneid der kleinen Gewerbetreibenden auf sich und verkörperten für die übrige nichtjüdische Bevöl14 Siehe IWE 2 (2. 2. 1901) 2. 15 Dies hat allerdings Christoph Lind getan. Siehe Ders., Kleine jüdische Kolonien. Juden in Niederösterreich 1782–1914 (Wien: Mandelbaum Verlag 2013). Wie aus dem Untertitel hervorgeht, beschäftigt sich der Autor mit kleinen jüdischen Gemeinden in Niederösterreich. Lind wartet mit erstaunlichen Funden jüdisch-nichtjüdischer Interaktionen auf. 16 Natürlich gibt es in diesem Punkt auch bemerkenswerte Ausnahmen. Ein Beispiel für eine junge Nachwuchswissenschaftlerin, die das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen kulturellen Sphären neu überdenkt, ist beispielsweise Jana Schumann. Siehe Dies., Von „jüdischem Humor“ und „verjudeter Kunst“. Konzeptionen jüdischer Identität und der Populärkulturdiskurs. In: Nicht nur Bildung, nicht nur Bürger: Juden in der Populärkultur, hg. v. Klaus Hödl (Innsbruck: Studienverlag 2013) 91–102. 17 Ein geschlagener Hausirer. In: IWE 23 (23. 1. 1897) 8.

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kerung den verarmten Ostjuden. Jüdische Hausierer wurden von ihr häufig verachtet und stellten ein Ziel antisemitischer Projektionen dar.18 Zu diesem Narrativ gibt es eigentlich keine Gegenerzählung, keine Berichte, die ein gedeihliches Miteinander von ihnen und Nichtjuden betonen. Der Fall Scholder weicht allerdings von den verbreiteten Darstellungen über jüdische Hausierer ab, wie der weitere Verlauf des Aggressionsaktes gegen ihn belegt: Der Angreifer, Joseph Knot, ergriff nach der Auseinandersetzung die Flucht. Er sollte allerdings nicht weit kommen. „Eine Menschenmenge“ stürmte ihm nach und holte ihn alsbald ein. Die Hetzjagd hatte die Verfolger so sehr aufgebracht, dass sie sofort zur Selbstjustiz schritten und nun ihrerseits auf den Übeltäter einschlugen. „Einer zerbrach (sogar) seinen Stock an dem Kopfe Knot’s.“19 Dieser Vorfall lässt unterschiedliche Deutungen des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden zu. Einerseits kann er unter dem Aspekt des Antisemitismus betrachtet werden; andererseits im Hinblick auf die Bereitschaft der Wiener Bevölkerung, einem Juden zu helfen und ihn gegen Antisemitismus zu verteidigen. Letztlich sind auch beide Auslegungen auf einmal möglich und wohl auch angebracht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Vielzahl von Juden im Wien der Jahrhundertwende beide Erlebnisse kannte, sowohl die Feindseligkeit durch Nichtjuden als auch einen freundschaftlichen Umgang mit ihnen. Anna Katz und Samuel Scholder stellen jedenfalls Beispiele für die Vielschichtigkeit jüdischer Erfahrungen dar. Ein weiterer Punkt, der in den historiographischen Erzählungen über Juden in Wien kaum angeschnitten wird, stellt die Berufswahl von Herrn Katz dar. Er war „Escamoteur“, also eine Art Zauberkünstler, und Bauchredner. Er unterhielt Menschen, die Zerstreuung und Ablenkung von ihrem monotonen Alltag suchten. Dabei konkurrierte er mit vielen anderen Juden, die in verschiedensten Sparten der (allgemeinen) Populärkultur tätig waren. Das jüdische Engagement darin ist bisher vergleichsweise nur wenig erforscht und beschrieben worden, vor allem was die Zeit um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert betrifft.20 Des18 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna (Chicago: University of Chicago Press 1981) 58. 19 IWE 23 (23. 1. 1897) 8. 20 Zu den wichtigsten Ausnahmen für die Zeit um 1900 siehe vor allem Philip V. Bohlman, Auf der Bima – Auf der Bühne. Zur Emanzipation der jüdischen Popularmusik im Wien der Jahrhundertwende. In: Vergleichend-systematische Musikwissenschaft. Beiträge zu Methode und Problematik der systematischen, ethnologischen und historischen Musikwissenschaft, hg v. Elisabeth Th. Hilscher, Theophil Antonicek (Tutzing: Hans Schneider 1994) 417–449. Philip V. Bohlman, An Endgame’s “Dramatis Personae”: Jewish Popular Music in the Public Spaces of the Habsburg Monarchy. In: Vienna. Jews and the City of Music 1870–1938, hg. v. Leon Botstein, Werner Hanak (Hofheim: Wolke Verlag 2004) 93–105. Philip V. Bohlman, Jüdische Volksmusik. Eine mitteleuropäische Geistesgeschichte (Vienna: Böhlau Verlag 2005). Marie-Theres Arnbom, Georg Wacks (Hrsg.), Jüdisches Kabarett in Wien 1889–2009

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wegen assoziiert man Juden fast nur mit dem Beruf des Kaufmanns, Händlers oder Bankiers, vielleicht auch mit Arbeitern und Hausierern.21 Herr Katz ging einer Tätigkeit nach, die in Wien viele, vielleicht zu viele Menschen ausübten. Die wohlhabenden unter ihnen, die sich den Mitgliedsbeitrag leisten konnten, gehörten dem Verein Die Schwalbe an. Er vertrat nach außen hin die Interessen der Artisten und Schausteller und unterstützte die Ärmsten unter ihnen.22 Es mag sein, dass das Überangebot an Zauberkünstlern in der Metropole Herrn Katz bewog, sein Glück in der Provinz zu suchen, wo die Konkurrenz nicht so ausgeprägt war. Dazu kam auch noch ein Lungenleiden, das ihm schwer zu schaffen machte. Er konnte seine ursprünglichen Leistungen nicht mehr erbringen und musste seine besten Auftrittsmöglichkeiten seinen Kollegen überlassen. Jedenfalls gab er das Artistenleben in Wien, wo er unter dem Namen Kaciander bekannt war, auf und tauschte es gegen ein Wanderleben ein. Zur Zeit, als Herr Katz noch in Wien sein Brot verdient hatte, war auch seine Frau als Artistin tätig gewesen. Sie war als Mnemotechnikerin sehr erfolgreich und trat unter dem Künstlernamen Leontine Rey sogar in den wichtigsten Wiener Varieté-Etablissements, dem Ronacher sowie Danzer’s Orpheum, auf. Daneben arbeitete sie auch als Fakirin.23 Zur Hausiererin wurde sie, nachdem sie mit ihren Kindern von ihrem Mann allein gelassen worden war. Armut war unter den Artisten und Künstlern weit verbreitet, und nicht wenige von ihnen lebten unter ähnlich bedrückenden Verhältnissen wie die Familie Katz. In den Sommermonaten, wenn die Nachfrage nach Aufführungen stark nachließ und die Menschen, soweit sie konnten, aufs Land fuhren oder sich in den Praterauen vergnügten, wurden die Obdachlosenasyle von den Schauspielern re(Wien: Armin Berg Verlag 2009).Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung. In: Musicologica Austriaca 17 (1998) 63–82. Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgsellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919 (Vienna: Verlag Holzhausen 2002). Birgit Peter, Robert Kaldy-Karo (Hg.), Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien (Wien: LIT Verlag 2013). Das Thema Fußball und Juden ist schon recht gut erforscht worden. Siehe Michael Lechner, „Wie vom anderen Stern.“ – Jüdischer Fußball in Wien (1909–1938): Eine Kultur- und Sportgeschichte (Saarbrücken: VDM Verlag 2010). David Forster, Georg Spitaler, Jacob Rosenberg (Hg.), Fußball unterm Hakenkreuz in der Ostmark (Wien: Die Werkstatt 2014). In den letzten Jahren hat ein Umdenken stattgefunden, wie an einer Reihe von Diplomarbeiten und Dissertationen über Juden und populärkulturelle Aspekte abzulesen ist. Sie werden im Rahmen dieser Arbeit zitiert. 21 Ein illustratives Beispiel dazu stellt ein jüngst erschienenes Buch über Juden in der Wiener Vorstadt dar. In der Kurzbeschreibung auf der Rückseite des Buches heißt es: „Unter den hier lebenden Juden und Jüdinnen waren wohlhabende Unternehmer und Grundbesitzer, vor allem aber viele ArbeiterInnen, kleine Gewerbetreibende, TaglöhnerInnen und Hausierer.“ Siehe Evelyn Adunka, Gabriele Anderl, Jüdisches Leben in der Vorstadt Ottakring und Hernals (Wien: Mandelbaum 2012). Kulturtreibende, vor allem in der Populärkultur tätige Juden, werden nicht angedacht. 22 IWE 5 (5. 1. 1901) 6. 23 IWE 1 (1. 1. 1901) 4.

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gelrecht gestürmt.24 Spendenaufrufe für hungernde Schauspielerfamilien, die kein Dach über dem Kopf hatten, waren keine Seltenheit.25 Aber natürlich waren nicht alle arm. Der Bauredner Franz Donner beispielsweise, ein Berufskollege von Herrn Katz, war während seiner Karriere in Wien in einem Maße erfolgreich, dass er am Ende seines Berufslebens ein Anwesen in Mähren kaufen und seinen Lebensabend dort verbringen konnte.26 Herr und Frau Katz mögen mit ihrem Nachwuchs eine durchschnittliche jüdische Familie dargestellt haben, wie es sie in Wien zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu Tausenden gab. Und wahrscheinlich ist diese Normalität auch einer der Gründe dafür, dass sich die Historikerzunft solchen Menschen bisher nur zaghaft gewidmet hat. Nichtsdestoweniger lassen sich durch eine Beschäftigung mit ihnen Einblicke in den Alltag der Wiener Juden gewinnen, die ansonsten verborgen blieben.

Zur Tradition jüdischer Unterhaltungskünstler in Wien Das weitgehende Versäumnis von Historikern, sich mit Juden auf dem Gebiet der allgemeinen Populärkultur auseinanderzusetzen, mag zu einem großen Teil dem vorherrschenden Forschungsparadigma geschuldet sein. Das Bemühen, die Anpassung der Juden an bürgerliche Standards nachzuzeichnen, hat populärkulturelle Aspekte, die gemeinhin mit unterprivilegierten Schichten in Zusammenhang gebracht werden, außer Acht gelassen. Juden, die in der nichtbürgerlichen Unterhaltungskultur tätig waren, wurden dadurch kaum erfasst und kommen in der Literatur nur sporadisch vor. Trotzdem gab es sie, und zwar als Organisatoren und Produzenten wie auch als Konsumenten. Sie waren, um ihre Rolle entsprechend zu würdigen, aus der Wiener Unterhaltungskultur nicht wegzudenken.27 Das mangelnde Interesse der Geschichtsschreibung an Juden in der Populärkultur ist nicht nur auf die Habsburgermetropole beschränkt, sondern zeigt sich auch im Hinblick auf die Geschichte der Juden in Osteuropa, vor allem in Galizien, woher viele Juden in Wien kamen.28 Zu den galizisch-jüdischen Unterhaltungskünstlern zählte beispielsweise Moyshe Fayershteyn, der mit Zirkustruppen quer durch Europa zog. Seine Attraktion war, lebende Frösche und Mäuse zu schlucken und diese, nachdem er Wasser nachgespült hatte, wieder 24 25 26 27 28

IWE 192 (15. 7. 1900) 23. Siehe IWE 249 (11. 11. 1901) 5. IWE 320 (21. 11. 1901) 7. Dazu siehe erstes Kapitel. Marsha L. Rozenblit, Juden in Wien 1867–1914 (Vienna: Böhlau Verlag 1988) 29 & 48.

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lebendig auszuspeien.29 Auch Josephine Joseph kann in diesem Zusammenhang genannt werden. Sie stammte aus Krakau und wollte in Amerika ihr Glück versuchen. Sie schaffte es in den New Yorker Vergnügungspark Coney Island, wo sie sich als Hermaphroditin bestaunen ließ.30 Fayershteyn und Joseph waren keine Ausnahmen unter den zeitgenössischen Juden. Grassierende Armut und beschränkte Erwerbsmöglichkeiten machten den Schaustellerberuf zu einer attraktiven Nischenbeschäftigung. Nicht wenige konnten ihren Lebensunterhalt lediglich mit wunderlichen Fertigkeiten und durch Exhibitionismus bizarr empfundener Eigenheiten bestreiten. Damit schlossen sie sich einer langen Reihe jüdischer Unterhaltungskünstler an, unter denen vor allem Zauber- und Trickkünstler sowie Mentalisten große Bekanntheit erlangt hatten.31 Einer von ihnen war der im galizischen Jaroslau geborene Samuel Thiersfeld (1829–1918), der aufgrund seiner Geschicklichkeit auch zu Aufführungen für Kaiser Franz Joseph, Wilhelm I. und den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck eingeladen wurde. Nach einer Ausbildung als Konditor und kurzzeitigen Mitgliedschaft in einer Militärkapelle entschloss er sich zu einem Berufswechsel und widmete sich fortan der Zauberkunst. Ab 1857 trat er nur mehr unter dem Künstlernamen Professor St. Roman auf. Seine besondere Attraktion war, unter Verzicht auf technische Hilfsmittel und inmitten des Auditoriums stehend, Enten hervorzuzaubern.32 Ein anderer jüdischer Zauberkünstler war Fred Roner aus dem galizischen Lemberg. Er ließ sich in Wien nieder, wo es ihm alsbald gelang, die Mitgliedschaft eines Vereins von Magiern zu erlangen. Mit dieser Empfehlung musste er sich um Auftrittsmöglichkeiten keine großen Sorgen mehr machen. Roner arbeitete vornehmlich in Varietés, wo er das Publikum mit seinen Kartenkunststücken verblüffte. Dabei verließ er sich weniger auf seine Fingerfertigkeit als auf seine enorme Gedächtnisleistung.33 Thiersfeld und Roner waren nicht die ersten jüdischen Magier in Wien. Solche sind seit dem späten 18. Jahrhundert nachweisbar. Im Frühling 1774 kündigte die Wiener Zeitung beispielsweise das Eintreffen von Jacob Meyer an, der unter dem Künstlernamen Philadelphia bekannt war. Er soll seit 1758 an den Höfen verschiedener Aristokraten in Europa aufgetreten sein. In Wien zeigte er seine Kunststücke über mehrere Wochen hinweg in einem Gasthaus in der Kärnt29 Edward Portnoy, Warsaw Jews and Popular Performance, 1912–1930. In: TDR: The Drama Review 50:2 (Summer 2006) 127f. 30 Portnoy, Jews 129 & 131. 31 Namen wie David Copperfield oder Uri Geller zeugen selbst in der Gegenwart noch von der Neigung mancher Juden, sich in der öffentlichkeitswirksamen Magie zu versuchen. 32 Stephan Oettermann, Sibylle Spiegel, Bio-Bibliographisches Lexikon der Zauberkünstler (Offenbach/Main: Edition Volker Huber 2004) 338. 33 Günther Dammann, Die Juden in der Taschenspielerkunst. Eine biographische Stoffsammlung (Berlin 1933) 42–43.

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nerstraße.34 Schon wenige Jahre später ließen sich einige jüdische Zauberkünstler dauerhaft in der Stadt nieder. Einer von ihnen war ein Mann namens Jonas, dessen Taschenspielertricks ihn so populär machten, dass er 1783 zu einer Darbietung seiner Künste vor dem marokkanischen Botschafter in das Palais Auersperg gebeten wurde. Abraham Romaldi, ein weiterer jüdischer Taschenspieler, feierte sein Debüt in Wien im Jahre 1789. Gleich wie Jonas verzichtete er auf Aufführungen zu Schabbath.35 Ein anderer berühmter jüdischer Magier machte Wien um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine Aufwartung. Dabei handelte es sich um Carl Compars Herrmann (1816–1887). Sein Geburtsort dürfte an der galizisch-russischen Grenze gelegen haben. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium in Paris und ersten Auftritten als Zauberkünstler in London kam er über Deutschland nach Österreich, wo er im Wiener Carl-Theater 1851 von einem begeisterten Publikum gefeiert wurde. Carl Compars Herrmann war ein umtriebiger Mensch, und seine Darbietungen führten ihn bis nach Südamerika. Einmal wurde er sogar von Präsident Lincoln zu einer Aufführung ins Weiße Haus gebeten. Trotz seiner vielen Reisen blieb er Wien verbunden. Er nahm 1865 die österreichische Staatsbürgerschaft an, zählte unter anderen den Prediger der Israelitischen Kultusgemeinde, Adolf Jelinek, zu seinen Freunden und war auch wegen seiner Spenden für die Armen Wiens sehr beliebt.36 Seine Zauberkünste hinterließen einen starken Eindruck in der Bevölkerung, und über verschiedene Medien blieb er im kollektiven Gedächtnis der Wiener Bevölkerung erhalten. Ein Porträt von ihm befindet sich im Österreichischen Museum im Wiener Belvedere, und einer seiner Freunde, Johann Strauss, widmete ihm 1851 eine Polka, die er in der Tanzhalle Sperl erstmals vorstellte.37 Dieser kurze Überblick zeigt, dass Herr Katzs Beruf als „Escamoteur“ für Juden nicht ungewöhnlich war. Die verbreitete Vorstellung, dass sie aufgrund von Kenntnissen der Kabbalah in besonderer Weise für den Beruf des Magiers geeignet seien, steigerte ihre Attraktion in der Bevölkerung und erwies sich für sie als Vorteil gegenüber nichtjüdischen Berufskollegen. In diesem Stereotyp dürfte einer der Gründe dafür liegen, dass vor 1790 Auftritte nichtjüdischer Zauberkünstler vor einem größeren Publikum unbekannt sind.38 34 Reinhard Buchberger, Jüdische Taschenspieler, kabbalistsche Zauberformeln. Jakob Philadelphia und die jüdischen Zauberkünstler im Wien der Aufklärung. In: Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, hg. v. Brigitte Felderer, Ernst Strouhal (Wien: Springer-Verlag 2007) 151 & 160. 35 Buchberger, 162 & 163. 36 Magic Christian, Carl Compars Herrmann. Zum 120. Todestag gewidmet. In: Magie 7 (2008) 358–363. 37 http://solo.naxos.com/mainsite/blurbs_reviews.asp?item_code=8.223211&catNum=… (5. 12. 2011) 38 Wie verbreitet dieses Vorurteil selbst in der Gegenwart noch ist, zeigt sich an der Tatsache,

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Fragestellungen Eine Durchschau der vorliegenden Literatur über die Geschichte der Juden Wiens lässt unschwer erkennen, dass jüdische Zauberer und Krötenschlucker bislang kaum ein Thema für Untersuchungen dargestellt haben. Sie wurden weitgehend übergangen und ignoriert. Diese Auslassungen haben zwar zu keinem grundlegend falschen Bild über die Wiener Judenschaft geführt; wohl aber zu einem unvollständigen, das letztlich einer verzerrten Vorstellung über sie Vorschub geleistet hat. Deswegen wird die jüdische Bevölkerung in der Donaumetropole noch immer fast ausschließlich mit dem Bürgertum oder ihrer ‚Verbürgerlichung‘ in Verbindung gebracht.39 Dass Juden auch in der allgemeinen Populärkultur tätig waren und sich bisweilen wenig um die Standards der vielgepriesenen Bürgerlichkeit gekümmert haben, wie im folgenden Kapitel an konkreten Beispielen gezeigt werden kann, wird dabei übersehen. Im vorliegenden Buch werden mehrere Fragen aufgeworfen und zu beantworten versucht. Sie fußen auf der Feststellung, dass Juden in der allgemeinen Wiener Populärkultur aktiv waren. Auch wenn diese Behauptung bis in die jüngere Vergangenheit teilweise umstritten war, kann sie durch eine Vielzahl von Belegen gestützt werden. Einige davon wurden auf den vorangegangenen Seiten bereits genannt. Die erste Frage bezieht sich auf die Gründe, warum bisher so wenig über Juden in der allgemeinen Wiener Populärkultur um 1900 geforscht und geschrieben worden ist. Was hat die Geschichtswissenschaft davon abgehalten, sich mit der Thematik intensiv auseinanderzusetzen? Warum neigten Historiker/-innen dazu, sich stattdessen mit Juden und der sogenannten Hochkultur zu beschäftigen? Überlegungen zu diesem Punkt werden im ersten Kapitel angestellt. dass sich der Zentralrat der Juden in Deutschland vor nicht langer Zeit bemüßigt fühlte, dagegen explizit Stellung zu beziehen. Er ließ verlautbaren, dass „die Weltanschauung und auch die Gesetzgebung der Tora … diese (Zauberei und Magie; K. H.) als verwerfliche Praktiken ab(lehnen) und … kategorisch jegliche Magie als götzendienerische Handlung (verbieten)“. (http://www.zentralratjuden.de/de/article/1359.html (30. 11. 2011) 39 Ein Beleg für die Annahme, dass Juden die Populärkultur mieden, findet sich in der Publikation Blackface, White Noise des amerikanischen Politikwissenschaftlers Michael Rogin. Er schreibt nach der Lektüre von Steven Bellers Buch Wien und die Juden, in dem der Autor sich fast ausschließlich mit der Hochkultur befasst, dass die Juden in der Donaumetropole um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Populärkultur distanziert gegenübergestanden seien. Aus dieser falschen Prämisse folgert er, dass Juden der Wiener Gesellschaft gegenüber entfremdet gewesen seien und Antisemitismus sich daran entzündet habe. Siehe Michael Rogin, Blackface, White Noise. Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot (Berkeley2 1998). Fairerweise muss erwähnt werden, dass Steven Beller sehr wohl auch auf Juden in der leichten Unterhaltungsindustrie Bezug nimmt (siehe Steven Beller, Wien und die Juden 1867– 1938 [Wien: Böhlau Verlag 1993] 197). Dies macht er auch in seiner Studie Geschichte Österreichs (Wien: Böhlau Verlag 2007) 203.

Fragestellungen

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Die Frage nach dem Verständnis von Jüdisch-Sein unter den (nichtjüdischen, vor allem aber jüdischen) Artisten und Volkssängern durchzieht den gesamten Text. Die Auseinandersetzung mit ihr geht auf mehreren Ebenen vor sich. In einem ersten Schritt wird eine Reihe von Theaterstücken analysiert. Das geschieht in Verbindung mit der Vorstellung und Beschreibung der wichtigsten Wiener jüdischen Volkssängergruppen im zweiten Kapitel. Im darauffolgenden Abschnitt wird ein Konflikt des jüdischen Volkssängers Albert Hirsch mit seinen jüdischen und nichtjüdischen Kollegen nachgezeichnet. Im Zuge dieser von den Medien als „Volkssängerkrieg“ bezeichneten Konfrontation zeigt Hirsch sein Verständnis von Jüdisch-Sein in performativer Weise auf. Im Rahmen der Ausführungen werden auch das Volkssängerwesen in Wien und der historische Kontext, in dem es sich entwickelte, näher beleuchtet. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Zeit- und Raumverständnis jüdischer Kulturschaffender in Wien um die Jahrhundertwende. Dabei wird unter anderem erörtert, ob darin ein nichtreligiöses jüdisches Differenzmerkmal zum Ausdruck kam. Im letzten Kapitel werden die Merkmale jüdischen Selbstverständnisses, die zuvor hervorgestrichen worden sind, zusammengefasst und vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Antisemitismus evaluiert. Weitere Fragen, die in diesem Zusammenhang behandelt werden, betreffen die Rolle der jüdischen Religion im Bewusstsein der jüdischen Volkssänger und Impresarios wie auch die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Aktivisten in der Wiener populären Kultur. In diesem Zusammenhang wird das neue kulturtheoretische Konzept der Ähnlichkeit vorgestellt. Seine innovative Dimension liegt in der rigorosen Absage an dichotome Ansätze zur Beschreibung menschlicher Interaktionen oder kultureller Vergleiche. Das Konzept der Ähnlichkeit befasst sich mit Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten zwischen zwei Vergleichssubjekten, ohne Differenzen zwischen ihnen auszublenden. Dadurch erweist sich Ähnlichkeit für die Betrachtung jüdischer und nichtjüdischer Verhältnisse als ein sehr fruchtbares analytisches Instrumentarium.

1.

Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

Populärkultur stellt einen paradigmatischen Bereich für jüdische und nichtjüdische Verflechtungen und Interaktionen dar.1 Eine Beschäftigung mit Juden in der Populärkultur Wiens um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert setzt sich demnach mit einem Gebiet der Geschichte auseinander, das nicht vornehmlich durch Antisemitismus charakterisiert war. Er bildete zweifelsohne einen Teil der vielseitigen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Daneben gab es aber auch ein Miteinander, das bisweilen ausgeprägter als antijüdische Feindseligkeit war. Das Nebeneinander von Judaeophobie und vielfältigen Formen des Zusammenlebens und der Kooperation kommt in einer kurzen Zeitungsnotiz aus dem Jahr 1904 zum Ausdruck. Darin heißt es im Hinblick auf Wiens Volkslieder, dass nach längerer Zeit endlich wieder „ein echtes, gemüthvolles, von Volkshumor durchzogenes Lied, also ein echtes Wiener Lied“, verfasst worden sei. Der Text des Liedes mit dem Titel „Es wird ja alles wieder gut“ stamme von Martin Schenk (1860–1919) und die Musik von Karl Hartl.2 „Nach … dem Ueberhandnehmen des Mauschelns und der jüdischen Anekdoten auf dem Wiener Brettl, mit einem Worte nach den unnatürlichen Moden, die man dem Wiener Volksthum aufgepfropft hat und die – wie bei Mode immer – gedankenlos nachgeahmt werden, thut es wirklich wohl, wieder einmal etwas echt Urwienerisches zu hören …“3 Erschienen sei das Lied 1 Barbara Hahn, Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne (Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag2 2005) 121. Moshe Rosman, Founder of Hasidism. A Quest for the Historical Ba’al Shem Tov (Oxford: The Littman Library of Jewish Civilization2 2013 [first edition 1996]) 56f. 2 Martin Schenk wurde in Wien geboren. Er debütierte 1881 am Deutschen Theater in Budapest und trat in den darauffolgenden Jahren an verschiedenen europäischen Bühnen auf. 1884 wechselte er zum Varieté, wo er anfangs Mitglied des Etablissements Drechsler in Wien war, bevor er wieder Engagements in Budapest annahm. Nach Vorstellungen in Köln, München, Danzig und anderen Orten wurde er von der Budapester Orpheumgesellschaft verpflichtet. Später wechselte er zum Gartenbau-Varieté, wo er als Regisseur und Komiker große Erfolge feierte. Siehe Das Variété 17 (25. 2. 1903) 1. 3 IWE 266 (25. 9. 1904) 18.

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im Verlag Josef Blaha. Was nicht angeführt wird, das ist der Umstand, dass Blaha ebenfalls jüdisch war.4 Zudem war Martin Schenk lange Zeit Mitglied der Budapester Orpheumgesellschaft, der wohl wichtigsten Jargontruppe Wiens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesem Zitat wird eine angebliche Verfremdung des Wienerliedes sowie der theatralen Volkssängerstücke durch Juden moniert.5 Juden hätten auf die lokale Wiener Kultur einen abträglichen Einfluss. Diese wird als stimmungsvoll und authentisch beschrieben, demgegenüber die musikalischen Produktionen von Juden von dieser Tradition abwichen und unnatürlich wirkten. Zudem manipulierten Juden bewusst und mit Nachdruck die volkstümliche Wiener Kultur, wie der Begriff „aufpfropfen“ suggeriert. Die angebliche Entstellung der Wiener Volksliedszene wird implizit mit dem verbreiteten antisemitischen Stereotyp des kosmopolitischen Juden erklärt. Danach besitzen Juden keine Verwurzelung in der autochthonen Kultur und stehen ihr deswegen mit Unverständnis gegenüber. Das Mauscheln, das im Zitat erwähnt wird, symbolisiert das vermeintlich schwierige und komplizierte Verhältnis von Juden zu ihrer Umgebungskultur. Mauscheln nimmt auf die eigentümliche Sprechweise der Juden Bezug, auf deren Unvermögen, sich das lokale Idiom anzueignen und sich dadurch in eine vorgefundene Kultur einzufühlen.6 Das kurze Zeitungszitat kann aber auch anders gelesen werden, nämlich dass Juden in starkem Maße das Wienerlied mitprägten, was auf deren kulturelle Teilhabe an der Wiener Volkskultur hinweist. Auch wenn der Verfasser der Notiz den jüdischen Anteil an den Produzenten von Wienerliedern und Volkssängerstücken übertrieben darstellt, so verfälscht er ihn nicht gänzlich. Er war tatsächlich beachtlich. Das kommt indirekt in einem Nachruf auf Karl Kratzl (1852– 1904) zum Ausdruck. Er vertonte Texte von Josef Modl (1863–1915), Anton Amon (1862–1931) und anderen Kollegen und wurde dadurch zu einem der bekanntesten Wienerlied-Komponisten. In der Nachricht über seinen Tod ist zu lesen, dass sein „Mir hat amal vom Himmel tramt!“ gleich „wie die Lieder von 4 Mel Gordon, Erik Jan Hanussen. Hitler’s Jewish Clairvoyant (Los Angeles: Feral House 2001) 7–8. 5 Das Zitat klingt ähnlich Richard Wagners (1813–1883) Polemik gegen Juden, die er in seinem 1850 erschienenen Aufsatz Das Judentum und die Musik niedergelegt hat. Darin heißt es, dass „der Jude, der an sich unfähig ist, …, sich uns künstlerisch kundzugeben, … nichtsdestoweniger es vermocht (hat), in der verbreitetsten der modernen Kunstarten, der Musik, zur Beherrschung des öffentlichen Geschmackes zu gelangen …“ (Gottfried H. Wagner, Nietzsches Dynamit in der Bewertung des Judentums und Wagners Antisemitismus. In: Rudolf Kreis, Nietzsche, Wagner und die Juden (Würzburg: Königshausen und Neumann 1995) 12.) 6 Siehe dazu die Publikation von Sander L. Gilman, Inscribing the Other (Lincoln: University of Nebraska Press 1991). Bisweilen wurde das Mauscheln auch mit anatomischen Eigenheiten der Juden in Verbindung gebracht: Bernhard Blechmann, Ein Beitrag zur Anthropologie der Juden (gedr. med. Diss. Dorpat 1882) 11.

Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

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Krakauer, wie das Fiakerlied von Pick, wie einzelne Lieder Wiesberg’s und Melodien Sioly’s, immer leben“ werden.7 Interessant an dieser Feststellung ist, dass sich unter den vier Genannten zwei Juden befinden, nämlich Gustav Pick (1832– 1921) und Alexander Krakauer (1864–1897). Indem der Verfasser des Zitats auch auf die Gründung des Vereins „Lustige Ritter“ durch Carl Kratzl (1852–1904) und Modl, der ebenfalls jüdisch war, verweist, reißt er zudem noch einen Aspekt der jüdisch-nichtjüdischen Zusammenarbeit an.8 Das Zeitungszitat über den vermeintlich abträglichen Einfluss der Juden auf das Wienerlied kann demnach unterschiedlich interpretiert werden, und keine der Auslegungen ist gänzlich falsch oder richtig. Welche Deutung gewählt wird, hängt nicht zuletzt vom Leser der Notiz ab. Interessant ist, dass nirgendwo auf das notorische Vorurteil, Juden imitierten lediglich und seien deswegen zu keiner selbstständigen Leistung fähig, zurückgegriffen wird.9 Stattdessen wird die Einflussnahme der Juden beanstandet, deren Bestreben, das eigene Verständnis von volkstümlicher Musik durchzusetzen. Wenn man von ihrer antisemitischen Übertreibung und judenfeindlichen Spitze absieht, enthält diese Behauptung durchaus einen wahren Kern. Eine Untersuchung des Themas ‚Juden in der Populärkultur‘ zeigt tatsächlich, dass sich Juden an keine vorgefundenen populärkulturellen Standards anpassten. Anders als im obigen Zeitungszitat behauptet, manipulierten sie diese aber auch nicht. Vielmehr brachten sie sich in die musikkulturelle Szene ein und bestimmten sie mit. Das heißt mit anderen Worten, dass zumindest auf diesem Teilgebiet jüdischen kulturellen Wirkens dem Akkulturationsbegriff, der die Geschichtsschreibung über Juden vor allem in Österreich noch immer sehr stark prägt (siehe hinten), keine Erklärungskraft zukommt. Eine zweite Auswirkung, die sich aus der Erforschung von Juden in der Populärkultur ergibt, bezieht sich auf die Ansicht, dass deren Leben in der Donaumetropole in starkem Maße von Antisemitismus geprägt gewesen sei und sie weitgehend getrennt von Nichtjuden gelebt hätten. Diese Sichtweise kommt beispielhaft im häufig erwähnten Hinweis zum Ausdruck, dass sie miteinander zwar beruflichen Umgang, aber privat kaum Kontakte gepflegt hätten.10 Dies mag für einen Teil der jüdisch-nichtjüdischen Bevölkerung gestimmt haben, lässt sich

7 IWE 205 (25. 7. 1904) 4. 8 Zu Modl, Pick und Krakauer siehe unten. 9 Zum diesem Vorurteil siehe Jay Geller, Of Mice and Mensa: Anti-Semitism abd the Jewish Genius. In: The Centennial Review 38:2 (1994) 361–185. 10 Siehe Eleonore Lappin, Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit. In: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus (Wien: Böhlau Verlag 2009) 35.

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Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

aber an den Mitwirkenden der Populärkultur nur bedingt nachweisen. Zwischen Juden und Nichtjuden gab es kein dichotomes Verhältnis. Eine Arbeit über Juden in der Wiener Populärkultur hinterfragt somit die Gültigkeit von zwei Grundannahmen in der Geschichtsschreibung über sie. Trotzdem, oder vielleicht deswegen, hat dieser Teil der jüdischen Vergangenheit, wie bereits in der Einleitung angeklungen ist, bisher kaum, auf jeden Fall aber zu wenig Aufmerksamkeit erfahren. Auf den folgenden Seiten werden vier weitere Gründe für die weitgehende Vernachlässigung des Themas Juden in der Wiener Populärkultur durch die Historiographie angeführt. Der letzte der vorgetragenen Gründe, die selektive Berichterstattung jüdischer Zeitungen, wird ausführlich behandelt, weil dadurch ein informativer Einblick in die Beziehungen der Wiener Judenschaft zu Nichtjuden um die Wende zum 20. Jahrhundert gewonnen wird.

1.1

Zur Identifizierung jüdischer Kulturschaffender in der Populärkultur

Am Wiener Naschmarkt gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Obstverkäuferin, die als Judenlisi bekannt war. Dem Namen nach könnte es sich bei ihr um eine jüdische Geschäftsfrau gehandelt haben. Ähnlich liegt der Fall bei Juden-Liesel, einer Harfenistin aus dem frühen 19. Jahrhundert.11 Sie sang, prostituierte sich und machte mit deftig-anzüglichen Liedern auf sich aufmerksam.12 Anders als bei der Obstverkäuferin am Naschmarkt, deren richtiger Name Elisabeth Schrattenholzer war und die lediglich aufgrund ihrer jüdischen Kundschaft Judenlisi genannt wurde, liegt die Identität von Juden-Liesel im Dunkeln.13 Ob Juden bereits in der Frühzeit der Wiener Volksmusik Teil der Szene waren, kann aus ihrem Namensepithet nicht abgeleitet werden. Das gilt auch für JudenPepi, die der Truppe von Leienspieler Franz Deckmayer (1851–1897) angehörte.14 Eine irreführende Namensgebung war bei vielen Artisten im späten 19. Jahrhundert gang und gäbe. Sie traten häufig unter einem Künstlernamen auf. Stößt man durch Zeitungslektüre auf Berichte über sie, ist es zumeist unmöglich auszumachen, ob sie jüdisch beziehungsweise ihrem Selbstverständnis nach 11 Die Harfenisten bildeten die Vorgänger der Volkssänger, von denen sie am Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts abgelöst wurden. Siehe Hans Hauenstein, Chronik des Wienerliedes. Ein Streifzug von den Minnesängern über den lieben Augustin, den Harfenisten und Volkssängern bis in die heutige Zeit (Klosterneuburg: Jasomirgott-Verlag 1976) 35–70. 12 Josef Koller, Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit. Nacherzähltes und Selbsterlebtes (Wien: Gerlach & Wiedling 1931) 8. 13 Zur Judenlisi siehe IWE 77 (19. 3. 1903) 12. 14 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung. In: Musicologica Austriaca 17 (1998) 78.

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Juden waren. Zwar ist ein Name allein niemals ein sicheres Indiz für jemandes Jüdisch-Sein. Aber bisweilen stellt er einen wichtigen Anhaltspunkt dar, von dem aus weitere Untersuchungen vorgenommen werden können. Im vorherigen Kapitel ist beispielsweise auf Herrn Katz verwiesen worden. Er trat unter dem Pseudonym Kaciander auf, das ebenfalls keinen Hinweis auf sein Verhältnis zum Judentum gibt. Es kann im konkreten Fall aber aus zusätzlichen medialen Ausführungen eindeutig erschlossen werden. Für weitere Nachforschungen müsste ansonsten sein wirklicher Name bekannt sein. Dieser könnte dann in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde gesucht werden. Oftmals, wenn auch nicht immer, findet man zu bestimmten Namen Einträge und damit eine Bestätigung, dass deren Träger als Juden geboren wurden, heirateten oder starben.15 Die verbreitete Bereitschaft jüdischer Artisten, Künstlernamen anzunehmen, lässt Forscher bisweilen auf fragwürdige Methoden zurückgreifen, um zu konkreten Subjekten ihrer Studien zu gelangen. So beispielsweise, wenn sie sich Listen bedienen, die von den Nationalsozialisten über jüdische Künstler erstellt wurden, um diese gezielt aus dem Kulturbetrieb ausschließen und verfolgen zu können.16 Das heißt nicht, dass Wissenschaftler, die in dieser Weise nach jüdischen Aktivisten der Populärkultur suchen, einer rassistischen Umschreibung von Jüdisch-Sein treu bleiben müssen. Grundsätzlich könnten sie bei den solcherart ermittelten Künstlern all jene aus ihrer Forschung ausschließen, bei denen sie kein jüdisches Selbstbewusstsein finden. Nichtsdestotrotz scheint das Problem, Juden unter den Kulturschaffenden auszumachen, sonderbare Blüten zu treiben. Ein anderer jüdischer Artist, der unter einem Pseudonym auftrat, war de Brye oder Gaston de Brie, wie er sich ebenfalls nannte, ein sogenannter Damenimitator. Er ging in verschiedenen Wiener Varietés seiner Arbeit nach. Weder ist an seinem Künstlernamen eine Verbindung zum Judentum zu erkennen, noch scheint dieser in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde auf. Wäre de Brye ein durchschnittlicher Artist mit unauffälligem Lebenswandel gewesen, 15 Wenn dies zutrifft, müssen sich Historiker, die keiner essentialistischen Deutung von JüdischSein anhängen, die Frage stellen, ob sie bei einer Studie über Juden in der Populärkultur auf die verzeichneten Künstler zurückgreifen dürfen. Was machte deren Jüdisch-Sein aus, um ein solches Vorgehen zu legitimieren? Identifizierten sie sich mit der jüdischen Kultur oder Religion, oder zeigten sie gegenüber der jüdischen Gemeinschaft eine besondere Solidarität? Vielleicht standen sie dem Judentum indifferent oder gar ablehnend gegenüber? Nahmen sie sich selbst als jüdische Künstler wahr? Zu diesem kontroversen Punkt siehe Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung (Wien: Passagen Verlag 1997). 16 Als eine wichtige Referenzquelle dient dabei das Werk von Theophil Stengel, Herbert Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik: mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke (Berlin: B. Hahnefeld 1940).

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dann wäre seine jüdische Herkunft späteren Historikern wohl unbekannt geblieben. So aber beschäftigten sich Gerichte mit seinen Unternehmungen und Machenschaften, und eine Zusammenstellung der Berichterstattung darüber erlaubt, den Genannten als Emanuel Müller, auch bekannt als Emanuel MüllerAdler, auszumachen. Er eröffnete in der Wiener Leopoldstadt im Spätherbst 1899 eine Vergnügungsstätte und ließ dort Volkssängerstücke aufführen.17 Nicht immer stellen Künstlernamen für Historiker ein Problem dar. Bisweilen sind einzelne jüdische Artisten, Komiker und Volkssänger in verschiedenen Publikationen bereits behandelt worden, weswegen deren richtiger Name bekannt ist. Zu diesen zählen beispielsweise Josef Armin (1858–1925), der in Wirklichkeit Josef Rottensteiner hieß, Heinrich Eisenbach (1870–1923), der Gesangskomiker der Budapester Orpheumgesellschaft, der als Heinrich Mandl geboren wurde und auch unter dem Spitznamen „Wamperl“ bekannt war, Armin Berg recte Hermann Weinberger oder Josef Müller, dessen eigentlicher Name Josef Schlesinger war. Die Liste von diesen Künstlern und Artisten ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Die Annahme von Künstlernamen durch jüdische Artisten und Volkssänger der Wiener Populärkultur um 1900 erschwert nicht nur im historischen Rückblick eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen. Manchmal irrten sich dadurch selbst Zeitgenossen über die ethnisch-kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit der Unterhaltungskünstler. Als Beleg dafür mag der vermeintliche Tod des „buckligen Heurigendichters“ Loisl Ungrad dienen. Er war berühmt für seine „Stegreif-Gstanzeln“, die er auf dem ‚Brettl‘, den Bühnen der Volkssänger, zum Besten gab. So wie viele seiner Kollegen unter einem adaptierten Namen auftraten, so machte es auch Ungrad. In Wirklichkeit, so wurde angenommen, heiße er Kohn. Erst im Rahmen einer falschen Todesmeldung – Ungrad selbst konnte Nachrufe auf sein Leben in der Zeitung lesen – wurde bekannt, dass er eigentlich Vopitschka hieß.18 Der Gebrauch von Künstlernamen beeinträchtigt historische Forschungen auch in anderer Weise. So steht in einem Überblickswerk über die Wiener Volkssänger beispielsweise zu lesen, dass Franz Kriebaum, langjähriger Direktor von Danzer’s Orpheum und vordem als Volkssänger tätig, „eigentlich Grünbaum“ geheißen habe.19 Dieser Hinweis findet sich in den nachfolgenden Jahren bei fast allen Erwähnungen von Kriebaum, so auch in einem Aufsatz aus dem Jahre 2006, in dem auf „Franz Xaver Kriebaum (recte Grünbaum, 1836–1900)“

17 Zu Emanuel Müllers Tätigkeiten als artistischer Leiter der Nestroy-Säle siehe nächstes Kapitel. 18 Ein totgesagter und ein wirklich gestorbener Volkssänger. In: Die Bühne II:13 (5. 2. 1925) 35. 19 Koller, Volkssängertum 96.

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verwiesen wird.20 Obwohl nicht eigens erwähnt, wird damit implizit Kriebaums Jüdisch-Sein angesprochen.21 Selbst im Historisches Lexikon Wien von 1994 wird hinter dem Namen Kriebaum in Klammern Grünbaum gesetzt.22 Und das, obwohl unter den Referenzen zum Lexikoneintrag ein Artikel der Wiener Zeitung angeführt ist, in dem festgehalten wird, dass der Name Kriebaum in den Taufmatriken der Pfarre Nußdorf aufscheine und seine Familie nie Grünbaum geheißen habe.23 Aber scheinbar hat sich die Bezeichnung „Kriebaum recte Grünbaum“ bereits so stark eingebürgert, dass nicht darauf verzichtet werden kann. Damit wird das vermeintliche Jüdisch-Sein von Kriebaum fortgeschrieben. Bei diesem Vorgehen scheint es sich um ein Phänomen zu handeln, das auf Jiddisch als Efn a zeml un aroys springt a yid umschrieben werden könnte: Wohin man sich wendet, trifft man auf einen Juden. Oder aber: Es gibt unter manchen Wissenschaftern ein nachhaltiges Bemühen, möglichst viele Juden zu finden.24 Ob einige von ihnen dies bewusst machen, um dadurch ihren Forschungsgegenstand auszuweiten, bleibt dahingestellt. Worin auch immer die Motive für den nachlässigen Umgang mit Biographien liegen, er verfälscht jedenfalls die Ergebnisse der Untersuchungen. Für Historiker kann es demnach schwierig sein, unter den Artisten der Wiener Populärkultur Juden auszumachen. Deren Gepflogenheit, unter einem Künstlernamen aufzutreten, verdeckt Hinweise auf ihr Jüdisch-Sein. Dieser Umstand mag einer von mehreren Gründen für die stiefmütterliche Behandlung der Thematik durch die Forschung sein.

20 Ernst Weber, Die Wienermusik der Jahrhundertwende bis 1914. In: Wien. Musikgeschichte I (Volksmusik und Wienerlied), ed. Elisabeth Th. Fritz, Helmut Kretschmer (Wien: LIT Verlag 2006) 260. 21 Pressler, Jüdisches 63–82. Auf persönliche Nachfrage hat mir die Autorin bestätigt, dass sie von Kriebaums Jüdisch-Sein ausgehe. 22 Siehe Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien 3 (Wien: Kremayr & Scheriau 1994) 614. 23 Hans Pemmer, Volkssänger F. Kriebaum 50 Jahre tot. In: Wiener Zeitung 166 (20. 7. 1950) 5. Eigene Nachfragen bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wien wie auch eine selbstständige Suche in Aufzeichnungen über stattgefundene Konversionen haben keine gegenteiligen Resultate erbracht. 24 Siehe dazu Eddy Portnoy, Superman is a Glatt Goy. In: The Marginalia Review of Books (http://cpf.cleanprint.net/cpf/cpf ?action=print&type=filePrint&key=wpdefault&url=htt…) (18. 10. 2013) Ein besonders illustratives Beispiel dieses Phänomens erschien am 3. November 2016 in der Zeitschrift Forward. Darin versucht der Verfasser eines Artikels, der schwedischen Popgruppe ABBA eine besondere Nähe zum Judentum nachzuweisen, die unter anderem bereits im Gruppennamen (Hebräisch für Vater) zum Ausdruck komme. Siehe Seth Rogovoy, The Secret Jewish History of Abba. In: Forward (3. 11. 2016): http://for ward.com/culture/353049/the-secret-jewish-history-of-abba/?utm_content=culture_News letter_MainList_Title_Position-1&utm_source=Sailthru&utm_medium=email&utm_cam paign=Automated%20Culture%202016–11–05&utm_term=Arts (acc. 10. 11. 2016)

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Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

Die subversive Dimension der Populärkultur

Ein anderer Grund, der zur weitgehenden Auslassung des Themas ‚Juden in der Populärkultur‘ in der Forschung beigetragen haben mag, liegt in ihrer subversiven Tendenz. Da populärkulturelle Bedeutung vornehmlich durch Praktiken konstituiert wird, die sich gesetzten Standards leicht entziehen können, bietet Populärkultur einen Freiraum für Kritik an normativen Vorgaben sowie für gegenkulturelle Ambitionen.25 Das zeigte sich an der Wiener Populärkultur um 1900 nicht zuletzt in den Aufführungen ( jüdischer) Volkssänger und Kleinkunstakteure, die Wertestandards, die als bürgerlich gelten und mit denen sich ein Großteil der Judenschaft identifizierte, bisweilen mit Spott übergossen. Sogenannter jüdischer Humor, mit all seiner Ironie und seinem Sarkasmus, begehrte gegen bürgerlich-jüdisches Selbstverständnis auf, was unter dem vor allem jüdischen Publikum immer wieder für Irritationen sorgte. In diesem Sinne kann auf eine empörte Zuschrift an die Oesterreichische Wochenschrift verwiesen werden. Darin heißt es über die Budapester Orpheumgesellschaft: „Ein Jude (bei den Budapestern mauschelt nämlich alles), also ein Jude spuckt dem anderen ins Gesicht; derselbe Jude reißt Witze über seine Thätigkeit im Closet, und so fort mit Grazie ins Unendliche. … jeder anständige Mensch hat dafür nur ein Pfui!“26 Eine weitere Reaktion auf eine ungehörig empfundene Präsentation zeigte sich während einer Soloszene des bereits erwähnten Heinrich Eisenbach. Nachdem er eine Zeitlang allerlei Anzüglichkeiten von sich gegeben hatte, brach im Publikum ein Tumult aus. Es habe, wie es in einer Zeitung heißt, zu lärmen, stampfen, pfeifen und johlen begonnen. Erst nach einer längeren Unterbrechung und einer förmlichen Entschuldigung Eisenbachs habe sich das Auditorium so weit beruhigt, dass er mit seiner Aufführung fortfahren habe können.27 Der bewusste Verstoß gegen gesellschaftliche Übereinkünfte und weithin akzeptierte Wertvorstellungen oder deren parodistische Hinterfragung bedeutete eine Kritik am Selbstbewusstsein eines Großteils der jüdischen Gemeinde. Dieses populärkulturelle Aufbegehren mag wesentlich dazu beigetragen haben, dass den Aufführungen der Künstler vonseiten der jüdischen Zeitungen kaum Beachtung geschenkt wurde. Das erschwert es heutigen Forschern, Hinweise auf Aktivitäten von Juden in der allgemeinen Populärkultur zu finden. (Siehe dazu den vierten Abschnitt dieses Kapitels.) Jüdische Volkssänger übten sich nicht nur in der Verletzung von Anstandsregeln und der Artikulation frivoler Gedanken. Bisweilen attackierten sie sogenannte bürgerliche Werte direkt. Der eingangs erwähnte Komponist Alexander 25 Andrew Ross, No Respect. Intellectuals and Popular Culture (New York: Routledge 1989) 231. 26 Siehe Amalie Kraftner, Von der Budapester Orpheum-Gesellschaft OW 1 (6. 1. 1899) 9. 27 IWE 42 (12. 2. 1907) 6.

Die subversive Dimension der Populärkultur

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Krakauer stellte einen herausragenden Repräsentanten für solche Juden dar.28 Seine Lieder, die einen radikal pessimistischen Grundtenor haben und zutiefst desillusionistisch sind, besingen die Zerstörung positiver Stimmungslagen wie Liebe, Freude und Erfolg. Vor allem die Ehe und die Zuversicht, darin glücklich sein zu können, sind ein oftmaliges Ziel seines Sarkasmus. In einem seiner Lieder wird die Heirat gar als Suizid beschrieben.29 Krakauer war mit dieser Kritik am Ehe-, und im Weiteren am Familienleben, aber nicht allein. Sie bildete ein wiederkehrendes und zentrales Element in vielen Stücken jüdischer Volkssänger.30 Es ging vor allem mit einer Hinterfragung traditioneller jüdischer Geschlechterverhältnisse, bei denen der Frau bisweilen die Rolle der Familienerhalterin zufiel, einher.31 Jüdische Volkssänger tendierten dazu, sich gesellschaftsprägenden Übereinkünften zu widersetzen, und sie provozierten dadurch. Bisweilen galten die Stücke der jüdischen Volkssänger als anstößig und unflätig. Wie auch immer deren Aufführungen verstanden wurden, eines ist sicher: Die Akteure gerierten sich als alles andere denn als Hüter bürgerlicher Standards. Das trug nicht nur zu ihrer Vernachlässigung in der jüdischen Presse bei, sondern ruft auch bei gegenwärtigen Historikern Probleme hervor, wenn es darum geht, solche Künstler in ihre Narrative zu integrieren. Diese fußen nämlich zumeist auf dem Paradigma der jüdischen Anpassung an solche als bürgerlich verstandenen Werte.32

28 Alexander Krakauer (1866–1894) wurde in Ungarn geboren. Er besuchte in Wien die Technische Hochschule und erhielt gleichzeitig eine musikalische Ausbildung. Seine Kompositionen wurden von den berühmtesten und wichtigsten Volkssängern seiner Zeit, wie beispielsweise Edmund Guschelbauer (1839–1912) und Alexander Girardi (1850–1918), interpretiert. An seinem Lebensende plagte ihn ein Lungenleiden, das er im Kurort Bad Gleichenberg kurieren lassen wollte. Auf dem Weg dorthin verstarb er. Siehe Theophil Antonicek, Alexander Krakauer. Skizze einer Würdigung. In: Volksmusik – Wandel und Deutung. Festschrift Walter Deutsch zum 75. Geburtstag, hg. v. Gerlinde Haid, Ursula Hemetek, Rudolf Pietsch (Wien: Böhlau Verlag 2000) 566–567. 29 Antonicek, Krakauer 567–568. 30 Darin dürfte ein Unterschied zu Berlin gelegen haben, wo eine positive Darstellung von Familie zumindest in den Aufführungen des Herrnfeld-Theaters eine große Rolle spielte. Siehe Stefan Hofmann, Bürgerlicher Habitus und jüdische Zugehörigkeit: Das HerrnfeldTheater um 1900. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts XII (2013) 446. 31 Siehe Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man (Berkeley: The University of California Press 1997) 33–80. Im Weiteren viertes Kapitel des vorliegenden Manuskriptes. 32 Diesen Punkt hat Marline Otte, wenn auch unter einer etwas anderen Perspektive, in ihrer bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 2006 ebenfalls behandelt. Siehe Dies., Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933 (Cambridge: Cambridge University Press 2006) 15–16.

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Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

Die Akkulturationsgeschichtsschreibung

Bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts waren Studien zu Juden in Österreich eher rar.33 Und nur wenige von ihnen spiegelten in ihrem methodischen Ansatz internationale Trends wider. In den späten 1980er Jahren vollzog sich in der Forschungslandschaft der Alpenrepublik ein Umbruch. Im Kontext der sogenannten Waldheim-Affäre wurden in Österreich Initiativen gesetzt, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der Judenschaft im Land einleiteten.34 Ohne an dieser Stelle die Vielzahl der daraus hervorgegangenen Aktivitäten darstellen zu wollen, sollen im Folgenden lediglich die wichtigsten, die auch einen bleibenden institutionellen Niederschlag fanden, erwähnt werden. Die wichtigste Einrichtung, deren Gründung am Höhepunkt der internationalen Kritik an Österreichs Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bekannt gegeben wurde, bildet das Jüdische Museum der Stadt Wien.35 Vor allem seit der Übernahme von dessen Direktion durch Danielle Spera prägt es die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte in Österreich ganz wesentlich. Das Institut für jüdische Geschichte Österreichs, das eine Vielzahl von Veröffentlichungen vor allem auch zur mittelalterlichen jüdischen Historie vorgelegt hat, ist ebenfalls aus diesem politischen Kontext hervorgegangen.36 An einigen Universitäten wurden Diplomarbeiten und Dissertationen verfasst, deren Autoren mit Wissenschaftlern aus dem Ausland in Kontakt traten und teilweise unter deren Einfluss ihre Studien betrieben. Damit wurden die Grundlagen für Jüdische Studien in Graz gelegt. In Salzburg entstand zur ungefähr gleichen Zeit ein Forschungsinstitut für Jüdische Kulturgeschichte.37 33 Anna Drabek (et al), Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte (Wien: Jugend und Volk2 1982). Siehe vor allem auch die Studia Judaica Austriaca-Reihe, die vom Verein „Österreichisches Jüdisches Museum Eisenstadt“ herausgegeben wurde. 34 Der ehemalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim kandidierte im Jahr 1986 für das österreichische Präsidentenamt. Im Zuge des Wahlkampfes wurde publik, dass er in seiner Biographie Teile seiner Vergangenheit als Offizier der deutschen Wehrmacht verschwiegen hatte. Waldheims Agieren und der Umstand, dass weite Teile des offiziellen Österreich wie auch der österreichischen Bevölkerung Waldheim verteidigten, sorgte für heftige Kritik aus dem Ausland, vor allem vom World Jewish Congress. Siehe dazu Cornelius Lehnguth, Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich (Frankfurt/M. Campus Verlag 2013) 91–152. 35 Über die ersten Aktivitäten des Jüdischen Museums siehe Das Jüdische Museum der Stadt Wien 1993/94. Chronik. In: Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen (Wien: Verlag Christian Brandstätter 1994/95) 187–193. 36 Gerald Lamprecht, Die österreichischen jüdischen Museen im zeitgeschichtlichen Kontext. In: Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, hg. v. Dirk Rupnow, Heidemarie Uhl (Wien: Böhlau Verlag 2011) 217–220. [213–235] 37 Gerhard Bodendorfer, Ein Forschungsinstitut für „Jüdische Kulturgeschichte“ in Salzburg?! In: Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Studien: Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes (Innsbruck 2003) 51–72.

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Diese Unternehmungen standen im Schatten bahnbrechender Arbeiten von HistorikerInnen aus dem angelsächsischen Raum, die in den ausgehenden 1980er Jahren mit international vielbeachteten Publikationen zum Wiener Judentum im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf sich aufmerksam machten. Zu den wichtigsten AutorInnen zählten Marsha Rozenblit, Steven Beller und Robert Wistrich.38 Obwohl sie sich ihrem Untersuchungsgebiet von verschiedenen Perspektiven annäherten und auch in ihrer methodischen Herangehensweise voneinander unterschieden, weisen ihre Bücher einige Gemeinsamkeiten auf. So wird die Vergangenheit der Juden weithin als eine Assimilations- beziehungsweise Akkulturationsgeschichte an die allgemeine, dominante Kultur dargestellt, und um ein Bemühen um einen gesellschaftlichen Aufstieg, vor allem eine Aufnahme in das Bürgertum. Steven Beller schreibt in diesem Zusammenhang: „Es stimmt, dass die Kultur für die Juden ein Mittel zur Assimilation war, …“ Marsha Rozenblit bezweifelt zwar, dass sich die Wiener Judenschaft assimilierte, schreibt aber von deren Akkulturation: „Gleichzeitig aber mit dem scheinbaren Erfolg, mit dem sich die Wiener Juden äußerlich akkulturierten und einige von ihnen sogar beinahe völlig assimilierten, …“39 Die drei genannten ForscherInnen wurden an führenden ausländischen Universitäten ausgebildet, und sie nahmen theoretische Ansätze und Fragestellungen in ihre Arbeiten auf, die die internationale Forschung des späten zwanzigsten Jahrhunderts prägten. Die Veröffentlichungen waren State of the Art und für die österreichische Forschungslandschaft wichtige Orientierungsmarken. Damit setzten sich auch das Akkulturationsnarrativ und Verbürgerlichungsparadigma, die bis zur Gegenwart die allermeisten Publikationen über österreichisches Judentum prägen, fest.40 Es sollte aber nicht lange dauern, bis die Erzählung einer jüdischen Anpassung einer zunehmenden Kritik ausgesetzt wurde. In den Jüdischen Studien des 38 Marsha L. Rozenblit, Juden in Wien 1867–1914. Assimilation und Identität (Vienna: Böhlau Verlag 1989). Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938 (Wien: Böhlau Verlag 1993). Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph (Oxford: The Littman Library of Jewish Civilization 1990). 39 Beller, Wien 117. Rozenblit, Juden 14. Der Unterschied zwischen Assimilation und Akkulturation wird gewöhnlich auf den unterschiedlichen Anpassungsgrad zurückgeführt. Bei einer Assimilation kommt es zu einem völligen Aufgehen des sich assimilierenden Bevölkerungsteils in der Gesellschaft, während Akkulturation zumeist eine lediglich kulturelle Adaptation bedeutet, bei der strukturelle Unterscheidungsmerkmale erhalten bleiben, vor allem auch ein Gruppenbewusstsein. (Siehe Rozenblit, Juden 9–10.) 40 Ein Beispiel für einen – nichtsdestotrotz ausgezeichneten – rezenten Text, in dem der Begriff der Assimilation ohne jegliche kritische Distanzierung verwendet wird, so als hätte es in den letzten zwanzig Jahren keine kritische Auseinandersetzung mit ihm gegeben, findet man bei Elana Shapira, Moses und Herkules. Ein Beitrag des jüdischen Bürgertums zur Gestaltung der Ringstraße und des Praters. In: Ringstrasse. Ein jüdischer Boulevard, ed. Gabriele KohlbauerFritz (Wien: Amalthea 2015) 161–188.

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deutschen Sprachraums ist diese Entwicklung in den späten 1990er Jahren anzusetzen. Unter dem Einfluss der cultural studies kam es zu einer Hinterfragung des statischen und einem Aufbrechen des monolithischen Kulturbegriffs.41 Kultur wurde stattdessen als dynamisch und plural aufgefasst, was es erschwert, von einer jüdischen Adaptation an die Wiener oder österreichische Kultur zu schreiben. Zudem machten Wissenschaftler, die sich mit dem Konzept des Kulturtransfers beschäftigten, darauf aufmerksam, dass jede Gruppe, die kulturelle Standards übernimmt, diese mit ihrem eigenen kulturellen Deutungssystem in Übereinstimmung bringt und dadurch verändert.42 Die Annahme, dass Juden, wenn sie kulturelle Einstellungen oder Haltungen annehmen, mit denen sich zumindest einzelne Sektoren der Gesellschaft identifizieren, gleich interpretierten wie diese, musste vor diesem Hintergrund widersinnig erscheinen. Die Differenz zwischen Juden und Nichtjuden würde dadurch zwar subtiler, aber nicht aufgehoben.43 Vor diesem Hintergrund wandte sich ein Teil der Forscher in den Jüdischen Studien von der Akkulturationserzählung ab.44 Eine Arbeit mit dem Begriff der jüdischen Akkulturation setzt zweierlei voraus: Zum einen ein Wissen über die Kultur beziehungsweise die Kulturen, an die eine Anpassung stattfindet, also darüber, was diese kulturellen Systeme ausmacht. Und zum anderen eine Kenntnis desjenigen – im konkreten Fall jüdischen – kulturellen Bedeutungsagglomerats, von dem einzelne Aspekte aufgegeben werden. Nur unter diesen Bedingungen ist es möglich zu bestimmen, wie sich jüdische Akkulturation niederschlägt. Da Kultur aber nicht fixierbar ist, sondern als etwas Emergentes verstanden werden muss und sich somit stetig ändert, können solche Festlegungen kaum vorgenommen werden.45 Zudem lässt sich eine Kultur nicht in diskrete Teile aufspalten. Das heißt im konkreten Fall, 41 Ein früher und vielleicht der wichtigste Text zu dieser Thematik stammt von Till van Rahden: Ders., Mingling, Marrying, and Distancing. Jewish Integration in Wilhelminian Breslau and ist Erosion in Early Weimar Germany. In: Wolfgang Benz, Arnold Paucker, Peter Pulzer (eds.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik/Jews in the Weimar Republic (Tübingen: Mohr Siebeck 1998). Siehe auch Klaus Hödl, Jewish Culture in Historical Studies. In: Laurence Roth, Nadia Valman (eds.), The Routledge Handbook to Contemporary Jewish Cultures (London: Routledge 2014) 83–94. 42 Wolfgang Schmale (Hg.), Kulturtransfer (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 2, Wien 2003). 43 Klaus Hödl, Zum Wandel des Selbstverständnisses zentraleuropäischer Juden durch Kulturtransfer. In: Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte, hg. v. Wolfgang Schmale, Martina Steer (Frankfurt/M. 2006) 57–82. 44 Eine wegweisende Publikation, in der die neuen Ansätze integriert sind, stellt der Sammelband Cultures of the Jews dar. Siehe David Biale (Hg.), Cultures of the Jews. A New History (New York 2002). 45 Zum Konzept der Emergenz siehe Meehl, Paul E./Sellars, Wilfried: The Concept of Emergence, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science I (1956), S. 239–252; Pepper, Steven C.: Emergence, in: Journal of Philosophy 23 (1926), S. 241–245.

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dass der Versuch, die Kultur oder kulturellen Prozesse einer Gesellschaft in klar umschreibbare jüdische und nichtjüdische Teile zu differenzieren, ein prinzipiell nicht zu bewältigendes Unterfangen darstellt.46 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen wurde der Akkulturationsbegriff ein weiteres Mal infrage gestellt. Dazu trug auch ein Perspektivenwechsel in der Betrachtung des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses bei. Danach orientierten sich Juden nicht an vorgefundenen kulturellen Standards, sondern prägten sie zusammen mit Nichtjuden und gestalteten sie mit. Sie gelten nicht als zugewandert, fremd, von außen kommend, sondern als zur Gesellschaft gehörend, in der sie lebten und wirkten. Diese Sichtweise vertrat in den späten 1990er Jahren vor allem der israelische Historiker Steven E. Aschheim.47 Zur ungefähr gleichen Zeit bestätigte der deutsche Historiker Till van Rahden diese Konzeption von Jüdisch-Sein in seiner Dissertation Juden und andere Breslauer an konkreten Beispielen und führte dabei auch den Begriff der situativen Ethnizität in die Jüdischen Studien ein.48 Damit wird Jüdisch-Sein radikal kontextualisiert und vorgängiger Bedeutungen entbunden. Als zentrales Merkmal der Anpassung von Juden an die Standards der allgemeinen Gesellschaft wird gewöhnlich die Übernahme vorherrschender Bekleidungstrends angegeben.49 Wie irreführend diese Auffassung allerdings sein kann, lässt sich anhand einer Fotokollektion aus dem galizischen Krakau des späten 19. Jahrhunderts darstellen, auf die der amerikanische Historiker Nathaniel D. Wood in seiner Publikation Becoming Metropolitan verweist. Auf den Aufnahmen aus den 1880er Jahren sieht man Menschen, die an ihrem Äußeren deutlich als Juden, Arbeiter, Roma, Aristokraten und Angehörige anderer Gruppierungen erkennbar sind. Auf Bildern, die rund dreißig Jahre später an46 Das heißt nicht, dass es keine Unterschiede zwischen jüdischen und nichtjüdischen kulturellen Sphären gibt. Eine solche Behauptung wäre eine contradictio in adjecto. Allerdings sind solche Differenzen nicht vorgegeben, sondern in weitem Maße kontextgebunden und das Ergebnis konkreter Aushandlungsprozesse oder, wie beispielsweise im Hinblick auf die Religion, wurden bewusst normiert. Zu diesem Punkt meint die amerikanische Historikerin Sharon Gillerman: „One of the intellectual problems one sometimes encounters within Jewish Studies generally, and in German Jewish Studies in particular, is that it too often presumes to know what Jews and Jewishness are, …“ Stattdessen, so meint sie, gebe es „culturally negotiated, shifting, and contingent meanings of Jewishness.“ Sharon Gillerman, Muscles by Mail: Jewishness and the Self-Made Man in Post-World War I America. Paper im Rahmen des Workshops Jews and the Study of Popular Culture anlässlich der Konferenz der German Studies Association in Arlington/Virginia, 2. – 4. Oktober 2015. 47 Steven E. Aschheim, German History and German Jewry: Boundaries, Junctions and Interdependence. In: Leo Baeck Institute Year Book XLIII (1998) 318–319. 48 Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860–1925 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000). 49 Giesen, Identität 297.

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gefertigt worden sind, ist das nicht mehr möglich. Auf diesen ähneln sie einander stark.50 Sie hatten sich in der Zwischenzeit jedoch nicht an vermeintlich vorgefundene Modestandards angepasst, sondern waren allesamt eine Modernisierung durchlaufen. Diese Entwicklung kann mit dem Akkulturationsbegriff weder erklärt noch nachgezeichnet werden. Zudem bietet vor allem die Bekleidungsindustrie mit dem großen Anteil an jüdischen Produzenten, Händlern und Verkäufern von Modeartikeln, und nicht zuletzt auch Modeschöpfern, einen paradigmatischen Bereich, in dem Juden vorherrschende Standards mitbestimmten.51 Die bedeutende Rolle, die das Großkaufhaus Zwieback auf diesem Gebiet in Wien spielte, hat Lisa Silverman erst jüngst angedeutet.52 Das heißt mit anderen Worten: Selbst wenn sich in der Aufgabe des Kaftans zugunsten des Anzugs eine Akkulturation an vorherrschende Bekleidungskonventionen widerspiegelte, handelte es sich um keine Anpassung an nichtjüdische Vorgaben, sondern an Modetrends, die von Juden und Nichtjuden gemeinsam gesetzt wurden. Letztlich müssen noch die Auswirkungen des performative turn in den Kulturwissenschaften erwähnt werden. Sie trugen auf dem Gebiet der Jüdischen Studien ebenfalls zu theoretischen Reflexionen bei, die die Bedeutung des Akkulturationsnarrativs unterhöhlten.53 Gemäß dem Performanzkonzept wird kulturelle Bedeutung interaktional, zwischen einem Sender und einem Adressaten, konstituiert. Für jeden performativen Akt bedarf es demnach mindestens zweier Personen oder zweier interagierender Gruppen. Jeder Wechsel des Kommunikationspartners beziehungsweise jede Änderung der Zusammensetzung der Gruppe oder auch des Interaktionskontextes wirken sich auf den Gehalt des kulturell Ausgehandelten aus. Kultur gilt in diesem Fall als höchst fluid. Ihre Vergänglichkeit entzieht sich allen Bemühungen zu bestimmen, woran genau eine kulturelle Anpassung stattfinden könnte. Anstelle einer Akkulturation werden mit dem performativen Ansatz gesellschaftliche und kulturelle Prozesse, die Nichtjuden und Juden gemeinsam gestalteten, skizziert. Er erweist sich vor 50 Nathaniel D. Wood, Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow (DeKalb: Northern Illinois University Press 2010) 196–197. 51 Siehe Christian Gschiel, Ulrike Nimeth, Leonhard Weidinger, Schneidern und Sammeln. Die Wiener Familie Rothberger (Wien: Böhlau Verlag 2010). Catharina Christ, Jüdische k. und k. Hoflieferanten in der Textilbranche mit Niederlassung in Wien in der Zeit von 1870 bis 1938 (geisteswiss. Diplomarbeit, Wien 2000). 52 Lisa Silverman, Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars (Oxford: Oxford University Press 2012) 82–84. 53 Zum performative turn siehe Erika Fischer-Lichte, Theater als Modell für eine performative Kultur. – Zum performative turn in der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts (= Universitätsreden 46, Saarbrücken 2000). Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Hamburg 2006) 104–143. Klaus Hödl, Wiener Juden – Jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert (Innsbruck: Studienverlag 2006) 47–68.

