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German Pages 234 Year 2006
Schriften zur Rechtstheorie Heft 227
„Richtiges Recht“ zwischen Entwicklungs- und Kulturgedanken Prinzipien der Rechtsgestaltung in der Rechtstheorie um 1900
Von Anna Babette Stier
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ANNA BABETTE STIER
„Richtiges Recht“ zwischen Entwicklungs- und Kulturgedanken
Schriften zur Rechtstheorie Heft 227
„Richtiges Recht“ zwischen Entwicklungs- und Kulturgedanken Prinzipien der Rechtsgestaltung in der Rechtstheorie um 1900
Von Anna Babette Stier
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Wintersemester 2003 / 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 19 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11700-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2003 / 2004 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen worden. Die Arbeit wurde im Herbst 2003 abgeschlossen. Später erschienene Literatur konnte in Einzelfällen berücksichtigt werden. Ganz besonders danke ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Landau für seine Unterstützung und die Ermutigung bei der Fertigstellung dieser Arbeit. Großen Dank schulde ich darüber hinaus Herrn Prof. Dr. Bernd Schünemann für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlichen Dank möchte ich außerdem allen sagen, die mich mit Ermunterung, Rat und Kritik unterstützt haben, ganz besonders erwähnen möchte ich Dr. Julia Schmidt, Dr. Anne Tilkorn, Prof. Dr. Andrea Esser, Franziska Schönball, Caroline Fischer, PD Dr. Thomas Gutmann M.A. und Prof. Dr. Jens Petersen. Allen voran bin ich meinem Vater und meiner Mutter dankbar – ohne ihn hätte ich diese Arbeit nicht begonnen und ohne sie niemals fertig gestellt. Berlin, im Oktober 2005
Anna Babette Stier
Inhaltsverzeichnis Einleitung
11
Kapitel I Recht, Wirtschaft und Rechtsidee – Das „richtige Recht“ bei Stammler
19
I. Die zunehmende Bedeutung der Wirtschaft und das Problem der sozialen Frage . . . .
19
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie – Die Bedeutung von Sozialethik und Humanitätsidee (Berolzheimer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1. Sozialer Wandel und politische Ordnung – Die Forderung nach einem „neuständischen Klassenstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2. Wechselwirkungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Recht – Die juristisch-ökonomische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
3. Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
III. Der Einfluß der wirtschaftlichen Veränderungen auf die juristische Methode und das Selbstverständnis der Rechtswissenschaften (Exkurs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
IV. Die logische Priorität des Rechts – Das Verhältnis von Recht und Wirtschaft als Form und Materie (Stammler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1. Eine „allgemeine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
2. Der einheitliche Gegenstand des sozialen Lebens und die Unterscheidung von Form und Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
3. Die zentrale Position der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
4. Rezeption und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
a) Form und Materie als sinnbildliche Umschreibung – Recht und Wirtschaft als Wechselwirkungsverhältnis (Berolzheimer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
b) Das Recht als Rahmen (Diehl und die „sozialrechtliche Richtung“) . . . . . . . . . .
46
c) Das Recht als Bedingung rationalen Wirtschaftens (Max Weber) . . . . . . . . . . . . .
47
V. Der „Kreislauf des sozialen Lebens“ – Stammlers Modell gesellschaftlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
8
Inhaltsverzeichnis
VI. Die Idee des Rechts – Erkenntniskritischer Ansatz vs. Entwicklungsdenken . . . . . . . .
53
1. Die Möglichkeit einer „Politik als Wissenschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
2. Die teleologische Betrachtungsweise und der Gedanke der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . .
54
3. Das „soziale Ideal“ als regulative Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
4. „Richtiges Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
Kapitel II Der Entwicklungsgedanke
63
I. Der Stellenwert der Rechtsvergleichung, Universalrechtsgeschichte und ethnologischen Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
1. Vergleichende ethnologische Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
2. Vergleichende Rechtsgeschichte der Kulturvölker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
II. Zum Begriff der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
III. Der Entwicklungsbegriff in der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . .
72
1. Kontinuität und organisches Wachstum (Historische Schule) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
2. Die Entwicklung als Bewährungsprobe (Jhering) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
3. Der Einfluß der Biologie auf das Entwicklungsdenken – Entwicklung als voraussetzungsloses Veränderungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
IV. Der Entwicklungsgedanke in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
1. Naturalistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
a) Die Entwicklungsgesetze des Rechts (Merkel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
aa) Elemente, Grundmotive und Charakteristika der sozialen Entwicklung . .
83
bb) Der neutrale Maßstab der gesellschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . .
87
cc) Die Bildung „idealer Formen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
b) Der Entwicklungsbegriff als Synthese kausaler und wertender Betrachtung (Liszt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
2. Idealistische Theorien – Sinndeutung auf empirischer Grundlage . . . . . . . . . . . . . . .
99
a) Die „Modernisierung der Hegelschen Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) „Realidealismus“ (Berolzheimer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Die erkenntniskritische Betrachtung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (1) Das Wesen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 (2) Die Idee des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Inhaltsverzeichnis
9
bb) Die idealistische Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 cc) Das „Entwicklungsgesetz der Rechtsidee“ – „Relatives Kulturrecht“ anstelle „absoluten Naturrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 dd) Die Idee der Freiheit als Ergebnis der Kulturentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 114 ee) Die Bedeutung der Rechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Die Entwicklung als das „geschichtlich Übergeschichtliche“ und der „Pantheismus der Geschichte“ (Kohler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 aa) Die Bedeutung der Kultur für den Weltprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Entwicklung – „Das Ewige in seiner Bewegung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 cc) Das Recht als Instrument der Kulturbeförderung und die Bedeutung von Individualrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 V. Zeitgenössische Kritik an der Entwicklungsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Soziale und historische Gesetze entsprechend den Gesetzen der Natur? . . . . . . . . . 131 2. Alternative Entwicklungsvorstellungen – Zeitgenössische Kritik an einem tatsächlichen Entwicklungsbegriff aus erkenntnistheoretischer Perspektive . . . . . . . . 132 a) Geschichtswissenschaft: Entwicklung und „teleologisches Prinzip“ (Rickert)
133
b) Sozialwissenschaften: Entwicklung als „Wertbegriff“ (Jellinek) . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Rechtsphilosophie: Entwicklung als „heuristische Maxime“ (Stammler) . . . . . 137 VI. Entwicklung und richtiges Recht – Zusammenfassung zur Bedeutung des Entwicklungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Entwicklung und Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Die besondere Interpretation der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Übertragung naturalistischer Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Idealistischer Bezugsrahmen – Rechtsidee und Zweckursache . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Veränderung des Richtigkeitsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Kapitel III Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins und der allgemeinen Kulturanschauungen für das Recht
146
I. Der Volksgeist der Historischen Schule und die hervortretende Bedeutung des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Kulturstufe und allgemeines Rechtsbewußtsein (Berolzheimer und Kohler) . . . . . . . . 152 1. „Kulturrecht“ statt Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
10
Inhaltsverzeichnis 2. Die Dynamisierung des positiven Rechts im Sinne der herrschenden Kulturanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Kulturanschauung und objektive Auslegungsmethode (Kohler) . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Das Rechtsgefühl als „begrenzte Rechtsquelle“ – „Relatives Kulturrecht“ (Berolzheimer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Kulturanschauung und Bestimmungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
III. Die Forderungen der Kultur – M. E. Mayers Kulturnormentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die Anerkennung von Kulturnormen und ihre Bedeutung für das Recht . . . . . . . . . 168 2. Kultur als Wertbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Kulturnorm und richtiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV. Die Bedeutung der allgemeinen Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen für eine soziale Betrachtungsweise (Merkel und Jellinek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Die moralische Natur des Menschen (Merkel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Die „herrschenden Vorstellungen des Gerechten“ – Ethische Verbindlichkeit des Rechts durch Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Die ethischen Ideale – Individuelles Wertempfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Die Annäherung der allgemeinen Grundgedanken des Gerechten . . . . . . . . . . . . 183 2. Die „normative Kraft des Faktischen“ und die Vorstellung eines überpositiven richtigen Rechts als Bestandteile der psychischen Ausstattung des Menschen (Jellinek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 a) Recht als Bewußtseinsphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Die Rechtsüberzeugung – Psychologische Wirksamkeit des Rechts . . . . . . . . . . 188 c) Psychologische Quellen des Rechts – Die „normative Kraft des Faktischen“ und das menschliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit (Naturrecht) . . . . . . . . . . . . . 190 d) Die Maßgeblichkeit der durchschnittlichen Rechtsüberzeugung . . . . . . . . . . . . . . 194 e) Die Rechtsüberzeugung der Kulturvölker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 V. Allgemeine Kulturanschauungen und die Entwicklung historischer Standards . . . . . . 197 Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Einleitung Wenn auch der von dem Rechtsphilosophen Rudolf Stammler zur Frage der richtigen Gestaltung und Anwendung des Rechts vorgeschlagene „soziale Idealismus“ und die Methode des „richtigen Rechts“ heftigen Widerstand hervorriefen, so mußten auch seine Kritiker einräumen, daß damit immerhin ein Schritt getan war zu einer Neubegründung der Rechtsphilosophie.1 Ein solches Unterfangen war schwierig geworden, nachdem die philosophische Betrachtung des Rechts nach Hegels Tod immer stärker mit einem durch das naturwissenschaftliche Forschungsparadigma geprägten, empirischen Wissenschaftsverständnis konfrontiert worden war und damit naturrechtliche Anschauungen unter den Verdacht der Spekulation gestellt waren. Philosophisches Arbeiten reduzierte sich nun auf die Begründung erfahrungswissenschaftlicher Gewißheit durch Erkenntnistheorie und empirischphilologische Untersuchung der Philosophiegeschichte.2 Der Niedergang des Vernunftrechts schien die Rechtsphilosophie wertlos zu machen. Durch die Erfahrung der erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen trat das Bewußtsein der historischen Bedingtheit der Lebenswelt schärfer hervor, und es setzte sich die Anschauung durch, daß den jeweiligen kulturellen Erscheinungen und daher auch dem Recht nur relative Geltung zukomme.3 So löste die durch Droysen theoretisch begründete empirische Geschichtswissenschaft die Geschichtsphilosophie im Sinne Hegels ab und wurde zur Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Die historische Betrachtung führte zu einer „aufgeklärten“ Haltung, die den gegenwärtigen Zustand als geschichtlich gewordenes Produkt verstand und die Geltung überzeitlicher Werte zurückwies. Das Problem für eine Erneuerung der rechtsphilosophischen Fragestellung bestand freilich darin, daß der Historismus die bestehenden Wertmaßstäbe relativiert hatte, ohne die Begründung praktischer Ziele leisten zu können.4 1 Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht, 169; Berolzheimer, System II, 428, 438; ders., System III, 96; ders., Eine Rechtwissenschaft der Theorie, ARWP V (1911 / 12), 320; M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, 20; Radbruch, Rechtsphilosophie, 112: Stammler habe die Aufgabe der Rechtsphilosophie mehr gestellt als gelöst; Kantorowicz, Zur Lehre vom Richtigen Recht, ARWP II (1908 / 09), 43, hatte gar Bedenken, die Rechtsphilosophie Stammlers anzugreifen, weil ihm das Hauptverdienst am Aufschwung der Rechtsphilosophie zukomme. 2 Dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 121, 131 ff. 3 Wittkau, Historismus, 12 f.; Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 51 ff. 4 Wittkau, Historismus, 16; Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 52, 56 ff. Schnädelbach unterscheidet zwei Phasen des Historismus, denn der zunächst innerhalb der Historischen Schule bestehende Glaube an die „normative Kraft des Historischen“ sei der
12
Einleitung
Unter diesen Bedingungen hatte Adolf Merkel (1836 – 1896) Anstrengungen unternommen, mit Rücksicht auf die naturwissenschaftliche Methodenprägung auf der Basis empirischer Forschung zu einer in diesem Sinne wissenschaftlichen Bearbeitung des Rechtsstoffes und der zugrundeliegenden Prinzipien zu gelangen. Mit seiner „Allgemeinen Rechtslehre“ wurde er zum Begründer einer „positivistischen Rechtsphilosophie“5, die sich im Gegensatz zu der idealistischen Rechtsphilosophie ausschließlich mit den tatsächlichen rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen beschäftigte. Daß die Rechtsphilosophie bei dieser Zielsetzung eine inhaltliche Veränderung erfuhr, liegt auf der Hand. Von einer überzeitliche materiale Werte und Normen begründenden Disziplin wurde sie zu einer Lehre von den begrifflichen Grundlagen und den gesellschaftlichen und entwicklungsgeschichtlichen Bedingungen des Rechts. Sofern der Rechtsphilosophie überhaupt eine Bedeutung beigemessen wurde, ihre Bemühungen nicht von vornherein als empirisch unhaltbare „Weltanschauung“ aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausgegrenzt wurden und sie „nur noch bei Festreden und anderen wissenschaftlichen Sonntagsreden“6 Erwähnung fand, konnte sie nur unter Anpassung ihres Selbstverständnisses an die Maßstäbe des empirischen Wissenschaftlichkeitsideals aufrechterhalten werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Lage jedoch zunehmend als unbefriedigend empfunden – Ansätze wie die Merkels wurden nun lediglich als „Surrogate der Rechtsphilosophie“7 bewertet – und es verstärkten sich die Bestrebungen, über die positivistische Rechtsphilosophie hinaus der Neubegründung einer materialen Rechtsphilosophie zuzuarbeiten.8 Zuversichtlich wurde das HeraufzieAnsicht gewichen, daß der wissenschaftlich-objektive Umgang mit der Geschichte keine Werte begründen könne (ebd., 56 f.). 5 Merkel, Rechtsphilosophie, in: Die Deutschen Universitäten (Hg. Lexis), 411. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts bildete sich eine juristische Grundlagendisziplin heraus, für die sich Ende des Jahrhunderts der Ausdruck „Allgemeine Rechtslehre“ und im 20. Jahrhundert der Ausdruck „Rechtstheorie“ etablierte (dazu Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland). 6 Th. Sternberg, Besprechung von D’Aguanno, Gian Domenico Romangnosi, ARWP I (1907 / 08), 335. 7 So der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Max Ernst Mayer (1875 – 1923) in seiner „Rechtsphilosophie“, 16, 18. Mayer selbst bemühte sich ähnlich wie Gustav Radbruch um eine kulturphilosophische Grundlegung des Rechts, allerdings ging er über dessen relativistische Bestimmung des Rechts hinaus, indem er Freiheit und Humanität als in absolute Geltung erwachsene Ideen betrachtete (Hassemer, Max Ernst Mayer, in: Juristen an der Universität Frankfurt am Main (Hg. Diestelkamp / Stolleis), 84 ff., 91). Zu Radbruch: Kaufmann, Die Bedeutung Gustav Radbruchs für die Rechtsphilosophie im Ausgang des Kaiserreichs, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 101 ff.; weitere wertphilosophische Ansätze bei Lask (zu Lask: Hobe, Emil Lasks Rechtsphilosophie, ARSP LIX (1973), 221 ff.). 8 Instruktive zeitgenössische Übersicht über die Bestrebungen der Rechtsphilosophie um 1900 bei Münch, Die wissenschaftliche Rechtsphilosophie der Gegenwart in Deutschland, in: Beitr. zur Phil des dt. Idealismus I, 95 ff.; vgl. auch Berolzheimer, System II, 322 ff. und ders., Die Deutsche Rechtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert (1900 bis 1906), ARWP I (1907 / 08), 130 ff.; Pound, The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, HLR
Einleitung
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hen eines philosophischen Zeitalters beschworen. Der Rechtsphilosoph, Herausgeber und Publizist Friedrich Berolzheimer (1869 – 1920), der sich sowohl auf organisatorischem Gebiet als auch inhaltlich der Neubegründung einer Rechtsphilosophie mit großem Engagement widmete, konstatierte in diesem Zusammenhang eine „gewisse Ernüchterung gegenüber den Ergebnissen der rein im Erfahrungsboden wurzelnden und ausschließlich darauf stehenden Wissenschaft“ und sprach von der „Sehnsucht nach einer neuen Weltanschauung, die alle Ergebnisse der Erfahrungswissenschaft in sich aufnehmen würde und doch darüber hinauszuführen vermöchte“.9 Seinen Weg verstand er als „Realidealismus“, insofern sein theoretischer Ausgangspunkt nicht das System, sondern die Wirklichkeit sein sollte. Neben dem Versuch Merkels, die rechtsphilosophische Arbeit auf rechtssystematische und empirische Untersuchungen zu reduzieren, standen also auf der anderen Seite Bemühungen, die Ergebnisse der Wissenschaften in eine philosophische Betrachtung zu überführen, die über das Tatsächliche hinausweisen sollte.10 War dieser um eine weltanschauliche Verankerung bemühte Ansatz auch nur ein Versuch unter vielen, so ist doch bemerkenswert, daß jetzt von mehreren Seiten eine rechtsphilosophische Betrachtung für unentbehrlich gehalten wurde. Die Gründe dafür sind nicht zuletzt in den kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen zu sehen, die auch die grundlegenden rechtlichen Strukturen berührten und einen Modernisierungsdruck erzeugten, der die Rechtswissenschaft mit neuen Anforderungen konfrontierte. Dabei gaben die erheblichen Neuerungen im wissenschaftlichen und technischen Bereich einerseits Anlaß zur Zuversicht in eine fortschreitende Entwicklung der Menschheit und forderten eine angemessene Reaktion des Rechts, weshalb die Frage nach dem Verhältnis des Rechts zu den tatsächlichen, im besonderen den wirtschaftlichen Verhältnissen aufgeworfen wurde. Andererseits verstärkte sich allgemein das Unbehagen gegenüber der liberalistischen Annahme, die Gewährleistung formaler Freiheit und Gleichbehandlung werde zu einer gerechten sozialen Ordnung führen, und zwang angesichts der sozialen Frage zu einer überdachten gesellschaftspolitischen Stellungnahme, deren gerechtigkeitstheoretische Grundlagen es zu erarbeiten galt. Die neu zu etablierende Rechtsphilosophie sollte daher aus der Sicht Berolzheimers und des Rechtswissenschaftlers und Rechtsphilosophen Josef Kohler (1849 – 1919) die Grundlage dafür bilden, um den sozialen und wirtschaftlichen FortschritXXIV (1911), 591 ff.; HLR XXV (1912) 140 ff., 489 ff.; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 183 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts III, 281 ff.; Klenner, Rechtsphilosophie im Kaiserreich, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 11 ff. und ders., Die herrschend werdende bürgerliche Rechtsphilosophie. Niederlage, Sieg und Pluralität, in: ders., Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert, 200 ff. 9 Berolzheimer, System II, 15; ders., Deutschland von heute, 48. 10 Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 120 ff., zu den beiden Phänomenen „Philosophie als Wissenschaft“ und „Wissenschaft als Philosophie“. Zu den Versuchen einer wissenschaftlichen Philosophie vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 388 ff.
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Einleitung
ten im Bereich der Gesetzgebung verstärkt Rechnung zu tragen. Ganz praktische Fragen wie der gewerbliche Rechtsschutz, die Zulässigkeit des Boykotts, der Trustbildungen und Kartelle, der Tarifverträge, von Privatwirtschaft und Staatssozialismus sowie sozialen Reformen stellten klärungsbedürftige Aufgaben dar, die nach ihrer Auffassung einer philosophischen Grundlegung bedurften.11 Berolzheimer sah in den rechtspolitischen Maßnahmen die Umsetzung der rechtsphilosophischen Programme und maß der Zuarbeit in Gesetzgebungsfragen bedeutendes Gewicht bei. Zur Rehabilitierung der Rechtsphilosophie gründeten er und Kohler 1907 mit dem „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ den Vorläufer des im Bereich der Rechtsphilosophie noch heute maßgeblichen „Archivs für Rechtsund Sozialphilosophie“ und zwei Jahre später die nach wie vor bestehende „Internationale Vereinigung für Rechtsphilosophie“ (IVR).12 Mit dieser Gründung sollte schließlich auch interdisziplinäres Arbeiten gefördert werden, um auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiet Kräfte zu bündeln und neue, übergeordnete Standpunkte zur Bewältigung der zukünftigen rechtspolitischen Herausforderungen zu finden.13
11 Kohler, Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP VIII (1914 / 15), 49; ders., Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, 23 f.; Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 507; ders., Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19. 12 Zu den Gründungsmitgliedern zählten u. a. Schuppe, Zitelmann, Pound und Tönnies. Zur Geschichte des Archivs vgl. Sprenger, Das Archiv für Rechts- und Sozial(Wirtschafts-) philosophie als ,Zeit‘-schrift des Rechtsdenkens 1907 – 1987, ARSP LXXIII (1987), 1 ff.; Mollnau (Hg.), Die Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie und ihre Zeitschrift: Bibliographie, Statuten, Wirkungsgeschichtliches, ARSP-Beiheft 38 (1989). An dieser Stelle ist anzumerken, daß Berolzheimers und Kohlers Bemühungen zur Neubegründung einer Rechtsphilosophie interessanterweise auch in Amerika wahrgenommen wurden. Denn noch vor dem ersten Weltkrieg sind im Zuge der Bemühungen eines Komitees der amerikanischen Law Schools um eine Wiederbelebung der Rechtsphilosophie unter anderem Berolzheimers „System II“ (The World’s Legal Philosophies, 1912) und Kohlers „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ (Philosophy of Law, 1914) ins Englische übersetzt worden. Das Komitee versprach sich davon eine Neuorientierung für die amerikanische Rechtsphilosophie. Auch Stammlers Werk „Die Lehre von dem richtigen Rechte“ wurde in diese Reihe aufgenommen (The Theory of Justice), allerdings erst 1925. 13 Geleiterklärung der Herausgeber Kohler und Berolzheimer, ARWP I (1907 / 08). In diese Richtung weisen auch die gemeinsam mit Liszt unternommenen Gründungsversuche eines Instituts für Rechtsphilosophie und soziologische Forschung (vgl. ARWP IV (1910 / 11), 190 ff.). Berolzheimers und Kohlers Bemühen ging in den nächsten Jahren dahin, der philosophischen, soziologischen, rechtsethnologischen und vergleichenden Forschung – auch über die nationalen Grenzen hinaus – ein Forum zu schaffen, das mit seinen Ergebnissen nicht im rein akademischen Bereich verbleiben sollte, sondern mit dem Verweis auf die Vorbereitung von Gesetzgebungsfragen im Untertitel des Archivs Anspruch auf praktische Gestaltung erhob, der durch zahlreiche Beiträge zur aktuellen Gesetzgebung in einer eigenen Rubrik eingelöst werden sollte. Diese Tendenz wird dem Betreiben Berolzheimers zugesprochen, ebenso wie die Aufnahme der Wirtschaftsphilosophie in den Titel des Archivs (so der Sohn Josef Kohlers, Arthur Kohler, Von der Wiege des Archivs, ARWP XXIV (1930 / 31), 5); dazu auch Mollnau, Eine Liaison zwischen Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, in: ARSPBeiheft 43 (1991), 109 ff.
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Die Rahmenbedingungen waren allerdings schwierig. Das Bemühen um die Formulierung einer rechtsphilosophischen Aufgabe stieß auf enorme wissenschaftliche und weltanschauliche Vorbehalte, die die Berechtigung und die Möglichkeit eines solchen Engagements betrafen. Die Überzeugung des historischen Materialismus, wonach alle geistigen Prozesse und also auch Recht und Gerechtigkeit lediglich Reflexe der ökonomischen Verhältnisse sind, bedeutete natürlich einen Angriff auf die Existenz der Rechtsphilosophie, so daß diese auf der einen Seite bestrebt sein mußte, die Eigenständigkeit der Rechtsidee zu rechtfertigen. Desgleichen stellte der naturwissenschaftliche Materialismus den autonomen Status der Ideen als geistiger Produkte in Frage und erschwerte die Formulierung einer rechtsphilosophischen Aufgabe. Denn durch die Vorstellung, alle Prozesse – natürliche wie geistige – seien Ausdruck der Bewegungen der Materie, wurde eben der autonome Bereich der Gerechtigkeit angefochten. Auf der anderen Seite konnte die neu zu etablierende Rechtsphilosophie das naturwissenschaftliche Forschungsparadigma freilich nicht ignorieren und sich auf einen reinen Idealismus stützen; sie sah sich gezwungen, gerade die Erkenntnisse der modernen empirischen Wissenschaften wie etwa der Psychologie und der Soziologie zur Kenntnis zu nehmen und Wege zu finden, um die Kluft zwischen natürlicher und normativ-idealer Welt zu vermitteln. In besonderer Weise ergab sich in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, den Standort der Rechtswissenschaft im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften und die Möglichkeiten und Aufgaben einer Rechtsphilosophie zu bestimmen. Die Formulierung einer erneuerten, genuin rechtsphilosophischen Aufgabenstellung fand allerdings nachdrücklich in Opposition zu dem traditionellen Naturrecht statt. Nun sollte es nicht mehr darum gehen, dem positiven Recht ein ideales gegenüberzustellen. Positionen, wie die des Moralphilosophen und Jesuiten Viktor Cathrein (1845 – 1931), der sich nach wie vor um die Rechtfertigung einer sich aus der Natur des Menschen ergebenden und dem völligen Wandel entzogenen Rechtsordnung bemühte, blieben Ausnahmeerscheinungen.14 Vielmehr richteten sich die Bemühungen in unterschiedlicher Weise darauf, dem Recht und seinem Entwicklungsgang selbst einen Maßstab zu entnehmen, indem deren immanente Strukturen und Inhalte ergründet werden sollten. Bereits Merkel und der Rechtspositivist Karl Bergbohm (1849 – 1927) hatten sich vor dem Hintergrund des empirischen Wissenschaftsverständnisses gegen eine „dualistische Rechtsbetrachtung“ ausgesprochen. Während Bergbohm damit eine radikale Beschränkung auf den positiven Rechtsstoff verband, setzte sich Merkel neben der formalen Betrachtung für eine materielle Rechtsphilosophie ein, die es 14 „Ohne Naturrecht ist eine Rechtsphilosophie, die diesen Namen verdiente, ein Ding der Unmöglichkeit.“ (Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Recht, 180) Überzeitlich gültige und unwandelbare Rechtssätze (jedem das Seine, niemandem Unrecht tun) bilde jeder Mensch aufgrund seiner Vernunft unwillkürlich und unterscheide danach Recht von Unrecht. Das sei „die notwendige Aussteuer und Wiegengabe der menschlichen Natur“ (ebd., 67, vgl. auch 41 ff., 66 f., 222 ff.).