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allem auf dem Gebiet der Wiener Populärkultur um die Wende zum 20. Jahrhundert, auf dem es ein dichtes Geflecht jüdisch-nichtjüdischer Kooperationen gab, als immens fruchtbar. Eine besondere Form der Interaktion, die die Wiener Populärkultur prägte und den dynamischen Charakter von kultureller Bedeutung offenbart, stellen Aufführungen von Volkssängergruppen dar. Sie fanden in einem sogenannten performativen Rahmen statt. Das heißt, dass das Publikum sich durch Zwischenrufe, Pfiffe, Gefälligkeitsbekundungen und andere Artikulationen in die Vorstellungen einbringen konnte und dadurch mit den Akteuren, die sich nur grob an ein Skript hielten und stattdessen improvisierten, die Deutung der Handlung gewissermaßen aushandelte. Da jüdische Volkssängergruppen zumeist vor einem gemischten, jüdisch-nichtjüdischen Publikum spielten, nahmen auch Nichtjuden daran teil. Sie waren an der Konstituierung kultureller Bedeutung, und bisweilen auch des Verständnisses von jüdisch, beteiligt. Eine Aufführung, dir durch die Interaktion zwischen Publikum und Schauspielern geprägt war, stellte „Der Findling“ durch das Ensemble S(alomon) Fischer dar. In dem Stück kommt ein jüdischer Hausierer zur Unterkunft eines als Geizhals bekannten Mannes und erkennt in dessen Köchin seine Tochter wieder. Besorgt um deren Wohlergehen beginnt er mit ihrem Arbeitgeber ein Gespräch, das in einen Streit ausartet. In der Folge wird der jüdische Händler des Hauses verwiesen. Ein Teil des Publikums soll an dieser Stelle für den Hausierer Partei ergriffen haben, während ein anderer sich auf die Seite des Hausherrn schlug. Beide Gruppen bekundeten lauthals ihre jeweiligen Sympathien und beeinflussten dadurch die weitere Darstellung der Charaktere. Bei einer Aufführung reagierten die Akteure allerdings zu wenig auf die Stimmung des Publikums, das sich über die Behandlung des Hausierers durch den Geizhals echauffierte und ihn nach der Vorstellung verprügeln wollte.54 In diesem Fall galt das Wohlwollen der Zuschauer, unter denen auch Nichtjuden gewesen sein dürften, eindeutig dem Juden. Wie und ob die gefällige Darstellung des jüdischen Hausierers deren Haltung gegenüber Juden im Alltag beeinflusste, kann im konkreten Fall allerdings nicht ermittelt werden.

Beispiele der Konstruktion des Jüdischen in der populären Literatur Legt die Aufführung von Der Findling durch eine jüdische Volkssängergruppe die Aushandlung des Jüdischen durch Juden und Nichtjuden lediglich nahe, so konnte der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Hess in einem jüngst erschienenen Artikel diesen Vorgang an Deborah, einem (melo-)drama54 Koller, Volkssängertum 149.

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tischen Volksstück aus den 1840er Jahren, in anschaulicher Weise nachzeichnen. Es stammt aus der Feder des deutsch-österreichischen jüdischen Schriftstellers Salomon Hermann Mosenthal (1821–1877) und gehört zu den größten Erfolgen des deutschsprachigen Theaters im 19. Jahrhundert. Deborah wurde in verschiedenen Ländern Europas sowie in den USA aufgeführt und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Durch die Begeisterung des Theaterpublikums für das Drama wurde Mosenthal auch unter dem Epithet „jüdischer Schiller“ bekannt. Nach seinem Tod hielt die Resonanz für sein Stück vor allem im englischsprachigen Raum noch eine Zeitlang an, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden von ihm sogar mehrere Filmversionen hergestellt.55 Deborah erzählt die Geschichte einer geheim gehaltenen Liebe zwischen einer jungen Jüdin und einem Nichtjuden in einem kleinen Ort in der österreichischen Provinz. Gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile verhindern das öffentliche Bekenntnis zu dieser Beziehung und verursachen letztlich auch deren Scheitern. Mosenthal selbst hatte Deborah pathetisch aufgeladen, wenn nicht überladen, und das Stück wäre ohne die herausragenden Leistungen der Schauspielerinnen, die im konkreten Fall nichtjüdisch waren, wohl nie auf die Bühne des Wiener Burgtheaters oder eines anderen renommierten Theaters gelangt. Bemerkenswert an den Darstellungen war, dass sie im Publikum eine starke Empathie für die Lebenssituation der jüdischen Protagonistin, ihre Verzweiflung an den Vorurteilen und der Verstocktheit der christlichen Umwelt, hervorriefen. Das heißt mit anderen Worten, dass die besondere Wirkung des Stückes durch das Rollenverständnis der nichtjüdischen Akteurinnen und deren einfühlsame Auftritte erzielt wurde. Das Drama stellt somit ein anschauliches Beispiel für die Generierung kultureller Bedeutung durch Juden und Nichtjuden dar. Deren Kooperation brachte nach den Worten von Jonathan Hess eine „affective community“ hervor, die sich zumindest kurzzeitig in einer Solidarität mit einer jüdischen Figur zeigte.56 Die Beteiligung von Nichtjuden an der Darstellung des Jüdischen im Bereich der Populärkultur lässt sich auch am Roman Der lange Isaak (1863) von Julius von Wickede (1819–1896), dem Spross einer alten deutschen Adelsfamilie, darstellen. Sein zur Trivialliteratur zählendes Werk spielt in der Zeit der Napoleonischen Kriege. Isaak, ein jüdischer Hausierer, nützt seine berufliche Mobilität, um die Bewegungen französischer Truppen auszuspähen. Sein ‚deutscher Patriotismus‘ wird von jenem seiner Tochter Rebekka sogar noch übertroffen. Sie 55 Jonathan Hess, Shylock’s Daughters: Philosemitism, Popular Culture, and the Liberal Imagination. In: transversal 13:1 (2015) 30. (open access: http://www.degruyter.com/dg/view journalissue.articlelist.resultlinks.fullcontentlink:pdfeventlink/$002fj$002ftra.2015.13.issue1$002ftra-2015-0005$002ftra-2015-0005.pdf/tra-2015-0005.pdf ?t:ac=j$002ftra.2015.13.is sue-1$002fissue-files$002ftra.2015.13.issue-1.xml) 56 Hess, Shylock’s Daughters 32.

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wird von einem Rabbiner in die Schätze der deutschen Literatur eingeführt, die in ihr eine Liebe zur deutschen Kultur entfacht.57 Der lange Isaak könnte zur jüdischen Literatur gezählt werden. Das JüdischSein der Protagonisten und die Behandlung jüdischer Fragestellungen sprächen dafür, auch wenn der Verfasser des Romans Nichtjude war. Der Text könnte auch der deutschen Kultur zugeordnet werden, dafür gäbe es ebenfalls Gründe. Aber keine der beiden Kategorisierungen würde dem Werk gerecht, da beide von der Vorstellung ausgehen, dass das Jüdische wie auch Deutsche genau bestimm- und umschreibbar und damit auch voneinander abgrenzbar seien.58 Solche dichotomen Markierungen sind grundsätzlich problematisch und verfangen vor allem im konkreten Fall nicht. Der lange Isaak stellt vielmehr ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit dar, jüdische und nichtjüdische kulturelle Bereiche klar zu separieren, was allerdings eine Voraussetzung für das Akkulturationsnarrativ bildet. Somit hinterfragt das Stück auch die Verwendbarkeit des Begriffs einer jüdischen Anpassung.

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Ein weiterer wichtiger Grund, dass die Vertreter der Jüdischen Studien und verwandter Disziplinen sich bislang kaum mit Juden in der Wiener Populärkultur befasst haben, dürfte mit der Berichterstattung jüdischer Zeitungen und Zeitschriften des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammenhängen. Die jüdische Presse hat populärkulturelle Ereignisse, wenn überhaupt, nur sporadisch und oberflächlich aufgegriffen. Da Wissenschaftler im Zuge ihrer Arbeit über jüdisches Leben in Wien neben Archivmaterialien häufig lediglich jüdische statt allgemeine Printmedien analysieren, bietet sich ihnen ein einseitiges Bild jüdischer kultureller Aktivitäten.59 Selbst wenn sie allgemeine Zeitungen als Forschungsquelle heranziehen, handelt es sich überwiegend um Qualitätsblättter, die sich vornehmlich der Hochkultur verschrieben haben.60 Nachrichten über Juden in der Populärkultur tauchen darin kaum auf. Die zentrale

57 Brent Peterson, Julius von Wickede and the Question of German-Jewish Popular Literature. Vortrag im Rahmen des Workshops Jews and the Study of Popular Culture anlässlich der Konferenz der German Studies Association in Arlington/Virginia, 2. – 4. Oktober 2015. 58 Siehe dazu auch Andreas B. Kilcher Was ist „deutsch-jüdische Literatur“? Eine historische Diskursanalyse. In: Weimarer Beiträge 45:4 (1999) 487. 59 Wie sehr sich HistorikerInnen scheuen, nichtjüdische Medien für ihre Forschungen heranzuziehen, kann im Literaturverzeichnis der einschlägigen Publikationen abgelesen werden. 60 Siehe beispielsweise Leon Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938 (Wien 1991).

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Frage, die in diesem Abschnitt gestellt wird, lautet: Warum hat die jüdische Presse das populärkulturelle Engagement von Juden vernachlässigt? Mit dem Hinweis auf den bisweilen subversiven Charakter populärkultureller Unterhaltung ist in diesem Kapitel bereits eine mögliche Erklärung für deren Vernachlässigung durch die jüdische Presse genannt worden. Auf den folgenden Seiten werden noch weitere Punkte erörtert, die dafür ausschlaggebend gewesen sein könnten. In diesem Zusammenhang wird die Berichterstattung der jüdischen Medien mit der Zeitungsrezeption der Wiener jüdischen Bevölkerung in Zusammenhang gebracht.

1.4.1 Zur Abgrenzung jüdischer von nichtjüdischen Zeitungen Eine Fixierung der Forscher auf jüdische beziehungsweise anspruchsvolle allgemeine Zeitungen führt nicht unbedingt zu unrichtigen Aussagen über das Leben der Wiener Juden. Die besten Untersuchungen zu deren Geschichte sind ohne Rückgriff auf die Wiener Boulevardpresse, wo die Aufführungen jüdischer Populärkünstler annonciert wurden, verfasst worden.61 Was an diesem Vorgehen allerdings kritisiert werden kann, das ist der Umstand, dass es zur Annahme führt, dass es zwischen Juden und der Wiener Populärkultur keine Verbindung gegeben habe und deswegen auch nicht darüber geforscht werden müsse.62 In der Folge werden kaum Studien zu dieser Thematik durchgeführt, wodurch die Vorstellung über das Desinteresse der Juden an der Populärkultur gestärkt wird. Es handelt sich dabei um einen klassischen Zirkelschluss, der irrige Auffassungen zementiert. Ein Teil der Geschichte der Wiener Juden bleibt dabei jedenfalls unbearbeitet. Eine Beschäftigung mit jüdischen Zeitungen wirft unweigerlich die Frage nach deren Definition auf. Was genau unterscheidet sie von nichtjüdischen Medien, und ist eine Gegenüberstellung zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Presse überhaupt zulässig? Auf den folgenden Seiten gelten als jüdische Zeitungen bzw. Zeitschriften Die Wahrheit, Dr. Blochs Oesterreichische Wochenschrift, die (Neue) National-Zeitung, Die Welt und einige weitere Druckorgane, die sich für eine Stärkung jüdisch-ethnischen und -kulturellen Bewusstseins eingesetzt, der Förderung jüdischer religiöser Anliegen verschrieben sowie Nachrichten gewidmet haben, die für einen Großteil der Judenschaft von besonderem Interesse waren. Diese Ausrichtung der jüdischen Medien zeichnete sie gegenüber der allgemeinen Presse aus. Sie brachte vereinzelt zwar ebenso 61 Siehe die bereits auf den vorherigen Seiten erwähnten AutorInnen Marsha Rozenblit, Steven Beller und Robert Wistrich. 62 Siehe letzte Fußnote im Einleitungsteil.

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Notizen, die vordringlich für eine jüdische Leserschaft relevant waren. Dazu zählt beispielsweise eine Meldung über Wahlen zum Vorstand der israelitischen Gemeinden Hernals, Ottakring und Neulerchenfeld in der Wiener Vororte-Zeitung.63 Allerdings stellten solche Informationen eher Ausnahmen unter den Nachrichten dar.64 Mit dem Hinweis auf die spezifische Berichterstattung wird an einer weithin gebräuchlichen Umschreibung jüdischer Zeitungen angeknüpft.65 Sie geht auf einen Artikel von Margaret T. Edelheim-Muehsam zurück, den sie in der ersten Ausgabe des Leo Baeck Institute Yearbook im Jahre 1956 veröffentlichte. Darin heißt es: „If we speak of the German-Jewish press, we refer to the periodicals published by Jews for Jewish readers, with special emphasis on Jewish problems. This does not exclude that any paper may occasionally have published contributions by non-Jewish authors, nor that non-Jews read the paper.“66 Die eingeschränkte Publikationspolitik der Wiener jüdischen Zeitungen kommt in ihren Programmsetzungen explizit zum Ausdruck. Die Wahrheit schreibt in ihrer ersten Nummer vom 1. Jänner 1899 beispielsweise, dass in ihr „alles Förderung finden (wird), was jüdisches Leben zu erwecken und zu erhalten geeignet ist“.67 Damit bekräftigt sie, dass sie sich auf jüdische Aspekte konzentrieren werde. Von allgemeinen gesellschaftlichen Ereignissen ist dabei nur implizit die Rede, nämlich sofern sie jüdische Belange betreffen. Viele jüdischnationale und zionistische Medien vertreten diese Haltung noch nachhaltiger. In Die Welt heißt es: „Unsere Wochenschrift ist ein ‚Judenblatt‘. … ‚Die Welt‘ wird das Organ der Männer sein, die das Judenthum aus dieser Zeit hinauf in bessere Zeiten führen wollen.“68 Die Zeitschrift scheint demnach lediglich jüdische Interessen zu kennen, konkret jüdisch-zionistische. 63 Wiener Vororte-Zeitung 43 (24. 12. 1876) [3] 64 Bisweilen werden Medien mit einem jüdischen Herausgeber oder Besitzer oder mit jüdischen Mitarbeitern im Journalistenstab ebenfalls zur jüdischen Presse gerechnet. Dies ist beispielsweise in einem Gutachten zu einem Antrag formuliert worden, den ich bei der Österreichischen Nationalbank zur Erforschung des Themas „Jüdisch-nichtjüdische Kontaktzonen in Wien um 1900“ eingereicht hatte. Eine solche Kategorisierung scheint allerdings nicht ganz frei von antisemitischen Vorstellungen zu sein, wonach das Engagement eines jüdischen Journalisten eine Zeitung zu einem „Judenblatt“ macht. (Siehe dazu Mario Sauschlager, Antisemitische Feindbilder. Darstellung jüdischer Studentenschaft in österreichischen Tageszeitungen 1890–1914 (geisteswiss. Diplomarbeit, Wien 2014) 90.) Mit der inhaltlichen Ausrichtung der Berichterstattung als entscheidendem Unterscheidungsmerkmal fällt die Möglichkeit zu dieser fragwürdigen Kategorisierung weg. 65 Esther Schmidt, Nationalism and the Creation of Jewish Music: The Politicization of Music and Language in the German-Jewish Press Prior to the Second World War. In: Musica Judaica 15 (2000–2001) 12–18. 66 Margaret T. Edelheim-Muehsam, The Jewish Press in Germany. In: Leo Baeck Institute Yearbook 1 (1956) 163. 67 Unser Programm. In: Die Wahrheit 1 (1. 1. 1899) 1. 68 Programm. In: Die Welt 1 (4. 6. 1897) 1.

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1.4.2 Gründe für die selektive Berichterstattung der jüdischen Presse Im Hinblick auf die programmatische Festlegung der Berichterstattung ist zu erwarten, dass jüdische Medien selbst Vorkommnisse, in die Juden involviert waren, übergingen, wenn sie sich auf keine Aspekte der jüdischen Religion oder Kultur bezogen oder für größere Teile der Wiener Judenschaft von Relevanz waren. Dass diese Annahme ihre Berechtigung hat, lässt sich beispielhaft an der Affäre um den Freitod des jüdischen Kaufmannes Heinrich Löwy zu Beginn des Jahres 1899 ablesen. Der Selbstmörder war Inhaber eines Kommissionsgeschäftes in der Wiener Innenstadt. Er bestritt seinen Alltag, indem er Waren von einem böhmischen Lieferanten bezog und diese an Wiener Geschäftsleute weiterverkaufte. Fatalerweise reihten sich auch Mitglieder einer Betrügerbande unter seine Kunden ein. Moriz Rosenberger, Samuel Schmilowitz, Sigmund Kohn, Samuel Weiß und einige andere hatten Scheingeschäfte gegründet, für deren Ausstattung sie Güter bei Löwy bestellten. Die Bezahlung blieben sie ihm allerdings schuldig. Stattdessen veräußerten sie die Waren an andere Kaufleute. Löwy wurde dadurch in den Ruin getrieben. Er sah im Selbstmord den einzigen Ausweg aus seiner Misere: Am letzten Tag des Jahres 1898 kam er verspätet zum Mittagessen nach Hause. Seine Familie saß bereits bei Tisch und wartete auf ihn. Nach Betreten der Wohnung ging er wortlos an seiner Frau und seinen Kindern vorüber, öffnete in einem Nebenzimmer ein Fenster und stürzte sich aus dem vierten Stock in den Hof. Schwer verletzt wurde er in die Wohnung des im Parterre lebenden Hausmeisters getragen, wo die Helfer mit dem Schwerverletzten auf die Rettung warteten. Im Krankenhaus erlag Löwy seinen Verletzungen.69 Die Zeitungen waren an den ersten Jännertagen voll mit Berichten über seinen tragischen Tod. Er schien die Ohnmacht einzelner Personen gegenüber kriminellen Machenschaften zu symbolisieren. Trotz seines Fleißes und einer gewissen Geschäftstüchtigkeit konnte Löwy seinen sozialen Absturz nicht verhindern. Bürgerliche Tugenden, so das Fazit, boten keinen Schutz vor gesinnungslosen Mitbürgern. Aber obwohl die Täter als auch der Geschädigte Juden waren und gewissermaßen von einer ‚innerjüdischen Affäre‘ gesprochen werden könnte, übergingen die jüdischen Medien diesen Fall. Die Aufgabenstellung der jüdischen Presse lässt die Auslassung der ‚Affäre Löwy‘ konsistent erscheinen. Sie beantwortet aber nicht die Frage, warum sich jüdische Medien überhaupt zu ihrer programmatisch verkündeten Publikationspolitik verpflichteten und damit eine sehr restriktive Berichterstattung wählten? Was bewog sie, einen Teil der Alltagserfahrungen von Juden, und damit

69 Fremden-Blatt 1 (1. 1. 1899) 4 & 3 (3. 1. 1899) 3.

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auch die populärkulturelle Unterhaltungskultur, zu ignorieren? Dafür können im Wesentlichen zwei Gründe angeführt werden. Der erste Grund dürfte im Wunsch gelegen haben, die deutlich erkennbare Abnahme traditioneller Formen jüdischen Bewusstseins und einer nachlassenden Observanz jüdischer Regeln und Gebräuche aufzuhalten oder gar umzukehren.70 Dieser Trend war an verschiedenen Parametern, wie an der interkonfessionellen Eheschließung, abzulesen.71 Zwar stellte die Presse nicht das einzige Medium dar, das es sich zur Aufgabe machte, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Einem ähnlichen Ziel wie die jüdischen Zeitungen verschrieben sich auch das Wiener Jüdische Museum oder die jüdische Volkskunde.72 Ihnen allen ging es neben anderen Zielen um die Vermittlung von sogenannten jüdischen Werten und Einstellungen an jene Juden, die sich vom Judentum bereits distanziert hatten oder zu entfremden drohten.73 Sie sollten mit einer jüdischen Lebenswelt vertraut werden, mit der sie sich auch identifizieren könnten. Zu einer Zeit, als Zeitungen immer erschwinglicher und dadurch zum Massenmedium wurden, war deren Einsatz eine äußerst verlockende und wahrscheinlich auch effektive Strategie, dieses Vorhaben umzusetzen.74 Angesichts des Umstandes, dass ein Großteil der Juden in seiner Umwelt fest verankert war, mit Nichtjuden in engem Kontakt stand, sie zu Nachbarn oder Berufskollegen hatte, Veranstaltungen sowie Kaffeehäuser und Freizeitveranstaltungen mit ihnen besuchte und von allgemeinen Ereignissen und Vorgängen häufig ebenso betroffen war wie Nichtjuden, wäre die Absicht der Zeitungen, Juden an ihre Religion beziehungsweise Kultur zu binden, wahrscheinlich von größerem Erfolg gekrönt gewesen, wenn sie einzelne Ereignisse des allgemeinen Alltages nicht einfach ignoriert, sondern unter einer jüdischen Perspektive

70 Siehe dazu Joanna Merrill, American Jewish Identity and Newspapers: the medium that maintained an imagined community through a change in identity.(Bachelor’s Honors Thesis in History, University of Colorado 2012). 71 Rozenblit, Juden 114. Peter Honigmann, “Jewish Conversions – A Measure of Assimilation? A Discussion of the Berlin Secession Statistics of 1770–194 I.”, Leo Baeck Institute Year Book 34 (1989) 3–39. 72 Klaus Hödl, Wiener Juden – Jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert (Innsbruck: Studienverlag 2006) 71–90. Zur jüdischen Volkskunde siehe Birgit Johler, Barbara Staudinger (Hg.), Ist das jüdisch? Jüdische Volkskunde im historischen Kontext (Wien: Novographic 2010). 73 Judentum wurde im konkreten Fall nicht als eine bloße Religionsgemeinschaft aufgefasst. Dieser Umstand, wie auch die partielle Vergleichbarkeit der Aufgabenstellung der jüdischen Zeitungen mit jener der jüdischen Museen und Volkskunde, unterscheidet die jüdische Presse deutlich von protestantischen Medien, die ebenfalls keine umfassende Berichterstattung pflegten. 74 Ernst Bollinger, Pressegeschichte II. 1840–1930. Die goldenen Jahre der Massenpresse (Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag Freiburg Schweiz 1996).

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dargestellt und mit jüdischen Werten in Übereinstimmung gebracht hätten.75 Ein ähnliches Vorgehen wurde ungefähr zur gleichen Zeit von manchen jüdischen Medizinern gewählt, indem sie die Observanz jüdischer religiöser Riten und Gebräuche als gesundheitsfördernd auslegten. Damit verbanden sie jüdische Praktiken mit einem Wert, der für das zeitgenössische Bürgertum zentral war.76 Juden, die sich diesem zugehörig fühlten und von ihrer Religion vielleicht nicht zuletzt deswegen entfremdet hatten, konnten sich dadurch wieder zum Judentum bekennen, ohne gleichzeitig von einer säkularen Lebensführung abrücken zu müssen. Ähnlich wie diese jüdischen Mediziner hätte auch die jüdische Presse agieren können, vielleicht sogar müssen, um Juden anzusprechen, die Judentum indifferent gegenüberstanden.77 Allerdings verzichtete sie darauf. Wenn die restriktive Berichterstattung der jüdischen Zeitungen wenig zur Stärkung jüdischen Bewusstseins taugte, so ist die Annahme erlaubt, dass sie auf andere Gründe zurückzuführen ist. Das lässt sich auch aus dem Umstand schließen, dass die jüdische Presse nicht nur Ereignisse, sogar solche mit jüdischer Beteiligung, überging, sofern sie keinen Bezug zum religiösen oder kulturellen jüdischen Leben hatten. Auch Geschehnisse aus dem allgemeinen Alltagsleben, die die jüdische Gemeinde oder zumindest weite Teile der Judenschaft Wiens nachweislich bewegten und die die jüdische Presse gemäß ihrer Publikationspolitik sehr wohl aufgreifen hätte können, wurden oftmals ignoriert. Dies wird im Folgenden an zwei Beispielen veranschaulicht. Anschließend wird eine These für diese Auslassungen in jüdischen Zeitungen formuliert und zu bestätigen versucht. Den ersten Fall bildet ein Betrugsprozess gegen den Bankier Albert Vogl. Ihm wurde vorgeworfen, einem umnachteten Kunden, Georg Herz Taubin, am Totenbett ein mündliches Testament abgerungen zu haben. Vogl war eine bekannte Persönlichkeit in Wien und pflegte vielfältige Kontakte zu gesellschaftlich angesehenen Kreisen. Er war Eigentümer einer Wechselstube, die er mit Ersparnissen, die er einst in New York gemacht hatte, an Wiens bester Geschäftsadresse, am Graben, aufgebaut hatte. Bei seiner Arbeit war er allerdings nicht besonders erfolgreich. So hatte er sich an der Börse verspekuliert und konnte nur durch die 75 Zum jüdisch-nichtjüdischen Miteinander siehe Peter Schmidtbauer, Zur sozialen Situation der Wiener Juden im Jahre 1857. In: Studia Judaica Austriaca 6 (Eisenstadt: Rötzer-Druck 1978) 57–90. Siehe Charlotte Maria Toth, ‚Gemma schaun, gemma schaun …‘ Vergnügen als Verpflichtung? Untersuchung zu den Freizeiträumen und Freizeitaktivitäten des Wiener Bürgertums in den Jahren 1890–1910 (MA These, Wien 1986). Mirjam Zadoff, Next Year in Marienbad. The Lost Worlds of Jewish Spa Culture (Philadephia: University of Pennsylvania Press 2012). Christian Brandstätter (Hg.), Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne (Vienna: Christian Brandstätter Verlag 2005). 76 John M. Efron, Medicine and the German Jews. A History (Yale University Press: New Haven and London 2001) 186–233. 77 Zur jüdischen Renaissance siehe Brenner, Kultur 31.

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Intervention einiger Wiener Banken vor einer Insolvenz gerettet werden. Die dadurch angehäuften Schulden wurden als Vogls wesentliches Motiv gesehen, sich in betrügerischer Weise am Eigentum von Taubin zu bereichern zu wollen.78 Dass eine illustre Person wie Vogl als Angeklagter vor Gericht erscheinen musste, war an sich schon eine kleine Sensation. Die zeitgenössischen Medien mit ihren seitenlangen Berichten über den Prozess verliehen ihr noch eine zusätzliche spektakuläre Note, zu der nicht zuletzt die Biographie des vermeintlichen Betrugsopfers, Georg Herz Taubin, beitrug. Er war aus Russland zugewandert, wo er ein kleines Vermögen besaß, das ihn in Wien eine recht gedeihliche Existenz außerhalb vorgefundener Konventionen und gesellschaftlicher Übereinkünfte ermöglichte. Aufgrund seiner Kleidung, seiner Ausdrucksweise und vor allem seines Verhaltens soll er als Sonderling gegolten haben. Gleichzeitig eilte ihm gemäß Zeitungsberichten der Ruf voraus, sehr belesen zu sein und sogar den Talmud studiert zu haben. Allerdings soll eine tiefsinnige Unterhaltung mit ihm kaum möglich gewesen sein, da seine Gelehrsamkeit angeblich zu oberflächlich und sein erarbeitetes Wissen zu unzusammenhängend waren. Personen, die mit ihm verkehrten, galten seine Eigenheiten gewöhnlich als suspekt, bisweilen fürchteten sie deren Auswirkungen. Zum einen soll er ein „wüsten Orgien hinneigendes Leben“ geführt haben, und zum anderen „dem Trunke in maßloser Weise ergeben“ gewesen sein.79 Sein Alkoholismus wurde als die Ursache einer geistigen Zerrüttung gesehen, die sich in radikalen Stimmungsschwankungen äußerte, aber auch in Verfolgungs- und Größenwahn. Dem Zionisten und späteren Reichsratsabgeordneten Isidor Schalit (1871–1954) gegenüber soll er geäußert haben, er sei der griechische Gott Zeus und gekommen, um die Menschen zu bestrafen.80 Während er in den kurzen Phasen, in denen er nüchtern war, als liebevoller Mensch wahrgenommen wurde, soll er im betrunkenen Zustand unzurechnungsfähig gewesen sein, seine Mitmenschen beschimpft und von seiner Hausangestellten regelmäßig sexuelle Verfügbarkeit verlangt haben. Zur allgemeinen Überraschung gelang es dem Angeklagten, das Gericht zu überzeugen, dass Taubin, der am Totenbett wirr gesprochen haben soll, kurz vor seinem Dahinscheiden noch einmal für einen Augenblick in den Besitz seiner geistigen Kräfte gekommen sei und deutlich den Wunsch artikuliert habe, dass sein gesamtes Vermögen Vogl übertragen werde.81 Der Angeklagte wurde jedenfalls von jeglicher schuldhaften Handlung freigesprochen.

78 79 80 81

IWE 185 (9. 7. 1901) 2. IWE 185 (9. 7. 1901) 2. DV 4494 (10. 7. 1901) 9. IWE 185 (9. 7. 1901) 3.

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Interessant an dem Fall ist nicht nur ihr Ausgang, sondern auch der Umstand, dass ihm lediglich in den allgemeinen, nicht jedoch in den jüdischen Zeitungen Platz eingeräumt wurde. Die jüdische Presse ignorierte den Prozess gänzlich, obwohl alle darin involvierten Personen jüdisch waren, also Vogl, Taubin wie auch dessen Verwandten, die um einen Erbschaftsanteil kämpften und deshalb Vogl der Erbschleicherei bezichtigten. Zugegebenermaßen förderte die ‚Affäre Vogl‘ keine jüdischen Belange und trug auch nicht zur Stärkung jüdisch-religiöser Interessen bei, die als Voraussetzungen für eine Berichterstattung in den jüdischen Medien galten. Allerdings hatte die Reportage in vielen nichtjüdischen Tageszeitungen eine derart unmissverständlich antisemitische Note, dass eine Reaktion der jüdischen Presse darauf erwartet werden konnte, wie sie auch bei vielen weit weniger judenfeindlichen Artikulationen gesetzt wurde. Zwar war nicht jede Zeitung so explizit wie das Deutsche Volksblatt, das die Angelegenheit als eine „Affaire“ bezeichnete, in der „jüdische Habsucht und Geldgier eine Hauptrolle spielen“.82 Aber trotz größerer Subtilität im Umgang mit judenfeindlichen Stereotypen warteten auch viele andere Printmedien mit einer tendenziösen antisemitischen Berichterstattung auf.83 Taubins exzentrischer Charakter hatte ihn mit einer Reihe prominenter Juden in Kontakt gebracht, die nun alle vom Gericht als Zeugen geladen waren. Dadurch war der Prozess zumindest für einen Teil der Wiener Judenschaft von direktem Interesse und wurde von einem anderen gerade deswegen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Die vielleicht schillerndste Persönlichkeit im Zeugenstand war Theodor Herzl. Taubin hatte sich mit ihm getroffen, weil er dessen zionistische Bewegung finanziell unterstützen wollte. Herzl erkannte jedoch Taubins mangelnde geistige Zurechnungsfähigkeit und lehnte weitere Kontakte mit ihm ab. Nichtsdestoweniger musste er vor Gericht als Zeuge aussagen.84 Daneben wollte sich Taubin auch der jüdischen Wohltätigkeit widmen. Dieses Vorhaben brachte ihn ebenfalls mit verschiedenen illustren Mitgliedern der Wiener jüdischen Gemeinde in Kontakt. All die Projekte Taubins wurden während des Prozesses angesprochen, und verschiedene Personen wurden dazu befragt. Allerdings wurde nur in allgemeinen Zeitungen darüber berichtet. Ein weiterer Fall, den jüdische Medien übergingen, obwohl er einen beachtlichen Teil der Wiener Judenschaft beschäftigte, stellte der Raubmord am Trödler Israel Keßler dar. Eines Wintertages im Jänner 1902 betrat kurz vor Mittag ein Mann dessen Laden, in dem sich der Verkäufer alleine aufhielt, und erschlug ihn mit einem Hammer. Der Mörder nahm sodann Keßlers Brieftasche mit Bargeld an sich. Anschließend spazierte er ohne erkennbare Eile aus dem Geschäft, wohl 82 DV 4493 (9. 7. 1901) 2. 83 Siehe RP 155 (10. 7. 1901) 7 & 156 (11. 7. 1901) 9–10. 84 Deutsches Volksblatt 4494 (10. 7. 1901) 9.

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um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Bekannter von Keßler sah den Täter aus dem Laden kommen, hielt ihn aber für einen Kunden. Erst als das Dienstmädchen von Keßler diesen zum Mittagessen holen wollte, wurde der Überfall entdeckt.85 Die Mordtat entsetzte die Wiener Bevölkerung. Einige Tage lang war das Verbrechen das bestimmende Thema unter der Einwohnerschaft. Die gesamte Stadt schien sich auf Mörderjagd zu begeben. Verdächtige Bürger, die eine Ähnlichkeit mit der verbreiteten Personenbeschreibung des Täters aufwiesen, wurden vom Mob auf der Straße gefasst, drangsaliert und der Polizei übergeben. Diese bemühte sich ebenfalls um den Anschein großer Emsigkeit und durchkämmte öffentliche Lokalitäten, Hotels und Massenquartiere. Zwar kam es zu einigen Verhaftungen gesuchter Krimineller, aber der Mörder von Keßler war nicht unter den Arretierten.86 Alleinstehende Frauen waren besonders von Furcht ergriffen. Bei den leisesten Geräuschen, die sie in ihren Wohnungen vernahmen und nicht zuordnen konnten, riefen sie die Polizei. Von öffentlicher Seite wurde eine erkleckliche Geldsumme für Hinweise zur Verhaftung des Täters ausgesetzt. Dieser Umstand heizte die allgemeine Unsicherheit noch weiter an. In der gesamten Stadt herrschte eine Ausnahmestimmung. Letztlich gelang der Exekutive der entscheidende Durchbruch bei ihren Ermittlungen. Sie konnte den Täter als Johann Woboril, Aushilfsheizer bei der Bahn, identifizieren und wenig später in Böhmen verhaften.87 Der Raubmord zog alle Wienerinnen und Wiener in seinen Bann. Juden fühlten sich von der Bluttat besonders betroffen, da Johann Woboril eine Antipathie gegen sie zu haben schien. Zwar gab es kein überzeugendes Indiz, dass er aus Judenhass den Ladeninhaber ermordet hatte. Aber der Umstand, dass Woboril einen Tag vor seiner Untat Fremden gegenüber geäußert hatte, dass er „dem Juden“, und gemeint war Keßler, „ein Paar Ohrfeigen geben“ werde, konnte als antisemitisches Motiv gelten und wurde auch so ausgelegt.88 Beim Begräbnis selbst waren Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde und verschiedener Tempelvereine anwesend, so als würde einem Würdenträger die letzte Ehre erwiesen. Keßler wurde dadurch zu einem jüdischen Opfer seiner nichtjüdischen Umwelt stilisiert. Die Trauerrede von Rabbiner Taglicht musste mehrere Male unterbrochen werden, weil Tränen seine Stimme erstickten.89 In diesem Sinne ist es zulässig zu behaupten, dass der Raubmord an Keßler die jüdische Gemeinde in Wien tief bewegte und beunruhigte. Trotzdem wurde in den jüdischen Medien fast nichts über ihn berichtet. Der Grund dafür kann 85 86 87 88 89

Der Raubmord am Neubau. In: IWE 27 (28. 1. 1902) 2. Der Raubmord am Neubau. In: IWE 27 (28. 1. 1902) 3. Der Raubmord am Neubau. In: IWE 30 (31. 1. 1902) 3–4. Der Raubmord am Neubau. In: IWE 28 (29. 1. 1902) 3–4. Der Raubmord am Neubau. In: IWE 29 (30. 1. 1902) 2.

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allerdings kaum in deren programmatischen Vorgabe für die Berichterstattung liegen. Sie mag zwar die Auslassung der Affäre Löwy begründen, nicht jedoch die Fälle Keßler und Vogl. Diese wurden übergangen, so die zentrale These dieses Abschnittes, weil sich die Herausgeber der jüdischen Medien bewusst waren, dass Juden Informationen über den Wiener Alltag, und so auch über die beiden Kriminalfälle, aus allgemeinen Zeitungen gewannen. Deswegen gab es für die jüdische Presse keine Notwendigkeit, solche Nachrichten zu wiederholen. Das gilt wohl auch für populärkulturelle Aufführungen, die bisweilen sogar einen direkten Bezug zur religiösen jüdischen Kultur besaßen. Die jüdischen Zeitungen vernachlässigten eine Berichterstattung darüber, weil sich die allgemeine Presse solchen Darbietungen widmete und Juden diese Zeitungen lasen.

1.4.3 Die Rezeption allgemeiner Zeitungen durch Juden Die Aussage, dass Juden die allgemeine Presse rezipierten, mag wenig überraschend klingen. Immerhin waren Juden im Hinblick auf ihren Bevölkerungsanteil in überdurchschnittlich starkem Maße im Zeitungswesen tätig.90 Wichtige Medien, wie beispielsweise die Neue Freie Presse, das Neues Wiener Tagblatt, die Wiener Sonn- und Montagszeitung oder die Wiener Allgemeine Zeitung, hatten jüdische Eigentümer oder Herausgeber. Selbst das Boulevardblatt Wiener Illustrirtes Extrablatt gehörte dazu. Und daneben gab es eine erkleckliche Anzahl jüdischer Journalisten und Redakteure.91 Das Feuilleton, ein unverzichtbares Merkmal der Qualitätspresse, verdankte seinen hohen Standard der Mitwirkung von Juden.92 Und letztlich gibt es eine Reihe von Indizien, Tagebucheintragungen und literarischen Hinweisen, die die Lektüre allgemeiner Zeitungen durch Juden nahelegen beziehungsweise vermerken.93 Die Teilhabe der Juden am Pressewesen war ein Faktum, weithin bekannt und wurde bisweilen auch stark übertrieben, wie antisemitische Verleumdungen über die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Juden bezeugen.94

90 Doris Mair am Tinkhof, Die Juden in der Presse in Wien um 1900 (geisteswiss. Dipl., Wien 2005). 91 Paul Reitter, The Anti-Journalist: Karl Kraus and Jewish Self-Fashioning in Fin-de-Siècle Europe (Chicago: University of Chicago Press 2008). 92 Hildegard Kernmayer, Judentum im Wiener Feuilleton (1848–-1903) Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne (Tübingen: Niemeyer 1998). 93 Stefan Zweig, The World of Yesterday: An Autobiography (Lincoln: University of Nebraska Press 1964) 39. 94 George E. Berkley, Vienna and Its Jews. The Tragedy of Success, 1880s–1980s (Boston: Madison Books 1988) 153.

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In diesem Sinne ist die Aussage, dass Juden auf die allgemeine Presse zurückgriffen, um sich über Vorgänge in ihrer Umwelt auf dem Laufenden zu halten, nicht erstaunlich. Im konkreten Fall geht es aber nicht um jüdische Intellektuelle und Vertreter der sogenannten Hochkultur, sondern um ganz gewöhnliche, ärmere, teilweise auch sehr religiöse Juden in Wien, also jenen Teil der Judenschaft, aus dem sich die Besucher populärkultureller Veranstaltungen größtenteils rekrutierten und der ein besonderes Interesse an Nachrichten darüber gehabt haben musste. Und über den Medienkonsum dieser Juden ist bislang kaum etwas bekannt. Deren Rezeption allgemeiner Zeitungen darf aber vorausgesetzt werden. Sie lässt sich partiell aus den Zeitungsgründungen der traditionell eingestellten Judenschaft während des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum ableiten. Die Initiativen waren bestrebt, religiöse Juden von der Lektüre nicht nur der liberalen jüdischen, sondern auch der nichtjüdischen Presse abzuhalten.95 Es muss demnach eine Bereitschaft unter ihnen gegeben haben, auf nichtjüdische Medien zurückzugreifen. Diese dürfte unter den ärmeren und religiösen Juden Wiens um die Wende zum 20. Jahrhundert ebenso vorhanden gewesen sein und letztlich sogar den Ausschlag dafür gebildet haben, dass jüdische Zeitungen Nachrichten über die allgemeine Populärkultur in der Regel ausließen. Sie hätten bloß weithin Bekanntes wiedergegeben. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet, ob die Annahme, dass gewöhnliche und selbst orthodoxe Juden allgemeine Zeitungen lasen, auch zu belegen ist? Davon hängt nämlich die zentrale Begründung für die eingeschränkte Berichterstattung der jüdischen Presse ab. Gewöhnlich haben diese Juden nämlich keine Memoiren hinterlassen, aus denen ihr Umgang mit den Medien hervorgeht. In diesem Fall muss aus anderen Hinweisen darauf geschlossen werden. Im Folgenden werden vier Arten von Belegen für die Rezeption der allgemeinen Presse durch diesen Teil der Juden angeführt. Das erste Indiz bezieht sich auf den erwähnten Fall Keßler, über den jüdische Zeitungen im Wesentlichen nichts berichteten. Eine Ausnahme stellte die Oesterreichische Wochenschrift dar, die sich kurz mit dem Fall befasste, indem sie ihn als antisemitische Tat bezeichnete. Sie berichtete in einer zweiten kurzen Meldung über Schwierigkeiten, die Keßlers Frau mit einer Versicherung hatte, bei der ihr Mann vor seinem Tod eine Lebenspolizze abgeschlossen hatte.96 Diese beiden Hinweise auf den Raubmord vermochten den Lesern keinen Aufschluss über das Vorgefallene zu geben. Das heißt, dass die Berichterstattung in der jüdischen Presse nur Sinn machte, wenn die Leserschaft über das Verbrechen bereits Bescheid wusste. Dafür musste sie nichtjüdische Zeitungen gelesen haben. Die 95 Robert Liberles, The So-Called Quiet Years of German Jewry 1849–1869. A Reconsideration. In: Leo Baeck Institute Yearbook 41 (1996) 68. 96 Oesterreichische Wochenschrift 5 (31. 1. 1902) 67 & 8 (21. 2. 1902) 119.

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Rezeption nichtjüdischer Medien durch Juden wurde demnach vorausgesetzt. Der Hinweis auf Frau Keßlers Probleme mit der Versicherung war exklusiv in der jüdischen Oesterreichischen Wochenschrift zu finden. Er komplettierte die Berichterstattung in der allgemeinen Presse, die nichts darüber schrieb. Einen zweiten Beleg stellen Werbeeinschaltungen in allgemeinen Zeitungen dar, die lediglich an Juden gerichtet waren. Diese Ausschließlichkeit war gegeben, wenn auf religiöse Handlungen oder Einstellungen der Juden Bezug genommen wurde. Dazu gehörte beispielsweise die Information, wo Matzot, also ungesäuertes Brot, gekauft werden könne. Das Produkt wurde mit hebräischen Lettern beworben, was für die meisten Nichtjuden nicht entschlüsselbar gewesen sein dürfte.97 Ein anderes Beispiel findet man im Wochenblatt Wiener Caricaturen, das die Produkte aus „Berg’s Selchwaren-Erzeugung“ in Wien-Meidling mit dem Hinweis anpreist, dass sie koscher seien.98 Auch in diesem Fall sind die Adressaten eindeutig Juden. Gleiches gilt für die Anzeige eines koscheren Restaurants in der Ottakringerstraße, die in der Wiener Vorortezeitung erschien.99 Das heißt nicht, dass allgemeine Zeitungen mit einer Vielzahl von Werbeanzeigen speziell für Juden gespickt waren. Bisweilen wurden jüdische Konsumenten durch Annoncen, die eigens für jüdische Zeitungen entworfen wurden, zu gewinnen versucht. Dieses Vorgehen wurde beispielsweise für Kunerol, eine Margarine, gewählt. In der Wiener Sonn- und Montagszeitung wurde sie als kostengünstiger und wertvoller Ersatz für Butter und Schmalz angeboten.100 Juden, die die religiösen Speisegesetze zumindest teilweise einhalten wollten, konnten sich davon angesprochen fühlen. Belegbar ist das allerdings nicht. Gleichzeitig wurde Kunerol in der jüdischen Zeitschrift Oesterreichische Wochenschrift beworben. In der Anzeige heißt es, dass das Produkt unter der Aufsicht der Rabbiner von Mattersdorf und Huszt hergestellt werde, also koscher sei.101 Eine ähnliche Verkaufsstrategie verfolgte die Kölner Firma Stollwerck, die in der Jüdischen Presse mit dem Hinweis für Schokolade und Kakao warb, dass sie „unter Aufsicht und mit dem Atteste des Preßburger orth. Rabbinates erzeugt“ worden seien.102 Beide Firmen wollten potentielle jüdische Käufer über jüdische Medien ansprechen. Gerade wegen der Platzierung verschiedener Versionen derselben Werbebotschaft in jüdischen und allgemeinen Zeitungen ist es auffallend, wenn Anzeigen speziell für Juden in der nichtjüdischen Presse erschienen. Diese lassen dann den 97 Klaus Hödl, „Das ‚Jüdische‘ in der allgemeinen Populärkultur,“ 11. Zur Anzeige siehe IWE 113 (26. 4. 1900) 17. 98 Wiener Caricaturen XIX:6 (5. 2. 1899) 10. 99 Wiener Vororte-Zeitung 22 (6. 1. 1876) 3 & 23 (21. 1. 1876) 4. 100 Wiener Sonn- und Montagszeitung 5 (3. 2. 1902) 4. 101 OW 11 (1902) 188. 102 Jüdische Presse 8 (1923) 47.

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eindeutigen Schluss zu, dass die nichtjüdischen Medien von – bisweilen durchaus religiösen, orthodoxen – Juden rezipiert wurden. Das bezeugt auch eine Annonce, die 1870 im Neues Wiener Tagblatt zu finden war. Darin wirbt die „Wechselstube Jos. Kohn & Komp.“ mit dem Spruch: „Gottes Segen bei Kohn in Wien“.103 Er bezieht sich auf den jüdischen Brauch, an den Hohen Feiertagen in der Synagoge von den Kohanim gesegnet zu werden.104 Die Platzierung der Anzeige hätte keinen Sinn gemacht, wenn die Auftraggeber nicht gewusst hätten, damit potentielle jüdische Kunden erreichen zu können. Der dritte Beleg für die Rezeption allgemeiner Zeitungen durch Juden führt in die Volkssängerszene und deren Aufführungen. Bisweilen waren Aspekte der Präsentationen vom Publikum nur zu entschlüsseln, wenn es Kenntnisse über den allgemeinen Alltag hatte. In diesem Zusammenhang kann auf die sogenannte Jellinek-Affäre verwiesen werden, auf die die Budapester Orpheumgesellschaft anspielte. Edmund Jellinek hatte als Beamter der Länderbank knapp fünf Millionen Kronen unterschlagen. Er hatte das Geld in Industrieunternehmen investiert und sich in Börsenspekulationen versucht. Seiner anstehenden Verhaftung Ende September 1902 entzog er sich, indem er über das niederösterreichische St. Pölten nach Krems flüchtete. Dort verlor sich seine Spur am Ufer der Donau. Obwohl die Indizien einen Selbstmord nahelegten, vermutete die Polizei, dass Jellinek seinen Suizid nur vorgetäuscht habe.105 Deswegen führte sie die Suche nach dem Geflüchteten intensiv weiter. In den darauffolgenden Tagen verbreitete sich die Fama, dass sich Jellinek auf einem Schiff nach Übersee befinde. Ein anderes Gerücht besagte, dass er in London gesehen worden sei.106 Die Jellinek-Affäre wurde auch von der Bevölkerung außerhalb Wiens aufmerksam verfolgt. Dazu trug nicht zuletzt die ausgesetzte Belohnung von 1.000 Kronen für Hinweise, die zu seiner Verhaftung führten, bei. In dieser Atmosphäre war es nicht verwunderlich, dass Fremde, die ein auffälliges Verhalten an den Tag legten, verdächtigt wurden, in die Affäre verstrickt zu sein. Im oberösterreichischen Enns wurde beispielsweise ein Mann verhaftet, der ungewöhnlich viel Geld ausgab. Die Polizei glaubte, dass es sich bei ihm um Jellinek handle, der sein Äußeres verändert und eine neue Identität angenommen habe.107 Zehn Tage nach Jellineks Verschwinden wurde eine Leiche in der Donau entdeckt. Nach anfänglichen Zweifeln konnte sichergestellt werden, dass es sich dabei um den Gesuchten handelte. Der Leichnam wurde nach Kirchberg am 103 NWT 148 (30. 5. 1870) 104 Vielen Dank an Jeffrey Grossman und Armin Eidherr, die mich auf diesen Zusammenhang verwiesen haben. 105 Die Defraudation bei der Länderbank. In: IWE 259 (20. 9. 1902) 3–4. 106 Die Defraudation bei der Länderbank. In: IWE 265 (26. 9. 1902) 3. 107 Jellinek-Spuk. In: IWE (Abendausgabe) 265 (26. 9. 1902) 3.

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Wagram gebracht, wo mit Hilfe der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde ein Begräbnis für ihn organisiert wurde.108 Die Affäre Jellinek beherrschte über eineinhalb Wochen die Berichterstattung in den österreichischen Medien. Teilweise zogen sich die Schilderungen über seine Flucht über mehrere Seiten hin und wurden mit Zeichnungen ausgeschmückt. Im Unterschied dazu verlor die jüdische Presse keine Zeile über den Fall Jellinek. Gemäß der obigen Feststellung, dass sich jüdische Medien lediglich der jüdischen, das heißt vor allem religiösen Kultur widmeten, ist dies nicht weiter erstaunlich. Immerhin stand das Betrugsdelikt in keinem Zusammenhang mit Judentum. Auch Jellineks Jüdisch-Sein konnte dies nicht ändern. Nur eine antisemitische Perspektive konnte es mit seiner Tat in Verbindung bringen.109 Einige Monate nach der Jellinek-Affäre brachte die Budapester Orpheumgesellschaft die Posse Der kleine Kohn auf die Bühne. (Näheres zum Inhalt siehe Viertes Kapitel.) In dem Stück wird Leopold Kohn, Kassier im Bankhaus Spitzer, beschuldigt, Geld unterschlagen zu haben. An einer Stelle der Aufführung sagt Marcus Spitzer zu einem Polizeibeamten über Kohn: „So ein Jellinek war noch nicht da.“110 Caprice, der Autor des Stückes, verwendete den Namen Jellinek als Synonym für einen Betrüger. Das machte nur Sinn, wenn das vermutlich mehrheitlich jüdische Publikum der Budapester Orpheumgesellschaft über den Fall unterrichtet war. Das heißt aber auch, dass es die Berichte in der nichtjüdischen Presse verfolgt haben musste. Die Jellinek-Affäre gehörte zum jüdischen Alltagshorizont, obwohl jüdische Medien nichts darüber schrieben. Ein letzter und vierter Beleg für die These, dass ganz gewöhnliche, sogar orthodoxe Juden allgemeine Zeitungen lasen, stellen Nachrichten mit einem eindeutig religiösen Bezug dar, oder auch Annoncen, die auf ein jüdisches kulturelles Leben verweisen. Darunter fällt beispielsweise eine Notiz vom März 1904, wonach der Währinger Israelitische Friedhof restauriert werde und die Angehörigen von Verstorbenen, die Änderungen an den Gräbern wünschten, dies der Kultusgemeinde mitteilen sollten.111 In diesem Fall waren die Adressaten der Bekanntmachung allein Juden, und es handelte sich unmissverständlich um ein religiöses Bewandtnis. Nach den programmatisch vorgegebenen Leitlinien zur Berichterstattung hätte die jüdische Presse über das genannte Anliegen informieren sollen. Allerdings ist in den jüdischen Zeitungen nichts darüber zu finden. Juden konnten demnach nur aus den allgemeinen Medien über die Friedhofsarbeiten Kenntnis erlangen.

108 109 110 111

Die Defraudation bei der Länderbank. In: IWE 269 (30. 9. 1902) 6–8. DV 4926 (20. 9. 1902) 1–2. Caprice, Der kleine Kohn. In: NÖLA (Theaterzensur), Kt. 117/31 (1902) 87. IWE 65 (5. 3. 1904) 6.

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Ähnlich verhält es sich mit den Ankündigungen der Lemberger SingspielGesellschaft, einer Theatergruppe aus Galizien. Sie trat in der Leopoldstadt auf, wo sich ein Großteil der osteuropäischen jüdischen Zuwanderer niederließ. Ihre Aufführungen hatten bisweilen einen eindeutig religiösen Bezug.112 Teilweise spielten die ‚Polnischen‘, wie sie auch genannt wurden, Stücke von bekannten jiddischen Autoren wie Abraham Goldfaden (1840–1908) oder Joseph Lateiner (1853–1935).113 Bei der Bekanntmachung des Aufführungsprogramms wurde zuweilen betont, dass die Besucher eine „streng rituelle Küche“ erwarte. Die Verlautbarung richtete sich demnach auch an religiöse Juden als potentielles Publikum.114 Obwohl die Darbietungen der Lemberger Singspiel-Gesellschaft jüdisch-kulturelles Leben thematisierten, nahm die jüdische Presse von diesen kulturellen Aktivitäten keine Notiz. Darin mag ein weiterer Beleg für die These liegen, dass jüdische Zeitungen auf Berichte mit klaren Anknüpfungspunkten an das Judentum bisweilen verzichteten, wenn die allgemeine Presse ihnen genügend Platz widmete. Vielleicht wollten sie nicht redundant sein und konzentrierten sich stattdessen auf Nachrichten, die nirgendwo sonst zu lesen waren. Wie es aussieht, ergänzten sich die jüdische und allgemeine Berichterstattung bis zu einem gewissen Maße. Und darin lag wohl auch der Grund, dass in den jüdischen Printmedien kaum Berichte über populärkulturelle Darbietungen erschienen.

1.4.4 Unterschiede in der Deutung von Ereignissen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Durchschau der jüdischen Zeitungen ein Bild von den Juden der Habsburgermetropole zutage fördert, wonach für diese hauptsächlich ihre Religion, ihr Vereinswesen sowie die Abwehr von Antisemitismus von Belang waren. Der Wiener Alltag scheint für die Judenschaft nicht relevant gewesen zu sein. Diese Vorstellung kontrastiert allerdings mit Hinweisen auf deren Rezeption allgemeiner Medien. Sie legt nämlich nahe, dass Juden, zumindest ein Großteil von ihnen, sich sehr wohl für ihr gesellschaftliches Umfeld interessierten. Sie lebten weder zurückgezogen in ihrer eigenen Welt, noch legten sie eine Indifferenz gegenüber den Vorgängen außerhalb ihres unmittelbaren Alltagsmilieus an den Tag. Und weil Juden allgemeine Druckorgane lasen, so die Schlussfolgerung, konnten sich jüdische Zeitungen bei ihrer Berichterstattung auf jene Gebiete konzentrieren, die die 112 Am sechsten Februar 1904 wurde beispielsweise „Die Opferung Isaaks“ gespielt. Siehe IWE 37 (6. 2. 1904) 16. 113 IWE 268 (27. 9. 1904) 14–15 & 191 (13. 7. 1902) 31. 114 IWE 60 (2. 3. 1902) 37.

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allgemeine Presse nicht abdeckte. Die Wiener Populärkultur gehörte jedenfalls nicht dazu. Deswegen finden Historiker, die nur jüdische Medien zu ihrer Recherche über die Geschichte der Wiener Judenschaft heranziehen, kaum Hinweise auf deren populärkulturelle Aktivitäten. Dieser Umstand dürfte einer der Gründe für die Vernachlässigung des Themas durch die Forschung sein. Der Medienkonsum der Wiener Juden lässt die Annahme berechtigt erscheinen, dass sie über aktuelle Ereignisse Bescheid wussten und mit gesellschaftlichen Trends, Wertestandards und geistigen Strömungen vertraut waren. Gleich wie Nichtjuden verfolgten sie zeitgenössische Diskurse beziehungsweise gestalteten sie mit. Und ihre alltäglichen Erwartungshaltungen dürften jenen von Nichtjuden in vielerlei Hinsicht ähnlich gewesen sein. Trotzdem blieben Differenzen zwischen ihnen bestehen. Diese konnten sich in mannigfaltiger Weise artikulieren und mussten nicht religiös begründet sein. Eine dieser Differenzen kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Interpretation von Kantorenauftritten in Wiener Synagogen zum Ausdruck, über die jüdische wie auch nichtjüdische Zeitungen berichteten. Aus dem Vergleich der jeweiligen Referenzen lassen sich deutliche Unterschiede in der Auslegung der Vorträge erkennen. Dass die gesanglichen Fähigkeiten der Kantoren Gottesdienstbesucher begeistern konnten, war nichts Neues. Was von traditioneller jüdischer Seite allerdings als Novum empfunden wurde, war der spektakelhafte Charakter, der manchen Aufführungen anhaftete, und die Einstellung eines Teils der Gottesdienstbesucher, die darin lediglich eine Unterhaltung ohne jeglichen religiösen Gehalt sahen. Einige jüdische Medien verurteilten diese Entwicklung mit Nachdruck. Sie warnten, dass die Synagoge dadurch zu einem Theater oder Konzertsaal verkomme und viele Menschen sie nur mehr aus Gründen der Kurzweil aufsuchten.115 Diese Kritik wurde beispielsweise anlässlich der Aufführung eines ungarischen Kantors in der Leopoldstädter Synagoge formuliert. Er hatte sich ursprünglich für eine Stelle am Ottakringer Tempel im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk beworben und war zu einem Probevortrag eingeladen worden. Dabei begeisterte er mit seiner gesanglichen Virtuosität und sollte deswegen auch im Zweiten Gemeindebezirk seine Fähigkeiten zum Besten geben. Für den erneuten Auftritt des Kantors gab somit allein der künstlerische Aspekt den Ausschlag. Und genau so nahmen die Synagogenbesucher die Darbietung wahr. Noch während des Gottesdienstes sollen sie lauthals ihr Wohlgefallen an der Vorstellung bekundet und dem Gast aus Ungarn Beifall gezollt haben.116

115 Die Wahrheit 43 (1913) 3–4. 116 Die Wahrheit 14 (1905) 7.

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Bisweilen trugen die Organisatoren selbst dazu bei, dass ein Gottesdienst mit einem illustren Kantor als ein besonderer kultureller Event missverstanden wurde. Das war der Fall, wenn sie von den Besuchern eine Eintrittsgebühr verlangten. Die Stimmung soll bei manchen Kantorenvorträgen so ausgelassen gewesen sein, dass ein Vergleich mit altrömischen Unterhaltungsspektakeln gezogen wurde.117 Und gleich wie diese zogen Ankündigungen, dass bekannte Kantoren sängen, die Massen an. In diesem Sinne berichtete Die Wahrheit im Jahr 1900, dass man „jeden Freitag Abend Hunderte und Tausende, nicht nur aus den unteren Schichten, sondern auch aus den mittleren und höheren, in den Leopoldstädter Tempel eilen … (sieht), um nur rechtzeitig ein Plätzchen zu erringen und den erwarteten Ohrenschmaus … zu genießen“.118 Jüdische Zeitungen beanstandeten die Vernachlässigung der religiösen Dimension der Kantorenauftritte. Die Kommentatoren wandten sich gegen die Tendenz, deren Besuch lediglich als ein Vergnügen aufzufassen, das mit Theatervorführungen und ähnlichen Darbietungen vergleichbar sei. Im Gegensatz dazu verstanden nichtjüdische Medien die Vorträge sehr wohl als bloße kulturelle Veranstaltungen. Das zeigte sich beispielhaft darin, dass das Neues Wiener Tagblatt im Juli 1901 die Vorstellung des galizischen Kantors Baruch Schorr im Vergnügungsteil seiner Ausgabe ankündigte.119 Nach Ansicht von Die Wahrheit wurde Schorrs Auftritt dadurch zu einem bloßen Freizeitangebot degradiert, als eine von zahlreichen Möglichkeiten zum Zeitvertreib. Im Fall der Kantorenvorträge prallten zwei verschiedene Interpretationen aufeinander. Der unterschiedliche Umgang mit demselben Ereignis kann als ein jüdisch-nichtjüdisches Ringen um die Deutungshoheit kultureller Veranstaltungen verstanden werden. Gleichzeitig mag darin auch ein weiterer Beleg für ein Miteinander von Juden und Nichtjuden zu sehen sein. Die Anzeige im Neues Wiener Tagblatt könnte nämlich nicht nur an jüdische Leser, sondern auch an Nichtjuden als potentielles Publikum der Kantorenauftritte gerichtet gewesen sein. Denn dass diese bisweilen die jüdischen Gottesdienste besuchten, um sich von den Gesängen der Kantoren erbauen zu lassen, ist seit den Vorträgen eines Salomon Sulzer im Wiener Stadttempel bekannt.120 Hinweise auf zahlreiche Auslegungsmöglichkeiten von ein und demselben Ereignis oder, wie im konkreten Fall, von Zeitungsmeldungen durchziehen das gesamte Buch. Dabei geht es speziell um die Frage, ob bestimmte Handlungen und Vorkommnisse als judenfeindlich oder als Merkmal inniger jüdischer und nichtjüdischer Kontakte aufgefasst werden können beziehungsweise müssen. 117 118 119 120

Die Wahrheit 18 (1900) 3. Die Wahrheit 18 (1900) 3. Die Wahrheit 28 (1901) 6. Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte – Wirtschaft – Kultur (Wien2 1987) 157.

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Juden in der Wiener Populärkultur um 1900 als Forschungsdesiderat

Damit wird gezeigt, wie sehr eine bestimmte Perspektive auf die Geschichte die Bewertung jüdischer und nichtjüdischer Beziehungen beeinflusst und wie kontrovers deren Beurteilung sein kann.

2.

Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

Vor einigen Jahren referierte am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien die amerikanische Historikerin Mary Gluck über einen Aspekt ihrer Forschungen zum Thema Juden und Populärkultur in Budapest, die letztlich in ihre Publikation „The Invisible Jewish Budapest“ mündeten.1 In der anschließenden Diskussion wurde auch das Engagement von Juden in der Wiener Unterhaltungskultur um 1900 angesprochen. Die einhellige Meinung der Referentin und der Zuhörerschaft lautete, dass Juden in der Habsburgermetropole in viel geringerem Maße als in Budapest an den neuen Formen urbaner Zerstreuung teilhatten. Es ist unbestritten, dass Budapest eine äußerst pulsierende, innovative und dynamische Singspielhallenszene hatte, die vor allem von Juden getragen wurde. Gleichwohl war auch in Wien die Präsenz der Juden in der Vergnügungsindustrie bemerkenswert. Dass dies nur wenig bekannt ist, kann zum einen auf den Mangel an einschlägiger Literatur zurückgeführt werden. Zwar wurde in den letzten Jahren eine beachtliche Anzahl von Diplomarbeiten über Juden in der Wiener Populärkultur verfasst.2 Bis auf wenige Ausnahmen wurden die entsprechenden Forschungen leider nicht ausgebaut und in eine publikationstaugliche Form gebracht. Warum das Thema eine weitgehende Leerstelle in der Geschichtsschreibung bildet, wurde im ersten Kapitel ausführlich erörtert. Zum anderen hat das fehlende Wissen über das Ausmaß einer jüdischen Teilhabe an den populärkulturellen Unterhaltungsformen in Wien mit der schlechten Sichtbarkeit der Juden zu tun. Zwar hielten sie sich nicht versteckt. Aber die Verflechtungen zwischen Juden und Nichtjuden waren häufig so eng, dass es auf den ersten Blick, und bisweilen selbst bei gründlicher Untersuchung, unmöglich ist, an den Akteuren oder ihren kulturellen Aktivitäten etwas Jüdisches auszumachen. 1 Mary Gluck, The Invisible Jewish Budapest. Metropolitan Culture at the Fin de Siècle (Madison: The University of Wisconsin Press 2016). 2 Siehe dazu den bibliographischen Anhang.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

Das vorliegende Kapitel schließt an diese Feststellung an. Es beginnt mit einer Skizzierung der wichtigsten jüdischen Volkssängergruppen und ihrer Auftrittsorte und setzt sich sodann mit den Fragen auseinander, was ein Volkssängerensemble jüdisch macht, ob man von ‚jüdischen Singspielhallen‘ sprechen kann und ob es möglich ist, einen Impresario, der konvertiert ist, als Juden zu betrachten, wie es die Forschung beispielsweise mit Gabor Steiner, dem Betreiber von Venedig in Wien, Danzer’s Orpheum und dem Ronacher, macht.

2.1

Die Nestroysäle

„Die zwei großen Straßen der Leopoldstadt sind: die Taborstraße und die Praterstraße. Die Praterstraße ist beinahe herrschaftlich. Sie führt direkt ins Vergnügen. Juden und Christen bevölkern sie. Sie ist glatt, weit und hell. Sie hat viele Cafés.“3

So beschreibt der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939) in seinem Essay Juden auf Wanderschaft den Boulevard, der von der Inneren Stadt zu Wiens ausgedehntem Unterhaltungs- und Erholungsgebiet, dem Prater, führt. Eines dieser von Roth angesprochenen Cafés war das Kaffee Willy, ein Treffpunkt von Musikern und Artisten, die das Wiener Nachtleben mit ihren Vorstellungen belebten. In dessen Räumlichkeiten wurden Engagements bei Singspielhallen und Varietés besiegelt, Kontakte geknüpft und Erfahrungen ausgetauscht. Und nicht zuletzt hatten dort auch die „Lustigen Ritter“, eine Vereinigung Wiener Volkssänger, ihr Klubzimmer.4 Juden wie Nichtjuden verkehrten im Kaffee Willy. Gemeinsam gestalteten sie das Vergnügungsangebot für die Wiener Bevölkerung und bildeten das Publikum der Revuen und Kabaretts, der Vorstellungen von Volkssängern und Ringkämpfern, Bauchrednern und Zauberern in der Leopoldstadt und bestaunten miteinander die artistischen Kunststücke und exotischen Wunderlichkeiten, die in den Varietés dargeboten wurden. In diesem Sinne ist Joseph Roths Beobachtung, dass sich „Juden und Christen“ auf der Praterstraße tummelten, nicht außergewöhnlich. Auch die Wohnsitzverteilung nach ethnischer Zugehörigkeit legt die Sichtbarkeit von Juden und Nichtjuden in den Straßen des II. Wiener Gemeindebezirkes nahe. Er wies den höchsten Anteil an Juden unter allen Stadtteilen auf. Um 1900 lebten 35,8 Prozent der Wiener Judenschaft in der Leopoldstadt, die wegen ihrer jüdischen Bevölkerungskonzentration auch Mazzesinsel genannt wurde.5 Das waren 36,4 Prozent der gesamten Einwohner3 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft (Köln: Verlag Kiepenheuer und Witsch 1985) 46. 4 Das Variété 17 (25. 2. 1903) 1. 5 Ruth Beckermann, Die Mazzesinsel: Juden in der Leopoldstadt 1918–1938 (Wien: Löcker 1992).