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zur Aufgabe habe, die gesellschaftlichen Wirkungen auf das Recht zu untersuchen.15 An diese Forderung knüpften auch die neuen Entwürfe der Rechtsphilosophen Stammler und Berolzheimer an, indem sie Abstand von der Formulierung eines dem geltenden Recht gegenüberstehenden und ihm vorgehenden Bestandes von materialen Rechtssätzen nahmen. Anders als Merkel hielten sie jedoch an dem Ziel der naturrechtlichen Lehren, der Vermittlung der Gerechtigkeit, fest. Es ging ihnen nicht nur um die empirische Klarstellung des Bezugssystems des Rechts, sondern um die Feststellung seines Gerechtigkeitsgehaltes. So erkannte Stammler neben dem positiven kein inhaltliches ideales Recht an; „richtiges Recht“ war nach seiner Auffassung das positive Recht, sofern es der Rechtsidee als einer dem Recht immanenten kritisch-formalen Betrachtung entsprach. Desgleichen betonte Berolzheimer, man sei im Unterschied zu den klassischen naturrechtlichen Bemühungen nunmehr auf eine dem positiven Recht inhärente Begründung des Gerechten verwiesen und strebe nicht länger die Formulierung eines übergeordneten, idealen Rechts an.16 Nachdem die Suche nach inhaltlichen, überzeitlich geltenden Rechtssätzen aufgegeben war, stellte sich die Frage, ob in dem steten Wandel überhaupt irgendwelche allgemeinen Prinzipien Geltung beanspruchen könnten. Dabei waren auch hier die Wege wesentlich durch die Positionen Kants und Hegels vorgezeichnet, die im rechtsphilosophischen Kontext um die Jahrhundertwende, reduziert auf die pointierte Gegenüberstellung zwischen geschichtsphilosophisch und erkenntniskritisch geprägter Vorgehensweise, nachwirkten. Stammler hatte aus neukantianischer Perspektive eine Lösung des Gerechtigkeitsproblems auf erkenntniskritischer Grundlage vorgeschlagen und war mit diesem Konzept gegenüber dem alten Naturrecht, der empirischen Rechtstheorie sowie der materialistischen Geschichtsauffassung angetreten. Ihm ging es dabei nicht um die Gewinnung materialer Richtigkeitsgrundsätze, denn er sah keine Möglichkeit, einen Rechtsinhalt als allgemeingültig zu erweisen17, sondern um die Hervorbringung einer formalen Methode zur Beurteilung von Rechtssätzen und ein „Naturrecht mit wechselndem Inhalte“18. Gerade Stammlers formale Begründung stieß jedoch auf breite Ablehnung. Bemängelt wurden die Ungeschichtlichkeit und Abstraktheit der Theorie, das Fehlen inhaltlicher Kriterien, die Stammler mit seiner Orientierung an der erkenntniskritischen Vorgehensweise der Rechtsphilosophie versage, und es war die Rede von einem leblosen Formalismus.19 Im Unterschied zu Stammler ging Berolzheimer 15 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 118; Merkel, Besprechung von Bergbohm, Ges. Abhdlg. II 2, 732 f. 16 Berolzheimer, System II, 17: „Die moderne Rechtsphilosophie erkennt an, daß es nur ein Recht, das positive, gibt, sucht aber in diesem und an diesem die ideale Seite, die unvergängliche Idee.“ 17 Stammler, Wirtschaft und Recht, 173. 18 Stammler, Wirtschaft und Recht, 174 (im Orig. teilw. gesperrt). 19 Berolzheimer beispielsweise warf Stammler vor, sein Werk „Theorie der Rechtswissenschaft“ stelle eine „Rechtswissenschaft der Theorie“ dar (Berolzheimer, ARWP V (1911 / 12),
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davon aus, daß das Moment des Gerechten aus dem positiven Recht und seiner Entwicklung festzustellen sei, und Kohler behauptete in polemischer Wendung gegen den erkenntniskritischen Ansatz Stammlers, die einzig mögliche „aprioristische“ Bestimmung des Rechts liege in seiner Kulturbezogenheit20, womit ein gänzlich anderes Verständnis eines „richtigen Rechts“ vorgetragen wurde. In Ablehnung der Argumentationsrichtung Stammlers wurde daher von Autoren wie Kohler, Berolzheimer und dem Strafrechtler Franz v. Liszt (1851 – 1919) im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Rechtsgestaltung der Entwicklungsgedanke in den Vordergrund gestellt. Er schien geeignet, die Erfahrung der beschleunigten geschichtlichen und gesellschaftlichen Dynamik zu bewältigen, und wurde so zu einem Schlüsselbegriff, der die Kulturabhängigkeit des Rechts und seine historische Relativität nach Auffassung vieler Zeitgenossen überzeugend zu verarbeiten und darzustellen vermochte. Die Entwicklungsvorstellung sollte schließlich dazu beitragen, im Gegensatz zu Stammler nicht nur formale, sondern inhaltliche Maßstäbe für das Recht zu erarbeiten. Aus dem Spektrum der um 1900 bestehenden rechtsphilosophischen Konzepte werden in der vorliegenden Untersuchung jene Ansätze vorgestellt, die hierbei die Frage nach dem „richtigen Recht“ aufwerfen und sich in ihrer Theoriebildung an dem Entwicklungsgedanken als normativem Bezugspunkt orientieren. Dabei wird zur gedanklichen Einordnung auch auf Autoren zurückgegriffen, die zeitlich früher einzuordnen sind, deren Überlegungen aber wesentliche Aspekte zur Diskussion beitragen. Neben naturwissenschaftlich geprägten Konzepten, die sich mit den Namen Merkels und Liszts verbinden, wird insbesondere das idealistische Entwicklungsdenken Kohlers und Berolzheimers Berücksichtigung finden. In der jeweiligen Entwicklungskonzeption kristallisieren sich die unterschiedlichen Anschauungen über die Funktionsweise sozialen und rechtlichen Wandels, die Bedeutung des Rechts und den Status der Gerechtigkeit. In einer ersten Annäherung soll im ersten Kapitel die Frage eines Maßstabs für das Recht exemplarisch anhand der sozialen Frage dargestellt werden. Dabei werden auch die Auswirkungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen auf die Einschätzung der Funktion des Rechts gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen behandelt werden. Die unterschiedliche Auseinandersetzung Stammlers und Berolzheimers mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und der marxistischen Rechtskritik bildet die Plattform, um ihre verschiedenen An311 ff.); er bemängelte, sie sei „gleich dem verflossenen Naturrecht wesentlich deduktiv, unhistorisch“ (ders., Deutschland von heute, 108). In gleicher Richtung bekräftigte Kohler (Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 16), Stammlers Versuche bedeuteten einen Rückschritt von dem geschichtlichen Hegel zum geschichtslosen Naturrechtler Kant. Auch M. E. Mayer (Rechtsphilosophie, 21) wandte sich gegen die methodische Grundlegung Stammlers: Das Problem der Wertlehre könne nicht erkenntniskritisch bewältigt werden, sondern nur kulturphilosophisch. 20 Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 505; vgl. auch Berolzheimer, System III, 96. 2 Stier
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sätze zur Verteidigung der Rechtsidee gegenüber der materialistischen Auffassung einzuführen. Im Anschluß daran sollen in einem zweiten Kapitel die verschiedenen Versuche dargestellt werden, der Entwicklungsbetrachtung Kriterien für die Rechtsgestaltung zu entnehmen. In einem dritten vertiefenden Kapitel wird die Bedeutung, die den individuellen und allgemeinen Rechtsanschauungen in den vorgestellten Ansätzen für eine Theorie des Rechts zukommt, untersucht.
Kapitel I
Recht, Wirtschaft und Rechtsidee – Das „richtige Recht“ bei Stammler I. Die zunehmende Bedeutung der Wirtschaft und das Problem der sozialen Frage Das Bedürfnis, das Verhältnis des Rechts zur Wirtschaft einer klärenden Untersuchung zu unterziehen, entspricht dem gestiegenen Stellenwert, den wirtschaftliche Zusammenhänge für die gesellschaftliche Entwicklung im Laufe des 19. Jahrhunderts hatten.1 Die herausragende Bedeutung der wirtschaftlichen Verhältnisse für alle übrigen Bereiche der Gesellschaft und Kultur in diesem Zeitraum hat Sombart dazu veranlaßt, vom „ökonomischen Zeitalter“ zu sprechen.2 Die Beziehungen zwischen Rechts- und Wirtschaftsordnung wurden im Zuge der Industrialisierung von zunehmender Wichtigkeit, zumal es zu erheblichen gesetzgeberischen Maßnahmen und Veränderungen auf diesem Gebiet kam.3 Nach Auflösung der alten Sozial- und Wirtschaftsverfassung mit ihren Zunftschranken und Agrarordnungen kam nun dem Privatrecht die Aufgabe zu, die Regelung der Wirtschaft zu übernehmen und vor allem ein Verkehrsrecht aufzubauen.4 Mit dem Eisenbahnbau um die Jahrhundertmitte begann die Industrialisierung, die Entwicklung der deutschen Stahlindustrie und des Kohlebergbaus setzte ein, in den 60er und 70er Jahren folgten die chemische Industrie und in den 80er Jahren die Elektroindustrie.5 1 Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 ff.; ders., Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ebd., 55 ff.; Coing, Rechtsentwicklung und Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert als Fragestellung für die Rechtsgeschichte, in: Böhm-FS, 101 ff.; Benöhr, Wirtschaftsliberalismus und Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts, ZfA 8 (1977), 187 ff.; Ullmann, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 95 ff. 2 So der Titel eines Abdrucks (1937) aus dem Werk „Deutscher Sozialismus“. 3 Sombart unterschied drei Arten von Maßnahmen der liberalen Gesetzgebung: Befreiungen, Sicherungen des Verkehrs und positive Förderung der kapitalistischen Interessen (Der moderne Kapitalismus III 1, 52 ff.). 4 Coing, Rechtsentwicklung und Wirtschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert als Fragestellung für die Rechtsgeschichte, in: Böhm-FS, 107. 5 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III, 66 ff., 613 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918 I, 226 ff.; Pohl, Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft (1830 – 1880), in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert II (Hg. Coing / Wilhelm), 1 ff.
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
Rechtlich schlug sich diese Entwicklung in der Einführung verschiedener Unternehmensformen nieder.6 Parallel dazu entwickelte sich seit den 70er Jahren das Bankenwesen. Der erhebliche Kapitalbedarf verlangte nach neuen Instrumenten der Kreditgewinnung wie der Mobilisierung des Realkredits, kurzfristigen Wechselkrediten und der Kommerzialisierung der Schuldtitel.7 Anstelle des alten Gesinderechts mußte eine Arbeitsverfassung aufgebaut werden. Unternehmenswettbewerb und Arbeitskampf warfen die Problematik der Koalition auf.8 Diese ökonomischen und rechtlichen Entwicklungen und die starke Bevölkerungszunahme lösten einschneidende Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung aus, in deren Folge als zentrales sozialpolitisches Problem die soziale Frage entstand.9 Die grundlegende liberalistische Annahme von der Vertragsgleichheit erwies sich in der Wirklichkeit vielfach als Fiktion und soziale Gerechtigkeit durch die liberale Rechtsauffassung als nicht zu gewährleisten.10 Mit der damit verbundenen Frage nach sozialer Verteilungsgerechtigkeit geriet auch die Rechtfertigung der richtigen Eigentumsordnung in den Brennpunkt. Durch die theoretische Arbeit der Nationalökonomie als eigenständiger Disziplin hatte sich die Vorstellung von der eigendynamischen Entwicklung wirtschaftlicher Verhältnisse verstärkt. Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Wirtschaft stellte sich entsprechend als Frage nach dem Rangverhältnis dieser beiden 6 Zur Entwicklung der wirtschaftlichen Gesetzgebung in diesem Zeitraum vgl. Benöhr, Wirtschaftsliberalismus und Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts, ZfA 8 (1977), 213 ff.; zur weiteren Entwicklung in der Weimarer Zeit vgl. Nörr, Zwischen den Mühlsteinen. Kurzer Überblick der gesetzlichen Maßnahmen bei Löwisch / v. Langsdorff, Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Wirtschafts-, Unternehmens- und Arbeitsrecht seit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, JuS 1973, 9 ff. 7 Wieacker, Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 56 f. 8 Wieacker, Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 56. 9 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III, 908 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918 I, 335 ff.; Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 41 ff., 95 ff., 105 ff.; Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 10 Unter diesem Aspekt ist die Konzeption des BGB insbesondere von v. Gierke (Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, 1888 / 89) und A. Menger (Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen, 1890) einer Kritik unterzogen worden. A. Menger machte zu einem Teil die politische Einseitigkeit der Juristen für die sozialen Gegensätze verantwortlich, die zu einer zunehmenden Scheidung der Bürger in zwei Lager führe. Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 456 f. Zur Diskussion über den Arbeitsvertrag vgl. Teuteberg, Die Doktrin des ökonomischen Liberalismus und ihre Gegner, dargestellt an der prinzipiellen Erörterung des Arbeitsvertrages im ‘Verein für Socialpolitik’ (1872 – 1905), in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert II (Hg. Coing / Wilhelm), 51 ff.; Haney, Soziologische Rechtswissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 39 ff. Zur Kartellrechtsfrage vgl. Grossfeld, Zur Kartellrechtsdiskussion vor dem Ersten Weltkrieg, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert IV (Hg. Coing / Wilhelm), 255 ff.; Gerber, Law and Economics in Wilhelmine Germany, in: Landau-FS, 869 ff.
I. Die zunehmende Bedeutung der Wirtschaft
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Faktoren. Der Vorstellung, eine rechtliche Ordnung sei Voraussetzung für wirtschaftliche Abläufe und steuere das ökonomische Geschehen wesentlich, stand die Ansicht gegenüber, das Recht schaffe nicht erst die Mechanismen der Wirtschaft, sondern reagiere auf ein eigenständiges ökonomisches System. Dieses beruhe auf unabhängig von der Rechtsordnung geltenden wirtschaftlichen Gesetzen, natürlichen psychologischen Antrieben und rationalen Prinzipien, die die am wirtschaftlichen Prozeß Beteiligten beobachteten. Letztes Ordnungsprinzip sei damit nicht das Recht, sondern die Konkurrenz. Aus dieser Auffassung ergaben sich unterschiedliche Konsequenzen für das Recht mit unterschiedlichen sozialpolitischen Auswirkungen. Sofern einesteils angenommen wurde, der freie Lauf der wirtschaftlichen Kräfte werde eine gerechte Ordnung generieren und stabile gesellschaftliche Zustände herbeiführen, wurde daraus abgeleitet, daß das Recht sich nach den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu richten habe und es unvernünftig oder gar schädlich wäre, sich ihnen entgegenzustellen. Grundlage dieser Haltung war nicht selten eine bestimmte Vorstellung von Evolution und Selektion, von geschichtlichem und naturgesetzlichem Wandel. Die Rechtsordnung bildet dabei nur den Rahmen für die wirtschaftlichen Prozesse und kann allenfalls dazu dienen, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, unproduktive Reibungen zu verhindern.11 Dies war der Standpunkt des wirtschaftlichen Liberalismus, der bis in die 70er Jahre das bestimmende Leitbild war.12 Gerechtigkeit und Wohlstand sollten sich nach den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft von selbst auf der Grundlage individueller Freiheitsausübung einstellen.13 Erst in den letzten Jahr11 Eine Haltung, die auch in dem folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: „Die Industrie, meine Herren, ist der Bauherr, der Jurist ist der Architekt; wir kommen zu ihm und zeigen ihm, daß es bei uns reinregnet und verlangen von ihm Abhilfe. Wie dies nun geschieht, ist seine Sache.“ (H. Caro, Direktor der Badischen Anilin- und Sodafabrik, bei den Verhandlungen der Enquete in betreff die Revision des Patentgesetzes vom 25.III.1887, zitiert nach Mollnau, Eine Liaison zwischen Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 112). 12 Vgl. Benöhr, Wirtschaftsliberalismus und Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts, ZfA 8 (1977), 190 ff. 13 Nach Grimm ist es daher zu einer Trennung von Staat und Gesellschaft gekommen. Dem Privatrecht sei die Aufgabe zugekommen, die Freiheitssphären zu organisieren, während das öffentliche Recht zum Garanten des Rechtsschutzes geworden sei. Da allerdings die materiellen Grundlagen durch die liberale Rechtsordnung nicht gewährleistet worden seien und die Selbststeuerungsmechanismen der Gesellschaft versagt hätten, sei die formale Geltung der Freiheit materiell in ihr Gegenteil umgeschlagen, so daß es nicht zum gerechten Interessenausgleich, sondern zur Klassenspaltung gekommen sei (Grimm, Bürgerlichkeit im Recht, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Hg. J. Kocka), 181). In der Folge sei es daher zu einer Aufwertung des öffentlichen Rechts und wohlfahrtsstaatlichen Korrekturen gekommen (ebd., 184, 186). Landau richtet sich zum Teil gegen die Ausführungen Grimms (Kommentar (zu Dieter Grimm), ebd., 189 ff.): Nach seiner Auffassung ist es in der deutschen Tradition bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft nie zu einem Verschwinden der Definitionskompetenz des Staates für das Gemeinwohl gekommen. Weiterhin könne man das Privatrecht des 19. Jahrhunderts zwar als formales und abstraktes Recht umschreiben. „Es muß aber betont werden, daß dieses auf der Grundfigur des subjektiven Rechts beruhende Privatrechtssystem der Entfaltung der Persön-
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
zehnten des 19. Jahrhunderts wurde die klassisch-liberale nationalökonomische Theorie relativiert und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Staatsintervention erhoben.14 Die Vorstellung eines eigendynamischen wirtschaftlichen Ablaufs lag – abgesehen von dieser optimistischen Sichtweise – aber auch dem historischen Materialismus zugrunde, nach dessen Deutung das kapitalistische Wirtschaftssystem allerdings in der weiteren Entwicklung dazu verurteilt ist, an seinen eigenen Mechanismen zugrunde zu gehen und durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung ersetzt zu werden. Die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkende pessimistische Diagnose, die Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Systems leite Prozesse ein, die den menschlichen Zwecken widersprächen und einer gerechten sozialen Ordnung zuwiderliefen, war der Anlaß für unterschiedliche Bestrebungen, den wirtschaftlichen Prozeß einer äußeren Kontrolle zu unterwerfen. Dies ist auch die Überzeugung, die in unterschiedlicher Radikalität und mit unterschiedlichen Beweggründen in der paternalistischen Sozialpolitik Bismarcks, den Bestrebungen der sogenannten Kathedersozialisten im „Verein für Socialpolitik“ und der auf Emanzipation ausgerichteten Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommt.15 Daß die soziale Frage und die sozialistischen Ideen eine erhebliche Herausforderung für die bestehende politische Ordnung bildeten, wurde immer deutlicher und führte zu Bestrebungen, diese Forderungen mit den bestehenden politischen Kräften zu harmonisieren und der Gefahr einer gesellschaftlichen Umwälzung durch Reformmaßnahmen entgegenzuwirken. Allerdings war dies heftig umstritten. Im Bereich der Nationalökonomie standen die Befürworter einer ethisch gebotenen, staatlichen Intervention den Vertretern einer liberalen Wirtschaftspolitik gegen-
lichkeit des einzelnen dienen sollte, die zumindest zunächst in einer christlich-idealistischen Tradition verstanden wurde.“ (ebd. 192) Zur Trennung von Staat und Gesellschaft auch Zöpel, Ökonomie und Recht, 141 ff. 14 Der Nationalökonom und Hauptvertreter der jüngeren Historischen Schule Gustav v. Schmoller (1838 – 1917) wandte sich gegen die klassische nationalökonomische Theorie, deren abstrakt theoretisches Vorgehen er als wirklichkeitsfremde Konstruktion ablehnte. Winkel sieht daher die „große Bedeutung des Historismus [lag] in der Beleuchtung der Schattenseiten des Kapitalismus, in einem neuen Ansatz der in Dogmatismus festgefahrenen nationalökonomischen Wissenschaft, in seiner Forderung nach einer wirklichkeitsnahen Theorie, in seinem Bestreben, den Mensch als tragendes Element der Gesellschaft mit allen seinen Schwächen zu berücksichtigen und nicht einem abstrakten, rationalen Schematismus zu opfern. Er geriet dabei in die Gefahr, eine teleologische Wissenschaft zu werden, Werturteile zu setzen, Politik und Wissenschaft zu verschmelzen.“ (Winkel, Der Umschwung der wirtschaftswissenschaftlichen Auffassungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert IV (Hg. Coing / Wilhelm), 18). Vgl. auch Benöhr, Wirtschaftsliberalismus und Gesetzgebung am Ende des 19. Jahrhunderts, ZfA 8 (1977), 197 ff. 15 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte III, 907 ff., 1086 ff.; Ullmann, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 178 ff.; Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 108 ff. Zum „Verein für Socialpolitik“ (1872) vgl. Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik; Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872 – 1890.
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
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über.16 Die zentrale Schwierigkeit bestand nun darin, ob und auf welcher Grundlage sich derartige Eingriffe in die gesellschaftlichen Zustände vor dem Hintergrund eines empirischen Wissenschaftsverständnisses rechtfertigen und sozialpolitische Maßnahmen wissenschaftlich begründen ließen.
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie – Die Bedeutung von Sozialethik und Humanitätsidee (Berolzheimer) 1. Sozialer Wandel und politische Ordnung – Die Forderung nach einem „neuständischen Klassenstaat“ Das beschriebene Problembewußtsein spiegelt sich paradigmatisch in den Ausführungen Berolzheimers17 wider, die in vieler Hinsicht als durchaus typischer 16 Zur Auseinandersetzung in der Nationalökonomie über die Frage, inwiefern der historischen Entwicklung Vorgaben für eine Sozialpolitik zu entnehmen sind: Aldenhoff, Nationalökonomie und Kulturwerte um 1900, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 (Hg. Bruch / Graf / Hübinger), 49 ff. Habe nach der Reichsgründung im Hinblick auf die ethischen Ziele einer sozialen Reform unter den verschiedenen Gruppierungen überwiegend Einigkeit bestanden, so sei dieser Konsens seit den 1890er Jahren zunehmend in Frage gestellt und die Position der Historischen Schule der Nationalökonomie abgelehnt worden, wonach aus der volkswirtschaftlichen Betrachtung sozialpolitische Prinzipien ableitbar seien (ebd., 45). Dazu auch Nereu, Werturteil, Politik und Wirtschaft, 16 ff. Bereits aus Anlaß der Gründung des „Vereins für Socialpolitik“ 1872 entwickelte sich zwischen dem Historiker Heinrich v. Treitschke (Der Sozialismus und seine Gönner, 1874 – mit „Gönnern“ waren die Mitglieder des Vereins gemeint) und dem Nationalökonomen Schmoller (Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Heinrich von Treitschke, 1875) eine Kontroverse über die grundlegende Frage, ob die Ungleichheit der Menschen eine Naturtatsache oder Ergebnis der kulturellen Bedingungen sei, und die Notwendigkeit staatlicher sozialpolitischer Maßnahmen. 17 Berolzheimer, geb. 1869 in Fürth, jüdischer Herkunft, studierte ab 1887 an den Universitäten Erlangen, München und Berlin. 1891 promovierte er an der Universität Erlangen über „Die Entschädigung unschuldig Verurteilter und Verhafteter“ und war dann von 1894 bis 1901 in Fürth und München als Anwalt tätig. Er war mittlerweile zur evangelischen Konfession übergetreten, angeblich, um eine Frau aus sehr guter Familie heiraten zu können, was sich aber zerschlug (Sigilla Veri, Ph. Stauff’s Semi-Kürschner, 367). Der Versuch, sich 1902 in München an der Ludwig-Maximilians-Universität mit der Schrift über „Die Entgeltung im Strafrechte“ (1903) zu habilitieren, scheiterte am Widerstand der Fakultät, die aufgrund einer gegen ihn erhobenen Anklage wegen des Vorwurfs des Vergehens wider die Sittlichkeit nach § 175 RStGB Berolzheimer fehlende „sittliche Intaktheit“ vorwarf und daher eine Begutachtung seiner Arbeit von vornherein ablehnte (Abschrift des Schreibens des kgl. bay. Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten an den Senat der kgl. Universität München vom 20. Januar 1903; Universitätsarchiv LMU München), obwohl das Gerichtsverfahren gar nicht eröffnet worden war (Personalakt Dr. Fritz Berolzheimer, „Acta des koeniglichen Staatsministeriums der Justiz“ [1894 / 13], Bayerisches Hauptstaatsarchiv MJU 20378). In der Zeit von 1904 – 1907 brachte Berolzheimer sein Hauptwerk, das fünfbändige „System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ heraus. Während dieser Zeit traf er Josef Kohler, mit dessen Hilfe er nach Berlin übersiedeln konnte, wo er als Redakteur und
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
Versuch einer nicht sozialistisch motivierten, vielmehr systemstabilisierenden sozialpolitischen Intervention angesehen werden können.18 Berolzheimers Anliegen ging dahin, die von ihm als berechtigt angesehenen Arbeiterinteressen zu unterstützen, gleichzeitig war er bestrebt, dem weiteren Vordringen sozialdemokratischer Bestrebungen auf politischer Ebene entgegenzuwirken. Berolzheimer sah sich aufgrund seiner Forschungen zu einer wertenden Stellungnahme veranlaßt19 und wollte der Freiheitsidee im Recht gegen jegliche Ausbeutung zum Durchbruch verhelfen; er zeigte sich jedoch gleichzeitig besorgt im Hinblick auf eine Überbetonung der Interessen der Arbeiterschaft, die er mit dem um sich greifenden Begriff der „Sozialethik“ identifizierte und von denen er erwartete, daß sie die übrigen im Staat vorhandenen Interessengruppen verdrängen würden.20 Dem lag die Diagnose zugrunde, daß der Großteil der bürgerlich liberalen Bevölkerung im Gegensatz zu der Arbeiterschaft politisch indifferent sei und wenig Engagement für Syndikus bei einem Verlag tätig war (so Arthur Kohler, Von der Wiege des Archivs, ARWP XXIV (1930 / 31), 5). In Berlin widmete er sich der Herausgabe des „Archivs für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ und des „Handbuchs für Politik“, das seit 1912 / 13 in mehreren Auflagen erschien. Mit wissenschaftlichen Arbeiten trat er ab 1907 hauptsächlich im Archiv hervor, veröffentlichte jedoch zwei eher populärwissenschaftliche Werke (Deutschland von heute, 1909; Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, 1914), in denen er sich mit der zeitgenössischen politischen und kulturellen Lage Deutschlands befaßte und seine früher entwickelten Standpunkte aufgriff. Ein Jahr nach Kohlers Tod verstarb auch Berolzheimer 1920 in Berlin (zu Berolzheimer: G. Lasson, Fritz Berolzheimer, ARWP XIV (1920 / 21), 238 ff.; P. Klein, Todesanzeige, ARWP XIV (1920 / 21); Mezger, Berolzheimer, Friedrich, in: NDB Bd. 2, 146 f.; Lotze / Schier, Fritz Berolzheimer und das ARSP, ARSP LXXIII (1987), 15 ff.; Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (Hg. Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis), 173 f.; Sellnow, Gesellschaft – Staat – Recht, 713 ff.). 18 Zwar ordnete Berolzheimer selbst seine politischen Ansichten keiner Parteirichtung zu, er sah aber gute Ansätze in den Bemühungen der national-sozialen Partei (System III, Vorwort, S. VI), und es finden sich bei ihm in der Tat Übereinstimmungen mit deren Programm im Hinblick auf die Versöhnung der Arbeiterinteressen mit der Monarchie und die Hervorhebung einer starken außenpolitischen Position. Der national-soziale Verein war 1896 von dem Politiker und Sozialreformer Friedrich Naumann (1860 – 1919) gegründet worden. Naumann unternahm den Versuch, liberale Wirtschaftsordnung und Arbeiterinteressen, Kapitalismus und Sozialismus zu verbinden. Er betrachtete beide Phänomene als unausweichliche Erscheinungen innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung und war bestrebt, die Arbeiterinteressen in die bestehende monarchische Gesellschaftsordnung zu integrieren. Im industriellen Fortschritt, den er durch eine liberale Wirtschaftsordnung gestärkt sehen wollte, sah er eine Vorbedingung für die Lebensfähigkeit der Arbeiterschaft, deren Interessen er gegenüber dem marxistischen Anspruch auf die Demokratisierung dieser Ordnung reduzierte (Naumann, Demokratie und Kaisertum, in: ders., Schriften zur Verfassungspolitik, Werke II, 1 ff. Zu Naumann: Th. Heuss in: NDB Bd. 18, 767 ff.; Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik II, 373 ff.). Die national-soziale Partei bestand allerdings nur bis 1903, als sie nach ausbleibenden Wahlerfolgen von Naumann aufgelöst wurde. Vgl. dazu und zum Programm der Partei die Darstellung Frickes aus sozialistischem Blickwinkel in: Die Bürgerlichen Parteien in Deutschland II, 376. 19 Berolzheimer, System II, Vorrede, S. IX. 20 Berolzheimer, System II, 488 f. Zum Begriff der Sozialethik ebd., 345 ff.