Die Nestroysäle

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schaft des Bezirks.6 Damit lag dessen jüdischer Anteil zwar deutlich unter jenem von sogenannten jüdischen Wohngebieten in anderen Städten, wie beispielsweise Terézváros, dem VI. Bezirk in Budapest, wo drei Viertel der Bevölkerung jüdisch waren. Nichtsdestoweniger verwundert es bei dieser Siedlungsstruktur nicht, dass Juden und Nichtjuden gemeinsam das Straßenbild der Leopoldstadt prägten. Dass das Miteinander nicht immer von gegenseitigem Einvernehmen, sondern auch von Spannungen und Konflikten charakterisiert war, muss nicht eigens erwähnt werden.7 Ein Teil der Wiener Unterhaltungskultur im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert fand demnach in einem ethnisch diversen und kulturell pluralen Umfeld statt, wo sich jüdische und nichtjüdische Wien-Migranten niederließen und auf eine ansässige Bevölkerung trafen, die ebenso vielseitige und reichhaltige kulturelle Traditionen aufwies.8 Diese hybride Gemengelage bildete das kulturelle Ambiente der Singspielhallen und das Milieu, in dem die Volkssänger die Charaktere fanden, die sie als den ‚Jud‘, den ‚Böhm‘ und den ‚Krowoten‘ in ihren Liedern persiflierten. Auch wenn Juden und Nichtjuden gemeinsam die Vergnügungslandschaft auf und im Umfeld der Praterstraße aufbauten und unterhielten, gab es zweifelsohne Lokalitäten, die stärker von Juden als von Nichtjuden besucht wurden, und sogenannte Vorstadt-Theatergruppen, die – zumindest zu gewissen Zeiten – vermehrt oder ausschließlich Nichtjuden engagierten. Trotzdem ist es nicht möglich, eine klare Trennlinie zwischen jüdischen und nichtjüdischen Ensembles zu ziehen. Das scheint zum Teil im Singspielhallen-Milieu begründet zu sein. Es war nämlich Ausdruck einer neuartigen, urbanen Kultur, die sich um solche Binaritäten in der Regel nicht kümmerte und vielleicht überhaupt nur deswegen möglich war.9 Ein zweiter Punkt im Kurzzitat von Roth betrifft die Lokalitäten in der Praterstraße. Sie beherbergte nicht nur die von ihm erwähnten Cafés, sondern auch eine Reihe von theatralen Spielstätten und Vergnügungseinrichtungen. Am bekanntesten war wohl das Carltheater, eine Volksbühne, die kurz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts der österreichische Dramatiker Johann Nestroy (1801– 1862) leitete. Er war auch der Namensgeber eines Gebäudes, das 1898 in unmittelbarer Nähe zum Carltheater nach den Plänen des zionistisch gesinnten Architekten Oskar Mamorek erbaut wurde. Es handelt sich dabei um den Nes6 Marsha L. Rozenblit, Juden in Wien 1867–1914. Assimilation und Identität (Vienna: Böhlau Verlag 1989) 85 & 87. 7 Siehe Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany & Austria (Cambridge2: Harvard University Press 1988). 8 Siehe Andreas Resch, Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 und die Partizipation von Juden, Tschechen und „Staatsfremden“. In: Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, ed. Elisabeth Röhrlich (Wien: Böhlau Verlag 2016) 165. 9 Gluck, Budapest 168.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

troyhof, in dessen Parterre am 11. November 1899 das sogenannte VergnügungsEtablissement Nestroy-Säle seine Pforten öffnete.10 Sein Pächter war Emanuel Adler beziehungsweise, wie er sich auch nannte, Adler-Müller. Wie im vorigen Kapitel bereits kurz erwähnt worden ist, trat er bis zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen De Brye oder auch Gaston de Brie als „Damenimitator“ auf. Einer der Orte, wo er seine schauspielerischen Fertigkeiten vom Publikum bestaunen ließ, war das Ronacher, das bedeutendste Varieté in Wien um die Wende zum 20. Jahrhundert. Mit den Nestroy-Sälen wollte er sich als eigenständiger Unternehmer auf dem Unterhaltungssektor etablieren.11 Als Ko-Direktor fungierte Karl Steidler, der Leiter einer nach ihm benannten Unterhaltungseinrichtung.12 Da die Nestroy-Säle als Singspielhalle genehmigt waren, in der neben musikalischen Vorträgen nur theatralische Einakter gespielt werden durften, ist davon auszugehen, dass Adler-Müller seinen Kollegen Steidler wegen dessen Konzession für die Aufführung mehraktiger Theaterstücke benötigte und an sein Unternehmen band.13 Im Vergleich zu manch anderen Volkssängerbühnen waren die Aufführungen in den Nestroy-Sälen auf einem durchaus ansprechenden Niveau. Zum sogenannten Hausdichter wurde Caprice, ein ehemaliger Handlungsgehilfe aus Pest, bestellt. Er wurde als Antal Lövi geboren, änderte seinen Namen 1869 in Antal Oroszi, war in Wien aber zuvorderst unter seinem Künstlernamen bekannt.14 Auch andere jüdische Gruppen, wie beispielsweise die Budapester Orpheumgesellschaft, das Ensemble Albert Hirsch oder die Gesellschaft S(alomon) Fischer, griffen auf Caprices Burlesken zurück. Ein weiterer Autor, dessen Stücke auf der Bühne der Nestroy-Säle häufig aufgeführt wurden, war Louis Taufstein (1870– 1942). Er schrieb zahlreiche Couplets, Theaterstücke, Opernlibretti und Komödien. Gleich wie Caprice war auch Taufstein jüdisch, und beider Stücke spielten zumeist in einem jüdischen Milieu. Die Betreiber der Nestroy-Säle sahen sich aber nicht nur einer – thematisch festmachbaren – jüdischen, sondern auch einer allgemein mit Wien assoziierten kulturellen Theatertradition verbunden. Das lässt sich nicht zuletzt aus dem Aufführungsprogramm schließen, in dem die Stücke von Johann Nestroy einen prominenten Platz einnahmen.15 10 IWE 309 (9. 11. 1899) 8 & 310 (10. 11. 1899) 15. Teilweise wird das Eröffnungsdatum fälschlicherweise mit 1. November 1899 angegeben. Siehe Johannes A. Löcker, Vom Donaukanal zum Praterstern. In: Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien, ed. Birgit Peter, Robert Kaldy-Karo (= Wien – Musik und Theater 4, Wien: LIT Verlag 2013) 36. 11 IWE 66 (8. 3. 1900) 5. 12 IWE 320 (26. 9. 1899) 19. 13 Verena Schäffer, Theater und Varieté im Nestroyhof: 1899 bis 1938. Vier Jahrzehnte theatraler Produktion in der Wiener Leopoldstadt (= ungedr. geisteswiss. Dipl., Wien 2008) 42–43. 14 Gerhard Müller-Schwefe, Was haben die aus Shakespeare gemacht! Weitere alte und neue Shakespeare-Parodien (Tübingen: A. Francke Verlag 1993) 75. 15 Siehe beispielsweise IWE 245 (6. 9. 1900) 14.

Die Folies Comiques

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Auch wenn es in Wien um die Jahrhundertwende keinen Mangel an sogenannten jüdischen Ensembles gab, waren die Nestroy-Säle eine wichtige Bereicherung für die Unterhaltungslandschaft. Allerdings hatten sie nicht lange Bestand. Schon bald nach ihrer Gründung machten sie mehr durch finanzielle Probleme als durch Vorstellungen von sich reden. Adler-Müller hatte nämlich weder Erfahrungen als Geschäftsmann, noch war er im Besitz ausreichender finanzieller Mittel, um damit sein mangelndes unternehmerisches Geschick ausgleichen zu können. Zwar gelang es ihm, die Pilsner-Brauerei für sein Projekt der Nestroy-Säle zu gewinnen. Aber trotz eines beträchtlichen Investments des Unternehmens nahmen die Schulden der Spielstätte bald überhand. Da die Ensemblemitglieder nur unregelmäßig bezahlt wurden, weigerten sie sich an manchen Tagen aufzutreten. Die damit verbundene Unsicherheit beim Publikum, für seine erworbenen Eintrittskarten auch tatsächlich etwas zu sehen zu bekommen, verschlimmerte die prekäre Lage der Nestroy-Säle noch zusätzlich. Und so war es wenig überraschend, dass bereits rund ein halbes Jahr nach ihrer Eröffnung der Spielbetrieb eingestellt werden musste. Adler-Müller wurde in weiterer Folge wegen Betruges und Veruntreuung angeklagt.16 Allerdings wollte er sich mit seinem Scheitern nicht abfinden. Bereits im September 1890 gelang es ihm, die Nestroy-Säle wieder zu eröffnen. Abermals hatte er die Gunst eines finanzkräftigen Investors gewonnen. Zur allgemeinen Verwunderung schienen dessen Zuwendungen so beträchtlich zu sein, dass Adler-Müller das einige Monate zuvor veräußerte Inventar um mehr als den doppelten Preis zurückkaufen konnte. Es wurde aber recht rasch klar, dass er sich dabei übernahm. Die Aufführungen fanden lediglich über einige Wochen hinweg statt. Und selbst dies konnte nur gewährleistet werden, weil Adler-Müller den Schmuck seiner Buffetangestellten versetzte. Am 26. Oktober wurde das Unternehmen endgültig geschlossen und sein Betreiber zu einer Haftstrafe verurteilt.17

2.2

Die Folies Comiques

Dass die Nestroy-Säle unter der Leitung von Emanuel Adler-Müller schon bald nach ihrer Wiedereröffnung verschwanden, hinterließ keine bleibende Lücke in der Wiener Unterhaltungslandschaft. Ein knappes Jahr später begannen in den aufgelassenen Räumlichkeiten des Nestroyhofes die Folies Comiques mit ihren Aufführungen.18 Roland Eder leitete sie anfangs mit einem Kompagnon, bevor er 16 IWE 300 (1. 11. 1900) 4. 17 IWE 284 (16. 10. 1901) 2. 18 Schäffer, Theater 51.

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sie am Ende des Jahres 1902 ganz übernahm.19 Bevor er sich als Leiter einer Singspielhalle versuchte, hatte Eder vor allem als Verfasser von Possen Bekanntheit erlangt. Als Lizenzinhaber wurde Fritz Lung von Edelhofer’s Leopoldstädter Volks-Orpheum (siehe unten) geholt. Neben den Texten von Eder spielten die Folies Comiques vor allem Stücke aus der Feder von Josef Armin, der mit seiner Frau bis zum April 1903 auch zu den AkteurInnen des Ensembles zählte.20 Seine Auftritte gehörten zur eigentlichen Attraktion der Folies Comiques. Louis Taufstein war ebenso Autor von zahlreichenden Possen, die die Truppe auf die Bühne brachte. Wie bei den Nestroy-Sälen, so gab es auch bei den Folies Comiques verschiedene Anklänge an eine mit Wien assoziierte Kulturtradition. Das zeigte sich beispielsweise im Frühjahr 1903, als eines der Gruppenmitglieder als der Komponist Franz Schubert (1797–1821) auftrat. Schubert galt in der breiten Bevölkerung als Inbegriff der Musikstadt Wien. Nur wenige Jahre zuvor war ihm eine große Ausstellung gewidmet worden, die ihn endgültig im Kollektivgedächtnis der Einwohnerschaft verankerte.21 Mit der Figur von Franz Schubert knüpften die Folies Comiques am lokalen Kult um ihn an und verorteten sich im Wiener kulturellen Ambiente. Daneben sahen sie sich auch der Jargon-Komik verpflichtet. Eines der Stücke, das ihr zugeordnet werden kann, war „Familie Pschesina“ von Louis Taufstein.22 Pschesina/Brzezina war gemeinhin der Name für den ‚Typus des Böhmen‘, der in Wien um 1900 gleichsam den Konterpart des jüdischen ‚Kleinen Kohn‘ darstellte. Brzezina erlangte durch das Couplet Servus Brzezina, das Emil Várady um die Jahrhundertwende im Etablissement Gartenbau vortrug, Bekanntheit und wurde sodann zu einer geflügelten Bezeichnung für Tschechen im allgemeinen.23 Im Wiener Alltag, und selbst im öster-

19 Das Variété 6 (29. 11. 1902) o. S. 20 Josef Armin (Rottenstein) (1858–1925) wurde in Budapest geboren und kam 1873 nach Wien, wo er in einem Tuchgeschäft zu arbeiten begann. Schon bald schloss er sich einer fahrenden Volkssängergesellschaft an. Mit seiner Frau war Josef Armin in verschiedenen Gruppen tätig, unter anderem in der Gesellschaft Hirsch oder, wie bereits erwähnt, bei den Folies Comiques. Armin arbeitete auch als Komiker in Danzer‘s Orpheum, im Varieté Gartenbau und in Venedig in Wien. Seine größte Bekanntheit erlangte er mit den von ihm verfassten Possen für die Budapester Orpheumgesellschaft. (Siehe Josef Koller, Das Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit. Nacherzähltes und Selbsterlebtes (Wien: Gerlach & Wiedling 1931). 21 Ulrike Spring, Der Himmel über Wien. Franz Schubert, sein Körper und Alt-Wien. In: AltWien. Die Stadt, die niemals war, ed. Wolfgang Kos, Christian Rapp (Wien: Czernin Verlag 2004) 151–158. 22 Louis Taufstein, Familie Pschesina. In: NÖLA (Theaterzensur) 37/12 (1903). Familie Pschesina wird verschiedentlich auch als Familie Brzezina angekündigt (IWE 35 [3. 2. 1903] 18). Die Schreibweise Pschesina dürfte sich eher an der Aussprache des Namens orientiert haben. 23 Das Variété 1 (15. 10. 1902) o. S.

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reichischen Reichsrat, wurde der Begriff häufig in diskriminierender Weise verwendet.24 „Familie Pschesina“ stellt auf den ersten Blick eine simple Verwechslungskomödie dar. Gleichwohl setzt sich das Stück mit der Frage auseinander, was Jüdisch-Sein in Wien um 1900 ausmacht beziehungsweise kennzeichnet. Boleslav Pschesina, ein vermögender tschechischer Jude, will seine Nichte Helen mit dem Sohn seines Geschäftsfreundes August Lerchenfeld verheiraten. Er erwartet den zukünftigen Bräutigam zu Besuch. Boleslavs Frau, Eulalia, möchte allerdings, dass Helen ihren Sohn Isidor ehelicht, damit ihr Schmuck in der Familie bleibt. Isidor empfindet ebenfalls eine starke Zuneigung für Helen. Am Tag des angesetzten Besuchs trifft Isidor außerhalb von Pschesinas Villa auf August Lerchenfeld und den Buchhalter von dessen Vater, Menasse Pfeifendeckel. Auf deren Frage nach dem Weg zu Pschesinas Haus teilt er ihnen mit, dass es noch weit sei, sie aber in einem nahen Bordell übernachten könnten. Als solches weist er das Haus von Boleslav aus. Isidor hofft, dass August Helen herablassend als Prostituierte behandeln und sich dadurch als zukünftiger Bräutigam diskreditieren würde. Tatsächlich kehren August und Menasse im angezeigten Haus ein, und August legt gegenüber Helen und Eulalia ein vulgäres Verhalten an den Tag. Er gerät mit Boleslav in Streit und wirft ihn aus dessen eigenem Haus. Als Augusts Vater nachkommt, klärt sich das Missverständnis auf. Isidors Arglist wird dadurch offenbar, und er sieht sich gezwungen, sich zu entschuldigen. Die Heirat von August und Helene kann er letztlich nicht verhindern. An „Familie Pschesina“ ist hervorzuheben, dass das Jüdisch-Sein der Figuren nicht durch ein herkömmliches Kriterium wie Religionszugehörigkeit angezeigt wird. Stattdessen wird es durch die Namen der Protagonisten, wie beispielsweise Menasse Pfeifendeckel, und deren Verwendung jiddischer Begriffe wie Mischpoche (Verwandtschaft), Ponem (Gesicht) oder Schmus (Geschwätz) ausgewiesen. Beide Merkmalsklassen sind als Indizien für jemandes Jüdisch-Sein allerdings nur bedingt brauchbar. Die jiddischen Ausdrücke gehören teilweise zum Wiener Idiom und können ebenso von Nichtjuden verwendet werden. Und Pfeifendeckel sowie Lerchenfeld sind keine ausschließlich jüdischen Namen. Dasselbe gilt in umgekehrter Hinsicht: Im Wien um 1900 wurden ausschließlich (sogenannte ethnische) Tschechen als Brzezina/Pschesina bezeichnet, in der Posse handelt es sich dabei aber um den Familiennamen von Juden. Sprachgebrauch und Name stellen demnach äußerst unzuverlässige nationale Bestimmungsmerkmale dar, ihre Verwendbarkeit ist in weitem Maße kontext24 Bei einer Aufführung der Oper „Die verkaufte Braut“ von Bedrich Smetana im Februar 1903 soll ein Ensemblemitglied während der Vorstellung die Worte „Waclav Brzezina“ ausgerufen haben. Eine tschechische Zeitung berichtete darüber und interpretierte diesen Akt als Beleidigung der „tschechischen Nation“. (IWE 45 (15. 2. 1903) 5.

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abhängig. „Familie Pschesina“ zeigt beispielhaft, dass und wie ein Teil der Aufführungen in den Wiener Singspielhallen ethnische Kategorisierungen und die Eindeutigkeit kultureller Zugehörigkeiten hinterfragte.

2.3

Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft

Nicht weit von den Nestroy-Sälen entfernt, in der Rotensterngasse, befand sich Edelhofer’s Leopoldstädter Volks-Orpheum, wo sich im Jahr 1901 die Lemberger Singspiel-Gesellschaft einmietete.25 Ihre Akteure waren zuvor in Galizien bei der jiddischen Theatergruppe von Jacob-Ber Gimpel (1840–1906) aktiv gewesen.26 Nach Brigitte Dalinger, die den ‚Polnischen‘, wie die Lemberger Singspiel-Gesellschaft auch genannt wurde, in ihrer Dissertation einige Seiten gewidmet hat, bildete sie eine Gruppe von Schauspielern, die zwischen den Broder Sängern, einer Vorstufe jiddischer Theaterspieler in Osteuropa, und Wiener Volkssängern eingeordnet werden muss.27 Dadurch zählten vor allem galizische und andere osteuropäisch-jüdische Zuwanderer zum Publikum der ‚Polnischen‘. Sie stellten eine wichtige kulturelle Vermittlungsinstanz zwischen der traditionellen jüdischen Welt in den osteuropäischen Provinzen und der Moderne, auf die die Immigranten in Wien trafen, dar. Dies kann exemplarisch an zwei Stücken, die die Lemberger Singspielgesellschaft in den Jahren 1903 und 1904 aufführte, dargestellt werden. Das erste Stück, „Der Soldat von Plewna“, spielt vor dem historischen Hintergrund des russisch-türkischen Krieges und der Schlacht von Plewen (1877), bei der ein Verband von russischen und rumänischen Truppen die Türken besiegte.28 Max, der zentrale Charakter des Stückes, kämpft auf der Seite der Rumänen und zeichnet sich durch besondere Tapferkeit aus. Tief beeindruckt von seinem Wagemut fragen ihn seine Kameraden nach beendeter Schlacht, wer er sei. Max antwortet: „Ich bin ein Jud und bleib ein Jud.“ In einer weiteren Szene, die das häusliche Umfeld von Max beleuchtet, befindet er sich im Gespräch mit Chaim, dem Vater seiner Braut. Dieser zeigt sich überrascht von Max‘ militärischem Engagement und fragt ihn nach dem Grund für dessen furchtlosen Einsatz. Max teilt ihm mit, dass er die Verteidigung seines Heimatlandes als Pflicht sehe. Diese Antwort stößt bei Chaim auf Unverständnis. Er erkundigt sich bei Max, wo in Rumänien sein Heimatland liege und ob er für seinen Soldatendienst bezahlt 25 IWE 287 (19. 10. 1901) 14. 26 Doris A. Karner, Lachen unter Tränen. Jüdisches Theater in Ostgalizien und der Bukowina (Wien: Edition Steinbauer 2005) 118. 27 Brigitte Dalinger, „Verloschene Sterne“. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien (=geisteswiss. Diss., Wien 1995) 21. 28 Siegler, Der Soldat von Plewna. In: NÖLA (Theaterzensur), 14/10 (1903).

Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft

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werde. Max verweist auf die Rechte, die er in Rumänien genießt und für ihn eine ausreichende Motivation für seinen Militärdienst darstellten. „Der Soldat von Plewna“ zeigt die Spannungen zwischen zwei Juden auf, von denen einer, Chaim, in einem traditionellen jüdischen Umfeld lebt und deswegen kein Verständnis für Max‘ Patriotismus besitzt, während dieser an der rechtlichen Emanzipation der Juden interessiert ist und in der Folge Trennlinien zwischen einer jüdischen und nichtjüdischen Lebenswelt als vernachlässigbar betrachtet. Konsequenterweise gibt es für ihn zwischen seinem Jüdisch-Sein und seinem Einsatz im Krieg keine Unvereinbarkeit. Ganz im Gegenteil, sie sind für ihn unmittelbar miteinander verbunden, wie seine Antwort auf die Frage seiner Kriegskameraden, wer er sei, ausweist. Er gibt nämlich nicht seinen Namen preis, sondern verweist auf seine Zugehörigkeit zum Judentum. Max‘ Jüdisch-Sein wird im Stück nicht durch irgendwelche religiösen Handlungen zum Ausdruck gebracht, durch keine Observanz religiöser Gesetze, sondern durch seinen Heldenmut. Damit werden dem Publikum der Aufführung Wertestandards vorgestellt, denen in einem religiös geprägten jüdischen Lebensalltag keine große Bedeutung zugeschrieben wurden. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass im zeitgenössischen Kontext Eigenschaften wie Tapferkeit und Bereitschaft zu militärischen Kampfhandlungen gewöhnlich von den Zionisten als Merkmale eines ‚neuen‘ Juden in Palästina gepriesen wurden. Dieser sollte Attribute wie Feigheit und physische Schwäche, die der Judenschaft in der Diaspora anerzogen würden, ablegen.29 „Der Soldat von Plewna“ verbindet das zionistische Konstrukt des heldenhaften Juden allerdings mit einem Diasporanationalismus. Die Darbietung der Lemberger Singspiel-Gesellschaft hinterfragt demnach die zionistische Deutung von jüdischem Leben in mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaften sowie die Wertorientierungen der traditionellen jüdischen Welt. Das zweite Stück, das an dieser Stelle vorgestellt wird, trägt den Titel „Jüdaly mit dem Wandersack“.30 Es soll sich dabei um „das erste in Wien aufgeführte (Stück) mit zionistischer Tendenz“, das im Archiv für Theaterzensur auffindbar ist, handeln.31 Der Hauptprotagonist stellt einen reichen Juden namens Bauchfett dar, der seine Tochter Rebecca mit einem Baron verheiraten möchte. Der nichtjüdische Aristokrat ist aber lediglich an Bauchfetts Reichtum interessiert und benützt Rebecca, um in den Besitz von dessen Vermögen zu gelangen. Rebecca wiederum liebt einen armen Lehrer namens Albert Kohn, einen überzeugten Zionisten, und weigert sich, Bauchfett zu ehelichen. Eine Zeitlang scheint es sich um eine vertrackte Situation zu handeln, aus der es keinen Ausweg gibt. 29 Siehe Daniel Wildmann, Der veränderbare Körper: Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900 (Tübingen: Mohr Siebeck 2009). 30 S. Larescu, Jüdaly mit dem Wandersack. Realistisches Bild mit Tanz und Gesang. In: NÖLA (Theaterzensur), 14/17 (1904). 31 Dalinger, Sterne 23.

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Letztlich gelingt es einem Freund von Albert Kohn, dem Zionisten Samuel Pinkeles, Bauchfett einsichtig zu machen, dass er durch sein Bestreben, seine Tochter mit dem Baron zu verheiraten, das Judentum gefährde. In der Folge willigt Bauchfett in die Eheschließung von Rebecca und Albert ein. Anders als in „Der Soldat von Plewna“ wird in „Jüdaly mit dem Wandersack“ Jüdisch-Sein durch ein Verantwortungsgefühl für die jüdische Gemeinschaft, im konkreten Fall durch eine zionistische Gesinnung, ausgedrückt. Das Stück vermittelt eine Wertschätzung des Zionismus und fordert gleichzeitig eine Neugestaltung traditionellen jüdischen Lebens. Das kommt in einer Kritik an der arrangierten Ehe zum Ausdruck. Zwar war eine interkonfessionelle Heirat, wie in „Jüdaly mit dem Wandersack“ beschrieben, alles andere als Usus unter den Juden, egal ob von den Eltern der Braut und des Bräutigams in die Wege geleitet oder von diesen aus freien Stücken eingegangen. Aber eine vereinbarte Eheschließung unter ausschließlich jüdischen Partnern, bei der auf die Gefühle der Betroffenen keine Rücksicht genommen wird, war weit verbreitet. Liberal eingestellte Juden bekämpften diese Gepflogenheit seit der Haskalah.32 „Jüdaly mit dem Wandersack“ lässt sich in dieser kritischen Tradition verorten. Die Vorstellungen der ‚Polnischen‘ zeigten somit eine Alternative zu Lebensentwürfen, mit denen viele jüdische Zuwanderer in Galizien aufgewachsen waren. Sie stellten neue Verhaltensregeln vor und machten das Publikum mit Wertestandards, die in Wien vorherrschten, vertraut.

Die Verdrängung von Jiddisch durch den Jargon Obwohl die Akteure der Lemberger Singspiel-Gesellschaft von einem jiddischen Ensemble kamen, dürften sie sich in Wien sehr rasch an der lokalen Nachfrage ausgerichtet und die jiddische Sprache zugunsten des Jargons aufgegeben haben. Dadurch ist es möglich, die ‚Polnischen‘ dem Wiener Volkssängertum zuzurechnen und nicht in die Tradition des jiddischen Theaters stellen zu müssen, wie es verschiedene jiddische Quellen machen.33 Es gibt eine Reihe von Gründen, die gegen eine solche Darstellung spricht. Einige von ihnen werden im Folgenden näher beleuchtet, weil sie Einblick in das Wiener kulturelle Lokalkolorit geben. Ein erster Hinweis, dass die ‚Polnischen‘ keine jiddische Truppe darstellten, lässt sich aus der Reaktion des Wiener Publikums auf Gastspiele des jiddischen Ensembles von Jacob-Ber Gimpel aus Lemberg ableiten. Nicht lange nach der Etablierung der Lemberger Singspiel-Gesellschaft in Edelhofer’s Leopoldstädter 32 David Biale, Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America (New York: Basic Books 1992) 159–160. 33 Siehe dazu die Fußnoten in Dalinger, Sterne 20–27.

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Volks-Orpheum kam Gimpel mit seiner Truppe in die Habsburgermetropole. Im Hotel „Bairischer Hof“, in der von Joseph Roth erwähnten Taborstraße und somit unweit der Spielstätte der ‚Polnischen‘ gelegen, begann er im Juli 1901 mit eigenen Vorstellungen.34 Es mag sein, dass Gimpel die Wirkstätte für seine jiddischen Vorstellungen nach Wien verlegte, um vom regen Zuspruch, auf den die Aufführungen der ‚Polnischen‘ in Wien stießen, auch selbst zu profitieren.35 Diese Deutung impliziert, dass sie in jiddischer Sprache spielten. Es gibt aber auch einen Hinweis, wonach Gimpel in Wien auftrat, um gegen die ‚Polnischen‘ zu konkurrieren und diesen dadurch zu schaden. Der Besitzer von Edelhofer’s Leopoldstädter Volks-Orpheum soll nämlich nach Lemberg gekommen sein und Gimpels Truppe einige Mitglieder abgeworben haben, mit denen er sodann die Lemberger Singspiel-Gesellschaft gründete.36 In diesem Fall war Gimpel auf Vergeltung bedacht. Allerdings hatte er mit seinem Vorhaben keinen Erfolg. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die mangelnde Resonanz jiddischer Aufführungen in der Wiener Bevölkerung dafür verantwortlich war.37 Dass die Darbietungen der Lemberger Singspiel-Gesellschaft demgegenüber auf großen Anklang stießen, lässt darauf schließen, dass sie selbst von Vorstellungen auf Jiddisch absah. Gimpel blieb nicht nur von der Wiener Bevölkerung die Anerkennung versagt, sondern auch viele Volkssänger distanzierten sich von ihm. Bisweilen machten sie ihn zur Zielscheibe ihres Spotts und gaben ihn der Lächerlichkeit preis. Dies kommt in einer Aufführung der Gesellschaft Albert Hirsch (siehe unten) zum Ausdruck. Nach Gimpels Ankunft in Wien spielte Hirschs Truppe „Gimpel (aus Lemberg) ist da!“. Dabei handelt es sich um eine Parodie auf den galizischen Theaterdirektor.38 Wie bereits in „Jüdaly mit dem Wandersack“ geht es auch hierbei um eine arrangierte Ehe. Die Väter der Jüdin Malke, Jacob Beer, und von Gimpel einigen sich, ihre Kinder miteinander zu verheiraten. Für Jacob Beer scheint es eine äußerst vorteilhafte Abmachung zu sein, da Gimpel einer sehr vermögenden Familie entstammt. Malke selbst empfindet jedoch eine starke Zuneigung für Theodor, über den in der Darbietung nur bekannt wird, dass er ein sehr kavalierhaftes Verhalten an den Tag legt. Jacob Beer zeigt sich von den Gefühlen seiner Tochter unbeeindruckt und hält an seiner Entscheidung fest. Demgegenüber hat Malkes Mutter, Selde, Mitleid mit ihrer Tochter. Sie war in 34 35 36 37

IWE 194 (18. 7. 1901) 15. Dalinger, Sterne 21. Dalinger, Sterne 21. In Wien setzt sich jiddisches Theater erst gegen Ende des ersten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert durch. Siehe Dalinger, Sterne 28. 38 Das Stück heißt in Wirklichkeit „Der Gimpel ist da!“ (Siehe Albert Hirsch, Der Gimpel ist da! In: NÖLA [Theaterzensur] 21/20 [1901].) In den Zeitungen wird es jedoch, wahrscheinlich aufgrund der offensichtlichen Bezugnahme auf den realen Theaterdirektor, als „‚Gimpel aus Lemberg‘ ist da“ angekündigt. Im vorliegenden Text wird im Titel „aus Lemberg“ in Klammern gesetzt.

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früheren Jahren Mitglied eines „Dilettantentheaters“ und greift nun auf ihre schauspielerischen Fertigkeiten zurück, um die Verheiratung von Malke und Gimpel zu verhindern. Als dieser eines Tages mit dem Zug nach Wien kommt, um seine zukünftige Frau kennenzulernen, tritt Selde als Malke auf. Gimpel, der eine junge Dame erwartet, ist über das Alter seiner vermeintlichen Braut verstört und entzieht sich dem Heiratsabkommen, indem er zurück nach Lemberg flüchtet. Malke ist nun vom Heiratsversprechen entbunden und frei, Theodor zu ehelichen. Die Anspielung des Stückes auf den galizischen Ensembleleiter kommt im Herkunftsort und Familiennamen des Protagonisten von Hirschs Posse sowie im Namen von Malkes Vater, der den Vornamen des Lemberger Theaterdirektors trägt, deutlich zum Ausdruck. Die Verhöhnung von Gimpel, in der gleichzeitig die amüsante Note der Aufführung liegt, stellt dessen Düpierung durch Malkes Mutter, einer früheren Schauspielerin, dar. Gimpel, der sein Leben dem Theater gewidmet hat, wird als zu naiv dargestellt, um ein ‚dilettantisches Rollenspiel‘, wie der Auftritt von Malkes Mutter im Hinblick auf ihre früheren theatralischen Aktivitäten bezeichnet werden könnte, zu durchschauen. Zwar nimmt er für sich in Anspruch, die Fähigkeit zu besitzen, zwischen verschiedenen Alltagsrollen zu wechseln, dadurch die Menschen seiner Umgebung zu täuschen und Lebenssituationen für sich vorteilhaft zu beeinflussen. Als er sich während der Bahnfahrt von Lemberg nach Wien in einem Abteil mit Antisemiten befindet, die lauthals über Juden schimpfen, verbirgt Gimpel sein Jüdisch-Sein und ist letztlich stolz, seine Mitreisenden irregeführt zu haben. Aber in Wien wird er mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Er ist derjenige, der irregeführt wird. Durch seine Unfähigkeit, Vorgetäuschtes als unwirklich zu erkennen, scheint Gimpel dem Leben in der modernen Großstadt nicht gewachsen zu sein und gut daran zu tun, wieder in seine galizische Heimatstadt zurückzukehren. Das zeigt sich auch auf Gimpels Weg vom Bahnhof zur Unterkunft von Jacob Beer. Er sieht eine Frau, von der er glaubt, dass sie ihm zuwinkt, aber er kann die Geste nicht wirklich deuten. Die alltagskulturelle Vielschichtigkeit der Metropole verwirrt ihn, Traumwelt und Realität verschwimmen. Wien überfordert ihn. Warum Albert Hirsch ein Stück schrieb, in dem er sich über Gimpel lustig macht, ist unklar. Verschiedene Gründe können dabei eine Rolle gespielt haben. Es mag sein, dass Hirsch, ein in Wien geborener Jude, der sich der lokalen Volkssängerszene sehr stark verpflichtet fühlte (siehe drittes Kapitel), gegenüber dem galizischen Juden Gimpel und dem jiddischen Theater Antipathie verspürte, wie sie zu dieser Zeit zwischen sogenannten Ost- und Westjuden oftmals anzutreffen war.39 Es kann aber auch sein, dass Hirsch im Sommer 1901, als er „Gimpel 39 Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien (Wien2 1994) 148–152.

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(aus Lemberg) ist da“ aufführte, bereits mit dem Gedanken spielte, die Lemberger Singspiel-Gesellschaft als Direktor zu übernehmen. Dies tat er im darauffolgen Jahr tatsächlich. In diesem Fall mag er versucht haben, die Truppe von Gimpel als potentielle Konkurrenz auszuschalten. Auf jeden Fall blieb der galizische Theaterdirektor mit seinem Ensemble nicht lange in Wien. Ob Hirsch zu dessen Misserfolg in der Habsburgermetropole beitrug, kann nicht beantwortet werden. Anders als in den bisher behandelten Stücken hat die Frage des Jüdisch-Seins in „Gimpel (aus Lemberg) ist da!“ keine Relevanz. Neben der Verhöhnung von Gimpel geht es vielmehr um eine Kritik an arrangierten Ehen, wie sie auch in „Jüdaly mit dem Wandersack“ und vielen anderen textuellen Vorlagen, die von jüdischen Volkssängergruppen aufgeführt wurden, vorgetragen wird. Die Häufigkeit, mit der dieser Punkt in den Aufführungen angesprochen wird, legt nahe, dass er die Juden in Wien stark beschäftigte. Auf jeden Fall dürfte „Gimpel (aus Lemberg) ist da!“ großen Anklang beim Publikum gefunden haben. Zumindest kann eine solche Annahme aus den Zeitungskommentaren, wonach die Vorstellung einen „enormen, seit Jahren nicht dagewesenen Lacherfolg“ hervorgerufen habe, abgeleitet werden.40 Die Gimpel-Truppe, so lässt sich die Episode über ihre Auftritte in Wien zusammenfassen, passte mit ihren jiddischen Stücken nicht in die Wiener Volkssängerszene und zog mit ihrem Rückzug in die ostgalizische Metropole letztlich die Konsequenzen. Aus den bisherigen Ausführungen kann geschlossen werden, dass die Lemberger Singspiel-Gesellschaft entweder keine Darbietungen in jiddischer Sprache gab oder rasch darauf verzichtete. Stattdessen trug sie ihre Stücke im Jargon vor. Das heißt, dass sie ähnlich der Budapester Orpheumgesellschaft oder der Truppe von Albert Hirsch das lokale Idiom mit jiddischen Einschlägen und einer entsprechenden Intonation benutzte.41 Darauf weist auch eine Mitteilung in der Zeitschrift Das Variété hin. Darin wird angekündigt, dass Herr und Frau Kanner, die Mitglieder der Lemberger Singspiel-Gesellschaft waren, mit neuen „Jargonsachen“ aufträten.42 Von jiddischen Darbietungen ist nirgendwo die Rede. Ein weiterer Punkt, der es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass die ‚Polnischen‘ auf Jiddisch spielten, bezieht sich auf deren Leitung. Dieser Aspekt verdient im Folgenden besondere Aufmerksamkeit, weil er die Verflechtung von Juden und Nichtjuden und deren gemeinsame Gestaltung der Wiener Populärkultur exemplarisch aufzeigt. Als die Lemberger Singspiel-Gesellschaft im Jahr 1901 in Wien gegründet wurde und in Edelhofer’s Leopoldstädter Volksorpheum auftrat, firmierte sie als Singspielhalle Fritz Lung (1844–1922). Das heißt, dass die 40 IWE 194 (18. 7. 1901) 15. 41 Georg Wacks, Der schöne Moritz von der Klabriaspartie. In: Jüdisches Kabarett in Wien 1889– 2009, ed. Marie-Theres Arnbom, Georg Wacks (Wien: Armin Berg Verlag 2009) 54–55 42 Das Variété 15 (8. 2. 1903) o. S.

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‚Polnischen‘ mit dessen Konzession spielten und Lung als deren Direktor fungierte. Lung selbst war katholischer Konfession, aber nichtsdestotrotz im jüdischen kulturellen Milieu fest verankert.43 Das erkennt man nicht zuletzt daran, dass er, wie bereits erwähnt, auch als Lizenzinhaber für die Auftritte der Folies Comiques diente. Im Frühjahr 1902 übernahm Albert Hirsch die Lemberger Singspiel-Gesellschaft. Im Gegensatz zu Lung war er jüdisch, aber es ist zweifelhaft, ob er als Wiener mit dem ostjüdischen Milieu, aus dem die Mitglieder der Lemberger Singspiel-Gesellschaft kamen, vertraut war. Zwar hatte sich seine eigene Truppe, die er vor der Übernahme der ‚Polnischen‘ angeführt hatte, oftmals des Jargons bedient. Aber das heißt nicht, dass er auch der jiddischen Sprache mächtig war. Wie bei Lung ist es deswegen auch bei ihm wenig wahrscheinlich, dass er sich für den Direktorposten einer Truppe bewarb, die auf Jiddisch spielte. Hirsch drängte die ‚Polnischen‘ vielmehr, ihr Programm stärker mit dem kulturellen Lokalkolorit in Übereinstimmung zu bringen. Zu diesem Zweck ließ er sie einige Stücke spielen, die er selbst verfasst und mit seinem eigenen Ensemble bereits aufgeführt hatte. Dazu gehörte beispielsweise „Eine Klabriaspartie vor Gericht“ oder Der reiche Herr Herzl.44 Im Weiteren wurde unter seiner Direktion auch „DadaDodo“ vom (nichtjüdischen) Volkssänger Wilhelm Wiesberg (1850–1896) dargeboten.45 Das alles heißt nicht, dass sich die Lemberger Singspiel-Gesellschaft von ihrer ostjüdischen kulturellen Tradition lossagte. Zu ihren Vorstellungen gehörten weiterhin Dramen und Burlesken aus dem jiddischen Theaterrepertoire, wie beispielsweise „Schmendrik“ von Abraham Goldfaden (1840–1908). Aber selbst dieses Stück dürfte nicht auf Jiddisch aufgeführt worden sein, wie aus dessen Ankündigung geschlossen werden kann. Es wurde nämlich mit dem Titel „Schmendrik, oder: Die Dorfhochzeit“ beworben.46 Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft scheint mit ihrem „gemischten Programm“, das sowohl ostjüdische kulturelle Traditionen wie auch Wiener Volkssängerstücke vorstellte, großen Anklang gefunden zu haben. Das kommt nicht zuletzt im Umstand zum Ausdruck, dass sie zahlreiche Nachahmer hatte. Zu diesen zählte beispielsweise ein „deutsch-polnisches Ensemble aus Lemberg“, 43 Fritz Lung wurde in Wien als Friedrich Lung geboren und trat schon im Kindesalter im Josefstädter Theater auf. In späteren Jahren spielte er in Berlin, Hamburg, Dresden und anderen Städten, bevor er zum Volkssänger wurde. Im Jahr 1897 erhielt er die Konzession als Singspielhallendirektor und konnte sich selbstständig machen. (IWE 78 [18. 3. 1904] 7.) 44 IWE 28 (28. 1. 1903) 6. 45 Siehe IWE 175 (27. 6. 1902) 15 & IWE 166 (18. 6. 1902) 13. Hirschs eigene Truppe spielte „Dada-Dodo“ im November 1901. Siehe: IWE 314 (15. 1. 1901) 23. Zu Wiesberg siehe Anna Maria Huber, Wilhelm Wiesberg (ungedr. phil. Diss., Wien 1938). 46 IWE 166 (18. 6. 1902) 13. Zu Schmendrik siehe Klaus Hödl, A Space of Cultural Exchange. Reflections on the Yiddish Theatre in the Late Nineteenth Century. In: Pinkas III (2010) 24– 41.

Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft

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das in verschiedenen Lokalen im V., VI. und XIV. Bezirk, die allesamt nur einen geringen Anteil von Juden an der Bevölkerung aufwiesen, auftrat.47 Polnisch dürfte ein Synonym für ostjüdisch gewesen sein, und das Attribut „deutsch“ mag zur Unterscheidung von der Lemberger Singspiel-Gesellschaft gedient haben. Auf jeden Fall führte die Truppe ebenfalls Stücke jiddischer Autoren auf.48 Zwei weitere Ensembles, die es der Lemberger Singspiel-Gesellschaft gleichmachen wollten, wurden von Marietta Kriebaum und Paula Baumann geleitet. Kriebaum stand dem Polnischen Variété aus Lemberg vor. Es trat in „Zum goldenen Widder“ in der Taborstraße 36 auf.49 Zur gleichen Zeit spielte unweit davon, in „Antreiber’schen Restauration“ in der Krummbaumgasse, Baumanns Truppe.50 Wie Fritz Lung, so war auch Kriebaum nichtjüdisch, hatte aber ebenso vielseitige Kontakte mit Juden und waren mit dem jüdischen Milieu vertraut. Die unter dem Künstlernamen Paula Baumann auftretende Sara Frimmel war die erste Frau von Salomon Fischer, einem bekannten jüdischen Singspielhallenbetreiber (siehe unten). Marietta Kriebaum war mit Franz Xaver Kriebaum (1836–1900), dem im Juli 1900 verstorbenen Direktor von Danzer’s Orpheum, verheiratet.51 Er hatte einst mit Albert Hirsch in der Gesellschaft von Josefine Schmer (1842–1904) gespielt.52 Kriebaum und Hirsch blieben enge Bekannte. Das kann unter anderem daraus geschlossen werden, dass Hirsch bei Kriebaums Begräbnis eine Rede hielt. Hirschs Sohn Adolfi zeigte ebenfalls eine persönliche Verbundenheit mit der Familie Kriebaum. Einen Beleg dafür stellt ein Leserbrief im Illustrirtes Wiener Extrablatt im Sommer 1901 dar. Darin fragt er die Volkssängervereinigung „Lustige Ritter“, warum sie für ihren ehemaligen Obmann Franz Kriebaum noch keinen Grabstein aufgestellt hätten. Gleich nach dessen Tod sei von Josef Armin eine Sammlung zu dessen Finanzierung angekündigt worden, und es habe geheißen, dass dessen Herstellung bereits in Auftrag gegeben worden sei. Im Dezember habe man mitgeteilt, dass es zu kalt sei, um den Grabstein aufzustellen. „Nun heute – wir zählen des 29. Juli 1901 – ist’s nicht 47 48 49 50 51

Siehe IWE 198 (20. 7. 1902) 23. IWE 235 (26. 8. 1902) 15. IWE 237 (28. 8. 1902) 15. Siehe beispielsweise IWE 177 (29. 6. 1902) 20. IWE 328 (29. 11. 1901) 14. IWE 356 (28. 12. 1901) 6. Franz Xaver Kriebaum wurde in Wien geboren und erlernte das Sattlerhandwerk. Er hatte sich im Krieg gegen Preußen im Jahr 1866 durch besondere Tapferkeit hervorgetan, wodurch ihm das silberne Verdienstkreuz und später auch noch eine Singspielhallenkonzession verliehen wurden. Anfangs versuchte er sich als Volkssänger in Pest und erlangte den Durchbruch in Wien, wo er im Duo mit Anton Nowak auftrat. Nach Beendigung der Zusammenarbeit gründete er ein eigenes Varieté, wurde aber erst mit der Übernahme der Direktion von Danzer’s Orpheum weithin bekannt. (Artistentribüne 34 [22. 8. 1895] 1–2.) 52 Geboren in Pest, begann Josefine Schmer ihre Karriere in Wien als Mitglied der prominenten Gesellschaft von Johann Fürst (1825–1882). Dabei stellte sie oftmals Männer dar und erlangte mit ihren sogenannten „Hosenrollen“ Berühmtheit. In ihrem 1870 gegründeten Ensemble spielten viele Größen der Wiener Volkssängerszene um die Jahrhundertwende.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

mehr gar so kalt! Kriebaum’s Grab entbehrt aber noch immer des Grabsteins. Oder ist’s jetzt wieder die große Hitze, welche die Aufstellung verhindert? … Bei wie vielen Graden Réaumur, Celsius oder Fahrenheit wären Sie geneigt, Ihr Wort einzulösen?“53 Eine Woche später meldet sich auch Marietta Kriebaum mit einem Leserbrief zur Grabstein-Affäre zu Wort. Sie korrigiert Adolfi ein wenig, indem sie meint, dass die von ihm erwähnte Sammlung von Armin nie durchgeführt worden sei. Sie habe sich damals dagegen ausgesprochen, weil es für sie unangenehm gewesen sei, „daß für meinen verstorbenen Mann Geld zusammengebettelt“ werde. Deswegen habe sich der Verein der „Lustigen Ritter“ bereit erklärt, auf eigene Kosten einen Grabstein aufstellen zu lassen. Josef Armin habe in der Folge einen Brief an dessen Mitglieder verfasst, woraufhin diese von ihrer Entscheidung zurückgetreten seien. Der Inhalt des Schreibens sei ihr unbekannt. Marietta Kriebaum schließt ihre Mitteilung mit der Klage, dass ihr Mann vergessen worden sei. In früheren Zeiten, als er noch Direktor von Danzer’s Orpheum gewesen sei, hätte er viele Freunde gehabt, die sich nun verflüchtigt hätten.54 Franz Kassina, Hirschs Schwiegersohn, nahm im Sommer 1901 Emma Kriebaum, die Tochter von Marietta und ihrem verstorbenen Mann, in seine Gesellschaft auf.55 Dies ist ein zusätzliches Indiz dafür, dass sich die Familie Kriebaum in einem – wenn auch nicht ausschließlich – jüdischen Volkssängerumfeld bewegte. Darum kann es nicht verwundern, dass Marietta Kriebaum, obwohl Nichtjüdin, in der Leopoldstadt eine Truppe unterhielt, die sich die Besonderheiten der Lemberger Singspiel-Gesellschaft zu eigen machte, um von deren Resonanz in der Bevölkerung zu profitieren.56 Bevor Marietta Kriebaum das Polnische Varieté aus Lemberg leitete, stand sie einer Truppe vor, bei der Käthe und Joseph Armin mitwirkten. Beide waren lange Zeit am Orpheum ihres Mannes angestellt gewesen, was eine weitere Interaktion der Kriebaums mit Juden anzeigt.57 Gesetzt den Fall, dass die Lemberger Singspiel-Gesellschaft auf Jiddisch spielte und, diese imitierend, die Truppen von Kriebaum sowie Baumann ihre Vorstellungen ebenfalls auf Jiddisch gaben, dann wäre die Mehrheit der jiddischen Ensembles, die zu dieser Zeit in Wien auftraten, von Nichtjuden geleitet worden. Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich. Es überrascht bereits, dass zwei 53 54 55 56

IWE 200 (24. 7. 1901) 3. IWE 212 (5. 8. 1901) 3. IWE 187 (11. 7. 1901) 15. Marietta Kriebaum selbst war einst Sängerin am Deutschen Landestheater in Prag, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. (IWE 187 [11. 7. 1901] 15. Sie zog sich ins häusliche Leben zurück und erwarb sich einen Ruf als Wohltäterin, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes die Konzession zum Betreiben eines eigenen Ensembles erhielt. 57 IWE 314 (15. 11. 1900) 15 & IWE 328 (29. 11. 1900) 8.

Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft

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Gruppen mit nichtjüdischen DirektorInnen sich des Jargons bedienten. Aber daran zeigt sich lediglich, dass der Jargon Teil der Wiener Sprachlandschaft war und als solcher gesehen wurde. Er resultierte aus den Überlappungen der deutschen, jüdischen, polnischen und anderer Kultur- und Kommunikationsräume und könnte dadurch sogar als emblematisch für die sprachlich-kulturelle Pluralität Wiens verstanden werden.58 Jedenfalls mussten sich Nichtjuden dem Jargon gegenüber nicht fremd fühlen, vor allem nicht, wenn sie mit dem Grenzraum, in dem Juden sich bewegten, vertraut waren. Das war beispielsweise mit dem aus Mähren stammenden Opernsänger Leo Slezak (1873–1946) der Fall. Er war, wie das Illustrirte Wiener Extrablatt schreibt, ein „Bravourarier“. Allerdings soll er mit dem Jargon innig vertraut gewesen sein und ‚gejüdelt’ haben, „als wenn seine Wiege in Halbasien gestanden wäre“.59 Und ähnlich verhielt es sich mit Lung und Kriebaum. Marietta Kriebaum deckte mit ihren Volkssängergruppen nachweislich unterschiedliche Kulturräume ab. Sie war nicht nur in der Leopoldstadt aktiv, sondern gab auch Vorstellungen in der Gaststätte „Zum grünen Thor“ in der Lerchenfelder Straße, und sie ließ nicht nur sogenannte jüdische Stücke spielen.60 Aber auch Paula Baumann blieb nicht nur dem jüdischen Milieu verhaftet, sondern vollbrachte einen Spagat zwischen verschiedenen kulturellen Welten. Nachdem die Aufführungen ihrer Jargon-Truppe verboten worden waren, gründete sie eine neue Gesellschaft. Deren Programm zeigte Volkstümliches und bezog sich auch auf Aspekte einer jüdischen Welt.61 Ein letzter Grund, der es zweifelhaft erscheinen lässt, dass die Lemberger Singspiel-Gesellschaft ihre Vorstellungen auf Jiddisch gab, betrifft eine Auseinandersetzung unter den Volkssängern anlässlich der Ankündigung der als jüdisch geltenden Gruppe Folies Caprice aus Budapest, sich in Wien niederlassen zu wollen (siehe dazu drittes Kapitel). Dagegen protestierten vor allem die Direktoren von drei Singspielhallen, die in unmittelbarer Nähe zum Aufführungsort lagen, der von den Folies Caprice ins Auge gefasst wurde. Bei diesen handelte es sich um die Leiter der Budapester Orpheumgesellschaft, der Lemberger Sindspiel-Gesellschaft und der Folies Comiques. Hätten die ‚Polnischen‘ tatsächlich auf Jiddisch gespielt, dann wäre der Zuzug der Folies Caprice für sie weitgehend irrelevant gewesen, da deren Vorstellungen ein anderes Bevölkerungssegment als Publikum angesprochen hätten. Nur vor dem Hintergrund, 58 Der Begriff des Kommunikationsraumes ist einem Text des österreichischen Historikers Moritz Csáky entnommen: Ders., Hybride Kommunikationsräume und Mehrfachidentitäten. Zentraleuropa und Wien um 1900. In: Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, ed. Elisabeth Röhrlich (Wien: Böhlau Verlag 2016) 65– 97. 59 IWE 123 (3. 5. 1904) 8. 60 IWE 314 (15. 11. 1900) 15. 61 IWE 201 (23. 7. 1902) 14.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

dass die Lemberger Singspiel-Gesellschaft wie auch die beiden anderen Ensembles ihre Aufführungen im Jargon gaben, konnten sie in den Folies Caprice eine Konkurrenz sehen.

2.4

Die Gesellschaft Fischer

In der Zufahrtstraße 49, im Herzen des Wiener Praters gelegen, befand sich die Lokalität „Zum Marokkaner“, wo die Gesellschaft S. Fischer aufzutreten pflegte. Ihr Leiter, Salomon Fischer (1853–1909), wurde im mährischen Holicz geboren und versuchte sich schon früh als Schauspieler. Allerdings waren seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. In der Folge wurde er Volkssänger und debütierte 1873 auf dem ‚Brettl‘. Er war im Übrigen der erste seiner Profession, der das ganze Jahr über im Prater spielte, während seine Kollegen in der kalten Jahreszeit auf die Bühnen in der Stadt auswichen.62 Mit Erhalt der Konzession im Jahre 1892 konnte er eine eigene Gesellschaft gründen, der anfangs auch seine Frau Paula Baumann angehörte, bevor sich deren Wege trennten.63 Salomon Fischer stellt ein anschauliches Beispiel für die enge Verquickung jüdischer und nichtjüdischer kultureller Stränge zu einer gemeinsamen – Wiener – kulturellen Tradition dar. Fischer war einerseits in der jüdischen Welt verankert, griff mit seinen Aufführungen aber auch weit über das jüdische Milieu hinaus und gestaltete somit ein Aufführungsprogramm, dessen Gesamtheit das großstädtische kulturelle Ambiente der Habsburgermetropole widerspiegelte. So organisierte er Purimfeste und engagierte immer wieder, wenn auch nicht ausschließlich, Akteure, die zuvor bei anderen jüdischen Truppen angestellt gewesen waren und mit dem jüdischen Volkssängertum assoziiert wurden.64 Dazu gehörte beispielsweise der 1852 in Budapest geborene Josef Müller.65 Er war vor allem aufgrund seiner selbst verfassten Lieder, die er im Jargon vortrug, bekannt. Andererseits war Fischers Programm durch Aufführungen gekennzeichnet, die überhaupt keinen Bezug zum Judentum besaßen. So nahm er im Frühjahr 1902 Ploni Pötzl, die „Königin aller Jodlerinnen“, in sein Programm auf.66 Die Abendgestaltung in „Zum Marokkaner“ brachte somit eine kulturelle Hybridität zum Ausdruck, auf die auch der Titel des von Fischer verfassten Stücks „Der jüdische Christbaum“ verweist, das er am 25. und 26. Dezember 1901 aufführen ließ.67 62 63 64 65 66 67

IWE 71 (13. 3. 1901) 9. Koller, Volkssängertum 146 & 149. Zu Fischers Purimfest im Jahr 1901 siehe IWE 63 (5. 3. 1901) 15. Koller, Volkssängertum 92–94. IWE 89 (1. 4. 1902) 8. IWE 354 (25. 12. 1901) 83.

Die Gesellschaft Fischer

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Für Fischer schien es keine klaren Grenzen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Welt zu geben. Zumindest verhandelte er auf der Bühne ethnischkulturelle Zugehörigkeiten neu, wobei er binäre Kategorisierungen auflöste. Das kommt nicht zuletzt im Stück „Ihr einziger Patient“ zum Ausdruck, das die Gesellschaft Fischer im Jahr 1903 aufführte.68 Es stammt aus der Feder von Louis Taufstein und beschreibt die Behandlung des jüdischen Hausierers Salamon Eisig durch die (nichtjüdische) Ärztin Eulalia Pimperl. Eisig ist ihr einziger Patient. Er kommt jeden Tag in die Ordination und klagt über eine Reihe von Leiden. Wie sich im Laufe des Stücks herausstellt, täuscht er seine Krankheiten lediglich vor. Der eigentliche Grund seines Erscheinens liegt in der monetären Zuwendung, die er von Eulalia erhält, um sich die von ihr verschriebenen Medikamente besorgen zu können. Dies unterlässt er allerdings und behält stattdessen das Geld für sich. Zudem wird er von seiner Ärztin täglich zum Mittagessen eingeladen, was ein weiteres Motiv für seinen Arztbesuch darstellt. Die anfänglichen Szenen skizzieren Salamon als einen kleinen Betrüger, der das Mitgefühl von Eulalia schamlos ausnützt. Diese Charakterisierung ändert sich mit Fortgang der Handlung jedoch, vor allem infolge eines Gesprächs zwischen Eulalia und Julius Senftberger, dem heimlichen Liebhaber von deren Nichte Ida. Julius stattet Eulalia einen Besuch ab, um sie um Erlaubnis zu bitten, Ida heiraten zu dürfen. Allerdings erweist er sich als zu scheu, um sein Anliegen auch wirklich anzusprechen. Eulalia glaubt deswegen, dass Julius ein Patient sei, der sich untersuchen lassen wolle. Deswegen weist sie ihn an, sich für die Untersuchung auszuziehen. Da Julius nicht weiß, dass Idas Tante Ärztin ist, vermutet er in ihrer Aufforderung den Wunsch zu einem Liebesabenteuer. Er zeigt sich darüber zutiefst empört. Erst nach einer Weile klärt sich das Missverständnis auf. Daraufhin eilt Julius zu Ida und macht ihr Vorwürfe, weil sie ihn über den Beruf ihrer Tante in Unwissen gelassen habe. An dieser Stelle gesellt sich Salamon zu den beiden und gesteht ihnen, Eulalia im Hinblick auf seine Krankheiten getäuscht zu haben. In diesem Kontext erscheint seine Unehrlichkeit nicht mehr als hinterlistige Täuschung, sondern ähnlich Idas verstörender Verschwiegenheit als ein lässliches Fehlverhalten. Aus dem betrügerischen jüdischen Hausierer, als der Salamon zu Beginn des Stückes erscheint, wird eine Person mit menschlichen Schwächen, die mit Nichtjuden, im konkreten Fall mit Ida, vergleichbar ist. Salamons Jüdisch-Sein wird nirgendwo explizit angeschnitten und festgehalten. Da Religion im gesamten Stück überhaupt keine Rolle spielt, ist es lediglich aus seinem Namen und Beruf als wahrscheinlich ableitbar. Dabei handelt es sich aber um sehr unzuverlässige Kriterien. Auch wenn der Hausierberuf 68 Louis Taufstein, Ihr einziger Patient. In: Niederösterreichisches Landesarchiv (Theaterzensur), 17/11 (1903).

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

oftmals mit Juden assoziiert wird, übten ihn auch viele Nichtjuden aus. Und wie im Kommentar zum Stück „Familie Pschesina“ angeklungen ist, geben Namen allein keinen eindeutigen Hinweis auf jemandes ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit. Daneben wird Salamon auch als habgierig und hinterhältig beschrieben. Diese Eigenschaften fanden im zeitgenössischen antisemitischen Diskurs zwar häufig Verwendung, um Juden zu charakterisieren.69 Sie kommen aber gleichfalls nicht allein bei ihnen vor. Die Merkmale, an denen das JüdischSein festgemacht wird, haben somit eine inklusive Dimension, sie können auch Nichtjuden auszeichnen. Ob sie Jüdisch-Sein anzeigen, hängt vom Kontext ab, in dem eine solche Beschreibung stattfindet. Jüdisch-Sein besteht in „Ihr einziger Patient“ vornehmlich in einer Differenz, die inklusiv ist. Gegen Ende des Stücks, als Salamons Verhalten jenem von Nichtjuden, zumindest von Ida, vergleichbar wird, löst sie sich allerdings weitgehend auf. Die Unterscheidbarkeit von JüdischSein ist kaum mehr gegeben. Die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden werden noch unklarer und verschwommener. Nicht in allen Stücken ist das Jüdisch-Sein so unbestimmt wie in „Ihr einziger Patient“. In einigen Burlesken, die Juden verfassten und jüdische Ensembles aufführten, wird das Jüdisch-Sein der Protagonisten durch vermeintlich unveränderbare physische Eigenheiten angezeigt. Eine solche kommt im Stück „Im Heiratsbureaux“ zum Ausdruck, das die Gesellschaft S. Fischer im Jahr 1903 darbot.70 Dabei geht es, wie der Titel bereits verheißt, um eine Agentur zur Heiratsvermittlung. Dessen Inhaber, Herr Zimt, ist durch den Gebrauch einer Reihe jiddischer Begriffe, wie beispielsweise Chuzpejüngel, Schikse, geschmusst oder Ganef, als Jude erkennbar. Sein Angestellter, ein junger Mann namens Leiser, wird als lebenslustig dargestellt, der gerne raucht und die Bekanntschaft mit Nichtjüdinnen sucht. Eines Tages kommt eine Frau ins Büro, die Zimts Vermittlungsdienste in Anspruch nehmen möchte, um einen Bräutigam zu finden. Unglücklicherweise findet sie alle Kandidaten, die Zimt ihr vorschlägt, unattraktiv. Als Leiser im Gespräch der drei Personen ebenfalls den Wunsch zu heiraten äußert, wird er von Zimt ausgelacht. Er meint, dass Leiser aufgrund seiner großen Nase nie eine Braut fände. Die anwesende Kundin findet Leiser allerdings gerade deswegen sehr attraktiv. Letztlich geben sie einander ein Eheversprechen und planen, miteinander nach Amerika zu emigrieren. In „Im Heiratsbureaux“ wird die lange Nase, eine verbreitete Zuschreibung an Juden, ihrer stigmatisierenden Bedeutung enthoben und als ein Schönheitsmerkmal ausgelegt. Die Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung geht über 69 Henry Wassermann, Stereotype Darstellungen von Juden in der Karikatur. In: Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, ed. Günther B. Ginzel (Bielefeld: Verlag Wissenschaft und Politik 1991) 426. 70 Alfred Walters, Im Heiratsbureaux. In: NÖLA (Zensur), Kt. 17/9 (1903).

Die Gesellschaft Fischer

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eine simple Kritik an dem antijüdischen Vorurteil hinaus.71 Sie kann in Anlehnung an Homi Bhabha als ein Akt von mimicry umschrieben werden, wobei ein verbreitetes Bild von Juden von diesen angenommen, aufgrund dessen Verwendung in einem neuen Kontext aber umgedeutet wird.72 Dass eine bestimmte Nasenform, allerdings ohne ihre stigmatisierende Bedeutung, von jüdischen Autoren der Volkssängerstücke als ein Code für das Jüdisch-Sein der darin vorkommenden Figuren verwendet wurde, kommt auch in einer kurzen Parodie von Adolfi, dem Sohn von Albert Hirsch, zum Ausdruck. Darin erzählt er von einer Frau, die er ins Gänsehäufl, ein Wiener Strandbad, einlädt. Dort wird er seines Freundes Löbel gewahr, „[welcher hat] A Nasen, wie a Thonet-Möbel“.73 In einem anderen Stück, das von Josef Armin aus dem Jahr 1909 stammt, geht es um eine Gerichtsverhandlung, in der der Richter die ( jüdische) Angeklagte nach ihrer Religionszugehörigkeit fragt. Die Klägerin kommt der Antwort der Beschuldigten zuvor, indem sie auf deren Nasenform verweist.74 Die Nase hat in den angeführten Beispielen keine pejorative Bedeutung, wie sie in den zeitgenössischen antisemitischen Diskursen erkennbar ist. Der oftmalige Bezug auf die Nase durch jüdische Volkssänger dient eher dazu, ein antisemitisches Vorurteil zu entwerten, als es durch seinen Gebrauch zu stärken. Auch der Sohn von Salomon Fischer blieb dem Beruf seines Vaters treu. Emil Fischer gründete mit seiner Frau, die als Charlotte Kranz bei verschiedenen Gruppen tätig gewesen war, im Jahre 1903 ein eigenes Ensemble und trat in „Zum römischen Kaiser“ im Wiener Prater auf.75 Allerdings konnte er an die Erfolge seines Vaters nicht anschließen. Dazu trug sicher auch bei, dass im frühen 20. Jahrhundert die Blütephase des Volkssängergewerbes sowie der Singspielhallen bereits vorbei war. Wichtiger als diese wurden die Varietés und der Film.

71 Zum Vorurteil der jüdischen Nase siehe Sander Gilman, The Jew’s Body (New York: Routledge 1991) 169–193. 72 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Tübingen 2000) 25–50. 73 Adolfi Hirsch, Der ‚Dumme Kerl‘ im „Gänsehäufl“. In: NÖLA (Theaterzensur), 23/5 (1912), 5. 74 Josef Armin, Die Frau mit der Maske. Original-Posse in 1 Akt. (1909; 47 Seiten.) In: NÖLA (Zensurakten), Karton 29/6. Wie verankert die Vorstellung einer ‚jüdischen Nase‘ im zeitgenössischen Denken war, kommt in einer Zeichnung zum Ausdruck, mit der das Illustrirte Wiener Extrablatt im Jahr 1899 seinen Lesern einen Eindruck vom „Narrenabend des Wiener Männergesangsvereins“ vermitteln will. Unter den Maskierten befindet sich Heinrich Eisenbach (1870–1923), der von 1894 bis zum Ersten Weltkrieg als Leiter der Budapester Orpheumgesellschaft fungierte. Eisenbach, dessen Familie aus Galizien stammte, wird durch eine Hakennase deutlich erkennbar gemacht. Damit kann er sich trotz Verkleidung nicht verbergen. Auch wenn der Skizze im konkreten Fall wahrscheinlich kein antijüdisches Motiv zugrunde lag, konnte damit das notorische Stereotyp, dass Juden eine besondere Nasenform besäßen, gefestigt werden. 75 IWE 293 (25. 10. 1903) 16.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

Wie sehr vor allem das Varieté von den Volkssängern als Konkurrenz empfunden wurde, erkennt man am Umstand, dass sie ihr Programm immer häufiger im Sinne eines solchen gestalteten und sich Namen zulegten, die darauf hindeuteten. So ließ beispielsweise Salomon Fischer im Sommer 1904 im PraterOrpheum unter anderem Mister Marrion, Mister Raab und Roszika Galombosy auftreten. Ersterer wurde als „Stimmphänomen“ gepriesen, Raab war bekannt dafür, alleine ein ganzes Orchester imitieren zu können, und Galombosy wiederum war als eine sogenannte Transformations-Sängerin bekannt. Und erst nach diesen Vorstellungen gab es zwei theatralische Aufführungen mit einem Bezug zum Jüdischen: „Gutmann’s Erfolg“ von Josef Armin und „Der stille Compagnon“ von Louis Taufstein.76 Albert Hirsch wiederum hoffte 1899, mit der „cubanischen Negertänzerin Vera Corézé“ Publikum anzulocken.77 Im darauffolgenden Jahr ließ er seine Darstellungen als Varieté Hirsch annoncieren.78

2.5

Die Gesellschaften Hirsch und Kassina

Der mit Abstand wichtigste jüdische Volkssänger im Wien des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Albert Hirsch (1841–1927). Trotz seiner Bedeutung für das gesamte Volkssängergewerbe ist bisher kaum etwas über ihn geschrieben worden. Zumeist handelt es sich lediglich um Wiederholungen der Ausführungen von Josef Kollers Überblickswerk über das Wiener Volkssängertum aus dem Jahr 1931. Da Albert Hirsch im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Wesentlichen das gesamte dritte Kapitel gewidmet ist, beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen auf grundsätzliche Erwähnungen zu seinem Leben. Albert Hirsch wurde in Wien geboren und war schon früh als Schauspieler am Theater an der Wien, in der Josephstadt und unter den Tuchlauben tätig. Allerdings konnte er sich dabei nicht wirklich durchsetzen, weswegen er zum Volkssängerstand wechselte. Dabei verdingten er und seine Frau sich eine Zeitlang in der Singspielhalle Drexler, später in der Gesellschaft von Josefine Schmer. Hirsch machte sich schon recht früh selbstständig und gründete mit seiner Familie eine Truppe. Sein Sohn Adolph, der lediglich unter dem Namen Adolfi bekannt war und seine musikalische Ausbildung unter anderem bei Anton Bruckner absolvierte, war für die musikalische Unterhaltung zuständig.79 Hirschs Frau, ebenfalls eine ehemalige Schauspielerin, seine Töchter und Albert Hirsch selbst traten in 76 77 78 79

IWE 181 (1. 7. 1904) 15. IWE 49 (18. 2. 1899) 8. IWE 5 (6. 1. 1900) 16. Österreichisches Musiklexikon (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften): http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_H/Hirsch_Familie_2.xml

Die Gesellschaften Hirsch und Kassina

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verschiedenen Rollen auf. Später engagierte er auch bekannte Volkssänger wie das Ehepaar Armin, Karl Noisser und Josef Müller.80 An Hirsch ist der Umstand interessant, dass sich zwischen dem Jüdisch-Sein, wie es in seinen Stücken dargestellt wird, und seinem eigenen jüdischen Bewusstsein, das er in verschiedenen Handlungen zum Ausdruck brachte, Parallelen nachzeichnen lassen. Religion spielte dabei keine Rolle, sehr wohl aber eine performativ zum Ausdruck gebrachte Differenz zu Nichtjuden. Auch wenn sich diese Form des jüdischen Selbstverständnisses bei anderen Volkssängern zumindest ansatzweise ebenfalls beobachten lässt, kann sie bei Hirsch konkret dargestellt werden (siehe drittes Kapitel). Im Anklang an das vorherige Kapitel lässt sich festhalten, dass Hirsch jene Juden in Wien repräsentiert, deren Erfahrungen und Selbstbewusstsein nicht mit dem Begriff der Akkulturation zu beschreiben sind. Die Vernachlässigung von Religion kommt auch in dem von ihm selbst verfassten Stück „Ringkämpfer in der Koscher-Restauration“ zum Ausdruck. Darin geht es um einen Gastbetrieb, der unter einem schmerzhaften Gästemangel leidet.81 Die Wirtsleute, Salme und Jentl, führen ihn auf deren koscheres Speiseangebot zurück. Selbst Juden, so klagen sie, mieden das Restaurant, weil sie ihre Liebe für Schweinefleisch entdeckt hätten. Um die Geschäftsflaute zu beheben, wollen sie die Gäste durch ein Unterhaltungsprogramm anlocken. Sie denken dabei an eine Art Varieté. Allerdings können sie sich zu keinen konkreten Organisationsschritten durchringen. Die Ehe von Salme und Jentel erscheint zerrüttet. Jentel bedauert, ihn geheiratet zu haben. Eng verbunden mit der Geschäftslage des Gasthofes sind die Zukunftspläne von deren Tochter Malvine. Moriz, der Kellner des Betriebes, will sie heiraten, aber Salme ist dagegen, weil Moriz zu wenig verdient, um eine Familie erhalten zu können. Moriz schlägt vor, einen Ringkampf im Gasthaus zu veranstalten. Diese Attraktion würde zu einem Gästeanstieg führen und seinen Verdienst steigern. Zuvor möchte er allerdings das Versprechen von Salme, dann auch seine Tochter heiraten zu dürfen. Salme willigt ein und bestätigt Moriz die Abmachung sogar schriftlich. In der Folge wird der Ringkampf groß angekündigt, und tatsächlich kommen Gäste. Allerdings verlassen sie das Restaurant gleich wieder, weil es kein Schweinefleisch zu bestellen gibt. Die von Moriz vorgeschlagene Organisation des Ringkampfes erweist sich als List, um Malvine zur Frau zu bekommen. Statt international berühmte Ringkämpfer einzuladen, tritt Moriz selbst mit einem weiteren Angestellten des Gastbetriebes auf.

80 Koller, Volkssängertum 131. 81 Albert Hirsch, Ringkämpfer in der Koscher-Restauration. In: NÖLA (Zensur), Kt. 21/17 (1900).