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
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die eigenen Interessen aufbringe.21 Tatsächlich ging die Politisierung der Massen an dem bürgerlichen Lager weitgehend vorbei.22 Berolzheimer war daher der Ansicht, daß das Klasseninteresse der übrigen Gesellschaftsklassen geweckt und zur Geltung gebracht werden müsse, da im Rahmen der Volksvertretungen die Interessen der unteren Klassen mit dem Staatswohl identifiziert würden und dies in letzter Konsequenz „zur wirtschaftlichen Bedrückung und Verkümmerung der oberen Volksklassen“ führe.23 Er bemühte sich, die revolutionären Bestrebungen des Sozialismus herunterzuspielen, und sah in der Arbeiterbewegung nicht mehr als eine „Interessenvertretung der Arbeiter“24. Für jemanden, der wie Berolzheimer den Kulturfortschritt von einer Minderheit herausragender Persönlichkeiten getragen sah, stellte die Demokratisierungsbewegung eine Bedrohung des Fortschrittsgedankens und der nationalen Führungsrolle und Stabilität Deutschlands dar. Unter dem Einfluß dieses elitären Denkens nahm Berolzheimer eine ablehnende Haltung gegenüber Volkssouveränität und Parlamentarismus ein25 und befürwortete dagegen eine „neuständische Klassenvertretung“26, in der die jeweiligen gesellschaft21 Berolzheimer, System III, 243. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Berolzheimers Argumentation gegen die Einführung des Wahlrechts für Frauen, denn nach seiner Befürchtung konnte es insofern zu einer Verstärkung des Ungleichgewichts zwischen bürgerlichen Strömungen und Arbeiterschaft kommen (ders., System II, 485; vgl. auch System IV, 192). Aufgrund ihrer gefühlsbetonten Entscheidungsfindung komme es zu einer Stärkung der radikalen Parteien, der Sozialdemokratie und des Ultramontanismus. In beiden Strömungen sah Berolzheimer Gefahren für die politische Ordnung (ders., System II, 492; System III, 223). 22 Ullmann, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 132. Allein das Zentrum konnte sich behaupten, Liberale und Konservative verloren in beträchtlichem Maß Stimmenanteile. 23 Berolzheimer, System II, 489, 492, teils mit Hervorhebungen. 24 Berolzheimer, System II, 488, 297 f. So konnte Berolzheimer auch sagen, der Sozialismus erfülle eine Kulturmission, indem er zur Emanzipation des vierten Standes und zur Fixierung der Arbeiterklasse in der neu anbrechenden Periode des klassenmäßig organisierten Staates geführt habe (ders., System II, 488). 25 Berolzheimer, System III, 221 ff. Zu den Vorbehalten gegenüber Parlamentarismus und Demokratisierung im Kaiserreich vgl. Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatslehre des Kaiserreichs (1870 – 1918); Wasser, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, 17 ff. 26 Berolzheimer, System III, 79 ff., insbes. 233 ff., bereits in ders., Aristo-Plutokratie, 29 f. angedeutet, hier noch stark unter darwinistischem und nietzscheanischem Einfluß; vgl. auch ders., Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, 200 ff., 305 ff. „Die veränderte Wirtschaftskultur muß früher oder später eine fundamentale Änderung des Rechts, vornehmlich des öffentlichen Rechts nach sich ziehen. Die Epoche der parlamentarischen ,Volks-‘Vertretungen wird das Feld räumen einem Zeitalter neuständischer Verfassungen.“ (ders., System II, 492) Berolzheimer bezog sich mit seiner Vorstellung zunächst auf den Philosophen und Pädagogen Johannes Unold (Ein neuer Reichstag, 1897), der die große Masse zum Regieren für unfähig hielt und einer berufsständisch gegliederten Vertretung eine Zahl „unparteiischer“ Intellektueller gegenüberstellen wollte (Berolzheimer, Aristo-Plutokratie, 29 ff.). Wie sehr Berolzheimer von seiner Diagnose eingenommen war, zeigt sich daran, daß er die Darstellung der gesamten modernen und zeitgenössischen Gesellschafts- und Rechtstheorien von Comte und Jhering bis zu Stammler und Jellinek in einem Kapitel zusammenfaßte, das er mit „Der Übergang zum modernen Klassenstaat“ betitelte. Die Hervorhebung des Klassen-
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
lichen Gruppierungen am politischen Leben beteiligt werden sollten. Davon versprach er sich insgesamt eine Stärkung nationaler Interessen. In dieser eigentümlich anmutenden Konstruktion macht sich der Einfluß der ökonomischen Veränderungen geltend: Der von der marxistischen Theorie in den Blickpunkt gerückte Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Ordnung konnte auch von dem bürgerlichen Lager nicht ignoriert werden, vor allem auch deshalb, weil das parlamentarische System aus Sicht der bürgerlichen Kräfte den zunehmenden Einfluß der Sozialdemokraten zu begünstigen und eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung und die nationale Stärke Deutschlands darzustellen schien. Die um die Jahrhundertwende eingetretene Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft, die mit der Selbstorganisation in Parteien, gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden und Vereinen und der zunehmenden Wahlbeteiligung einherging, hatte erheblichen Einfluß auf das politische Geschehen im Kaiserreich.27 Die politische Ordnung konnte sich den durch die wirtschaftlichen Umwälzungen vermittelten gesellschaftlichen Veränderungen nicht entziehen, Überlegungen zur Entwicklung von Spezial- und Fachparlamenten kamen auf28, und Berolzheimer versuchte eigens diese Einsicht in konsolidierende, systemkonforme Bahnen zu lenken. Er vertrat die Auffassung, die politische Struktur müsse sich aus der wirtschaftlichen Differenzierung der Gesellschaft ergeben, die politische Macht daher an staatsrechtlich gegliederte, freie Wirtschaftsklassen übergehen29, und die Verwendung des Standesbegriffs30 deutet auf eine bürgerlich entschärfte Version des Themas der marxistischen Gesellschaftstheorie hin. begriffs ist auf den ökonomischen Materialismus, aber auch auf den Soziologen Gumplowicz zurückzuführen, vgl. Berolzheimer, System II, 370, 385 f.; System III, 197. „Das praktische bleibende Verdienst, das sich Gumplowicz erworben hat, liegt darin, daß er in einer Zeit nivellierender Sozialethik die Existenz der Klassen und die immanente Wesenseigenschaft der Klassen, sich zu behaupten und sich im Kampf gegen andere Klassen durchzusetzen, betont hat.“ (ders., System II, 386); zu Gumplowicz vgl. Hohmeier, Zur Soziologie Ludwig Gumplowicz’, KZfSS XXII (1970), 24 ff. G. Lasson weist zudem auf die Übereinstimmung mit Hegels Vorstellung von den Korporationen hin (G. Lasson, Fritz Berolzheimer, ARWP XIV (1920 / 21), 245). 27 Ullmann, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 126 ff. 28 So z. B. bei Jellinek, vgl. dazu Schönberger, Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 29 f. 29 „Nur durch rechtliche Anerkennung und Fixierung der berechtigten Interessen jeder Wirtschaftsklasse, nur durch rechtliche Garantie der Freiheit aller Kulturbestrebungen wird jede Klasse im Staat, jeder Einzelne innerhalb seiner Gruppe die erforderliche Selbstbehauptung, Geltung und Freiheit erlangen, und mit der Kraft der Klasse und ihrer individuellen Glieder auch der deutsche Staat als Ganzes zur kraftvollen Entfaltung gelangen . . .“ (Berolzheimer, System II, 493) Auch hier geht es um die Sicherung innen- und außenpolitischer Stärke, denn Berolzheimer sah in der Konsolidierung der wirtschaftlichen Gruppierungen, etwa durch die Bildung von Gewerkschaften auf der einen und Kartellen auf der anderen Seite, einen „Kraftzuwachs“ für den Staat (ders., System III, 237). 30 Zur Verwendung des Standes- und des Klassenbegriffs Walther, Art. Stand, Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe 6 (Hg. Brunner / Conze / Koselleck), 279 f.; Ringer, Die Gelehrten, 165 f. Zum Übergang der ständischen Gesellschaft zur Klassengesellschaft vgl. Wehler,
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
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2. Wechselwirkungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Recht – Die juristisch-ökonomische Methode War Berolzheimer somit überzeugt, daß die wirtschaftlichen Veränderungen sich sowohl in den politischen als auch in den rechtlichen Verhältnissen niederschlagen müßten,31 so war das Ziel seiner Ausführungen, die enge Verknüpfung des formalen Rechts mit dessen wirtschaftlichem Inhalt durch eine „juristisch-ökonomische Methode“ zum Ausdruck zu bringen.32 Damit wandte er sich gegen Verabsolutierungen, die er auf der einen Seite durch Bindings Normentheorie, wonach alles Recht seinem Wesen nach Befehl sei, auf der anderen Seite durch die materialistische Annahme, allein die Produktionsverhältnisse bestimmten den geistigen Überbau und damit auch die Rechtsverhältnisse, verkörpert sah.33 Berolzheimer begriff Recht und Wirtschaft als kulturelle Erscheinungen, die in unterschiedlichem Maße dem zeitlichen Wandel unterlegen seien: Während die Wirtschaft ständigem Wechsel ausgesetzt sei, verändere sich das Recht nur in Intervallen.34 Eine Änderung der Wirtschaft bewirke regelmäßig eine parallele Änderung des Rechts. „Recht und Wirtschaft stellen somit Parallelerscheinungen dar, zwischen deren Werdeprozessen die innigsten Wechselwirkungen beste-hen.“35 Er war jedoch kein Anhänger einer uneingeschränkt liberalistischen Wirtschaftspolitik und betonte die Steuerungs- und Ordnungsfunktion des Rechts gegenüber den wirtschaftlichen Verhältnissen: Er ging davon aus, daß die wirtschaftlichen Beziehungen im Recht angemessene Strukturen für ihre Entfaltung finden müßten, die rechtliche Regelung sich somit am wirtschaftlichen Tatbestand orientieren müsse, sah jedoch im Recht nicht lediglich einen Reflex, sondern auch einen maßgeblichen Beeinflussungsfaktor der tatsächlichen Verhältnisse.36 In Entsprechung zum Begriff der Rechtsphilosophie, die sich in BerolzDeutsche Gesellschaftsgeschichte III, 106 ff., 700 ff. Wehler spricht von einem „marktgesellschaftlichen Klassensystem mit ständischem Überhang“ (ebd., 843). 31 Berolzheimer, System II, 32; ders., System III, 109. 32 Berolzheimer, System III, 154. Die Fixierung der wirtschaftlichen Grundbegriffe im Rahmen des Staates und des Rechts und eine den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechende Ausgestaltung des Rechts bezeichnete Berolzheimer als „juristisch-ökonomische Methode“, deren Grundlage die Erkenntnis der Wechselbeziehung zwischen Wirtschaft und Recht sei (ders., System II, 29 ff.). 33 Berolzheimer, System II, 31 f. Bereits Engels hatte allerdings eine „Rückwirkung“ politischer und rechtlicher Reflexe auf die Ökonomie eingeräumt, wobei er allerdings nach wie vor die ökonomischen Faktoren als dominierend ansah (Engels, Brief an Conrad Schmidt vom 27. Okt. 1890, MEW Bd. 37, 492 ff.). 34 Berolzheimer, System II, 30. 35 Berolzheimer, Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 443. Das Wirtschaftsleben gewinne Realität nur durch das formale Band des Rechts und damit auch des Staates (ders., System III, 154). 36 Das Recht wirke wiederum auf die Gestaltung der Wirtschaft und Kultur ein, und zwar einerseits hemmend gegenüber „überwuchernden, kraftzerstörenden Bewegungen“, andererseits stabilisierend, indem es die geeigneten Rechtsinstitute bereitstelle (Berolzheimer, System II, 31; ders., System III, 158 f.).
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
heimers Augen mit der Feststellung des Gerechten nach der formalen, normativabstrakten Seite hin zu beschäftigen habe, formulierte Berolzheimer den Begriff der Wirtschaftsphilosophie, worin er die Feststellung der Gerechtigkeit nach der materiellen Seite sah und womit er der wirtschaftlichen Einzelforschung ein festes Fundament geben wollte.37
3. Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Wandel Neben einem eher rechtstechnischen Aspekt dienten Berolzheimers Ausführungen also auch dazu, einen Maßstab im Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen zu etablieren.38 Als Probleme, die sich aus der gestiegenen Dynamik von Recht und Wirtschaft ergaben, identifizierte er u. a. die Arbeiterfrage, das Problem der Kartelle, die Ausdehnung des Wahlrechts, die geistige Unterdrückung seitens des sogenannten Ultramontanismus sowie die Forderungen der Frauenbewegung.39 Mit dem Hinweis auf die Steuerungsfunktion des Rechts modifizierte er die von ihm festgestellte Einseitigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung und unterstrich darüber hinaus die entscheidende Bedeutung idealer Faktoren für die Gestaltung des Rechts. „Das Recht ist Kulturerscheinung. Die Kultur ist aber nicht eine dauernd unerschütterlich einheitliche, vielmehr weist sie deutlich geschiedene Entwicklungsstufen auf. Zwischen den verschiedenen Stufen der Rechts- und Wirtschaftskultur besteht ein enger innerer Zusammenhang der wechselseitigen Beeinflussung. So zwar, daß regelmäßig die Änderung realer Lebensverhältnisse (ökonomisches Wirtschaftsmoment) oder die veränderte Kulturanschauung (ideales Wirtschaftsmoment) eine Änderung der Rechtsordnung herbeiführt, während diese Änderung des Rechts in der Folge ihrerseits wieder festigend, stabilisierend auf das Wirtschaftsleben zurückwirkt.“40 Indem er den Begriff der Wirtschaft weit faßte, als „Wirtschaftskultur“, die sowohl geistige als auch materielle Verhältnisse, 37 Berolzheimer, System II, 10 f. Eine Identifizierung des Begriffs der Wirtschaftsphilosophie mit dem Privatrecht läßt sich bei Berolzheimer m. E. nicht feststellen (so aber G. Lasson, Fritz Berolzheimer, ARWP XIV (1920 / 21), 247). Berolzheimer wollte mit der juristisch-ökonomischen Methode gegenüber einer rein konstruierenden Vorgehensweise die wirtschaftlichen Grundbegriffe im Rahmen des Staates festlegen und damit die engen Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Recht berücksichtigen. Daraus ergab sich nach seiner Vorstellung als grundlegender Begriff für Wirtschaft und Wirtschaftsrecht das Vermögen, das sich formal-juristisch als Komplex subjektiver Rechte darstelle (ders., System IV, S. V f.; ders., Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 441) Dies exemplifizierte Berolzheimer in seinem Aufsatz „Das Vermögen“ anhand der wirtschaftlichen Grundbegriffe des Gutes, der Wert- und Preislehre, des Eigentums etc. 38 Der Gesetzgeber habe eine doppelte Aufgabe: Nämlich einmal die passende juristische Form für eine neue Wirtschaftserscheinung zu finden und zum anderen die Schaffung von Schranken gegen mißbräuchliche Ausbeutungen jeder Art (Berolzheimer, System II, 489 f.). 39 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 34 f. 40 Berolzheimer, System III, 159.
II. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
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„den Gesamtkomplex der Lebensbetätigungen eines Volkes“41 umfasse, stellte das Recht nach Berolzheimer nicht lediglich einen Reflex der wirtschaftlichen Bedingungen dar, sondern wurde sowohl von ökonomischen als auch von geistigen Faktoren beeinflußt. Dieses ideelle Moment sah Berolzheimer, locker an Begrifflichkeiten der Kulturgeschichte und Völkerpsychologie anknüpfend, vor allem in der „kulturelle(n) Gesamtdisposition einer bestimmten Zeit“42 verkörpert. „Die ideellen Faktoren bestimmen die Grenzen des Rechts, quos ultra citraque nequit consistere rectum; die wirtschaftlichen Momente wirken innerhalb jener Grenzen die Rechtsgestaltung“.43 In diesem Sinne maß Berolzheimer dem ideellen Einfluß eine gewisse Priorität und Eigenständigkeit gegenüber den ökonomischen Bedingungen zu, denn das ausschlaggebende Moment für die Rechtsbildung lag nach seiner Vorstellung in der Übereinstimmung des Rechts mit der Rechtsidee, so daß die Gerechtigkeit das leitende Prinzip bilde.44 Die Unhaltbarkeit der materialistischen Geschichtsauffassung sah er bereits durch die Betrachtung der historischen Entwicklung gestützt, denn der Grund für eine Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse sei immer zunächst eine große Idee gewesen.45 Zwar entstamme der äußere Anlaß zum Erlaß von Gesetzen und zur Schaffung von Recht immer dem wirtschaftlichen Leben im weiten, also auch die kulturelle Seite umfassenden Sinne.46 Die entscheidende Ursache der Rechtsentwicklung sah er indessen in der Erfassung der Ideen. „Die materielle Lage der Bedrückten ist nur der Resonanzboden, auf dem der Befreiungsruf führender Geister tönenden Widerhall weckt. Aber ohne die Freiheitsideen und zersetzenden Einflüsse der Enzyklopädisten wäre trotz aller Knechtung des französischen Volks durch die Mißwirtschaft des herrschenden Regimes die französische Revolution nicht zur Entstehung gelangt.“47 Zwar müsse die wirtschaftlich-kulturelle Gesamtsituation so beschaffen sein, daß die Idee Anklang finde, jedoch bleibe die wesentliche Bedingung das Auffinden und Formulieren des neuen Grundgedankens.48 Da Berolzheimer im Rahmen seiner Entwicklungsbetrachtung für seine Zeit eine veränderte Haltung gegenüber den wirtschaftsliberalen Annahmen konstatierte, behauptete er, daß jegliche Unterdrückung und Ausbeutung im Recht mit Rücksicht auf die Humanitätsidee beseitigt werden 41 Berolzheimer, System II, 11, 31; ders., System III, 158. Dabei ist dem Kulturbegriff ein wertender Zug eigen. „Alle Kultur ist aristokratisch. Die große Menge ist nicht schöpferisch.“ (System III, 162). 42 Berolzheimer, Die philosophische Durchleuchtung des Privatrechts, ARWP II (1908 / 09), 83. 43 Berolzheimer, Die philosophische Durchleuchtung des Privatrechts, ARWP II (1908 / 09), 83 f. 44 Berolzheimer, Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 442. 45 Berolzheimer, System II, 136, 285 f. 46 Berolzheimer, Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 442; ders., System II, 136, 285. 47 Berolzheimer, System II, 30 f. 48 Berolzheimer, System II, 285 f.
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
müsse.49 In ihr sah er das leitende Prinzip der Rechtsgestaltung, weshalb etwa im Arbeitsrecht Schutzbestimmungen eingeführt werden müßten und die Tarifautonomie anerkannt werden müsse.50 Hier wird auch die enge Verschränkung zwischen Rechtsphilosophie und Politik deutlich: Aus pragmatischer Sicht bedeute die Rechtsphilosophie für die Gestaltung des Rechts die „Formulierung der rechtswirtschaftlichen Grundbestrebungen einer bestimmten Kulturepoche“51. „Objekt der Rechtsphilosophie ist der wirkliche Staat und das lebendige Recht. Diese sind aber nicht nur ein Gewordenes, sondern zugleich ein Werdendes; daher muß die Rechtsphilosophie auch auf die Betrachtung der nächsten Zukunft gerichtet sein wie die Politik.“52
III. Der Einfluß der wirtschaftlichen Veränderungen auf die juristische Methode und das Selbstverständnis der Rechtswissenschaften (Exkurs) Indem Berolzheimer mit seiner „juristischen Ökonomie“ behauptete, Wirtschaft und Recht verhielten sich wie „Inhalt und Form, Kern und Schale“53, lehnte er sich an den groß angelegten sozialphilosophischen Entwurf Stammlers an: „Staat und Wirtschaft sind – wie namentlich Stammler eingehend treffend dargetan hat – eins, von verschiedenen Seiten aus betrachtet: Was formal Staat ist, ist inhaltlich Wirtschaft.“54 In der Tat hatte Stammler in seinem erstmals 1896 erschienenen Werk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ die Vorstellung entwickelt, das Verhältnis von Recht und Wirtschaft lasse sich in Form und Materie zergliedern, und damit einen ganz neuen Ansatz zur Analyse dieses Verhältnisses verfolgt.55 49 Vgl. nur Berolzheimer, System II, 32; ders., System III, 159; ders., Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 198; ders., Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18 f. 50 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 198. 51 Berolzheimer, System II, 24. Zur Aufgabe der Politik vgl. auch ders., Methodik und Abgrenzung der Politik, in: Handbuch der Politik (Hg. Anschütz / Jellinek / v. Liszt / Berolzheimer u. a.), 14 ff. 52 Berolzheimer, System III, S. X. Rechtsphilosophie und Politik ergäben Maßstäbe zur Kritik des bestehenden wie zur Findung und Bestimmung neu zu schöpfenden Rechts. Zwischen beiden Disziplinen bestehe ein Unterschied im Hinblick auf die Reichweite ihrer Gedanken: Während die Politik sich auf das Tagesgeschäft konzentriere, suche die Rechtsphilosophie nach den großen Entwicklungen (ebd., 22 ff.). 53 Berolzheimer, System I, Vorrede S. VIII; ders., Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 438. 54 Berolzheimer, System III, 154. „Recht und Wirtschaft stellen somit Parallelerscheinungen dar, zwischen deren Werdeprozessen die innigsten Wechselwirkungen bestehen.“ (ders., Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 443). 55 Stammler, Wirtschaft und Recht (5. Auflage), 108 ff., 155 ff. Wenn nichts anderes vermerkt ist, wird im folgenden die Fassung der 5. Auflage von 1924 herangezogen. Zu den
III. Das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft
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Bereits zuvor war dieser Zusammenhang theoretisch aufgearbeitet worden. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel hatte sowohl das wissenschaftliche Selbstverständnis der Rechtswissenschaft im Hinblick auf die Einschätzung der gesellschaftspolitischen Relevanz des Rechts als auch die juristische Methode beeinflußt.56 Hier gab es einerseits Bestrebungen, ökonomische Elemente zu integrieren, andererseits Widerstand, der sich vehement gegen eine Vereinnahmung und Überformung durch ökonomische und soziale Betrachtungsweisen verwahrte. Vor allem unter dem Einfluß der Kritik seitens Karl Marx an den abstrakten juristischen Rechtskonstruktionen und seiner Vorstellung, die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bilde die ökonomische Struktur einer Gesellschaft, von der sich erst der juristische Überbau ableite, trat die ökonomische Bedeutung des Rechts in das Bewußtsein.57 Auch die Historische Rechtsschule erarbeitete gedanklich die Bezüge zwischen Wirklichkeit und Recht; hier standen noch nicht die ökonomischen Verhältnisse im Vordergrund, sondern die Abhängigkeit des Rechts von örtlichen und klimatischen Gegebenheiten und die Hervorhebung ideell geprägter kulturell-historischer Zusammenhänge. Allerdings widmeten sich deren Hauptvertreter Savigny und Puchta wesentlich der Systematisierung und begrifflichen Erfassung des Rechts. Berühmt geworden ist Puchtas „Genealogie der Begriffe“, die Vorstellung eines lückenlosen Rechtssystems, aus dem jeder einzelne Rechtssatz im Wege logischen Schlußverfahrens abzuleiten sei.58 Deshalb sieht Veränderungen im Werk Stammlers: Wenn, Juristische Erkenntniskritik: zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, 122 ff.; C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 142 f.; Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 26. 56 Zum Verhältnis von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in neuerer Zeit vgl. die beiden Aufsätze in dem Band: Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften II (Hg. Grimm) von Raisch / K. Schmidt, Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften, 143 ff. und Krüsselberg, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft, 168 ff. sowie Coing, Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften, in: Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik (Hg. Raiser / Sauermann / Schneider), 1 ff. Zur Erforschung des Bedingungszusammenhangs zwischen Recht und Wirtschaft im Zusammenhang mit Versuchen einer konkreten Wertjurisprudenz durch Walter Eucken und Franz Böhm: Fikentscher, Methoden des Rechts III, 417 ff. 57 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), Vorwort, MEW 13, 8 f. Zum Verhältnis von Basis und Überbau vgl. Arnason, Basis und Überbau, in: Grundbegriffe des Marxismus (Hg. Fetscher), 33 ff. Zur Rolle des Rechts und zur Berechtigung rechtsgeschichtlicher Forschung bei Marx: Landau, Karl Marx und die Rechtsgeschichte, TRG 41 (1973), 361 ff. Auch Lorenz von Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands (1876), hatte die abstrakte Rechtsbetrachtung kritisiert und eine wirtschaftliche und soziologische Konzeption des Rechts vorgeschlagen, da er die Lebensverhältnisse als Quelle des Rechts betrachtete. Dazu Nörr, Eher Hegel als Kant, 31 ff., 32; zur politischen Konzeption vgl. Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 170 ff. 58 Puchta, Cursus der Institutionen Band I, 37, 101. Allgemein zu Puchtas Rechtslehre vgl. Bohnert, Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1798 – 1846); Landau, Puchta und Aristoteles, ZRG RA CIX (1992), 1 ff.; ders., Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 70 ff.