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In „Ringkämpfer in der Koscher-Restauration“ werden Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden, wie sie durch die Einhaltung von Speisegesetzen errichtet werden, kritisiert. Sie entfremden nicht nur Juden von Nichtjuden, sondern auch der Kontakt von Juden untereinander, wie am Ausbleiben selbst jüdischer Gäste angedeutet wird, leidet darunter. Ein Gasthof mit einem Unterhaltungsangebot, grundsätzlich ein emblematischer Ort für jüdisch-nichtjüdische Interaktionen, vertreibt demnach aufgrund der Befolgung eines religiösen Gebots seine Gäste. Dieser Hinweis könnte als Mahnung gedeutet werden, dass Religion im populärkulturellen Volkssängerwesen keinen Platz haben darf. Die religiöse Dimension von Jüdisch-Sein, die in den allermeisten Volkssängerstücken überhaupt nicht zur Sprache kommt, wird in „Ringkämpfer in der Koscher-Restauration“ thematisiert, um verworfen zu werden. Eine religiöse Haltung wird als überkommen und für das alltägliche Leben abträglich dargestellt. Jeglicher Hinweis auf eine andere, ‚adäquatere‘ Form von Jüdisch-Sein unterbleibt jedoch. Es soll, so könnte daraus gefolgert werden, am besten gar keine Rolle spielen. Albert Hirschs Tochter Anna heiratete Karl Kassina (1863–1909), der zuvor bei der Gesellschaft Hirsch angestellt war und im Dezember 1901 eine Konzession als Singspielhallendirektor erhielt.82 Auch als Anna und Karl Kassina ihre eigene Truppe betrieben, blieben die beruflichen und persönlichen Banden zwischen den beiden Gesellschaften eng. Wenn die allgemeine Nachfrage nach Volkssängeraufführungen nachließ, wurde eine der beiden Truppen aufgelassen, und die Familie Hirsch fand ein Engagement bei Kassinas Ensemble oder umgekehrt. Gleichzeitig gab es auch einen regen Austausch zwischen den Mitgliedern der beiden Gruppen. Interessant ist, dass das Stammlokal von Kassinas Ensemble Neufellner’s Restauration am Lerchenfelder Gürtel im XVI Bezirk war, dessen Anteil an Juden an der Bevölkerung lediglich bei rund zwei Prozent lag. Daraus lässt sich schließen, dass die Vorführungen der Truppe auch viele Nichtjuden anlockte.

2.6

Die Budapester Orpheumgesellschaft

Die Budapester Orpheumgesellschaft war wohl das bekannteste jüdische Volkssängerensemble in Wien. Da ihr bereits eine Monographie und viele Abhandlungen gewidmet worden sind, wird sie im vorliegenden Text nur kurz angerissen.83 82 IWE 353 (24. 12. 1901) 9. 83 Zur wichtigen Monographie siehe Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919 (Wien: Verlag Holzhausen 2002).

Die Budapester Orpheumgesellschaft

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Die Bezeichnung Budapest hatte einerseits mit dem Wirkungsort der einzelnen Gruppenmitglieder vor der Gründung der Truppe zu tun, die, obwohl zumeist Wiener, größtenteils in Ungarns Hauptstadt tätig waren. Der Grund dafür liegt in der Rolle Budapests als zentraleuropäisches Zentrum der jüdischen Jargonkomik, wo die Unterhaltungsszene viel umfassender und lebendiger als in Wien war.84 Zudem wurden die Aufführungen in den großen Singspielhallen, die weitgehend von jüdischen Impresarios geleitet wurden, in deutscher Sprache abgehalten, sodass die Sprachbarriere für Wiener Unterhaltungskünstler wegfiel. Im Frühjahr 1889 soll Matthias Bernhard Lautzky (1819–1901), ein Inhaber einer Singspielhallenkonzession, nach Budapest gefahren sein, um Volkssänger für den Aufbau einer eigenen Gruppe in Wien zu finden.85 Er wurde sehr rasch fündig. Zusammen mit Josef Modl (1863–1915), ebenso ein bekannter Volkssänger, rief er die Budapester Orpheumgesellschaft ins Leben.86 Modl übernahm die künstlerische Leitung. An diesem Gründungsakt ist hervorzuheben, dass Lautzky nicht jüdisch war. Dessen Kooperation mit Modl bei der Etablierung einer der wichtigsten und bekanntesten Unterhaltungsgruppen Wiens kann somit als ein herausragendes Beispiel für die gemeinsame jüdische und nichtjüdische Gestaltung populärkultureller Unterhaltungsformen in der Habsburgermetropole dienen. Als Aufführungsort der Budapester Orpheumgesellschaft wurde fürs erste das Hotel Zum Schwarzen Adler in der Taborstraße 11 gewählt. Die Stücke der Budapester Orpheumgesellschaft wurden zum Inbegriff der Jargonkomik. Im Gegensatz zu vielen anderen Singspielhallen wurde das Ensemble nur bedingt mit der abwertend verstandenen Populärkultur assoziiert, sondern konnte auch Intellektuelle und Personen aus den gehobenen Gesellschaftsschichten zu ihren Besuchern zählen. Durch ihr attraktives Programm, das äußerst humoristisch und zuweilen auch zeitkritisch war, fand die Budapester Orpheumgesellschaft Eingang in literarische Werke und wurde damit Bestandteil des Kollektivgedächtnisses.87 Von Karl Kraus wurde sie, wenn auch nicht ganz ernsthaft, sogar mit dem Burgtheater verglichen.88 Auf jeden Fall gibt es kein anderes Ensemble, das im Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert so

84 Gluck, Budapest 141. 85 Wacks, Budapester Orpheumgesellschaft 6. 86 Josef Modl wurde in Wien geboren und erhielt 1884 ein Engagement in Drexler’s Singspielhalle. Er verbrachte lange Zeit seines tätigen Lebens in Budapest. In Wien war er vor allem bei der Budapester Orpheumgesellschaft und am Ronacher aktiv. Siehe Koller, Volkssängertum 166–167. 87 Simon Usaty, O Tempora O Zores. Der österreichische Kabarettist Armin Berg (= geisteswiss. Diss., Wien 2008) 5. 88 Dietmar Krug, Was die Österreicher und die Deutschen trennt. In: Die Presse (17. 11. 2012): http://diepresse.com/home/meinung/diesedeutschen/1313957/Was-die-Osterreicher-unddie-Deutschen-trennt (3. 9. 2016)

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

sehr die sogenannte jüdische Unterhaltung versinnbildlichte wie die Budapester Orpheumgesellschaft. Ihr wahrscheinlich wichtigstes und bekanntestes Stück stellte „Die Klabriaspartie“ dar. Es wurde vom bereits erwähnten Antal Oroszi (Caprice) 1889 verfasst und im selben Jahr in Budapest aufgeführt. Ein Jahr später erschien eine etwas veränderte Fassung aus der Feder von Adolf Bergmann in Wien.89 (Siehe drittes Kapitel.) „Die Klabriaspartie“ wurde an die eintausend Male aufgeführt. Sie handelt von einem Kartenspiel in einem Kaffeehaus, an dem die Juden Prokop Janitschek, Simon Dalles und Jonas Reis sowie der ‚Böhm‘ Kiebitz Dowidl beteiligt sind. Der Kellner Moritz stellt eine weitere Figur der Aufführung dar. Das Stück wird allein durch spitzfindige Pointen und humorvolle Aussagen getragen, es gibt keinen erkennbaren Handlungsablauf.90 Und trotzdem setzt es sich wie kaum eine andere Vorstellung mit der Frage, was Jüdisch-Sein ausmache, auseinander. Es verwirft alle Versuche, Jüdisch-Sein in einer nachvollziehbaren Weise zu definieren. Jüdisch-Sein hat, wie daraus geschlossen werden kann, keinen empirischen Inhalt.91 Die Aussage von „Die Klabriaspartie“ ist ähnlich jener anderer Volkssängerstücke, die auf den vorangegangenen Seiten bereits behandelt wurden: Es gibt keine vorgegebenen Kriterien zur Bestimmung von Jüdisch-Sein, sondern es ist lediglich kontextuell verhandelbar.

2.7

Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen

Die bisherigen Ausführungen haben sich mit Volkssängerensembles beschäftigt, die gemeinhin als jüdisch galten und noch immer als solche angesehen werden. Diese Kategorisierung scheint insofern berechtigt zu sein, als die Gruppen mehrheitlich aus jüdischen Mitgliedern bestanden, wenn deren ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit in Betracht gezogen wird. Zudem führten sie Stücke auf, die zwar nicht immer, aber häufig in einem jüdischen Milieu angesiedelt sind oder ein jüdisches Thema behandeln. In Anbetracht des Umstandes, dass die Akteure, die bei sogenannten jüdischen Ensembles angestellt waren, zumeist von ebensolchen wieder engagiert wurden, wenn sie einen neuen Arbeitgeber suchten, ließe sich wahrscheinlich sogar von einem jüdischen Volkssängermilieu sprechen. Als Beispiele für Schauspieler, die zwischen verschiedenen jüdischen Gruppen wechselten, können Karl Noisser und Mizzi Symer genannt werden. Während Noisser bei der Gesellschaft Hirsch, der Gesellschaft 89 Gluck, Budapest 168–170. 90 Wacks, Orpheumgesellschaft 56–57. 91 Gluck, Budapest 170.

Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen

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Kassina und der Lemberger Singspiel-Gesellschaft spielte, trat seine Kollegin mit der Gesellschaft Hirsch, der Gruppe von Karl Kassina, der Gesellschaft S. Fischer oder auch den Folies Caprice auf. Karl und Anna Kassina, um einen weiteren Beleg anzuführen, waren nicht nur Mitglieder von Albert Hirschs Ensemble, sondern wurden im Juni 1903 kurzzeitig auch von der Gesellschaft S. Fischer engagiert.92 Armin Berg (1883–1956) war ebenso bei Fischer angestellt, im Weiteren beim Budapester Varieté, einer Abspaltung von der Budapester Orpheumgesellschaft, bei dieser selbst und auch anderen sogenannten jüdischen Ensembles.93 Die jüdischen Volkssänger(gruppen) waren demnach eng miteinander vernetzt und schufen dadurch ein Umfeld, das Nichtjuden zwar nicht ausschloss, aber bis zu einem gewissen Maße doch als eigenständig wahrgenommen werden konnte. Das schlug sich auch in Benefizveranstaltungen für den einen oder anderen ihrer Akteure nieder. Die teilnehmenden Kollegen und Kolleginnen waren zumeist Juden, mit denen der Jubilar in der Vergangenheit bei den verschiedenen ( jüdischen) Gruppen gespielt hatte. Nichtjuden waren weitgehend abwesend, gleich wie bei anderen Jubiläumsfeiern Juden häufig fehlten.94 Nichtsdestotrotz wäre es falsch, daraus eine scharfe Kontrastierung der Wiener Volkssängerszene in einen jüdischen und einen nichtjüdischen Part abzuleiten. Es gab nämlich auch vielgestaltige Überlappungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen. Deren Zusammensetzung änderte sich häufig und rasch, und ehemals nichtjüdische Ensembles konnten von einem Tag auf den anderen einen jüdischen Direktor und/oder jüdische Mitglieder erhalten. Ein Beispiel dafür bildet das Gartenbau-Restaurant mit seinen Varieté-Vorstellungen. Zu Beginn des Jahres 1901 war dort das bereits erwähnte Ehepaar Käthe und Joseph Armin angestellt. Im Weiteren wurde Martin Schenk engagiert, der, obwohl selbst nicht jüdisch, zuvor bei der Budapester-Orpheumgesellschaft gespielt hatte.95 Auch der für seine Jargon-Lieder bekannte Joseph Müller verdiente eine Zeitlang sein Brot beim Gartenbau-Varieté.96 Es zeigt somit die enge Kooperation, die es in der Wiener Populärkultur zwischen Juden und Nichtjuden gab, exemplarisch auf. Auf ähnliche Verquickungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen verweisen auch deren Darbietungen. Sogenannte jüdische Stücke wurden immer wieder von Truppen gespielt, die nur wenige oder keine jüdischen Akteure in ihren Reihen hatten. Diese Ensembles ersetzten bisweilen Vorstellungen zum Alpenländisch-Volkstümlichen durch jüdische Burlesken oder nahmen diese zusätzlich ins Programm auf. Dies tat neben anderen Ensembles die 92 93 94 95 96

IWE 145 (2. 6. 1903) 8. Usaty, Tempora. Siehe beispielsweise IWE 92 (4. 4. 1900) 7. IWE 278 (10. 10. 1901) 18. IWE 1 (1. 1. 1902) 8.

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

Singspielhalle Mannsfeld, die sich im Wiedener Variété im IV. Bezirk eingemietet hatte. Im Mai 1904 stellte dort noch das „Komödien-Ensemble Blümel“ die große Attraktion dar.97 Anfang Oktober brachte sie sodann „Illustrirte Blätter“ von Joseph Armin.98 Es handelt sich dabei um eine jüdische Posse, die auch von der Gesellschaft Fischer oder den Folies Caprice gespielt wurde.99 Bereits zwei Jahre zuvor hatte das Wiedener Variété ein Stück dargeboten, das es von der Budapester Orpheumgesellschaft übernommen hatte.100 Mitte Oktober 1904 wurde sodann „Eine feine Gesellschaft“ von Louis Taufstein aufgeführt.101 Dessen Stücke standen auch auf dem Programm des erwähnten Gartenbau-Restaurants, das immer wieder Possen und Singspiele jüdischen Inhalts darbot. In diesem Zusammenhang ist der stark beworbene Auftritt von Adolf Wollner zu erwähnen, der den Schlager „Worüm war der klane Kohn nix zu finden?“ von Eugen Joessel sang.102 Aber das alles machte die Singspielhalle Mannsfeld, das Gartenbau-Restaurant oder andere Einrichtungen zu keinen jüdischen Etablissements. Vielmehr positionierten sie sich in einem Zwischenraum, dessen Vorkommen klare Markierungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Ensembles unmöglich macht. Aus diesen Hinweisen wird deutlich, dass die Grenzlinien zwischen jüdischen und nichtjüdischen Volkssängergruppen unklar und verschwommen waren. Das sollte aber nicht überraschen. Stattdessen muss die Sinnhaftigkeit, nach einer klaren Unterscheidung zwischen jüdischen wie auch nichtjüdischen Ensembles zu suchen, hinterfragt werden. Oftmals fußt ein solches Vorgehen auf einem Denken in binären Kategorien, das sich in der Folge schwertut, Überlappungen zu entdecken. Bisweilen ist die Kontrastierung von jüdisch und nichtjüdisch auch bestimmten Publikationsmotiven geschuldet. Eine Veröffentlichung zum Thema des jüdischen populärkulturellen Entertainment wird kaum den Erwartungen, die in den Text gesetzt werden, gerecht, wenn darin behauptet wird, dass eine solche nicht ausgemacht werden könne, weil die Definition von jüdisch zu unbestimmt sei.103 97 98 99 100 101 102 103

IWE 123 (3. 5. 1904) 16. IWE 272 (1. 10. 1904) 10. IWE 283 (12. 10. 1904) 15 & 342 (13. 12. 1903) 43. Das Variété 2 (15. 10. 1902) o. S. IWE 283 (12. 10. 1904) 15. Das Variété 5 (16. 11. 1902) o. S. In diesem Sinne kann auf einen Begleitband zu einer Ausstellung des Jüdisches Museum Wien verwiesen werden, die 2016 unter dem Titel „Wege ins Vergnügen. Unterhaltung zwischen Prater und Stadt“ stattfand. Dabei ging es um sogenannte jüdische Vergnügungsorte und Unterhaltungskünstler im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Begleitband zur Ausstellung heißt es beispielsweise über die Budapester Orpheumgesellschaft, dass sie „eine Gruppe jüdischer Schauspielerinnen und Schauspieler“ gewesen sei. (Brigitte Dalinger, Jüdisches und Jiddisches. In: Wege ins Vergnügen. Unterhaltung zwischen Prater und Stadt, hg. v. Brigitte Dalinger, Werner Hanak-Lettner, Lisa Noggler (Wien: Metropol-

Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen

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Das Etablissement Apollo und das Danzer’s Orpheum Die vielgestaltigen Verflechtungen, die es zwischen jüdischen und nichtjüdischen Volkssängerensembles gab, machen es jedenfalls einigermaßen schwierig, einzelne von ihnen als jüdisch zu deklarieren. Gänzlich unmöglich ist eine solche Klassifizierung bei einem Varieté. Der Umstand, dass es einzelne Jargonstücke spielte und/oder dessen Direktor sich zum Judentum bekannte, reicht dafür nicht aus. Sonst müsste auch das Ronacher im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als jüdische Institution gegolten haben, weil Josef Modl dort auftrat. Das Problem der Kategorisierung erweist sich vor allem im Hinblick auf das Etablissement Apollo sowie Danzer’s Orpheum, die beide von Juden geleitet wurden. Das Apollo wurde im September 1904 eröffnet. Die Direktion übernahm Ben Tieber (1867–1925), der im unweit von Wien gelegenen Bratislava geboren wurde.104 Er ging schon in jungen Jahren nach Amerika und soll in New York und anderen Städten mit der Leitung von Varietés betraut gewesen sein. Ähnliches mag auch in Südafrika der Fall gewesen sein, obwohl die Belege dafür nicht sehr aussagekräftig sind.105 Im Rahmen seiner Auslandserfahrungen erwarb sich Tieber kaufmännische Fertigkeiten, die er nach seiner Rückkehr nach Wien sehr gut gebrauchen konnte. Dort stand er zunächst dem Colosseum vor, bevor er 1904 das Apollo übernahm und es bis 1923 führte. Krankheitsbedingt musste er es zu diesem Zeitpunkt verpachten.106 Mit seinem unternehmerischen Geschick gelang es ihm innerhalb kurzer Zeit, genügend Vermögen einzuspielen, um das Apollo ein Jahr nach seiner Übernahme mittels Pachtvertrages ganz zu erwerben. Mit einem ansprechenden Programm, das nicht nur international beachtete Inszenierungen nach Wien holte, sondern sich auch seiner Originalaufführungen rühmte, konnte Tieber alsbald dem Ronacher den Rang als bedeutendste Vergnügungseinrichtung ablaufen.107 Dabei halfen ihm Auftritte von leicht

104 105 106 107

verlag 2016) 29.) Diese Charakterisierung mag zwar in eine Veröffentlichung passen, die jüdischem Leben gewidmet ist. Nichtsdestotrotz ist sie falsch. Zugegebenermaßen war die Mehrheit der Ensemblemitglieder der Budapester Orpheumgesellschaft jüdisch, aber es gab auch nichtjüdische Akteure. Und, so lässt sich noch hinzufügen, nicht jedes einzelne Couplet, das vorgetragen wurde, jede Posse, die aufgeführt wurde, behandelte ein jüdisches Thema, auch wenn das oftmals der Fall war. Andere Quellen geben seinen Geburtsort mit „irgendwo in Galizien oder in der Bukowina“ an: Siehe Rudolf Oesterreicher, Ein großer Mann und seine kleinen Schwächen. In: Festschrift der Apollo Kino- und Theater-Ges. M. B. H. (Wien 1954) 18. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1850, Band 14 (Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2014) 338–339. Sabine Claudia Tanner, Vom Varieté zum Kino. Die Baugeschichte des Wiener „Apollo“Varietés von 1903–1929 (Saarbrücken: Verlag Dr. Müller 2009) 24–25. Tanner, Varieté 26.

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bekleideten Tänzerinnen, weshalb Tieber auch „Nudistenspezialist“ genannt wurde.108 Ben Tieber war stetig darauf bedacht, dem Publikum neue Attraktionen zu bieten. Dafür reiste er oft ins Ausland. 1905 absentierte er sich beispielsweise über mehrere Monate, um in Deutschland, Frankreich und England fündig zu werden.109 Der Erfolg sollte ihm jedoch nicht treu bleiben. Mit der Zeit überlebte sich die Einrichtung eines Varietés. Ben Tieber sah sich in der Folge gezwungen, das Apollo in ein reines Theater umzuwandeln. Die dafür notwendige Genehmigung erlangte er aufgrund der ihm oftmals zugeschriebenen Beharrlichkeit, mit der er seine Ansuchen stellte. Gabor Steiner schien geahnt zu haben, dass die goldenen Jahre der Singspielhalle und des Varietés vorbei waren beziehungsweise nicht mehr lange dauern würden, als er im Mai 1900 Danzer’s Orpheum von Franz Kriebaum übernahm.110 Auch der Konkurs seines Vorgängers mag ihm als Mahnung gedient haben.111 Deswegen wollte Gabor Steiner Danzer’s Orpheum in ein „Boulevardtheater“ umwandeln, in dem er „echte Kunst mit dem internationalen Artistenthum vereinigen“ könnte.112 Unter „echter Kunst“ verstand er die Operette und bürgerliches Theater. Gabor Steiner (1858–1944) wurde im damals zur ungarischen Reichshälfte gehörenden Temesvár geboren. Er entstammte einer Familie, die im Theatergeschäft fest verankert war. Sein Vater, Maximilian Steiner (1830–1880), spielte selbst auf der Bühne, bevor er 1869 die künstlerische Leitung und ab 1873 die alleinige Direktion des Theater an der Wien übernahm. Unter seiner Führung wurde der Operettenkomponist Carl Millöcker (1844–1899) zum Theaterkapellmeister bestellt. Später holte er auch Johann Strauß [Sohn] (1825–1899) ans Theater.113 Nach dem Tod von Maximilian übernahm sein ältester Sohn Franz Steiner (1855–1920) das Theater an der Wien und, einige Jahre später, auch das Carltheater in der Praterstraße, wo Gabor Steiner als Regisseur und artistischer Leiter tätig war. Bekanntheit erlangte dieser vor allem als Leiter von Venedig in Wien im Wiener Prater, das einen Nachbau von Teilen der Lagunenstadt mit ihren Kanälen und Gondeln darstellte.114 108 Birgit Peter, Schaulust und Vergnügen. Zirkus, Varieté und Revue im Wien der Ersten Republik (geisteswiss. Diss., Wien 2001) 100. 109 IWE 241 (1. 9. 1905) 7. 110 IWE 132 (15. 5. 1900) 6. 111 Kriebaum hatte vor allem unter der Konkurrenz des Colosseums zu leiden, das zu dieser Zeit unter der Direktion von Ben Tieber stand. 112 IWE 133 (16. 5. 1900) 5 & 274 (6. 10. 1901) 3. 113 Norbert Rubey, Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende (Wien: Verlag Carl Ueberreuter 1996) 10–15. 114 Rubey, Venedig 39–161.

Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen

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Venedig in Wien war in seiner Anfangszeit die mit Abstand wichtigste Vergnügungseinrichtung in Wien. Sie lockte an manchen Tagen bis zu 20.000 Menschen an. Gabor Steiner konnte sich damit als Impresario einen Namen machen. Danzer’s Orpheum war als Ausweichquartier für die theatralen Veranstaltungen von Venedig in Wien während der Wintermonate vorgesehen. Von 1909 bis 1912 fungierte Gabor Steiner auch als Direktor des Ronacher. Sein Sohn Max (1888–1971) war in den USA als Filmkomponist tätig. Er schrieb unter anderem die Musik zu den Filmklassikern Vom Winde verweht (1939) und Casablanca (1943).115 Die Eröffnungsveranstaltung von Danzer’s Orpheum Ende Oktober 1900 gestalteten die Reckturner Brothers O’Brien, die Tänzerin La Sylphe, die Excentriques Smith and Cook und weitere internationale Stars des Varietés.116 Das Apollo zeigte anlässlich seiner ersten Vorstellung am 2. September 1904 die Soubrette Adele Moraw, das „Mulattengigerlpaar“ Johnson & Dean, den Jongleur Everhardt, die Wiener Turntruppe Patty Frank, ein Biotophon, womit „singende, sprechende und musizierende Photographien“ gemeint sind, und andere Attraktionen.117 An dieser bunten Programmgestaltung wird noch einmal deutlich, wie schwierig beziehungsweise unmöglich es ist, das Apollo und Danzer’s Orpheum oder auch eine Reihe anderer Singspielhallen, die es zu dieser Zeit in Wien gab, als Beispiele einer sogenannten jüdischen Vergnügungsindustrie zu bezeichnen. Der Umstand, dass sowohl Ben Tieber als auch Gabor Steiner aus dem Judentum austraten, veranschaulicht die Problematik der Kategorisierung noch zusätzlich. Dadurch stellt sich die Frage, ob sie überhaupt als jüdische Impresarios bezeichnet werden können. In manchen Publikationen werden Fragen, ob Konvertiten noch als Juden gelten, elegant umgangen, indem man auf deren ‚Abstammung‘ zurückgreift.118 Dabei spielt nicht nur das religiöse Bekenntnis keine Rolle mehr, sondern auch eine etwaige Ablehnung von Judentum durch die untersuchten Personen kann ignoriert werden. Diese Herangehensweise findet im vorliegenden Text allerdings keinen Platz.119 Deswegen wird die Frage, ob Ben Tieber und Gabor Steiner überhaupt als Beispiele jüdischer Unternehmer in der

115 Rubey, Venedig 37. 116 IWE 299 (31. 10. 1900) 6. 117 Josef Zak, Fünfzig Jahre „Apollo“ – Ein Rückblick. In: In: Festschrift der Apollo Kino- und Theater-Ges. M. B. H. (Wien 1954) 12. 118 Steven Beller, The Influence of Jewish Immigration. In: Migration und Innovation um 1900. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, hg. v. Elisabeth Röhrlich (Wien: Böhlau Verlag 2016) 194. 119 Susan Glenn kritisiert die Bezugnahme auf Herkunft und Abstammung als „blood logic“. Siehe Susan A. Glenn, In the Blood? Consent, Descent, and the Ironies of Jewish Identity. In: Jewish Social Studies 8:2 (2002) 139–152.

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Wiener Vergnügungsindustrie genannt werden können, mit anderen Ansätzen zu beantworten versucht.

Das Kriterium der jüdischen Differenz Im Folgenden werden zwei Merkmale angeführt, nach welchen Ben Tieber und Gabor Steiner auch ohne Bezugnahme auf ihren religiösen Status als Juden betrachtet werden können. Die beiden Kennzeichen können unter den Begriff der ‚jüdischen Differenz‘ subsumiert werden. Damit ist im vorliegenden Text gemeint, dass sie Juden von Nichtjuden unterscheiden. Die Charakteristika sind kontextabhängig und werden zumeist performativ zum Ausdruck gebracht.120 Der erste Aspekt betrifft die Religionswahl der beiden Konvertiten. Gabor Steiner heiratete im Jahr 1887 eine ehemalige Katholikin, die zuvor zum Judentum übergetreten war. Dass er selbst dem jüdischen Glauben treu blieb und nicht den Rücken kehrte oder sich auf eine Ziviltrauung verständigte, lässt darauf schließen, dass er ein jüdisches Bewusstsein besaß. Sechs Jahre später traten jedoch sowohl Gabor Steiner als auch seine Frau aus dem Judentum aus und nahmen den evangelischen Glauben an.121 Das Motiv dafür ist unbekannt, es könnte in beruflichen Überlegungen zu finden sein. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass im Jahre 1900 der Wiener Tiergarten Konkurs anmelden musste, weil er keine öffentlichen Subventionen erhielt. Ein wahrscheinliches Motiv für die Weigerung der Wiener Stadtregierung unter der Leitung von Karl Lueger, dem finanziell strauchelnden Unternehmen unter die Arme zu greifen, dürfte Antisemitismus gewesen sein. Der provisorische Leiter der Einrichtung, die eine große Attraktion in Wien darstellte und zu deren Schaustellungen indigener Völkerschaften Zehntausende Menschen strömten, war Richard Goldmann, ein Jude.122 In diesem Klima konnte es Gabor Steiner durchaus angezeigt erscheinen, seine Zugehörigkeit zum Judentum offiziell aufzugeben, um dadurch vielleicht auch antisemitisch gesinnte Personen zu seinen Veranstaltungen zu lotsen, die ansonsten ferngeblieben wären. Dass Bürgermeister Karl Lueger Venedig in Wien häufig besuchte, war bekannt.123 Eine Antwort auf die Frage, ob er dies unterlassen hätte, wenn Steiner jüdisch geblieben wäre, ist reine Spekulation.

120 Zum Begriff der jüdischen Differenz, allerdings anders verstanden, siehe auch Lisa Silverman, Reconsidering the Margins: Jewishness as an Analytical Framework. In: Journal of Modern Jewish Studies 8:1 (2009) 103–120. 121 Rubey, Venedig 25. 122 Werner Michael Schwarz, Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung „exotischer“ Menschen, Wien 1870–1910 (Wien: Turia + Kant 2001) 167. 123 Rubey, Venedig 34–35.

Grenzziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gruppen

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Jedenfalls dürfte Steiner der Austritt aus der jüdischen Gemeinde im Hinblick auf seine beruflichen Ambitionen nicht geschadet haben. Ben Tieber wiederum verabschiedete sich 1898 vom Judentum und ließ sich im Jänner 1899 evangelisch taufen. Sein Schritt dürfte stärker als jener Steiners einer Überzeugungshaltung geschuldet gewesen sein. Es gibt Hinweise, dass er sich einigermaßen mit dem Protestantismus identifizierte. Dies brachte er beispielsweise zum Ausdruck, indem er für das evangelische Schulwesen spendete.124 In diesem Sinne ist interessant, dass sowohl Ben Tieber als auch Gabor Steiner zum Protestantismus übertraten, der in Österreich eine Minderheitenreligion darstellte. Nur etwas mehr als fünf Prozent der Bevölkerung bekannten sich zu ihm. Trotzdem optierte ein Viertel der Juden, die konvertierten, für den evangelischen Glauben. Rund die Hälfte schloss sich dem Katholizismus an, und ein weiteres Viertel wählte die Konfessionslosigkeit.125 Es mag durchaus sein, dass diese Entscheidung mit bestimmten kulturellen Ähnlichkeiten des Protestantismus mit der Weltsicht des Bürgertums zu tun hatte, dem ein gewichtiger Teil der Juden angehörte.126 Was in dieser Konversionswahl aber ebenfalls zum Ausdruck gekommen sein dürfte, das ist der Unwille, sich jener Religion anzuschließen, die für das geistige Klima in Österreich hauptverantwortlich war, in dem Juden als Juden große Nachteile in Kauf nehmen mussten.127 Unter diesem Gesichtspunkt tat sich in der Konversion zum Protestantismus eine Haltung kund, die auf eine Form jüdischen Selbstverständnisses verweist und eine Differenz zwischen Juden und Nichtjuden in Wien um 1900 zum Ausdruck bringt. Der zweite Aspekt der ‚jüdischen Differenz‘ bei Gabor Steiner und Ben Tieber betrifft deren Fokus auf Internationalität. Damit hoben sie sich deutlich von einem großen Teil des populären Unterhaltungssektors in Wien um 1900 ab. Dieser war in starkem Maße von den Volkssängern geprägt, auch wenn diesen durch die Singspielhallen bereits eine fühlbare Konkurrenz erwuchs. Die Volkssänger waren eng mit dem Topos von Alt-Wien verbunden und besangen eine Kultur, bei deren Konstruktion das lokale Element hervorgehoben wurde. Eine Folge davon war eine offene Fremdenfeindlichkeit (siehe drittes Kapitel). Selbst wenn Juden an dieser Volkssängertradition teilhatten, dürfte sie unter manchen von ihnen ein Unbehagen hervorgerufen haben. Die Bemühungen, eine Kultur zu konstruieren, die eng mit Wien assoziiert wurde und die man gegenüber sogenannten fremden Einflüssen abzuschotten versuchte, konnten rasch in 124 Astrid Schweighofer, Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900 (München: de Gruyter 2015) 359. 125 Rozenblit, Juden 148. 126 Schweighofer, Sucher 57–63. 127 Pollak, Michael, Innovation und soziale Identität im Wien des Fin de Siècle. In: Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, ed. Gerhard Botz, Ivar Oxaal, Michael Pollak (Buchloe 1990) 91.

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den Versuch münden, auch Juden die Zugehörigkeit zu ihr abzusprechen. Ein Beispiel dafür ist zu Beginn des ersten Kapitels bereits aufgezeigt worden. Darin mag einer der Gründe gelegen haben, dass die großen Varietés der Stadt, die mit ihren internationalen Darbietungen ein kulturelles Gegenbild zum lokalen Kult um Alt-Wien entwarfen, zumindest teilweise von Juden betrieben oder finanziert wurden.128 Ein Blick auf die Wiener Einrichtungen kann dies veranschaulichen. Zu den wichtigsten Etablissements, die um die Jahrhundertwende die Vergnügungsindustrie prägten, zählten das Gschwandner, das Prater-Variété, Brady’s Wintergarten, Weigl’s Variété, das Ronacher, Colosseum, Apollo-Theater, Danzer’s Orpheum und das Budapester Orpheum.129 Die fünf letztgenannten Einrichtungen waren wahrscheinlich die beliebtesten und bekanntesten Unterhaltungsstätten in der Habsburgermetropole. In diesem Zusammenhang ist es einigermaßen bemerkenswert, dass sie zumindest kurzzeitig, bisweilen über viele Jahre hinweg, einen jüdischen Betreiber hatten, der sich auch für das Programm verantwortlich zeigte.130 Und es scheint, dass diese Impresarios mit größerem Nachdruck als ihre nichtjüdischen Konkurrenten Aufführungen boten, die die weite Welt nach Wien holten. Vermutlich wollten sie damit die geistige Enge und das provinzielle Flair Wiens beheben. Zumindest Gabor Steiner bekannte sich ausdrücklich dazu. Ende 1930 schrieb er in der Illustrierten Wochenpost, dass ein wesentliches Motiv für seine Arbeit als Impresario seinem Wunsch entstammte, die Stadt durch internationale Darbietungen weltoffener zu machen.131 Er hielt sich auch zugute, einer der ersten gewesen zu sein, die Afro-Amerikaner zu Aufführungen nach Wien einluden.132 Ben Tieber hatte, wie bereits angemerkt worden ist, gleichfalls viele internationale Erfahrungen, die er in Wien nutzte.133 In diesem Sinne ist ein Vergleich zwischen dem Apollo vor und während der Leitung durch Ben Tieber sehr interessant. Während dieser mit einer Reihe internationaler Attraktionen aufwartete, wurde das Aufführungsprogramm im Jahr vor seiner Übernahme des Etablissements durch „Die süssen Buam“ und die „Wiener Jodlerduettisten ‚Kiesel-Marie und Korber‘“ geprägt.134 128 Darunter fällt auch das Ronacher, das vom jüdischen Journalisten Max Friedländer mitbegründet wurde. 129 Zum Gschwandner siehe Astrid Göttche, Erich Bernard, Das Gschwandner. Ein legendäres Wiener Etablissement (Wien: Metroverlag 2012). 130 Das war aber auch bei anderen Einrichtungen der Fall. So gründete Minna Rott mit ihrer Schwester Sofie Ruzek und zwei weiteren Personen im März 1903 ein „Vergnügungs-Etablissement nach echtem Wiener Genre“ unter dem Namen Zum süßen Mädel. (IWE 72 [14. 3. 1903) 13.) Als sie es bald darauf verkauften, erwarben Minna Rott und ihre Schwester das äußerst populäre Brady’s Wintergarten. 131 Für diesen Hinweis sei der Wiener Kunsthistorikerin Elana Shapira gedankt. 132 Konrad Nowakowski, “30 Negroes (Ladies and Gentlemen)”: The Syncopated Orchestra in Vienna. In: Black Music Research Journal 29:2 (2009) 240. 133 NWT 245 (4. 9. 1904) 10. 134 IWE 67 (9. 3. 1902) 22.

Zusammenfassung

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Zusammenfassung

Das Jüdisch-Sein wird in den Volkssängerstücken jüdischer Autoren ohne religiösen Bezug dargestellt. Es ist alles andere als klar umrissen, sondern verfließend, vielgestaltig, opak. In den allermeisten Stücken kommt es in einer Form der performativen Differenz zum Ausdruck: Juden unterscheiden sich von Nichtjuden durch ihre Handlungen beziehungsweise deren Auswirkungen. Das heißt in der Folge, dass jüdische Differenz zeit- und kontextabhängig ist. Zudem ist sie inklusiv, indem grundsätzlich auch Nichtjuden deren Merkmale annehmen können. Das heißt aber nicht, dass – wenn dieser Fall eintritt – jegliche Differenz zwischen Juden und Nichtjuden verlorengeht. (Zu diesem Punkt siehe fünftes Kapitel.) In einer Reihe von Volkssängerstücken wird das Jüdisch-Sein der Charaktere durch deren Verwendung jiddischer Begriffe angezeigt. Das soll nicht weiter erstaunen. Als Hauptstadt einer Vielvölkermonarchie war das zeitgenössische Wien der Zufluchtsort Zehntausender Migranten und Migrantinnen, die ihre eigenen Idiome mitbrachten und Polyglossie zu einem Merkmal der Stadt machten. Die Menschen banden ihre unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Zugehörigkeiten an ihre Sprache und förderten dadurch jenen Sprachnationalismus, an dem das Staatengebilde letztlich scheitern sollte.135 Dass die jüdischen Figuren in den Possen der Volkssängerensembles ihre Distinktion ebenso sprachlich anzeigen, weist auf die Teilhabe von Juden an den zeitgenössischen Diskursen und kulturellen Prozessen hin. Gleichzeitig wird in den Aufführungen die Irrelevanz einer sprachbasierten Abgrenzung immer wieder zum Thema gemacht und die Bedeutung der Sprache für eine ethnische Zugehörigkeit hinterfragt. Das erkennt man nicht zuletzt daran, dass das Jüdisch-Sein zumeist durch die Verwendung solcher jiddischen Ausdrücke angezeigt wird, die auch Teil der Wiener Alltagssprache sind. Die jüdischen Charaktere „jiddeln“ zwar, aber sie bedienen sich dabei Begriffe, die auch Nichtjuden verwenden können. Eine eindeutige Markierung zwischen Juden und Nichtjuden fällt dadurch weg, und damit wird auch die Sinnhaftigkeit einer ethnisch-kulturellen Grenzziehung infrage gestellt. Eine Posse, in der die Sprachproblematik zum Ausdruck kommt, stellt das Stück „Die Wiener Gemütlichkeit“ von Adolf Hirsch dar.136 Es spielt in einem Wiener Kaffeehaus, dem die Gäste fern bleiben. Umso erfreulicher ist es für dessen Besitzer, dass Graf Horlos, ein Stammgast, ankündigt, einen Freund aus 135 Leinfellner-Rupertsberger, Elisabeth, Die Republik der Sprachen bei Fritz Mauthner: Sprache und Nationalismus. In: Die Wiener Jahrhundertwende, ed. Jürgen Nautz, Richard Vahrenkamp (Wien: Böhlau Verlag 1993) 389–404. 136 Adolf Hirsch, Die Wiener Gemütlichkeit. In: NÖLA (Theaterzensur), Kt. 23/14 (1917).

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Jüdische Volkssänger und Artisten in Wien um 1900

Böhmen die Wiener Gastfreundschaft vorstellen zu wollen. Zu diesem Zweck möchte er ihn am Abend in das Café einladen. Da er selbst mit seiner Frau in die Oper und sein Freund deswegen eine Zeitlang alleine bleiben muss, bittet Graf Horlos die Belegschaft, sich seinem Gast gegenüber freundlich zu verhalten und ihn gut zu bewirten. Die Zeche werde er übernehmen. Am Abend kommt ein Berliner in die Lokalität, der für den angekündigten Freund gehalten wird. Die Angestellten sind redlich um ihn bemüht. Ihm werden sämtliche Köstlichkeiten und bester Champagner vorgesetzt, und als er am Ende eines opulenten Mahles bezahlen möchte, werden ihm die Konsumptionskosten nicht nur erlassen, sondern er erhält sogar noch einen Bargeldbetrag. Dies alles geschieht in der Annahme, dass Graf Horlos die Ausgaben später begleichen werde. Einzig die Unterhaltung zwischen den Kellnern und dem Gast macht Probleme: Die Gespräche erzeugen Missverständnisse, dadurch auch Verwirrung und Zwietracht. Der Grund dafür liegt in den feinen sprachlichen Unterschieden zwischen dem Berlinerischen und Wienerischen. Als dann der tatsächliche Freund, ein Bierbrauer aus Böhmen, erscheint, wird er für einen Zechpreller gehalten und beinahe aus dem Lokal geworfen. Nur das Erscheinen des Barons kann dies verhindern. Im Zuge dessen klärt sich das Missverständnis auch auf. Das Stück ist mehr als eine simple Verwechslungskomödie. Vor dem Hintergrund der multiethnischen Habsburgermonarchie mit ihrem Sprachpluralismus und den eng damit verbundenen Nationalismen dekonstruiert es die Vorstellung einer sprachbedingten kulturellen Homogenität. Obwohl sowohl der Berliner Gast als auch die Wiener Kellner deutsch sprechen, tun sich in der Kommunikation gravierende Verständnisprobleme auf, die auf tiefergehende kulturelle Unterschiede verweisen. „Die Wiener Gemütlichkeit“ thematisiert somit Aspekte des Sprachgebrauchs, denen man in Österreich von unterschiedlicher Seite viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Fragen, wie trotz sprachlicher Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen ein gegenseitiges Einvernehmen hergestellt und wie Bedeutung ohne Zweideutigkeiten vermittelt werden könne, beherrschten die zeitgenössische politische Debatte und beschäftigten eine Reihe von Wissenschaftlern und Intellektuellen des Landes.137 In diesem Sinne kann auf die Philosophen Ludwig Wittgenstein und Fritz Mauthner verwiesen werden, deren wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache nicht zuletzt durch die Situation in der Monarchie beeinflusst war.138 Auch Schriftsteller und Intellektuelle wie Hugo von Hofmannsthal und vor allem Karl Kraus widmeten sich der Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache.139 Und die jüdischen Volks137 David S. Luft, Robert Musil and the Crisis of European Culture 1880–1942 (Berkeley: University of California Press 1980) 17. 138 Siehe William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848– 1938 (Berkeley3: University of California Press 1983). 139 Dagmar Lorenz, Wiener Moderne (Stuttgart: Verlag J. B. Metzler2 2007).

Zusammenfassung

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sänger setzten sich ebenso damit auseinander. „Die Wiener Gemütlichkeit“ zeigt auf, wie trotz der gemeinsamen deutschen Sprache und einer darauf fußenden Vorstellung einer deutschen Kulturnation Unterschiede zwischen den Menschen erhalten bleiben oder vielleicht gerade dadurch hervorgerufen werden. Sprachlich bedingte Zugehörigkeiten erweisen sich als Mythos. In diesem Zusammenhang ist man an das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschriebene Diktum erinnert, dass Deutsche und Österreicher nichts so sehr voneinander trennt wie die gemeinsame Sprache.

3.

Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Die Deutung jüdischer Geschichte ist offen. Dass sie mehrere Jahrzehnte nach der Shoah vielfach unter dem Gesichtspunkt antijüdischer Verfolgungen und des Antisemitismus betrachtet und dadurch eng ausgelegt wurde, ist aus dem Kontext der Zeit erklärbar.1 Eine solche Perspektive ist nicht grundsätzlich falsch. Nichtsdestoweniger stellt sie jüdische Vergangenheit einseitig und unvollständig dar. Sie spart nämlich einen Teil der jüdischen Erfahrungen aus, indem sie das Miteinander von Juden und Nichtjuden, das es ebenfalls gegeben hat, über weite Strecken ignoriert. Die Begegnungen von Juden und Nichtjuden und ihre kulturellen Verflechtungen waren bedeutsame Vorgänge, weil sie Judentum und jüdische (sowie nichtjüdische) Identitäten prägten und gesellschaftliche Entwicklungen nachhaltig beeinflussten. Deswegen dürfen sie nicht übergangen werden. Eine Auseinandersetzung mit jüdischen und nichtjüdischen Interaktionen ergänzt das lückenhafte Narrativ, das sich aus einer Fokussierung auf antisemitische Strukturen und Prozesse oder auf ausschließlich jüdisches Leben ergibt, und rundet die Darstellung jüdischer Geschichte ab. Wie sehr jüdische Vergangenheit pluralen Auslegungen zugänglich ist und ihre Interpretation auf der jeweiligen Sichtweise von Historikern beruht, die sich mit ihr beschäftigen, kann an einem Konflikt unter den Wiener Volkssängern exemplarisch illustriert werden. Sein unmittelbarer Auslöser lag im Gerücht, dass die bekannte und erfolgreiche Budapester Truppe Folies-Caprice den Plan verfolge, nach Wien zu übersiedeln. Die Berufssänger der Stadt befürchteten, dass dadurch der Konkurrenzkampf unter ihnen dramatisch verschärft werde. Die Auseinandersetzungen erreichten im Frühjahr 1903 ihren Höhepunkt und wurden mit einer derartigen Bitterkeit geführt, dass sie in den Printmedien sogar als „Volkssängerkrieg“ bezeichnet wurden. Im vorliegenden Kapitel wird der „Volkssängerkrieg“ aus drei Gründen ausführlich beschrieben. Zum Ersten lässt sich an ihm exemplarisch darstellen, wie 1 Siehe Evyatar Friesel, The German-Jewish Encounter as a Historical Problem. A Reconsideration. In: Leo Baeck Institute Yearbook 41:1 (1996) 263–264.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

diffus und verschwommen die Markierungslinien zwischen Juden und Nichtjuden im Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren.2 Im Weiteren zeigt sich, wie unpassend das Akkulturationsnarrativ zur Skizzierung jüdischer und nichtjüdischer Beziehungen sein kann. Eine Untersuchung des Konflikts fördert Bemühungen des jüdischen Volkssängers Albert Hirsch zutage, von seinen nichtjüdischen Berufskollegen ohne konkrete Anpassungsleistungen als Ihresgleichen anerkannt zu werden. Eine Verbundenheit zwischen seinen Kollegen und ihm sollte stattdessen auf performativem Wege entstehen und gesichert werden. Und letztlich sollen mit einer umfassenden Skizzierung der Lebens- und Arbeitssituation der Volkssänger in Wien um 1900 die Konflikte unter ihnen besser verständlich werden.

Exkurs: Der „Volkssängerkrieg“ im frühen 20. Jahrhundert Am 24. Dezember 1901 war im Illustrirten Wiener Extrablatt der Hinweis zu finden, dass die Wiener Volkssänger und Artisten unmittelbar nach Weihnachten zusammenkämen, um über ein Verbot zu sprechen, das vonseiten der ungarischen Behörden gegen ein Gastspiel einer Wiener Volkssängertruppe in Budapest erlassen worden sei.3 Drei Tage später wurde die angekündigte Versammlung im „Goldenen Luchsen“, einem Gasthaus im Wiener Bezirk Ottakring, abgehalten. Die Wahl des Versammlungsortes war gewissermaßen symbolhaft: Ottakring war ein Randbezirk Wiens, der erst im Zuge von Eingemeindungen der Stadtumgebung im späten 19. Jahrhundert Wien zugeschlagen worden war. Dabei war der ursprünglich selbstständige Ort Ottakring mit Neulerchenfeld zusammengelegt worden, hatte aber seinen Namen behalten.4 Im neuen Wiener Bezirk fand sich teilweise eine dörfliche Struktur mit Gaststätten, wo die Volkssänger ihre Darbietungen gaben und in ihren Liedern die jüngere Vergangenheit, das sogenannte Alt-Wien, idealisierten sowie die vermeintliche Wiener Gemütlichkeit priesen.5 Gleichzeitig war Ottakring eine Gegend, die wegen verschiedener Industriean2 Allgemein zu diesem Aspekt siehe Scott Spector, Forget Assimilation: Introducing Subjectivity to German-Jewish History. In: Jewish History 20:3/4 (2006) 349–361. 3 IWE 353 (24. 12. 1901) 9. Ungarn verfolgte auf dem Gebiet des Volkssängerwesens allgemein eine nationalistische Politik und erschwerte nicht nur Auftritte österreichischer, sondern auch im Land beheimateter Artisten, wenn sie Aufführungen in deutscher Sprache abhalten wollten. Siehe IWE 160 (12. 6. 1902) 8. 4 Carola Leitner, Kurt Hamtil, Ottakring. Wiens 16. Bezirk in alten Fotografien (Vienna: Verlag Carl Ueberreuter 2006) 7. 5 Eine der bekanntesten Lokalitäten in Ottakring war das Stalehner, das im Laufe des 19. Jahrhunderts von einer Gaststätte zu einem Varieté ausgebaut wurde. Siehe „Abschied vom alten Haus Stalehner“. In: Illustrirtes Wiener Extrablatt 53 (23. Februar 1907) 7. Siehe auch nächstes Kapitel.

Exkurs: Der „Volkssängerkrieg“ im frühen 20. Jahrhundert

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siedelungen als Wohnort der Arbeiterschaft diente, die in großem Maße das Publikum der Volkssänger bildete. Mit der Entscheidung, die Versammlung im „Goldenen Luchsen“ anzusetzen, verorteten sie sich in der proletarisch und kleinbürgerlich geprägten Vorstadt und positionierten sich gleichzeitig in Kontrast zur sogenannten Hochkultur, deren Institutionen weitgehend im Zentrum Wiens, der Inneren Stadt, zu finden waren.6 Das Treffen im „Goldenen Luchsen“ stand unter der Devise „Schutz den Wiener Volkssängern!“ Anwesend waren an die einhundert Personen. Das waren zwar bei weitem nicht alle, die in Wien auftraten. Um diese Zeit gab es in der Stadt an die 60 Gesellschaften, von denen jede aus mehreren Mitgliedern bestand.7 Was der Versammlung aber besondere Bedeutung verlieh, das war der Umstand, dass die wichtigsten und einflussreichsten Volkssänger anwesend waren. Das Treffen war von Karl Spacek organisiert worden, einem ihrer angesehensten Vertreter.8 In diesem Sinne war die Zusammenkunft ein wichtiges Ereignis, weshalb es auch weitreichende Auswirkungen auf den gesamten Volkssängerstand haben sollte. Der Beratungsgegenstand, nämlich das Verhalten der ungarischen Behörden und dessen Verurteilung, war klar umrissen, und darüber waren auch keine Meinungsverschiedenheiten zu erwarten. Trotzdem kam es im Rahmen der Versammlung zu Tumulten. In dessen Verlauf trat eine Konfliktlinie unter den Volkssängern zutage, die sich in den darauffolgenden Monaten noch verstärken und zu antijüdischen Artikulationen führen sollte. In diesem Sinne geben die Auseinandersetzungen beim „Goldenen Luchsen“, und vor allem deren weitere Entwicklung bis zum Frühjahr 1903, einen aufschlussreichen Einblick in die komplexen Verhältnisse zwischen jüdischen und nichtjüdischen Volkssängern. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt, lautet, ob es sich dabei lediglich um eine Momentaufnahme handelt, oder ob damit allgemein eine Aussage über die Qualität des Miteinanders von jüdischen und nichtjüdischen Volkssängern, und im Weiteren der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Wien, getroffen werden kann?

6 Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 (Frankfurt/M.: Campus Verlag 1999) 35 & 118. 7 IWE 295 (26. 1. 1902) 33. 8 Karl Spacek (1850–1904) trat bereits in den 1860er Jahren im Prater auf und war bei verschiedenen Ensembles tätig. In den frühen 1880er Jahren machte er sich selbstständig und gewann vor allem mit seiner Rolle als „Böhm“ Bekanntheit. In den letzten 20 Jahren seines Wirkens spielte er an Sonn- und Feiertagen im Etablissement Mandl in Hernals. Seine Prominenz zeigt sich an seinen Ehrenmitgliedschaften bei verschiedenen Volkssängervereinen. (Siehe IWE 161 [11. 6. 1904] 5f.)

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Konflikte in der Welt der Wiener Volkssänger Streitfälle, die häufig auch vor Gericht ausgetragen wurden, waren unter den Volkssängern keine Seltenheit. Neben den als „Krieg“ bezeichneten Auseinandersetzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Reihe anderer Konflikte. Die ausgeprägte Konkurrenzsituation, in der sich die Volkssänger befanden, stellte einen idealen Nährboden für Friktionen jeglicher Art dar. Eines der zahlreichen Beispiele, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden kann, betrifft die Klage des Artisten Karl Schöpf gegen Adolph Slusche, den Inhaber eines Kaffeehauses im Wiener Bezirk Josephstadt. Die Lokalität galt vielen Volkssängern als Treffpunkt und wurde deswegen im Volksmund auch „Volkssängerbörse“ genannt. Schöpf stand bei seinen Kollegen in schlechtem Ruf, da er mit Auftrittsmöglichkeiten handelte. Er zog aus dem Überangebot an Volkssängern Profit, indem er einen Teil ihrer ohnehin schon kärglichen Gage kassierte, wenn sie seine Vermittlungsdienste in Anspruch nahmen. Als er dann gegen einzelne Volkssänger auch noch ausfällig wurde und diese beschimpfte, teilten sie Slusche mit, dass sie sich einen anderen Treffpunkt suchten, sollte er Schöpf nicht des Kaffeehauses verweisen. Als Slusche ihrem Ersuchen nachkam und Schöpf verbat, fürderhin das Café zu betreten, sah sich dieser in seiner Ehre verletzt und ging gerichtlich gegen dessen Besitzer vor. Er hatte damit aber keinen Erfolg.9 Ein anderer Fall betrifft eine Klage von Josef Armin in seiner Rolle als Bühnenautor gegen den Direktor der Budapester Orpheumgesellschaft, Karl Lechner.10 Armin hatte sich verpflichtet, für die Budapester im Laufe des Jahres 1905 sechs Komödien zu verfassen. Dafür sollte er auf deren Theaterzetteln als „Hausdramaturg“ angegeben werden und 300 Kronen bekommen. Obwohl Armin die festgesetzte Anzahl von Stücken lieferte, wurde ihm seine Gage in der vereinbarten Höhe vorenthalten. Die Begründung von Lechner lautete, dass zwei der sechs Possen von solch obszönem Inhalt seien, dass sie nicht aufgeführt werden könnten. Aus dem Munde von Lechner mochte diese Feststellung überraschend klingen. Die Budapester standen nämlich im Ruf, eine Vorliebe für frivole Stücke zu haben. Und dass nun gerade der Leiter dieses Ensembles Grenzen des Anstands setzen wollte, konnte Armin nicht glauben. Deswegen klagte er bei Gericht auf Erhalt des gesamten Betrages, der ihm vertraglich zugesichert worden war. Letztlich konnte der Richter beide Seiten zum Einlenken bewegen und einen Ausgleich zwischen ihnen vermitteln.11 9 IWE 139 (22. 5. 1900) 9. 10 Karl Lechner (1870–1927) übernahm 1901 von seinem Onkel Lautzky die Direktion der Budapester Orpheumgesellschaft. 11 IWE (20. 1. 1906) 9.

Exkurs: Der „Volkssängerkrieg“ im frühen 20. Jahrhundert

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Die beiden Gerichtsfälle stellen ganz gewöhnliche Konflikte dar, wie sie jederzeit und überall vorkommen können, wenn es um geschäftliche Interessen geht. Und solcherart Auseinandersetzungen gab es unter den Volkssängern zuhauf. Auch der „Volkssängerkrieg“ kann über weite Strecken als ein trivialer Streitfall bezeichnet werden. Was ihn von der ‚Affäre Schöpf‘ und dem Gerichtsverfahren zwischen Armin und Lechner allerdings deutlich unterscheidet, das war der Umstand, dass er antijüdische Aussagen provozierte. Der Grund dafür könnte in der unterschiedlichen Konstellation der Streitgegner vermutet werden: Weder in der ‚Causa Schöpf‘, in der Juden überhaupt keine Rolle spielten, noch in der zweiten Affäre, in der der Kläger jüdisch war und Lechner zumindest einem als jüdisch geltenden Ensemble vorstand, konnte Antisemitismus zur Diffamierung einer jüdischen Streitpartei eingesetzt werden. Allerdings war die Situation unter den Wiener Volkssängern gewöhnlich auch dann nicht anders, wenn sich Juden und Nichtjuden als Prozessgegner gegenüberstanden. In diesem Zusammenhang kann auf den bereits erwähnten Direktor des Apollo-Theaters, Ben Tieber, verwiesen werden. Er schien eine streitlustige Person gewesen zu sein. Jedenfalls war er häufig in Verfahren gegen andere Spielhallenbetreiber involviert. Dabei ging es zumeist um das Engagement einzelner Artisten, die sie einander abspenstig machen wollten. Obwohl die Konfliktparteien mit heftigen Anschuldigungen und bisweilen auch verletzenden Vorwürfen nicht sparten, spielte Tiebers Jüdisch-Sein niemals eine Rolle. Dies kann exemplarisch an einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Arthur Brill, dem Direktor des Varietés Colosseum, veranschaulicht werden.12 Der Streitfall drehte sich um Darbietungen der Parodistin Lene Land. Sie hatte sich vertraglich verpflichtet, im Jänner und Februar 1906 im Apollo-Theater zu spielen. Gleichzeitig hatte sie auch ein Engagement im Colosseum angenommen, wo sie tatsächlich zu sehen war. Ben Tieber erwirkte ein Auftrittsverbot gegen sie, das aber keine Auswirkungen hatte. Ihre Publikumswirkung war nämlich so groß, dass sich die Direktion des Colosseums weigerte, Lene Land aus dem Programm zu nehmen, und stattdessen bereitwillig die dadurch anfallenden Geldstrafen beglich.13 Dass Tieber jüdisch war, fand während des gesamten Konfliktes keine Erwähnung, und selbst kleinste Anspielungen darauf unterblieben. Soweit bei den Volkssängern und Spielhallendirektoren eine antijüdische Gesinnung vorhanden war, schien deren Artikulation über weite Strecken mit einem Tabu belegt gewesen zu sein. 12 Ben Tieber stand vor der Jahrhundertwende selbst eine Zeitlang dem Colosseum vor. In der darauffolgenden Zeit strengte er immer wieder Klagen gegen die Verantwortlichen dieses Etablissements an. Siehe beispielsweise IWE 164 (17. 6. 1900) 24. 13 7 (8. 1. 1906) 5. Vertragliche Vereinbarungen wurden allgemein wenig ernst genommen, und Gerichtsverfahren waren deswegen relativ häufig. Siehe beispielsweise „Was ist ein Vertragsbruch?“ In: Das Variété 32 (14. 6. 1903) o. S.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Die judenfeindlichen Äußerungen im Rahmen des „Volkssängerkrieges“ können demnach nicht allein auf die Zusammensetzung der Streitgegner zurückgeführt werden. Worin die genaue Ursache für die antisemitischen Anwürfe lag, wird auf den vorliegenden Seiten erörtert. Im Zuge dessen wird auch dargestellt, wie Antisemitismus in einem Milieu zum Tragen kam, das gewöhnlich weit weniger als andere Gesellschaftsbereiche für ihn empfänglich gewesen zu sein scheint.

3.1

Die Volkssängerversammlung im „Goldenen Luchsen“ am 27. Dezember 1901

Der erste Referent der Zusammenkunft am 27. Dezember 1901 war Karl Recher, von Beruf „Claviermeister und Dirigent“.14 Er bezog sich in seinem Vortrag ausschließlich auf den angegebenen Tagesordnungspunkt, das Verbot von deutschsprachigen Aufführungen in Ungarn. Doch bereits der nächste Redner, Karl Rötzer (1862–1908), wich davon ab. Sein Augenmerk galt stattdessen der misslichen Lage der Wiener Volkssänger. Rötzer war einer der profiliertesten Vertreter seines Standes. Er bestach nicht zuletzt durch seine Produktivität. Um die Jahrhundertwende hatte er bereits an die eintausend Lieder, Possen und kurze Szenen verfasst.15 Zudem war er auch gut vernetzt und hatte eine Reihe von Ehrenämtern inne. So fungierte er als Schriftführer des Zwölferbundes der Wiener Volkssänger und Artisten, der durch Veranstaltungen Gelder zur Unterstützung arbeitsunfähiger Mitglieder lukrierte.16 Rötzer genoss unter seinen Kollegen jedenfalls großen Respekt, und vielleicht wollte ihn deswegen niemand bei seinen Ausführungen unterbrechen und an den eigentlichen Grund der Zusammenkunft erinnern. Im Rückblick mag das eine vernünftige Entscheidung gewesen sein. Seine Wortmeldung bildete nämlich den Ausgangspunkt zahlreicher Diskussionen über die sozialen und beruflichen Verhältnisse der Volkssänger, die in den darauffolgenden Monaten geführt wurden. Diese Debatten leiteten sodann eine Gesetzesreform zum Volkssängerwesen ein, die eine Reihe von Erleichterungen für deren Mitglieder schuf. Dass Rötzer so problemlos vom eigentlichen Beratungsgegenstand abschweifen konnte, lag wohl auch darin begründet, dass die soziale Situation der Volkssänger tatsächlich sehr verbesserungswürdig war. Selbst die Besten unter ihnen führten kein sorgenfreies Leben. Auch sie waren häufig von der unterschwelligen Angst ergriffen, eines Tages die Gunst des Publikums zu verlieren 14 IWE 130 (12. 5. 1903) 12. 15 IWE 38 (8. 2.) 4. 16 Koller, Volkssängertum 145.

Die Volkssängerversammlung beim „Goldenen Luchsen“

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und in der Folge der Armut anheimzufallen. Bei Karl Spacek, der die Versammlung beim „Goldenen Luchsen“ organisiert hatte, soll diese Furcht eineinhalb Jahre zuvor massiv aufgetreten sein. Angeblich plagte sie ihn in einem Maße, dass er dadurch „irrsinnig“ wurde. Sie soll sich anfangs lediglich in „nervösen Kopfschmerzen“ bemerkbar gemacht haben. Nach einer Weile verfiel Spacek dem Wahn, Not und Elend nur mehr entkommen zu können, wenn er seinem Leben ein Ende setzte. In diesem Zustand wollte er sich aus dem Fenster in den Tod stürzen, wurde aber im letzten Moment davor gerettet.17 Es dauerte eine Weile, bis er sich von seiner depressiven Verfassung erholte und seinen Beruf wiederaufnehmen konnte. Die soziale Lage der Volkssänger wurde durch den Umstand verschärft, dass sie nicht als Gewerbetreibende anerkannt waren. Sie zahlten zwar Steuern und Abgaben wie diese, konnten aber keiner Krankenkasse beitreten. Um auf ein zumindest rudimentäres soziales Netz zurückgreifen zu können, gründeten sie eigene Organisationen, denen man gegen Zahlung eines geringen Betrages angehören konnte. Neben dem genannten Zwölferbund sind in diesem Zusammenhang vor allem Die Lustigen Ritter und der Allgemeine Wiener VolkssängerKrankenverein zu nennen. Die Lustigen Ritter waren zuvorderst für den Betrieb eines Heimes bekannt, das sie ihren verarmten Mitgliedern als Unterkunft zur Verfügung stellten.18 Ohne solche privaten Versicherungsleistungen konnten arbeitslose Volkssänger kaum ein Leben in Würde führen. Bekannt waren Fälle wie jener von Josefine Schmer, die während ihrer aktiven Zeit außerordentlich populär war (siehe zweites Kapitel). Trotz ihrer erfolgreichen Karriere gelang es Schmer nicht, für ihren Lebensabend vorzusorgen. Sie musste ihn in einem Versorgungshaus verbringen, wo sie mit 16 anderen Frauen ein Zimmer teilte. Da sie sich nicht einmal das Allernotwendigste für den Alltag leisten konnte, war sie auch auf Spenden angewiesen.19 Schmers Schicksal ereilte nicht wenige ihrer Berufskollegen.20 Rötzer schlug im Rahmen seiner Wortmeldung beim „Goldenen Luchsen“ vor, die soziale Situation der Wiener Volkssänger zu verbessern, indem Auftritte von fremden Volkssängergesellschaften in Wien untersagt würden. In diesem Zusammenhang erzählte er von zwei Wirten, die erst vor kurzer Zeit bei den Behörden um Konzessionen für tschechische Ensembles angesucht hätten. Deren Erteilung, so Rötzer, müsse von den ansässigen Volkssängern unbedingt verhindert werden. Zu diesem Zweck solle eine Deputation von ihnen beim Statthalter vorsprechen und dagegen Einspruch erheben. Dabei solle auch der 17 18 19 20

IWE 232 (24. 8.) 7. IWE 321 (23. 11.) 16 IWE 314 (15. 11. 1903) 18. Siehe IWE 359 (31. 12. 1903) 5.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Wunsch vorgetragen werden, dass Volkssängerkonzessionen auf Lebenszeit vergeben werden und nicht jährlich erneuert werden müssen, und dass sie nicht verpachtet werden dürfen, sondern vom Konzessionsträger selbst ausgeübt werden müssen.21 Damit sollte den lizenzierten, in gewissem Sinne bereits arrivierten Volkssängern ein gewisses Maß an beruflicher Sicherheit gewährleistet werden. Recher ergriff nach Rötzer noch einmal das Wort. Diesmal ignorierte auch er den eigentlichen Tagungsordnungspunkt und schloss mit der Erörterung drängender Probleme der Volkssänger an seinen Vorredner an. Dabei thematisierte er deren Entlohnung. Es ging ihm aber weniger um die Höhe von deren Verdienst, sondern um deren damit verbundenen sozialen Status. Die Volkssänger hatten nämlich einen fragwürdigen Ruf. Er hatte einerseits mit dem Umstand zu tun, dass sie von der breiten Bevölkerung mit Bettlern gleichgesetzt wurden. Dazu trug bei, dass jedermann, der sich um eine Volkssängerlizenz bewarb, ein Gebrechen nachweisen oder sonstigen Grund angeben musste, der es ihm verunmöglichte, einen anderen Beruf auszuüben.22 Volkssänger galten deswegen wie Bettler als arbeitsunfähig oder -willig. Und wie diese bestritten sie ihren Lebensalltag durch Spenden. Für ihre Leistungen erhielten sie nämlich keine festgesetzten Gagen. Vielmehr ging ein Mitglied des auftretenden Ensembles während oder nach der Aufführung im Publikum umher und bat um eine finanzielle Entschädigung für die Darbietung. Diese Abhängigkeit von Almosen wollte Recher durch das Einheben eines fixen „Entrées“ verbessern.23 Sein Vorschlag stieß unter den Versammelten auf viel Wohlwollen, wurde von manchen aber als undurchführbar kritisiert. Albert Hirsch meinte beispielsweise, dass die Wirte dem nie zustimmen würden. Diese lebten nämlich davon, dass so viele Menschen wie möglich zu den Aufführungen kämen und konsumierten, ohne durch feste Eintrittsgelder davon abgehalten zu werden.24 21 IWE 356 (28. 12. 1901) 4. 22 In Wirklichkeit litten nur die wenigsten Volkssänger unter einem körperlichen Handicap. Die anderen erschlichen sich die Erlaubnis zu ihrem Volkssängerdasein, indem sie vorgaben, an Sehschwäche zu leiden. Siehe Elisabeth Brauner-Berger, Volkssängertum im Wandel (geisteswiss. Diss., Wien 1993) 52. 23 Einzelne Volkssänger hatten dies schon in früheren Jahren versucht: Siehe Iris Fink, „Wien, Wien, nur Du allein …“ Das Wiener Lied im österreichischen Kabarett als Ort der Identitätsfindung. In: Joanne McNally, Peter Sprengel (Hg.), Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda (Würzburg: Königshausen & Neumann 2013) 51–63, hier 53. 24 Trotz dieser Einwände sollte es nicht lange dauern, bis die Volkssänger dazu übergingen, ein „fixes Entrée“ einzuheben. Einer der ersten war im Übrigen Salomon Fischer. Nachdem er im April 1904 die Konzession zur Leitung einer Singspielhalle erhalten hatte, schaffte er im Prater-Orpheum, wo er zu dieser Zeit gastierte, bereits einen Monat später das Absammeln ab. (Siehe IWE 103 (13. 4. 1904) 6 & 131 (11. 5. 1904) 11.)

Die Volkssängerversammlung beim „Goldenen Luchsen“

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Der zweite Umstand, der dem Volkssängerstand eine fragwürdige Reputation beschied, hatte mit verschwommenen Grenzen zwischen seinen weiblichen Mitgliedern und dem Prostitutionsgewerbe zu tun. Überlappungen zwischen den beiden Arbeitsfeldern hatte es seit Beginn des Volkssängerwesens im frühen 19. Jahrhundert gegeben. Einige der bekanntesten Volkssängerinnen waren zuerst Prostituierte gewesen, bevor sie sich ihrem neuen Beruf zuwandten.25 Und selbst als Volkssängerinnen schienen sich manche Frauen für Liebesdienste entlohnen zu lassen. Dies kann nicht zuletzt aus einer Bemerkung von Rötzer geschlossen werden, wonach einzelne Kapellmeister, die mit ihren Gruppen bei Aufführungen der Volkssänger spielten, Mädchen anstellten, die kein Talent besäßen. Und obwohl sie nur kleine Gagen erhielten, kämen sie mit diesen auffallend gut aus.26 Es ist schwer zu beurteilen, ob Rötzer mit seiner Wortmeldung lediglich einen Missstand aufzeigen oder ganz konkrete Personen kritisieren wollte. Eine sogenannte Damenkapelle, wie solche Musikgruppen genannt wurden, spielte nicht zuletzt bei Albert Hirsch unter Leitung seines Sohnes Adolfi.27 Als anschließend Amon Berg das Wort ergriff, gab es keinen Zweifel mehr, dass er sich speziell gegen Albert Hirsch wandte.28 Berg forderte, dass die „Licenzirten“, also die Volkssänger im Besitz einer Konzession, besser geschützt werden müssten. Es sei nämlich zur Gewohnheit geworden, dass ein Singspielhallendirektor – und damit bezog er sich konkret auf Hirsch – zwar vier bis fünf lizenzierte Mitglieder anstelle, aber viele Aufführungen, vor allem am Wochenende, von sogenannten Gästen abhalten lasse. Durch den Wegfall von Auftrittsmöglichkeiten gingen die konzessionierten Volkssänger eines Teils ihrer Gage verlustig.29 Hirsch führte zu dieser Zeit in „Koller’s Concertsaal“ in der Mariahilferstraße ein Varieté und ließ dort ebensolche Gäste auftreten.30 Bei 25 26 27 28

Brauner-Berger, Volkssängertum 53. IWE 356 (28. 12. 1901) 4. IWE 183 (6. 7. 1900) 15. Amon Berg war der Verfasser zahlreicher bekannter Einakter, Soloszenen und Couplets, wie beispielsweise „Der alte Drahrer“ oder „Der liebe Augustin“. Er begann seine Karriere 1875 und erwarb sich große Verdienste als Mitbegründer des Allgemeinen Wiener Volkssängervereins. In den 1890er Jahren erlitt er auf der Bühne einen Schlaganfall und konnte in der Folge lange Zeit seinen Beruf nicht ausüben. Er verarmte und hungerte. Letztlich gelang ihm aber ein Comeback. (Siehe IWE 62 [3. 3. 1899] 5.) 29 Streng gesetzlich durften in Wien nur Volkssänger auftreten, die dafür eine Genehmigung besaßen. Sie war an eine Reihe von Voraussetzungen, wie beispielsweise einen mehrjährigen Aufenthalt in der Stadt, gebunden. Es hatte sich aber eingebürgert, dass der Leiter einer Volkssängergruppe zu den sogenannten „Lizenzirten“ (!) auch Volkssänger ohne eine entsprechende Genehmigung anstellte. Was Amon Berg bemängelte, das war der Umstand, dass zusätzlich zu den fest engagierten – lizenzierten wie auch nicht-lizenzierten – Mitgliedern Gastauftritte von fremden Volkssängern vorgesehen waren. 30 Siehe IWE 350 (21. 12. 1901) 15.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

seinem Versuch, auf Berg zu antworten, eskalierte die Stimmung. Sie wurde durch Karl Spaceks Behauptung, dass Hirsch ein Lügner sei, noch zusätzlich angeheizt. Als Hirsch sich endlich Gehör verschaffen konnte, führte er die Diskussion wieder auf den eigentlichen Tagesordnungspunkt zurück. Er merkte an, dass gegen das Verhalten der ungarischen Verwaltungsorgane eigentlich wenig zu machen sei. Die einzige Maßnahme, die sie zum Umdenken motivieren könnte, liege in einem Auftrittsverbot ungarischer Volkssänger in Wien. Er formulierte seinen Vorschlag mit recht deftigen Worten: „Sollten die deutschen Collegen aus Ungarn ausgewiesen werden, dann sei es an der Zeit, dagegen Stellung zu nehmen und nicht eher zu ruhen, bis der letzte Zigeuner aus Wien draußen sei.“31 Die Aufregung über das Verhalten der ungarischen Behörden schien letztlich unnötig gewesen zu sein. Denn nach Hirsch meldete sich Karl Hauser (1851– 1927) mit einer guten Nachricht zu Wort.32 Er verkündete den Erhalt eines Telegramms aus Budapest, das Josef Modl verfasst hatte. Darin teilte dieser mit, dass eine Abordnung von Volkssängern bei den ungarischen Behörden vorgesprochen und erwirkt habe, dass deutsche Aufführungen wieder erlaubt seien. Mit dem Telegramm wurde der eigentliche Beratungsgegenstand der Versammlung, nicht allerdings die Zusammenkunft selbst, irrelevant. Wie die verschiedenen Redebeiträge zeigen, gab es eine Reihe von Problemen, mit denen sich die Volkssänger konfrontiert sahen. Deswegen wurde ein Antrag angenommen, der die besprochenen Aspekte zur sozialen und beruflichen Situation der Volkssänger in Wien zusammenfasste und Verbesserungen einmahnte. Darin hieß es, dass die Behörden Volkssängerkonzessionen in Zukunft auf Lebensdauer ausstellen sollten. Diese sollten lediglich an Personen vergeben werden, die zuvor schon zehn Jahre in Wien tätig gewesen seien. Jeder Inhaber einer Konzession müsse diese selbst ausüben. Im Weiteren sollten fremde Artisten höchstens einen Monat in Wien spielen dürfen. Jede Volkssängergesellschaft müsse sechs Lizenzinhaber und dürfe höchstens vier nichtlizenzierte Kollegen anstellen.33 Am 2. Jänner 1902 überreichte eine Deputation von Volkssängern diesen Antrag Statthalter Erich von Kielmannsegg (1847–1923). Er hörte sich noch weitere Beschwerden der Volkssänger an und versprach sodann, sich für sie verwenden zu wollen.34

31 IWE 356 (28. 12. 1901) 4. 32 Hauser war erster und langjähriger Obmann des erwähnten „Zwölferbundes“ der Wiener Volkssängerinnen. 33 IWE 356 (28. 12. 1901) 4. 34 IWE 3 (3. 1. 1902) 6.

Die Volkssängerversammlung beim „Goldenen Luchsen“

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3.1.1 Fazit der Versammlung im „Goldenen Luchsen“ Die Versammlung vom 27. Dezember 1901 gibt einen seltenen, allerdings sehr erhellenden Einblick in die soziale Lage der Volkssänger. Sie benennt die bürokratischen Hürden, die ihnen die Ausübung ihrer Arbeit erschwerten. Gleichzeitig kommt eine xenophobe Stimmung unter ihnen zum Ausdruck. Diese mag auf die Diskrepanz zwischen ihrer Beliebtheit in Teilen der Bevölkerung und ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Position zurückzuführen sein: Berufsbedingt standen die – zumindest erfolgreichen – Volkssänger beinahe täglich im Licht der Öffentlichkeit. Sie sorgten auf den zahlreichen Vorstadtbühnen für Unterhaltung und genossen dabei die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die man ihnen entgegenbrachte. Schmeichelhafte Folgen ihrer Popularität reichten manchmal bis in ihr Alltagsleben. Als Josef Modl beispielsweise in der Singspielhalle Drexler im Prater spielte, begleitete ihn auf dem Weg von seinem Wohnhaus dorthin immer eine Gruppe von Knaben mit lauten „Hoch ModlRufen“.35 Die bekanntesten Repräsentanten der Unterhaltungsszene erhielten sogar öffentliche Ehrungen. So wurde Karl Blasel (1831–1922), der kurzzeitig Direktor des Wiener Varietés Colosseum war, anlässlich seines 50jährigen Berufsjubiläums von Kaiser Franz Joseph in Audienz empfangen, und Bürgermeister Karl Lueger überreichte ihm die goldene Salvatormedaille für besondere Verdienste um die Stadt Wien.36 Im September 1900 wurden einige Artisten und Volkssänger sogar vom persischen Schah nach Marienbad eingeladen. Anlässlich seines dortigen Kuraufenthaltes wollte er sich von ihnen unterhalten lassen.37 Auch wenn die Volkssänger manchmal hochgejubelt wurden, so muss ihnen doch bewusst gewesen sein, dass sie zur untersten sozialen Schicht gehörten. Der Kontrast zwischen alltäglichen subjektiven Erfahrungen und ihrem tatsächlichen gesellschaftlichen Status dürfte an ihrem Selbstwertgefühl genagt haben. In einer solchen Situation neigen Menschen oftmals dazu, alle verfügbaren Möglichkeiten zu nützen, um ihre soziale Stellung zu wahren oder gar zu verbessern. Selbst dann, wenn dies auf Kosten ihrer Kollegen geschieht. Die Fremdenfeindlichkeit unter den Volkssängern dürfte darin eine ihrer Wurzeln gehabt haben.38 Ausländische Ensembles reduzierten am heiß umkämpften Wiener Markt nämlich die Auftrittsmöglichkeiten lokaler Volkssänger und minderten deren Gelegenheiten, ins Scheinwerferlicht zu treten.

35 36 37 38

Koller, Volkssängertum 166f. IWE 321 (21. 11. 1899) 4 & 329 (29. 11. 1899) 2. IWE 261 (23. 9. 1900) 9. Zum Thema Xenophobie und Sozialneid ganz allgemein siehe Herfried Münkler, Populismus in Deutschland. Eine Geschichte seiner Mentalitäten, Mythen und Symbole (Berkeley: Counterpoint Press 2012) 15–16.

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Neben bestimmten Aspekten einer xenophoben Grundstimmung wie auch eines Sozialneids war während der Versammlung im „Goldenen Luchsen“ auch eine leichte Feindseligkeit gegen Albert Hirsch zu bemerken. Von explizitem Antisemitismus war allerdings keine Spur, weder gegenüber Hirsch noch allgemein. Ganz im Gegenteil: In einer Wortmeldung betonte Recher, dass die sogenannten Polnischen, das waren galizisch-jüdische Gesellschaften, die in Wien spielten, nicht zu den fremden Truppen gerechnet würden, die mit einem Auftrittsverbot zu belegen seien. Nach ihm stellen sie „keine Concurrenz für die Wiener Volkssänger“ dar.39 Albert Hirsch setzte sich bei dem Treffen als Wortführer jener Volkssänger in Szene, die sich für eine Aussperrung ungarischer Truppen aus Wien aussprachen. Diese Haltung sollte in den nächsten fünfzehn Monaten, bis zum Höhepunkt des „Volkssängerkrieges“, einen wesentlichen Bestandteil seines Profils bilden. Ob sie einer Fremdenfeindlichkeit geschuldet war oder strategisch zur Wahrung eigener Interessen artikuliert wurde, konnte zu diesem Zeitpunkt nicht beantwortet werden.

3.1.2 Die ‚Polnischen‘ in Wien Dass Recher überhaupt die ‚polnischen‘ Ensembles zur Sprache brachte, hing wohl damit zusammen, dass es einige Tage vor der Volkssängerversammlung einen vielbeachteten Polizeieinsatz in zwei Lokalen in der Wiener Leopoldstadt gegeben hatte, in denen Gesellschaften im Jargon spielten. Dabei handelte es sich um die Ensembles von Marietta Kriebaum und Paula Baumann (siehe zweites Kapitel). Dem kurzzeitigen Hype um die jüdischen Ensembles aus dem Osten der Habsburgermonarchie wurde durch die Polizeirazzia ein jähes Ende gesetzt. Weitere Vorstellungen wurden gänzlich untersagt. Die Begründung lautete, „daß der jüdische Jargon nicht gestattet werden kann, da derselbe hier nicht verstanden wird“.40 Der eigentliche Grund lag jedoch im Umstand, dass es in Österreich eine Zensur gab. Für die einzelnen Stücke, die aufgeführt werden sollten, musste vorab um Erlaubnis angesucht werden. Dabei sollen die beiden Gruppen, gegen die sich die Polizeiaktion richtete, ihre Manuskripte der Behörde zwar in deutscher Sprache vorgelegt, die Possen selbst jedoch in „jüdischem Jargon“ gespielt haben. Die Polizeiaktion wurde durch mehrere anonyme Briefe ausgelöst, in denen behauptet wurde, dass die im Jargon gesprochenen Vorträge von den eingereichten deutschen Texten stark abwichen. Auch die Beteuerungen von Albert Hirsch, der als Sprachexperte von der Polizei herangezogen wurde 39 IWE 356 (28. 12. 1901) 4. 40 IWE 356 (26. 12. 1901) 6.

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und bekundete, dass an den aufgeführten Stücken nicht nur nichts zu beanstanden sei, sondern dass sie sogar äußerst patriotischen Inhalts seien, konnten das ausgesprochene Verbot nicht aufheben.41 Der einzige, der die Truppen von Marietta Kriebaum und Paula Baumann als Mitbewerber um ein zahlenmäßig begrenztes Publikum fürchten musste, war der Inhaber der Singspielhallenkonzession für das erwähnte Edelhofer’s Leopoldstädter Volks-Orpheum, Fritz Lung. Es liegt nahe, dass er sie bei der Polizei denunzierte. Die Verleumdungen gegen sie waren somit eher der Wettbewerbssituation zwischen jüdischen Gruppen als einer Judeophobie geschuldet.

3.2

Erster österreichischer Volkssänger- und Gesangs-Artisten-Tag (27. Oktober 1902)

So begeistert die Anwesenden bei der Volkssängerversammlung Ende 1901 die Nachricht aufgenommen hatten, dass die Probleme für deutschsprachige Aufführungen in Budapest ausgeräumt seien, so kurz dauerte die Freude darüber. Denn den Ankündigungen folgten keine Taten, und so blieben die Schikanen gegen Wiener Ensembles in Ungarn bestehen. Trotzdem sollte noch ein knappes Jahr vergehen, bis sich die Wiener Volkssänger abermals zu einer Initiative gegen die ungarischen Behörden aufraffen konnten. Diesmal standen von Anfang an auch andere Probleme, mit denen die Volkssänger in Ausübung ihrer Arbeit zu kämpfen hatten, auf der Agenda. Die ersten Aktivitäten setzte der Fachverein der Wiener Volkssänger und Artisten. Dessen Obmann, Albert Hirsch, suchte in Begleitung zweier Kollegen Anfang Oktober 1902 den polizeilichen Referenten für Volkssängerangelegenheiten auf. Die Deputation brachte die Bitte vor, Volkssänger in Kaffeehäusern auftreten zu lassen, so wie es auch bei Musikern und sogenannten Natursängern der Fall sei. Daneben sprach Hirsch im Namen der Abordnung Probleme an, die deutschsprachige Volkssänger in Ungarn zu gewärtigen hätten. Um nicht als fremdenfeindlich zu erscheinen, betonte er, dass er nicht prinzipiell gegen „das Ausländische“ sei und nichts gegen Franzosen, Reichsdeutsche oder Polen habe. Allerdings sei er „gegen die ungarischen Musiker, weil auch den deutschen Vorträgen in Ungarn Schwierigkeiten bereitet werden“.42 Und letztlich erwähnte er noch die ‚fragwürdigen Dienste‘ mancher weiblicher Ensemblemitglieder. Es gebe Wirte, so meinte Hirsch, „welche die Sängerinnen dazu verhalten, auch nach Schluß der Vorstellung in einem sogenannten Stüberl die Gäste zum Consumiren zu animiren. Durch solche Animirmamsellen wird das sittliche Niveau des 41 IWE 356 (26. 12. 1901) 6. 42 IWE 272 (3. 10. 1902) 5.

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Volkssängergewerbes noch tiefer herabgedrückt, als es ohnehin schon der Fall ist.“43 Inhaltlich gesehen unterschieden sich die Forderungen der Deputation unter Führung von Hirsch in zwei wesentlichen Aspekten von den Punkten, die bei der Volkssängerversammlung Ende 1901 diskutiert worden waren. Zum einen verfolgte Hirsch mit seinen Kollegen das Ziel, die Auftrittsmöglichkeiten der Volkssänger zu erweitern. Dieses Anliegen war zehn Monate zuvor überhaupt nicht zur Sprache gekommen und sollte erst im Februar 1904, neun Monate nach Beendigung des Konfliktes unter den Volkssängern, von ihnen aufgegriffen werden.44 Und zum anderen fand die Konzessionsfrage bei Hirschs Vorstoß keine Erwähnung. Hirsch dürfte an einem besonderen Schutz der Lizenzinhaber nicht interessiert gewesen sein. Dieser Umstand sollte den weiteren Verlauf des Volkssängerkonfliktes noch stark beeinflussen. Es hat den Anschein, dass Hirsch seinen Besuch beim polizeilichen Referenten für Volkssängerangelegenheiten ohne vorherige Abstimmung mit den Personen, die das Treffen am 27. Dezember 1901 organisiert und geleitet hatten, absolvierte. Vermutlich verfolgte Hirsch eine Doppelstrategie: Einerseits wollte er eine Gruppe von Kollegen um sich scharen, mit deren Hilfe er bei Bedarf gesonderte Interessen wahren und durchsetzen könnte. Dazu mochte das Ignorieren der Bestrebungen gehören, die auf strengere Richtlinien zur Erlangung von Volkssängerkonzessionen abzielten. Andererseits wollte er sich aber auch in die von Recher und Rötzer organisierten Versammlungen einbringen und auf diese Einfluss ausüben. Das ersieht man nicht zuletzt daran, dass Hirsch zusammen mit Recher den Vorsitz des Ersten österreichischen Volkssänger- und GesangsArtisten-Tag übernahm, der am 27. Oktober 1902, wenige Wochen nach Hirschs Vorsprache bei der Polizei, stattfand. Diese Veranstaltung kann als Fortsetzung der Versammlung beim „Goldenen Luchsen“ im Dezember des vorangegangenen Jahres verstanden werden. Im Gegensatz zum Treffen zehn Monate zuvor erschienen nun fast alle in Wien tätigen Volkssänger. Die Sitzung hatte sogar einen halboffiziellen Charakter, da sie in Gegenwart eines Reichsratsabgeordneten sowie des Bezirksvorstehers von Wien-Meidling abgehalten wurde. Der Beratungsgegenstand umfasste die Frage, ob sich die Volkssänger um die Anerkennung als ein konzessioniertes Gewerbe bemühen sollten. Damit wären sie sozial besser abgesichert und hätten Zugang zu Versicherungsleistungen. Die Alternative dazu bildete aber nicht die Beibehaltung des derzeitigen Status, nach dem sie wenig mehr

43 IWE 272 (3. 10. 1902) 5. 44 IWE 37 (6. 2. 1904) 37. Ab erstem September 1904 war es den Volkssängern endgültig erlaubt, in Kaffeehäusern zu spielen. Siehe IWE 240 (30. 8. 1904) 2.

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als Bettler waren. Vielmehr wurde diskutiert, ob sie sich als Künstler deklarieren sollten. Dies hätte für sie zweierlei Auswirkungen gehabt. Zum Ersten hätte jeder Volkssänger eine besondere musikalische Ausbildung nachweisen müssen, um eine Erlaubnis zur Berufsausübung zu erhalten. Zwar waren ähnliche Voraussetzungen für den Volkssängerstand gesetzlich bereits vorgesehen. Aber das Anforderungsprofil wäre doch verschärft worden. Manche mögen darin eine Erschwernis zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis gesehen haben. Anderen wiederum galten strengere Vorgaben als ein Weg, um den Volkssängerstand aus seiner Krise zu führen, in der er sich aufgrund schwindenden Publikumsinteresses befand. Sie meinten, dass diese Krise in mangelhaften gesanglichen Fertigkeiten mancher Volkssänger begründet liege. Diesen Zusammenhang stellte einer der Anwesenden des Treffens am 27. Oktober 1902 wie folgt her: „Das ewige ‚Das ist mein Wien‘, ‚O, Du mein Stephansthurm‘ und wie die Lieder alle heißen, sie werden nicht mehr vom Publicum begehrt. (…) wenn diese Lieder nicht gut vorgetragen werden, dann verlieren sie an Werth.“45 Die zweite Folge einer etwaigen Option für den Künstlerberuf wäre in der Abschaffung der Volkssängerlizenzen gelegen. Damit wäre nicht nur eine interne Unterscheidung zwischen Volkssängern ohne Konzession und den Besitzern einer solchen, die auch eigenen Gesellschaften vorstehen durften, aufgehoben worden. Eine Beschränkung des Zugangs ausländischer Gruppen zum Wiener Markt wäre ebenso nicht mehr möglich gewesen. Die Diskussion über Vergeltungsmaßnahmen gegen ungarische Gruppen, die in Wien auftreten wollten, wäre dadurch müßig geworden. Bei der Entscheidung für oder gegen den Künstlerstatus ging es im Grunde um die Frage, ob sich der Volkssängerstand modernisieren wolle oder nicht. Sollten die Volkssänger, die gegenüber den Varietés zunehmend ins Hintertreffen gerieten, auf ihre abnehmende Resonanz in der Bevölkerung reagieren, indem sie innovative Kollegen, die keine Lizenz besitzen oder aus dem Ausland kommen, aussperren? Oder sollten sie ihren Berufsstand einer verschärften Konkurrenz öffnen und dabei hoffen, dass sich diejenigen durchsetzen, die am besten die Erwartungen des Publikums erfüllen, wodurch der gesamte Volkssängerstand zu mehr Ansehen käme?

3.2.1 Zur Krise des Volkssängerstandes Die Volkssänger erlangten ihre Beliebtheit in Wien nicht allein durch ihre Rolle als Unterhalter. Von ebensolcher Bedeutung war, dass sie mit ihren Wienerliedern und Singspielen ein vergangen geglaubtes und dadurch verklärtes Le45 IWE 297 (28. 10. 1902) 5.

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bensgefühl vermittelten. Die Volkssänger standen für ein idealisiertes Wien, das durch städtebauliche Maßnahmen, Industrialisierung und damit verbundene lebensweltliche Veränderungen zunehmend entschwand.46 Sie besangen das Leben in den Vororten mit ihrem dörflichen Ambiente, das Wien der engen Gassen und kleinen Häuser, von denen viele abgerissen wurden und prächtigen Neubauten weichen mussten. Sie beschworen eine Idylle, die es zwar niemals gegeben hatte, die aber taugte, um in ihr Zuflucht vor den Verwerfungen der Gegenwart zu finden.47 Die Vorstellungen von einer Stadt, die in der Vergangenheit lokalisiert wurde und in der das Leben übersichtlicher und heimeliger gewesen sein soll, wurden im Topos Alt-Wien zusammengefasst (siehe viertes Kapitel).48 Die Wiener Bevölkerung, oder zumindest ein Teil von ihr, ließ ihren Blick zwar in die Vergangenheit schweifen und konstruierte Alt-Wien als positiven Kontrast zu den Beschwernissen des zeitgenössischen Alltags, zu den Entfremdungserfahrungen in einem sich rapide verändernden urbanen Umfeld. Die damit verbundene Unterhaltung, die Aufführungen von Possen und Einladungen zum Schunkeln im Takt der Wienerlieder, wurde von einem wachsenden Sektor der Einwohnerschaft aber als langweilig betrachtet. Viele andere Angebote der Vergnügungsindustrie versprachen mehr Spannung. Dazu gehörten atemberaubende Akrobatik, Vorstellungen von Artisten mit außerordentlichen Fähigkeiten, Personen mit ‚abartigen‘ Eigenheiten oder auch Vertreter exotischer Kulturen. All das wurde der vergnügungssüchtigen Bevölkerung von den aus dem Boden schießenden Varietés geboten. Danzer’s Orpheum, das Ronacher, das Apollo-Theater, das Colosseum, das Variété Gartenbau und andere Einrichtungen zeigten, wie man Menschen begeistern konnte. Diese Etablissements waren bautechnisch für einen Massenbesuch ausgelegt. Die Sitzplatzkapazitäten waren enorm: Das Apollo beispielsweise bot 24 Logen und 1.600 nummerierte Sitzplätze. Dazu kamen noch ein Restaurant, ein Kaffeehaus, ein Biertunnel und andere Räumlichkeiten.49 Das Ronacher war noch bombastischer gestaltet. Es beherbergte einen „Produktionssaal“ auf, in dem Tische mit Stühlen standen und mehr als 1.500 Personen Platz hatten. Die 62 Logen waren dabei noch nicht

46 Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1885–1918) (Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006) 4–7. 47 Fink, Wien 54. 48 Die Assoziation der Volkssänger mit dem vergangenen Ambiente der Donaumetropole wurde anlässlich des vierzigsten Berufsjubiläums von Edmund Guschelbauer (1839–1912), einem der bekanntesten Vertreter seines Standes, im Jahre 1903 explizit angesprochen, indem er als „einer der letzten Repräsentanten des singenden Altwien“ bezeichnet wurde. (Das Variété [15. 2. 1903] o. S.) 49 IWE 225 (14. 8. 1904) 9.

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eingerechnet. In diesem Raum befand sich auch eine Bühne für Aufführungen. Und dazu kam noch ein Festsaal für weitere 1.200 Gäste.50 Das Publikum in den Varietés ließ sich von Artisten begeistern, die mit ausgefallenen Leistungen aufwarten konnten oder zu können vorgaben. Dazu gehörte beispielsweise der amerikanische jüdische „Ausbrecherkönig“ Houdini, der im Frühjahr 1902 im Ronacher auftrat.51 Er ließ sich bei seinen Vorstellungen in Ketten legen, aus denen er sich innerhalb kürzester Zeit befreite. Das Publikum durfte seine Fertigkeiten nicht nur passiv bestaunen, sondern konnte sich persönlich davon überzeugen, dass die Fesseln fest angelegt waren, oder diese auch selbst anbringen. Es nahm aktiv am Spektakel teil. „Allabendlich, wenn Houdini auf die Scene kommt, treten zahlreiche Besucher auf die Bühne, die Fesseln und Schließen, die sie in ihrem Besitze haben, mitbringen, in der Hoffnung, Houdini in Verlegenheit setzen zu können. Aber Alle enttäuscht der ‚Ausbrecherkönig‘: noch so stark und sicher gefesselt, befreit sich Houdini von den Fesseln innerhalb Secunden.“52 Welche Attraktion Houdini darstellte, erkennt man daran, dass es eine Reihe von Artisten gab, die von seiner Popularität profitieren wollten. Nach Beendigung seines Gastspieles in Wien traten sie unter ähnlichem Namen und mit fast gleichem Programm auf. So konnte man im Wiedener Varieté den „Ausbrecherkönig Alfred Mourdini“ bewundern, der in Zeitungsannoncen verlautbaren ließ, den stattlichen Betrag von 500 Kronen darauf zu wetten, dass er sich aus allen Fesseln befreien könne.53 Im Ronacher wiederum war im Jahre 1904 der „Ausbrecherkönig Esco Nordini“ zu sehen. Er machte aber hauptsächlich durch ein Gerichtsverfahren auf sich aufmerksam, das er gegen Josef Modl anstrengte. Dieser hatte Nordini geohrfeigt, weil er seine Frau beleidigt hätte.54

3.2.2 Die Volkssänger im Kontext der Moderne Die Varietés boten eine modernere Form der Unterhaltung als die Volkssänger und trugen dadurch wesentlich zu deren Krise bei. In gewissem Sinne traten sie deren Nachfolge an, ohne die Volkssänger ganz zu verdrängen. Die Verbindung zwischen beiden ersieht man einerseits daran, dass Volkssängeraufführungen Teil des Abendprogrammes der Varietés bildeten, wofür diese immer wieder renommierte Volkssänger engagierten. Ein Paradebeispiel dafür stellte Josef Modl, der Mitbegründer der Budapester Orpheumgesellschaft, dar. Er wechselte 50 51 52 53 54

Eberstaller, Ronacher 29–30. IWE 59 (1. 3. 1902) 8. IWE 64 (6. 3. 1902) 8. IWE 43 (13. 2.) 7. IWE 121 (11. 5. 1904) 11.

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1889 ans Ronacher und blieb dort bis 1900 ein gefeierter Star. Gleichzeitig bauten die Volkssängerensembles ihr Abendprogramm aus und glichen dadurch zunehmend billigen Varietés beziehungsweise nahmen den Begriff auch in ihren Ensemblenamen auf.55 Trotzdem blieben drei wesentliche Unterschiede zwischen ihnen bestehen. Diese waren zwar nicht bei allen Einrichtungen und Gruppen ausgeprägt vorhanden, aber eignen sich zu einer Kontrastierung von Varietés und Volkssängern. Zum Ersten gilt, dass die Varietés, auch wenn sie auf Volkssänger und damit auf das lokale wienerische Ambiente zurückgriffen, vornehmlich darauf bedacht waren, die neuesten internationalen Entwicklungen auf dem Vergnügungssektor vorzustellen. Sie wollten alles, was im Ausland für Furore sorgte, in die Donaumetropole holen und dem einheimischen Publikum darbieten. Demgegenüber war den Volkssängern wenig an internationalen Trends gelegen. Vielmehr zeigten sie sich xenophob und forderten politische Maßnahmen gegen Auftritte fremder Truppen in Wien. Die Volkssänger waren auf die Vermittlung von bodenständiger Volkstümlichkeit bedacht. Da man sie wegen der Modernisierung des Alltages im Entschwinden glaubte, wurde sie vor allem mit der Vergangenheit assoziiert. Die unterschiedliche zeitliche Ausrichtung und der jeweils andere Umgang mit ausländischen Künstlern waren entscheidende, aber nicht die einzigen Differenzmerkmale zwischen den Volkssängern und den Varietés. Daneben hatten sie auch einen anderen Zugang zum Alltagsablauf. Priesen die Volkssänger die Gemächlichkeit, so verkörperten die Varietés die Schnelllebigkeit. Das zeigte sich nebst anderem an ihrem Aufführungsprogramm. Um sich weltberühmte Stars wie Sarah Bernhard auch wirklich leisten zu können, mussten die riesigen Aufführungssäle ausgelastet sein.56 Und damit der Publikumsandrang nicht versiegte, war es wichtig, die Besucher vor jedem Anflug von Langeweile zu bewahren. Deswegen wurde das Programm der Varietés häufig geändert. Die einzelnen Darbietungen wurden oftmals nach kurzer Zeit wieder abgesetzt und durch neue Attraktionen ersetzt. Nicht wenige Spielhallenbetreiber übernahmen sich dabei und mussten Konkurs anmelden.57 Die Volkssängergesellschaften, die sich eher am Altbewährten orientierten, zeichneten sich demgegenüber durch fehlenden Innovationsgeist aus. Der Mangel war bisweilen so offensichtlich, dass ihn sogar ihre Sympathisanten beklagten. Er wurde in einem Zeitschriftenbeitrag als wesentlicher Grund für den sinkenden Zuspruch der Wiener Bevölkerung zu den Volkssängeraufführungen angesprochen: „Bei der nervösen Hast, die heute selbst schon die untersten 55 Siehe IWE 243 (5. 9. 1903) 14. 56 Siehe IWE 249 (9. 9. 1905) 10. 57 Siehe IWE 66 (8. 3. 1901) 5.

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Schichten der Bevölkerung ergriffen hat, ist es eine Naturnotwendigkeit geworden, das Publikum anzuregen(,) und dies geschieht gewiss nicht durch das Reproduzieren der allerältesten Vorträge.“58 Dieses Zitat führt die Kluft zwischen den Angeboten der Volkssänger und der Nachfrage des Publikums nicht allein auf deren ungenügenden Erneuerungswillen zurück, sondern auch auf eine verbreitete kulturelle Befindlichkeit. Danach widersprachen häufige Wiederholungen im Aufführungsprogramm dem ‚Zeitgeist‘. Die Menschen wünschten sich Neues, Spektakuläres, sie wollten sich nicht mit Vertrautem und Bekanntem aufhalten. Es handelte sich dabei um eine Grundstimmung, die über die Programmgestaltung der Varietés hinausreichte und zunehmend auch das alltägliche Leben der Menschen bestimmte. Die rasant gestiegene Auflagenstärke der Boulevardpresse, die durch ihre Morgen- und Abendblätter wichtige Ereignisse möglichst zeitnahe verbreiten und den Informationshunger der Menschen nach Neuigkeiten schnellstmöglich stillen wollte, bildet einen anschaulichen Beleg dieser Entwicklung.59 Selbst der Schreibstil passte sich dem neuen Zeitmanagement an. Er wurde einfacher, die Sätze wurden kürzer, und die Informationen wurden auf das Wesentliche beschränkt, damit die Lektüre den Leser nicht unnötig viel Zeit kostet.60 Das Lebensumfeld der Menschen, so lässt sich diese Entwicklung zusammenfassen, war im späten 19. Jahrhundert von neuen Beschleunigungs- und Geschwindigkeitserfahrungen geprägt.61 Das zeigte sich nicht zuletzt am steilen Produktions- und Verkaufszuwachs von Taschenuhren. Breite Bevölkerungsteile gewöhnten sich dadurch an kürzere Zeitintervalle. Sie maßen Aktivitäten zunehmend in Minuten und Sekunden und lernten Pünktlichkeit. Durch die bessere Organisation des Handlungsablaufes konnte in einem gegebenen Zeitraum mehr unternommen werden als jemals zuvor.62 Die höhere Lebensgeschwindigkeit schlug sich auch in der Art und Weise der Fortbewegung nieder. Gemächliches Dahinschlendern schien der Vergangenheit anzugehören. Immer mehr Menschen machten den Eindruck, unentwegt von Eile getrieben zu sein und zu hetzen. Robert Musil hat in seinem Werk Der Mann 58 J. Kurz, Zur Lage des Wiener Volkssängertums. In: Das Variété 2 (26. 10. 1902) o. S. Zu den Wiederholungen bei den Volkssängern siehe Das Variété 1 (15. 10. 1902) o. S. 59 Zur Auflagenstärke der zeitgenössischen Zeitungen siehe Gabriele Melischek, Josef Seethaler, Auflagenzahlen der Wiener Tageszeitungen 1895–1930 in quellenkritischer Bearbeitung (= Arbeitsberichte der Kommission für historische Pressedokumentation 1, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2001): http://www.oeaw.ac.at/cmc/epubs/KMK_Arbeits bericht_No_1.pdf (10. 3. 2015) 60 Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880–1918 (Cambridge: Harvard University Press2 2003) 115. 61 Hartmut Rosa. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2005). 62 Kern, Culture 110–11.

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ohne Eigenschaften über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg festgehalten, dass die Menschen schnelleren Schrittes durch die Straßen hasteten als in früheren Jahrzehnten.63 Wem das immer noch zu langsam war, der konnte auf das Fahrrad zurückgreifen. Diese Art der Fortbewegung schien allerdings mit verschiedenen Gefahren verbunden zu sein. So könnte sich, so wurde gewarnt, bei zu hoher Fahrtgeschwindigkeit das Gesicht der Radfahrer zu einem sogenannten bicycle face verformen.64 Noch schneller als mit dem Fahrrad war man mit der Eisenbahn. Während die Volkssänger, an der Vergangenheit festhaltend, das Pferdegespann verherrlichten, begeisterten sich die Menschen zunehmend für das neue Transportmittel.65 Auch darin lässt sich eine Diskrepanz und wachsende Entfremdung zwischen dem Volkssängerstand und seinem Publikum erkennen. Der beschleunigte Lebensrhythmus wurde aber nicht nur als Segen empfunden. Er schien auch mit allerlei Krankheiten einherzugehen.66 Die enorme Zunahme wirtschaftlicher Transaktionen aufgrund des Ausbaus der Eisenbahn, der Nutzung der Dampfkraft und des Telegraphen würde, wie von medizinischer Seite gewarnt wurde, zu verstärkter Zahnfäulnis führen und Haarausfall begünstigen. Aber noch viel bedrohlicher war die Zunahme von Nervenschwäche (Neurasthenie). Deren erstmalige Beschreibung wird auf den amerikanischen Arzt Georg M. Beard zurückgeführt. Er sah die Ursache im „american way of life“.67 In Wien beschäftigte sich unter anderem der jüdische Arzt Martin Engländer mit diesem Leiden. In einem Vortrag, den er vor einem zionistischen Verein hielt und der 1902, also während der Turbulenzen unter den Wiener 63 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (Hamburg: Reinbek 1995) 31–32. 64 Kern, Culture 111. 65 Siehe Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert (Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch6 2000). Die Assoziation zwischen dem Volkssängertum und den Pferdekutschen zeigt sich beispielhaft an einem der bekanntesten Wienerlieder, dem Fiakerlied, das 1885 vom jüdischen Kaufmannssohn Gustav Pick (1832–1921) verfasst wurde. Seine Popularität verdankte es nicht zuletzt seines Vortrages durch den Schauspieler Alexander Girardi (1850–1918). Die Geschichte des Fiakerliedes kann auch als ein hervorragendes Beispiel für eine jüdisch-nichtjüdische Kooperation auf dem Gebiet des Volkssängertums gelesen werden. (Siehe Klaus Hödl, The quest for amusement: Jewish leisure activities in Vienna circa 1900. In: Jewish Culture and History 15 (2012) 1–17. [online http://www.tandfonline.com/eprint/yzPgE juSfb2QZZS7tgWq/full] Ein weiterer nostalgischer Rückblick auf das Pferdegespann kommt im Lied „Leb‘ wohl, Du altes Tramwaypferd, Du hast für d’neue Zeit kein Werth“ zum Ausdruck, dem Adolfi, der Sohn von Albert Hirsch, zum Durchbruch verhalf. 66 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler (München: Carl Hanser Verlag 1998) 173–259. 67 Beard soll 1869 die Neurasthenie skizziert haben. (Charles E. Rosenberg, The Place of Georg M. Beard in Nineteenth-Century Psychiatry. In: BHM XXXVI [1962] 248.) Aber bereits ein Jahr zuvor war der Begriff von einem anderen Amerikaner in einem Vortrag eingeführt worden. (Philip P. Wiener, G. M. Beard and Freud on American Nervousness. In: JHI 2 [1956] 271.

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Volkssängern, in Druckfassung erschien, sagte er, dass das „Kämpfen, Hasten und Treiben, Jagen nach Glück … nicht spurlos an den Menschen vorübergleiten (konnten). … Breite Schichten der heutigen Gesellschaft aller europäischen und namentlich amerikanischen Staaten wurden nervös und neurasthenisch.“68 Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass im Vergnügungsteil der Zeitungen, wo die neuen Unterhaltungsshows angekündigt wurden, Engländer Annoncen für jene schaltete, die sich gegen ihre Nervenschwäche behandeln lassen wollten.69 Bisweilen glaubten die Ärzte, dass sich die Menschen an die neuen Umstände anpassen könnten. Beard war beispielsweise dieser Meinung. Andere befürchteten eher deren Verfall und verwendeten dafür den Begriff der Degeneration, wie es der Schriftsteller und Zionist Max Nordau (1849–1923) tat. Er sah in der Moderne und ihren Begleiterscheinungen die Ursache für eine Zunahme von Geisteskrankheiten, Kriminalität und anderen Leiden.70 In diesem Sinne war die Beschleunigung des Alltages bestenfalls eine ambivalente Entwicklung, aus medizinischer Sicht vielleicht sogar sehr problematisch. Die Gemächlichkeit des Lebensstils, den die Volkssänger verkörperten, schien demgegenüber Krankheiten, vor allem das amerikanische Leiden der Neurasthenie und andere sogenannte Nervenkrankheiten, die mit der neuen Alltagshektik verbunden wurden, hintanzuhalten. Und dazu noch die „kulturelle Verpöbelung“, die mit dem fremden Amerika oftmals assoziiert wurde und nach dem Schriftsteller Richard Guttmann (1884–1920), selbst jüdisch, im Varieté ihren Ausdruck fand. Dieses, so schreibt er, „starrt vor Pracht. Alles ist prachtvoll, großartig, phänomenal, überwältigend. … Provinzler mit ihren lüsternen Frauen und überreifen Töchtern. … , städtisch verkleidete Bauern … Gewohnte Armut neben plötzlicher Wohlhabenheit. … Die Idee einer inneren Pöbelhaftigkeit verbindet sie alle. … Diese Schaulust gehört zur Biologie des Pöbels. Die Unkultur, alle Entwicklungsunmöglichkeit verwandelt sich in Zuschauen. … Durch die befriedigte Schaulust wird hauptsächlich die Langweile vertrieben. … Dort frißt einer Nägel und Glassplitter, einer durchsticht sich die Wange. Dort baumelt ein Chinese an seinem eigenen Zopf, ein Fakir läßt das Auge heraushängen, ein Neger beißt eine Schlange durch und ein weißer Mann spaziert über eine waagrechte Leiter, den Kopf nach unten. In banger Erwartung harrt die Versammlung des Augenblicks, wo er sich die Hirnschale zerschmettert. … Tiere und Menschen genügen dem Pöbel nicht mehr. Das freiwillige Leid, als Opfer und Mast der Schaulust, wird Selbstzweck.“71

68 Martin Engländer, Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse (Wien 1902) 16. 69 IWE 4 (4. 1. 1903) 27. 70 Max Nordau, Degeneration (Lincoln: University of Nebraska Press2 1993). 71 Richard Guttmann, Variété. Beiträge zur Psychologie des Pöbels (Deutsch-Österreichischer Verlag: Wien, Leipzig 1919).

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Aber trotz der Bedenken, die es gegenüber den neuen Formen der Unterhaltung gab, begeisterten sich die Menschen zunehmend für die Varietés, und natürlich auch den Film. Die Volkssänger mussten härter als jemals zuvor um ihr Publikum kämpfen. Sie befanden sich in einer veritablen Krise. Darin muss ein weiterer wesentlicher Grund für die Feindseligkeit gegenüber den ungarischen Ensembles, und letztlich auch für den „Volkssängerkrieg“, gesehen werden.

3.3

Der Übergang vom Konflikt zum „Krieg“

Am Ende der Veranstaltung vom 27. Oktober 1902 beschlossen die Volkssänger, eine Petition zur Anerkennung ihres Berufsstandes als konzessioniertes Gewerbe einzureichen. Damit entschieden sie, dass sie sich nicht grundlegend modernisieren und mehr Konkurrenz zulassen wollten. Die Ausarbeitung und Abgabe der Bittschrift wurde einem Vertrauensmänner-Komitee übertragen, dem neben einigen anderen Recher, Rötzer, und Hirsch angehörten.72 Diesem oblag auch die Formulierung etwaiger weiterer Reformvorhaben. Zu deren Erörterung fand am 13. Dezember 1902 im Café Polzhofer, einer von den Volkssängern häufig frequentierten Lokalität, abermals eine Versammlung statt. Den Vorsitz der neuen Zusammenkunft übernahm Reichsratsabgeordneter Alois Heilinger (1851–1921). Das zeigt, dass die Volkssängercausa zunehmend zu einer politischen Agenda wurde. Rötzer und Hirsch hielten die Hauptreferate. Beide bekräftigten die Notwendigkeit, Volkssängerlizenzen lebenslang zu erteilen. Allerdings sollten die Behörden weiterhin die Möglichkeit besitzen, diese den Inhabern abzunehmen, sollten sie die Mitglieder ihrer Ensembles nicht das ganze Jahr über anstellen. Im Weiteren wurde über die Gründung einer Genossenschaft für Volkssänger diskutiert. Diese würde von den Behörden vor Erteilung einer Lizenz kontaktiert und um die Erstellung eines Gutachtens über den Antragsteller gebeten. Entsprechende Vorbereitungsarbeiten sollten von Rötzer, Recher und Hirsch ausgeführt werden. Die Bereitschaft der Volkssänger, den Behörden die Kompetenz zu überlassen, bereits ausgegebene Konzessionen wieder einzuziehen, sieht auf den ersten Blick wie ein Entgegenkommen an die nichtlizenzierten Berufskollegen aus. Damit würde sich deren Wahrscheinlichkeit, auch einmal in den Genuss einer Konzession zu kommen, zumindest ein wenig erhöhen. Der wirkliche Grund für das Einlenken der Volkssänger dürfte aber in der Einsicht gelegen haben, dass ohne behördliche Kontrolle Missstände aufträten, die dem gesamten Berufsstand zum Schaden gereichten. Die jüngere Vergangenheit lieferte ein Lehrbeispiel. So nahm die Wiener Polizei im März 1896 zehn Konzessionären die Berechtigung zur 72 IWE 297 (28. 10. 1902) 5.

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Führung einer eigenen Gesellschaft ab. Sie waren entweder zu alt, um ihren Gruppen vorzustehen, oder in anderer Weise beeinträchtigt. Es war beispielsweise ein offenes Geheimnis, dass die Truppe von Volkssängerdirektor Johann Kwapil, der zu diesem Zeitpunkt im 79. Lebensjahr stand, de facto vom Ensemblemitglied Lina Ott geleitet wurde.73 Nichtsdestoweniger war Kwapil immer noch der Lizenzinhaber und hatte volle Entscheidungsbefugnis über sein Ensemble.74 Ein weiterer Volkssängerdirektor soll unter der Woche einem anderen Beruf nachgegangen sein. Er ließ seine Gesellschaft nur sonntags auftreten. Damit konnten seine Angestellten kaum das Nötigste zum Überleben verdienen. Mit dem Einzug der Lizenzen durch die Polizei gerieten viele Familien von einem Tag auf den anderen in Not. Als Reaktion darauf fand am 14. März 1896 im Wiener Stadtteil Hernals ein Volkssängertreffen statt, bei dem Hirsch den Vorschlag einbrachte, für die Familien der Kollegen, die ihre Anstellung verloren hatten, eine Sammlung durchzuführen. Er erklärte sich auch bereit, eine Deputation von Volkssängern zu leiten, die dem Ministerpräsidenten Graf Kasimir Felix Badeni (1846–1909) eine Denkschrift über die plötzlich arbeitslos gewordenen Kollegen überreichen sollte.75 Das Treffen mit ihm fand zwei Tage später statt. Kurz darauf wurde Hirsch von der Polizei benachrichtigt, dass neun der zehn betroffenen Volkssänger um eine Erneuerung ihrer Konzession ansuchen könnten.76 Aufgrund des erfolgreichen Umgangs mit der Affäre erwarb sich Hirsch im Volkssängermilieu großen Respekt. In einer Tageszeitung heißt es über sein Engagement: „In überaus liebevoller Weise nimmt sich unser braver Wiener Volkssänger Hirsch der Sache seiner brodlos (!) gewordenen Collegen an. Der Mann ist den ganzen Tag auf den Beinen. Er rennt von Behörde zu Behörde, um Gnade für die gemaßregelten Volkssänger zu erbitten, …“77 Die Zusammenkunft am 13. Dezember 1902 war das letzte Treffen, bei dem Hirsch seine Unterstützung für die Reformvorstellungen von Recher, Rötzer und ihren Gefolgsleuten bekundete. In den darauffolgenden Wochen legte er ein Verhalten an den Tag, das man rückblickend als Indiz einer geänderten Positionierung auslegen könnte. Den Anfang machte eine Sitzung des Vertrauensmänner-Komitees am 9. Jänner 1903, dem Hirsch seit dessen Gründung Ende Oktober des Vorjahres angehörte. Dabei wurde die Parole „Schutz den Einhei73 Johann Kwapil (1818–1910) war von Beruf Schneider. Nach einem Aufenthalt in England übernahm er 1853 für neun Jahre das Etablissement Universum im Wiener Bezirk Brigittenau. In späteren Jahren leitete er verschiedene Volkssängergesellschaften und Singspielhallen. (Siehe Koller, Volkssängertum 16.) 74 IWE 73 (14. 3. 1896) 3. 75 IWE 74 (15. 3. 1896) 3. 76 IWE 77 (18. 3. 1896) 4. 77 IWE 76 (17. 3. 1896) 3.

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mischen“ ausgegeben, und die Mitglieder stimmten für die Beibehaltung des Konzessionszwangs. Hirsch selbst nahm aufgrund vorgeschobener gesundheitlicher Gründe nicht an der Sitzung teil. Wie einige Monate später bekannt werden sollte, begab er sich stattdessen zu einer anderen Versammlung von Berufskollegen, die sich für die Aufhebung der Konzessionspflicht aussprachen.78 Der 19. Jänner 1903 war ein weiterer Eckpunkt auf Hirschs Weg zu seiner Selbstoffenbarung. Überrascht durch die tief steckende und verbreitete Unzufriedenheit der Volkssänger mit den gesetzlichen Vorgaben für ihre Berufsausübung führte die Polizei an diesem Tag eine Enquête über deren Wünsche bezüglich eines neuen Regulativs durch.79 Als Experten wurden einige ihrer Vertreter, darunter Hirsch, Recher, Rötzer, Karl Walenta und Spacek, eingeladen. Der Kompromiss zwischen den Volkssängern und der Polizei lautete, dass die Lizenzen auf drei Jahre vergeben und bei Straflosigkeit des Inhabers verlängert würden, und dass sie nicht zu verpachten seien. Bei der Frage, ob die Volkssängergesellschaften lizenzierte Mitglieder anstellen müssten oder sich mit den billigeren Kollegen ohne Konzession begnügen dürften, wurde die Debatte so heftig, dass sie beendet und die Sitzung für eine Woche unterbrochen wurde. Volkssänger Walenta brachte nämlich im Namen von 41 Volkssängerführern den Antrag ein, jeden Lizenzierungszwang aufzuheben. Dagegen wandten sich vor allem Recher und Rötzer. Sie meinten, dass dies „den vollständigen Ruin des Wiener Volkssängerstandes bedeuten würde. Die unlizenzirten Sänger und Sängerinnen würden dann den Wiener Volkssänger vollständig verdrängen, …“.80 Hirsch hielt sich bei der Auseinandersetzung im Hintergrund. Noch wussten Recher und Rötzer nicht, dass er ebenfalls zu den Volkssängern gehörte, in deren Namen Walenta sprach. Hirsch mischte sich erst in die Debatte ein, als es um die sogenannten Schikanen gegen österreichische Volkssänger in Ungarn ging. Dabei forderte er abermals die Aussperrung ungarischer Kollegen. In diesem Punkt schien er seiner Haltung treu zu bleiben. Er galt auch weiterhin als einer der unerbittlichsten Gegner von Aufführungen ungarischer Gruppen in der Habsburgermetropole. Im Februar und März 1903 überstürzten sich die Ereignisse. Als Auslöser diente das Gerücht, dass die ungarische Gruppe Folies-Caprice vorhabe, schon bald nach Wien zu übersiedeln. Im Hotel Central in der Taborstraße würden zu diesem Zweck bereits Räumlichkeiten adaptiert. Dagegen legten drei Singspielhallenbetreiber, deren Etablissements sich in unmittelbarer Nähe davon befanden, bei der örtlichen Behörde Protest ein. Bei diesen Personen handelte es sich um den bereits erwähnten Karl Lechner, der die Budapester Orpheum-Gesell78 IWE 144 (26. 5. 1903) 9. 79 Das Variété 13 (25. 1. 1903) o. S. 80 IWE 20 (20. 1. 1903) 6.

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schaft leitete, Fritz Lung als Direktor der Folies-Comiques und Albert Hirsch, der an Edelhofer’s Leopoldstädter Volks-Orpheum die Lemberger Singspiel-Gesellschaft betreute.81 An dieser Konstellation ist bemerkenswert, dass alle drei Gruppen im weiteren Sinne als ‚jüdische Ensembles‘ galten. Diese Bezeichnung war auch auf die Folies-Caprice aus Budapest anwendbar. Vor diesem Hintergrund ist ein großer Teil der Erschütterungen, denen der Volkssängerstand im Wien der Jahre 1902/03 ausgesetzt war, als ein ‚innerjüdischer Konkurrenzkampf‘ zu sehen. Einige Tage nach dieser Protestbekundung stattete eine Abordnung von Wiener Volkssängern und Singspielhallenbesitzern, die aus Recher, Rötzer und Lechner bestand, dem Reichsrat einen Besuch ab. Sie überreichte dem Abgeordneten Alois Heilinger (1859–1921) eine Denkschrift. Darin wurde die Behandlung österreichischer Volkssänger und Singspielhallenbesitzer in Ungarn kritisiert sowie gefordert, Aufführungen ungarischer Kollegen in Wien nicht mehr zuzulassen. Der Fall der Folies-Caprice wurde explizit angesprochen. Heilinger versprach, das Anliegen der Volkssänger in Form einer Interpellation an den Ministerpräsidenten weiterzuleiten. Mit den Folies-Caprice galt zum ersten Mal eine konkrete ungarische Gruppe als Feindbild des Wiener Volkssängerstandes. Damit fanden sich dessen Vertreter in einer neuen Lage wieder: Von nun an konnten sie sich nicht mehr ganz allgemein für die Aussperrung ungarischer Truppen aus Wien aussprechen. Vielmehr mussten sie ihren Einfluss auf die lokale Politik an einem spezifischen Anliegen ihrer Kollegen beweisen. Die Verhinderung der geplanten Übersiedlung der Folies-Caprice nach Wien bildete gleichsam den ‚Lackmustest‘ für die Durchsetzungsfähigkeit des Vertrauensmänner-Komitees. Die ersten Reaktionen der Volkssänger auf das Vorhaben der Folies-Caprice zeigten sich in einer Radikalisierung der Sprache. In den Diskussionen ging es jetzt nicht mehr um etwaige Auftritte ungarischer Artisten in Wien, sondern um die „Invasion ungarischer Volkssänger“. Damit wurde das imaginierte Gefahrenpotential gesteigert. Im Weiteren wurde versucht, die Bemühungen um Auftrittsverbote ungarischer Ensembles in Wien nicht als Taktik in einem beruflichen Konkurrenzkampf erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck wurde der Zusammenhang zwischen den Wiener Volkssängern und dem historischen sowie kulturellen ‚Erbe‘ der Habsburgermetropole stärker betont. Dabei wurde von einem „in kurzer Zeit zu erwartenden gänzlichen Ruin eines mit dem Wienerthum innig verwachsenen und mit der Localhistorik eng verknüpften Berufszweiges“ gesprochen.82 Nach dieser Sichtweise wurde der Zuzug der Folies-Ca-

81 Das Variété 20 (18. 3. 1903) o. S. 82 IWE 69 (11. 3. 1903) 3.

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price in die Leopoldstadt als ein Anschlag auf das gesamte ‚Wienertum‘ und die verbreiteten Vorstellungen von Alt-Wien gedeutet.

3.3.1 Der ‚Verrat‘ von Albert Hirsch an seinen Volkssängerkollegen Zwar ist es einigermaßen verwunderlich, dass Hirsch nicht der Deputation angehörte, die den Reichsrat aufsuchte. Als Mitglied des Vertrauensmänner-Komitees, das anlässlich des Ersten österreichischen Volkssänger- und Gesangs-Artisten-Tages am 27. Oktober 1902 ins Leben gerufen worden war, wie auch als einer der drei Spielhallenbetreiber, die gegen die Niederlassung der Folies-Caprice in der Taborstraße eine Beschwerde an die Behörden gerichtet hatten, hätte er die Abordnung vielleicht sogar anführen müssen. Aber trotz Hirschs Absenz wies zu diesem Zeitpunkt noch nichts darauf hin, dass der Volkssängerstand in der Frage des Umgangs mit ungarischen Artisten gespalten war. Nur vor diesem Hintergrund sind die Aufregung und Empörung verständlich, die eine Art Leserbrief im Illustrirtes Wiener Extrablatt unter den Wiener Volkssängern auslöste. Er war von Hirsch und Franz Pischkittl, Pächter des Hotel Central, wo die ungarische Gruppe Folies-Caprice ihre Auftritte geben wollte, verfasst worden und erschien sechs Tage nach der Vorsprache der Volkssänger im Reichsrat. Das Schreiben ließ die unterschwelligen Konflikte unter den Volkssängern endgültig in einen „Krieg“ ausarten, der nicht nur die Wiener Boulevardpresse in seinen Bann zog. Der Text von Hirsch und Pischkittl kann im Wesentlichen in fünf thematische Punkte unterteilt werden. Es war das erste Mal, dass Hirsch mit seiner Meinung über die Verhältnisse unter den Volkssängern an die Öffentlichkeit trat und nicht irgendwelche Erwartungshaltungen zu erfüllen trachtete. In diesem Sinne erfuhren die Zeitungsleser auch etwas über seine Deutung der bisherigen Geschehnisse. Hirsch beginnt seinen Text mit einer Hinterfragung der Legitimation von Rötzer, die Volkssänger zu vertreten. Dabei kommt er auf die von der Polizei einberufene Volkssänger-Enquête vom 19. Jänner 1903 zu sprechen, bei der Walenta im Namen von 41 Berufskollegen den Antrag einbrachte, die Konzessionserteilung ganz abzuschaffen. Hirsch meint nun, dass diese Volkssänger auch gegen deren Repräsentation durch Rötzer votiert hätten. Er sei deswegen gar nicht befugt, für sie zu sprechen.83 Der zweite Aspekt betrifft die Motive von Recher und Lechner, gegen die ungarischen Volkssänger aufzutreten. Hirsch weist auf ein widersprüchliches Verhalten der beiden Protestierenden hin. Einerseits agitierten sie gegen Vor83 IWE 74 (16. 3. 1903) 3.

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stellungen ungarischer Ensembles in Wien. Andererseits hätten die beiden in letzter Zeit sehr wohl mit ungarischen Artistinnen zusammengearbeitet. In ganz Wien gebe es derzeit nur zwei ungarische Sängerinnen. Eine sei Clara Aranyossi, die beim Kapellmeiser im Café Riedl, Karl Recher, unter Vertrag stehe. Und die andere sei Sophie Ferenczi, die bis vor kurzem Mitglied der Budapester OrpheumGesellschaft gewesen sei, der Lechner vorstand.84 Vor diesem Hintergrund wollte Hirsch die Motivation von Lechner und Recher, ungarische Künstler von Wien fernzuhalten, zumindest als hinterfragungswürdig erscheinen lassen. Nach Hirsch haben Rötzer, Recher und Lechner kein Recht, sich gegen den Zuzug der Folies-Caprice auszusprechen. Alle drei sind in der einen oder anderen Weise diskreditiert. Und daran schließt er den dritten Punkt an. Er nimmt nun erstmals in der Öffentlichkeit gegen die Konzessionsvergabe Stellung. Er beschreibt die dabei zu erwartenden Folgen, wie beispielsweise eine Zunahme an Konkurrenz unter den Artisten, als Entwicklungen, die mehr oder weniger zum Arbeitsalltag gehörten. Die Niederlassung der Folies-Caprice in Wien, so kann man Hirschs Stellungnahme interpretieren, darf nicht als ein Eindringen von Fremden verstanden werden. Vielmehr stellt sie eine Folge berufsbedingter Mobilität dar, die dem Volkssängerstand eigen ist. Auch er, so führt Hirsch an, habe in der Vergangenheit unter dem Zuzug von Künstlern aus Ungarn gelitten. Vor rund einem Jahrzehnt, als die Budapester Orpheum-Gesellschaft in das Hotel Schwarzer Adler eingezogen sei, seien „wir Wiener Kinder: Kutzel, Mirzl, SeidlWiesberg, Gutschelbauer (!) und meine Wenigkeit aus dem Locale, nota bene bei gutem Geschäftsgang(,) verdrängt“ worden. Die Personen, die Hirsch beim Namen nennt, stellen die Crème de la Crème des älteren Wiener Volkssängerstandes dar. Indem er sich selbst als einen von ihnen bezeichnet, positioniert er sich als ‚urwienerischer‘, und damit zu Alt-Wien gehörender, Volkssänger. In dieser Weise mag er versucht haben, etwaigen Versuchen, ihm wegen seines Jüdisch-Seins ein ‚authentisches‘ Volkssängerdasein streitig zu machen, vorzugreifen. Obwohl die Budapester Orpheumgesellschaft, wie Hirsch erzählt, anfänglich für Irritationen unter den lokalen Wiener Volkssängern gesorgt habe, sei es der neuen Gruppe recht rasch gelungen, zu einem allseits respektierten und integralen Bestandteil der Wiener Unterhaltungskultur zu werden. Sie stelle somit ein vorzügliches Beispiel für die Bereicherung des Wiener Vergnügungsbetriebs durch eine ausländische Truppe dar. Hirsch macht aus der Niederlassung der Budapester in Wien ein Präzedens für die Folies-Caprice. Er versucht damit, Bedenken bezüglich ihrer angekündigten Etablierung in der Habsburgermetropole zu zerstreuen.

84 Das Variété 20 (18. 3. 1903) o. S.

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Im Weiteren betont Hirsch im Leserbrief, dass die Folies-Caprice als ein „Familien-Variété“ eingerichtet würden. Das heißt, dass die dargebotenen Stücke bar jeglicher Pikanterie seien, sodass sogar Kinder zu den Aufführungen mitgenommen werden könnten. Hirschs Bekundung ist vor dem Hintergrund des Umstandes verständlich, dass den Folies-Caprice der Ruf vorauseilte, mit schlüpfrigen Vorstellungen Erfolg zu haben. Hirsch wollte mit seinem Hinweis moralisch argumentierenden Kritikern einen Angriffspunkt nehmen. Nach diesen etwas besänftigenden Ausführungen kommt Hirsch zum eigentlich brisanten Punkt seines Schreibens. Er unterzeichnet den Leserbrief als „A. Hirsch, Wiener und eventueller alleiniger Director des neuen Wiener Familien-Variété im ‚Hotel Central‘, Taborstraße Nr. 8.“85 Hirsch stellt sich somit, und das eher nebenbei, als Leiter der Folies-Caprice vor. Er stellt sich als derjenige vor, der sie nach Wien holt. Das Erscheinen des Leserbriefes versetzte den Volkssängerstand in einen kurzen Schockzustand. Eineinhalb Jahre lang waren Versammlungen abgehalten, Resolutionen verfasst und Politiker kontaktiert worden, um Auftritte ungarischer Gruppen in Wien zu verhindern. Nun schien alles umsonst gewesen zu sein. Noch schwerer als die vergeblichen Mühen wog allerdings der Umstand, dass die Volkssänger von einem ihrer Kollegen hintergangen und kompromittiert wurden. Noch dazu von jemandem, der sich mit Ausfällen gegen ungarische Gruppen immer hervorgetan hatte. Hirsch musste bewusst gewesen sein, dass seine Selbstdeklaration einen Aufruhr unter den Volkssängern auslösen würde. Mit seiner Taktik, die Konzessionsfrage in den Mittelpunkt des Leserbriefes zu stellen, wollte er die erwartete Empörung zumindest ein wenig abfedern. Eine Aufhebung der Lizenzvergabe, die viele seiner Kollegen forderten, implizierte nämlich, dass ausländische Ensembles ohne irgendwelche Einschränkungen in Wien auftreten dürfen. Hirsch konnte davon ausgehen, dass diejenigen Volkssänger, die sich gegen Lizenzen ausgesprochen hatten und damit auch eine verschärfte Konkurrenzsituation in Kauf nahmen, nicht gegen ihn agitieren würden. Er sollte aber Unrecht behalten.

3.3.2 Von den polnischen Artisten zu den polnischen Juden Hirsch war nach der Veröffentlichung des Leserbriefes massiven Anfeindungen vonseiten seiner Berufskollegen ausgesetzt. Nur ganz wenige ergriffen für ihn Partei. Einige Tage später bekam er Gelegenheit, sich in einem größeren Rahmen zu seinem Vorgehen zu äußern. Zu diesem Zweck organisierten Recher und 85 IWE 74 (16. 3. 1903) 3.

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Rötzer in Seifert’s Saal im Wiener Bezirk Hernals eine öffentliche Versammlung. Sie wurde unter das Motto „Kritische Beleuchtung des Volkssängers Hirsch“ gestellt. Dabei kam es zu heftigen Wortgefechten und Schreiduellen. Der Lärm lockte viele Menschen auf der Straße an, die in ihrer Neugier das Versammlungsgebäude belagerten. Die Polizei hatte große Mühe, die Menge in Schranken zu halten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erlangte der Konflikt auch den Charakter eines volksbelustigenden Spektakels. Der Saal, in dem die Versammlung stattfand, war schon lange vor Beginn bis zum letzten Platz gefüllt. Albert Hirsch kam mit einer Gruppe von rund zwanzig Getreuen, die ihm beim Auftritt unter seinen Kritikern Rückhalt bieten sollte. Nicht alle von ihnen schienen dem Volkssängerstand anzugehören. Bereits zu Beginn des Treffens zeichnete sich ab, dass es zu keiner Versöhnung der verfeindeten Lager kommen würde. Die Spannungen zwischen ihnen schienen zu groß zu sein, und von einer Bereitschaft, persönliche Anwürfe hintanzuhalten, war nichts zu bemerken. So versuchten beispielsweise Albert Hirsch und sein Sohn Adolfi, Recher zu kompromittieren, indem sie auf grammatikalische und syntaktische Fehler im Einladungstext hinwiesen. Diese seien, wie sie meinten, ein Beweis, „welch‘ inferiorer Bildung sich der Einberufer … erfreut“.86 Einen ersten Tumult gab es, als Recher zum Vorsitzenden und Spacek zu seinem Stellvertreter gewählt wurden. Hirsch und seine Anhänger protestierten lauthals dagegen. Da bei diesem Treffen nicht nur über Hirschs Verhalten bezüglich der FoliesCaprice, sondern auch über andere Aktivitäten von ihm gesprochen wurde, geben die verschiedenen Stellungnahmen und Wortmeldungen ein weiteres Mal einen informativen Einblick in das Wiener Volkssängermilieu. Recher fungierte als Hauptredner der Zusammenkunft. Aus seinen Ausführungen wird beispielsweise klar, warum bei der ersten Versammlung im Dezember 1901 eine feindselige Stimmung gegen Hirsch geherrscht hatte. Recher erinnerte die Wiener Volkssänger daran, dass sie schon mehrmals von Hirsch düpiert worden seien. Als Beispiel nannte er den „Extrablatt-Boykott“. Dabei seien die Volkssänger übereingekommen, jeglichen Kontakt zum Illustrirten Wiener Extrablatt abzubrechen. Hirsch habe diese Abmachung allerdings unterlaufen und der Zeitung weiterhin Informationen über die Wiener Volkssängerszene zukommen lassen. In der Folge sei er von diesem Medium besonders positiv dargestellt worden. Hirsch hätte demnach mit unfairen Mitteln einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Kollegen errungen. Im Weiteren sprach Recher in seiner Suade das Verhältnis zwischen den Volkssängern und der Autorengesellschaft an. Im Jänner 1897 habe Hirsch seinen Kollegen empfohlen, die Autorengesellschaft zu

86 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S.

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boykottieren, weil deren Tantiemen unangemessen hoch seien.87 Stattdessen sollten die Volkssänger eigene Stücke spielen. Ein Jahr später habe Hirsch in einer Tageszeitung eine Annonce geschaltet, in der er verlautbart habe, dass er Possen und Musikstücke von Autoren und Komponisten annehme. Damit habe er eigenmächtig die Solidarität mit den Volkssängern aufgekündigt.88 Und nach dem gleichen Schema gehe Hirsch in Bezug auf die Folies-Caprice vor. Er sei permanent gegen ungarische Truppen aufgetreten und habe auch andere Volkssänger dazu ermuntert. Nun hole er aber ein Ensemble aus Budapest nach Wien. Dafür seien die Folies-Caprice, die für ihre Auftritte in Wien keine Konzession erhalten hätten, über einen Mittelsmann an Hirsch herangetreten und hätten ihm 12 Gulden pro Tag geboten, wenn er (als Konzessionsinhaber) dem Ensemble als Direktor vorstünde. Da er für diese Funktion bei der polnischen Singspiel-Gesellschaft aus Lemberg nur 8 Gulden bekomme, habe er nicht gezögert, zuzustimmen. Recher warf Hirsch in diesem Zusammenhang Rücksichtslosigkeit und Geldgier vor. Er meinte, dass dieser seinen Charakter wie jemand anderer seine Unterhosen wechsle und sich stets jenen anbiedere, von denen er sich den größten Profit erwarte.89 In welchem Maße die Anschuldigungen gegen Hirsch zutrafen, bleibt dahingestellt. Vor dem Hintergrund von Hirschs Jüdisch-Sein mag deren Ähnlichkeit mit geläufigen antijüdischen Vorurteilen aber nicht ganz zufällig gewesen sein. Und dass Recher antisemitischen Anspielungen nicht abgeneigt war, zeigte sich an seinen weiteren Ausführungen. In seinen Hinweisen auf Hirschs Tätigkeit als Direktor der Lemberger Singspiel-Gesellschaft bezeichnete er die Truppe als „polnische Juden“.90 Obwohl aus der Zuhörerschaft sofort ein Zwischenruf mit der Forderung hörbar wurde, die Ensemblemitglieder nicht als Juden zu titulieren, sondern sie polnische Artisten zu nennen, wiederholte Recher die Bezeichnung „polnische Juden“.91 Damit wurde zum ersten Mal in der Auseinandersetzung unter den Volkssängern das Jüdisch-Sein in stigmatisierender Weise betont. Es wurde als eine Kategorie verwendet, die das Artist-Sein ersetzt. Recher führte somit eine zweifache Dichotomie ein: Zum Ersten zwischen wienerisch und polnisch, und zum Zweiten zwischen Volkssänger und Jude. Ein Mitglied des Lemberger Ensembles konnte demnach nicht nur kein wirklicher Wiener, sondern auch kein Volkssänger sein. Letztlich meldete sich noch Josef Modl zu Wort. Er bemängelte Hirschs Aussage, dass mit der Budapester Orpheumgesellschaft schon einmal eine un87 88 89 90

Zu diesem Punkt siehe auch IWE 198 (22. 7. 1901) 3. Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S. Das Varieté 21 (25. 3. 1903) o. S. Da Hirsch in Wien geboren wurde, blieb er formell von der diffamierenden Bezeichnung ausgespart, obwohl sie eigentlich an ihn gerichtet gewesen sein dürfte. 91 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S.