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
sich diese von Wieacker als „rechtswissenschaftlicher Positivismus“59 gekennzeichnete Form der Rechtsbetrachtung seither dem Vorwurf ausgesetzt, formalistisch vorzugehen und zu einer Ablösung des Rechts von seinem Lebenshintergrund zu führen.60 Wieacker hat darauf hingewiesen, daß ein derartiges wissenschaftliches Selbstverständnis den eigentümlichen Widerspruch beinhaltete, daß die von der Pandektenwissenschaft gemachten Voraussetzungen der Privatautonomie zwar den Interessen der liberalen Wirtschaftsgesellschaft entsprachen, die ausdrückliche Bezugnahme auf die sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben des Privatrechts aber aufgrund ihrer eigenen Vorstellungen von den Aufgaben der Rechtsordnung und ihres logischen Formalismus unmöglich war.61 Daß Puchtas wissenschaftliche Leistung hauptsächlich in der Betonung des konstruktiven Elements gelegen und damit von der sozialen Bedingtheit des Rechts abgesehen habe, wird jedoch mittlerweile in Frage gestellt.62 Die konstruktive Methode ist jedoch in 59 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 431. Dagegen Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 76; vgl. auch R. Dreier, der darin „eine Frage der Begriffsbildung“ sieht: „Erblickt man mit der heute überwiegenden Meinung das gemeinsame Kennzeichen aller Spielarten des juristischen Positivismus in der These der Trennung von Recht und Moral, oder besser: von Recht und Gerechtigkeit, so wird man bezweifeln müssen, daß die Begriffsjurisprudenz Jherings (wie auch Puchtas) positivistisch war.“ (Dreier, Jherings Rechtstheorie, in: Jherings Rechtsdenken (Hg. Behrends), 230 f.). 60 Bereits Jhering hatte nach seiner Abwendung von der Konstruktionsjurisprudenz Puchtas Vorgehen angegriffen und sich in spöttischer Weise über den Anspruch ausgelassen, mittels logischer Deduktion aus dem Rechtssystem alle Rechtssätze ableiten zu können (Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884; die Aufsätze erschienen bereits 1861 in der „Preußischen“ später „Deutschen Gerichtszeitung“). In neuerer Zeit wurde dieses ablehnende Urteil u. a. von Wilhelm (Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert), Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 400 ff.) und Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 20 ff.) gefällt. Dabei wurde der politische Charakter einer solchen Haltung aufgrund des stillschweigenden Einverständnisses mit der liberalen Wirtschaftsordnung hervorgehoben (vgl. nur Wieacker, ebd., 439, ders., Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 60 f.; aus der Sicht der materialistischen Rechtsauffassung Wagner, Die politische Pandektistik). 61 Wieacker, Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 59. 62 Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 207 ff.; Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Rättshistorika Studier XIX (1993), 74 ff.; Rückert, Autonomie in rechtshistorischer Perspektive, 79 ff., 86 ff. So wird hervorgehoben, daß Puchta sehr wohl den gesellschaftlichen Bezug des Rechts gesehen habe, das Recht aber vor einer politischen, religiösen oder moralischen Vereinnahmung habe „sicherstellen“ (Puchta) wollen und die arbeitsteilige Rolle von Recht und Politik betont habe; denn auch Religion, Ethik und Moral müßten sich nach Puchtas Auffassung über Politik rechtlich verwirklichen, aber nicht im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Betrachtung (Rückert, ebd., 80 ff.). Landau betont in diesem Zusammenhang die gegenüber den Staatsorganen autonome ethische Grundlage des Rechts, die sich aus der Rechtsquellenlehre Puchtas ergibt, die das Recht als unmittelbares Produkt einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung ansieht (ders., Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 78 f.). Der Zusammenhang der Rechtsbetrach-
III. Das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft
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ihrer Rezeption besonders einflußreich gewesen und hat in der Folge dazu geführt, daß die Stellung der formal-logischen Tätigkeit in der Rechtswissenschaft als beherrschend wahrgenommen wurde, was zu verstärkten Bemühungen führte, die Methode durch wirtschaftliche Überlegungen zu ergänzen und das Recht in seinen sozialen Bezügen darzustellen. Hatte die Historische Schule sich generell den Beziehungen zwischen Recht und Kultur gewidmet, kam es um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber auch schon zu einer Hervorhebung speziell wirtschaftlicher Faktoren und einer theoretischen Vertiefung des Verhältnisses von Recht und Wirtschaft. Wilhelm Arnold63 (1826 – 1883) versuchte in seinen Schriften auf historisch-empirischer Grundlage die Beziehungen zwischen Recht und Kultur und insbesondere zwischen Recht und Wirttung mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen ist bei Puchta insofern gewahrt, als hier die Juristen als rechtskundige Glieder der Nation das nationale Rechtsbewußtsein artikulieren, so daß es sich dabei um mit dem Volksbewußtsein im Einklang stehendes Gewohnheitsrecht handelt (Puchta, Gewohnheitsrecht II, 19 f.; zur Rechtsquellenlehre Puchtas: Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), ebd., 70 ff.; zu der zweifachen Aufgabe der Juristen im Bereich des Gewohnheitsrechts und des wissenschaftlichen Rechts, ders., Puchta und Aristoteles, ZRG RA CIX (1992), 25 Fn. 96). Für die wissenschaftliche Behandlung des Rechts, bei der nach Puchta im Wege logischer Schlußfolgerungen Rechtssätze erschlossen werden sollten, die auf innerer Autorität der Vernunft beruhen, wird darauf hingewiesen, daß es Puchta nicht um bloße Folgerichtigkeit, sondern um inhaltliche Richtigkeit gegangen sei (Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 208; Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 76). Den Vorwurf der Inversionsmethode sieht Landau im Rahmen einer kursorischen Überprüfung anhand von Puchtas dogmatischen Überlegungen nicht bestätigt (ders., Puchta und Aristoteles, ZRG RA CIX (1992), 19 ff.). Landau verweist im übrigen darauf, daß Puchta sehr wohl einen Zweck des Rechts, nämlich die Wohlfahrt kenne, den das Recht durch das Prinzip der Gleichheit fördere (ders., Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 75). Insofern könne nur mit Einschränkungen davon gesprochen werden, daß die Historische Schule sich allein auf die abstrakt-logische Betrachtung des Rechts beschränkt und darauf verzichtet habe, daß Recht in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang darzustellen. Für den Bereich der richterlichen Praxis ist unterdessen nachgewiesen worden, daß die Rolle der richterlichen Tätigkeit nicht mit einem logisch-mechanischen Vorgehen identifiziert werden kann und sehr wohl zweck- und wertorientierte Erwägungen Berücksichtigung fanden (Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 207 f.), so daß insgesamt davon auszugehen ist, „daß Teile der Rechtswissenschaft und besonders die Justiz durchaus auf die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft mit Verständnis und Anpassungsbereitschaft reagierten.“ (Landau, Kommentar (zu Dieter Grimm), in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Hg. Kocka), 191). 63 Arnold, Recht und Wirtschaft nach der geschichtlichen Ansicht, drei Vorlesungen (1863); ders., Cultur und Rechtsleben (1865), nach Arnolds Angaben – Vorrede, S. XXI – bereits 1863 fertiggestellt. Wilhelm Arnold (1826 – 1883) studierte seit 1845 Rechtswissenschaft an den Universitäten Marburg, Heidelberg und Berlin und war dort auch Schüler der Brüder Grimm und Rankes. Er habilitierte sich 1850 in Marburg, wurde 1855 nach Basel berufen, ging aber 1863 wieder nach Marburg zurück. Zu Arnold: Kroeschell, Ein vergessener Germanist des 19. Jahrhunderts, in: Krause-FS, 253 ff.; Stintzing / Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 2, 760 ff.; aus marxistischer Perspektive Sellnow, Gesellschaft – Staat – Recht, 256 ff. 3 Stier
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
schaft darzustellen.64 Er sah in Wirtschaft und Recht parallel verlaufende Phänomene65 und wollte die formal-konstruktive juristische Methode korrigieren, indem er die wirtschaftliche Bedeutung der Rechtssätze herausstellte.66 Diese pragmatische Betrachtung setzte Arnold im Übrigen ein, um romanistische und germanistische Rechtseinrichtungen zu überprüfen, indem er anstelle von Überlegungen über die nationale und sittliche Rechtfertigung beider Rechtstraditionen deren praktische Berechtigung ermittelte.67 Schließlich stellte er in verbreiteter Abänderung des Begriffs die Behauptung auf, auf vergleichender Grundlage lasse sich ein „neues Naturrecht“68 konstruieren, „ein Naturrecht, das zwar in anderer Weise wie das ältere, doch ebenfalls mit den allgemeinen Bedingungen und Voraussetzungen des rechtlichen Lebens sich zu beschäftigen hätte.“69 Denn aufgrund der Übereinstimmung der wirtschaftlichen Grundlagen „bei allen Culturvölkern“ müßten auch die Grundbegriffe des Rechts, wie im Privatrecht das Eigentum, Verträge, Familien- und Erbrecht, identisch sein.70 Bei allen Bemühungen, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, bekräftigte Arnold allerdings die eigenständige Betrachtungsweise der Jurisprudenz und wehrte sich gegen Vorstellungen, sie durch die nationalökonomische Betrachtung zu ersetzen.71 In diesem Punkt war der Rechtsanwalt Dankwardt, der bereits vor Arnold das Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft praktisch-juristisch erörtert hatte, weitergegangen und hatte versucht, volkswirtschaftliche Überlegungen in die dogmatische Untersuchung einzubeziehen. 72 In den tatsächlichen Zuständen sah er einen Gegenstand von un64 Arnold, Cultur und Rechtsleben, 17. Arnold wollte diese verschiedenen Seiten eines Volkslebens nicht nur in ihrem Ursprung als Äußerungen des Volksgeistes betrachten, sondern auch in ihrer fortwährenden Wechselwirkung und ihrem gesamten geschichtlichen Verlauf untersuchen (ebd., 10). Dabei behandelte er die Wirtschaft nicht als den alleinigen Bestimmungsfaktor des Rechts, vielmehr sah er in Sprache, Kunst, Wissenschaft, Sitte, Wirtschaft, Recht und Staat gegenseitige Beeinflussungsfaktoren (ebd., 89). 65 Arnold, Cultur und Rechtsleben, 95 f. Jeder wirtschaftliche Akt setze Rechtsformen voraus um der Festsetzung gegenseitiger Befugnisse und der eminenten Bedeutung der Gewährung von Rechtsschutz willen. Alle Rechtssätze hätten damit direkt oder indirekt einen wirtschaftlichen Inhalt oder Bezug (ebd., 94 f.), und jeder wirtschaftlichen Form laufe eine Rechtsform parallel, die sie nach der Seite des Rechts hin erst ermögliche (ebd., 98). 66 Arnold, Cultur und Rechtsleben, Vorrede, S. VIII f., XI f. Arnold bewegte sich zwar in den Bahnen der Historischen Schule, allerdings mit anderem Akzent, indem er die bisher weniger beachtete Bedeutung der Wirtschaft hervorhob. 67 Arnold, Cultur und Rechtsleben, S. IX; vgl. Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 2, 764. 68 Arnold, Cultur und Rechtsleben, 105. 69 Arnold, Cultur und Rechtsleben, 105. Ähnlich Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts I, 302, dazu Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993); 78. 70 Arnold, Cultur und Rechtsleben, 104. 71 Arnold, Cultur und Rechtsleben, Vorrede, S. XII f. 72 Dankwardt, Nationalökonomie und Jurisprudenz, 4 Hefte, Rostock (1857 – 1859); ders., Nationalökonomische Studien (1862 und 1869). Dankwardt war als Rechtsanwalt in
III. Das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft
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veränderlicher Natur und faßte die Rechtsnormen als Produkt dieser Verhältnisse auf.73 Daher forderte er die Überprüfung des geltenden Rechts auf seine wirtschaftliche Brauchbarkeit hin.74 In der nationalökonomischen Methode sah er ein probates Mittel, die ratio einer Norm zu bestimmen und zu bewerten75, so daß sich Dankwardt als Verfechter einer ökonomischen Betrachtung des Rechts erweist. Dieser weitreichende Versuch blieb jedoch eine Seltenheit. Die Hervorhebung des Zusammenhangs des Rechts mit den tatsächlichen Verhältnissen und seiner funktionellen Bedeutung gewann auch in der Folgezeit an Gewicht und führte zu Ansätzen einer soziologischen Jurisprudenz. Jhering (1818 – 1892) hob nach seiner Abkehr von der rein konstruktiven Methode die gesellschaftliche Funktion des Rechts hervor und unterstrich mit der Behauptung, der Zweck sei der Schöpfer des Rechts, dessen pragmatischen Ursprung.76 In die Zeit der 30er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts fiel auch der Beginn einer modernen Handelsrechtswissenschaft, als deren Begründer Heinrich Thöl (1807 – 1884) und Levin Goldschmidt (1829 – 1897) gelten.77 Im Vergleich zu der Pandektenwissenschaft war die Germanistik gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung aufgeschlossener, in der Darstellung und Begrifflichkeit war sie aber doch auf deren Rostock tätig. Zu ihm vgl. Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 2, 762 ff. 73 Dankwardt, Nationalökonomisch-civilistische Studien I, 17; ders., Nationalökonomie und Jurisprudenz, Heft 1, 3. 74 Ausgehend von der Auffassung, daß alles Recht ein Produkt der faktischen Verhältnisse sei, erlangte die Nationalökonomie nach Dankwardts Überzeugung eine hervorragende Bedeutung für die Beurteilung des Rechts. Ihre Untersuchungen deckten die Gesetze und Prinzipien der Lebensverhältnisse auf und faßten sie zu einem großen geregelten Ganzen zusammen, das durch den menschlichen Egoismus angetrieben werde (Dankwardt, Nationalökonomie und Jurisprudenz Heft 1, 4). „Die Wissenschaft nun, welche uns die Pathologie, die Therapie und die Diäthetik des gesellschaftlichen Organismus liefert, ist die Nationalökonomie.“ (ders., Nationalökonomisch-civilistische Studien I, 7) So kommt man nach Dankwardt durch die Erklärung der Gesetze des tatsächlichen wirtschaftlichen Verkehrs zur Erklärung des Geistes und der Gesetze des Rechts (ders., Nationalökonomie und Jurisprudenz, Heft 1, 3, 10). 75 Dabei bediente er sich, wie er es nannte, der „physiologischen Methode“, indem er von der Frage ausging, wie sich die Verhältnisse ohne den betreffenden Rechtssatz gestalteten. Der in diesem Sinne nutzlose oder schädliche Rechtssatz beruhe entweder auf einem Irrtum oder sei ein Überrest vergangener Verhältnisse (Dankwardt, Nationalökonomisch-civilistische Studien I, 8 f.). Auch Dankwardt sah in der volkswirtschaftlichen Betrachtung eine Möglichkeit, die Frage der Rezeption des römischen Rechts zu klären, denn von einer Rechtüberzeugung des deutschen Volkes könne nur gesprochen werden, wenn das praktische Bedürfnis, aus dem die Rechtssätze entstanden seien, noch existiere (ders., Nationalökonomie und Jurisprudenz, Heft 1, 9). Wenn von den römischen Juristen von der wirklichen Natur eines Geschäftes abgewichen werde, sei man berechtigt, diesen Irrtum zu verbessern und alle Rechtssätze zu streichen, welche auf diesem Irrtum beruhten (Nationalökonomisch-civilistische Studien I, 24 f.). 76 Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, S. V. 77 Vgl. dazu den Band: Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert (Hg. Scherner); Schlosser, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, 137 ff. 3*
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
methodischen Standard angewiesen.78 So fand auf dem Gebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts, zunächst einer Domäne der germanistischen Rechtswissenschaft, durch die Handelsrechtsbücher von Thöl79 und Goldschmidt80 eine Vermittlung von römisch-rechtlichem und germanistischem Denken statt.81 Goldschmidt vertrat die Auffassung, das Recht sei bereits den tatsächlichen Verhältnissen immanent, und die jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse drängten darauf, sich in Gesetzgebung und Gewohnheit das ihnen angemessene Recht zu schaffen.82 Selbst ein überzeugter Pandektist wie Dernburg (1829 – 1907) stellte den Gegenwartsbezug des Rechts heraus und berücksichtigte bei seinen Überlegungen die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen rechtlicher Regeln auf den einzelnen.83 Erst recht in der Interessenjurisprudenz, die die Normen als Ergebnis der sich in einer Rechtsgemeinschaft gegenüberstehenden Interessen interpretierte, trat die Bedeutung sozialer Faktoren für das Recht hervor;84 allerdings waren auch nach der Vorstellung ihres Hauptvertreters Philipp Heck (1858 – 1943) ausschließlicher Gegenstand der Rechtswissenschaft die rechtlichen Regelungen. Denn auch wenn Heck im Rahmen seiner „genetischen Interessentheorie“ die die Rechtsnorm verursachenden Interessen unterstrich, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich ausschließlich auf die vom Gesetzgeber vorgenommene Wertung der Interessen bezog.85 78 Wieacker, Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution, in: ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 58; Schlosser, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, 137 f. 79 Thöl, Das Handelsrecht (1841 / 47, 1880). 80 Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts (1864 / 68). 81 Schlosser, Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, 137 f.; Scherner, Die Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert, in: Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert (Hg. Scherner), 15. 82 Landau sieht in Goldschmidts Konzeption „Ansatzpunkte für eine durch begriffliche Abstraktion kontrollierte soziologische Jurisprudenz“ (Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 78). Zu den ökonomischen und soziologischen Aspekten in Goldschmidts Werk vgl. Weyhe, Levin Goldschmidt, 471 ff., 497 ff. Goldschmidt verwahrte sich aber gegen eine Grundlegung der Rechtswissenschaft auf wirtschaftlichen Größen wie aus der Kontroverse mit dem Juristen Wilhelm Endemann (1825 – 1899) um die Frage der Bedeutung wirtschaftlicher Zusammenhänge für die Rechtswissenschaft hervorgeht. Wirtschaftliche Begriffe sollten nach seiner Vorstellung zwar Berücksichtigung finden, die dogmatische Rechtswissenschaft dürfe dadurch jedoch nicht ausgehöhlt werden (dazu Weyhe, ebd., 503). 83 Dazu Süß, Heinrich Dernburg – Ein Spätpandektist im Kaiserreich, 209 ff., 245 f. 84 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 17. 85 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 8, 64 f. Allgemein zur Interessenjurisprudenz vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 49 ff.; zur doppelten Bedeutung der Interessen als Kausalfaktoren und Wertungsgegenstände ebd., 52. Zum Begriff des Interesses vgl. auch Wolf, Philipp Heck als Zivilrechtsdogmatiker, 11 f.; 20 f., 301 f. Zur gegenwärtigen Bedeutung der Interessenjurisprudenz und ihrem Übergang in die Wertungsjurisprudenz vgl. Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz.
IV. Die logische Priorität des Rechts
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Auf Seiten der Nationalökonomie fand das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Recht immer stärkere Berücksichtigung. Dieser Umstand ist auf die Entwicklung der historischen Denkweise auch in dieser Disziplin zurückzuführen.86 Während die klassische Theorie sich auf die abstrakte Analyse wirtschaftlicher Erscheinungen verlegt hatte, ging die Historische Schule davon aus, daß es keine absoluten wirtschaftlichen Gesetze gebe, ökonomische Erscheinungen vielmehr historisch bedingt und in ihrer Besonderheit durch die Individualität des Volksgeistes geprägt würden, weshalb sie auch von den rechtlichen Verhältnissen abhängig seien.87 Zwar blieb die prinzipielle Unabhängigkeit volkswirtschaftlicher Erkenntnis gegenüber rechtswissenschaftlicher Untersuchung Konsens, aber die Bezüge zwischen Recht und Wirtschaft als Teilsystemen des gesellschaftlichen Lebens fanden zunehmende Beachtung.88
IV. Die logische Priorität des Rechts – Das Verhältnis von Recht und Wirtschaft als Form und Materie (Stammler) 1. Eine „allgemeine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ im Gegensatz zur Gesetzmäßigkeit der Natur In diesem Kontext, zwischen materialistischer Geschichtsauffassung, reiner Wirtschaftstheorie und empirisch-historischen Rechtsbetrachtungen, entwickelte 86 Die Historische Schule in der Nationalökonomie geht auf die Lehren Savignys zurück, die von Hildebrand (1812 – 1878), Roscher (1817 – 1894), Knies (1821 – 1898) und später Schmoller auf die wirtschaftliche Entwicklung übertragen wurden. Durch möglichst umfassende Sammlung geschichtlichen Materials sollte Einsicht in die nationale und historische Bedingtheit ökonomischer Ereignisse angestrebt werden, wobei durch vergleichende Untersuchungen generalisierende Ergebnisse erzielt wurden (dazu Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse II, 987 ff.; Zöpel, Ökonomie und Recht, 166 ff.; Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens I, 406 ff.; Winkel, Grundlagen nationalökonomischen Denkens um die Jahrhundertwende, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 18 ff.). 87 Die Kritik an diesem historischen Ansatz stand im Zentrum des Methodenstreits von 1883 zwischen Schmoller und einem Anhänger der österreichischen Grenznutzenschule, dem Nationalökonomen Menger (1840 – 1917), vgl. dazu Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik I, 98 ff. Zu den parallelen Entwicklungen in Rechts- und Wirtschaftswissenschaft vgl. Zöpel, Ökonomie und Recht, 154 ff. Zöpel hebt die Bedeutung des Selbstverständnisses der Disziplinen für die Frage der Kooperation hervor. So habe etwa die klassische Nationalökonomie ihren Gegenstandsbereich für autonom gehalten und sich lediglich der Auffindung seiner eigenen Gesetze gewidmet. Dieser Ansatz sei jedoch problematisch geworden, nachdem die Bedürfnisse der Gesellschaft nicht automatisch mittels des Marktprozesses befriedigt worden seien und insofern gesetzliche Entscheidungen erforderten (ebd., 10). 88 So ging Schmoller als Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie davon aus, die Volkswirtschaft sei ein relativ selbständiges System, wenn auch mehr gedanklich als in der Realität, wo sie stets ein integrierender Teilinhalt des ganzen Lebens bleibe (Schmoller, Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode, 12). Vgl. Winkel, Grundlagen nationalökonomischen Denkens um die Jahrhundertwende, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 18 ff.
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
Stammler89 seinen Ansatz zum Verhältnis von Recht und Wirtschaft. Seine Ausführungen stehen dabei im Zusammenhang mit seinem sozial- und rechtsphilosophischen Programm. Angesichts des Drucks, den der Empirismus auf die gesellschaftswissenschaftlichen und normativen Disziplinen ausübte, sah Stammler sich gezwungen, Gegenstand, Grenzen und Methode rechts- und sozialwissenschaftlichen Arbeitens zurückzugewinnen und im Rahmen einer sozialphilosophischen Erwägung grundlegende Einheit in die soziale Betrachtung zu bringen.90 Er versuchte eine eigenständige sozialwissenschaftliche Methode zu etablieren, die er strikt von einer nach naturwissenschaftlichen Kriterien allein empirisch erfolgenden Betrachtung sozialer Phänomene unterschieden wissen wollte, denn mit einer naturwissenschaftlich orientierten Untersuchung sah Stammler den gesellschaftlichen Bezug nicht gewahrt.91 Auf der Suche nach einer „allgemeinen Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der Menschen“92, die er als systematische sozialphilosophische Klärung der notwendigen und allgemeingültigen Bedingungen der Erfassung gesellschaftlichen Lebens verstanden wissen wollte und in der er die Grundlage für die Feststellung der Berechtigung sozialer Bestrebungen sah, beschäftigte er sich zunächst mit den Erkenntnisbedingungen der sozialen Betrachtung und der Frage, in welcher Weise die Beziehung des Rechts zu der sozialen Wirklichkeit betrachtet werden müsse, und damit auch mit dem Verhältnis der Rechtswissenschaft zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Dies entsprach der Auffassung der Marburger Neukantianer, wonach philosophische Erkenntnis nicht unmittelbar an die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens anschließen kann, sondern nur über die von den vorausliegenden Fachwissenschaften untersuchten Tatsachen vermittelt wird, indem sie durch „kritische Selbstbesinnung“93 der Aufdeckung der konstitutionstheoretischen, transzendentallogischen Grundlagen dieser Erkenntnis dient.94 89 Rudolf Stammler (1856 – 1938) promovierte 1879 in Gießen und habilitierte sich 1879 in Leipzig. 1882 wurde er außerordentlicher Professor in Marburg und 1884 ordentlicher Professor in Gießen, 1885 in Halle und ab 1916 in Berlin. 90 Zur Frage der Veränderung der rechts- und sozialphilosophischen Programmatik in Stammlers Gesamtwerk C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 140 ff., kritisch hierzu Wenn, Juristische Erkenntniskritik: zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, 143 ff., der demgegenüber den einheitlichen Ansatz einer „Juristischen Erkenntniskritik“ hervorhebt. 91 Stammler, Wirtschaft und Recht, 110 f., 331 ff. Der Sozialwissenschaft fehle noch eine eigene Methode. Daher müsse geprüft werden, ob eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der Menschen entsprechend der Gesetzmäßigkeit der Natur angenommen werden könne und soziale Erkenntnis unter naturwissenschaftlichen Kategorien stehe oder ob es einer besonderen Betrachtungsweise bedürfe (ebd., 3 ff.). Vgl. weiter seine ablehnenden Ausführungen gegenüber einer nach naturwissenschaftlicher Methode betriebenen Soziologie (ebd., 208 ff.). Zu den grundsätzlichen Bemühungen um ein Abgrenzungskriterium gegenüber den Naturwissenschaften und zur Ausbildung anderer Kategorisierungen vgl. Lepsius, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren in den Geisteswissenschaften der Weimarer Republik, Ius Commune XXII (1995), 283 f. 92 Stammler, Wirtschaft und Recht, 4 f. 93 Stammler, Wirtschaft und Recht, 11 (im Original gesperrt).