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garische Truppe nach Wien gekommen sei und er unter diesem Zuzug gelitten habe. Modl betonte, dass die allermeisten Mitglieder des Ensembles zum Zeitpunkt seiner Gründung keine Ungarn, sondern Wiener gewesen seien. Allerdings hätten sie in Budapest gearbeitet. Damit machte er eine deutliche Unterscheidung zwischen der Budapester Orpheumgesellschaft und den Folies-Caprice, gegen deren Niederlassung in Wien er sich explizit aussprach, indem er meinte: „Aber ganze ungarische Gesellschaften brauchen wir keine. Wir wollen uns nicht vom fremden Zuzug auffressen lassen.“92 Gleichzeitig hob Modl hervor, dass der Artistenstand international sei. Damit stützte er Hirschs Argumentationslinie und positionierte sich gegen die Versuche von Recher, die Volkssänger national zu vereinnahmen und sie gegen Juden zu positionieren.93

3.3.3 Performative Teilhabe als Kriterium der Zugehörigkeit Während Modl nur sehr vorsichtig auf Distanz zu Recher ging, reagierte Hirsch viel direkter auf dessen judenfeindliche Spitzen. Er machte dies, indem er sein eigenes Jüdisch-Sein explizit ansprach und es mit gängigen antijüdischen Stereotypen kontrastierte. Wie bereits einige Tage zuvor im Zeitungsartikel, so versuchte er auch jetzt, sich als echter Wiener zu verorten, der sich von den Mitgliedern ‚ausländischer‘ Ensembles unterscheide. Er kritisierte abermals das Verhalten der Budapester Orpheumgesellschaft, konkret deren Absenz bei wichtigen Aktivitäten der übrigen Wiener Volkssänger. In diesem Zusammenhang sprach er die zwei Jahre zurückliegende Weihe der Volkssängerflagge an.94 Bei diesem Festakt, so betonte er, seien die ‚Budapester‘ nicht vertreten gewesen. Gleichzeitig hob er seine eigene Anwesenheit bei dem Ereignis hervor und stellte fest: „In der Kirche ist neben dem Juden Hirsch der Bürgermeister gestanden. Sie können nicht verlangen, meine Herren, dass ich ‚Hoch Lueger‘ rufe, ich bin Jude, aber es war doch schön von ihm, dass er da war. Wer hat bei diesem Fest gefehlt? Die Budapester.“95 92 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S. 93 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S. 94 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S. Dabei gaben sich die Wiener Volkssänger und Artisten eine eigene Flagge. Zu diesem Zweck wurde ein theatralisch gestalteter Festzug organisiert, der von Reitern in altdeutscher Tracht und Fanfarenbläsern angeführt wurde. Dahinter kamen eine Musikkapelle, viele weißgekleidete Mädchen und zuletzt die Volkssänger. In der Kirche, wo die Flaggenweihe stattfand, warteten bereits Bürgermeister Karl Lueger und andere Würdenträger. Am anschließenden Fest nahmen Tausende Menschen teil. (Siehe IWE 283 [15. 10. 1900] 3.) 95 Das Variété 21 (25. 3. 1903) o. S.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Für Hirsch ist das Jüdisch-Sein kein Grund, einem christlichen Ritual in der Kirche fernzubleiben. Es scheint ihn auch nicht zu stören, dass er dabei in unmittelbarer Nähe zu Wiens antisemitischem Bürgermeister stehen muss. Vielmehr nimmt er diesen Zufall als Anlass, um darzulegen, dass er als Jude sehr wohl Teil der Wiener Volkssängergemeinschaft sei. Für Hirsch ist das entscheidende Kriterium, das die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, und somit zum Volkssängerstand, festsetzt, nicht die ethnische Herkunft oder das religiöse Bekenntnis, sondern die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten. Eine Gruppenverbundenheit wird für ihn performativ bestimmt. Bei der Flaggenweihe schloss sie zumindest kurzzeitig den Antisemiten Lueger und den Juden Hirsch mit ein. Wenn Ethnizität oder Rasse als Kriterien einer Mitgliedschaft des Volkssängerstandes gelten, ist es in Anlehnung an nationale Herkunftsmythen ein Leichtes, Juden als nicht zugehörig zu betrachten. Das hat Recher mit der Lemberger Singspiel-Gesellschaft, und implizit wohl auch mit Hirsch, getan. Bei sogenannten primordialen Codierungen stellt der konstruierte Körper das entscheidende Kriterium für die Inklusion in einer Gruppe dar, sie erlauben keine Wahlfreiheit darüber.96 Obwohl die Teilhabe an einer primordialen Gemeinschaft von Geburt an feststeht, versichern sich deren Angehörige permanent ihrer Zusammengehörigkeit und Differenz gegenüber Außenstehenden durch verschiedene Verhaltensregeln. Hirsch wollte die primordiale durch eine performative Gemeinschaft ersetzen, die ein aktives Engagement von deren Mitgliedern bei solidaritätskonstituierenden Handlungen voraussetzt und keine Exklusionsrituale kennt. Vor diesem Hintergrund ist auch Hirschs Hinweis beim Treffen in Seifert’s Saal verständlich, dass Rötzer in der jüngeren Vergangenheit bei ihm zu Hause gespeist habe.97 Die entsprechenden Einladungen an seinen Kontrahenten verweisen auf enge soziale Beziehungen, die keine primordialen Unterscheidungen und damit verbundene Essenstabus kennen. Hirschs Argumentation bei der Versammlung in Seifert’s Saal, dass Gruppenzugehörigkeit performativ konstituiert werde, scheint nicht bloß seinen Bemühungen geschuldet zu sein, sein Verhalten gegenüber seiner Kollegenschaft zu rechtfertigen. Vielmehr dürfte sie seinem tatsächlichen Verständnis von Gemeinschaft entsprochen haben. Das Eintreten für ein Miteinander, das nicht auf essentialistischen Merkmalen basiert, bringt er nämlich auch in mehreren seiner Aufführungen zum Ausdruck. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang seine Posse Ein riskirtes Geschäft genannt werden.98 Die Handlung des Stückes mutet recht simpel an: Gottfried Säufer befindet sich aufgrund seines außeror96 Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999) 32. 97 IWE 128 (10. 5. 1903) 27. 98 Albert Hirsch, Ein riskirtes Geschäft. In: NÖLA (Theaterzensur), 21/12 (1897).

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dentlichen Alkoholkonsums in einer prekären existenziellen Lage. Um sie zu bewältigen, borgt er sich von Salomon Teitelbaum 8.000 Gulden. Die beiden Vertragspartner einigen sich darauf, dass Gottfried in den nächsten fünf Jahren jährlich 2.000 Gulden zurückzahlen müsse. Der hohe Zinssatz liegt darin begründet, dass Salomon bei Gottfrieds Ableben vor Ende der Zahlungsfrist der noch ausstehenden Geldsumme verlustig ginge. Um dies zu verhindern, kümmert sich Salomon mit großem Eifer um die Gesundheit seines Schuldners. Er folgt ihm auf Schritt und Tritt und versucht, ihn von unbedachten Aktivitäten abzuhalten und vor unwägbaren Situationen zu schützen. Gottfried wiederum ist an Salomons Wohlbefinden gelegen, weil er ihn in Zukunft wieder als Kreditgeber brauchen könnte. Der Nichtjude Gottfried und der Jude Salomon befinden sich dadurch in einer Art symbiotischer Gemeinschaft. Sie sind in gewisser Weise aufeinander angewiesen und treten in der Öffentlichkeit fast nur gemeinsam auf. Als sie einmal ein Gasthaus besuchen, treffen sie auf die Fleischhauerin Eulalie Schinkenbein, eine ehemalige Geliebte von Gottfried. Sie ist zutiefst über dessen ungehaltenes Eheversprechen erbost. Im Zuge eines Wortwechsels versteigt sie sich sogar zur Drohung, ihn deswegen mit einem Messer töten zu wollen. Als Salomon den Streit schlichten möchte, warnt sie ihn vor einer Einmischung, sonst „stich [ich] Ihnen ab, wie a Sau“.99 Salomon steht nun vor einem großen Dilemma: Wenn er versucht, Gottfried zu helfen, begibt er sich selbst in Lebensgefahr. Wenn er davon absieht, dann könnte er Gottfried und somit das ihm geliehene Geld verlieren. Damit ist der Einklang ihrer Interessen, aus Nützlichkeitserwägungen für ihr jeweiliges Wohlergehen zu sorgen, aufgehoben. Trotz des einfachen Plots behandelt das Stück eine brisante Thematik. Es erörtert Formen des Miteinanders von Juden und Nichtjuden. In Ein riskirtes Geschäft profitieren der Jude Salomon und der Nichtjude Gottfried solange voneinander, solange sie aufeinander Bedacht nehmen und ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen. Das Jüdisch-Sein von Salomon beeinträchtigt deren Interaktion nicht. Die jüdisch-nichtjüdische Gemeinschaft der beiden basiert auf keinen hehren Idealen, sondern wird durch praktisches Handeln konstituiert.

3.3.4 Der „Volkssängerkrieg“ vor Gericht Anders als vorgesehen trug die Versammlung vom 21. März 1903 zur Verschärfung der Auseinandersetzungen unter den Volkssängern bei. Da Hirsch meinte, im Verlauf der Dispute in Seifert’s Saal von Rötzer und Recher mit ungerechtfertigten Anwürfen konfrontiert worden zu sein, strengte er gegen die beiden eine Ehrenbeleidigungsklage an. Sie wurde am 11. Mai 1903 vor dem Bezirksgericht 99 Hirsch, Geschäft 11.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

Hernals behandelt. Die Behörden, die über die feindselige Stimmung unter den Volkssängern Bescheid wussten, beugten etwaigen Tumulten oder gar Ausschreitungen vor, indem sie alle bei der Verhandlung Anwesenden dazu anhielten, ihre Schirme und andere Gegenstände, die bei einer tätlichen Auseinandersetzung verwendet werden könnten, abzugeben. Der Prozess selbst wurde durch den Umstand verkompliziert, dass nicht nur über eine Klage von, sondern auch gegen Hirsch verhandelt wurde. Rötzer fühlte nämlich seinen Ruf durch Hirschs Äußerung, „Rötzer sollte eigentlich Hetzer heißen“, beschädigt und ging ebenso gerichtlich gegen ihn vor. Die Strategie des Richters war von Anfang an darauf angelegt, einen Ausgleich zwischen den Streitparteien herbeizuführen. Aber beide Seiten wehrten sich mit Nachdruck dagegen. So war der erste Verhandlungstag durch wenig mehr als durch Geplänkel, gegenseitige Schuldzuweisungen und selbstgerechtes Auftreten der Klageparteien gekennzeichnet. Zwei Vorkommnisse ragen aus der unspektakulären Normalität des Gerichtsalltags heraus und geben dadurch einen erhellenden Einblick in die vergiftete Atmosphäre unter den Volkssängern. Dabei handelt es sich zum Ersten um eine unerwartete Jeremiade von Hirsch über seine Behandlung durch andere Volkssänger. Er beklagte sich beim Richter darüber, dass er geächtet werde. „Seit dem Tage der Versammlung, in welcher gegen mich, einen unbescholtenen Menschen, schwere Vorwürfe erhoben wurden, bin ich in meiner Gesundheit erschüttert und hatte den Gedanken(,) zur Mordwaffe zu greifen.“100 Ob er dabei von einer Selbstmordgefährdung sprach oder auf Mordgedanken gegen Recher und Rötzer anspielte, wird aus seinen Ausführungen nicht ganz klar. Sie lassen allerdings erahnen, wie sehr ihn der “Volkssängerkrieg“ zermürbte und bedrückte. Das zweite erwähnenswerte Vorkommnis dieses Tages fand nach der Verhandlung vor dem Gerichtsgebäude statt. Dort versammelten sich an die einhundert Volkssänger, die lebhaft über die Vorgänge im Gerichtssaal diskutierten. Unter den Anwesenden befand sich auch Adolf Hirsch, der Sohn des klagenden Singspielhallenkonzessionärs. Als er des Anwalts der Gegenpartei gewahr wurde, begann er ihn wüst zu beschimpfen. Andere Volkssänger mischten sich in das daraus resultierende Wortgefecht ein und heizten dadurch die aggressive Stimmung noch weiter an. Albert Hirsch, der bereits während der Verhandlung mehrmals die Beherrschung verloren hatte, geriet nun gänzlich außer Fassung. Er glaubte, sich nur mehr mit Brachialgewalt gegen seine Opponenten behaupten zu können, und wollte sich an dem Anwalt vergreifen. Durch den Lärm aufmerksam gewordene Passanten hielten ihn davon zurück. Der “Volkssängerkrieg“, der

100 IWE 130 (12. 5. 1903) 12.

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bisher aus Anschuldigungen, bisweilen auch aus Untergriffen, bestanden hatte, drohte in Handgreiflichkeiten auszuarten.101 Die am 11. Mai unterbrochene Verhandlung wurde zwei Wochen später fortgesetzt. Dabei kam es zu einer Reihe von Zeugeneinnahmen. Die meisten entlasteten Hirsch vom Vorwurf, den Volkssängerstand geschädigt zu haben. Zu seinen Gunsten sprach sich unter anderen der Direktor der noch in Budapest weilenden Folies-Caprice, Heinrich Leitner, aus. Er bestritt, mit Hirsch lediglich einen Scheinvertrag geschlossen zu haben, um eine Aufführungsbewilligung für Wien zu erhalten. Entgegen verbreiteten Annahmen würde Hirsch zusammen mit ihm die Führung des Ensembles ausüben und gelegentlich auch selbst als Akteur mitwirken.102 Im Weiteren betonte er, dass ein Großteil der Gruppe, wenn sie nach Wien komme, nicht aus Ungarn, sondern aus Wienern bestehen werde. Leitner argumentierte in Bezug auf die Folies-Caprice ähnlich, wie es Modl im Hinblick auf die Budapester Orpheumgesellschaft während der Versammlung am 21. März getan hatte. Viele der im Gerichtssaal anwesenden Volkssänger schenkten den Aussagen Leitners allerdings keinen Glauben und bekundeten dies mit lauten Unmutsäußerungen. Trotzdem brach mit seiner Einvernahme die Klage gegen Hirsch zusammen. Einem Ausgleich zwischen den Klageparteien stand damit nichts mehr im Weg, und dem Richter gelang es tatsächlich, sie dazu zu bewegen. Damit fand der “Volkssängerkrieg“ ein Ende.

3.3.5 Nachwirkungen des „Volkssängerkrieges“ Die Auseinandersetzungen unter den Volkssängern trübten das Verhältnis zwischen einigen von ihnen nachhaltig. Albert Hirsch schien der Konflikt am meisten geschadet zu haben. Ende Mai legte er seine Funktion als Spielhallenbetreiber von Edelhofer’s Volksorpheum zurück. Anders als geplant dürfte er aber nicht bei den Folies-Caprice tätig geworden sein. In den Aufführungsankündigungen der Gruppe taucht sein Name jedenfalls nicht auf. Er trat stattdessen noch eine Zeitlang mit seiner eigenen Truppe auf. Allerdings konnte er nicht mehr an seine alten Erfolge anschließen. Im Herbst 1903 trat er der Possengesellschaft seines Schwiegersohns Karl Kassina bei.103 Damit hatte Hirsch fürs erste seine Selbstständigkeit verloren. Im Juni 1904 brach Hirsch mit einem Ensemble zu einer Tournee nach Böhmen und Mähren auf.104 Er tat es zahlreichen Volkssängergesellschaften gleich, 101 102 103 104

IWE 130 (12. 5. 1903) 11–12. IWE 144 (26. 5. 1903) 9. IWE 269 (1. 10. 1903) 8 und 6 (6. 1. 1904) 9. IWE 181 (1. 7. 1904) 15 und 200 (20. 7. 1904) 9.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

die alljährlich den Wienerinnen und Wienern, die für die heiße Jahreszeit die Stadt verließen, hinterher reisten und in bekannten Urlaubsdestinationen oder auf kleineren Bühnen außerhalb Wiens Vorstellungen gaben. Damit versuchten sie, den schleppenden Geschäftsgang in der Habsburgermetropole während der Monate Juli und August zu kompensieren. Hirschs Gastauftritte unterschieden sich allerdings von jenen anderer Gruppen. Seine Abwesenheit reichte nämlich weit über den Sommer hinaus. Er kehrte erst Mitte November wieder nach Wien zurück.105 Das erlaubt die Vermutung, dass Hirsch Schwierigkeiten hatte, in seiner Heimatstadt ein Engagement zu finden. Diese Annahme lässt sich auch aus den Pressemitteilungen zu Hirschs Gastspielen schließen. Normalerweise fanden Darbietungen von Wiener Ensembles außerhalb der Metropole in den Medien kaum Erwähnung. Hirschs Performances wurden aber detailreich geschildert. Dies geschah jedoch weniger durch eine gewöhnliche Berichterstattung, sondern in Form spezieller Annoncen und durch kurze Meldungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit von ihm lanciert wurden.106 Da diese wohl nicht darauf abzielten, Wiener und Wienerinnen für seine Vorstellungen in der Fremde zu gewinnen, müssen sie als Werbung für ihn verstanden werden, die seine Chancen auf ein Engagement in der Habsburgermetropole verbessern sollte. So erschien am zweiten August 1904 eine Anzeige über Hirschs Gastspiel in Prag. Darin heißt es auch: „Auf dieses Possen-Ensemble reflectirende Restaurateure wollen sich wenden an A. Hirsch’s obige Adresse“.107 Hirsch suchte somit mittels Anzeigen eine Arbeit als Volkssänger in Wien. Er dürfte sich in einer verzweifelten Lage befunden haben. Trotz dieser Bemühungen war er im Spätherbst desselben Jahres, als er in die Habsburgermetropole zurückkehrte, noch ohne Arbeit. Deswegen wandte er sich mit der „Bitte um Offerte der Herren Restaurateure und Cafetiers“ an die Wiener Lokalitätenbesitzer.108 Wie sehr Hirschs mehrmonatige Tournee einem fehlenden Engagement in Wien geschuldet gewesen sein dürfte, lässt sich auch an einer Anzeige ablesen, mit der er zu Beginn des Jahres 1904 für Darbietungen bei Familienfeierlichkeiten warb.109 Angesichts des Umstandes, dass er noch wenige Monate zuvor allabendlich ein größeres Theaterpublikum begeistert hatte und einer der bekanntesten Vertreter des Wiener Volkssängerstandes gewesen war, muss seine Bereitschaft zu Auftritten im privaten Rahmen wohl als ein beträchtlicher beruflicher Abstieg gedeutet werden. Hirsch, so lässt sich festhalten, wurde durch den Volkssängerkonflikt langfristig geschädigt. Er konnte in der Volkssänger105 106 107 108 109

IWE 318 (16. 11. 1904) 13. IWE 181 (1. 7. 1904) 15 & IWE (20. 7. 1904) 9. IWE 213 (2. 8. 1904) 15. IWE 318 (16. 11. 1904) 13. IWE 44 (13. 2. 1904) 18.

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szene nicht mehr richtig Fuß fassen. Zwar stand er im Frühjahr 1905 kurzzeitig einer Gruppe mit der Bezeichnung „Leopoldstädter Possen-Ensemble“ vor. Nichtsdestoweniger kündigte sich in den längeren Pausen zwischen seinen Aufführungen das Ende seiner Karriere als Volkssängerführer, wie er sie bis zur Jahrhundertwende innegehabt hatte, an. Die Folies-Caprice dürften ebenfalls Schwierigkeiten gehabt haben, sich in Wien zu etablieren. Die vorgesehenen Aufführungen im Hotel Central kamen jedenfalls nicht zustande. Die ersten Hinweise auf Darbietungen des Ensembles gab es im August 1903, als deren Engagement im Bijou-Theater im Gelände von „Venedig in Wien“ bekanntgegeben wurde.110 Als Direktor fungierte nicht Albert Hirsch, sondern der bereits erwähnte Heinrich Leitner. Zudem erhielten die Folies-Caprice Konkurrenz durch eine neugegründete Gruppe mit der Bezeichnung Wiener Folies-Caprice. Dieses Ensemble schien als unmittelbare Reaktion auf die ungarischen Gruppe ins Leben gerufen worden zu sein und trat ab Mitte Dezember 1903 im Hotel Stefanie in der Taborstraße auf.111 An deren Bezeichnung wurde lediglich das Epithet „Wiener“ angefügt, das die Fremdheit der eigentlichen Folies-Caprice hervorstrich. Ein Teil der Wiener Volkssänger war somit aktiv geworden, um der neuen Truppe aus Budapest Besucher abspenstig zu machen. Diese nahm in der Folge den Namen Original Folies-Caprice an, um ihren ‚authentischen‘ Charakter hervorzuheben.

3.4

Die Deutung des Konfliktes unter den Volkssängern

Dieses Kapitel wurde mit der Behauptung eingeleitet, dass Ereignisse in der – im konkreten Fall jüdischen – Vergangenheit oftmals pluralen Auslegungen zugänglich seien und dass die Auseinandersetzungen unter den Volkssängern als ein Beleg dafür herangezogen werden könnten. Die Frage, die sich nach der Darstellung des Konfliktes aufdrängt, lautet, ob diese Feststellung aufrechterhalten werden kann? Ist der „Volkssängerkrieg“ tatsächlich sowohl unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus zu betrachten als auch als dessen Gegenteil, als ein Beispiel für ein gedeihliches jüdisch-nichtjüdisches Miteinander, zu verstehen? Drei Punkte scheinen bei einer Betrachtung der Spannungen unter den Volkssängern unumstritten zu sein und müssen bei einer Antwort berücksichtigt werden. Zum Ersten gab es keine Gegensätze zwischen Juden auf der einen und Nichtjuden auf der anderen Seite. Der Jude Hirsch wurde zwar von einigen Juden 110 IWE 227 (20. 8. 1903) 7. 111 IWE 340 (11. 12. 1903) 14.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

unterstützt. Dabei tat sich vor allem Karl Kassina hervor.112 Salomon Fischer, der sich in der gesamten Affäre zugegebenermaßen nicht besonders exponierte, sprach sich zumindest für eine Aufhebung des Lizenzzwanges aus und nahm in diesem Punkt für Hirsch Partei. Andere Juden jedoch, wie beispielsweise Josef Modl, kritisierten ihn. Hirsch selbst monierte sich über das Verhalten der Budapester Orpheum-Gesellschaft. Die Gräben, die sich zwischen den Volkssängern auftaten, verliefen somit auch zwischen ihren jüdischen Mitgliedern. Es gab keine Scheidelinie gemäß religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, sondern nach spezifischen Berufsinteressen. Zum Zweiten ist kaum zu leugnen, dass Hirsch schuldhaft viele seiner Kollegen enttäuschte. Er hinterging sie aus Eigennutz und kündigte eigenmächtig die Solidarität mit ihnen auf. Die Empörung über seinen sogenannten Verrat an den Wiener Volkssängern und die Feindseligkeit, die ihm von einem Großteil von ihnen entgegenschlug, hatte er durch sein Verhalten provoziert. Auch die Gerichtsverhandlungen, die den Höhepunkt des Konfliktes bildeten, strengte zuvorderst Hirsch an. Trotzdem war er persönlich keinem – zumindest expliziten – Antisemitismus ausgesetzt. Auf den ersten Blick weisen diese beiden Aspekte auf eine feste Verankerung von Juden in der lokalen Volkssängerszene hin. Sie scheinen von ihren nichtjüdischen Kollegen weitestgehend akzeptiert worden zu sein. Das Jüdisch-Sein von Hirsch, Fischer, Armin, Eisenbach, Modl und vielen anderen war kein Kriterium, durch das sie bei nichtjüdischen Volkssängern auf Argwohn oder Ablehnung gestoßen wären. Diesem Befund, und damit wird der dritte Punkt angesprochen, steht allerdings Rechers Bezeichnung der Lemberger Singspiel-Gesellschaft als jüdisch im Sinne von anders, nicht zugehörig, entgegen. Er setzte das JüdischSein als ein Differenzmerkmal ein. Trotz der expliziten Aufforderung einiger seiner Kollegen, die ‚Polnischen‘ nicht plakativ als jüdisch zu titulieren, hielt er daran fest. Das eigentliche Ziel seiner Attacke dürfte aber nicht die Lemberger Singspiel-Gesellschaft, sondern Hirsch gewesen sein. Diese Vermutung liegt auch deswegen nahe, weil Recher noch Ende Dezember 1901 betont hatte, dass die ‚Polnischen‘ gegenüber den Wiener Volkssängern nicht benachteiligt werden dürften. In der Zwischenzeit war nichts vorgefallen, was als Anlass zu einer Revision dieser Feststellung dienen hätte können. Die Lemberger Singspiel-Gesellschaft galt ihm wohl nur als ein Mittel, um Hirsch zu drohen, dass sein Jüdisch-Sein problematisiert werden könnte. Der Grund, dass Recher gegen Hirsch nicht antisemitisch argumentierte, mag in dessen Beliebtheit gelegen haben. Er war ein integrales Mitglied der Wiener Volkssänger, und als einer ihrer wichtigsten Vertreter genoss er in der Bevölkerung großes Ansehen. Diese hätte judenfeindliche Ausfälle gegen ihn wahr112 IWE 80 (22. 3. 1903) 4.

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scheinlich nicht gutgeheißen. Der Fall der Lemberger Singspiel-Gesellschaft lag demgegenüber anders. Als galizische Juden fielen ihre Mitglieder in eine Zuwandererkategorie, gegen die es bereits eine tiefsitzende Feindseligkeit in der Wiener Bevölkerung gab.113 Zudem hielten sie sich von gesellschaftlichen Aktivitäten der Volkssänger weitgehend fern, und auch ihre Darbietungen im Jargon trugen wenig dazu bei, die ‚Polnischen‘ als festen Bestandteil der Wiener Volkssängerszene zu etablieren. Deswegen konnte Recher annehmen, dass deren Diskriminierung durch das Epithet ‚jüdisch‘ auf keine Ablehnung stoßen würde. Allerdings täuschte er sich darin. Eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie der „Volkssängerkrieg“ beurteilt werden soll, ob er als Beleg für einen unausrottbaren Antisemitismus dienen kann oder ob man über den relativen Mangel an judenfeindlicher Gesinnung überrascht sein muss, hängt zweifelsohne von der Perspektive ab, unter der man ihn betrachtet. Er offenbarte einerseits Judenfeindschaft, lässt andererseits aber auf ein gedeihliches Miteinander der jüdischen und nichtjüdischen Volkssänger schließen. Bei einer Fokussierung auf den Antisemitismus darf aber nicht nur nach expliziten judenfeindlichen Formulierungen gesucht werden, die rar waren. Historiker müssen auch in Betracht ziehen, dass der „Volkssängerkrieg“ in einer Stadt ausgetragen wurde, in der ein ausgeprägtes antisemitisches Klima herrschte.114 Judenfeindliche Klischees und Stereotypen gehörten zu ihrer kulturellen Textur. In diesem Kontext genügte es, eine Person mit Attributen, die nach verbreitetem Verständnis Juden charakterisierten, in Zusammenhang zu bringen, um sie als jüdisch zu brandmarken. Der Vorwurf, dass Hirsch charakterlos sei und Werte der Solidarität dem Gewinnstreben opfere, mag zu diesen Codes gehört haben. Trotz Luegers Antisemitismus ging es den Juden während seiner Zeit als Bürgermeister allerdings so gut wie nie zuvor.115 Dies war einerseits der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet. Andererseits wohl auch der Vielzahl jüdischer und nichtjüdischer Interaktionen, die die vorhandene Feindseligkeit gegenüber Juden in einem bestimmten Maße erträglich, bisweilen sogar ignorierbar machte. Der Bürgermeister selbst verkörperte dieses Paradox, indem er sich als rabiater Antisemit gerierte, gleichzeitig aber auch jüdische Freunde hatte.116 Er handelte nach dem von ihm formulierten Motto: „Wer ein Jude ist, bestimme ich.“117 113 Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph (Oxford: The Littman Library of Jewish Civilization 1990) 65. 114 Peter Pulzer, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany & Austria (Cambridge2: Harvard University Press 1988). 115 Bruce F. Pauley, From Prejudice to Persecution. A History of Austrian Anti-Semitism (Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1992) 45. 116 Hannah Arendt, Die verborgene Tradition. Essays (Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag2 2000) 86.

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Auch zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Volkssängern gab es neben den engen beruflichen Verknüpfungen, auf die bereits im zweiten Kapitel verwiesen worden ist, zahlreiche private Banden, selbst zwischen Hirsch und seinen späteren Gegnern im „Volkssängerkrieg“. Das Jüdisch-Sein einzelner Personen spielte dabei keine Rolle. Juden und Nichtjuden aßen nicht nur zusammen und feierten nicht nur gemeinsam ihre Feste, sondern unterhielten auch innige Beziehungen zueinander und heirateten einander. Zu den jüdischen Volkssängern, die interkonfessionelle Eheschließungen eingingen, gehörte nebst anderen Salomon Fischer, der 1905 in einer Ziviltrauung Gisela Josefine Pichler ehelichte, nachdem er sich von seiner zweiten Frau, Mitzi Jäger, getrennt hatte. In diesem Zusammenhang kann auch Josef Armin genannt werden. Er lernte seine Frau Kathi Rieder, eine Sängerin, während eines Aufenthaltes in Lemberg kennen. Sie zogen anschließend nach Wien, wo sie anfangs gemeinsam in der Gesellschaft Hirsch tätig waren.118 Die Welt der jüdischen und nichtjüdischen Volkssänger war eng verflochten und bisweilen von durchaus gegensätzlichen Entwicklungen geprägt. Antisemitismus und jüdisch-nichtjüdische Intimität existierten ebenso nebeneinander wie jüdische Differenz und mentalitätsmäßige Gemeinsamkeiten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kollegen. Einerseits gehörten jüdische Volkssängergesellschaften, wie auf den nächsten Seiten noch ausgeführt wird, einer ‚Aufführungsgemeinschaft‘ an, die ein eigenes kulturelles Milieu und vielleicht sogar einen gesonderten, sogenannten jüdischen Humor anzeigt. Andererseits boten diese Gruppen dieselben Possen wie die nichtjüdischen Ensembles dar, was ein gemeinsames Verständnis von Witz und Schalkhaftigkeit andeutet, vor allem aber der Umstände, die zum Gaudium des Publikums von den Komikern aufs Korn genommen werden sollten. Dabei ist interessant, dass die Stücke, die von jüdischen Gruppen gespielt wurden, häufig aus der Feder von Karl Rötzer stammten. Der Volkssängerkrieg hatte darauf keine abträglichen Auswirkungen. So führte nur wenige Tage nach dessen Beendigung die Gesellschaft Fischer Rötzers „Alt- und Jung-Heidelberg“ auf. Mitglieder des Ensembles waren neben anderen eine Tochter von Albert Hirsch und ihr Ehemann Karl Kassina, der seinen Schwiegervater während der Auseinandersetzungen mit Recher und Rötzer tatkräftig unterstützt hatte.119 Vor den Auseinandersetzungen um die Folies Caprice griff auch Hirsch selbst auf Rötzers Ingenium zurück. So spielte er im Jahr 1896 das Stück Wiener in Constantinopel oder im Harem!120 Andererseits spielten nichtjüdische Ensembles Stücke jüdischen Inhalts, wie beispielsweise die 117 George E. Berkley, Vienna and Its Jews. The Tragedy of Success, 1880s–1980s (Boston: Madison Books 1988) 106. 118 Koller, Volkssängertum 114. 119 IWE 150 (2. 6. 1903) 8. 120 Karl Rötzer, Wiener in Constantinopel oder im Harem! In: NÖLA 21/10 (1896).

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Singspielhalle Ludwig Kirnbauer „Der Herr Hekler“ von Louis Taufstein (1870– 1942).121 Darin geht es um verborgene und angenommene jüdische Identitäten, die Charaktere verwenden eine Vielzahl geläufiger jiddischer Begriffe, und lediglich ein mitwirkender böhmischer Diener namens Ladislaus lässt erahnen, dass es jenseits des dargestellten Milieus auch eine nichtjüdische Welt gibt. Judenfeindschaft und enge private Kontakte existierten in Wien um die Wende zum 20. Jahrhundert nebeneinander und mussten sich nicht ausschließen. Sie waren vielleicht auch gar nicht zu trennen.122 Dieser Antisemitismus scheint mit Shulamit Volkovs Begriff des „kulturellen Codes“ erklärt werden zu können. Danach gehörte eine judenfeindliche Einstellung zur Grundhaltung eines Großteils der Wiener Bevölkerung, unabhängig davon, ob einzelne Menschen, die antisemitisch dachten, Animositäten gegen Juden hegten oder nicht. Die antisemitische Gesinnung einer Person zeigte an, dass sie sich zu der – im konkreten Fall Wiener – nichtjüdischen Gesellschaft bekannte. „Thus, the position on the Jewish question, even if not in itself of paramount importance, came to indicate a belonging to a larger camp, a political stand and an overall cultural choice.“123 Eine judaeophobe Haltung konnte mit persönlichen Beziehungen zu Juden durchaus in Übereinstimmung gebracht werden. Dazu passt eine Beobachtung von Arthur Schnitzler, die er in seinem Roman Der Weg ins Freie verarbeitete. Darin skizziert er die Habsburgermetropole unmittelbar vor der Wende zum 20. Jahrhundert als eine Stadt, in der der Antisemitismus zwar spürbar zunehme, die Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden allerdings nicht davon betroffen seien.124 Und diese ambigue Situation findet man auch unter den Volkssängern. Das lässt sich exemplarisch am antisemitischen Liedgut, das ebenfalls zu ihrem Repertoire gehörte, aufzeigen. Als Teil der Wiener Gesellschaft, vor allem durch die Verankerung der Volkssänger in der volkstümlichen Wiener Kultur, sollte es 121 Louis Taufstein, Der Herr Hekler. Posse. (1909; 42 Seiten.) In: NÖLA (Zensurakten), Karton 29/2. Taufstein schrieb zahlreiche Possen vor allem für die Budapester Orpheumgesellschaft. Er verfasste in späteren Jahren auch Operetten und Filmskripts. 1942 wurde er von den Nationalsozialisten ermordet. 122 Die Aufrechterhaltung von Beziehungen, die vorhandenen Antisemitismus überdecken, kann beispielhaft an der beruflichen Kooperation zwischen dem Gemeinderat Rudolf Spannagel, der der antisemitischen christlich-sozialen Partei angehörte, und seinem Buchhalter Goldstein gezeigt werden. Sie eröffneten in einer Wiener Großmarkthalle einen Fleischverkaufsstand, obwohl keiner von ihnen die notwendige Konzession dafür besaß. Der politische Einfluss von Spannagel machte dies möglich. Goldstein wiederum stellte den Kontakt zu einem galizischen Metzger her, von dem sie ihre Fleischlieferungen bezogen. Die judenfeindliche Einstellung Spannagels beeinträchtigte die für beide einträgliche wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht. (IWE 241 (1. 9. 1904) 8 & 258 (17. 9. 1904) 4.) 123 Shulamit Volkov, Readjusting Cultural Codes: Reflections on Anti-Semitism and AntiZionism. In: Journal of Israeli History 25:1 (2006) 51. 124 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie (Berlin: S. Fischer Verlag 1922).

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nicht verwundern, dass die Einstellungen des kleinbürgerlichen Wiener Milieus, und damit auch judenfeindliches Gedankengut, in der einen oder anderen Form in ihren Liedern zum Ausdruck kamen. Einer der notorischen Verfasser antisemitischer Texte war Carl Lorens (1851–1901), der zu den wichtigsten Komponisten von Wienerliedern zählte. Er verdankte seinen Durchbruch nicht zuletzt Julius Löwy, einem jüdischen Redakteur des Illustrirtes Wiener Extrablatt, der das Lied „D’Mutterliab“ von Lorens in der Zeitung abdruckte und ihm so zu Bekanntheit verhalf.125 Das hielt Lorens aber nicht davon ab, in seine Lieder antijüdische Stereotype einfließen zu lassen. Sein Couplet „Jeiteles, Mauscheles, Isak Silberstein“ hat beispielsweise den ostentativen Reichtum der Juden zum Thema, den nicht einmal der Börsenkrach mindern habe können. Das zeige sich an den Palais am Wiener Ring, die Juden gehörten, an den Gästen des Hotel Sacher, wo hauptsächlich Juden speisten, wie auch an der Oper, deren Besucher vornehmlich jüdisch seien. Juden suchten demnach Orte auf, dem das Publikum der Volkssänger gewöhnlich fern blieb beziehungsweise die es sich gar nicht leisten konnte. Dadurch wurden Juden als Gegenpart zum volkstümlichen Wien skizziert.126 Von der Aussage ähnlich, wenn auch etwas derber, ist das Lied „Der Jüd“. Dabei überrascht vor allem die Direktheit, mit der antisemitische Vorstellungen vorgetragen werden: „Wer geht auf der Börs’s ganze Jahr aus und ein? Der Jüd. Wer trinkt drüben beim Sacher Champagner-Wein? Der Jüd. … Wer ißt Alles und nix von der Sau? Der Jüd, der Jüd, der Jüd. Wer nimmt von ein‘ Gulden gleich 20 Prozent? Der Jüd. …“.127 Einige der Lieder von Lorens wurden sogar im Jargon verfasst, um über sprachliche Codes das Fremde der Juden zusätzlich hervorzuheben. Das ist beispielsweise mit „Der koschere Jeinkef“ der Fall, in dem Juden nicht nur für den Börsenkrach verantwortlich gemacht werden, sondern auch für den Antisemitismus der Presse.128 Die antisemitischen Texte aus der Feder von Carl Lorens scheinen dessen Freundschaft mit vielen Juden nicht beeinträchtigt zu haben.129 Das zeigt das komplexe und schwierige Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Volkssängern, das ebenfalls mit Shulamit Volkovs „kulturellem Code“ erklärt werden könnte. Deswegen bezweifeln einzelne Historiker, dass die Texte von Carl Lorens, zu dessen Interpreten auch Josef Modl gehörte, im Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wirklich als bösartig antisemitisch aufgefasst wurden.130

125 126 127 128 129 130

Koller, Volkssängertum 115–117. Sammlung der Musikabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek, Nr. 7. Ebda. Nr. 6. Ebda. Nr. 110. Pressler, Jüdisches 73. Pressler, Jüdisches 71–72.

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Der deutsche Intellektuelle Jürgen Habermas meint, dass es eine Gemeinschaft nur geben könne, wenn dessen Formierung durch sprachliche Artikulationen nicht untergraben werde. Er setzt dabei vor allem auf die Teilnahme an rituellen Handlungen.131 Es mag sein, dass es im Wien des Fin-de-Siècle solche oder ähnliche Formen der Vergesellschaftung gegeben hat, die sodann das Spiel mit antisemitischen Stereotypen, wie es bei Lorens zu beobachten ist, neutralisierten. Wenn das der Fall war, dann haftete Albert Hirschs Konzept einer besonderen performativen Gemeinschaft von Juden und Nichtjuden nichts Utopisches an. Es hob lediglich vorhandene gesellschaftliche Prozesse hervor und wollte ihnen dadurch mehr Gewicht verleihen.

3.4.1 Annäherungen an Albert Hirschs Jüdisch-Sein Bis zur Versammlung am 21. März 1903 spielte das Jüdisch-Sein im „Volkssängerkrieg“ keine Rolle. Zumindest wurde es nicht explizit erwähnt. Während des Treffens in Seifert’s Saal wurde es sodann von Recher in diskriminierender Weise wie auch von Hirsch zu seiner Selbstcharakterisierung zur Sprache gebracht. Hirsch stellte sich dabei als bewusster Jude dar, der trotz einiger Gemeinsamkeiten mit Antisemiten, konkret mit Karl Lueger, Grenzen in der Interaktion mit ihnen kennt und diese nicht überschreiten will. Sein Jüdisch-Sein habe ihn, wie er selbst erwähnt hat, gehindert, in die „Hoch Lueger“-Rufe seiner Kollegen einzustimmen. Im Folgenden wird nach weiteren Belegen von Hirschs Jüdisch-Sein gesucht. Gibt es neben seinem expliziten Hinweis während der Volkssängerversammlung noch andere Indizien, die ein jüdisches Selbstbewusstsein bei ihm anzeigen? Zur Beantwortung dieser Frage werden einzelne Aktivitäten von Hirsch analysiert. Es geht somit nicht um ein zusätzliches Bekenntnis zum Judentum, sondern um performative Artikulationen, die einen Bezug zu ihm ausdrücken. Ein erstes Indiz für ein jüdisches Bewusstsein bei Hirsch findet man in seiner Solidarität mit Juden, die in Bedrängnis geraten sind. Das heißt nicht, dass er Nichtjuden gegenüber hartherzig war. Ganz im Gegenteil, er engagierte sich häufig für verarmte Berufskollegen und erwarb sich dadurch große Sympathien, die über den Volkssängerstand hinausreichten. Es gibt aber keine Hinweise, dass Hirsch auch Hilfsmaßnahmen für allgemein in Not geratene Menschen, die nichtjüdisch waren und nicht zu den Volkssängern gehörten, organisierte. Dies tat er jedoch für sozial gestrauchelte Juden wie Anna Katz, die sich mit ihren Kindern in den Donaukanal stürzen wollte (siehe Einleitung). Um ihr Elend zu 131 Siehe dazu die Vorstellungen von Jürgen Habermas: Thomas Assheuer, Akademische Affenliebe. In: Die Zeit 26 (18. 6. 2014) 46.

140

Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

lindern und ihrer Familie einen existenziellen Neustart zu ermöglichen, veranstaltete Hirsch bei seiner Neujahrsvorstellung am 1. Jänner 1901 eine Sammlung für sie.132 Interessant ist, dass auch andere Juden, wie beispielsweise der zionistische Reichsratsabgeordnete Heinrich Spitzer, Anna Katz durch Spenden zu helfen versuchten.133 Hirsch wie auch Spitzer dürften sich aufgrund ihrer jüdischen Selbstverortung für die selbstmordgefährdete Frau und ihre Kinder eingesetzt haben. Ihr Handeln mag auf einer besonderen Empathie gegenüber anderen Juden gefußt haben und kann als ein Bekenntnis zu einer ‚jüdischen Solidargemeinschaft‘ verstanden werden. Ein weiterer Hinweis auf Hirschs jüdisches Selbstverständnis lässt sich aus seinem Aufführungsrepertoire ableiten. Damit ist nicht nur gemeint, dass seine Possen in einem jüdischen Milieu spielten oder zumindest von jüdischen Protagonisten geprägt waren. Vielmehr geht es um einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten in den Darbietungen von Hirschs Ensemble und anderen jüdischen Volkssängergruppen. Bestimmte Stücke, die wohl nicht zufällig einen starken Bezug zum Jüdischen aufweisen, wurden von ihnen allen gespielt, wenn auch in unterschiedlichen Versionen. Die Volkssänger bildeten dadurch eine ‚jüdische Aufführungsgemeinschaft‘. Eines der Werke, das eine Verbindung zwischen jüdischen Volkssängern herstellte, war die sogenannte Klabriaspartie (siehe zweites Kapitel). Sie brachte angeblich zum ersten Mal jüdische Ausdrücke auf die Bühne.134 Auch wenn dies zweifelhaft erscheint, so war die in Wien dargebotene Fassung doch eng mit der Alltagskultur der Juden in der Habsburgermetropole verbunden.135 Das beginnt mit der Lokalität, in der sich die Kartenspieler treffen und wofür in Wien das Café Abeles am Salzgries, ein Treffpunkt vor allem ostjüdischer Zuwanderer, als Modell gedient haben soll.136 Im Weiteren war Klabrias ein wirkliches Kartenspiel, das unter den Juden sehr beliebt war. Das lässt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Gerichtsverhandlungen ablesen, die über daraus resultierende Streitigkeiten geführt wurden.137 Dieser Umstand bewog im März 1900 einen Richter zur Aussage, dass es merkwürdig sei, dass in der Leopoldstadt viele Klabriaspartien erst vor Gericht ihr eigentliches Ende fänden.138 Abgesehen von der Budapester Orpheumgesellschaft wurde die ‚Klabriaspartie‘ beispielsweise von Salomon Fischers Ensemble im April 1904 im Prater132 133 134 135

IWE 2 (2. 2. 1901) 2. IWE 2 (2. 2. 1901) 2. Wacks, Orpheumgesellschaft 62. Eine Klabriaspartie wurde in Budapest bereits 1889 aufgeführt. Die Wiener Variante weicht von der Ursprungsversion ein wenig ab. Mary Gluck, The Invisible Jewish Budapest. Metropolitan Culture at the Fin de Siècle (Madison: The University of Wisconsin Press 2016) 168–174. 136 IWE 33 (3. 2. 1906) 9. 137 Siehe beispielsweise IWE 7. 5. 1899) 23. 138 IWE 65 (11. 3. 1900) 29.

Erster österreichischer Volkssänger- und Gesangs-Artisten-Tag

141

Orpheum mit der Bezeichnung „Soirée bei Dalles“ gespielt. Das Stück wurde als „Seitenstück der Klabriaspartie“ angekündigt.139 Im August desselben Jahres brachte Fischer die „Original Budapester Klabrias-Partie“ auf die Bühne.140 Zur ungefähr gleichen Zeit gab es in der Singspielhalle Kassina im Prater die Vorstellung „Die Klabriaspartie im Olymp“ zu sehen.141 In den Nestroysälen wurde „Die Klabriaspartie auf der Reise nach Chicago“ dargeboten.142 Und die Gesellschaft Hirsch wiederum führte „Die Klabriaspartie vor Gericht“ auf.143 Ein letzter Hinweis auf Hirschs Identifikation mit dem Judentum bezieht sich auf seinen Umgang mit der jüdischen Festkultur. Zwar scheint er einer religiösen Lebensführung distanziert gegenübergestanden zu sein. Zumindest gibt es keine Indizien, die etwas Gegenteiliges anzeigen. Auch in seinen Possen wird das Jüdische der Protagonisten nicht durch religiöse Handlungen bestimmt. Allerdings organisierte Hirsch mit seinem Ensemble Purimfeste.144 Darin kommt eine Verbundenheit mit der jüdischen Tradition zum Ausdruck. Deswegen ist die Behauptung erlaubt, dass Hirsch nicht nur Teil einer ‚jüdischen Solidargemeinschaft‘ sowie einer ‚jüdischen Aufführungsgemeinschaft‘ war, sondern auch zu einer ‚jüdischen Kulturgemeinschaft‘ gezählt werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass Hirsch im Herbst 1900 anlässlich einer Simchat Thora-Feier im XV. Wiener Gemeindebezirk das bereits erwähnte Stück „Ringkämpfer in der koscheren Restauration“ aufführen ließ.145 Hirschs jüdisches Selbstverständnis war fragmentiert. Es tat sich in einer Teilhabe an verschiedenen jüdischen Gemeinschaften kund. Deswegen ist es nicht möglich, ganz allgemein von der jüdischen Identität bei Hirsch zu sprechen. Er hatte verschiedene jüdische Bewusstseinsfacetten. Und diese wurden performativ zum Ausdruck gebracht, sie manifestierten sich in Handlungen.

3.5

Zusammenfassung

In den vergangenen Jahren haben einige Forscher eine Untersuchung des Themenfeldes ‚Juden in der Populärkultur‘ als Desiderat erkannt und folgerichtig gefordert, sich verstärkt damit auseinanderzusetzen. Obwohl sie den Begriff der Populärkultur oftmals unbestimmt ließen und teilweise lediglich auf die jüdische 139 140 141 142 143 144

IWE 115 (25. 4. 1904) 13. Dalles ist übrigens der Name von einem der Kartenspieler. IWE 233 (23. 8. 1904) 15. IWE 145 (26. 5. 1904) 19. Siehe NÖLA (Theaterzensur), Karton 50/17 (1897). Siehe IWE 243 (5. 9. 1903) 14. IWE 73 (16. 3. 1900) 14. Hirsch war damit aber nicht alleine. Auch Salomon Fischer arrangierte zu Purim ein Fest mit einem Tanzkränzchen. (Siehe IWE 56 (25. 2. 1899) 14.) 145 IWE 282 (14. 10. 1900) 27.

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Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

statt auf die allgemeine Populärkultur reflektierten, erkannten sie deren Bedeutung für jüdisch-nichtjüdische Kontakte.146 Wie in der Gegenwart einige Historiker, so war Hirsch bereits im späten 19. Jahrhundert die förderliche Rolle der Populärkultur bei der Gemeinschaftsbildung von Juden und Nichtjuden bewusst. Er versuchte mit Hilfe der Populärkultur in exemplarischer Weise umzusetzen, was heutzutage analysiert werden soll. Der „Volkssängerkrieg“, der auf den vorangegangenen Seiten ausführlich beschrieben wurde, gibt in mehrfacher Hinsicht einen aufschlussreichen Einblick in die Geschichte der Juden Wiens. Er unterstützt nicht nur die Behauptung, dass zwischen jüdischen und nichtjüdischen Volkssängern enge Beziehungen geherrscht hätten und es keine binäre Kategorisierung zwischen ihnen gegeben habe. Am „Volkssängerkrieg“ kann auch gezeigt werden, dass die in der Historiographie häufig verwendeten Begriffe der jüdischen Anpassung oder Integration problematische Analyseinstrumente darstellen, die die engen sozialen Verflechtungen zwischen Juden und Nichtjuden und deren gemeinsame Gestaltung kultureller Prozesse nicht angemessen beschreiben können. Damit erfährt die im ersten Kapitel formulierte These, dass die Prominenz des Akkulturationsnarrativs in der Historiographie über Juden eine Beschäftigung mit der Populärkultur erschwert, einen anschaulichen Beleg. Albert Hirsch selbst machte nie Anstalten, sich adaptieren zu wollen. Vielmehr verfolgte er eigene Interessen. Und er musste sich auch nicht in die Wiener Volkssängerszene integrieren. Dafür gab es nämlich keinen Grund, er war bereits ein wichtiges Mitglied von ihr. Allerdings wollte er von seinen Kollegen auch dann als Ihresgleichen akzeptiert und nicht in erster Linie als Jude denn als Volkssänger behandelt werden, wenn es sachliche Differenzen zwischen ihm und der Mehrheit der Volkssänger gab. Eine Auseinandersetzung sollte mit Argumenten, und nicht mit Hinweis auf die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit des jeweiligen Kontrahenten, geführt werden. Für Hirsch, so ist aus seiner Rechtfertigung zu schließen, ist ein vorurteilsfreies Miteinander in einer Gemeinschaft möglich, deren Mitglieder sich performativ zu ihr bekennen. Die Teilhabe des Einzelnen an gruppenformierenden Prozessen, und nicht primordiale Codes, sollten für eine entsprechende Zugehörigkeit entscheidend sein.

146 In diesem Zusammenhang ist vor allem John Efron hervorzuheben. Er hat sich in einem Artikel aus dem Jahr 2009 mit Nachdruck für die Erforschung der Populärkultur eingesetzt, dabei aber vor allem die jüdische Populärkultur gemeint. Er schreibt: „One area of German Jewish historiography that cries out for more attention (…) is to study popular culture. Intellectual history has been a dominant trend in German Jewish history (…) little attention has been paid to the quotidian character of German Jewish life and especially in the recreational habits of the community.“ (John M. Efron, New Directions in Future Research. In: Leo Baeck Institute Year Book LIV (2009) 4.)

Erster österreichischer Volkssänger- und Gesangs-Artisten-Tag

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Zu diesen gemeinschaftskonstituierenden Prozessen gehören auch Kirchenbesuche. Hirsch hat sich damit bisweilen demonstrativ über das Trennende der Religion hinweggesetzt. Das war nicht nur bei der Fahnenweihe der Fall, sondern auch, um ein weiteres Beispiel zu nennen, bei Begräbnissen von Kollegen.147 Auch in seinen Possen hat er den Kirchenbesuch von Juden wiederholt angeschnitten. Hirschs persönliche Kirchenbesuche wie auch die der jüdischen Charaktere in seinen Stücken stehen immer mit einem gewissen Anlass, vor allem mit konkreten Schwellenereignissen, in Zusammenhang. Entweder gilt es, den Tod eines Kollegen zu betrauern, jemandes Aufnahme in eine Glaubensgemeinschaft zu feiern, oder auch, wie es mit der Fahnenweihe der Fall war, das Kollektivbewusstsein der Volkssänger auf rituellem Wege zu stärken. Die Anwesenden bei solchen Vorgängen verfolgen ein gemeinsames Ziel, was sie zumindest für die Zeit der Veranstaltung aneinander bindet. Distinktionen und Differenzen, die sie im gewöhnlichen Alltag voneinander trennen, scheinen weitgehend aufgehoben. Sie befinden sich in einer Art ‚Zwischenraum‘, der weder Teil des normalen Alltages noch diesem gänzlich enthoben ist, und der es deswegen ermöglicht, dass sie eine besondere Art von Gemeinschaft bilden. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) hat einen solchen „Schwellenraum“ im Jahre 1909 theoretisch dargelegt.148 Sein Kollege, der schottische Anthropologe Victor Turner (1920–1983), hat dessen Konzept weiter ausgearbeitet und dabei auch den Begriff der Communitas eingeführt, zu der die Anwesenden in diesem Zwischenraum verschmelzen.149 Hirschs besonderes Verbundenheitsgefühl mit den Anwesenden in der Kirche während der Weihe der Volkssängerfahne, das ihn auch Gemeinsamkeiten mit dem Antisemiten Lueger finden ließ, mag auf eine Schwellenerfahrung zurückzuführen sein. Hirschs Verortung von Gemeinschaft an einem liminalen Ort weist in keine zeitlich weit zurückreichende Geschichte, in der der Ursprung nationaler Mythen und Vorstellungen ethnischer Authentizität gewöhnlich angesiedelt ist.150 Vielmehr bemühte er die jüngere Vergangenheit, wenn er Beispiele eines jüdischen und nichtjüdischen Miteinanders beschrieb. Zwischen Hirschs Zeitorientierung und seinem Raumkonzept, in dem Gemeinschaft performativ gestaltet wird, gab es einen direkten Zusammenhang. Er kam, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, auch bei anderen jüdischen Kulturschaffenden zum Ausdruck. Die Trias von Zeit, Raum und Performanz stellte ein Bewusstseinssegment bei einem Teil der Wiener Judenschaft dar, durch das er

147 148 149 150

IWE 291 (23. 10. 1901) 8. Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage) (Frankfurt/M.2 1999) 27–28. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur (Frankfurt/M.2 2000). Giesen, Identität 253.

144

Jüdisch-Sein unter den Wiener Volkssängern

sich von vielen Nichtjuden unterschied. Es kann als ein säkulares Differenzmerkmal von Juden verstanden werden.

4.

Jüdische Fluchtorte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Im zweiten und dritten Kapitel wurde das Verständnis von Jüdisch-Sein in den sogenannten jüdischen Volkssängerstücken wie auch an der Person von Albert Hirsch herausgearbeitet. Dabei ging es weniger um Inhalte, sondern um dessen Darstellungsmerkmale. Jüdisch-Sein konnte an keinen konkreten allgemeingültigen Merkmalen festgemacht werden; vielmehr zeigte es sich vor allem an einer Unterscheidbarkeit, die performativ zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Differenz wurde als inklusiv bezeichnet. Das heißt, dass grundsätzlich auch Nichtjuden die damit verbundenen Kennzeichen annehmen können. (Siehe dazu fünftes Kapitel.) Im vorliegenden Abschnitt wird mit konkreten Raum- und Zeitkonzeptionen eine inhaltliche Form von jüdischer Unterscheidbarkeit vorgestellt. Damit wird die Fluidität von Differenz aufgehoben, ohne sie gleichzeitig zu essentialisieren. Das Zeit- und Raumverständnis ist nämlich kontextuell bedingt. Im Zuge seiner Skizzierung wird über die populärkulturellen jüdischen Bühnenwerke hinausgegangen und auch auf literarische und künstlerische Produktionen von Juden Bezug genommen. Damit soll die These von einem zumindest tendenziell eigenen Zeitregiment und Ortsverständnis bei – zumindest einem Teil der – Juden im Wien um 1900 auf eine breitere Grundlage gestellt werden.

4.1

Der Rückzug in die Vergangenheit

Als sich Claude Monet und seine Malerkollegen, die in späteren Jahren als Impressionisten bekannt werden sollten, der plein air-Malerei zuwandten, galten sie noch als wunderlich. Sie waren gleichwohl nicht die Ersten, die in der Natur ihre Leinwände aufstellten und Ausschnitte der Landschaft, die sich vor ihren Augen erstreckte, beziehungsweise Eindrücke davon festhielten. Mit der Malerei im Freien standen sie in der Nachfolge der Schule von Barbizon.1 In einem größeren 1 Philip Nord, Impressionists and Politics. Art and Democracy in the Nineteenth Century (London: Routledge 2000) 11.

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Jüdische Fluchtorte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Kontext betrachtet ging es dabei aber nicht nur um eine neue Malmethode. Die Bedeutung der Natur als Motiv ergab sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Urbanisierung und Industrialisierung.2 Die Natur galt dabei als Rückzugsort, sie zeigte eine vormoderne Landschaft, die im Entschwinden begriffen war. Sie wurde den Menschen, die die Beschleunigung des Lebens in städtischer Umgebung verunsicherte, zum Sehnsuchtsraum. Fluchtorte aus der erfahrbaren Wirklichkeit gibt es auch in den Bildern von Tina Blau, einer österreichischen Vertreterin des Impressionismus. Die 1845 in Wien geborene und 1883 vom Judentum zum Protestantismus konvertierte Landschaftsmalerin erlangte über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit.3 Unter ihren zahlreichen und vor allem mannigfaltigen Gemälden finden sich Darstellungen von der Peripherie wie auch der Vergangenheit der Donaumetropole. Zu diesen Werken zählen nebst anderen die Bilder „Aus der Wiener Vorstadt“ (1905) wie auch „Altwiener Hof“ (1910). Sie zeigen idyllische Verhältnisse, die durch die Modernisierung Wiens bereits verlorengegangen waren oder der Zerstörung anheimzufallen drohten. Die Industrialisierung und der Neubauboom, im Zuge dessen ganze Straßenzüge demoliert und an die Stelle beschaulich anmutender Häuserzeilen neue Wohnquartiere aus dem Boden gestampft wurden, rissen viele Menschen aus ihrem vertrauten Lebensumfeld und erweckten in ihnen ein Bedürfnis nach überschaubareren Existenzbedingungen. Diese wurden in der sogenannten Vorstadt sowie Alt-Wien ausgemacht. Sie wurden im späten 19. Jahrhunderts oftmals in eins gesetzt, ihre Bedeutungen verflossen ineinander. Alt-Wien wurde in der Vorstadt lokalisiert, und die Vorstadt verkörperte Verhältnisse, die für Wiens Vergangenheit angeblich charakteristisch waren. Bei Tina Blau nahmen sie dieselbe Funktion ein, die bei anderen Impressionisten die freie Natur innehatte. Blaus Darstellungen von Fluchträumen aus den vermeintlichen Unbilden der Gegenwart ähneln jenen von Felix Salten, einem Mitglied des Literatenzirkels Jung Wien. Salten wurde 1869 als Siegmund Salzmann in Budapest geboren. Sein Vater, einer bekannten Rabbinerfamilie entstammend, zog mit seiner Frau und den Kindern nach Wien, wo Siegmund die Schule besuchte. Schon bald nach Beendigung des Gymnasiums schloss er sich dem Schriftstellerzirkel Jung Wien 2 Felix Krämer, Monet und die Geburt des Impressionismus. In: Monet und die Geburt des Impressionismus (München: Prestel 2015) 16–18. 3 Ob Tina Blau trotz ihrer Konversion als jüdische Malerin gelten kann, ist eine schwer zu beantwortende Frage, solange man ihren Bezug zum Judentum nicht kennt. Für die vorliegenden Ausführungen wird sie als solche gesehen, weil ihr auch das Jüdische Museum in Wien 1996 eine Ausstellung gewidmet hat. Siehe G. Tobias Natter, Claus Jesina, Tina Blau (1845– 1916) (Salzburg: Verlag Galerie Welz 1999). Zu Tina Blau siehe auch Zdrawka Ebenstein, Zum Werk von Tina Blau. In: Tina Blau (1845–1916). Eine Wiener Malerin, ed. Österreichische Galerie im Oberen Belvedere (Wien: Eigenverlag) 17–22.

Der Rückzug in die Vergangenheit

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an. Zu Saltens bekanntesten Werken zählen Bambi und höchstwahrscheinlich auch Josefine Mutzenbacher, deren Autorschaft jedoch nicht vollständig geklärt ist. Salten schrieb auch über die Vorstadt. Er selbst verbrachte einen Teil seiner Kindheit an Wiens Peripherie, nachdem sein Vater durch Spekulationen sein Vermögen verloren hatte und die Familie ihre Wohnung in einer gutbürgerlichen Nachbarschaft hatte aufgeben müssen. Saltens Ausflüge in die Vorstadt waren nicht zuletzt durch seine Kindheitserinnerungen motiviert.4 Und damit wurde sie mit Empfindungen wie Geborgenheit und Sicherheit assoziiert. Zwar glaubte er, diese vor allem an Wiens äußeren Stadtbezirken vorfinden zu können. Bisweilen konnte er das mit der Vorstadt verbundene Lebensgefühl aber auch in irgendwelchen Gaststätten und Etablissements der Wiener Innenstadt ausmachen. Die wesentliche Bedingung dafür war, dass Menschen verschiedener gesellschaftlicher Schichten, Klassen und ethnischer Zugehörigkeit, somit auch Juden und Nichtjuden, zusammenkommen, aufgrund der sogenannten Wiener Gemütlichkeit ihre Unterschiede vergessen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln können.5 In diesem Sinne schrieb er über das Brady, einen Gastbetrieb mit Unterhaltungsangeboten im Zentrum der Stadt: „Und wie da junge Prinzen, Offiziere, alte Lebemänner, Kommis, Bürgersleute, Kutscher und ‚kleine Mädchen‘ beisammensitzen und singen, ist es, als sei man hier in einer ganz kleinen Stadt, deren Einwohner eine besonders beschaffene Familie bilden, …“6 Die Vorstadt war für Salten somit nicht unbedingt ein geographisch genau bestimmbarer Stadtteil, sondern ein Ort, der die Herausbildung einer – auch jüdisch-nichtjüdischen – Gemeinschaft ermöglichte. Alt-Wien wie auch die Vorstadt galten Tina Blau und Felix Salten als Räume, aus denen die Verwerfungen der Moderne ausgespart blieben und die einen bukolischen Kontrapunkt zum tatsächlich erfahrenen Lebensalltag bildeten. Und sie wiesen beide in die Vergangenheit. Während sich Alt-Wien auf das untergegangene Wien vor allem der Biedermeierzeit bezog, aber auch weiter in die Vergangenheit zurückreichen konnte, wurde die Vorstadt mit einem beschaulichen Leben in dörflich anmutender Atmosphäre assoziiert, die im restlichen Wien bereits verschwunden oder im Begriffe war, durch die Modernisierung des städtischen Umfeldes verdrängt zu werden.7 Ein Fluchtort aus der Gegenwart in die Geschichte wurde im Übrigen auch architektonisch dargestellt. Bisweilen bekundeten die Fassaden Wiener Ring4 Hillary Hope Baron, „Vienna Is Different“. Jewish Writers in Austria from the Fin de Siècle to the Present (= Austrian and Habsburg Studies 12, New York2: Berghahn Books 2013) 42–43. Felix Salten, Das österreichische Anlitz (Berlin: S. Fischer-Verlag 1910) 117–126. 5 Salten, Anlitz 78. 6 Salten, Anlitz 78. 7 Alt-Wien wurde bisweilen sogar im Mittelalter angesiedelt. Siehe Richard Kralik, Hans Schlitter, Wien: Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Kultur (Wien: Holzhausen 1912) 736.

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straßen-Palais, die jüdische Besitzer hatten, mit Nachdruck die Sehnsucht nach einer Welt, in der die Kluft zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben oder zumindest weitgehend überbrückt ist. Dabei wurde zwar nicht Alt-Wien, sondern das hellenistische Judentum evoziert, jedoch abermals in die Vergangenheit ausgewichen.8

Jüdische Differenz im Topos von Alt-Wien Tina Blau und Felix Salten stellten auf dem Gebiet der Kunst und Literatur einen nostalgisch verklärten Rückzugsraum vor. Mit dessen Verankerung in der altWiener Vergangenheit deckte er sich weitgehend mit dem Refugium, das die allgemeine Wiener Bevölkerung konstruierte.9 Sie fand in Alt-Wien ebenfalls einen imaginierten Gegenpol zur umgestalteten, modernen Donaumetropole.10 Trotzdem scheint es zwischen jüdischen und nichtjüdischen Raumvorstellungen auch zwei gewichtige Unterschiede gegeben zu haben. Diese beziehen sich auf die Funktion von Alt-Wien. Juden diente die Verbrämung der jüngeren Stadtgeschichte nicht lediglich als Kritik an den Verhältnissen der Gegenwart. Alt-Wien stellte für sie auch eine Folie dar, um sich in die Geschichte der Stadt einzuschreiben. Eine jüdische Präsenz in der Vergangenheit sollte als Kontrastbild zur verbreiteten Ansicht dienen, dass Juden Fremde seien, Zugewanderte, nicht wirklich zur Gesellschaft gehörig. Während der Topos Alt-Wien im allgemeinen 8 Elana Shapira, Moses und Herkules. Ein Beitrag des jüdischen Bürgertums zur Gestaltung der Ringstraße und des Praters. In: Ringstrasse. Ein jüdischer Boulevard, ed. Gabriele KohlbauerFritz (Wien: Amalthea 2015) 168. Zum Umgang der Juden im 19. Jahrhundert mit dem hellenistischen Judentum siehe Yaacov Shavit, Athens in Jerusalem. Classical Antiquity and Hellenism in the Making of the Modern Secular Jew (London: The Littman Library of Jewish Civilization 1999). 9 Lisa Silverman schreibt in ihrem Buch: „For Jews, however, this vision (Alt-Wien; K. H.) had little appeal, given that it did not include them.“ Siehe Lisa Silverman, Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars (Oxford: Oxford University Press 2012) 118. Diese Einschätzung scheint weniger aus eigenen Forschungen denn aus simplen Schlussfolgerungen zu resultieren, die an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden können. 10 Zu Alt-Wien siehe Wolfang Kos, Christian Rapp (Hg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (Wien: Czernin Verlag 2005). Monika Sommer, Heidemarie Uhl (eds.), Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identitäten (Innsbruck: Studienverlag 2009). Inge Posbrecky, Die Wiener Ringstrasse. In: Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa (Wien: Christian Brandstätter Verlag 1996) 267 (267–273). Ein Rückzugsraum ohne die Bedrückungen und Spannungen, die die Realität prägten, scheint nicht nur in Wien ein verbreiteter Topos gewesen zu sein, sondern auch in vielen anderen Städten. Ähnlich wie die Habsburgermetropole mit Alt-Wien, so schuf sich beispielsweise die französische Hauptstadt mit Vieux Paris eine in die Geschichte reichende Kopie von sich selbst. Bei der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 war die historische Version der Stadt eine der größten Attraktionen. (Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914 (München: Carl Hanser Verlag 2009) 23.)

Der Rückzug in die Vergangenheit

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Gebrauch gewöhnlich ohne Bezugnahme auf eine jüdische Existenz auskam, wurde eine solche in den von Juden vorgestellten Konstruktionen zumeist besonders hervorgehoben. Sie stellten, um dies mit einem gegenwärtig häufig gebrauchten Terminus auszudrücken, Beispiele einer shared history vor.11 Eine der Ausnahmen unter den allgemeinen Alt-Wien-Darstellungen, in der sehr wohl auf jüdisches Leben in der Vergangenheit hingewiesen wird, bildete eine Artikelserie im Illustrirtes Wiener Extrablatt. Darin werden wiederholt Bauten mit einem Bezug zu einer jüdischen Existenz in Wien vorgestellt. In einem Text aus dem frühen 20. Jahrhundert wird beispielsweise der Judenplatz als ein Beispiel von Alt-Wien, das inmitten einer neu-Wiener Umgebung erhalten geblieben sei, beschrieben.12 Ein anderer Beleg dafür findet sich in einem Artikel über Teile der Leopoldstadt, des Praters und des heutigen III. Bezirkes, Landstraße. Der Beitrag greift unter anderem ins 17. Jahrhundert zurück und erwähnt ein Haus am „Unteren Werd“, der späteren Leopoldstadt. Es wurde 1901 abgerissen. Seit 1623, so wird angegeben, sei es als Judenschänke bekannt gewesen. Sie habe an einer Straße gelegen, die vor 300 Jahren als Herrengasse bezeichnet worden sei und als Sitz reicher jüdischer Kaufleute gegolten habe.13 Der Artikel lässt unerwähnt, dass es sich beim umschriebenen Gebiet um das jüdische Ghetto (1625–1670) handelte und dass Juden nach dessen Aufhebung für lange Zeit aus der Stadt verbannt waren.14 Stattdessen wird der Eindruck erweckt, dass es eine Kontinuität jüdischer Existenz bis ins 20. Jahrhundert gegeben habe. Das Bestreben, Juden als integralen Part der Gesellschaft Alt-Wiens vorzustellen, kann an der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen veranschaulicht werden, die von Mai bis Oktober 1892 im Wiener Prater stattfand. Eine der größten Attraktionen der Veranstaltung war die Darstellung von Alt-Wien, und das Herzstück davon die Rekonstruktion des Hohen Marktes, eines Platzes in der Wiener Innenstadt.15 Für die Arbeit wurde Oskar Marmorek, ein bekannter jüdischer Architekt, beauftragt. Zu diesem Zweck studierte er Baupläne aus dem siebzehnten Jahrhundert. Diese dienten ihm aber nur als grobe Vorlage für seine Arbeit. Bei der Gestaltung der Häuser verließ er sich zudem auf seine Vorstellungskraft, durch die er „den historischen Platz ‚nachempfand‘“.16 Er spielte gewissermaßen mit der Vergangenheit und konstruierte 11 Sanjay Subrahmanyam, Connected Histories: Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia. In: Modern Asian Studies 31:3 (1997) 735–761. 12 IWE 115 (27. 4. 1903) 1. 13 IWE 352 (25. 12. 1902) 50. 14 Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte, Wirtschaft, Kultur (Wien: Verlag E. P. Tal 1933) 41– 78. 15 Theophil Antonicek, Die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen 1892 (Wien 2013) 129–130. 16 Arkus Kristan, Oskar Marmorek 1863–1909. Architekt und Zionist (Wien 1996) 160.