IV. Die logische Priorität des Rechts
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Als Aufhänger diente Stammler die Auseinandersetzung mit den Lehren der materialistischen Geschichtsauffassung. Stammler wandte sich hierbei strikt dagegen, das Verhältnis von Wirtschaft und Recht als Relation zwischen verschiedenen Bereichen des Daseins bzw. der Kultur zu beschreiben. Aufgrund der Einheitlichkeit des sozialen Lebens konnten nach seiner Auffassung Recht und Wirtschaft nicht als selbständige Komplexe betrachtet werden, die sich wechselseitig beeinflussen, ebensowenig konnte das Recht als Reflex der tatsächlichen Produktionsverhältnisse verstanden werden. Sein Hauptanliegen war es zu demonstrieren, daß das Recht mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Sache nach notwendig verknüpft sei, so daß man nicht vom Vorliegen verschiedener Teilbereiche sprechen könne, sondern es sich um einen Gesamtkomplex der sozialen Wirklichkeit handle. Die gängige Vorstellung in Nationalökonomie und Rechtswissenschaft, die Wirtschaft stelle einen selbständigen Organismus dar, der von der rechtlichen Regelung zwar beeinflußt werden könne, aber in der Wirklichkeit als eigener Gegenstand existiere, lehnte er ab.95 Auch das Recht bestehe nicht für sich als unabhängiger Gegenstand, da es unvermeidlich auf eine bestimmte Art des wirtschaftlichen Zusammenwirkens bezogen sei.96 Stammler war daran gelegen, die Einheit des sozialen Lebens hervorzuheben, er verfolgte die Darstellung eines „sozialen Monismus“97 und zwar sowohl hin94 Die Vorgehensweise der Marburger Neukantianer, die auch Stammlers Untersuchungen zugrunde liegt (dazu C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 66 f.), ist dadurch gekennzeichnet, von der fachwissenschaftlichen Erkenntnis auf ihre transzendentalen Ermöglichungsbedingungen und der ihres Gegenstandes zurückzuführen. Das vorausgesetzte „Faktum der Wissenschaft“ wird erst durch die Aufdeckung der Erkenntnisbedingungen als eigenständiger wissenschaftlicher Gegenstand etabliert. „Es wird also dann eine eigene soziale Wissenschaft möglich sein, wenn sich ergibt, daß die Betrachtung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen unter einer eigenen unbedingten Einheit erscheint, die von der einheitlichen Erfassung der Wahrnehmung natürlicher Erscheinungen grundlegend getrennt ist.“ (Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 403) Dazu C. Müller, ebd., 67, 11 Fn. 18; Winter, Ethik und Rechtswissenschaft, 145 ff.; Oberer, Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre, Kant-Studien 64 (1973), 94 ff.; Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 341 f. Zur Entstehung der Neukantianischen Philosophie vgl. Pascher, Einführung in den Neukantianismus, 33 ff., 51 ff.; zur Entwicklung bis 1880 vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus; Überblick auch bei UeberwegÖsterreich, Grundriss der Geschichte der Philosophie IV, 416 ff. 95 Stammler, Wirtschaft und Recht, 10, 181, 211 ff. 96 Stammler, Wirtschaft und Recht, 212; ders., Die Gesetzmäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 177. 97 Stammler, Wirtschaft und Recht, 297, 318. „Ich verstehe aber unter Monismus des sozialen Lebens nicht nur die Einheitlichkeit des Gegenstandes der sozialen Wissenschaft, – also daß Rechtsordnung und Sozialwirtschaft nur als Form und Materie eines und desselben Objektes zu erachten sind, und nicht als zwei selbständig existierende Dinge, die in irgendwelcher Wechselbeziehung sich befänden; – sondern fasse darunter auch die Einheit des sozialen Lebens in dem Sinne, daß alle Bewegungen der menschlichen Gesellschaft, demnach auch die bestimmenden Gründe der Rechtsänderungen in ihrem Auftreten und Wirken, in einer und derselben Gesetzmäßigkeit begriffen werden.“ (ebd., 307).
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
sichtlich des Gegenstandes der sozialen Wissenschaften als auch hinsichtlich der Frage des sozialen Wandels. 2. Der einheitliche Gegenstand des sozialen Lebens und die Unterscheidung von Form und Materie Ausgehend von dem gesellschaftlichen Dasein als gegebenem Objekt und dabei zunächst material die Unterscheidung von Natur, als Inbegriff der in Raum und Zeit gegebenen Erscheinungen, und Gesellschaft voraussetzend98, ermittelte Stammler im Wege der von ihm befolgten szientistisch geprägten kritischen99 Methode das Recht als bedingende Form und die Wirtschaft als dadurch bedingte Materie.100 Stammler war der Auffassung, das Leben der Menschen sei durch die Besonderheit gekennzeichnet, daß „der Kampf um das Dasein“ im sozialen Zusammenwirken geführt werden müsse.101 In dem Begriff der menschlichen Gesellschaft, verstanden als ein Zusammenwirken zu gemeinsamen Zwecken, seien die rechtliche Regelung einerseits und das geregelte Verhalten der gesellschaftlichen Wirtschaft andererseits enthalten.102 Da diese gemeinsamen Zwecke allein durch die äußere Regelung bestünden, stelle sie die Form der menschlichen Gesellschaft dar.103 Den geregelten Gegenstand bilde demgegenüber die Materie des sozialen Lebens, „das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete menschliche Zusammenwirken“104. Die Gegenüberstellung von materiellen und geistigen Bedürfnissen sowie ökonomischem und politischem Moment, die Marx und Engels hervorgehoben hat98 „Die Wissenschaft vom sozialen Leben will von einer bloßen Erkenntnis der äußeren Natur verschieden sein. Es ist in jenem ein sicher empfundenes eigenes Objekt für menschliche Einsicht gegeben.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 14). 99 Vgl. zu unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs „kritisch“ die knappen Ausführungen bei Oberer, Ist Kants Rechtslehre Kritische Philosophie?, Kant-Studien 74 (1983), 221 ff. 100 „Wir gehen vielmehr jetzt auf die Tatsache des sozialen Lebens der Menschen zurück und prüfen diese Erfahrung des gesellschaftlichen Daseins auf ihre allgemeingültigen Bedingungen hin, um unter ihnen die sozialen Grundbegriffe, und so auch den des Rechtes, in ihrem notwendigen Aufbau klarzustellen.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 10) Demgegenüber erkannte Stammler nach C. Müller (Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 140 ff., 142 f.) in späteren Auflagen von „Wirtschaft und Recht“ das Recht als eigenständiges Objekt wissenschaftlicher Untersuchung an (vgl. Wirtschaft und Recht5, 7 f.). 101 Stammler, Wirtschaft und Recht, 127, 131. „Das Zusammenwirken, wie ich es schilderte, das auf Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gerichtet ist, bezeichne ich mit dem Ausdrucke Sozialwirtschaft.“ (ebd., 129) Unter einer solchen „Sozialwirtschaft“ verstand Stammler kein gemeinschaftliches oder kommunistisches Wirtschaften, sondern die Verfolgung sozialer und nicht individualer Bedürfnisse, also derjenigen, „bei deren Befriedigung ein tätiges Verhalten jemandes in unmittelbarer Rücksicht auf ein solches anderer Menschen stattfinden muß. . .“ (ebd., 129, 130 f.). 102 Stammler, Wirtschaft und Recht, 10 f., 156. 103 Stammler, Wirtschaft und Recht, 111. 104 Stammler, Wirtschaft und Recht, 127.
IV. Die logische Priorität des Rechts
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ten, integrierte Stammler in seinen Wirtschaftsbegriff, indem er ihn weit faßte und ideelle und politische Aspekte davon umfaßt sah. 105 Diese Unterscheidung von Form und Materie, die „sachlich scharfe Bezeichnungen für das methodische Verhältnis gedanklicher Elemente“106 darstellen sollen, führte Stammler ein, indem er auf die in der „Kritik der reinen Vernunft“ entwikkelte und von dem Neukantianer Cohen rezipierte Erkenntnistheorie Kants zurückgriff mit ihrer Unterscheidung zwischen apriorischen, unwandelbaren Formen, die der Erkenntnis vorgegeben sind, und den mit ihnen erfaßten aposteriorischen Inhalten.107 Dient diese transzendentalphilosophische Unterscheidung bei Kant zur Begründung der Erfahrungserkenntnis, wird sie hier entgegen seiner Konzeption auf den Bereich der praktischen Philosophie ausgedehnt.108 Entsprechend dieser Differenzierung unterschied Stammler zwei Betrachtungsweisen, nämlich die der Form nach, die die stetigen und wiederkehrenden Elemente erfasse, und die der Materie nach, die das Wechselnde, Veränderliche der Betrachtung bilde.109 Ihre 105 Stammler, Wirtschaft und Recht, 131 ff., 146 ff. Das Recht beziehe sich auf das soziale Leben als einheitliches: Maßgeblich sei, daß es sich um soziale Bedürfnisse – gleichviel ob wirtschaftliche oder ideelle – handele, eine Grenzziehung sei nur willkürlich möglich. Ökonomischer und politischer Bereich gingen fließend ineinander über und stellten zwei Ausläufer des einheitlichen sozialen Lebens dar, abhängig davon, ob es direkt um die Beschaffung von Gütern oder die das Zusammenwirken ermöglichenden Rechtsnormen gehe (ebd., 133, 147, 148 f.; ders., Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 411 f.). 106 Stammler, Wirtschaft und Recht, 108. 107 Nach Cohen wird durch die gesetzmäßige Form die Wahrnehmung des Mannigfaltigen, das Materiale, erst ermöglicht und begriffen, dazu C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 69. Dort auch zu den Verbindungen zwischen Stammler, Natorp und Cohen. 108 Die Feststellung, Kant sei in seinen moralphilosophischen Schriften hinter seinen kritischen Standpunkt zurückgefallen (so explizit Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 22), weshalb darüber hinauszugehen und die kritische Betrachtung auch innerhalb der praktischen Philosophie im Sinne ihrer Verwissenschaftlichung durchzuführen sei, beruht auf einer Fehlinterpretation der Position Kants (Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 338 f.). Die „wissenschaftslogische Reduktion transzendentalphilosophischer Erfahrungsbegründung“ durch die Neukantianer ermögliche die von Kant abgelehnte „allseitige[n] Anwendbarkeit der wissenschaftslogischen Begründungsmethode“ (ebd., 339). Ebenso Oberer, Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre, Kant-Studien 64 (1973), 94 ff.; Pascher, Einführung in den Neukantianismus, 82 ff. 109 Stammler ging folgendermaßen vor: Die ungeordneten Sonderbegriffe werden unter allgemeinere übergeordnete Begriffe gebracht. Deren begrifflich klare Herausarbeitung geschieht dann in einem Verfahren, in dem diejenigen Elemente, die für den übergeordneten Begriff entbehrlich sind, weil sie entfallen können, ohne daß der Begriff fallen gelassen wird, von denen geschieden werden, die bei eben diesem Gedankengang als unentbehrlich festgestellt werden. Letztere sind die Form. Stammler verdeutlicht dies an einem Beispiel: Lege man die konkreten Beobachtungen eines besonderen Rechtsstreits oder einer speziellen Bestrebung einer Bevölkerungsklasse zugrunde, so komme man von diesem konkreten Inhalt zu dem Oberbegriff der sozialen Beobachtung im Gegensatz zum Oberbegriff der Naturbeobachtung. Jetzt setzt das Unterscheidungsverfahren ein, und der Abstraktionsvorgang ergibt, daß der Begriff der geregelten Beziehung unter Menschen überhaupt bedingend ist, da er
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
Einheit finde die Betrachtung in der Form als bedingendem Element, das die einheitliche Ordnung des Mannigfaltigen im menschlichen Bewußtsein gewährleiste und es ermögliche, die konkreten Beobachtungen unter Begriffe zu fassen.110 Aufgrund des gesellschaftlichen Zusammenhangs existierten wirtschaftliche Vorgänge nur als rechtlich geregeltes Handeln111, und umgekehrt bedeute jede rechtliche Regelung unumgänglich eine Regelung der sozialen Wirtschaft, so daß Recht und Wirtschaft notwendig miteinander verknüpft seien: „Es gibt gar keinen Rechtssatz, der nicht als Inhalt eine bestimmte Regelung des sozialen Zusammenwirkens von Menschen enthielte.“112 Wirtschaftliches Handeln begriff Stammler darum als „Ausführung der rechtlichen Ordnung“, die ökonomischen Sachverhalte stellten sich ihm als „Massenerscheinungen bestimmter Rechtsbeziehungen“113 dar. Wenn Stammler also behauptete, jede rechtliche Regelung bedeute eine wirtschaftliche Normierung, so darf das keinesfalls funktional verstanden werden, obgleich seine Theorie diese Deutung später vielfach bekommen hat. Stammlers Formulierung ist hingegen im Sinne einer erkenntniskritischen Bedingung gemeint: Die Erkenntnismöglichkeit sozialer Prozesse stehe unter der Bedingung äußerer Regelung, denn eine solche müsse bei der Vorstellung eines sozialen Zusammenwirkens logisch vorausgesetzt werden.114 3. Die zentrale Position der Rechtswissenschaft Aus der methodischen Unterscheidung von Form und Materie folgerte Stammler die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft. Zwar seien Recht und Wirtschaft inhaltlich notwendig verknüpft und in der Realität stets untrennbar, in der Theorie könnten sie jedoch isoliert nach Form und Materie betrachtet werden.115 Die Untersuchung der konkreten sozialen Vorgänge im Hinblick auf ihre geschichtlich bedingte Form seien Gegenstand der Rechtslehre, deren Betrachtung – wie im Fall der Mathematik gegenüber der Physik – von der Materie getrennt erfolgen könne.116 Die mit der dogmatischen Konstruknicht weggelassen werden kann, ohne daß die grundlegende Unterscheidung zwischen sozial und natürlich verloren ginge (ders., Wirtschaft und Recht, 109 f.). 110 Stammler, Wirtschaft und Recht, 108 ff. 111 Stammler, Wirtschaft und Recht, 129, 141. 112 Stammler, Wirtschaft und Recht, 212. 113 Stammler, Wirtschaft und Recht, 292 f. „Ein ökonomisches Phänomen heißt daher eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen.“ (ebd., 246, im Orig. gesperrt). 114 Stammler, Wirtschaft und Recht, 98 f.; „. . . – ich sage: logisch, und nicht etwa ,zeitlich‘ oder gar ,kausal‘.“ (ebd., 111). 115 Stammler, Wirtschaft und Recht, 155. 116 Stammler, Wirtschaft und Recht, 155 ff. Das bedeutet nicht, daß das Recht als unabhängiger Komplex betrachtet würde: „Das Recht ist nicht ein für sich bestehendes Ding, das dem sozialen Zusammenleben in Selbständigkeit gegenüberstände und auf dieses in bestimmter Weise einwirkte; . . das rechtliche Wollen hat nur Sinn und Gehalt in seinem regelnden Be-
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tion befaßte Rechtswissenschaft war daher nach Stammler in ihrer Untersuchung und Beweisführung von der konkreten Art und Weise, in der das Recht tatsächlich zur Anwendung gelangt, unabhängig.117 Im Gegensatz dazu sah Stammler die Betrachtung des sozialen Lebens seitens der Nationalökonomie als durch die Form bedingt an, da sie „mit der Betrachtung der konkreten Ausführung eines bestimmt geregelten Zusammenwirkens“118 befaßt sei.119 Jede Erörterung der Grundrente, des Arbeitslohnes, des Kapitalzinses oder des Unternehmergewinnes sei von dem Bestehen einer konkreten Rechtsordnung abhängig wie alle Lehren über Geld, Kredit, Preisbildung oder andere Themen der Nationalökonomie.120 Privateigentum, Vertragsfreiheit, freie Vererbung seien die zuge auf ein durch es als gesellschaftliches ermöglichtes menschliches Zusammenwirken.“ (ebd., 212). 117 Stammler, Wirtschaft und Recht, 178. Die rechtliche Regelung müsse als Form des sozialen Lebens für sich durchdacht werden, ohne daß die Erörterung und Argumentation über den Inhalt dieser Rechtsbestimmungen von ihrer Ausführung innerhalb einer bestimmten sozialen Wirtschaft abhängig wäre (Stammler, ebd., 159; ders., Die Zukunftsaufgaben des Rechtes und der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 451). Im logischen Rangverhältnis sind die Rechtsbegriffe die notwendige Voraussetzung der sozialwirtschaftlichen Vorstellungen. „Es gibt keinen sozialwirtschaftlichen Begriff, der sich nicht auf rechtliche Begriffe, als seine logisch bedingenden Elemente zurückführen ließe. Da jener als Glied einer sozialen Wissenschaft den Inhalt eines gewissen Zusammenwirkens vorführen will, so hängt er von der methodischen Art dieses Zusammenwirkens, das ist der äußeren Regelung, notwendig ab. Er bedeutet die praktische Anwendung der letzteren und stellt ihre besondere Ausführung dar. Darum können die Rechtsbegriffe, in denen wir diese bedingende Regelung fassen, von ,wirtschaftlichen‘ Erwägungen nicht abhängig sein . . . Man mag einen äußeren Anlaß nehmen, aus der Anwendung eines Rechtsbegriffes in gleichartigen Massenerscheinungen eine genauere Untersuchung des ihm eigenen Sinnes anzustellen, man kann eine persönliche Anregung zur besseren Einsicht in den Bau eines Rechtsbegriffes von der Betrachtung eines wirtschaftlichen Begriffes der vorhin geschilderten Bedeutung erhalten . . .“ (Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 188). 118 Stammler, Wirtschaft und Recht, 186. 119 Stammler, Wirtschaft und Recht, 177 ff. Während sich das Recht getrennt betrachten lasse, „so ist es logisch unmöglich, von irgendeinem zusammenstimmenden Verhalten Kunde zu geben, ohne auf die formale Art des Zusammenstimmens, das ist die äußere Regelung, als notwendige Bedingung jener Erkenntnis sich zu stützen.“ (ders., Theorie der Rechtswissenschaft, 188) „Ein wirtschaftlicher Begriff bedeutet die Einheit eines besonderen Zusammenwirkens, mithin die Ausführung einer gegebenen sozialen Regelung als der formalen Art der gemeinsamen Zweckverfolgung. Er begreift die konkrete Betätigung eines äußerlich geregelten Zusammenlebens. Da es ihm aber in seiner Eigenschaft als Begriff auf eine einheitliche Erfassung ankommt, das hierbei gleichmäßig zu Erfassende jedoch ein besonderes Geschehen ist, so kann die Gleichmäßigkeit, in der er gründet, nur als gleichheitliche Massenerscheinung sich bewähren. Das wissenschaftliche Begreifen einer sozialen Wirtschaft besteht also in dem Darlegen gleichmäßiger Massenerscheinungen in der Ausführung einer verbindenden Regelung, für die nach dem uns bekannten Merkmale der Selbstherrlichkeit nun auch maßgeblich die rechtliche Regelung gesetzt werden kann.“ (ebd., 188). 120 Stammler, Wirtschaft und Recht, 178; vgl. auch ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 114: „Wenn z. B. die Wohnungsfrage, die Verschuldung des städtischen Grundbesitzes und der dortige Realkredit erwogen wird, so ist die Einrichtung des Privateigentums, der Vertragsfreiheit, der Hypothek, des Darlehens, der Miete, des Erbbaurechts usf. vorausgesetzt.
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wesentlichen Grundlagen des modernen Privatrechts.121 „Man nehme an, daß an Stelle jener Rechtseinrichtungen grundlegend andere getreten wären, und alle Lehrsätze, die etwa für eine Rechtsordnung mit Privateigentum an Produktionsmitteln ganz berechtigt gewesen waren, hören unter dem entgegengesetzten sozialistischen Rechtssystem auf, irgend einen Sinn noch zu haben; – mit dem, was die Bedingung ihrer Existenzberechtigung und Wahrheit gewesen war, mit einer bestimmten rechtlichen Regelung des sozialen Lebens, fallen sie ganz von selbst in sich zusammen.“122 Entgegen der klassischen nationalökonomischen Theorie konnte es daher nach Stammler eine selbständige wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit nicht geben und dementsprechend auch keine reine Wirtschaftstheorie oder Wirtschaftsphilosophie.123 Die Untersuchung der technischen und natürlichen Möglichkeiten möglichst guter Befriedigung menschlicher Bedürfnisse unter Vernachlässigung jeglicher rechtlicher Regelungen und gesellschaftlicher Zustände anhand eines isoliert gedachten Einzelmenschen stelle keine sozialwissenschaftliche, sondern eine bloße Zweck-Mittel-Relationen erforschende, technisch-naturwissenschaftliche Fragestellung dar.124 Stammler lehnte es daher auch ab – wie die abstrakte Wirtschaftstheorie – das „ökonomische Prinzip“ und den einzelnen Menschen mit seinen Bedürfnissen als Objekt der nationalökonomischen Betrachtung anzusehen.125 Die wissenschaftliche Untersuchung der sozialen Wirtschaft konnte sich nach Stammlers Auffassung nur auf geschichtlich bedingte Ereignisse in ihrer Besonderheit beziehen. 4. Rezeption und Kritik a) Form und Materie als sinnbildliche Umschreibung – Recht und Wirtschaft als Wechselwirkungsverhältnis (Berolzheimer) Berolzheimer berief sich daher ganz offensichtlich zu Unrecht auf Stammler, als er die Formulierung von Form und Materie aufnahm. Entsteht zunächst der AnSobald man diese rechtlichen Möglichkeiten in Gedanken streicht, bleibt von der fraglichen sozialwirtschaftlichen Betrachtung überhaupt nichts mehr übrig. Es kann sonach die Sozialwirtschaft in ihrem jeweiligen Auftreten erkannt werden als die Ausführung einer bestimmten Rechtsordnung. Sie bildet den Gegenstand der Nationalökonomie . . .“ 121 Stammler, Wirtschaft und Recht, 184, 202. 122 Stammler, Wirtschaft und Recht, 202. Hier ist die erkenntniskritische Bedeutung des Rechts zu berücksichtigen: Mit der Abschaffung einer bestimmten Regelung fallen auch alle durch sie erkenntnismäßig bedingten Phänomene weg. 123 Stammler, Wirtschaft und Recht, 199 ff.; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 118. 124 Stammler, Wirtschaft und Recht, 127 ff., 138 ff. Wenn die Nationalökonomie es sich hingegen zur Aufgabe mache, die Befriedigung materieller Bedürfnisse des Menschen zu untersuchen, mißachte sie, daß sie zu den Gesellschaftswissenschaften gehöre. Die Nationalökonomie untersuche nicht die Wirtschaft in abstracto, ihr Gegenstand sei, wenn sie sich als zu den Gesellschaftswissenschaften gehörig verstehe, allein die Sozialwirtschaft, während die Untersuchung der Einzelwirtschaft naturwissenschaftlichen Kategorien unterliege (ebd., 139). 125 Stammler, Wirtschaft und Recht, 143 ff., 200.
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schein, zwischen beiden Konzeptionen bestünde weitgehend Übereinstimmung und wird Berolzheimers Darstellung gelegentlich so verstanden, als buchstabiere sie die Theorie Stammlers im Recht aus126, so muß dem entgegengetreten werden. Die Vorstellung einer wechselseitigen Beeinflussung und die dazu gehörige Kategorie der Kausalität war für Stammler im Rahmen seiner Überlegungen gänzlich unangebracht, da er die Relation, ausgehend von der Einheitlichkeit des sozialen Lebens, als logisches Bedingungsverhältnis verstand.127 Daß eine Formulierung, wie Berolzheimer sie vorgenommen hatte, sein Anliegen nicht treffen konnte, stellte Stammler in der zweiten Auflage von „Wirtschaft und Recht“ von 1906 klar. Dort wandte er sich deutlich gegen derartige Vereinfachungen seiner Konstruktion: „Denn es liegt die Gefahr nahe, daß in den eingangs eingeführten Ausdrücken (scil. Form und Materie) nur bildliche Benennungen erblickt würden, während sie sachlich scharfe Bezeichnungen für das methodische Verhältnis gedanklicher Elemente sind. Und es muß weiterhin von vornherein vermieden werden, daß jemand unter der äußeren Regelung etwa ein Gefäß sich vorstellte, in welches hinterher eine wirtschaftliche Masse hineingeschüttet würde.“128 Berolzheimer hatte aber unter Bezugnahme auf Stammler behauptet: „Alles Recht ist das Gefäß, dessen Inhalt ein wirtschaftlicher (im weitesten Sinne, einschließlich aller kulturellen Momente) ist.“129 Er hatte damit das Form-Materie-Konzept zu einer 126 Diesen Eindruck vermittelt die Darstellung Pribrams, Geschichte des ökonomischen Denkens I, 429. Vgl. auch die Formulierung bei Berolzheimer: „Recht ohne Wirtschaft ist leer, Wirtschaft ohne Recht ist formlos.“ (Berolzheimer, System I, VIII, im Original gesperrt) Bei Stammler heißt es scheinbar gleichgerichtet: „Eine Regel ohne normierten Stoff ist leer, die Vorstellung einer gesellschaftlichen Wirtschaft ohne den Gedanken an bestimmte Regelung des Zusammenwirkens ist wirr.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 156) Während es sich bei Stammlers Ansatz um den grundlegenden Versuch handelt, mit der Unterscheidung von Form und Stoff eine wissenschaftstheoretische Basis für die Arbeit der Sozialwissenschaften zu erlangen, verfolgte Berolzheimer ein ganz anderes Erkenntnisinteresse, denn ihm ging es um eine Belebung der nach seiner Diagnose in philologischer Forschung erstarrten Rechtswissenschaft. Durch die juristisch-ökonomische Betrachtung sollte die begriffliche Konstruktion der Rechtswissenschaften unter Bezugnahme auf die tatsächlichen Verhältnisse vorgenommen werden. Gerade in diesem Punkt zog Stammler jedoch genau entgegengesetzte Konsequenzen aus der Form-Materie-Unterscheidung, die er auch schon gegen Dankwardt vorgebracht hatte (Stammler, Die Zukunftsaufgaben des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 450 f.). Die Rechtswissenschaft war nach seiner Auffassung zur Konstruktion berechtigt und zwar, ohne dabei von der Umsetzung des Rechts in der Wirklichkeit abhängig zu sein. Stammler wollte den sozialen Zusammenhang des Rechts darlegen, aber nicht wirtschaftliche Überlegungen in rechtsdogmatische Untersuchungen einbeziehen (so explizit Stammler, ebd., 450). 127 Stammler, Wirtschaft und Recht, 211 ff. 128 Stammler, Wirtschaft und Recht (19062), 112. „Aus unseren Ausführungen wird deutlich hervorgehen, daß es nicht genügt, wenn man für Recht und Wirtschaft ,eine verwandtschaftliche und nachbarliche Zusammengehörigkeit‘ aufstellt und ,einen Zusammenhang zwischen den verschiedenartigen Gebieten des menschlichen Kulturlebens‘ angibt.“ (Wirtschaft und Recht5, 211). 129 Berolzheimer, Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 442, Fn. 1. Im System II, 419 referierte Berolzheimer zwar korrekterweise, daß nach Stammler Recht und Wirtschaft nicht
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sinnbildlichen Beschreibung der ursächlichen Wechselbeziehung gemacht, um den engen Zusammenhang zwischen den Kulturelementen Wirtschaft und Recht zum Ausdruck zu bringen. Er ersetzte dabei die logische Begründung der Priorität des Rechts durch eine genetische Betrachtung: Das Recht sei historisch betrachtet Voraussetzung für gesellschaftliches und wirtschaftliches Handeln gewesen.130 b) Das Recht als Rahmen (Diehl und die „sozialrechtliche Richtung“) Berolzheimer ist mit seinem Mißverständnis nicht allein geblieben. Selbst Anhänger Stammlers nahmen seine Theorie mit derartig gravierenden Einschränkungen auf, die sie mehr von Stammlers Ansatz entfernten als ihnen offenbar selbst bewußt war. Vielfach wurde hauptsächlich die Betonung der sozialen Bedingungen der Wirtschaft rezipiert und der erkenntnistheoretische Ansatz nur unzureichend gewürdigt. Die von Karl Diehl (1869 – 1943), einem prominenten Vertreter des Konzepts Stammlers unter den Nationalökonomen, vertretene „sozialrechtliche Richtung“131 betonte die fundamentale Bedeutung des Rechts für die Entfaltung der Wirtschaft, allerdings erfuhr Stammlers Theorie hier eine grundlegende Veränderung und wurde auf die Feststellung reduziert, daß das Recht für ökonomisches Handeln eine wesentliche Bedeutung habe und jede volkswirtschaftliche Erscheinung und Erwägung eine Rechtsordnung voraussetze. Auch Diehl ging davon aus, daß der Kapitalismus Vertragsfreiheit und Privateigentum voraussetze.132 Das Recht bilde aber nur den Rahmen, innerhalb dessen sich die wirtschaftlichen Ereignisse abspielten.133 Diehl wandte sich der Vorstellung zu, die Wirtschaft sei nur im Wechselwirkungsverhältnis stehen könnten; die erkenntniskritischen Grundlagen werden aber nach wie vor nicht genügend gewürdigt. 130 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 196. „Denn es hat sich ,die Gesellschaft‘ oder – wie man unter Hervorhebung der wesentlichsten gesellschaftlichen Betätigung richtiger sagt – die Wirtschaft, stets im Rahmen eines (wie immer gearteten) Rechtsbandes entfaltet.“ (ebd., 196). 131 Vgl. bereits Stolzmann, Die soziale Kategorie in der Volkswirtschaftslehre I, der die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen von der Rechtsordnung und den sozialen Institutionen behauptete. Weiterhin Diehl, Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie; ders., Theoretische Nationalökonomie I, 36 ff.; Heymann, Recht und Wirtschaft in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Juristen, Nationalökonomen und Techniker, in: Stammler-FS, 205 ff. Hier wird letztlich die Berolzheimers Konzept entsprechende Vorstellung eines Wechselwirkungsverhältnisses vertreten. 132 Diehl, Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie, 139. Sobald diese rechtliche Grundlage gegeben sei, müsse auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung zur Entfaltung kommen (ders., Theoretische Nationalökonomie I, 139). 133 Diehl, Theoretische Nationalökonomie I, 43; es handele sich um „nur einen ganz weiten äußeren Rahmen“, lediglich die „Grundstruktur des Wirtschaftslebens“ (ebd. 47). Zurückgewiesen wird die Auffassung Stammlers, ökonomische Phänomene seien lediglich „gleichartige Massenerscheinungen von Rechtsverhältnissen“, vielmehr sei nationalökonomisch allein der geregelte Stoff, nämlich das Zusammenwirken der Menschen zum Zweck
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ein Segment des sozialen Lebens.134 Im Grunde erfolgt mit dieser Rezeption eine Rücknahme der Stammlerschen Unterscheidungen, wodurch seine Theorie in der Fassung von Diehl eine funktionale Bedeutung erhält, die einem logischen Bedingungsverhältnis widerspricht.135 Stammlers Standpunkt ist rigoroser, als ihn Diehls Interpretation erscheinen läßt: „Bei allen nationalökonomischen Untersuchungen . . . liegt ganz unvermeidlich eine bestimmte rechtliche (oder konventionale) Regelung in dem Sinne zugrunde, daß diese konkrete rechtliche Normierung die logische Bedingung des betreffenden nationalökonomischen Begriffes und Satzes ist; . . .“136
c) Das Recht als Bedingung rationalen Wirtschaftens (Max Weber) Wurde Stammlers Standpunkt von der sozialrechtlichen Richtung dahingehend modifiziert, daß dem Recht lediglich ein gewisser Vorrang als Rahmenregelung eingeräumt wird, so bestritt Max Weber (1865 – 1920) grundsätzlich die logische Priorität rechtlicher Verhältnisse gegenüber ökonomischen Phänomenen137 und beder Bedürfnisbefriedigung, relevant (ders., Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie, 76). Diehl wies auf ein entscheidendes Problem zwischen normativer Ordnung und tatsächlicher Geltung hin: „Auf die konkrete Art der Verwirklichung, auf die faktische Ausgestaltung der Wirtschaftsgemeinschaft, nicht auf die durch das Recht gebotene Möglichkeit der Verwirklichung kommt es an.“ (ders., Theoretische Nationalökonomie I, 49) Hier wird deutlich, daß Diehl, der zwar vom Recht als „notwendige(r) Erkenntnisbedingung nationalökonomischer Sätze“ (ebd., 48) sprach, das logische Bedingungsverhältnis verkannte. 134 Diehl, Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie, 139. Mit der weiteren Behauptung, es gebe wirtschaftliche Phänomene, für die das Recht ohne Belang sei, wird Stammlers Theorie ebenso aufgeweicht, wie mit der Kritik am zu weiten Wirtschaftsbegriff (ebd., 74 f.). 135 So auch L. Raiser, Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, in: ders., Die Aufgabe des Privatrechts, 24: Die „erkenntniskritische Intention“ sei bei Diehl aufgegeben, weshalb eine rein kausal-mechanische Erklärung übriggeblieben sei. 136 Stammler, Wirtschaft und Recht, 177. Stammler sprach von einer „Bezugnahme auf die konkrete bestimmte Regelung“ (ebd., 179). Allerdings komme es der Nationalökonomie zur Betrachtung der sozialen Wirtschaft weniger auf die Einzelausgestaltung eines Rechtes an, als auf grundsätzliche Entscheidungen und allgemeine Institutionen, in deren konkreter Anwendung und Durchführung dann jene sozialwirtschaftlichen Massenerscheinungen aufträten. Das dürfe allerdings nicht dazu verleiten, die Bedeutung der rechtlichen Regelung auf dieses Maß zu reduzieren, denn jede ökonomische Erscheinung sei rechtlich bedingt (ebd., 201 f.). 137 Webers harsche Kritik an Stammlers Werk „Wirtschaft und Recht“ in seinem Aufsatz „R. Stammlers ,Ueberwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ wird relativiert durch seine später wiederholt geäußerte Einschätzung als „das in vieler Hinsicht glänzende Werk von Stammler“ (vgl. nur ders., Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über Wirtschaft und Recht, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 471). Vgl. auch Stammlers Replik, Wirtschaft und Recht, 670 Fn. 232. Weber bedauerte später seine „leider in der Form etwas scharf geratene“ Kritik (Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 575 Fn. 1)).
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tonte hingegen, indem er das Verhältnis von Wirtschaft und Recht auf historischsoziologischer Ebene thematisierte, die faktische Bedeutsamkeit des Rechts für die Wirtschaft, die in der Bereitstellung von Garantien zur Durchsetzung wirtschaftlichen Handelns bestehe und dadurch die Kalkulierbarkeit des Verkehrs sichere.138 Weber interpretierte die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft als Rationalisierungsprozeß, der sich in allen Lebensbereichen, von Religion und Wissenschaft über Staat und Verwaltung bis zu Technik und Wirtschaft bemerkbar mache.139 Die Modernisierung der Gesellschaft sei eng mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise verbunden, welche durch das Recht organisiert und stabilisiert werde. Auch hier sei der Rationalisierungsprozeß spürbar, denn die Ablösung des Rechts von magisch-irrationalen Elementen hin zu einer rationalen Rechtstechnik sei Voraussetzung für das Funktionieren einer modernen Wirtschaftsordnung.140 Weber ging von einer relativen Unabhängigkeit zwischen Rechts- und Wirtschaftsordnung aus. Es handele sich um ein „nach Maß und Art von Fall zu Fall zu untersuchendes verschiedenes Beeinflussungsverhältnis“, es lasse sich jedoch „keinerlei eindeutige, ,funktionelle‘ Beziehung“ feststellen.141 Gegen die ökonomische Geschichtsauffassung gewandt, behauptete er, eine Rechtsordnung – im juristisch-dogmatischen Sinn – könne unter Umständen unverändert bestehen bleiben, obwohl die Wirtschaftsbeziehungen sich radikal änderten; dann könne nur von einer Änderung des Rechts im soziologischen Sinn gesprochen werden.142 Er exemplifizierte diese Sichtweise ebenfalls am Beispiel der kapitalistischen Wirtschaftsweise und der Privatrechtsordnung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Er behauptete, es könne ohne Änderung auch nur eines Paragraphen eine sozialistische Produktionsordnung eingeführt werden, indem die Produktionsmittel nach und nach durch die politische Führung durch freie Verträge erworben würden.143 Die privatrechtliche Rechtsordnung wäre dann weiterhin in Kraft, würde aber in der Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 17. Dazu Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. 140 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 198. 141 Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über Wirtschaft und Recht, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 476. 142 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 196; ders., Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über Wirtschaft und Recht, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 475 f. 143 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 196; ders., Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über Wirtschaft und Recht, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 475 f. Vgl. auch das entsprechende Beispiel Kantorowiczs, der in § 950 BGB die zentrale Norm der kapitalistischen Wirtschaftsweise gesehen hatte; danach ist der Hersteller einer neuen Sache, die er aus einem ihm nicht gehörenden Stoff gefertigt hat, der Eigentümer. Kantorowicz meinte nun, man müsse lediglich den Herstellerbegriff des § 950 BGB dergestalt interpretieren, daß als Hersteller die Gesellschaft gelte, womit die sozialistische Produktionsweise eingeführt und die Rechtsnorm bestehen geblieben wäre (Kantorowicz, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von A. Voigt, Wirtschaft und Recht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages, 274). 138 139
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Wirklichkeit nicht mehr in Anspruch genommen. Ebenfalls wurde von ihm Stammlers Behauptung in Frage gestellt, Änderungen der Wirtschaft seien aus begrifflichen Gründen identisch mit Änderungen der Rechtsordnung. Gegenüber diesem monistischen Ansatz betonte Weber die maßgebliche Bedeutung des Erkenntnisinteresses bei der Konstitution verschiedener Erkenntnisgegenstände.144 Weber wies energisch „rechtsdogmatische Verfälschungen des empirischen Denkens“145 zurück, die er in Stammlers Formulierung des Rechts als Form des sozialen Le144 Die Qualität eines Vorgangs als sozialökonomischer Erscheinung hafte den Erscheinungen nicht objektiv an, sondern ergebe sich durch die Richtung des Erkenntnisinteresses (Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 161; zur Konstitution der verschiedenen Erkenntnisgegenstände aufgrund verschiedener Erkenntnisinteressen vgl. Loos, Zur Wertund Rechtslehre Max Webers, 17 ff., 93 ff.). 145 Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 345, Fn. 1. Weber war der Ansicht, die Verwendung normativer Begriffe in anderen Wissenschaften sei auf den hohen Entwicklungsstand des juristischen Denkens zurückzuführen. Er sprach von einer „Vorformung“ des Materials zum Zweck einer provisorischen Ordnung der uns umgebenden Mannigfaltigkeit faktischer Beziehungen. „Aber eben deshalb ist es notwendig, stets darüber im klaren zu bleiben, daß diese juristische Vorformung alsbald verlassen wird, sobald die politische oder die ökonomische Betrachtung nun ihre ,Gesichtspunkte‘ an den Stoff bringt und dadurch die juristischen Begriffe in Faktizitäten mit einem notwendig anderen Sinn umdeutet.“ (ebd., 353). Auch wenn Weber die Bedeutung des Rechts als erkenntniskritischer Bedingung nicht nachvollzog, ist in seiner Definition der Wirtschaftsordnung das Moment der äußeren Regelung im Begriff des Einverständnisses mitgedacht: „Die durch die Art des Interessenausgleichs jeweils einverständnismäßig entstandene Verteilung der faktischen Verfügungsgewalt über Güter und ökonomische Dienste und die Art, wie beide kraft jener auf Einverständnis ruhenden faktischen Verfügungsgewalt dem gemeinten Sinn nach tatsächlich verwendet werden, nennen wir ,Wirtschaftsordnung‘.“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 181) Grundsätzlich faßte Stammler unter den Begriff der äußeren Regelung auch die Konventionalregeln, d. h. die auf wechselseitigem Einverständnis beruhenden Normen, und die ohne Rücksicht auf Zustimmung geltenden, selbstherrlichen Rechtsregeln (Stammler, Wirtschaft und Recht, 116 ff.). Gerade in dieser Selbstherrlichkeit sah er auch die Fähigkeit des Rechts begründet, eine Gesetzmäßigkeit innerhalb des Zusammenlebens der Menschen zu erzeugen, was die Konventionalregel nicht vermöge (ebd., 541; ders., Die Theorie des Anarchismus, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 78 ff., 82). Weber hat jedoch auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, der durch das Form-Materie-Konzept nicht erfaßt wird. Die Bestimmung des Rechts als logischer Bedingung für die wirtschaftlichen Verhältnisse, ohne die diese nicht gedacht werden können, und das Verständnis der sozialen Phänomene als konkrete Durchführung der Rechtsordnung, werfen das Problem auf, inwiefern das Recht sich überhaupt in den gesellschaftlichen Verhältnissen niederschlägt. Auch Stammler hatte gesehen, daß das Recht nicht die unvermittelte Ursache für die Entstehung der sozialwirtschaftlichen Erscheinungen abgibt, sondern das tatsächliche Vorgehen der Menschen innerhalb des geregelten Daseins eine entscheidende Rolle spielt (Stammler, Wirtschaft und Recht, 267). Mit Blick auf die juristisch geltende Rechtsordnung würde dies für die Arbeit der Nationalökonomie jedoch bedeuten, daß sie die soziale Wirtschaft möglicherweise unter der Hypothese ihrer tatsächlichen Geltung untersuchen würde. In diesem Sinn bekräftigte Weber gegenüber Stammler, daß die dogmatische Regel keine Form von etwas empirisch Seiendem sei, sondern dem Handelnden gegenüber mit Geltungsanspruch auftrete (Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Gesammelte Auf-
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bens sah, und versuchte nachzuweisen, daß die wissenschaftliche Betrachtung beider Bereiche vollkommen unabhängig voneinander sei.146 Im einzelnen war Stammlers Vorgehen also heftig umstritten. Hier sind nur einige Kritikpunkte in Bezug auf die Analyse des Verhältnisses von Recht und Wirtschaft in praktischer Hinsicht dargestellt worden. Insbesondere kontrovers war zudem der Weg, der Stammler zur begrifflichen Isolierung der Form von der Materie führte und der ihm den Vorwurf eingetragen hat, er verwechsle ein formallogisches, definitorisches Verhältnis mit einem transzendentallogischen Zusammenhang.147 Für den vorliegenden Zusammenhang kommt es indessen auf die Berechtigung dieser Ableitung nicht an, da für die Gegenüberstellung mit der Entwicklungsbetrachtung von maßgeblichem Interesse ist, auf welcher Grundlage Stammler seine noch auszuführende Unterscheidung von Natur und Freiheit einführte und die Idee des Rechts etablierte.
V. Der „Kreislauf des sozialen Lebens“148 – Stammlers Modell gesellschaftlicher Entwicklung Mit seiner Auffassung, daß jede Änderung der Wirtschaft aus logischen Gründen primär eine Änderung des Rechts sei, schien Stammler die ökonomische Geschichtsauffassung teilweise auf den Kopf gestellt zu haben.149 Insofern die soziale Wirtschaft für Stammler nichts anderes darstellte als die „Ausführung des Rechts“, bedeuteten in dynamischer Sicht Veränderungen des Rechts auch Änderungen der sätze zur Wissenschaftslehre, 336). Nicht jede Rechtsänderung bedeute eine Änderung der sozialen Wirtschaft, was mit der begrenzten Macht des Rechts zusammenhänge, das Verhalten der Wirtschaftenden zu steuern (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 196 ff.). 146 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 181. Die Doppelstellung der Normen als Sollensgebote und als faktische Bestimmungsgründe bringe es mit sich, daß sie zum einen dogmatisch, zum anderen empirisch-kausal untersucht werden könnten (ebd., 197). Gegenüber der dogmatischen Rechtsbetrachtung durch die Rechtswissenschaft könne das empirische Erklärungsbedürfnis an Bestandteile der Wirklichkeit anknüpfen, die vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet vollkommen irrelevant seien (Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 353; vgl. auch ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 196). 147 Hier liegt der Vorwurf nahe, es handele sich um das formallogische Verfahren zur Ermittlung des genus proximum durch Absehen von der differentia specifica. Diesen Vorwurf hat unter anderen Binder erhoben (Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 13 ff., 19). Desgleichen beanstandete Erich Kaufmann, Stammler verleihe empirischen Allgemeinbegriffen philosophische Dignität, denn es handele sich nicht um apriorische Kategorialbegriffe im Sinne Kants (E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 11, 13). Vgl. dazu ebenfalls C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 69 ff., 71, Fn. 41; Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 367. 148 Stammler, Wirtschaft und Recht, 287. 149 Weber, Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Voigt über Wirtschaft und Recht, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 475.
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sozialen Wirtschaft.150 „In und mit einer Änderung der betreffenden Rechtsregeln ändert sich dann selbstverständlich die Art des seitherigen sozialen Lebens.“151 Das ergibt sich zwingend aus der erkenntniskritischen Begründung, denn die wirtschaftlichen Institutionen bestehen nur vermittels der Regelung. Mit der Feststellung der logischen Priorität des Rechts hatte Stammler die Bedeutung des Rechts erheblich aufgewertet, allerdings nun nicht umgekehrt behaupten wollen, daß dem Recht gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen eine ursprüngliche, unabgeleitete Steuerungsfunktion zukomme, es aus unbedingter Kraft die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse verändern könne, einer eigenständigen Entwicklung unterliege, und also eine tatsächliche Priorität des Rechts anzunehmen sei.152 Änderungen des Rechts konnten nach Stammlers Auffassung nur innerhalb des tatsächlichen gesellschaftlichen Prozesses erfaßt werden153; darin war er mit der materialistischen Geschichtsauffassung einig. Er hielt es deshalb für unhaltbar, Veränderungen des Rechts wie der Wirtschaft auf von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen unabhängige geistige Kräfte zurückzuführen – Stammler hatte hier die Volksgeisttheorien und bestimmte idealistische Anschauungen im Blick. Damit stellte er sich ebenfalls gegen die von ihm so bezeichneten dualistischen Lehren.154 Er wandte sich allerdings gegen die Vorstellung der materialistischen Geschichtsauffassung, die natürlichen Grundlagen des sozialen Lebens und die veränderten technischen Möglichkeiten seien unmittelbar für Veränderungen des Rechts verantwortlich, und hob die Bedeutung der Rechtsordnung hervor.155 Marx hatte behauptet, die Handmühle bedinge den Feudalismus und die Dampfmühle den Kapitalismus, und damit eine bestimmte Produktionsweise bzw. Technik für eine bestimmte Gesellschaftsordnung verantwortlich gemacht.156 Materielle ProdukStammler, Wirtschaft und Recht, 298. Stammler, Wirtschaft und Recht, 215, vgl. auch 298. 152 Stammler, Wirtschaft und Recht, 207. 153 Stammler, Wirtschaft und Recht, 327. 154 Stammler, Wirtschaft und Recht, 299. Die Annahme von geistigen Bewegungen, „die nicht selbst wieder aus der Wirklichkeit des seitherigen gesellschaftlichen Lebens geboren wären, sondern eine davon unabhängige Herkunft besäßen“, sei unzutreffend. Da die Rechtsordnung nach Stammler nichts für sich Bestehendes darstellt und die Einheit der sozialen Erfahrung gewahrt bleiben muss, kann es weder eine zweite Kausalreihe noch eine unabhängige geistige Macht geben, die speziell für die Änderungen des Rechts verantwortlich sind. 155 Stammler, Wirtschaft und Recht, 291 ff. „Die Dampfmühle erschafft nicht direkt eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten gegenüber der Sozialwirtschaft mit der Handmühle; sondern die Erfindung jener wurde unter einer bestimmten Rechtsordnung ausgiebig benutzt, wobei Massenerscheinungen bestimmter Rechtsbeziehungen hervortraten, die dann später auf Umgestaltung jener sozialen Ordnung hindrängen konnten.“ (ebd., 293). 156 Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 130: „Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ 150 151
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tionsverhältnisse waren jedoch laut Stammler immer schon geregelte Beziehungen.157 Rechtsänderungen waren nach seiner Auffassung auf gesellschaftliche Bestrebungen zurückzuführen, die aus der Erfahrung mit den sozialen Phänomenen resultierten, und diese seien wiederum nichts anderes als konkrete Ausführungen der Rechtsordnung, die sich unter dem Einfluß neuer Technik ergäben.158 Gegenüber der materialistischen Geschichtsauffassung bedeutet dies die entscheidende Korrektur, daß das Recht nicht als bloßer Reflex ökonomischer Bedingungen angesehen werden kann, sondern daß die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen als tatsächliche Konkretisierungen des Rechts Bestrebungen nach Rechtsänderung hervorrufen. Daher hielt Stammler das Bild von der ökonomischen Basis und dem politischen Überbau auch für verfehlt159 und wertete die Bedeutung des Rechts gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen durch sein Konzept entscheidend auf.160 Mit dem „Kreislauf des sozialen Lebens“ sah Stammler allerdings nicht die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens erfaßt. Die in diesem Prozeß entstehenden gesellschaftlichen Bestrebungen und Ideen waren nach seiner Vorstellung zwar abhängig von der geschichtlichen Situation und dem gesellschaftlichen Kontext; auch hier gelte – wie für alle Erscheinungen – das Gesetz der Kausalität, und der Gesetzgeber könne sich nicht in dem Sinne davon freimachen, daß er aus unbedingter Ursache Recht zu setzen vermöchte.161 Das geschichtliche Geschehen müsse jedoch deshalb nicht als weitgehend determiniert angesehen werden, so daß menschlichem Handeln allenfalls die Unterstützung dieses eingesehenen Prozesses verbliebe.162 Der materialistischen Geschichtsauffassung warf Stammler vor, mit Stammler, Wirtschaft und Recht, 326. Stammler, Wirtschaft und Recht, 313 f. „Die bestimmenden Gründe für Änderungen der Rechtsordnung [ . . . ] sind in letzter Linie zu suchen in der vorausgegangenen konkreten Ausführung des betreffenden geregelten Zusammenwirkens“ und nicht in den technischen Grundlagen allein (ebd., 240 f., Hervorhebung nur hier). Der Einfluß der Technik ist nach Stammler durch das „Medium der sozialen Phänomene“ vermittelt (ebd., 292). Aufgrund neuer Technik entstünden in der konkreten Ausführung des Rechts durch „Begründung und Durchführung von Rechtsverhältnissen“ andere soziale Phänomene (ebd. 245). „Ein ökonomisches Phänomen heißt daher eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhältnissen.“ (ebd., 246, im Orig. gesperrt) Als solche fügten diese sich zunächst in die bisherige soziale Regelung ein, drängten dann aber auf eine Umgestaltung der Rechtsordnung, die wiederum andere soziale Phänomene hervorrufe (ebd. 292 f.). 159 Stammler, Wirtschaft und Recht, 318 ff. 160 „Es wird aber das Recht als letzte Instanz mit Fug verantwortlich gemacht, weil es als regelnde Form des sozialen Lebens die bedingende Grundlage für alle möglichen sozialen Erscheinungen abgibt.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 294). 161 Stammler, Wirtschaft und Recht, 300. 162 In die Sackgasse der politischen Tatenlosigkeit manövriert sich nach Stammlers Auffassung eine konsequente materialistische Theorie, die eigentlich lediglich deskriptiv über die historische Entwicklung im Sinne einer Naturbeschreibung Auskunft geben könne. Allerdings seien mit der Aufforderung, die gesellschaftliche Produktion zu fördern, teleologische Elemente aufgenommen worden (Stammler, Wirtschaft und Recht, 429 f., 415 ff.; dazu Lotze, Rudolf Stammlers Marx-Kritik, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 96 f.). 157 158
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der Annahme einer notwendigen Abhängigkeit der rechtlichen Verhältnisse von der sozialen Wirtschaft die soziale Entwicklung unzulässigerweise als Naturprozeß darzustellen.163 Auch wenn er in ihren Bemühungen die beste Anregung sah, eine Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens zu finden, kritisierte Stammler diese Vorstellung wiederholt als „unfertig und unausgedacht“164.