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sie. Marmorek, der sich zum Zionismus bekannte und ein ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein hatte, verabsäumte es nicht, durch sein Werk die historische Existenz von Juden sichtbar zu machen. Dies zeigte sich darin, dass sich unter den wenigen Seitengassen, die in den Hohen Markt mündeten, die Judengasse befand.17 Marmorek gestaltete einen Vergangenheitsraum, der auch von Juden markiert war. Damit wurde dem Betrachter der Ausstellung angezeigt, dass Juden zu Wiens Vergangenheit gehörten.18 Der zweite Unterschied zwischen den jüdischen und den allgemeinen AltWien-Konstruktionen war unmittelbar mit der Betonung einer jüdischen Präsenz in der Vergangenheit der Stadt verbunden. Häufig blieb es nämlich nicht dabei, sondern Juden wurden in friedlicher Interaktion mit Nichtjuden gezeigt. Ein herausragender Vertreter dieser Darstellungsweise jüdischer Existenz war Albert Hirsch. Seine Gruppe führte zu Beginn des Jahres 1902 die von ihm verfasste Posse „Der Apostel vom Schottenfeld“ auf.19 Deren Bezug zur Vergangenheit der Stadt wurde einerseits durch Zeitungsanzeigen hergestellt, in denen die Aufführung als alt-Wiener Stück beworben wurde. Andererseits war er für viele Zeitgenossen bereits am Titel ablesbar.20 Obwohl nicht an der Peripherie der Metropole gelegen, stand das Schottenfeld, das im Zuge seiner Eingemeindung im Jahre 1850 dem 7. Wiener Bezirk zugeschlagen wurde, mit der Vorstadt und deren beschaulichen Alltagsgestaltung wie auch mit Alt-Wien in enger Beziehung.21 Das erschließt sich beispielhaft aus den Kurzgeschichten, die der jüdische Journalist Julius Löwy im Illustrirtes Wiener Extrablatt über die alt-Wiener Alltags- und Vorstadtexistenz verfasste und die wiederholt mit dem Schottenfeld in Zusammenhang gebracht wurden. Am vierten März 1900 erschien sein Essay „Der Kaiser vom Schottenfeld als eine Wiener Vorstadtgeschichte“,22 und ein halbes Jahr später „Der Kirchtaggeiger vom Schottenfeld“, der als eine „alte Wiener Figur“ bezeichnet wurde.23 Alt-Wien, die Vorstadt und das Schottenfeld waren assoziativ eng miteinander verbunden. Das Schottenfeld diente gleichsam als Synonym für die alt-Wiener Vorstadt. 17 Antonicek, Ausstellung 130. 18 Das Bestreben, die historische Existenz von Juden in der Stadt sichtbar zu machen, schlug sich in einer Reihe weiterer Aktivitäten nieder. An dieser Stelle sei lediglich auf die Arbeit der historischen Kommission der jüdischen Gemeinde Wiens verwiesen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert mit Studien zur Geschichte der Juden in Wien aufwartete. Siehe Lisa Silverman, Becoming Austrians. Jews and Culture Between the World Wars (Oxford: Oxford University Press 2012) 114–115. 19 Albert Hirsch, „Der Apostel vom Schottenfeld“. In: NÖLA (Theaterzensur) 21/22 (1902). 20 Siehe IWE 11 (12. 1. 1902) 25. 21 Siehe Felix Czeike, Schottenfeld. In: Historisches Lexikon Wien 5 (Wien: Kremayr & Scheriau 1992) 135–136. 22 IWE 61 (4. 3. 1900) 7–8. 23 IWE 241 (2. 9. 1900) 7.

Der Rückzug in die Vergangenheit

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Dass Albert Hirsch ein Stück mit Referenz zum Schottenfeld, und damit zu Alt-Wien schrieb, war kein Zufall. Zum Ersten verstand er sich als Teil der Volkssängerschaft, die eng mit der volksmusikalischen Tradition und dem Lebensgefühl des historischen Wien in Zusammenhang gebracht wurde. Zudem trat er mit seinem Ensemble oft in Gaststätten in der Mariahilferstraße auf, die in unmittelbarer Nähe zum Schottenfeld gelegen ist.24 Durch eine explizite Nennung dieses Stadtviertels im Titel seines Stückes konnte er die umliegende Bevölkerung direkt ansprechen und auf seine Aufführungen aufmerksam machen. Dies tat er auch mit der Figur des Priesters, die in „Der Apostel vom Schottenfeld“ eine zentrale Rolle spielt. Er ist dem im März 1901 verstorbenen Pfarrer vom Schottenfeld, Karl Stern, nachempfunden. Dieser war sehr beliebt, genoss über seinen Pfarrsprengel hinaus Bekanntheit und personifizierte aufgrund seines hohen Alters von 86 Jahren ein Stück von Alt-Wien.25 Mit der Bezugnahme auf den Pfarrer sollte die Aufführung wohl von dessen Ansehen profitieren. In „Der Apostel vom Schottenfeld“ geht es um die Bemühungen eines jungen jüdischen Liebespaares, Bruno und Esther, die Erlaubnis zur Heirat zu erhalten. Esthers Vater, ein Börsianer namens Goldmann, und seine Frau sind gegen diese Beziehung, weil Bruno sich zu sehr für Sport interessiert und seine beruflichen Pläne für sie Hirngespinste sind.26 Er will Tiere dressieren und im Ronacher auftreten lassen sowie ein Luftschiff bauen. Dazu benötigt er ein Startkapital. Allerdings besitzt er kein Geld, und auch Herr Goldmann will ihm keines vorstrecken oder gar geben. In der ersten Szene finden Herr und Frau Goldmann ihre Tochter beim Rendezvous mit Bruno. Die beiden jungen Leute teilen Esthers Eltern mit, dass sie ohne einander nicht leben könnten. Bruno räumt ein, als schlechter Bräutigam zu erscheinen. Denn ohne Beruf und finanzielles Vermögen könne er für Esther nicht sorgen. Eine Besserung seiner Lage sei zwar in naher Zukunft nicht zu erwarten. Aber er sei sich gewiss, dass er seine beruflichen Ziele letztlich erreichen werde. Herr Goldmann teilt Brunos Zuversicht allerdings nicht. Überzeugt, dass er nie Geld besitzen werde, teilt er ihm mit, dass er um die Hand seiner Tochter anhalten dürfe, sobald er ihm eintausend Gulden in bar vorweise. Damit ist für ihn die Angelegenheit erledigt. Sowohl Esther als auch Bruno sind über diese Bedingung zutiefst irritiert. An eine Eheschließung ist jetzt nämlich nicht mehr zu denken. In ihrer Enttäuschung droht Esther, sich in die Donau zu stürzen. Bruno will ihr nicht nachstehen und äußert denselben Entschluss. Herr Goldmann reagiert auf diese Ankündigung gelassen mit den Worten, dass Geld eben die Welt regiere. Als 24 Siehe beispielsweise IWE 1 (1. 1. 1899) 3. 25 IWE 76 (18. 3. 1901) 4. 26 Zur Rollenverteilung siehe IWE 10 (11. 1. 1902) 12.

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Esther und Bruno wieder alleine sind, hören sie die Stimme des Priesters Vater Lorenz. Da er ihnen aufgrund seines wohltätigen Wirkens namentlich bekannt ist, beschließen sie, ihn nach einem Ausweg aus ihrer Lage zu fragen. Die nächste Szene zeigt Vater Lorenz, der einer jungen Frau seine Hilfe angedeihen lässt. Ihr Vater ist vor einem Jahr bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, und ihre Mutter benötigt dringend Medikamente, die sie sich allerdings nicht leisten kann. Vater Lorenz, der bei den Reichen Geld sammelt, um den Armen zu helfen, übernimmt die Kosten für die Heilmittel. Bruno und Esther hoffen, auch in ihrer speziellen Angelegenheit seine Unterstützung zu erhalten. Sie erzählen ihm von der Entscheidung Herrn Goldmanns, ihnen so lange seine Einwilligung zur Heirat zu versagen, bis Bruno im Besitz von eintausend Gulden sei. Vater Lorenz kennt Herrn Goldmann von dessen Spendentätigkeit für den Kirchenbau. Umgekehrt ist er auch Esthers Mutter bekannt, die ihn vor einigen Jahren bei einem Begräbnis sprechen hörte. Nach Esther bewegte seine Predigt Frau Goldmann so sehr, dass sie weinend nach Hause kam. Familie Goldmann und Vater Lorenz pflegen somit keine persönliche Bekanntschaft miteinander, aber respektieren einander. Im Laufe des Gesprächs mit Esther und Bruno ersinnt Vater Lorenz sodann einen Plan, Herrn Goldmann bezüglich des Heiratswunsches seiner Tochter umzustimmen. Dazu muss er aber persönlich mit ihm sprechen. Er schickt Esther zu ihren Eltern nach Hause, damit sie bei dem Treffen anwesend sein kann. In der vierten Szene liest Frau Goldmann ihrem Mann aus der Zeitung vor, dass eine Wohltätigkeitssammlung zur Erinnerung an die beim Ringtheaterbrand Verunglückten stattfinden werde.27 Alle Bürger würden gebeten, etwas beizusteuern. Herr Goldmann meint dazu, dass sicher auch einige Juden unter den Verstorbenen gewesen seien und er deswegen einhundert Gulden spenden werde. Als bald darauf die Türklingel läutet und Vater Lorenz eintritt, glauben Herr und Frau Goldmann, dass er wegen der angekündigten Haussammlung gekommen sei. Herr Goldmann erklärt unaufgefordert seine Bereitschaft, Vater Lorenz einen namhaften Betrag zukommen zu lassen. Als der katholische Priester allerdings um eintausend Gulden bittet, ist Herr Goldmann geschockt und verliert beinahe sein Bewusstsein. Seine Frau muss ihn stützen. Nachdem er sich wieder erholt hat, drängt sie ihn, Vater Lorenz die erbetene Summe auszuhändigen. Herr Goldmann sträubt sich anfangs dagegen, willigt aber doch ein. Vater Lorenz gibt das Geld Bruno, der es Herrn Goldmann vorweist. Letztlich erhalten Bruno und Esther Herrn und Frau Goldmanns Zustimmung zur Heirat. Auch Vater Lorenz ist noch einmal zu sehen. Er verabschiedet sich von 27 Der Brand des Wiener Ringtheaters fand am 8. Dezember 1881 statt. Es handelte sich um eine der größten Brandkatastrophen des 19. Jahrhunderts in Österreich. Knapp 400 Menschen fanden den Tod.

Der Rückzug in die Vergangenheit

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Bruno und Esther mit den Worten: „Also pfüat Gott, Kinder, lebts gut miteinander, ihr habts gesehen, der Vater Lorenz betet nicht allein für Christen, sondern auch für Juden, wanns anständige Menschen san.“ „Der Apostel vom Schottenfeld“ ist das bekannteste Stück von Hirsch, in dem er Juden nicht nur Teil der alt-Wiener Gesellschaft sein lässt, sondern sie auch in enger Beziehung zu Nichtjuden darstellt. Beide Aspekte kommen in seiner Posse „A Gschicht’ von anno dazumal“ ebenfalls deutlich zum Ausdruck.28 Darin geht es um zwei Frauen, Gertrud und ihre Tochter Burgai, die die Miete für ihr kleines Haus nicht mehr bezahlen können. Das Gebäude gehört einem Baron, der sich von der tristen Situation der Mieterinnen unberührt zeigt und ihnen kündigt. Der über sechzigjährige Verwalter der Liegenschaft verspricht den Frauen, sich beim Aristokraten für sie verwenden zu wollen, wenn die achtzehn Jahre alte Burgai ihn heirate. Diese weist das Ansinnen allerdings brüsk zurück. Stattdessen will sie den greisen Mitbewohner Isak zum Verlassen des Hauses bewegen. „Der alte Jud“, wie Burgai ihn abfällig nennt, wohnt bei den Frauen, ohne sich an den Mietkosten zu beteiligen oder für seine Verpflegung zu bezahlen. Burgai glaubt, durch dessen Auszug genug Geld sparen zu können, um die Miete zu begleichen. Gertrud ist allerdings strikt gegen diesen Plan. Sie erzählt Burgai, dass Isak der beste Freund ihres verstorbenen Vaters gewesen sei. Isak habe ihm das Geld geliehen, das dieser für den Aufbau seines Geschäftes benötigt habe. Wegen des schlechten Geschäftsganges habe Isak allerdings nie etwas von seinem Geld zurückbekommen. Isak hat dem Gespräch der Frauen heimlich gelauscht und ist zutiefst erschüttert über Burgais Vorhaben. Er entscheidet sich, das Haus für immer zu verlassen. Zuvor legt er Burgai noch dar, warum er und ihr verstorbener Vater so enge Bekannte waren. Beide seien in Langenzersdorf, einem kleinen Ort unweit von Wien, geboren worden. Als kleiner Junge habe der Verstorbene oft das Hausierbündel von Isaks Vater getragen, während Isak im Stall von Burgais Großeltern gelegen sei und frische Milch direkt von der Kuh getrunken habe. Nach dem Tod seiner Eltern habe Isak von diesen dreitausend Gulden geerbt. 2.000 Gulden habe er verloren, und die restlichen eintausend Gulden über die Jahre hinweg Burgais Eltern gegeben. Kurz vor Ablauf der Frist, die Burgai und Gertrud zur Räumung ihres Heims zugestanden wurde, kehren der Baron, seine Tochter und der Verwalter bei den beiden Frauen ein. Der Aristokrat hatte einen Jagdunfall und möchte sich im Haus ein wenig ausruhen. Gertrud ergreift die Gelegenheit und bittet ihn, die Kündigung des Mietvertrages zurückzunehmen. Der Baron lässt sich aber nicht erweichen und sagt ihr lediglich einen kurzen zeitlichen Aufschub zu. Als Grund für seine Entscheidung gibt er an, dass die Frauen behauptet hätten, kein Geld für 28 Albert Hirsch, A Gschicht‘ von anno dazumal. In: NÖLA (Theaterzensur), Karton 21/1 (1898).

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die Miete zu besitzen, während sie die Kosten für den Unterhalt eines alten Juden aber sehr wohl bestreiten könnten. Als Isak den Raum betritt, in dem sich die Frauen und Gäste aufhalten, geben der Verwalter und der Baron ihrer antijüdischen Einstellung Ausdruck. Isak lässt sich durch die aggressive Stimmung ihm gegenüber aber nicht einschüchtern. Er wendet sich an den Baron und teilt ihm mit, dass er ihm vor einigen Jahrzehnten das Leben gerettet habe. Isak habe damals in Wien Waren gekauft und diese an Bauern in der Umgebung veräußert. Auf einem Waldweg habe er den Baron gesehen, als dieser gerade einen Revolver gegen sich selbst gerichtet habe. Auf Isaks Frage nach dem Grund für dessen Verzweiflung habe ihm dieser erzählt, dass er zutiefst verschuldet sei. Isak habe sich seiner erbarmt und ihm 2.000 Gulden gegeben. Isak erzählt auch, dass er nie um eine Rückzahlung des Geldes gebeten habe. Der geliehene Betrag, so meint Isak nun, reiche aus, um Gertrud und Burgai weiterhin im Haus wohnen zu lassen. Der Baron ist von Isaks Ausführungen gerührt, und seine Missgunst gegenüber ihm wandelt sich in ein Gefühl der Verbundenheit mit ihm. Er antwortet Isak, dass er, nachdem er seinem Vater als Baron nachgefolgt sei, im ganzen Land nach seinem ehemaligen Wohltäter suchen habe lassen. Da er seinen Namen nicht gekannt habe, seien im ganzen Land Flugblätter angebracht worden, auf denen er mitteilen ließ, dass er den erhaltenen Betrag zurückgeben wolle. Daraufhin hätten sich an die eintausend Juden an ihn gewandt und vorgegeben, dass sie die Gläubiger gewesen seien. Er habe deren Lügen aber durchschaut. Die Geschichte hat einen versöhnlichen Ausgang. Der Baron erlaubt den beiden Frauen, im Hause wohnen zu bleiben. Der Verwalter wird für sein eigennütziges Verhalten bestraft und Isak auf das Schloss des Barons mitgenommen, wo er bis zu seinem Lebensende gepflegt wird. Zwischen dem Juden Isak und dem nichtjüdischen Baron entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die auf deren gegenseitige Unterstützung beruht. Die Aufführung endet mit dem Satz: „Ob einer Jude oder Christ / Wenn er ein Mensch nur ist“. „A Gschicht’ von anno dazumal“ spielt in einer nicht näher datierten Vergangenheit, in der Juden Teil der Gesellschaft waren. Einerseits gibt es ein harmonisches Miteinander zwischen ihnen und Nichtjuden, wie am Verhältnis zwischen Burgais Vater und Isak abgelesen werden kann. Andererseits aber auch antijüdische Feindseligkeiten, die zu einem großen Teil jedoch auf Missverständnissen beruhen. Deren Aufklärung macht den Weg frei zu Freundschaften und engen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Unterschiedliche ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten, so das Fazit von „A Gschicht’ von anno dazumal“, müssen jüdisch-nichtjüdische Verbindungen nicht trüben. Isak, der altruistische Jude, scheint mit dem Baron, der sich anfänglich als Antisemit geoutet hat, letztlich mehr gemein zu haben als mit anderen Juden, die als betrügerisch und verlogen dargestellt werden.

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Die theatrale Darstellung enger Beziehungen und vielfältiger Interaktionen zwischen Juden und Nichtjuden in der alt-Wiener Periode tendiert dazu, Spannungen und Friktionen zwischen ihnen auszublenden. Offener Antijudaismus tritt dabei zugunsten harmonischer Beziehungen in den Hintergrund. Bisweilen werden etwaige Hinweise darauf in einen neuen Kontext gestellt und dadurch uminterpretiert. Dies wird an einem Purimball deutlich, den der Brigittenauer Israelitischer Unterstützungsverein im Jahr 1903 organisierte. Dessen Vorstandsmitglieder erschienen zu diesem Anlass in „Altwiener Toilette“.29 Dazu zählten unter anderem ein „färbiger Frack, buntes Wamms (!) und Spitzhut“. Eine der anwesenden Personen tauchte sogar als „‚Ritter ohne Furcht und Tadel‘ in Seidencostum mit Degen“ auf.30 Der Ball wurde von diesen Juden genutzt, um sich als Teil der fernen Vergangenheit, im konkreten Fall des Mittelalters, darzustellen.31 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass der Spitzhut Juden zu dieser Zeit teilweise vorgeschrieben war, um sie von ihrer Umgebung zu unterscheiden.32 Im Umfeld der Festveranstaltung hatte der Hut jedoch keine antijüdische Bedeutung mehr. Stattdessen bildete er ein Signum, das eine Teilhabe der Juden an der alt-Wiener Gesellschaft anzeigte.

4.2

Der Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart

Die Idealisierung der Vorstadt, die durch ihre Assoziation mit Alt-Wien einen Vergangenheitsbezug hatte, wie auch die Verherrlichung der Habsburgermetropole früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte sind im europaweiten Kontext des Historismus zu verstehen. So wie dieser war die Vorstellung einer von den Unwägbarkeiten der Gegenwart weitgehend befreiten Idylle an der Wiener Peripherie eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse, deren Auswirkungen auf die Lebenswelt die Menschen unmittelbar erfuhren, und auf die Zukunftsorientiertheit, die die industrielle Entwicklung mit sich brachte.33 Der Historismus maß der Geschichte nicht nur eine große Bedeutung bei, sondern erlaubte auch eine Pluralisierung von Vergangenheit.34 Damit ging eine Aufweichung von 29 Die Wahrheit 12 (1903) 7. 30 Ebd. 31 Siehe dazu auch Klaus Hödl, The quest for amusement: Jewish leisure activities in Vienna circa 1900. In: Jewish Culture and History 14:1 (2013) 1–17. 32 Naomi Lubrich, The Wandering Hat: Iterations of the Medieval Jewish Pointed Cap. In: Jewish History 29 (2015) 203–244. 33 Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus (München: Verlag C. H. Beck 1992) 165. 34 Moritz Csáky, Geschichtlichkeit und Stilpluralität. Die sozialen und intellektuellen Voraussetzungen des Historismus. In: Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa, ed. Hermann Fillitz (Wien: Christian Brandstätter Verlag 1996) 29.

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Traditionen und Unterhöhlung standardisierter Geschichtsinterpretationen einher.35 Diese grundsätzliche Offenheit gegenüber pluralen Vergangenheitsdeutungen machte es möglich, dass Juden ihre eigenen Vorstellungen über die Geschichte Wiens in den zeitgenössischen Diskurs über die Moderne einbringen konnten, die, wie am Verständnis von Alt-Wien angeführt worden ist, von jenen der Nichtjuden abwichen. Dem freien Nebeneinander unterschiedlicher Geschichtsbilder war allerdings keine lange Dauer beschieden. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten professionelle Historiker, Fachexperten und Denkmalpfleger die Laien aus ihren Funktionen als Interpreten der Vergangenheit verdrängt und bestimmten zunehmend allein, wie sie auszulegen sei. Aus den vielen Geschichten wurde ein umfassendes Narrativ, das normiert und der Öffentlichkeit in Museen und Ausstellungen vorgeführt wurde. Geschichte diente den Menschen nicht mehr zum ‚Einfühlen‘, Vergangenes wurde nicht mehr ‚nachempfunden‘, sondern streng methodisch interpretiert und versachlicht. Damit verlor ein Großteil der zuvor noch geschichtebegeisterten Bevölkerung einen Zugang zur Historie, sie wurde ihm fremd. In der Folge kam es zur Abkehr von der Vergangenheit und Hinwendung zur Gegenwart. Dieser Schwenk im Zeitregiment lässt sich auf vielen Gebieten der Kunst und Literatur sowie in zahlreichen akademischen Disziplinen beobachten, und er war länderübergreifend. Er kam bei den eingangs erwähnten Impressionisten sehr anschaulich zum Ausdruck, vor allem in Claude Monets Gemälde Der Quai du Louvre. Das Bild zeigt aus dem Blick eines Betrachters flanierende Menschen im städtischen Raum. Der Beobachter kehrt dabei den Alten Meistern im Museum den Rücken zu. Für ihn zählt das prosaische Treiben im Hier und Jetzt mehr als die schöpferische Leistung längst verstorbener Maler.36 Bei Felix Salten kann die Hinwendung zur Gegenwart ebenfalls an einem konkreten Beispiel festgemacht werden. Dabei geht es um seine Reaktion auf den Abriss des Stalehner im Jahre 1907. Das Stalehner war ein Gasthaus, das Volkssängergesellschaften für ihre Auftritte nutzten. Die Lokalität befand sich in Hernals, der Vorstadt, und symbolisierte das alt-Wiener Lebensgefühl. Dieses wurde von der Tageszeitung Wiener Illustrirtes Extrablatt auch entsprechend heraufbeschworen, als es über die Demolierung des Stalehner schrieb. Der gesamte Bericht ist in larmoyantem Ton gehalten, und mit der Darstellung der Geschichte des Hauses werden die Verhältnisse in der Vorstadt idealisiert.37 Demgegenüber kommentiert Salten das Verschwinden des Stalehner eher dis35 Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999) 184. 36 Krämer, Monet 19–20. 37 IWE 112 (25. 4, 1907) 5.

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tanziert. Zwar geht für ihn mit dem Stalehner ein Ort verloren, an dem Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammenkamen und sich verbrüderten.38 Allerdings weiß er, dass die Bedingungen dafür der Geschichte angehören. Salten verfolgte nämlich mit viel Unbehagen und großer Sorge den Aufstieg der Antisemiten in den Wiener Randbezirken, der die Möglichkeit einer Gemeinschaftsbildung zwischen Juden und Nichtjuden untergrub. Irritiert von der wachsenden Resonanz der Judenfeindschaft in der Bevölkerung verliert Salten zunehmend seine autobiographisch bedingte Sympathie für die Vorstadt. Er nimmt deswegen vom Stalehner, und somit auch von der Vorstadt und der altWiener Zeit, Abschied: „Man muß sagen, daß uns bessere Häuser schon verschwunden sind, ehrwürdigere und wertvollere, als der Stalehner. Die neue junge Stadt ist über sie hinausgewachsen, und wir haben ihrer vergessen. Wir werden auch den Stalehner verschmerzen.“ Und gleich darauf meint er: „Ein Nekrolog gebührt ihm freilich.“39 Saltens Niederschrift drückt kein Bejammern aus, sondern einen Nachruf, durch den man mit der Vergangenheit abschließen kann. In dieser Ablehnung der Vergangenheit lag ein wichtiges Moment der Moderne, das für die Identitätsbildung der Juden in Wien eine große Rolle spielte.40 Alt-Wien und die Vorstadt verloren in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Das zeigte sich bei jüdischen Kulturschaffenden nicht nur in einer deutlichen Abnahme ihrer Bemühungen, auf eine jüdische Präsenz in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten aufmerksam zu machen. Vielmehr wurde die gesamte altWiener Vergangenheit zunehmend ambivalent dargestellt. Schließlich handelte es sich um eine Zeit, in der Juden nur sehr eingeschränkt in Wien leben durften. Pogrome und Aufenthaltsverbote hatten über lange Perioden eine Existenz in der Stadt verunmöglicht. Die letzte Ausweisung der Juden geschah 1670, und es sollte dann 180 Jahre dauern, bis eine neue jüdische Gemeinde in Wien formell wieder erlaubt war.41 Diese nüchterne Betrachtung Alt-Wiens findet sich in den Texten von Julius Löwy (1851–1905). Er wurde im böhmischen Edlitz geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Wien. Dort besuchte er das Gymnasium und begann mit dem Medizinstudium. Nach einem Jahr entschied er sich für den Journalistenberuf, in dem er sehr erfolgreich war. Bereits 1873 wurde er Mitglied des Redaktionskomitees des Illustrirtes Wiener Extrablatt. Dort veröffentlichte er über Jahre hinweg seine „Wiener Skizzen“.42 Dabei handelt es sich um kurze 38 Baron, Vienna 47. 39 Salten, Anlitz 61. 40 Zum Vergangenheitsbezug der jüdischen Kulturschaffenden in der Moderne siehe Peter Gay, Die Moderne (Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2008) 59 & 101. 41 Nikolaus Vielmetti, Vom Beginn der Neuzeit bis zur Toleranz. In: Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, ed. Anna Drabek et al (Wien: Jugend und Volk2 1982) 72–77. 42 https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Julius_L%C3 %B6wy (acc. 14. 8. 2015)

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Geschichten über die Vergangenheit der Stadt, die zumeist mit Alt-Wien gleichgesetzt wird. Die Erzählungen stellen nostalgische Rückblicke dar, anheimelnde Beschreibungen einer entschwundenen Zeit. Anders als bei Hirsch gibt es in den Schriften von Löwy kaum einen Bezug zum Judentum. Falls Juden in seinen Schilderungen vorkommen, nehmen sie lediglich eine Statistenrolle ein. Wie idyllisch die Vergangenheit bei Löwy sein kann, zeigt sich an einer Beschreibung alter Häuser und Höfe, die bisher von der Demolierung verschont geblieben sind. Vor allem im Vergleich mit modernen Wohnanlagen für die proletarische Bevölkerung erweisen sich die meist knapp vor dem Abriss stehenden Gebäude für deren Bewohner als wahre Freudenquellen im alltäglichen Leben. Anders als in den öden Straßen, wo die Zinskasernen stehen, duftet „Alles in dem alten Hofe“ und winkt so freundlich frisches, wohltuendes Grün in dem Gärtchen …. roth und grün, gelb und weiß prangen die zarten Blümchen in den einfachen Beeten … da man in dem alten Hause zumeist gute Nachbarschaft hält, so gibt es Abends manchmal unter dem Kastanienbaum eine heitere Tarokpartie (!) … Was gibt es bei einer solchen Hoftarockpartie für Jux und Spaß. … Und kaum graut der Morgen, da ist der Hof schon wieder von den Kindern erfüllt, die um den Stamm des alten Kastanienbaumes Stricke legen und Hutschen befestigen, …43

Diese anheimelnden Beschreibungen stellen nur eine Seite seiner Erzählungen dar. Löwy lässt immer wieder auch dunkle Aspekte einfließen, die Alt-Wien oder die dörfliche Struktur der städtischen Randbezirke unter einem ungünstigen Licht darstellen. Das geschieht beispielsweise mit seinem Text „Die Poldi“, der als eine kleine Vorstadtgeschichte vorgestellt wurde.44 Die zentrale Figur, Poldi, wird als eine sehr schöne, anmutige junge Frau beschrieben, in die sich viele junge Männer verlieben. Sie schenkt deren Werben aber keine Beachtung. Niemand von ihnen weiß, dass sie eine Liebesaffäre mit einem Unbekannten hat. Von diesem wird sie auch schwanger und gebiert ein Kind. Da sie und ihr Liebhaber nicht miteinander verheiratet sind und ein uneheliches Kind als Schande gilt, versucht Poldi, die Schwangerschaft und Geburt geheim zu halten. Die Furcht vor öffentlicher Entblößung treibt sie letztlich zum Kindsmord. Dieser wird der Polizei bekannt, und Poldi wird zu einer langen Haft verurteilt, während der sie schon nach einem Jahr verstirbt. Mit „Die Poldi“ erzählt Löwy nicht nur das bedrückende Schicksal einer jungen Frau, sondern er kritisiert auch die Verhältnisse in der Vorstadt, die vormoderne Einstellung zu intimen Beziehungen, die nur durch eine vorhergehende Eheschließung als legitim gelten. Andere Formen des sexuellen Kontaktes

43 Julius Löwy, Der alte Hof. Eine Geschichte aus dem Wiener Leben. In: IWE 6 (6. 1. 1901) 7. 44 IWE 317 (15. 11. 1904) 6–7.

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sind in einer Weise verpönt, dass die Furcht vor deren Bekanntwerden sich bisweilen als größer erweist als die Abscheu vor einer Mordhandlung. Noch deutlicher kommt die Spannung zwischen Idylle und moralischem Abgrund in Löwys Buch „Geschichten aus der Wienerstadt“ zum Ausdruck. Im Vorwort wird angegeben, dass der Autor Erzählungen aus der Vorstadt und AltWien zum Besten gibt. Die Vorstadt wird als Gegend beschrieben, wo die Wienerinnen und Wiener „in kleinen Häusern, niedrigen Stuben, Höfen, aus denen das Grün noch nicht entschwunden ist, sitzen“.45 Im ganzen Buch kommt nur einmal ein Jude vor. Dessen Jüdisch-Sein wird nirgendwo explizit angesprochen und kann allein aus seinem Namen geschlossen werden: „Moses Goldschlagpapier aus Rzeszow“.46 Außer einer kurzen Erwähnung als Einkäufer spielt er in der Geschichte keine Rolle. Das Leben in Alt-Wien bzw. der Vorstadt zeichnet sich vor allem durch Geselligkeit aus. Die Menschen feiern miteinander und verbringen zusammen einen Großteil ihrer freien Zeit. Anders als die Gegenwart, die viele Zeitgenossen Löwys als beziehungs- und kontaktarm erlebten, scheint das vormoderne Wien ein erfülltes Dasein ermöglicht zu haben. Die Geselligkeit, die die Existenz in Alt-Wien und der Vorstadt kennzeichnet, entsteht nicht zuletzt durch die Enge der Wohn- und Lebensbedingungen. Sie treibt die Menschen aus ihren Behausungen und fördert dadurch den Kontakt mit den Nachbarn. Diese Umstände haben aber nicht nur gemeinschaftsfördernde Auswirkungen. Sie bilden auch den Nährboden für verschiedene Formen von Fehlverhalten. Die Armut und Perspektivenlosigkeit, die häufig das Leben bestimmen, begünstigen Alkoholismus. Und dieser geht oftmals mit Gewalt innerhalb der Familien, zumeist der Männer gegen die Ehefrauen, einher.47 Der frühe Tod des Ehegatten ist für manche Frau, die vorschnell geheiratet und ihren Mann zuvor nur unzureichend gekannt hat, eher eine Erlösung als ein Anlass für Trauer.48 Löwy zeichnet ein vielschichtiges Bild vom historischen Wien. Einerseits kommen nostalgisch verklärte Merkmale vor, die das Leben in der Vergangenheit oder in Wiens Außenbezirken mit ihrem dörflichen Charakter angeblich bestimmt haben. Andererseits klärt er auch über Missstände auf, die dort vorkamen. In diesem Sinne ist die Modernisierung der Stadt nicht unbedingt ein Grund zur Klage. Mit der Beschaulichkeit wird nämlich auch deren Kehrseite zurückgedrängt. Alt-Wien und die Vorstadt erscheinen in Löwys Schilderungen als sehr ambivalent. Eine Sehnsucht nach der Vergangenheit ist unangebracht.

45 46 47 48

Julius Löwy, Geschichten aus der Wienerstadt (Wien: Verlag A. Bauer2 o. D.) Vorrede. Löwy, Geschichten 62. Löwy, Geschichten 52. Löwy, Geschichten 60.

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4.2.1 Von der Vorstadt zum Prater Die Ablöse der Vergangenheit durch die Gegenwart war mit der Herausbildung neuer Raumvorstellungen verbunden. An die Stelle der künstlerisch oder literarisch verarbeiteten Vorstadt trat oftmals der Prater. Tina Blaus Gemälde, die dieses Wiener Freizeitareal zum Motiv haben, gehören zu den bedeutendsten Dokumenten ihres Schaffens und werden als wichtiger denn ihre ‚Vorstadtbilder‘ eingestuft.49 Während Felix Salten sich aufgrund des erstarkenden Antisemitismus in Wiens Randbezirken von der Vorstadt abwandte, projizierte er seine Vorstellungen von einem Refugium ebenfalls auf den Prater, den er als „die ewige Vorstadt“ bezeichnete.50 Er beschreibt den „Wurstelprater“, also das eigentliche Unterhaltungsgebiet des großflächigen Freizeitgeländes, als ein von der übrigen Stadt weithin abgeschlossenes Gebiet, in dem Antisemitismus und Nationalismus keine Rolle spielten und keine Feindseligkeit provozierten. Dieser Umstand ermögliche den Besuchern, eine hybride Identität anzunehmen.51 Menschen, die im gewöhnlichen Lebensalltag keinen Umgang miteinander pflegen, können dort miteinander in Verbindung treten und ein Gemeinschaftsgefühl erfahren. Für Salten war der Prater kein nostalgisch verklärter, hauptsächlich in der Vergangenheit angesiedelter Sehnsuchtsraum mehr, sondern eine reale und jederzeit erreichbare Lokalität, wenn auch positiv überzeichnet. Auch Stefan Zweig, ein weiterer jüdischer Schriftsteller aus dem Zirkel Jung Wien, interessierte sich für den Prater. Er sah ihn ebenfalls als einen Ort, der zwar das typisch Wienerische verkörperte, aber sich doch von der übrigen Stadt unterschied und von ihr abgeschirmt war. Dadurch erlaubte er soziale Interaktionen, die an anderen Orten unmöglich schienen. In gewissem Sinne, so schreibt Hillary Hope Herzog, figurierte der Prater für Zweig als ein Wild West-Raum, in dem die geltenden Normen aufgehoben waren. In einer Beschreibung eines Pferderennens, das dort stattfand, berichtet Zweig über Zuseher, die sich während des Wettkampfes in eine rasende, wilde Masse verwandeln, also miteinander einem Begeisterungstaumel verfallen. Dabei treten gegenüber dem Gemeinsam Erleben Unterschiede zwischen den Anwesenden in den Hintergrund oder bleiben gänzlich unbeachtet.52 Damit galt der Prater auch für Zweig als ein Ort, an dem Menschen, wenn auch nur kurzzeitig, zu einer neuen Art von Gemeinschaft transformiert werden können.

49 50 51 52

Natter, Blau 10–12. Herzog, Vienna 47–48. Herzog, Vienna 48. Herzog, Vienna 52–53.

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Das weitläufige Unterhaltungs- und Erholungsgebiet im zweiten Wiener Gemeindebezirk stellte für Felix Salten und Stefan Zweig einen Raum dar, der allen Gesellschaftsschichten offen stand und in dem sich alle ethnischen und kulturellen Gruppen, die in Wien vorzufinden waren, also auch Juden, umhertrieben und tummelten. Dass dies tatsächlich so war, darauf weisen zahlreiche Berichte hin. Ob es nun galizische Zuwanderer oder vermögende ansässige Juden waren, der Prater war für sie alle ein Ort der Unterhaltung und Zerstreuung.53 Seine gemeinschaftsbildende Funktion erlangte er aufgrund seiner Funktion als eine Art Zwischenraum. Er gehörte zwar zu Wien, war aber nicht wirklich mit der Stadt gleichzusetzen. Deshalb spielten die gesellschaftlichen Scheidelinien, auf die man in der Metropole gewöhnlich traf, im Prater selbst keine Rolle. Er ersetzte die Vorstadt somit weniger als geographisch genau fixierbarer Ort, sondern in seiner Funktion als liminaler Raum.

4.2.2 Zwei Arten von Gegenwart Da die Wende zur Gegenwart disziplinär umfassend und geographisch nicht begrenzbar war, wirkten ihre wichtigsten Protagonisten auf verschiedenen geistigen und kulturellen Gebieten und in unterschiedlichen Gesellschaften. Unter den europäischen Befürwortern sind vor allem der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen, der österreichische Architekt Otto Wagner sowie die italienischen Futuristen hervorzuheben.54 Sie proklamierten einen Bruch mit der Vergangenheit und bezweifelten deren Relevanz für die Gegenwart. Aber nicht alle wollten sich mit gleichem Verve der Vergangenheit entledigen. Es gab auch eine Gruppe von Intellektuellen, die zwar ebenfalls ein Zuviel an Geschichte ablehnte und den Bedeutungsgewinn der Gegenwart begrüßte. Gleichzeitig glaubte sie, dass die Gegenwart ohne Vergangenheit nicht zu verstehen sei. Allerdings bezogen sich diese Intellektuellen nicht auf die ‚versachlichte‘, sondern eine subjektivierte Vergangenheit. Die Einbeziehung persönlicher Vergangenheitserfahrungen sollte die Gegenwart verständlich machen. Auch die Befürworter dieses Ansatzes waren gleichsam international. Zu ihnen gehörten der französische Philosoph Henri Bergson, sein Landsmann und Schriftsteller Marcel Proust, der deutsch-österreichische Philosoph Edmund Husserl, und vor allem auch Sigmund Freud.55 53 Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung. In: Musicologica Austriaca 17 (1998) 66. 54 Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880–1918 (Cambridge: Harvard University Press2 2003) 51–57. 55 Giesen, Identität 233–234.

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Indem sie biographische Erfahrungen in das Gegenwartsbewusstsein einfließen ließen, was vor allem für Freuds Psychoanalyse wesentlich war, verstanden sie die Gegenwart als einen ausgedehnten Zeitraum, der in der Vergangenheit ansetzte.56 Diese Wahrnehmung von Gegenwart unterschied sich von der unter Zeitgenossen verbreiteten Erfahrung, nach der die Gegenwart nur als eine Summe diskreter Zeitpunkte, voll von Kontingenzen, erlebt werden könne. Diese als transitorisch, zerfahren und fragmentiert empfundene Gegenwart war eine Folge technischer Innovationen und deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen.57 Eine Heerschar von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen setzte sich mit dieser neuen Zeiterfahrung auseinander. Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, vor allem aber Georg Simmel, alle jüdisch, gehören zu den bekanntesten Kommentatoren dieses Zeitbewusstseins.58 Bei einer Gegenüberstellung der erwähnten Befürworter eines Bruchs mit der Vergangenheit und den Anhängern ihrer Subjektivierung, und damit einer Ausdehnung der Gegenwart, fällt auf, dass sich unter Ersteren keine Juden befanden, während die andere Seite lediglich aus Juden bestand. Der amerikanische Historiker Stephen Kern führt diesen Unterschied auf die geschichtlichen Erfahrungen der Juden zurück. Danach hätten sie aufgrund ihrer historischen Ghettoexistenz und des Fehlens einer eigenen Heimstatt dem Ort wenig Bedeutung zugemessen und seien stattdessen auf Zeit fixiert gewesen. Da Judentum auf eine lange Geschichte zurückblicken könne, sei dieses Zeitregiment bei Juden stärker der Vergangenheit verhaftet gewesen als bei Nichtjuden.59 Kerns Feststellung mag helfen, die Herausbildung eines distinkten Zeit- und Ortsverständnisses bei Juden im Laufe ihrer Geschichte zu erhellen.60 Für die vorliegenden Ausführungen über Wien im Fin-de-Siècle hat sie allerdings nur partiell Geltung. Der Raum – in seiner Funktion als Zwischenraum – spielte für 56 Eine zweite Form von ausgedehnter Gegenwart wurde durch Gleichzeitigkeit hergestellt. Im späten neunzehnten Jahrhundert wurde es aufgrund des Telefons und anderer technischer Erfindungen möglich, weite Distanzen zu überwinden und Menschen zur weitgehend gleichen Zeit mit Informationen zu versorgen. Siehe Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie aus uns macht und was wir aus ihr machen (München: Carl Hanser Verlag 2015) 96. 57 Mary Ann Doane, The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, The Archive (Cambridge: Harvard University Press 2002) 13. 58 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006; Original 1903). Siehe auch Lynn Hunt, Measuring Time, Making History (Budapest: Central European University Press 2008) 20. 59 Kern, Culture 50–51. 60 Siehe dazu auch Michal Kümper, Barbara Rösch (Hrsg.): Makom. Orte und Räume im Judentum. Hildesheim: Georg Olms Verlag 2007. Barbara E. Mann, Place and Space in Jewish Studies (New Brunswick: Rutgers University Press 2012). Sylvie Anne Goldberg, Temporality as Paradox: The Jewish Time. In: Ulf Haxen (Hg.), Jewish Studies in a New Europe: Proceedings of the Fifth Congress of Jewish Studies in Copenhagen 1994 under the Auspices of the European Association for Jewish Studies (Copenhagen 1998) 284–292.

Der Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart

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die Wiener Juden nämlich eine große Rolle, wie in den Ausführungen zu Felix Salten und Stefan Zweig bereits angemerkt worden ist.61 Relevant für die Habsburgermetropole ist allerdings Kerns Hinweis auf Unterschiede zwischen dem temporalen Regiment von Juden und Nichtjuden. Es scheint nämlich, dass sich eine jüdisch-nichtjüdische Scheidelinie zwischen den Befürwortern eines Bruchs mit der Vergangenheit und jenen, die sich zu einer ausgedehnten Gegenwart bekannten, auch in Wien nachzeichnen lässt. Und dieser Unterschied in der Zeitwahrnehmung stand, wie im Folgenden gezeigt wird, mit jeweils anderen Vorstellungen gesellschaftlicher Interaktionsformen sowie Raumkonzepten in Zusammenhang. Eine Gegenwart, die als eine Summe momenthafter Eindrücke empfunden wird, korrespondiert zumeist mit einem ebenso fragmentierten zwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht. Der Grund dafür liegt im Fehlen eines zeitlichen Kontinuums, das zur Vertiefung von Kontakten notwendig ist. Dadurch bleiben Menschen einander oftmals fremd. Diese Atmosphäre hat Georg Simmel in seinen Gedanken über das Leben in der Großstadt, das durch eine Vielzahl punktueller Sinneseindrücke geprägt ist, anschaulich beschrieben: „Die geistige Haltung der Großstädter zueinander“, so schreibt er, „wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.“ Und im Weiteren meint er, dass „infolge … (der Reserve) wir jahrelange Nachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen …“62 Der Nächste, obwohl physisch anwesend, ist im tagtäglichen Leben ein Unbekannter. Es gibt keine Zeit, um sich auf Mitmenschen einzulassen. Anstelle von Orten, an denen Differenzen zwischen Menschen vernachlässigbar werden und eine Gemeinschaft mit ihnen aufgebaut werden kann, gibt es verschiedene Räume für jeweils unterschiedliche Menschengruppen. In diesem Zusammenhang kann auf sogenannte jüdische Orte, die der Volkssänger Carl Lorenz benannt hat, hingewiesen werden (siehe drittes Kapitel). Die verharrende Gegenwart bietet demgegenüber einen Zeitrahmen, in dem Beziehungen zwischen Menschen so gestaltet werden können, dass ein Gefühl des Miteinanders entsteht. In einem „Gegenwartsraum mit Ausdehnung“ können nämlich „gleichzeitige Wahrnehmungen gemacht, Informationen ausgetauscht und Handlungen miteinander koordiniert werden“, schreibt Aleida Assmann vor allem in Anlehnung an Niklas Luhmann.63 Und diese miteinander 61 In diesem Zusammenhang kann auf das Kaffeehaus verwiesen werden, das ebenfalls eine Art Zwischenraum zwischen einem öffentlichen und privaten Raum bildet und Interaktionen, die im Alltagsleben eher selten waren, erleichterte. Es spricht einiges dafür, dass Wiener Juden deswegen ein Penchant für das Café entwickelten. Siehe Charlotte Ashby, The Cafés of Vienna: Space and Sociability. In: Charlotte Ashby, Tag Gronberg, Simon Shaw-Miller (Hg.), The Viennese Café and Fin-de-siècle Culture (=Austrian and Habsburg Studies 16) (New York: Berghahn 2015) 22. 62 Simmel, Großstädte 23. 63 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne (München: Carl Hanser Verlag 2013) 71.

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gemachten und aufeinander bezogenen Erfahrungen können Menschen aneinander binden und zu einer Gemeinschaft formen. Bei Stefan Zweigs bereits erwähntem Pferderennen im Prater gibt es beispielsweise ein stimmungsgeladenes Miteifern, das die Zuschauer zu einer Gruppe verschmelzen und Unterschiede zwischen ihnen in den Hintergrund treten lässt. Und auch bei Salten sind gemeinsames Handeln und gesteigerte Emotionalität die vordringliche Ursache für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits trennender Nationalismen und ethnischer Abschottung. In einer Schilderung über das Tanzen im Prater schreibt er: „Für alle die Einfachen und Niedrigen, die aus den bunten Provinzen des Reiches in Wien zusammen strömen, für alle die Jugend, die aus Dörfern und kleinen Städten in die Großstadt zieht, …, ist hier ein Trost. … Sie (die Musik) spielt einen Ländler, … Und jetzt ist hier Steiermark, Salzburg, Tirol, … Die Musik spielt eine Kreuzpolka, … Jetzt ist hier Böhmen, ist hier das sonnige Hügelland von Mähren … Einen Czárdás stimmt das Orchester an, und jetzt ist hier Ungarn. … Hier lehnt sich keiner gegen das Lied des anderen auf, …“64 Unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Traditionen bewegen sich die Tanzenden im Takt der Musik und gehen in einer Gruppe von ausgelassen Feiernden auf. Im Folgenden werden zwei jüdische Volkssängerstücke analysiert, in denen die unterschiedlichen Zeitregimente, sowohl die als fragmentiert wie auch die als verharrend empfundene Gegenwart, eine große Rolle spielen. Das erste Stück, „Der kleine Kohn“, zeigt, dass momenthafte Zeiterfahrungen den Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen verunmöglichen und zu Antisemitismus führen können. Im zweiten Stück, „Die Reise nach Großwardein“ von Josef Armin, spielt die ausgedehnte Gegenwart eine große Rolle, und in der Folge kommt es auch zum Aufbau von Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden.

4.3

Die flüchtige Gegenwart

Wie sehr eine Gegenwart, die aus punktuellen, ephemeren Eindrücken besteht, zwischenmenschliche Interaktionen unterbindet und zur persönlichen Isolation führt, hat Georg Simmel eindrucksvoll analysiert. Der deutsche Maler Lesser Ury (1861–1931), gleich wie Simmel jüdisch, war ebenso ein scharfer Beobachter dieses Zusammenhangs. In seinem Gemälde Café von 1889 sieht man einen Gast, der eine Zigarre raucht, und einige Tische weiter einen Mann, der in seine Zeitungslektüre vertieft ist. Nichts verbindet die beiden, obwohl sie nicht weit voneinander entfernt sitzen. Außerhalb des Kaffeehauses tummeln sich Fuß64 Felix Salten, Wurstelprater. Mit Bildern von Dr. Emil Mayer (Wien: Verlag Fritz Molden 1973; Photomechanische Wiedergabe von 1911) 71–76.

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gänger und nimmt das großstädtische Leben seinen Lauf. Trotz des bunten gesellschaftlichen Treibens auf der nahen Straße und der Anwesenheit anderer Menschen im Café bleibt jeder Gast für sich allein, gleichsam in einem undurchdringlichen Kokon gefangen.65 Lesser Ury war im Übrigen der erste Maler in Deutschland, der die Erfahrungen von Großstadtbewohnern festhielt, während seine Kollegen oftmals noch der Vergangenheit verhaftet blieben und sich Darstellungen von Alt-Berlin widmeten.66 Uri tat schon früh den Schritt von der Vergangenheit in die Gegenwart, die für ihn mit Entfremdungserfahrungen einhergeht.

4.3.1 „Der kleine Kohn“ Die schriftliche Version von „Der kleine Kohn“, ein Stück von Caprice, wurde Ende 1902 von der Zensurbehörde genehmigt und im darauffolgenden Jahr von der Budapester Orpheumgesellschaft präsentiert.67 Die Aufführungen gehörten zu den großen Publikumserfolgen der Truppe, auch wenn sie bei Weitem nicht an die Popularität der „Klabriaspartie“ heranreichten. „Der kleine Kohn“ spiegelt die Folgen einer transitorischen, als flüchtig erlebten Gegenwart wider und offenbart die Schwierigkeit, vor dessen Hintergrund Beziehungen zwischen Menschen aufzubauen, vor allem auch eine Vertrauensbasis zwischen Juden und Nichtjuden zu schaffen. Gleichzeitig setzt sich das Stück mit antisemitischen Imaginationen auseinander und gibt einen erhellenden Einblick in eine der Taktiken, die ein Teil der Wiener Judenschaft im Umgang mit judenfeindlichen Vorstellungen verfolgte. „Der kleine Kohn“ wendet sich gegen zwei konkrete antisemitische Stereotypen. Zum Ersten bildet das Stück eine Reaktion auf die Figur des Kleinen Kohn, die als Motiv von Postkartenserien sowie als Thema von Liedern und Gedichten um die Jahrhundertwende sehr populär war.68 Der Kleine Kohn war seinem Aussehen nach ein emblematisches Produkt zeitgenössischer judenfeindlicher 65 Susan Tumarkin Goodman, Reshaping Jewish Identity in Art. In: The Emergence of Jewish Artists in Nineteenth-Century Europe, ed. Susan Tumarkin Goodman (New York 2001) 26– 27. 66 Emily D. Bilski, Images of Identity and Urban Life: Jewish Artists in Turn-of-the-Century Berlin. In: Berlin Metropolis. Jews and the New Culture 1890–1918 (Berkeley: University of California Press 2000) 118. 67 Caprice, ‘Der kleine Kohn’, in Landesarchiv Niederösterreich (Theaterzensur), Kt. 117/31 (1902), p. 87. Caprice war ein Pseudonym für Antal Oroszy. See Nikola Roßbach (Hg.), Wien parodiert. Theatertexte um 1900 (Wien: Praesens Verlag 2007) 131. 68 Fritz Backhaus, „‚Hab’n Sie nicht den kleinen Cohn geseh’n?‘ Ein Schlager der Jahrhundertwende“. In: Helmut Gold, Georg Heuberger (Hg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten (Frankfurt/M. 1999) 238.

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Imaginationen. Er wies die wesentlichen körperlichen Merkmale auf, die Juden zugeschrieben wurden. Dazu gehörten die Hakennase, schwulstige Lippen, große Ohren, krumme Beine und eine geringe Körpergröße.69 Diese Eigenheiten sind an seinen Darstellungen im Kikeriki, einer antisemitischen Wiener Karikaturenzeitschrift, deutlich ablesbar.70 Neben seinen physischen Charakteristika zeichnete sich der Kleine Kohn durch zwei weitere Merkmale aus. Das erste stellte seine Flatterhaftigkeit dar. Er war schwer zu fassen, tauchte immer nur kurz auf und verschwand dann wieder. Der Kleine Kohn verkörperte in gewissem Sinne die Zeiterfahrung im späten 19. Jahrhundert, gleichzeitig auch die zeitgenössische Mobilität. Hunderttausende Menschen wurden Jahr für Jahr aus ihrem Lebensalltag gerissen und zogen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen umher. Sie migrierten aus den bäuerlichen Provinzen in die Städte und von einem Land in ein anderes. Während für die einen die Entwurzelung zu ihrem Erfahrungshorizont gehörte, sahen andere in der dadurch verursachten Unruhe eine Gefahr für die bestehende Ordnung. Der Kleine Kohn verkörperte diese Unstetheit, die nicht gebändigt werden konnte. Aber noch mehr als das allgemeine Phänomen des Umherwanderns stellte er den Inbegriff des vazierenden Juden dar. Juden galten als noch viel wanderfreudiger als die übrigen Menschen. Diese Ansicht tat sich nicht nur in kruden antisemitischen Schriften kund, zu denen vor allem der Text Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft von Adolf Wahrmund gehört.71 Die Vorstellung vom Juden, der immerfort in Bewegung ist und keine Wurzeln schlagen kann, hatte eine jahrhundertealte Tradition. Sie fand im Topos des Ewigen Juden ihren Niederschlag.72 Im späten 19. Jahrhundert wurde das Wanderphänomen bei Juden auch wissenschaftlich untersucht und medizinisch begründet. Dabei wurde es mit Nervenkrankheiten, für die Juden als besonders anfällig galten, in Verbindung gebracht.73 Das permanente Auftauchen und Verschwinden des Kleinen Kohn war dadurch nichts Ungewöhnliches. Im zeitgenössischen Vorurteilsdenken charakterisierte es bis zu einem bestimmten Grad die Juden im Allgemeinen. Das zweite zentrale Kennzeichen des Kleinen Kohn war seine außerordentliche sexuelle Neigung, die er außerhalb seiner Ehe ausleben wollte. Auch diese 69 See ‘Kohn-Lexikon des Kikeriki’. In: Kikeriki (21 September 1902) 5 & 7. 70 Sarah Holzinger, Die Darstellung von Juden und Jüdinnen im humoristischen Volksblatt Kikeriki (= geisteswiss. Dipl., Graz 2015) 94–96. 71 Adolf Wahrmund, Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft (Karlsruhe 1887). 72 Galit Hasan-Rokem, Alan Dundes (Hg.), The Wandering Jew. Essays in the Interpretation of a Christian legend (Bloomington: Indiana University Press 1986). 73 Siehe Klaus Hödl, Der „Juif Errant“ in der französischen medizinischen Literatur. In: Aschkenas 9 (1999) 109–131. Henry Meige, Étude sur certains névropathes voyageurs. Le JuifErrant à la Salêtrière (Med. Diss., Paris 1893).

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Eigenheit war ein Bestandteil des zeitgenössischen judenfeindlichen Repertoires. Juden galten als sexuell hyperaktiv.74 Allerdings war der Kleine Kohn bei seinen libidinösen Affären wenig erfolgreich. Seine Beziehungen waren immer nur von kurzer Dauer, wurden durch eine Reihe von Zwischenfällen gestört und fanden nie die ersehnte Befriedigung. Es blieb bei unschuldigen Stelldicheins. Beide Merkmale des Kleinen Kohn flossen in einen zeitgenössisch sehr populären Straßenschlager ein. Er stammt von Julius Einödshofer (1863–1930) und beschreibt den Kleinen Kohn in Gesellschaft einer jungen Frau. Sie spazieren auf der Straße, als der Kleine Kohn plötzlich seiner Ehegattin gewahr wird. Da er von ihr nicht mit seiner Begleitung gesehen werden möchte, verschwindet er plötzlich, ohne seine Partnerin zuvor über seine Flucht zu informieren. Verwundert und zunehmend in Sorge sucht sie ihn und fragt dabei alle entgegenkommenden Personen, ob sie den Kleinen Kohn gesehen hätten. Voller Mitleid mit ihr schließt sich eine stetig wachsende Menge von Menschen der Suche an und fragt ebenso: „Haben Sie nicht den kleinen Kohn gesehn?“75 Diese Worte waren eine geläufige Phrase im Wien des späten 19. Jahrhunderts und trugen zur Präsenz des Kleinen Kohn im alltäglichen judenfeindlichen Diskurs seiner Zeit bei. Das zweite Vorurteil, gegen das sich die Aufführung von Der kleine Kohn richtet, entstammt Zeitungsberichten zur Jellinek-Affäre. Edmund Jellinek war ein Bankangestellter, der Geld unterschlagen hatte und seiner Verhaftung durch Flucht entgangen war (siehe erstes Kapitel). Ein Großteil der Tagespresse brachte Jellineks kriminelle Handlungen mit dessen Jüdisch-Sein in Zusammenhang. Der kleine Kohn wollte die Widersprüche des antijüdischen Denkens, das darin zum Ausdruck kam, entblößen und damit seiner Wirkung berauben.

4.3.2 Zum Inhalt von Der kleine Kohn Caprices Stück ist um einiges komplexer als Hirschs „Der Apostel vom Schottenfeld“. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Der kleine Kohn nach einem judenfeindlichen Stereotyp benannt wurde. Um zu verhindern, dass die geläufigen Assoziationen mit dem Kleinen Kohn durch die Aufführung des Stücks noch stärker im Alltagsdiskurs verankert werden, musste Caprice die Schwächen des antisemitischen Denkens entlarven und den Kleinen Kohn in einer gefälligen Weise darstellen. Dies bedurfte eines subtilen Ansatzes. Die erste Szene beginnt mit dem Auftritt von Leopold Kohn, dem Kassier des Bankhauses Marcus Spitzer. Er befindet sich im Haus seines Arbeitgebers und 74 Siehe Sander L. Gilman, Difference and Pathology. Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness (Ithaca: Cornell University Press 1985) 168. 75 Julius Einödshofer, ‘Der kleine Kohn’, in Archiv des Wiener Volksliedwerkes, C 82,69/35.

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lehrt einen Papagei, „der kleine Kohn“ zu sagen. Kohn fühlt sich in den privaten Räumlichkeiten der Familie Spitzer sichtlich wohl und scheint in diese bestens integriert zu sein. Dies verwundert nicht weiter: Immerhin unterhält er mit Spitzers Töchtern Bertha, Ida und Ella amouröse Beziehungen und plant, mit Spitzers Frau Malvine zu entlaufen. Jedes einzelne Liebesverhältnis bleibt vor den anderen Familienmitgliedern jedoch geheim. Kohn sagt sowohl Bertha, Ida wie auch Ella zu, mit ihrem Vater über eine Heirat zu sprechen. Er löst sein Versprechen verständlicherweise nicht ein. Es scheint, als sei Kohn in seinen Liaisons unaufrichtig und lebte sein ausgeprägtes sexuelles Begehren durch Täuschung seiner leichtgläubigen Partnerinnen aus. Marcus Spitzer stellt einen Patriarchen mit leicht erregbarem Wesen dar. Er ist auf seine Arbeit fixiert und vernachlässigt dadurch seine Familie. Er weiß nichts über Kohns Liebschaften mit seinen Töchtern. Eine erste Ahnung von Kohns sexuellen Ausschweifungen erhält er, als ihm sein Buchhalter, Moritz Beer, erzählt, dass sich Kohn mit Spitzers Haushälterin Marie in einem Hotel getroffen habe, wahrscheinlich zu einem intimen Stelldichein. Spitzer, der ebenfalls ein Verhältnis mit ihr zu unterhalten scheint, gerät darüber in Rage und will Kohn auf der Stelle tadeln. Zu diesem Zweck sucht er ihn im ganzen Haus, kann ihn aber nirgendwo finden. Auch die anderen Familienmitglieder interessieren sich für seinen Verbleib und fragen unentwegt nach ihm. Zudem krächzt der Papagei stetig „der kleine Kohn“. Das alles erzürnt Spitzer so sehr, dass er brüllt: „Was immer in dem Haus geschieht, hat der kleine Kohn seine Hand im Spiel.“76 Leopold Kohn ist zwar physisch abwesend, zeichnet sich aber trotzdem durch eine schlagende Präsenz aus. Jeder im Haus spricht über und sucht ihn, alles dreht sich um ihn. Der Jude Kohn ist der Angelpunkt der Geschehnisse. Ohne besondere Handlungen gesetzt zu haben, wird er zu einer allmächtigen Figur stilisiert. Letztlich taucht Kohn auf, gänzlich verwundert über das viele Aufhebens über seine Person. Spitzer stürzt sich auf ihn, um ihn wegen seines Verhaltens mit Marie zu maßregeln. Zu Spitzers Überraschung leugnet Kohn nicht, sich mit ihr getroffen zu haben. Er stellt jedoch in Abrede, dabei irgendetwas Unredliches getan zu haben. Stattdessen echauffiert er sich über Spitzer, weil sich dieser in sein Privatleben einmischt. Damit bleibt die Frage unbeantwortet, ob Kohn tatsächlich ein Liebesverhältnis mit Marie unterhält. Obwohl vieles darauf hindeutet, fehlt es letztlich an Beweisen. Nichtsdestoweniger ist Spitzer weiterhin überzeugt, dass Kohn mit Marie intime Beziehungen pflegt. Deswegen fordert er ihn auf, sein Verhalten zu ändern und seine Affäre mit Marie zu beenden, denn „so kann es nicht weitergehen“.77 Kohn will sich aber keine Verhaltensanweisungen geben lassen. Als er der ste76 Caprice, Kohn 21. 77 Caprice, Kohn 33.

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tigen Nörgelei Spitzers überdrüssig wird und ihn fragt, was dieser von ihm eigentlich wolle, antwortet der Bankier: „Entkohnen will ich mich, ja in sechs Wochen will ich kohnlos sein.“78 Kohn antwortet ihm, dass er gehen könne, wenn Spitzer seine Anwesenheit nicht gutheiße. Spitzer’s Wunsch, sich zu entkohnen, ist leichter gesagt als getan. Nach dem Wortgeplänkel zwischen Kohn und Spitzer gesteht Ida ihrem Vater nämlich, von Kohn schwanger zu sein. Diese Offenbarung bringt Spitzer so sehr in Rage, dass er Kohn anschreit: „Sie erlauben sich, auf ungesetzlichem Wege mein Haus zu bevölkern? Sie legen den Grundstein zu meiner zukünftigen Generation?“79 Zu Spitzers Entsetzen kann er sich nicht mehr „entkohnen“. Kohn gehört nunmehr zur Familie. Das Beziehungsgeflecht zwischen dem Juden Kohn und dem Nichtjuden Spitzer scheint unauflösbar zu sein. In der darauffolgenden Szene wird Spitzer von Moritz Beer informiert, dass die Kasse seiner Bank von Einbrechern geleert worden sei. Spitzer verdächtigt sofort Kohn der Tat und wendet sich an die Polizei. Er ist allerdings zu nervös, um selbst am Telefon zu sprechen. Deswegen übernimmt Beer die Aufgabe. Er versucht, der Polizei ein Personenprofil von Kohn zu geben, und beginnt mit dem Familiennamen. Der Polizist am anderen Ende der Leitung sagt ihm, dass in der Stadt 3.700 Kohns lebten und Beer genauere Angaben machen müsse. Daraufhin nennt er Kohns Vornamen. Das hilft aber auch nicht weiter, da es insgesamt 2.826 Leopold Kohns gibt. Selbst der Hinweis auf den geringen Wuchs des Flüchtigen ist wenig ergiebig, denn fast 1.200 Leopold Kohns sind von kleiner Gestalt. Und Beers Erwähnung, dass Kohn eine Hakennase habe, ist gänzlich überflüssig. Denn nach den Worten des Polizisten besitzen alle Kohns diese Nasenform.80 Es dauert nicht lange, bis ein Polizist die Familie Spitzer aufsucht. Statt sie aber über die Ergreifung des flüchtigen Kohn zu informieren, unterrichtet er sie über den mutmaßlichen Selbstmord von Leopold Kohn. Der Polizist teilt ihnen mit, dass Kohn beobachtet worden sei, als er sich von einer Brücke in die Donau stürzte. Zwar lasse die Beschreibung des Selbstmörders durch Zeugen keinen Zweifel daran, dass es sich um ihn gehandelt habe. Um den Fall aber ganz abschließen zu können, müsse der Tote noch mit Hilfe der Familie Spitzer identifiziert werden. Als der Polizist erwähnt, dass der Täter krumme Beine, gekräuseltes Haar und eine Hakennase gehabt habe und sehr klein gewesen sei, sind sich die Töchter von Spitzer einig, dass Kohn der Selbstmörder ist. Marcus Spitzer hat allerdings Zweifel an Kohns Suizid, da dieser sich nie für ein Bad begeistert habe und deswegen auch nicht freiwillig in die Donau spränge.81 Erst als der Polizist 78 79 80 81

Caprice, Kohn 36–37. Caprice, Kohn 49. Caprice, Kohn 71. Caprice, Kohn 89.

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ihnen einige Kleidungsstücke vom Ertrunkenen zeigt, ist selbst Herr Spitzer von Kohns Selbstmord überzeugt. Im letzten Teil des Stückes tritt Josef, der Portier des Bankhauses, auf. Er erzählt Herrn Spitzer, dass er die Koffer seiner Frau zum Bahnhof getragen habe. Spitzer ist von Malvines Abreise sehr überrascht. Als Josef ihm auch noch mitteilt, dass er sie mit Kohn in einem eigenen Abteil sitzen habe sehen, ist Herr Spitzer vollkommen perplex. Das heißt nämlich nicht nur, dass Kohn noch lebt, sondern auch, dass er ihm seine Frau abspenstig gemacht hat. Josef überreicht Spitzer einen Brief von Kohn, in dem dieser zugibt, die Kasse der Bank geleert zu haben, weil er Reisegeld benötig habe. Im allgemeinen Chaos taucht Malvine wieder auf. Sie sagt ihrem Mann, dass sie nicht wirklich vorgehabt habe, mit Kohn wegzufahren. Sie habe Spitzer nur erschrecken wollen, weil er sich in letzter Zeit ihr gegenüber sehr gemein benommen habe. In diesem Sinne ist die Familie Spitzer wieder vereint, und Kohn, der Missetäter, befindet sich auf der Flucht nach Amerika. Die gesamte Handlung von „Der kleine Kohn“ ist von Vermutungen durchzogen. Es fehlt den Protagonisten an Zeit, um sie zu hinterfragen oder zu belegen, was wiederum Misstrauen unter ihnen fördert. Ihre Begegnungen erweisen sich als zu kurz und flüchtig, um dabei aufeinander eingehen und einander wirklich kennenlernen zu können. Deswegen bestimmen Eindrücke und Verdächtigungen statt Tatsachen ihre Lebenswelt. In diesem Kontext erscheint Kohn als ein Dieb und Herzensbrecher. Wie am Ende der Aufführung allerdings klar wird, drängt ihn seine Umwelt in diese Rolle, er nimmt sie nicht freiwillig ein. Spitzer wiederum, der sich als Opfer von Kohn versteht und darüber viel Aufhebens macht, ist der eigentliche Unhold. Beinahe bankrott, hat er seine Versicherung betrogen, um den Schein seiner Wohlhabenheit aufrechterhalten zu können. Aber das alles bleibt seiner Familie und anderen Personen verborgen. Zu geschäftig ist deren Tagesablauf, als dass sie seinen Umtrieben auf die Spur kämen. Die Impressionen des Augenblicks, so das Fazit, prägen den Alltag und untergraben zwischenmenschliches Vertrauen.

4.5

Die verharrende Gegenwart

Stephen Kerns Feststellung, dass die Vertreter einer ausgedehnten Gegenwart jüdisch seien, soll an dieser Stelle nicht als rigoroser Gegensatz zwischen dem Zeitregiment von Juden und Nichtjuden, sondern als Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu der Thematik aufgefasst werden. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, gab es keine ausschließenden Bewusstseinsmerkmale bei Juden, die deren fixe Kontrastierung mit Nichtjuden erlaubten. Ein bestimmtes

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Orts- und Zeitverständnis mag bei Juden tendenziell ausgeprägter als bei Nichtjuden vorhanden gewesen und vor allem auf den Wunsch nach einer jüdisch-nichtjüdischen Gemeinschaftsbildung zurückzuführen sein. Aber dass Nichtjuden ebenso eine langandauernde Gegenwart kulturell zum Ausdruck brachten, muss nicht eigens erwähnt werden und kann beispielhaft an den Werken von Gustav Klimt (1862–1918) gezeigt werden. Seine Gemälde zeichnen sich durch eine Statik aus.82 Sie sind Traumbilder und gemahnen den Betrachter an arkadische Gefilde. Die Bilder vermitteln einen Zustand der Passivität, der in einem unvergänglich scheinenden Zeitrahmen eingebettet ist. Ein solcher wird auch in Leopold Andrian-Werburgs „Der Garten der Erkenntnis“ (1895), im Roman „Der Tod Georgs“ des Schriftstellers Richard Beer Hofmann oder in „Der Tor und der Tod“ von Hugo von Hofmannsthal (1893) beschrieben.83 Dass BeerHofmann als jüdischer Autor bezeichnet werden kann, ist unbestritten. Ob das auch für Andrian-Werburg und Hofmannsthal behauptet werden darf, ist eher fraglich.84 Nichtsdestoweniger vermitteln sie in ihren Texten eine verharrende Gegenwart.