VI. Die Idee des Rechts – Erkenntniskritischer Ansatz vs. Entwicklungsdenken 1. Die Möglichkeit einer „Politik als Wissenschaft“165 „Alle Welt spricht von berechtigten sozialen Bestrebungen und Forderungen, und verurteilt andere als ungerechtfertigt. Aber wenn man fragt, woran das gemessen und bestimmt wird, so bleibt eine befriedigende Antwort aus.“166 Auch Stammler war an der wissenschaftlichen Ermöglichung einer politischen Stellungnahme gelegen, die sich nicht auf eine Weltanschauung, sondern auf eine grundlegende Analyse der verschiedenen sozialen Bestrebungen stützen sollte. In seiner Einleitung zu „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ betonte er, daß die Frage der wissenschaftlichen Aufgaben und Methoden keine akademische sei, sondern von wesentlicher praktischer Bedeutung für die Gestaltung des sozialen Lebens in der jeweiligen historischen Situation.167 „Jede politische Partei, die nicht sich selbst zur Eintagsfliege verurteilen und durch Beschränkung bloß auf konkrete Ziele den Todeskeim sich einpflanzen will, muß von einem festen Prinzip über Grund, Bestimmtheit und Aufgabe aller Gesellschafts163 Zur Auseinandersetzung mit der materialistischen Geschichtsauffassung vgl. Stammler, Wirtschaft und Recht, 26 ff., 380 ff., 425 ff. Zur Frage, inwiefern die Darstellung der materialistischen Geschichtsauffassung in Stammlers Werk dem Anliegen Marx’ und Engels entspricht, vgl. die Kritik bei Lotze, Rudolf Stammlers Marx-Kritik, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 93 ff. 164 Stammler, Wirtschaft und Recht, 19, 71, 425, 433; ders., Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 398. 165 Stammler, Wirtschaft und Recht, 567, 600. Vgl. auch ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 344 f.: „Die wissenschaftliche Leitung der Politik besteht sonach darin, daß die Materie des sozialen Lebens in ihren gleichheitlichen Massenerscheinungen beobachtet und darin beurteilt wird, ob sie in ihrer bestimmenden Richtlinie noch nach dem Blickpunkte des sozialen Ideales gelenkt sind, oder ob der Gedanke des Subjektivismus in ihnen den letzten Ausschlag gibt.“ 166 Stammler, Wirtschaft und Recht, 463. 167 Stammler, Wirtschaft und Recht, 6. Und weiter: „Die Frage nach der obersten Gesetzmäßigkeit, unter der das soziale Leben in Abhängigkeit zu erkennen ist, mündet praktisch in die grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft sofort aus; und von jener ersten prinzipiellen Einsicht hängt die Ergreifung und Lösung der Aufgabe von der Weiterbildung, der Umwandlung und der Vervollkommnung unserer sozialen Ordnungen ab.“
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ordnungen ausgehen.“168 Stammlers Stellungnahme zu den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen steht daher auch ein politischer Anspruch zur Seite, der sich in dem Versuch niederschlägt, bei der Lösung der sozialen Frage idealistisches Denken fruchtbar zu machen.169 Dementsprechend ging es Stammler auch um die Rechtfertigung eines Maßstabs für eine gerechte soziale Ordnung und dessen praktische Realisierung. Das Recht vermittelt als deren Erkenntnisbedingung nicht nur die Ordnung wirtschaftlicher Vorgänge, sondern eröffnet als solche auch die Möglichkeit, ein Rechtsideal zu formulieren, indem inhaltliche Fragen an die Voraussetzungen gegenstandserzeugender Erkenntnis rückgebunden werden können.170
2. Die teleologische Betrachtungsweise und der Gedanke der Wahl Die Auffassung, die politischen Bestrebungen in ihrem Richtigkeitsgehalt einer Bewertung unterziehen zu können, zeugt von einer bemerkenswerten Zuversicht in die Leistungsfähigkeit wissenschaftlicher Methodik, die von einem großen Teil relativistisch eingestellter Autoren, die das wissenschaftlich nicht erweisbare Bekenntnis als unhintergehbare Tatsache behandelten, nicht geteilt wurde.171 Damit verbunden war die Aufforderung zur bewußten Gestaltung des Rechts im Sinne weltanschauungs- und ideologiefreier Maßstäbe. Stammler wandte sich vehement gegen jegliche Form der Rechtsbetrachtung, die in Anlehnung an naturalistische oder geschichtsphilosophische Modelle mit dem Anspruch einer im Objekt liegenden Gesetzmäßigkeit auftrat. Aus der Betrachtung des historischen Verlaufs ließen sich nach seiner Überzeugung für den Gesetzgeber zwar insofern Anhaltspunkte für die Rechtsgestaltung entnehmen, als darin Entwicklungstendenzen erkennbar Stammler, Wirtschaft und Recht, 6. „Das Ringen aber nach gesetzmäßiger Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens ist da, es läßt sich nicht verdecken, noch übersehen, – es heißt: die soziale Frage.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 6) Die Lösung der sozialen Frage sah Stammler als philosophisches Problem und nicht als Aufgabe der Nationalökonomie an, wobei er auf die ethische Nationalökonomie anspielte (ders., Die Gesetzmäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 172 f.). Zu Stammlers politischer Haltung und seiner Beziehung zum ethischen Sozialismus der Marburger Schule des Neukantianismus vgl. Wenn, Juristische Erkenntniskritik: zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, 269 ff., 265 ff. Die Marburger Schule versuchte mit F. A. Lange, Cohen, Staudinger, Vorländer, Natorp eine politisch-soziale Theorie gegen den Marxismus zu etablieren (vgl. dazu Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, 83 ff., 111 ff.; Holzhey, Neukantianismus und Sozialismus, in: Ethischer Sozialismus, (Hg. Holzhey), 7 ff.; Pascher, Einführung in den Neukantianismus, 107 ff., 118 ff.). 170 Zum Begriff der Gegenstandserzeugung vgl. Lepsius, Besprechung von C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, Ius Commune XXIII (1996), 571. 171 Vgl. auch die Kritik bei Kersting, der darin „ein wirklichkeitsfremdes Verständnis von den Faktoren gesellschaftlich-geschichtlicher Wirksamkeit“ erblickt (Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 345 Fn. 25). 168 169
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werden und sich prognostische Überlegungen anstellen lassen. Energisch bestritt er jedoch, daß die kausale Erklärung des Rechts etwas zu einer Rechtfertigung des Rechtsinhaltes beitragen könne. Denn mit der Feststellung der genetischen Entstehung von sozialen Bestrebungen und rechtlichen Regelungen sei der Aufgabe, die menschliche Gesellschaft und ihre Entwicklung gesetzmäßig zu erkennen, keineswegs genügt. Wenn Stammler nach einer „Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ fragte, waren damit nicht soziale Gesetze in Analogie zu den Naturgesetzen gemeint, denn Naturgesetze vereinheitlichten nach Stammler die Wahrnehmungen der Sinneswelt.172 Gesetzmäßigkeit bedeutete für Stammler eine vom Bewußtsein geschaffene „grundlegende Einheit“173, die für die Natur durch die Betrachtung nach Ursache und Wirkung hergestellt werde, aber nicht allgemein mit kausaler Erklärung und Ableitung der Ereignisse aus wirkenden Ursachen identifiziert werden könne.174 Denn bei gesellschaftlichen Bestrebungen gehe es um die Verwirklichung menschlicher Zwecke und damit nicht um Wahrnehmung, sondern um Wollen, so daß hier keine kausalen Entwicklungsgesetze aufgewiesen werden könnten.175 Stammler unterschied systematisch zwei Ordnungsprinzipien des menschlichen Bewußtseinsinhaltes: das Wahrnehmen und das Wollen.176 Entgegen allen rein empiristischen Modellen ging er davon aus, daß die kausal-empirische Betrachtung allein keine absolute Erkenntnis des gesamten Bewußtseinsinhalts bieten könne. Denn während durch Wahrnehmung die Wirklichkeit unter dem Kausalgesetz nach Ursache und Wirkung vorgestellt werde, gehe es bei dem Wollen um das Setzen von Zwecken und den Einsatz von Mitteln zu ihrer Erreichung.177 Speziell das soziale Wollen – in Unterscheidung zum sittlichen Wollen178 – verbinde die verStammler, Wirtschaft und Recht, 565. Stammler, Wirtschaft und Recht, 333. „Die einheitliche Auffassung einzelner und wechselnder Erscheinungen, der wir den Namen des Gesetzes beilegen, fliegt nicht von außen her uns an – sie muß gesetzt werden; und sie wird gesetzt durch das menschliche Bewußtsein. Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens würde sonach eine einheitliche Erfassung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen sein, eine oberste einheitliche Art, nach der alle sozialen Erscheinungen aufgefaßt und eingesehen werden.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 13). 174 Stammler, Wirtschaft und Recht, 331. 175 Stammler, Wirtschaft und Recht, 564 ff. 176 Stammler, Wirtschaft und Recht, 457 f.; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 56 ff. Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 86; vgl. auch Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 65, der darin keine umfassende Einteilung der Bewußtseinsrichtungen sieht und in dieser Klassifikation das Sollen und das Werten vermißt, denen das Recht zugehöre. 177 Stammler wandte sich gegen Jherings Vorstellung, der Zweck sei eine besondere Art der Ursache im Sinne einer psychologischen Kausalität. Die Zweckbetrachtung sei von der ursächlichen Betrachtung methodisch völlig verschieden (Stammler, Wirtschaft und Recht, 336 f.). Gegen Stammlers Formulierung des Wollens als Zweckvorstellung Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 65 ff., der demgegenüber die Bedeutung irrationaler, emotionaler Haltungen für das Rechtsleben hervorhob, die in den Bereich des Wertens oder Sollens fielen. 178 Stammler, Wirtschaft und Recht, 373. 172 173
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schiedenen individuellen Zwecke. Gerade in der Verfolgung von Zielen sah Stammler die Besonderheit des sozialen Zusammenwirkens, das mit der genetischen Betrachtungsweise nicht adäquat erfaßt werden könne.179 Mit der Differenzierung von Kausal- und Zweckbetrachtung ist ein Grundproblem berührt, das auch Kant in der dritten Antinomie der „Kritik der reinen Vernunft“ behandelt hatte, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Naturkausalität und Freiheit. Kant hatte sich dort dem Beweis der Möglichkeit transzendentaler Freiheit zugewandt und demonstriert, daß die Annahme einer absoluten Spontaneität, verstanden als Möglichkeit, „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen . . .“180, mit der Vorstellung des Kausalgesetzes sehr wohl vereinbar sei, und damit der praktischen Philosophie eine Grundlage verschafft.181 Stammler bekräftigte in gleicher Richtung, daß neben der Kausalbetrachtung der Zweckgedanke ein möglicher Inhalt des Bewußtseins sei; in der Begründung und dem Verständnis von Freiheit ging er jedoch einen anderen Weg als Kant, denn er wollte nicht die Unabhängigkeit von der Naturkausalität erweisen, sondern von zufälliger Subjektivität.182 Es ging ihm jedoch gleichermaßen darum, die Möglichkeit verstandesmäßiger Erwägung über die anzustrebenden Zwecke statt des rein „tumultarischen“ 183 und triebmäßigen Begehrens darzutun. Der Mensch ist nach seiner Auffassung grundsätzlich in der Lage, sein subjektives Handeln zu durchschauen und seine Entscheidungen von objektiv gesetzmäßigen Maßstäben leiten zu lassen. Die Zweckbetrachtung bedeutet für Stammler nun gerade die methodische Grundlegung der gegebenen tatsächlichen Gedankeninhalte.
179 Stammler, Die Gesetzmäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 178. 180 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 562, WW 489. Auflösung der dritten Antinomie, B 560 ff., WW 488: Kant war davon ausgegangen, daß die beiden widerstreitenden Thesen von der durchgängig kausal bestimmten Welt einerseits und der Annahme eines ersten Anfangs andererseits für die Vernunft vereinbar seien, denn sie ermögliche es dem Menschen, sich zum einen als phänomenales, der Seinswelt zugehöriges, und zum anderen als intelligibles, der Verstandeswelt zugehöriges Wesen zu betrachten. Freiheit ist damit nach Kants Gedankengang kein empirisches Phänomen, läßt sich aber in der Theorie als transzendentale Idee begründen und zwar als Möglichkeit, den Willen frei von kausal vermittelten Antrieben im Sinne eines Entscheidungsaktes für einen Standpunkt außerhalb der Naturkausalität zu bestimmen. Dazu Busch, Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants, 70 ff.; Teichner, Kants Transzendentalphilosophie, 92 ff. Zu Kants Freiheitsbegriff im Verhältnis zum Rechtsprinzip vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 116 ff. 181 Dazu und zur Bedeutung der transzendentalen Freiheit für die praktische Philosophie vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 122 f.; Esser, Eine Ethik für Endliche, 176 ff. 182 Stammler, Wirtschaft und Recht, 331 ff., 361 ff., 362, 554. C. Müller weist darauf hin, daß Stammler sich weniger auf den historischen Kant als auf dessen Interpretation durch die Marburger Neukantianer bezog, denn bereits Cohen hatte unter Freiheit nicht die Unabhängigkeit vom Kausalgesetz, sondern die Unabhängigkeit vom Zweck-Mittel-Mechanismus verstanden (C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 45 f., 75). 183 Stammler, Wirtschaft und Recht, 364.
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Freiheit kann also nach Stammler zwar nicht als Fähigkeit verstanden werden, aus unbedingter Kraft in eine kausale Kette von Ereignissen einzugreifen.184 Nach Stammler ist die Behauptung willkürlicher Freiheit falsch, denn die menschlichen Handlungen unterliegen ebenso dem Kausalitätsgesetz wie die Naturerscheinungen. So seien die im Entwicklungsprozeß auftretenden Ideen und die auf Änderung der Rechtsordnung zielenden Bestrebungen genetisch betrachtet auf die sozialen Phänomene zurückzuführen.185 Auch der Gesetzgeber sei nicht frei in seinem Vorgehen in dem Sinne, daß er aus unbedingter Kraft in das geschichtliche Geschehen eingreifen könne.186 „Die Umwandlungen in den sozialen Ordnungen sind nicht das kausal freie Werk vernünftig überlegender Gesetzgeber. Sondern es führen alle rechtlichen Umformungen in der Besonderheit ihres Inhaltes allemal auf empirisch bedingtes Begehren und Streben und Drängen zurück, das aus konkreter geschichtlicher Lage eines bestimmt geregelten gesellschaftlichen Menschendaseins in seiner Entstehung zu begreifen ist.“187 Im Rahmen der Verfolgung von Zwecken habe das Subjekt in einer konkreten empirischen Situation jedoch unter verschiedenen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Die Gegenstände der Wahl müsse der Urteilende nicht selbst schaffen, sondern sie seien ihm geschichtlich-kausal vorgegeben. Für ihn komme es nun darauf an „die Wahl unter dem richtigen Gesichtspunkte vorzunehmen“188. Seine Willensentscheidungen haben nach Stammler nämlich verschiedene Folgen, je nachdem, ob er dabei von der Idee einer unbedingten Gesetzmäßigkeit ausgehe oder den bloß zufälligen sinnlichen Eindrücken folge.189 Der Gedanke der Freiheit setze damit nicht die Geltung des Kausalgesetzes außer Kraft, sondern bedeute Freiheit von subjektiver Zwecksetzung im Sinne einer objektiven „Gesetzmäßigkeit des Wollens“190. Freiheit ist daher nach Stammler nicht die Wirksamkeit des Handelnden aus unbedingtem Entschluß, sondern die Möglichkeit, sich bei einer Entscheidung unabhängig von irgendwelchen sinnlichen Antrieben von der Idee leiten zu lassen.191 3. Das „soziale Ideal“ als regulative Idee Dementsprechend ging es für Stammler bei der Suche nach der obersten Gesetzmäßigkeit des sozialen Wollens nicht um die Betrachtung zufällig verfolgter, tatsächlicher Zwecke. Die Gesetzmäßigkeit des Wollens konnte nach seiner Auffas184 185 186 187 188 189 190 191
Stammler, Wirtschaft und Recht, 362; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 184 ff. Stammler, Wirtschaft und Recht, 308. Stammler, Wirtschaft und Recht, 300. Stammler, Wirtschaft und Recht, 569. Stammler, Wirtschaft und Recht, 363. Stammler, Wirtschaft und Recht, 362, ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 59 ff. Stammler, Wirtschaft und Recht, 362 (im Orig. gesperrt). Stammler, Wirtschaft und Recht, 362 f.
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sung allgemeingültig nur in einer einheitlichen, grundlegenden Methode des Ordnens und Richtens menschlicher Zwecke liegen, also in einem formalen Verfahren, das von jeder subjektiven Zwecksetzung einzelner Individuen abstrahiert.192 Nur auf diese Weise sei der oberste, objektive Zweck zu ermitteln. Da das Recht als verbindendes, gemeinschaftliches Wollen dazu diene, ein bestimmtes Zusammenleben von Menschen herzustellen, liege das oberste, unbedingt allgemeingültige Ziel, der formale Grundgedanke des gesellschaftlichen Daseins in der Idee der „Gemeinschaft frei wollender Menschen“193, die Stammler als „soziales Ideal“194 bezeichnete. Stammlers mißverständliche Formulierung eines rechtsimmanenten „Naturrecht(s) mit wechselndem Inhalt“195 und seine formale Rechtsidee stellen den Versuch dar, eine Position jenseits von klassischem Naturrecht und Positivismus zu etablieren.196 Die Idee des Rechts ist für Stammler alles andere als ein Reflex der wirklichen Verhältnisse, der „soziale Idealismus“ bedeutet vielmehr eine Zwecklehre, die die Rechtfertigung des positiven Rechts entsprechend des erkenntniskritischen Ansatzes in der methodischen Grundlegung des Richtigkeitsbegriffs sucht und dabei mit der Frage nach einer unbedingt einheitlichen Methode des Ordnens des Bewußtseinsinhaltes die vorausgesetzten gedanklichen Strukturen des Rechts aufdecken will.197 Dieses Konzept hat Stammler in seinen späteren Schriften weiterentwickelt und modifiziert.198 Das soziale Ideal macht keine substantiellen Vorgaben – weder Gleichheit noch Glück können einen letzten Zweck darstellen199 – sondern besteht Stammler, Wirtschaft und Recht, 552. Stammler, Wirtschaft und Recht, 554 (im Orig. gesperrt). 194 Stammler, Wirtschaft und Recht, 568; vgl. auch ders., Die Lehre von dem richtigen Rechte, 140 ff. 195 Stammler, Wirtschaft und Recht, 174. „. . . das sind solche Rechtssätze, die unter empirisch bedingten Verhältnissen ein theoretisch richtiges Recht enthalten.“ (ebd., 174). 196 C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 5. 197 Kersting spricht hier von einer „transzendentalphilosophischen und konstitutionstheoretischen Parallelaktion“ des Modells aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 363). Dort auch zur Kritik an Stammlers Rechtsbegriff und seiner Idee des Rechts. Gegen Stammlers Rechtsbegriff als „eines empirisch bedingten Willens“ vgl. auch die Kritik Ebbinghaus’ (Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: Litt-FS, 317), der im übrigen von einem „Pseudokantianismus Stammlers“ spricht und das Unvermögen der Stammlerschen Theorie, dem Rechtsbefehl des Machthabers mit dem sozialen Ideal ein Korrektiv entgegenzusetzen, anprangert, was auf die Trennung von Rechtsbegriff und Rechtsidee zurückzuführen sei (ebd., 329 ff.). 198 Zu den Modifikationen des sozialen Ideals im Werk Stammlers vgl. C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 74, 105, 153. Der Gedanke der Freiheit von der Subjektivität der Zwecke trete später zurück hinter der Vorstellung der Gemeinschaft als dem freien Wollen. Der Gesichtspunkt der sozialen Gesetzmäßigkeit werde durch die Suche nach einer Gesetzmäßigkeit des Wollens überhaupt ersetzt. 199 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 136 ff. 192 193
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darin, die verschiedenen subjektiven Zwecke der einzelnen im Sinne einer unbedingten Einheit zu verbinden, es bedeutet lediglich ein Verfahren, ist ein methodischer Maßstab.200 In Anlehnung an Kants in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ entwickelte Vorstellung eines „Reichs der Zwecke“201 sollen die sich gegenüberstehenden individuellen und gemeinschaftlichen Zwecke im Sinne eines einheitlichen, obersten Zwecks harmonisiert werden.202 Aus dem sozialen Ideal leitete Stammler die Grundsätze des richtigen Rechts ab: die Grundsätze des Teilnehmens und des Achtens203, die trotz der bisher verfolgten formalen Methode keineswegs inhaltsarm sind, sondern sich, wie Kersting feststellt, als „kaum anderes als die grundlegenden Strukturprinzipien moderner individualistischer Gesellschaften“204 darstellen und von Kantorowicz sogar als „einfaches Naturrecht alten Stils“ bezeichnet worden sind, das sich „von den alten Meistern nur dadurch unterscheidet, daß er (scil. Stammler) statt ein sorgfältig aus200 Radbruch bemängelte trotz der Verdienste Stammlers um die Rechtsphilosophie, daß seine Theorie keine Werturteile liefere. „So ist sie weniger eine Rechtsphilosophie als eine Logik der Rechtsphilosophie, eine Erkenntnislehre der Rechtswertbetrachtung . . .“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, 113) Radbruchs Vorstellung, ein „System der Systeme“ zu etablieren, war der Ausweg zwischen einer nur methodischen Vorgehensweise einerseits und einer affirmativen Haltung gegenüber einem bestimmten System (ebd., 113 f.). Desgleichen sah Wielikowski in der Rechtsphilosophie eine Wertlehre, die die fundamentalen Wertungstypen beschreiben könne, und kritisierte, daß Stammler aus den Erkenntnisgesetzen der Wertung einen absoluten Wertmaßstab abgeleitet habe – er erhob sogar den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses (Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 89 ff.). Kritisch auch Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 373. Vgl. auch die Kritik bei Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 199 ff., 315 f.; Mayer, Bespr. von Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Krit. Vierteljahresschrift 46 (1905), 178; ders., Rechtsphilosophie, 20 f. 201 Dazu Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 375 f. 202 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 141 ff. „Es ist in jeder Rechtsordnung notwendig das Eine gedacht, daß die ihr Unterstellten den Kampf ums Dasein gemeinsam mit größerem Erfolge führen mögen, so daß durch die Einfügung in die Gemeinschaft jeder zugleich sich am besten noch dienen kann.“ (ebd., 196). 203 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 146 ff. Die Grundsätze des Achtens sind (ebd., 148 ff.): 1. Es darf nicht der Inhalt eines Wollens der Willkür eines anderen anheimfallen. 2. Jede rechtliche Anforderung darf nur in dem Sinne bestehen, daß der Verpflichtete sich noch der Nächste sein kann. Die Grundsätze des Teilnehmens sind (150 ff.): 1. Es darf nicht ein rechtlich Verbundener nach Willkür von der Gemeinschaft ausgeschlossen sein. 2. Jede rechtlich verliehene Verfügungsmacht darf nur in dem Sinne ausschließend sein, daß der Ausgeschlossene sich noch der Nächste sein kann. Dazu Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 378 f., insbes. Fn. 89. Kritik wegen fehlenden Ableitungszusammenhangs zu dem Ideal der Gemeinschaft bei Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 92 ff. 204 Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 379. Insofern kritisch auch Larenz, Richtiges Recht, 22 f.
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gearbeitetes System zu bringen, es bei der Angabe der höchsten, mit abstraktem Inhalt, aber doch mit Inhalt, gefüllten Obersätze bewenden lässt.“205 In Anwendung dieser Prinzipien kam Stammler zu dem Ergebnis, daß die Sklaverei für die bisherigen geschichtlichen Zustände als objektiv unrichtig bewertet werden müsse, weil der Grundsatz des Achtens verletzt sei206, eine – wie zu sehen sein wird – vom Entwicklungsstandpunkt Kohlers unhaltbare Position.207
4. „Richtiges Recht“ In dem sozialen Ideal einer Gemeinschaft frei wollender Menschen sah Stammler die Richtlinie des Rechts.208 Der Gedanke eines freien Willens war für ihn das absolute Ziel, eine Idee, der als regulativem Gesichtspunkt nachzustreben sei, auch wenn sie in der Erfahrung nie ganz verwirklicht werden könne.209 „Die Idee ist selbst nicht schöpferisch . . . Wer von ihr Lieferung positiver Ziele verlangt, ist grundsätzlich auf dem Holzweg.“210 Sie kann aber dazu dienen, geschichtlich bedingte und angestrebte Rechtssetzungen anhand des sozialen Ideals zu überprüfen. Im Bereich der Rechtsprechung finden die Grundsätze dann Anwendung, wenn der wirkliche Wille des Gesetzes es dem Richter auferlegt, also wenn das Recht auf die guten Sitten, Treu und Glauben, Billigkeit etc. Bezug nimmt. Da bei Stammler positives und richtiges Recht nicht einander gegenübergestellt sind, ist für ihn das gesetzte Recht, das sich von dieser Rechtsidee leiten läßt, „richtiges Recht“211; mit der Bezeichnung des Rechtes als „Zwangsversuch des 205 Kantorowicz, Zur Lehre von dem richtigen Recht, ARWP II (1908 / 09), 68. Kantorowicz bemängelt darüber hinaus die fehlende Tauglichkeit der Grundsätze zur Lösung praktischer Rechtsfragen (ebd., 70 ff.). Die Berechtigung dieser Kritik zweifelt C. Müller vor dem Hintergrund des Verständnisses der Lehre von dem richtigen Recht als sozialer Methodenlehre an (C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 106 ff.). 206 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 268 f.; ders., Theorie der Rechtswissenschaft, 332 f.; eine Lage, in der dies anders sein könnte, erscheint Stammler schwer vorstellbar (ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 176 f. Fn. 2). Weitere Beispiele in ders., Die Lehre von dem richtigen Rechte, 209 ff. Vgl. auch Stammlers wegen der notwendigen praktischen Erwägungen zurückhaltende Stellungnahme zur Wohlfahrtsfrage, ders., Gedanke und Ziele der Wohlfahrtfrage, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 319 ff., 328. 207 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 16. 208 Stammler, Wirtschaft und Recht, 554 ff.; ders., Die Lehre von dem richtigen Rechte, 140 ff. Zum Begriff des Idealismus, ebd., 129. 209 Stammler, Wirtschaft und Recht, 554, 556. Zu Bedeutung und Kontext des Terminus „Rechtsidee“ bei Stammler vgl. auch von der Pfordten, Die Rechtsidee bei Kant, Hegel, Stammler, Radbruch und Kaufmann, in: Value Pluralism, Tolerance and Law, (Hg. Shing-ILiu), 333 ff. 210 Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 182 Anm. 2. 211 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 52.