Die Reise nach Grosswardein Eine solche langandauernde Gegenwart findet sich auch im Stück „Die Reise nach Grosswardein“. Es wurde wie „Der kleine Kohn“ von der Budapester Orpheumgesellschaft aufgeführt.85 Die Handlung besteht im Wesentlichen im Versuch einiger – offenbar Wiener – Juden, nach Grosswardein, einer Stadt im

82 André Dombrowski, Augenblicke, Momente, Minuten. Der Impressionismus und die Industrialisierung der Zeit. In: Monet und die Geburt des Impressionismus (München: Prestel 2015) 45. 83 William M. Johnston, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938 (Berkeley3: University of California Press 1983) 145–147. Baron, Vienna 79. In Hofmannsthals kurzem Drama erscheint dem Hauptprotagonisten namens Claudio die Figur des Todes. Er ist über deren unerwartetes Auftauchen erschrocken und bestürzt. Im Gespräch mit dem Tod versucht er ihn zu überzeugen, dass sein Ableben zu früh komme. Allerdings verfangen seine Argumente nicht. Es gibt keine Zukunft mehr für ihn. Diese Perspektivenlosigkeit verankert den Handlungsablauf fest in der Gegenwart, die sich hinzieht und nicht zu vergehen scheint. (Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod [North Charleston: CreateSpace Independent Publishing Platform 2013]). 84 Leopold Andrian-Werburgs Mutter war eine Tochter von Giacomo Meyerbeer, und Hugo von Hofmannsthal Vater war jüdisch. Zu Hofmannsthals Bezug zum Judentum siehe Jens Rieckmann, (Anti-)Semitism and Homoeroticism: Hofmannsthal’s Reading of Bahr’s Novel Die Rotte Kohras. In: The German Quarterly 66:2 (1993) 212–221. 85 Josef Armin, Die Reise nach Grosswardein. In: Niederösterreichisches Landesarchiv (Theaterakten), Karton 113/16 (1894).

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heutigen Rumänien, zu fahren. Die Posse von Josef Armin ist in fünf Szenen unterteilt, und als Handlungsort wurde ein Bahnhof gewählt. Zu Beginn der Aufführung tritt Lipperl auf. Er ist auf der Flucht vor seiner Frau. Er fühlt sich von ihr unterdrückt und echauffiert sich in einem Selbstgespräch lauthals, dass sie ihm das Reden verbiete. Lipperl kommt ohne ein konkretes Reiseziel zum Bahnhof und will nur schnellstmöglich fort von ihr, egal wohin. Er ist entschlossen, in den frühestmöglichen Zug zu steigen. Wie er vom Bahnhofspersonal in Erfahrung bringt, fährt dieser nach Grosswardein. Die Zeit bis dorthin versucht er durch Zeitungslektüre zu überbrücken. In dessen Verlauf liest er, dass ein Engländer, der sich auf Europareise befindet, das in ÖsterreichUngarn beliebte Lied „Nach Grosswardein“ gehört habe. Daraufhin habe er beschlossen, dorthin zu reisen. Allerdings suche er noch eine Reisebegleitung. Interessenten mögen sich um 9 Uhr am Bahnhof einfinden. Lipperl beschließt umgehend, sich dem Engländer als Kompagnon zur Verfügung zu stellen. Bald darauf erscheint Maxi. Auch er ist auf der Flucht vor seiner Frau. Nach seinen Ausführungen ist er seit fünf Jahren mit ihr verheiratet. Dass die Ehe kinderlos geblieben ist, ärgert seine Frau, und sie gibt ihm dafür die Schuld. Sie ist ständig gereizt und streitet unentwegt mit ihm. Sie schreckt nicht einmal davor zurück, ihm physischen Schaden zuzufügen. In der Früh erst hat sie mit Geschirr nach ihm geworfen und ihn am Kopf getroffen. Maxi hat ebenfalls die Zeitungsnotiz über den Engländer gelesen und will mit ihm nach Grosswardein reisen. Als Lipperl ihn sieht, glaubt er, dass Maxi der gesuchte Engländer sei, und er spricht ihn auf Englisch an. Allerdings versteht Maxi nur Deutsch. Als Lipperl ihn fragt, wie es ihm gehe („how do you do“?), versteht dieser „Hau du Jud, du“. Nach einer Weile klärt sich die Verwechslung auf, und bei beiden macht sich Enttäuschung breit. In der dritten Szene gibt es mit Mayer Jamfrosch und seinem Sohn Lebele zwei neue Charaktere. Sie stammen beide aus Grosswardein und waren in Wien zu Besuch. Lebele fürchtet sich vor dem Zugfahren und sucht nach Ausreden, um die Reise zu vermeiden. Bald darauf kommen Teppenhuber und Rosl, die einzigen Nichtjuden unter den Protagonisten, zum Bahnhof. Im Gegensatz zu den anderen, die in ihre Gesprächen immer wieder jiddische Worte wie „meschugge“, „Ganef“, „trefe“ oder „Zores“ einfließen lassen, besteht das Vokabular von Teppenhuber und Rosl aus rein deutschen Worten in sehr beschränktem Umfang. Im Laufe der Konversation zwischen den Akteuren bezeichnen sie sich selbst als „ehrliche Bauersleute“, während die anderen ihr Jude-Sein hervorheben. Lebele verliebt sich in Rosl, die von ihm allerdings wenig angetan ist. Schließlich mischen sich auch noch Rosalia und Jentel, die Frauen von Lipperl und Maxi, unter die Wartenden am Bahnsteig. Sie sind ebenso auf der Suche nach dem Engländer, dessen Zeitungsannonce sie kennen. Anders als ihre Ehemänner wollen sie sich ihm aber nicht anschließen, weil sie vor Hader und Auseinan-

Zusammenfassung

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dersetzungen flüchten, sondern weil ihre Männer abgängig sind und sie nunmehr keinen Grund mehr haben, zu Hause zu bleiben. Es dauert eine Weile, bis die Frauen Lipperl und Maxi am Bahnsteig erkennen. In der fünften Szene kommen einige Studenten zum Bahnhof. Darunter ist auch Fritz, der die Annonce in der Zeitung aufgegeben hat. Es stellt sich heraus, dass er fälschlicherweise für einen Engländer gehalten wurde, weil er seinen Namen, Fritz Engländer, angegeben hatte. Er ist auch Mitglied einer Burschenschaft. Kurz darauf fährt der Zug nach Grosswardein ein. Die Protagonisten sind aber so sehr in Gespräche miteinander vertieft, dass ihnen dessen Ankunft entgeht. Sie versäumen es einzusteigen, und der Zug fährt ohne sie ab. In Die Reise nach Grosswardein bildet der Bahnhof einen sogenannten liminalen Raum.86 Er liegt zwischen der Vergangenheit, die von Unterdrückung geprägt war, und der Zukunft, für die Grosswardein steht. Das Geschehen am Bahnhof findet in der Gegenwart statt. Allerdings ist es nicht die flüchtige Gegenwart, die lediglich transitorisch fassbare, auf Momente zusammengeschmolzene Jetztzeit. Stattdessen ist es ein ausgedehnter Zeitraum, der durch das Warten auf den Zug bestimmt wird. Keine Handlung durchbricht die schwerfällige Langeweile, von der die Fahrgäste ergriffen sind, nichts passiert, das sie aus ihrer Stumpfheit reißen könnte. Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Und dieses Übermaß an Zeit lässt die Wartenden letztlich ein Gespräch miteinander beginnen, in das sie sich zunehmend vertiefen und das sie zu einer Gemeinschaft werden lässt. Die Bindung zueinander wird so fest, dass sie sogar ihre ursprüngliche Absicht, nach Grosswardein zu reisen, aufgeben. Sie ignorieren den ankommenden Zug und lassen ihn abfahren. Das Miteinander am Bahnhof ist ihnen wichtiger als das Erreichen eines Handlungsziels.

4.6

Zusammenfassung

Die Analyse von „Der Apostel vom Schottenfeld“, „Der kleine Kohn“ und „Die Reise nach Grosswardein“ lässt Ortskonzeptionen und ein Gegenwartsverständnis zutage treten, die auch von anderen jüdischen Kulturschaffenden artikuliert wurden. Den Sehnsuchtsort Alt-Wien nahmen Juden als Möglichkeit wahr, sich in die Geschichte Wiens einzuschreiben. Durch Hinweis auf ihre historische Präsenz in der Donaumetropole wollten sie ihren Status als Fremde, die von woanders gekommen sind und deswegen nicht wirklich zur Gesellschaft gehörten, ablegen. Die Einschreibung in die Vergangenheit wurde mit der 86 Graeme Gilloch, Myth and Metropolis. Walter Benjamin and the City (Cambridge/UK: Polity Press 1996) 131.

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Jüdische Fluchtorte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Skizzierung eines weitgehend harmonischen Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden verbunden. Damit wurde eine Gegenerzählung zur Geschichte antijüdischer Feindseligkeit vorgestellt. Mit dem Schwenk von der Vergangenheit zur Gegenwart wurde sodann der retrospektiv konstruierte durch einen als liminal zu bezeichnenden Ort verdrängt. Er liegt zwar in Wien, aber das Geschehen an diesem Ort unterscheidet sich vom städtischen Alltagsleben, indem nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten zwischen Menschen in den Vordergrund treten. Wie Stephen Kern mit Blick auf europäische jüdische Intellektuelle angemerkt hat, so scheinen auch Juden in Wien einen Hang zu einer ‚ausgedehnten Gegenwart‘ künstlerisch und literarisch artikuliert zu haben.87 Die Unterscheidbarkeit zwischen einem jüdischen und nichtjüdischen Zeitund Raumverständnis ist aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus erklärbar. Die jüdischen Konzeptionen in Wien um 1900 sind vom temporalen Regiment und den Ortserfahrungen von Juden in anderen Perioden und in anderen sozialen Zusammenhängen verschieden.88 In Wien können sie als ein Differenzmerkmal aufgefasst werden, das Religion und andere gängige Kennzeichen einer jüdischen Unterscheidbarkeit ersetzte, ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen, als essentialistisch wahrgenommen zu werden.

87 Dabei geht es lediglich um eine tendenzmäßige Unterscheidung. In diesem Sinne könnte auf den jüdischen Schriftsteller und notorischen Bohemien Peter Altenberg (1859–1919) verwiesen werden, der wohl wie kaum ein anderer die Zerfahrenheit und den fragmentierten Charakter der Gegenwart verkörperte. Siehe Dagmar Lorenz, Wiener Moderne (Stuttgart: Verlag J. B. Metzler2 2007) 188. 88 Nils Roemer, Conceptions of Time and the German-Jewish Experience in the Nineteenth Century. In: Jewish History 14:3 (2000) 245–363.

5.

Von der Differenz zur Ähnlichkeit

„Der Apostel vom Schottenfeld“, „Der kleine Kohn“ und „Die Reise nach Grosswardein“ geben nicht nur Aufschluss über die kulturelle Verarbeitung des Zeitregiments und der Raumprojektionen Wiener Juden. Wie im abschließenden fünften Kapitel ausgeführt wird, deuten sie auch an, wie ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden ermöglicht werden könnte, und stellen ein Verständnis von Jüdisch-Sein vor, das damit im Einklang steht. Dabei stimmen sie im Wesentlichen mit den Aussagen der Volkssängerstücke überein, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits behandelt worden sind. In diesem Sinne lassen sich aus der Analyse der drei Werke Schlussfolgerungen über die jüdische Volkssängerszene im Allgemeinen ziehen. Neben diesem Aspekt werden im Folgenden einige Implikationen des Begriffs der inklusiven jüdischen Differenz erörtert. Konkret geht es um die Frage, ob Inklusivität und Differenz einander nicht ausschließen? Kann Jüdisch-Sein tatsächlich seine Unterscheidbarkeit beibehalten, wenn es mit Eigenschaften in Verbindung gebracht wird, die potentiell auch Nichtjuden auszeichnen?

5.1

Der Kampf gegen den Antisemitismus

Alle drei Volkssängerstücke nehmen in der einen oder anderen Weise auf den zeitgenössischen Wiener Antisemitismus Bezug. Während sich Albert Hirschs Bühnenwerk mit konkreten antijüdischen Zuschreibungen auseinandersetzt, beschäftigt sich „Der kleine Kohn“ mit verbreiteten Stereotypen. Beide zielen darauf ab, die Haltlosigkeit antisemitischer Ansichten zu entlarven. „Die Reise nach Grosswardein“ wiederum macht deutlich, dass eine Flucht davor, wie sie der Zionismus vorsieht, keinen Ausweg darstellt. Der Umgang der drei Stücke mit antijüdischen Vorurteilen beziehungsweise deren Auswirkungen wird im Folgenden an einigen ausgesuchten Aspekten konkret dargestellt.

176

Von der Differenz zur Ähnlichkeit

5.1.1 Die Sprache als Indiz des Jüdisch-Seins In „Der Apostel vom Schottenfeld“ entsprechen Herr und Frau Goldmann in weitem Maße dem Bild, das viele Nichtjuden in Wien von den ansässigen Juden zeichneten, beziehungsweise der Ansicht, die innerhalb des Judentums über die sogenannten assimilierten Juden vorherrschte. Das zeigt sich exemplarisch an der persiflierenden Beschreibung von Herrn und Frau Goldmanns Bemühungen, sich an ihre nichtjüdische soziale Umgebung anzupassen. Dabei ignorieren sie religiöse Merkmale des Jüdisch-Seins, und auch ihrer Tochter scheinen sie unwichtig zu sein. Besonders deutlich wird diese Haltung an der Missachtung der religiösen Speisegesetze. Als Esther von Vater Lorenz nach Hause kommt, findet sie ihre Mutter in der Küche beim Zubereiten von Grammelknödeln vor.1 Esther nennt sie Griebenknödel, woraufhin ihre Mutter sie korrigiert, weil sie Grammeln für den angemesseneren Begriff hält. In der Kontroverse geht es demnach allein um die gesellschaftlich anerkannte Bezeichnung der Speise, und nicht um die Frage, ob Grammeln oder Griebeln mit einer jüdisch-religiösen Lebensweise zu vereinbaren sind. Familie Goldmann ist in ihrem neuen Lebensstil noch sehr unsicher und sucht nach Orientierungshilfen im Alltag. Die Sprache scheint sich dafür zu eignen. Sie enthält Codes, deren Gebrauch das Jüdisch-Sein zu verbergen hilft. Skurril, und damit das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorrufend, wird der Disput zwischen Esther und ihrer Mutter, als sich Herr Goldmann einmischt. Er meint, dass weder die Verwendung der Begriffe Griebeln noch Grammeln hinterfragt werden müsse, sondern dass die Bezeichnung Knödel falsch sei. Stattdessen solle man Knödlech sagen. Knödlech stellt auf Jiddisch den Plural von Knödel dar. Die Verwendung dieser Bezeichnung offenbart Herrn Goldmanns Vertrautheit mit der jiddischen Sprache und lässt Rückschlüsse auf sein Jüdisch-Sein zu. Zwar ist er bemüht, jedweden Hinweis darauf abzulegen. Aber gegen sprachliche Lapsus, die es an den Tag bringen, ist er offensichtlich nicht gefeit. Mit dieser Szene nimmt Albert Hirsch auf eine gesellschaftlich verbreitete Vorstellung von Juden Bezug. Danach wollen sie ihre sogenannte Herkunft zwar geheim halten, sind darin aber vor allem aufgrund ihres Sprachgebrauchs erfolglos.2 Sei es die Intonation, die sie als jüdisch brandmarkt, seien es syntaktische Eigenheiten oder Begrifflichkeiten, die das Jüdisch-Sein der Sprecher zum Ausdruck bringen: Juden können ihre ethnische Herkunft scheinbar nicht verheimlichen. Dieser Aspekt wird in „Der Apostel vom Schottenfeld“ auch an der Szene dargestellt, in der Vater Lorenz das Heim der Familie Goldmann betritt. Als Willkommensgeste wird ihm umgehend 1 Grammeln werden aus Schweinespeck gewonnen. 2 Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews (Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1986) 139–148.

Der Kampf gegen den Antisemitismus

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ein garnierter Schweinskopf als Mahlzeit angeboten.3 Kaum eine andere Handlung kann das Bestreben der Familie Goldmann, ihr Jüdisch-Sein zu kaschieren, besser zum Ausdruck bringen. Andererseits ist Frau Goldmann vom Besuch des Priesters so sehr überrascht, dass sie für einen kurzen Augenblick ihre Fassung verliert und „Schma Isroel“ ausruft. Allen Assimilationsbemühungen zum Trotz reicht eine impulsive Regung, um auf ihre Vertrautheit mit der jüdischen Kultur aufmerksam zu machen. Sprache gilt in diesem Kontext als ein verräterisches Medium. Das sogenannte jüdische Sprechen scheint trotz aller Bemühungen nicht ausmerzbar zu sein. Das ist auch eine der Aussagen einer verbreiteten Kurzgeschichte des deutschen Psychiaters und Schriftstellers Oskar Panizza (1853–1921), die 1893 unter dem Titel Der operirte Jud veröffentlicht wurde.4 Darin unterzieht sich der Hauptprotagonist, Itzig Faitel Stern, einer Operation und Bluttransfusion, um sein äußerlich erkennbares Jüdisch-Sein abzulegen. Und er konvertiert auch zum Protestantismus. In der Folge ist sein weiterer, vor allem beruflicher Lebensweg tatsächlich von Erfolg gekrönt. Letztlich gewinnt er sogar das Herz einer „blonden Germanin“. Während der Hochzeit wird Itzig Faitel Stern von seinem Jüdisch-Sein allerdings eingeholt. Es offenbart sich zuallererst sprachlich. In bereits sehr angeheitertem Zustand beginnt er „mit schnarrend vibrierender Stimme“ zu rufen: „Kéllnererera! … Kéllnererera! – Champágnerera! –Wie haißt? – Soll ich haben nichts ßu trinken? – Bin ich ä Mensch aß gut und wertvoll als ihr alle! …“5 Die Hochzeitsgäste sind von dieser Selbstentblößung zutiefst verstört und verlassen fluchtartig das Fest. Nur wenige wohnen der gesamten Rück-Verwandlung von Itzig Faitel Stern bei. Es bleibt nämlich nicht bei den sprachlichen Ausrutschern, sondern der Bräutigam gewinnt auch seine früheren – jüdischen – körperlichen Eigenheiten zurück. So beginnt sich sein blondes Haar zu kräuseln und schwarzblau zu verfärben, seine Gliedmaßen nehmen wieder die alte Form an, und letztlich verströmt er sogar den foetor judaicus, den sogenannten Gestank der Juden. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal von Itzig Faitel Stern, das zuallererst sein Jüdisch-Sein geoffenbart hat, ist seine eigentümliche Ausdrucksweise. Mit dem Hinweis auf die besondere Sprache der Juden und deren Funktion als ein vordringliches Merkmal von Jüdisch-Sein wiederholt Hirsch zwar ein bekanntes antijüdisches Stereotyp. Allerdings belässt er es nicht dabei. Wie in den meisten der bisher behandelten Possen Sprache ein inklusives Merkmal zur Bestimmung von Jüdisch-Sein bildet, das keine unveränderbare Differenz zwischen Juden und Nichtjuden begründet, so hinterfragt auch Hirsch die Rolle der 3 Hirsch, Apostel 53. 4 Siehe Sander Gilman, Franz Kafka, the Jewish Patient (New York: Routledge 1995) 213–214. 5 http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-operierte-jud-227/1 (acc. 26. 7. 2015).

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

Sprache als ein wesentliches jüdisches-nichtjüdisches Unterscheidungskriterium. Das zeigt sich in „Der Apostel vom Schottenfeld“ am Gespräch von Bruno mit Vater Lorenz. Als Bruno ihm erzählt, dass er mittellos sei, verwendet er den Begriff „stier“. Da dieser Vater Lorenz unbekannt ist, versucht es Bruno mit dem Ausdruck: „Weil ich den Dalles hab’.“6 Diese Redewendung ist dem Priester aber ebenso unverständlich. Deswegen fügt Bruno an, dass man am Schottenfeld „stier“ und in der Leopoldstadt „Dalles“ sage. Die Juden der Leopoldstadt haben demnach eine distinkte Ausdrucksweise, sie sind sprachlich zumindest teilweise von der restlichen Gesellschaft Wiens verschieden. Gleichzeitig gibt es aber auch Unterscheidungen unter Nichtjuden. Brunos Verwendung von „stier“ weist auf einen Soziolekt hin, der Vater Lorenz teilweise fremd ist. Selbst unterschiedliche nichtjüdische Gruppen in Wien scheinen somit einander nicht immer zu verstehen. Sprache zeigt in diesem Zusammenhang keine ethnische Zugehörigkeit an, sondern besitzt ein soziales Distinktionspotential. In Hirschs Posse erklärt ein Jude einem katholischen Priester die Bedeutung eines Begriffes, der in seinem Pfarrsprengel verwendet wird. Sofern der Sprachgebrauch eine Kluft zwischen Menschen markiert, ist diese im konkreten Fall zwischen dem katholischen Priester und seiner Pfarrgemeinde größer als zwischen Juden und Nichtjuden.

5.1.2 Die Physis der Juden Wie an Oskar Panizzas Protagonisten Itzig Faitel Stern dargelegt wurde, ist Juden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur ein spezifischer Sprachgebrauch, sondern auch eine eigentümliche körperliche Konstitution zugeschrieben worden, vor allem eine besondere Physiognomie. In „Der Apostel vom Schottenfeld“ wird dies im Abschnitt deutlich, in dem Esther und Bruno zu Vater Lorenz kommen. Sofort vermutet dieser, dass Bruno jüdisch sei. Als entscheidender Hinweis gilt ihm Brunos Nasenform. Die Vorstellung einer sogenannten jüdischen Nase findet sich nicht nur in Hirschs alt-Wiener Stück, sondern, wie im zweiten Kapitel bereits erwähnt worden ist, einer Vielzahl jüdischer populärkultureller Bühnenwerke. Sprache und Nase scheinen in den jüdischen Volkssängerpossen die zwei wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Juden gegenüber Nichtjuden zu sein. Und das kommt nicht von ungefähr. Die Ansicht, dass eine besondere Nasenform ein unumstößliches Merkmal des Jüdisch-Seins darstellt, gab es seit dem Ende des 13. Jahrhunderts.7 Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an wurde sie auch 6 Hirsch, Apostel 28. 7 Joel Carmichael, The Satanizing of the Jews. Origin and Development of Mystical Anti-Semitism (New York 1992) 71.

Der Kampf gegen den Antisemitismus

179

anthropologisch untersucht und erklärt. Das Vorkommen einer ‚jüdischen Nase‘ galt dadurch als wissenschaftlich erwiesen.8 Und schon bald wurde sie mit einer bestimmten Sprechweise der Juden in Zusammenhang gebracht.9 Juden schienen sich zuvorderst durch ihr Sprechen und ihre Nase auszuzeichnen, und beide waren anatomisch miteinander verbunden.10 Gleich wie im zeitgenössischen Vorurteilsdenken das eigentümliche Sprechen der Juden mit einer moralisch fragwürdigen Gesinnung in Zusammenhang gebracht wurde, so galt auch die Nase nicht lediglich als ein Indikator für jemandes Jüdisch-Sein, sondern auch für dessen mangelhafte ethische Einstellung11. Das kommt im Gespräch zwischen Esther, Bruno und Vater Lorenz zum Ausdruck. Auf Esthers Hinweis, dass Bruno „ein braver Bursch“ sei, meint der Priester: „Aber a verdächtige Fason hat er.“12 Brunos Gesicht mit der ‚jüdischen Nase‘ macht ihn somit suspekt und erlaubt Vater Lorenz, dessen Charakterisierung durch Esther in Zweifel zu ziehen. Ein Mensch mit Brunos Nase, so lautet der Gedankengang, ist üblicherweise gefährlich. Aber wie die Sprache, so wird auch die Nase in den jüdischen Volkssängerstücken, besonders in Hirschs „Der Apostel vom Schottenfeld“, ihrer essentialistischen Funktion entkleidet. Das geht aus Brunos Antwort auf Vater Lorenz‘ Feststellung über dessen „verdächtige Fason“ hervor. Bruno sagt: „Ich bitt um Entschuldigung gnädiger Herr, es ist wahr, ich bin a bisserl a Jud, aber die Esther hat mir da hinten mitgeteilt, daß sie ein gnädiger Herr und Woltäter (!) sind, der keinen Unterschied macht zwischen Menschen … und was meine Nasn anbelangt, so lass ich mir jetzt einen ‚Es ist erreicht‘ Schnurrbart wachsen, daß d’Nas a bisserl verschwindet.“13 Die Nase kann demnach verdeckt werden und verliert dadurch ihre Rolle als jüdisches Kennzeichen. Anders als die körperlichen Eigenheiten bei Oskar Panizzas Itzig Faitel Stern ist in Hirschs Stück die differenzkonstituierende Funktion der Nase nicht unauslöschlich in den Körper eingeschrieben. Ein einfacher Schnurrbart, den sowohl Juden als auch Nichtjuden tragen können, genügt, um das Jüdisch-Sein zu verbergen und vergessen zu lassen. Hirsch bricht den Zusammenhang zwischen der Nasenform und einer ethnischen Zugehörigkeit auf.

8 Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle (Wien 1997) 114. 9 Wachter, Bemerkung über den Kopf der Juden. In: Magazin der Gesellschaft naturforschender Freunde für die neuesten Entdeckungen in der gesamten Naturkunde (1812) 64–65. 10 Sander L. Gilman, The Jew’s Body (New York: Routledge 1991) 169–193. 11 Zum Zusammenhang zwischen dem sogenannten jüdischen Sprechen und mangelhaften Moralvorstellungen siehe Gilman, Self-Hatred 101–102. 12 Apostel 29. 13 Apostel 29f.

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

Mit der Sprache und Nase greift Albert Hirsch in „Der Apostel vom Schottenfeld“ zwei Merkmale des Jüdisch-Seins auf, die in einem Großteil der jüdischen Volkssängerstücke vorkommen. Und gleich wie es deren Verfasser machen, so entwertet auch Hirsch sie als Kennzeichen für jemandes Jüdisch-Sein. In diesem Sinne hat Hirsch viel mit seinen jüdischen Kollegen gemein. Die Häufigkeit, mit der die sogenannte jüdische Sprache und Nase in den Possen angeschnitten werden, macht auch deutlich, dass sie im Wien um die Jahrhundertwende als Vorurteile weit verbreitet waren.

5.1.3 Das Verschwimmen von Realität und Fiktion Die zentrale Frage, die vor dem Hintergrund der Ausführungen über das sogenannte jüdische Sprechen und die jüdische Nase gestellt werden muss, bezieht sich auf die Voraussetzungen für deren stigmatisierende Zuschreibungen an Juden, und somit für Antisemitismus. Eine wesentliche Bedingung, die „Der kleine Kohn“ in diesem Zusammenhang benennt, besteht in der Konstruktion von Realität auf der Grundlage von Vermutungen und Gerüchten. Urteile über Mitmenschen, im konkreten Fall über Juden, gründen nicht auf belegbaren Fakten, sondern auf Andeutungen und Leichtgläubigkeit, teilweise auch auf vorgefassten Meinungen. Dies kommt bereits in der ersten Szene zum Ausdruck, in der über den Grund von Kohns Rendezvous mit Marie im Hotel spekuliert wird. Zwar weist vieles auf ein intimes Treffen hin, aber es ist nicht beweisbar. Die Handlungen, deren Kohn bezichtigt wird, könnte er tatsächlich ausgeführt haben, aber er könnte ihrer auch nur verdächtigt werden. Was tatsächlich der Fall ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Die Grenze zwischen Wahrheit und bloßen Unterstellungen erweist sich als fließend. Das Verhältnis von Realität und Annahmen bleibt für das gesamte Stück relevant. Dies zeigt sich auch an Kohns Beziehungen zu den Frauen der Familie Spitzer. Obwohl es zu Beginn des Stückes eindeutig scheint, dass Kohn sexuell hyperaktiv ist, kommen im Laufe des Stücks Zweifel daran auf. Es wird zunehmend klar, dass er sich widerwillig in die Erwartungen fügt, die Spitzers Töchter in ihn setzen. Er selbst hat kein wirkliches Interesse an einer Liaison oder gar Heirat mit ihnen, sondern gibt lediglich deren Werben nach. Die Rolle des Schwerenöters wird ihm gleichsam aufgedrängt. Nichtsdestotrotz bleibt er für seine Umwelt der ungebändigte Frauenheld. Das, was ihn gegenüber seinen Mitmenschen auszeichnet, sind deren Projektionen. Wer Kohn tatsächlich ist, das heißt seine eigentlichen Wünsche und Bestrebungen, erschließt sich den anderen Personen im Stück nicht. Der Gegensatz zwischen Mutmaßung und belegbarer Wirklichkeit scheint mit dem Versuch, Kohn als Selbstmörder zu identifizieren, gänzlich zu verschwin-

Eine Antwort auf den zeitgenössischen Antisemitismus

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den. Obwohl die Kleidungsstücke, die der Polizist Herrn Spitzer und seinen Töchtern vorlegt, einen unbestreitbaren Beleg für Kohns Freitod darzustellen scheinen, erweist sich diese Annahme als falsch. Ähnlich verwirrend, wenn auch mit umgekehrtem Ausgang, verhielt es sich mit Jellineks tatsächlichem Suizid einige Monate vor der Aufführung von „Der kleine Kohn“. Obwohl alles auf seinen Selbstmord hinwies, ging die Polizei von Jellineks Täuschungsabsicht aus. Diese Vermutung obsiegte über vorliegende Fakten. Die Gerüchte, die den Fall Jellinek aufbauschten und zu einer veritablen Affäre werden ließen, prägen auch den Umgang mit Kohn. Sie konstruieren einen Bösewicht, den es gar nicht gibt. Das ist das Schema, nach dem antisemitische Imaginationen in der Regel vorgetragen werden.

5.2

Eine Antwort auf den zeitgenössischen Antisemitismus

Wien kann als die Wiege des politischen Zionismus bezeichnet werden. Zumindest in dessen frühen Jahren war die Stadt das Zentrum der Bewegung. Nicht nur Theodor Herzl lebte dort, auch das Organ der zionistischen Bewegung, „Die Welt“, wurde in der Habsburgermetropole herausgegeben, und das Zentralbüro der zionistischen Organisation, das die zionistischen Agenden auf internationaler Ebene leitete, befand sich bis 1905 ebenfalls in der Stadt.14 Schon eineinhalb Jahrzehnte vor der Publikation von „Der Judenstaat“ (1896) wurde in Wien der Akademischer Verein Kadimah gegründet, bei dem es sich um die erste jüdischnationale Studentenverbindung in West- und Zentraleuropa handelte. Auch in der Wiener Judenschaft fand der Zionismus relativ großen Rückhalt. Zwar gewannen die Zionisten erst nach dem Ersten Weltkrieg ein Mandat im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, dem offiziellen Repräsentationsorgan der Juden in Wien. Aber trotz des restriktiven Wahlsystems, das viele Juden wegen mangelnder Steuerleistung von der Stimmabgabe ausschloss, konnten zionistische Listen schon vor 1914 bei den alle zwei Jahre stattfindenden Urnengängen rund ein Drittel der abgegebenen Stimmen für sich gewinnen.15 Vor dem Wirken von Theodor Herzl sah die Situation allerdings anders aus. Bis zu den späten 1890er Jahren war die Anhängerschaft des Zionismus hauptsächlich auf das studentische Milieu beschränkt. Die übrigen Wiener Juden konnten der von Kadimah wie auch von Nathan Birnbaum (1864–1937) propagierten Idee, nach Palästina auszuwandern und somit das Leben in der Habsburgermetropole 14 Adolf Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918 (Wien: Böhlau Verlag 1988). 15 Harriet Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna, 1918–1938 (Bloomington: Indiana University Press 1991) 72.

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

gegen eine Existenz in verarmten und wirtschaftlich unterentwickelten Landstrichen aufzugeben, wenig abgewinnen.16 Diese Reserviertheit gegenüber dem Zionismus spiegelt sich in „Die Reise nach Grosswardein“ wider. Das Stück entstand vor dem Hintergrund dieser Indifferenz oder gar ablehnenden Haltung gegenüber zionistischen Bestrebungen.

Aspekte der anti-zionistischen Persiflage Grosswardein bildet in Josef Armins Posse gleich wie Palästina in der zionistischen Ideologie einen Fluchtort für Juden, die Anfeindungen ihrer Umgebung ausgesetzt sind und um ihre körperliche Unversehrtheit sowie psychische Gesundheit fürchten. Lipperl und Maxi sind zwei jüdische Charaktere, die sich nicht länger der Gewalt und dem psychischen Druck, mit denen sie in Wien konfrontiert sind, beugen und deswegen in eine neue Lebenswelt aufbrechen wollen. In diesem Sinne scheint ihre Bereitschaft, mit dem Zug nach Grosswardein zu fahren, dem Migrationsmotiv eines Großteils der Juden zu entsprechen, die Palästina aufsuchen. Allerdings sind es keine rabiaten Antisemiten, die Lipperl und Maxi das Leben erschweren. Vielmehr sind es deren streitsüchtige Ehefrauen. Die feindseligen Verhältnisse in der Diaspora, die der Zionismus beklagt, werden dadurch ihrer antijüdischen Besonderheit enthoben und ins Lächerliche gezogen. „Die Reise nach Grosswardein“ hinterfragt, ob der von den Zionisten angegebene Grund für den Aufbau eines eigenen Gemeinwesens in Palästina wirklich so schwerwiegend ist, wie diese behaupten. Armins Wahl von Grosswardein als Metapher für Palästina kommt nicht von ungefähr. Die in der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie gelegene Stadt galt aufgrund der ethnischen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung als ein weithin jüdisches Zentrum. Es hatte um die Jahrhundertwende rund 50.000 Einwohner, von denen an die 70 Prozent jüdisch waren.17 Grosswardein taugte somit als Sinnbild für eine jüdische Siedlung, wie sie Palästina in der zionistischen Ideologie darstellte beziehungsweise sein sollte. Bemerkenswert ist, dass in Armins Posse ein Lied über Grosswardein bei Fritz Engländer den Wunsch hervorruft, die Stadt zu besuchen. Tatsächlich gab es um die Jahrhundertwende einen äußerst populären Song mit dem Titel Nach Grosswardein. Die Musik stammte vom ungarisch-jüdischen Komponisten 16 Zu Kadimah und Palästina siehe Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph (Oxford: The Littman Library of Jewish Civilization 1990) 365. Zu Birnbaum siehe Wistrich, Jews 381–420. Nathan Birnbaum, Die Mission des Judenthumes, einst und jetzt. In: Selbst-Emancipation 7 (1890) 240. 17 Philip V. Bohlman, Jewish Music and Modernity (Oxford: Oxford University Press 2008) 56.

Eine Antwort auf den zeitgenössischen Antisemitismus

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Hermann Rosenzweig.18 Auf dem Cover des weitverbreiteten Liedblattes sind vier chassidische Juden abgebildet, die vor dem Hintergrund der Silhouette von Großwardein tanzen. Damit wird der Ort auch ikonografisch eng mit Juden in Verbindung gebracht und dessen Bedeutung als eine jüdische Stadt gestärkt. In diesem Zusammenhang gibt es auch einen Bezug zum Zionismus: Die Umrisse von Grosswardein geben dem Ort nämlich ein nahöstliches Gepräge. Mit den vage erkennbaren Moscheen mutet er orientalisch an.19 Grosswardein erscheint gemäß der Skizze weniger in die Landschaft Transsylvaniens eingebettet, wo es sich tatsächlich befand, sondern in den Gefilden des östlichen Mittelmeeres gelegen und damit an Palästina gemahnend. In diesem Sinne waren die ‚jüdische Stadt‘ Grosswardein und Palästina assoziativ miteinander verbunden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Josef Armin Grosswardein wählte, um eine anti-zionistische Satire zu schreiben. Zwei weitere Punkte dürften ihm den Rückgriff auf Grosswardein nahegelegt haben: Zum einen hatte Grosswardein in der mentalen Kartographie der Wiener Juden einen festen Platz. Das erweist sich am Umstand, dass es in verschiedenen Volkssängerstücken eine Referenz auf den Ort gibt. Als Beispiel kann die Posse Ein Schmoch von Caprice (1913) genannt werden, in der Grosswardein die Destination einer Hochzeitsreise zu Verwandten bildet.20 Und die Handlung des bereits erwähnten Stückes Die Frau mit der Maske, das 1909 in der Singspielhalle von Ludwig Kirnbauer aufgeführt wurde, spielt sogar gänzlich in dieser Stadt. Zum anderen scheint der vergebliche Versuch, nach Grosswardein zu reisen, ein Topos unter den Wiener Volkssängern gewesen zu sein. Das kommt auch in Das jüdische Schaffnerlied zum Ausdruck. Es wurde von Carl Lorens komponiert und von Adolfi, dem Sohn von Albert Hirsch, gesungen. Dabei geht es um einen jüdischen Jungen aus dem galizischen Tarnow, den sein Vater nach Grosswardein schickt, um dort sein Glück zu versuchen. Er nimmt aber den falschen Zug und kommt am Wiener Nordbahnhof an. Anfangs will er zurück nach Tarnow, bleibt dann aber in Wien, verdient sein Geld als Hausierer und gelangt sogar zu Wohlstand.21 Auch in diesem Fall ist Grosswardein eine Destination, zu der der Junge zwar reisen will, die er aber nicht erreicht. Und Wien scheint eine bessere Alternative zu sein. Der Junge aus Tarnow fügt sich rasch seinem neuen Schicksal, und es gelingt ihm, ein zufriedenes Leben zu führen. 18 Philip V. Bohlman, An Endgame’s “Dramatis Personae”: Jewish Popular Music in the Public Spaces of the Habsburg Monarchy. In: Vienna. Jews and the City of Music 1870–1938, ed. Leon Botstein, Werner Hanak (Hofheim 2004) 96. 19 Bohlman, Music 57. 20 Caprice, Ein Schmoch. In: Niederösterreichsiches Landesarchiv (Theaterakten), Karton 8/13 (1913). 21 Bohlman, Music 161–164.

184

Von der Differenz zur Ähnlichkeit

Grosswardein als Sinnbild für Palästina, wohin man nicht gelangt, findet man demnach nicht nur bei Josef Armin. Allerdings baut er sein Stück zu einer beißenden Satire zionistischer Bestrebungen aus. Ähnlich wie in „Das jüdische Schaffnerlied“, so wird auch in „Die Reise nach Grosswardein“ angedeutet, dass Juden, die vor den Bedrängnissen zu Hause flüchten, in ihren Zielorten keine besseren Verhältnisse vorfinden. Das zeigt sich am Vorhaben der Ehefrauen von Lipperl und Maxi, gleichfalls den Zug nach Grosswardein zu besteigen. Das heißt, dass die Verantwortlichen für die als bedrückend angesehenen Lebensbedingungen in Wien ebenso den Fluchtort der gepeinigten Juden aufzusuchen gedenken. Antisemitismus, so könnte diese Passage in „Die Reise nach Grosswardein“ verstanden werden, gibt es auch in der neuen Heimat. Eine Auswanderung zahlt sich deshalb nicht aus. Das ist wohl auch die Aussage der Szene, in der Fritz Engländer mit seinen Freunden zum Bahnhof kommt. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei ihm in Wirklichkeit um einen Österreicher, der lediglich den Namen Engländer trägt. Und er ist Mitglied einer Burschenschaft, die im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts die radikale Speerspitze des Antisemitismus bildete. Mit dem Burschenschafter Engländer würden die Juden von einem etwaigen Antisemiten zu ihrem Fluchtort geführt. Wiederum klingt an, dass es sich bei der Auswanderung nach Palästina um ein vergebliches Unternehmen handelt. Ein weiterer Punkt, in dem ein zentrales Ziel der zionistischen Ideologie in humoresker Weise hinterfragt wird, kommt in Lebeles Werben um Rosl zum Ausdruck. Die zionistische Bewegung, vor allem die Wiener Kadimah, bemühten sich um die Schaffung eines gesellschaftlichen Umfeldes, das die sogenannte jüdische Assimilation verhindert.22 Interkonfessionelle Heiraten galten als eines der wichtigsten Merkmale dafür. Aber gerade Lebele, der in Grosswardein, dem metaphorischen Palästina, herangewachsen ist, verliebt sich – gemäß seinen eigenen Worten – in eine Schickse. Dazu kommt, dass Lebeles Zuneigung für Rosl nachvollziehbarer Motive entbehrt. In Wien war der Beweggrund vieler Juden, die Nichtjüdinnen ehelichten, ein gesellschaftlicher Aufstieg. Nichtjüdische Frauen gehörten häufig einer sozial höhergestellten Schicht an, in die Juden somit einheirateten.23 Dies wurde von den jüdischen religiösen Autoritäten zwar weder akzeptiert und schon gar nicht als legitim erachtet. Nichtsdestotrotz war dieses Verhalten in gewisser Weise verständlich. In Armins Stück ist Rosl allerdings eine einfältige Bäuerin. Ihr Familienname, Teppenhuber, lässt dies bereits anklingen. Damit scheinen in Grosswardein Zustände, die eine sogenannte Assimilationsbereitschaft fördern, nicht nur perpetuiert zu werden, sondern noch beklagenswerter als in Wien zu sein. Grosswardein, und somit Palästina, ver22 Wistrich, Jews 363. 23 Rozenblit, Juden 143.

Artikulationsformen von Jüdisch-Sein

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schlimmern demnach die Zustände, vor denen die Zionisten warnten und die sie mit der Diaspora gleichsetzten. Die Übertreibung einiger Kernelemente des Zionismus zur Erzielung einer humoristischen Wirkung macht aus „Die Reise nach Grosswardein“ ein antizionistisches Stück. Es zeigt, dass der Zionismus keinen Ausweg aus dem Antisemitismus, mit dem Juden in Wien konfrontiert waren, darstellt.

5.3

Artikulationsformen von Jüdisch-Sein

In keinem der Volkssängerstücke wird Jüdisch-Sein durch die Religion bestimmt. Gleichwohl ist es unmöglich, es genau festzumachen, da sich dessen Inhalt immerzu ändern kann und tatsächlich ändert. Jüdisch-Sein, so lautet die Schlussfolgerung, ist nicht fixierbar. Worin es sich artikuliert, ist durch den Kontext bedingt. Lediglich der Umstand, dass es Juden von Nichtjuden unterscheidet, ist gesichert. Jüdisch-Sein wird in den sogenannten jüdischen Burlesken als eine (inklusive) Differenz dargestellt. Während der Inhalt von Jüdisch-Sein variabel ist, scheinen die Formen seines Ausdrucks weitgehend konstant zu bleiben. Sie werden im Wesentlichen durch vier Merkmale bestimmt, die im Folgenden angeführt werden. Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang behandelt wird, bezieht sich auf die erwähnte Differenz und erörtert eine begriffliche Alternative zu ihr.

Inklusivität, Individualität, Interaktionalität, Performanz „Der Apostel vom Schottenfeld“ wie auch „A Gschicht’ von anno dazumal“ enden mit bemerkenswerten Sätzen: „… der Vater Lorenz betet nicht allein für Christen, sondern auch für Juden, wanns anständige Menschen san“ im ersten und „Ob einer Jude oder Christ/Wenn er ein Mensch nur ist“ im zweiten Stück. Der Begriff des Menschen ist dabei zentral. Allerdings nicht als eine neutrale Kategorie, sondern als eine wertbeladene Bezeichnung. Für Hirsch besitzt ein Mensch bestimmte ethische Eigenschaften, er ist „anständig“, wie es in „Der Apostel vom Schottenfeld“ heißt. Dieses Verständnis von Mensch dürfte der jiddischen Sprachkultur entstammen. Darin zeichnet sich ein mentsh durch Großmut und Integrität aus. Ein mentsh stellt ein Vorbild für sein soziales Umfeld dar.24 Sowohl ein Jude als auch ein Nichtjude können diesem Verständnis von mentsh entsprechen. Mentshlikhkeyt ist demnach eine inklusive Eigenschaft. Sie ist nicht angeboren, sondern schlägt sich in einem bestimmten Engagement 24 Leo Rosten, Lawrence Bush, The New Joys of Yiddish (New York: Harmony 20032)

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

gegenüber Mitmenschen nieder. Sie wird performativ erfahrbar gemacht. Mentshlikhkeyt charakterisiert kein Kollektiv, sondern zeichnet einzelne Personen aufgrund großherziger Aktivitäten aus. Sie hat dadurch eine individuelle Dimension. In Hirschs Stücken manifestiert sich mentshlikhkeyt konkret in Wohltätigkeit. Diese wird im Kontakt zwischen Juden und Nichtjuden, also interaktional, ausgeübt. Alle vier Formen von mentshlikhkeyt kommen in „Der Apostel vom Schottenfeld“ wie auch in „A Gschicht’ von anno dazumal“ zum Ausdruck. Die Inklusivität zeigt sich in der Hilfsbereitschaft sowohl des Juden Isak als auch des nichtjüdischen Barons. Isak repräsentiert aber nicht alle Juden. Viele von ihnen wollen den Baron betrügen, indem sie vorgeben, ihm Geld geliehen zu haben, und dessen Rückgabe nunmehr einfordern. In diesem Sinne ist Barmherzigkeit kein allgemein jüdischer, sondern ein individueller Charakterzug von Isak. Er erweist sich in deren aktiven Ausübung, tritt performativ zutage. Und die jüdischnichtjüdische Interaktion tut sich in der Unterstützung des Barons durch seinen einstmaligen Retter wie auch Isaks durch den Baron kund. Diese vier Formen von Jüdisch-Sein kennzeichnen, wenn auch nicht immer gemeinsam, ebenso die meisten anderen Volkssängerstücke, die im zweiten und dritten Kapitel vorgestellt worden sind. Die Feststellung, dass Jüdisch-Sein darin als weitgehend fluid, ohne Bezug zum religiösen Judentum, als Ergebnis eines engen jüdisch-nichtjüdischen Miteinanders sowie als inklusiv verstanden wird, stützt sich somit auf eine breite Evidenzgrundlage. Über den Inhalt von JüdischSein wird damit allerdings nichts ausgesagt, außer dass die Religion keine Rolle spielt; vielmehr wird darauf hingewiesen, dass es kontextuell bestimmt wird. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob im Hinweis auf die Inklusivität der Inhalte, die das Jüdisch-Sein als different ausweisen, nicht ein Widerspruch liegt? Bedeutet der inklusive Charakter nicht, dass Jüdisch-Sein seine Unterscheidbarkeit verliert, wenn dessen Merkmale von Nichtjuden angenommen werden und auch diese kennzeichnen?

5.4

Das Konzept der Ähnlichkeit

Die Aussage, dass Jüdisch-Sein als Differenz aus inklusiven Eigenschaften besteht, die auch das Selbstverständnis von Nichtjuden prägen können, scheint nur auf den ersten Blick paradox zu sein. Zumindest zwei Punkte sprechen gegen diese Schlussfolgerung. Der erste bezieht sich auf den Umfang von Jüdisch-Sein. Anders als es in den Burlesken der Volkssänger skizziert wird, besteht es nicht lediglich aus einigen wenigen Einstellungen und Handlungsmustern. Albert Hirsch und seine Kollegen haben zwar bloß einzelne Aspekte, wie beispielsweise die vorhin genannte Wohltätigkeit oder das Sprachverhalten, fokussiert. Dies

Das Konzept der Ähnlichkeit

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mag dem Diskurs der Zeit geschuldet gewesen sein, in dem karitatives Engagement allgemein als wichtig erachtet wurde und Sprachnationalismen sich auf das alltägliche Leben in der Habsburgermetropole auswirkten.25 Aber Jüdisch-Sein ist viel umfassender und weist noch zahlreiche andere Differenzmerkmale auf. Wenn Nichtjuden somit einzelne Merkmale annehmen, die zuvor Jüdisch-Sein charakterisierten, wird keine Gleichheit zwischen ihnen und Juden hergestellt, sondern es gibt lediglich eine partielle Übereinstimmung. Diese Kongruenz in einzelnen Punkten kann als Ähnlichkeit zwischen ihnen verstanden werden. Ähnlichkeit zwischen Menschen oder Kollektiven bedeutet, dass es weder eine völlige Unterscheidbarkeit noch eine gänzliche Angleichung zwischen ihnen gibt. Eine Ähnlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden hebt Differenzen zwischen ihnen nicht auf, zeigt gleichzeitig aber an, dass es sich dabei um keine fundamentale, sondern lediglich um eine graduelle Verschiedenheit handelt. Mit Ähnlichkeit wird auf ein neues „kulturtheoretisches Konzept“ zurückgegriffen, das bewusst von der Vorstellung binärer Gegensätze abrückt, die bislang Arbeiten zum Begriff der Differenz zumindest implizit zugrunde lag.26 Davon sind selbst die kulturwissenschaftlichen und postkolonialen Forschungen der jüngeren Vergangenheit geprägt, all ihren Konzepten der Hybridität, sich auflösender Grenzen und Alterität zum Trotz.27 Das heißt im konkreten Fall, dass die inklusive Differenz, verstanden als Ähnlichkeit, ein Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden aufzeigt, das weder in dichotomen Kategorien zu fassen ist, noch eine tendenzielle Gleichheit zwischen ihnen einschließt. Stattdessen werden Berührungspunkte bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer Unterscheidung zwischen ihnen fokussiert. Der zweite Punkt, der gegen eine scheinbare Unvereinbarkeit von Inklusivität und Differenz spricht, betrifft die Folgen von Übereinstimmungen einzelner Aspekte des jüdischen und nichtjüdischen Selbstverständnisses. Bisweilen kommt dabei nämlich eine jüdische Unterscheidbarkeit erst deutlich zum Vorschein. Diese Dialektik wird durch den Begriff der (inklusiven) Differenz besser als durch jenen der Ähnlichkeit angezeigt. Darin liegt auch der Grund, dass er in der vorliegenden Arbeit beibehalten wird. In verschiedenen Bühnenwerken von Albert Hirsch wird dieser Aspekt anschaulich dargestellt. Dies geschieht in „Der Apostel vom Schottenfeld“ beispielsweise in einer Szene, in der Herr Goldmann seine Bereitschaft bekundet, für 25 Siehe David Rechter, Ethnicity and the Politics of Welfare – The Case of Habsburg Austrian Jewry. In: Yearbook of the Simon-Dubnow-Instituts 1 (2001) 257–276. 26 Anil Bhatti u. a., Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36:1 (2011) 233–247. 27 Jürgen Osterhammel, Ähnlichkeit – Divergenz – Konvergenz. Für eine Historiographie relationaler Prozesse. In: Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, eds. Anil Bhatti, Dorothee Kimmich (Konstanz: Konstanz University Press 2015) 79.

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

die Opfer des Ringtheaterbrands zu spenden.28 Er bekennt sich dadurch zu einer Gemeinschaft, die ihrer Opfer gedenkt. In diesem Punkt scheint es eine Übereinstimmung zwischen Nichtjuden und Herrn Goldmann zu geben. Trotzdem kommt darin seine besondere Identifizierung mit Juden zum Ausdruck. In der Begründung für seine finanzielle Hilfe weist Herr Goldmann nämlich nicht auf die Bedürftigkeit der Verunglückten hin, sondern auf die jüdische Identität einiger von ihnen. Herr Goldmann bekennt sich dadurch zu einer jüdischen Solidargemeinschaft. Eine jüdische Selbstdarstellung, die die Ähnlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden hervorstreicht, zeigt sich auch im Kirchenbesuch. Die Präsenz von Juden in einem christlichen Gotteshaus kann als ein zumindest kurzzeitiges Überwinden religiöser Grenzen gedeutet werden, vor allem bei einer aktiven Teilnahme der jüdischen Kirchgänger an der Messe. Dies macht Isak anlässlich Burgais Taufe in A Gschicht’ von anno dazumal. Gertrud hebt in ihrer Erzählung darüber hervor, dass er sogar mitgebet, sich also von der Gemeinschaft der anwesenden Christen nicht unterschieden habe. Allerdings werden die religiösen Trennlinien zwischen Isak und den anderen nicht aufgehoben. Vielmehr bringen sie eine Distanz zwischen ihnen zum Ausdruck. Zwar betet Isak mit den übrigen Taufgästen, aber er macht das alleine, indem er sich in einen Winkel im hinteren Teil des Sakralraums zurückzieht.29 Das gemeinsame Beten lässt somit eine Ähnlichkeit zwischen dem Juden Isak und den anderen nichtjüdischen Geladenen zutage treten. Es zeigt keine Gleichheit zwischen ihnen an, sondern offenbart eine jüdisch-nichtjüdische Differenz. Solche Erfahrungen hat Hirsch auch selbst, in der sogenannten realen Welt, gemacht. Als er sich anlässlich der Weihe der Volkssängerflagge in der Kirche aufhielt und dabei neben Karl Lueger stand, fühlte er sich als Teil der Wiener Volkssängergemeinschaft. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er dem Bürgermeister nicht zujubeln kann, da dieser antisemitisch und er selbst jüdisch ist. Der gemeinsame Kirchenbesuch machte Hirsch erinnerlich, dass Jüdisch-Sein auch Nichtzugehörigkeit bedeuten kann.30

28 Hirsch, Apostel 42. 29 Hirsch, Gschicht‘ 7. 30 Eine Ähnlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden tritt auch in „Ein riskirtes Geschäft“ (siehe drittes Kapitel) deutlich zutage. Darin stellt Gottfried seinen Gläubiger Salomon Teitelbaum der Metzgerin Eulalie als einen guten Menschen vor, weil er bereit gewesen sei, einem Alkoholiker Geld zu leihen, und sich um dessen Gesundheit sorge. Salomon wird daraufhin von Eulalie respektvoll als „Herr Israelit“ und „Herr von Jud“ tituliert. (Hirsch, anno 13 & 14.) Während sie damit ihre Wertschätzung für Salomon ausdrücken will und ihn als einen ihresgleichen behandelt, betont sie gleichzeitig sein Jüdisch-Sein und damit seine Andersheit. Die Aufhebung wie auch Betonung jüdisch-nichtjüdischer Unterschiede werden durch denselben Satz artikuliert.

Das Konzept der Ähnlichkeit

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Ähnlichkeit ist zugegebenermaßen ein vager Begriff.31 Seine Unschärfe liegt weniger in seiner theoretischen Abgehobenheit als in seiner alltäglichen Verwendung und den daraus resultierenden zahlreichen Bedeutungen. Ähnlichkeit bildet eher eine grundsätzliche Erfahrungs- und Klassifikationskategorie, mit der jedermann vertraut zu sein scheint, als ein wissenschaftliches Analyseinstrument.32 Nichtsdestotrotz kann sich Ähnlichkeit gerade auf dem Gebiet der Jüdischen Studien als ein sehr fruchtbares Konzept erweisen. Es widerspricht nämlich allen Vorstellungen von der Fremdheit der Juden, die über Jahrhunderte hinweg den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen bestimmt haben. Im Sinne einer jüdisch-nichtjüdischen Dichotomie sind sie im Denken der Menschen auch heute noch verbreitet. In Teilen bestimmen sie sogar die gegenwärtige Historiographie, wie im Hinblick auf die Assimilationsgeschichtsschreibung im ersten Kapitel ausgeführt worden ist. Indem Ähnlichkeit eine Angleichung an normativ gedachte Kulturen hinterfragt und stattdessen die Beibehaltung einer Differenz betont, weist sie auf die Unzulänglichkeit des Assimilations- und im Weiteren des Akkulturationsnarrativs hin.33 Das Konzept der Ähnlichkeit kontrastiert wie keine andere Argumentationsfigur mit antisemitischem Denken. Es lässt sich wahrscheinlich mit einiger Berechtigung behaupten, dass im Laufe der Geschichte antijüdische Feindseligkeit umso rabiater artikuliert und das Vorhandensein einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Juden und Nichtjuden umso vehementer behauptet wurde, je mehr Ähnlichkeiten zwischen ihnen zutage traten. In diesem Sinne scheint es ganz allgemein eine Verbindung zwischen Ähnlichkeit und Ablehnung zu geben. Erst eine gemeinsame Grundlage erlaubt es, den jeweils anderen, im konkreten Fall Juden, radikal zu diffamieren und sogar die Existenzberechtigung abzusprechen.34 Das kommt auch in „Der kleine Kohn“ zum Ausdruck. Einerseits will Spitzer Kohn loswerden. Er ist bestrebt, wie er es ausdrückt, sich zu „entkohnen“. Damit wird assoziiert, dass er sich jeglicher biologischer Spuren von Kohn entledigen möchte. Allerdings ist Spitzer darin erfolglos. Leopold Kohn hat nämlich dessen Tochter geschwängert und gehört folglich zu dessen Familie. Damit tritt genau das ein, was die Antisemiten am meisten fürchteten: Dass Juden sich in den sogenannten Volkskörper einnisten und ein Teil davon werden. Ein exemplarisches Machwerk, in dem aus einer rassenideologischen Perspektive dagegen 31 Anil Bhatti, Dorothee Kimmich, Einleitung. In: Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, eds. Anil Bhatti, Dorothee Kimmich (Konstanz: Konstanz University Press 2015) 10. 32 Klaus Sachs-Hombach, Ähnlichkeit. Funktionen und Bereiche eines umstrittenen Begriffs. In: Bhatti, Ähnlichkeit 93. 33 Dazu siehe Albrecht Koschorke, Ähnlichkeit. Valenzen eines post-postkolonialen Konzepts. In: Bhatti, Ähnlichkeit 36. 34 Koschorke, Ähnlichkeit 42–43.

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Von der Differenz zur Ähnlichkeit

Stellung genommen wird, stellt Eugen Dührings Judenfrage dar.35 In Österreich wurde dessen Anschaffung in Volksbüchereien von Karl Ritter von Schönerer, dem Führer der deutschnationalen Partei, gefördert.36 Aber das tatsächliche Leben unterschied sich von diesen ideologisch getragenen Einschätzungen und Vorgaben. Die gesellschaftlichen Folgen, die sich aus der Ähnlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden ergaben, konnten dadurch nicht unterbunden werden. Nicht nur Leopold Kohns zukünftige Vaterschaft verhindert, dass Spitzer sich „entkohnen“ kann. Auch andere Umstände, die auf eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern verweisen, scheinen dies unmöglich zu machen. Zu Beginn des Stücks gibt es eine ganz klare Polarität zwischen Marcus Spitzer und dem Juden Leopold Kohn. Der Bankier verhält sich gegenüber seinem Kassier herablassend und feindselig. Ob Spitzer aus judenfeindlichen Motiven handelt, ist nicht erkennbar. Im Laufe der Handlung nimmt dieser Kontrast zwischen Kohn und Spitzer allerdings ab. Er beginnt sich aufzulösen, als Spitzer sich selbst als meschugge bezeichnet. Der Sprachgebrauch galt, wie bereits erwähnt, als ein wichtiges, wenn auch kein unfehlbares Indiz für die ethnische Zugehörigkeit einer Person. Vor diesem Hintergrund könnte Spitzers Selbstbeschreibung auf sein ‚herkunftsmäßiges‘ Jüdisch-Sein verweisen. Diese Ahnung wird bestärkt, als Spitzer erfährt, dass seine Frau mit Kohn in einem Zugabteil sitzt. Seine erste Reaktion auf diese Nachricht ist Bestürzung. Wie bei der Nachricht über den Gelddiebstahl, beginnt er auch in diesem Fall zu stottern, und die Syntax seiner Sätze gemahnt stark an das Jiddische. Die Sprache scheint ihn als Juden zu entlarven. Aus der anfänglichen jüdisch-nichtjüdischen Polarität, die das Verhältnis von Spitzer als Arbeitgeber und Leopold Kohn als Kassier charakterisiert, wird eine Konstellation, in der ethnische Trennlinien undeutlich sind. Es ist nicht klar, ob es sich beim Konflikt zwischen Spitzer und Kohn um eine Auseinandersetzung zwischen Juden oder um eine jüdischnichtjüdische Konfrontation handelt. Zweifel über Spitzers Jüdisch-Sein bleiben bestehen. Was darin aber sehr wohl zum Ausdruck kommt, das ist eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Charakteren. Diese kann Spitzer nicht ablegen.

35 Eugen Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für die Existenz, Sitte und Cultur der Völker. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort (Karlsruhe3 1886). 36 Friedrich Polleroß, „Die Erinnerung tut zu weh!“ Georg Ritter von Schönerer und die Folgen. In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, ed. Jüdisches Museum der Stadt Wien (Wien: Picus Verlag 1995) 159–160.

6.

Schlussbemerkungen

Die vorangegangenen Seiten haben einen Überblick über die Wiener jüdischen Volkssänger vermittelt und sich mit deren Jüdisch-Sein beschäftigt. Für den Aspekt des jüdischen Selbstverständnisses wurden hauptsächlich Burlesken analysiert, die von ihnen verfasst oder aufgeführt wurden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die dadurch gewonnenen Erkenntnisse über das jüdische Bewusstsein allein auf die fiktiven Charaktere in den Aufführungen beziehen, oder ob daraus auch Schlussfolgerungen auf die jüdischen Volkssänger in der sogenannten realen Welt gezogen werden können? Diese Frage mag unter Verweis auf Albert Hirschs Berufsleben beantwortet werden. Im dritten Kapitel wurden Einblicke in sein bisweilen schwieriges Verhältnis zu seinen Kollegen geboten. Am Höhepunkt des sogenannten Volkssängerkrieges legte er sein Verständnis von Jüdisch-Sein dar. Gleichzeitig konnten zahlreiche Übereinstimmungen zwischen einzelnen Protagonisten in seinen Stücken und seiner eigenen Biographie festgestellt werden. Das macht es wahrscheinlich, dass in seinen Possen mehr oder weniger deutliche Spuren von seinem eigenen jüdischen Bewusstsein zu finden sind. Da es zwischen der Darstellung von Jüdisch-Sein in Hirschs Aufführungen und den Stücken anderer jüdischer Volkssänger vielfache Übereinstimmungen gibt, liegt die Annahme nahe, dass auch deren Manuskripte und Darbietungen Zugänge zu einem jüdischen Selbstverständnis in der Volkssängerschaft zulassen, wie unscharf auch immer es sich dabei kundtut. Bemerkenswert an den Volkssängerstücken ist, dass gewisse Themen wiederholt angesprochen werden. Wer sie verfasst oder welches Ensemble sie aufgeführt hat, spielt dabei keine Rolle. Dieser Umstand könnte darauf verweisen, dass es sich um Topoi handelte, mit denen das Publikum vertraut war und deren Vorkommen in den Aufführungen es erwartete. Es könnte aber auch sein, dass diese Themen die Wiener Judenschaft beziehungsweise einen Teil von ihr stark beschäftigten und deswegen theatralisch aufgearbeitet wurden. In diesem Fall stellen die Possen wichtige Quellen zum Alltagsleben der Wiener Juden dar.

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Schlussbemerkungen

Zu den Aspekten, die in einer Reihe von Possen vorkommen, gehört beispielsweise der Selbstmord, zumeist nur angedroht, durch einen Sprung in die Donau. Wie in der Einleitung am Beispiel von Anna Katz bereits ausgeführt worden ist, wählten nicht wenige Juden diese Art des Freitodes. Die hohe Bereitschaft zum Suizid, der nach einem kulturell vorgegebenen Muster ausgeführt wurde, dürfte in der Wiener Öffentlichkeit, somit in der jüdischen wie auch nichtjüdischen Bevölkerung, heftig diskutiert worden sein und deswegen Eingang in die Volkssängerstücke gefunden haben.1 Besonders auffällig ist der oftmalige Hinweis auf Spannungen in der Ehe, die mit einer im zeitgenössischen Wien ungewohnten Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in Zusammenhang gebracht werden. In den Possen bestimmen häufig Frauen das alltägliche Geschehen und unterdrücken ihre Männer. Dieser Aspekt kommt emblematisch in Die Reise nach Grosswardein zum Ausdruck. Lipperl und Maxi flüchten vor ihren Frauen, weil sie sich autoritär verhalten und ihre Vorstellungen von einem Zusammenleben mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Einer der Gründe für die Darstellung des jüdischen Mannes als schwächlich und der jüdischen Frau als maskulin mag in ihrem belustigenden Effekt auf die Zuschauer gelegen haben. Daneben dürfte sie aber noch einem anderen Zweck gedient haben. Sie sollte, so die Vermutung, das Stereotyp vom verweiblichten Juden entwerten. Es war im ausgehenden 19. Jahrhundert weitverbreitet. Seine gesellschaftliche Relevanz lässt sich am Umstand ablesen, dass sich sogar die Wissenschaft, zuvorderst die Medizin und Anthropologie, mit ihm beschäftigte und mit Fakten zu untermauern versuchte. In einer Reihe von Studien benannten Ärzte und Anthropologen körperliche Eigenschaften oder auch physiologische Prozesse, die bei (männlichen) Juden angeblich häufiger als bei Nichtjuden vorkämen und gewöhnlich auch nichtjüdische Frauen charakterisierten. Dazu gehören ein geringer Brustumfang, der auf eine schwächliche körperliche Konstitution hinweist, die vermeintliche Unfähigkeit, Militärdienst zu leisten, wie auch eine große Anfälligkeit für Nervenkrankheiten. Die Verweiblichung des jüdischen Mannes wurde dadurch an konkreten Merkmalen festgemacht und galt als empirisch erwiesen.2 Der sogenannte effeminierte Jude kommt in den Volkssängerstücken häufig vor. In „Der Apostel vom Schottenfeld“ ist das in der Szene der Fall, in der Herr Goldmann angesichts der Bitte von Vater Lorenz, ihm 1.000 Gulden zu geben, zu 1 Hannes Leidinger, Die Bedeutung der Selbstauslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik (Innsbruck: Studienverlag 2012). 2 Über das Vorurteil vom verweiblichten Juden aufgrund körperlicher Eigenheiten und medizinischer Merkmale ist schon viel geschrieben worden und soll an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich behandelt werden. Siehe dazu vor allem Gilman, The Jew’s Body. Hödl, Pathologisierung 164–314.

Schlussbemerkungen

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wanken beginnt. Seine Frau kommentiert seine Reaktion mit den Worten: „Dass du ein Schwächling ohne Manneskraft bist, weiß ich schon lange, …“3 Im Stück Im schwarzen Rössl, das von der Budapester Orpheumgesellschaft 1899 aufgeführt wurde, mietet sich der Warschauer Großkaufmann Kiewe mit seiner Geliebten für einige Tage im Hotel „Im schwarzen Rössl“ ein. Seiner Frau teilt er mit, dass er zu militärischen Waffenübungen müsse. Da sie ihm nicht glaubt, reist sie ihm heimlich nach. Als Kiewe seine Frau im Hotel absteigen sieht, ist er zutiefst erschrocken und fürchtet, wegen seiner Lüge von ihr geschlagen zu werden.4 Wiederum wird die jüdische Frau als gewaltbereit skizziert und ihr Mann als Feigling. Eine andere Form der weiblichen Dominanz zeigt sich, um ein letztes Beispiel anzuführen, in „Ein Ringkämpfer in der koscheren Restauration“ (siehe zweites Kapitel). Darin geht es zwar nicht um physische Gewalt. Vielmehr ist Jentel ihrem Mann Salme geistig überlegen und bedauert deswegen ihre Ehe mit ihm. Salme ist von ihr abhängig und scheint ohne sie die Herausforderungen des Lebens nicht meistern zu können. Gleich wie die Volkssängerstücke die Vorstellung einer jüdischen Nase oder des jüdischen Sprechens aufgreifen und in humoresker Weise von ihrer judenfeindlichen Note zu entkleiden versuchen, so sollte sich mit der verzerrenden Darstellung des jüdischen Mannes auch das verbreitete Vorurteil von dessen Effeminierung in Gelächter auflösen. Der oftmalige Bezug auf den schwächlichen jüdischen Mann deutet an, dass die Wiener Judenschaft vom Stereotyp des verweiblichten Juden umgetrieben wurde und darauf reagierte. Durch eine Analyse der Volkssängerstücke, so die Schlussfolgerung, lassen sich Einblicke in den Alltag der Juden um 1900, deren Befindlichkeiten, Probleme und Sorgen gewinnen. Die Ausführungen des Buches begannen mit der Frage, warum das Thema „Juden in der allgemeinen Wiener Populärkultur um 1900“ vergleichsweise wenig erforscht worden ist. Einer der Gründe dafür wurde in den analytischen Instrumentarien gefunden, die von den Historikern und Historikerinnen verwendet werden. In den darauffolgenden Kapiteln wurden jüdische Volkssängergruppen vorgestellt und eine Reihe von Theaterstücken, die sie zur Aufführung brachten, untersucht. Daraus wurden auch mehrere Aspekte, die das JüdischSein unter den jüdischen Volkssängern ausmachten, abgeleitet. Deren Beziehungen zur nichtjüdischen Kollegenschaft, so kann zusammenfassend festgehalten werden, waren sehr komplex und verwoben. Dichotome Kategorisierungen sind für eine Beschreibung untauglich. Zwar gab es auch Spannungen zwischen ihnen, und bisweilen wurde antijüdische Feindseligkeit artikuliert. Diese

3 Hirsch, Apostel 51. 4 Bernhard Haskel, Im schwarzen Rössl. In: NÖLA (Zensur) 115/35 (1898) 81.

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Schlussbemerkungen

dürfte in der Volkssängerschaft allerdings schwächer als in anderen gesellschaftlichen Bereichen ausgeprägt gewesen sein.

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Internetquellen http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-operierte-jud-227/1 (acc. 26. 7. 2015)

Abkürzungen

BHM DV IWE JHI NÖLA NWT OW RP

= Bulletin of the History of Medicine = Deutsches Volksblatt = Illustrirtes Wiener Extrablatt = Journal of the History of Ideas = Niederösterreichisches Landesarchiv = Neues Wiener Tagblatt = Oesterreichische Wochenschrift = Reichspost

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