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Richtigen“212 werden, worauf Kersting hinweist, „Rechtsbegriff und Rechtsideal verklammert“213, ohne daß letztlich die moralindifferente Fassung des Rechtsbegriffs zurückgenommen wird.214 Gegenüber dem machtgestützten Rechtsbefehl entfaltet die Idee des Rechts keine bindende Kraft und bleibt auch für die Rechtsgestaltung und Anwendung ein bloßes Postulat, das gegenüber demjenigen, der sie nicht anerkennt, ohne verbindliche Wirkung bleibt.215 Die Lehre vom richtigen Recht bedeutet, wie Stammler wiederholt betont hat, nur eine Methode. Es ging Stammler um eine absolute Richtlinie, die nach seiner Überzeugung nicht der Betrachtung des empirisch bedingten, geschichtlichen Prozesses zu entnehmen war.216 „Ob etwas Recht sein soll, das läßt sich niemals an der Hand eines Maßstabes ausmachen, der nur durch empirische Forschung gefunden wäre; weder durch eine solche bezüglich vorhandenen Rechtes, noch anderer geschichtlicher Tatsachen.“217 212 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte; 55 ff., vgl. auch ders., Wirtschaft und Recht, 569. 213 Kritisch hierzu Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 370 ff. 214 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 93. Zur Trennung von Rechtsbegriff und Rechtsidee bei Stammler vgl. Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 370 ff. und Ebbinghaus, Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: Litt-FS, 333. Nach C. Müller hängt diese Formulierung mit der Anlage der Lehre vom richtigen Recht als sozialer Methodenlehre zusammen, die das richtige Recht primär nicht in normativem, sondern in deskriptivem Sinn verstehe und nachweisen solle, wie der Maßstab des sozialen Ideals in der wissenschaftlich verfahrenden Jurisprudenz wirksam sei (C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 108 Fn. 72; 110, 181 ff.; vgl. auch Wenn, Juristische Erkenntniskritik: zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, 33 ff.). Die Dichotomie zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus treffe daher das Anliegen Stammlers nicht (C. Müller, ebd., 4 f., 180 ff.; ebenso Lepsius, Besprechung von C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, Ius Commune XXIII (1996), 572). Zur Frage der Verbindlichkeit des Rechts im Falle bewußter Leugnung rechtsethischer Prinzipien C. Müller, ebd., 188 Fn. 29; Wenn, ebd., 258. 215 Warum ein objektives richtiges Wollen notwendig sei, lasse sich wissenschaftlich nicht erweisen (Stammler, Wirtschaft und Recht, 356 f., 614 f.). Es sei Sache geeigneter Erziehung, den Enthusiasmus für das Rechtsideal zu erzeugen. Dazu und zur Bedeutung der Rechtspsychologie bei Stammler auch Wenn, Juristische Erkenntniskritik: zur Rechts- und Sozialphilosophie Rudolf Stammlers, 33 ff., 142, 183. 216 Allein weil zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern die obersten Ideale unterschiedlich seien, könne man nicht die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Wahrheit für das soziale Leben leugnen. „Die einzelnen Zwecke und konkreten Bestrebungen erwachsen aus geschichtlich überlieferten Zuständen und gegebenen sozialen Erscheinungen heraus. Aber mit dem Nachweis des kausalen Werdegangs ist noch nicht der der ,Notwendigkeit‘ im Sinne der wissenschaftlichen Begründetheit geführt. Auch der Irrtum erwächst aus gesetzlich wirkenden Ursachen. So ergibt sich hier die Aufgabe, die besonderen sozialen Ziele, die in historischer Bedingtheit als Stoff wissenschaftlicher Bearbeitung entstehen, im Sinne einer einheitlichen Richtung der Gedanken zu ordnen.“ (Stammler, Wirtschaft und Recht, 431 f.). 217 Stammler, Die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge I, 18. „Dann aber neigt sie (scil. die materialistische Geschichtsauffassung) zu dem häufigen Fehler des Empirismus, der nicht darin gelegen ist, daß
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Kap. I: Recht, Wirtschaft und Rechtsidee
Eben diese Auffassung, daß die Betrachtung der Rechtsentwicklung Anhaltspunkte zur Bewertung und Fortbildung des Rechts hervorbringe, ist bereits bei Berolzheimer angeklungen. Während Stammler die Richtigkeit des Rechts in der Übereinstimmung mit der regulativen Idee des sozialen Ideals sah, verlegten sich die im folgenden behandelten Autoren auf eine in normativer Perspektive durchgeführte Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung. Die rein methodischlogizistische Betrachtung wurde von ihnen zur Etablierung einer praktischen Philosophie als unbrauchbar angesehen. Da aber nach ihrer Überzeugung das Sein Strukturen enthielt, die auf ein Sollen hinweisen, sollte der tatsächlichen Entwicklung ein Maßstab für die Rechtsgestaltung entnommen werden können. Bereits an dieser Stelle liegt der Vorwurf der Mißachtung der Unterscheidung von Sein und Sollen und des naturalistischen Fehlschlusses nahe. Trotz eines Bekenntnisses zur wertfreien, empirischen Untersuchung spiegeln sich in diesen Ansätzen unterschiedliche Weltanschauungen, die im folgenden transparent gemacht werden sollen. Dabei soll ein genaues Augenmerk darauf gelegt werden, welche der Wirklichkeit immanenten Strukturen das normative Anliegen tragen sollen.
er kein Absolutes setze, sondern daß er die Erfahrung selbst als absolut bestehend nimmt. Sie beschränkte sich grundsätzlich auf die Konstatierung dessen, was im sozialen Leben nun wirklich geschieht und tatsächlich erstrebt wird. Das aber kann Gesetz und Einheit im menschlichen Gesellschaftsdasein nimmer liefern. Denn dieses ist auf bestimmte äußere Regelung gegründet; deren eigentümliches Wesen die Zweckverfolgung ausmacht. Es kann keine oberste Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens geben, als eine solche des Endzweckes desselben.“ (ders., Wirtschaft und Recht, 433).
Kapitel II
Der Entwicklungsgedanke Bei den Versuchen, den Entwicklungsgedanken für die Rechtsgestaltung fruchtbar zu machen, ist deutlich die Prägung durch das empirische Wissenschaftsverständnis spürbar. Durch die Forderung, die Rechtswissenschaft müsse sich erfahrungswissenschaftlicher Mittel bedienen, wurde der Blick auf die sozialen Umstände und historischen Ausformungen juristischer Institute und Konstruktionen gelenkt. Diese Ausrichtung innerhalb der Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird auch an einer verstärkten Hinwendung zu rechtsvergleichenden Untersuchungen sichtbar. In ihnen wurden fremde Rechtskulturen nicht allein zu dem Zweck untersucht, ein genaues Verständnis ihrer rechtlichen Erscheinungen zu erlangen. Die rechtlichen Einrichtungen verschiedener Völker und unterschiedlicher zeitlicher Perioden wurden überdies im Hinblick auf den groß angelegten Versuch erforscht, allgemeine Prinzipien der Rechtsentwicklung aufzeigen zu können und ihre Relevanz für die Gestaltung des geltenden und zukünftigen Rechts zu erweisen.
I. Der Stellenwert der Rechtsvergleichung, Universalrechtsgeschichte und ethnologischen Jurisprudenz Anlaß zu der Erwartung, die bisherigen Rechtsbildungen könnten für die gegenwärtige Rechtsgestaltung in irgendeiner Form maßstäblich sein, war vielfach die Annahme, bei den verschiedensten Völkern sei eine einheitliche Entwicklungsrichtung hin zu gleichen Rechtsformen erkennbar.1 Aus dieser Beobachtung wurde mitunter die Einheit der Menschheit2 sowie die Wirksamkeit allgemeiner, dem 1 Vgl. die von Kohler angeführten Entwicklungslinien: „ . . . wie alle Völker sich vom Stande des Totemismus und der Gruppenehe zur Bildung von Staaten und Familien mit Einzelehe, vom Kommunismus in der Naturbenutzung zur Einzelwirtschaft hervorgerungen haben . . .“ (Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, Grünhut’s Zeitschrift 28 (1901), 273 ff., zitiert nach dem Sammelband: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 19). Zu neueren Überlegungen über Evolutionsprinzipien des Rechts auf anthropologischer Grundlage vgl. Zemen, Evolution des Rechts; Lampe, Genetische Rechtstheorie; systemtheoretische Verwendung des biologischen Entwicklungsgedankens bei Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 11 ff. 2 Post, Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz, Bd. 1, Allg. Teil: Die Entdeckung weitreichender Parallelen im Rechtsleben aller Völker sei nicht auf zufällige Übereinstimmungen
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
historischen Ablauf zugrundeliegender Gesetze gefolgert. Um diese Thesen zu erhärten und Aufschluß über derartige Entwicklungsprinzipien zu bekommen, mußte infolgedessen die Rechtsentwicklung umfassend zusammengefaßt, verglichen und analysiert werden. 1. Vergleichende ethnologische Jurisprudenz Hierbei eröffnete die ethnologische Jurisprudenz neue Möglichkeiten der Rechtsvergleichung, indem sie über die Untersuchung der Rechte der sogenannten Kulturvölker hinausging. Im Rahmen der vergleichenden ethnologischen Jurisprudenz wurde die geschichtliche Betrachtung der Historischen Schule, die sich auf das römische und germanische Recht beschränkt hatte, zur Universalrechtsgeschichte erweitert.3 Die rechtsvergleichende Forschung beschränkte sich dabei nicht auf die „Kulturvölker“, sondern war mit Universalrechtsgeschichte und rechtsethnologischen Forschungen identisch, so daß auch das Recht anderer Kulturkreise und rezenter Völker Gegenstand der Betrachtung war.4 Die Voraussetzungen der ethnologischen Forschungen im 19. Jahrhundert schuf der europäische Kolonialismus. Nachdem zunächst Bachofen (Das Mutterrecht, 1861) und Maine (Ancient Law, 1861) mit der systematischen Untersuchung fremder Rechtskulturen begonnen hatten, begründete Albert Herrmann Post5 Anfang der 70er Jahre eine vergleichende Rechtswissenschaft auf ethnologischer Grundlage. Unter dem Eindruck des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsparadigmas forderte Post, die Rechtswissenschaft müsse sich erfahrungswissenschaftlicher Mittel bedienen, und als ein solches empfahl er die vergleichend-rechtsethnologische Methode.6 zurückzuführen, sie könnten „nur als Emanation der allgemeinen Menschennatur angesehen werden“ (ebd., 4). Nach Kohler bestand die Aufgabe darin, die Einheit des Menschengeistes in seinem Entwicklungsstreben zu erfassen, denn die ganze Menschheit sei trotz nationaler Eigenheiten von gleichartigen Trieben und Bildungskräften beherrscht (Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken) 19; ders., Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 19). 3 Schon Maine hatte sich anders als Savigny nicht nur auf das römische Recht gestützt, sondern auch auf frühe Rechtsvorstellungen (dazu Stein, Legal Evolution, 87, 97 f.). Post verstand seine Forschungen ausdrücklich als Ergänzung der Arbeiten der Historischen Schule, und auch Kohler stellte seine Forschungen in diesen Zusammenhang (vgl. Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 30; Pound, The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, HLR XXIV (1911), 614 f.). 4 Universalrechtsgeschichte, juristische Ethnologie und vergleichende Rechtswissenschaft waren im 19. Jahrhundert identisch (Kötz / Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung, 56 f.). Unter der Voraussetzung des Evolutionismus leistete nun auch die Rechtsethnologie als horizontale Rechtsvergleichung einen Beitrag zur vertikalen bzw. historischen Rechtsvergleichung, indem sie vermeintlich Aufschluß zu geben vermochte über die Urrechtsvölker, als auf deren Entwicklungsstufe lebend die Naturvölker betrachtet wurden. 5 Albert Hermann Post (1839 – 1895) war zunächst Rechtsanwalt und ab 1874 Landgerichtsrat am Obergericht in Bremen. Zu Post: Kiesow, Das Naturgesetz des Rechts; Kuck, Die Anfänge der deutschen Rechtsanthropologie, 101 ff.
I. Der Stellenwert der Rechtsvergleichung
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Aufgrund der durch den Kontakt mit den eroberten Kolonien vertieften Kenntnisse über fremde Völker und Kulturen und der Sammlung ethnologischen Materials eröffnete sich hier, über den praktischen Nutzen im Umgang mit diesen Völkern hinaus, die Aussicht, auch das Recht in seinen sämtlichen Erscheinungsformen erfassen und auf empirischer Basis Aufschluß über dessen Wesen erlangen zu können.7 Anstelle der Spekulation schien nun die wissenschaftliche Untersuchung dieser Grundlagen greifbar zu sein. Was die alte Rechtsphilosophie aus allgemeinen Vernunftprinzipien hatte erfassen wollen, suchten neue Strömungen mittels der rechtsvergleichenden Methode durch Induktion zu erlangen und nicht selten ein Naturrecht auf empirischer Grundlage zu etablieren. Es ging bei diesen Untersuchungen nicht lediglich darum, verschiedene Rechtssysteme darzustellen und zu analysieren, sondern wesentliches Erkenntnisziel war es, gemeinsame Prinzipien und Institutionen aufzudecken und die der Rechtsentwicklung zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten zu ermitteln. Hinter diesen Bemühungen stand vielfach die evolutionistische Vorstellung einer unilinearen Entwicklungsfolge, die alle Völker durchlaufen, so daß ihre verschiedenen kulturellen Zustände nur als verschiedene Stufen innerhalb desselben Entwicklungsganges interpretiert wurden.8 Unter dieser Prämisse konnte mit Hilfe der komparativen Methode durch Erforschung gegenwärtiger sogenannter unzivilisierter Naturvölker Aufschluß über frühere Zustände bei den Urvölkern, für die ansonsten Beweise fehlten, und somit über die Entstehung des Rechts erlangt werden.9 6 Post, Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz, Bd. 1, Allg. Teil, 4 ff. Nach Wesel brachte Post die ethnologischen Daten in diesem Grundwerk in ein pandektistisches Schema, das auch äußerlich stark an Windscheids Lehrbuch der Pandekten angelehnt sei (Wesel, Frühformen des Rechts, 14). 7 Begründer der systematischen Ethnologie im 19. Jahrhundert waren E. B. Tylor (Primitive Culture, 1877), L. H. Morgan (Ancient Society, 1877) und A. Bastian (Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen, 1881). Als Begründer der vergleichenden ethnologischen Rechtsforschung gelten J. J. Bachofen (Das Mutterrecht, 1861) und Sir Henry Maine (Ancient Law, 1861). Zu Maine und den Auswirkungen seiner Theorie Stein, Legal Evolution, 86 ff. Zur vergleichenden Rechtsethnologie und ethnologischen Entwicklungsvorstellungen Kötz / Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung, 8 ff.; 56 f.; Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 87 ff., 101 ff.; Schott, Der Entwicklungsgedanke in der modernen Ethnologie, Saeculum 12 (1961), 72 ff.; Goll, Der Evolutionismus; Kuck, Die Anfänge der deutschen Rechtsanthropologie. 8 Dagegen haben die Diffusionisten Stellung bezogen. Sie gingen von der Einmaligkeit der Entwicklung der Völker aus. Gegenüber der Gleichsetzung der rezenten Naturvölker mit den Urvölkern hoben sie die Unterschiede zu den frühen Gesellschaften hervor. Ähnlichkeiten unter den Völkern führten sie auf Diffusion, auf Übernahme fremder Kulturelemente zurück. Dazu Wesel, Frühformen des Rechts, 37 f.; Überblick zum Evolutionismus und zur Kulturkreislehre bei Schott, Der Entwicklungsgedanke in der modernen Ethnologie, Saeculum 12 (1961), 72 f., 74 ff. 9 Zur komparativen Methode Wesel, Bemerkungen zu einer evolutionistischen Theorie des Rechts, in: Kunkel-FS, 525 ff.; Dreitzel will eher von „illustrativer Methode“ sprechen, denn dabei seien verschiedene Fakten unter das Evolutionsschema gepreßt worden (Dreitzel, Sozialer Wandel, 69).
5 Stier
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
Post sah dieses Vorgehen denn auch als der historischen Forschung entgegengesetzt an, denn es gehe nicht um die chronologische Abfolge der Erscheinungen, sondern um von Raum und Zeit unabhängige, gleichartige Wirkungszusammenhänge und eine Stufenfolge der Entwicklung schlechthin.10 So war Post daran gelegen, ausgehend von den unabhängig voneinander und ohne gegenseitige Beeinflussung auf der ganzen Welt auffindbaren, gleichen Rechtsformen, das „Naturgesetz des Rechts“11 aufzufinden. Für die Neuhegelianer Kohler12 und Berolzheimer bildeten die ethnologischen Untersuchungen jedoch lediglich die Grundlage einer philosophischen Betrachtung, konnten diese aber keineswegs ersetzen.13 Ihr kultur- und entwicklungsphilosophischer Ansatz war auf eine ganzheitliche Betrachtung des historischen Weltprozesses gerichtet mit dem Ziel, den Sinn menschlicher Erscheinungen in diesem absoluten Zusammenhang zu ergründen. Die Aufgabe der universalgeschichtlichen Betrachtung sahen sie darin, die Bedeutung des Rechts innerhalb der gesamten Entwicklung aufzudecken.14 Nach ihrer Überzeugung konnte die Universalrechtsgeschichte die relative Berechtigung jeder einzelnen Stufe der Rechtsentwicklung zeigen und war daher eng verbunden mit der von ihnen vertretenen Anschauung des Neuhegelianismus.15 Innerhalb ihres auf empiPost, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz, 50 f. Post, Das Naturgesetz des Rechts. 12 Josef Kohler (1849 – 1919) war zunächst Amtsrichter und Kreisgerichtsrat in Mannheim, bevor er 1878 in Würzburg eine Professur erhielt. 1888 wechselte er nach Berlin. 1904 verlieh ihm die Universität Chicago ehrenhalber die Doktorwürde. Sein Werk umfaßt mehr als 2100 Titel aus sämtlichen Rechtsgebieten. Hervorragende Bedeutung kommt Kohler im Bereich des Patent-, Wettbewerbs- und Markenzeichenrechts zu, in dem er Pionierarbeit geleistet hat. Vgl. auch die Festgabe zu Kohlers 60. Geburtstag: Rechtswissenschaftliche Beiträge, Juristische Festgabe des Auslandes (Hg. Berolzheimer). Zu Kohler: Spendel, Josef Kohler: Bild eines Universalgelehrten; Gängel / Schaumburg, Josef Kohler, ARSP LXXV (1989), 289 ff.; die katholischen Ursprünge hervorhebend Hipp, Kohler, in: Staatslexikon, 456 ff.; Osterrieth, Josef Kohler; Berolzheimer, Josef Kohler als Rechtsphilosoph, Philosophische Wochenschrift (1904), 5 ff.; speziell zum Urheberrecht Adrian / Nordemann / Wandtke (Hg.), Josef Kohler und der Schutz des geistigen Eigentums. 13 Schon Post wollte mit seiner umfangreichen Sammlung des ethnologischen Materials eine Grundlage für eine auf Erfahrung gestützte Rechtsphilosophie schaffen, wie bereits aus dem Untertitel von „Das Naturgesetz des Rechts“ hervorgeht, der lautet: „Einleitung in eine Philosophie des Rechts auf Grundlage der modernen empirischen Wissenschaft“. Rechtsphilosophie bedeutet hier „lediglich die ursächliche Ergründung derjenigen Stoffthatsachen, welche wir unter dem Rechtsleben zusammenfassen, soweit uns dieselben noch jetzt Vorstellungen liefern oder durch Tradition überkommen sind.“ (ebd., 59) Damit ist allerdings im Gegensatz zu Kohler und Berolzheimer die Ersetzung der philosophischen Betrachtung durch empirische Untersuchung gemeint. 14 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 14; ders., Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, ARWP I (1907 / 08), 192. Vgl. aus neuerer Zeit auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 131: Die Rechtsphilosophie fordere einen umfassenderen Standpunkt, nämlich das Recht als Phänomen der menschlichen Kultur zu erfassen, weshalb man auf die Ergebnisse der Ethnologie und Rechtsgeschichte zurückgreifen müsse. 15 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 31; Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 14. Berolz10 11
I. Der Stellenwert der Rechtsvergleichung
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rischer Grundlage ruhenden philosophischen Konzepts sollte der vergleichenden Rechts- und Wirtschaftswissenschaft so neben Soziologie und Völkerpsychologie die Rolle einer Hilfswissenschaft zukommen. Die Möglichkeit einer Universalrechtsgeschichte, verstanden als Geschichte der Entwicklung der Kultur, basierte nach Kohler darauf, daß der historische Ablauf nicht nur vom Zufall beherrscht und daher individuell geprägt sei, sondern sich neben dem Zufall in der Geschichte die psychologische und biologische Gleichartigkeit der menschlichen Natur wirksam zeige und innerhalb der Weltentwicklung metaphysische Einheit herrsche.16 „Und wenn wir nun noch sehen, wie im Recht sich von selbst eine Gleichartigkeit zeigt, wenn wir bemerken, wie Völker die nichts miteinander zu tun hatten und ihre Kulturen ganz selbständig gestaltet haben, zu gleichartigen Resultaten gelangt sind, dann werden wir staunen über das Gesetz, das uns alle beherrscht.“17 Der Gedanke der Entwicklung war bei Kohler anfänglich noch nicht auf Hegels Theorie von der Entfaltung des Weltgeistes zurückgeführt; den theoretischen Hintergrund seiner Studien bildete zunächst die Überzeugung von einer evolutionistischen Weltentwicklung.18 Erst später suchte Kohler zu diesem Gedanken eine Grundlegung in der Philosophie. Dabei wurde die rechtsvergleichende Untersuchung zu ihrem Hilfsmittel, denn „. . . nur durch ständige und unablässige Forschung des einzelnen können wir den Stoff bilden, damit die Philosophie sich hier betätigen und aus ihm das Material schöpfen kann, um das Walten des Weltgeistes zu erforschen.“19 Es ging nicht allein um die Darleheimer hat sich später zurückhaltend über die Ergebnisse der Rechtsvergleichung geäußert. Die Versuche, den Geist der Universalrechtsgeschichte aufzudecken, seien in den Anfängen steckengeblieben (Berolzheimer, Josef Kohlers Vermächtnis, ARWP XIII (1919 / 20), 4). 16 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 19. 17 Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 19 f. 18 So auch Arthur Kohler, Von der Wiege des Archivs, ARWP XXIV (1930 / 31), 3. Die Menschenkultur in ihrer Einheit stelle verschiedene Grade und Stufen dar. „Die Kultur ist Entwicklung, die Entwicklung ist ein Aufstreben vom Niederen zum Höheren; daher sind die Kulturen der einzelnen Völker nicht nur als Variationen derselben Grundgedanken, sondern auch als verschiedene Stufen des Entwicklungsganges, als verschiedene Stadien der Weltbewegung aufzufassen.“ (Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 21) Allerdings sei nicht nur der Geist eines Volkes maßgeblich, sondern auch der einiger Übermenschen, die den normalen Entwicklungsgang stören und das Volk um Jahrzehnte weiterbringen könnten. Im Gegensatz zum nationalen Element lasse sich dies nicht gesetzmäßig begreifen (ebd., 23). Vgl. dazu auch Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Vorwort zur 1. Auflage, S. IV. Seit Ende der 70er Jahre befaßte sich Kohler mit vergleichenden Rechtsstudien. 1882 trat Kohler der von Franz Bernhöft und Georg Cohn vier Jahre zuvor gegründeten „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“ als Mitherausgeber bei (dazu Kuck, Anfänge der deutschen Rechtsanthropologie, 144 ff.). 19 Kohler, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, ARWP I (1907 / 08), 198. Kohler unterschied eine rein juristisch-systematische Verarbeitung des fremden Rechtsstoffes von der Untersuchung der Beziehungen des Rechts zu den anderen Kulturelementen, um zu einer Universalgeschichte der Rechtskultur zu kommen (Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 18). 5*
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
gung tatsächlicher gemeinsamer Entwicklungslinien, sondern wesentlich um deren Deutung im Rahmen einer evolutionistischen und später metaphysischen Weltsicht. „Wer daher vergleichende Rechtswissenschaft treibt, der darf sich nicht auf den Standpunkt stellen, als ob diese Rechtsentwicklungen der Völker interessante Zufälligkeiten wären, die keinem Bildungsgesetz unterlägen; er muß vor allem erkennen, daß aller Menschenkultur ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt und daß allüberall die Entwicklung die zwei Elemente in sich trägt, Gebundenheit an bestimmte Ziele und Freiheit in der Bewegung, welche beide zusammen den Charakter der Gesetzmäßigkeit ausmachen.“20 Auch Berolzheimer sah in der Rechtsvergleichung ein Hilfsmittel der Rechtsphilosophie, wodurch die Einsicht in das Wesen der Rechtsinstitute und den Geist der Gesetze vertieft werde, und stützte seine Deutungen wesentlich auf universalgeschichtliche Erkenntnisse.21 „Durch die systematische und (möglichst) universelle Rechtsvergleichung hat die Rechtsphilosophie und allgemeine Rechtslehre eine neue Methode, ein Hilfsmittel gefunden, analog den Diensten, welche die vergleichende Sprachforschung der Philologie erwiesen hat.“22 Aber Berolzheimer warnte zugleich vor einer Beschränkung auf die ethnologische Untersuchung. Was die ethnologische Jurisprudenz leisten könne, sei „das theoretische Ziel einer besseren Ergründung und tieferen Erfassung der Grundbegriffe des Rechts“23. Hier setzte Berolzheimer abermals auf die genetische Betrachtung des Rechts.24 Denn nur durch die Kenntnis der Urrechtsperiode könnten die spekulativen Phantasien über Sinn und Bedeutung der Rechtsinstitute ersetzt werden. Das Verständnis des gegenwärtigen Rechts wurde nach seiner Auffassung durch die ethnologische Forschung gefördert, denn Berolzheimer sah darin noch Rudimente längst vergangener Zeiten lebendig, die es im Sinne der aktuellen Kulturauffassung zu beseitigen gelte.25 Die rechtsvergleichende Forschung sei aber nur imstande, Bausteine zu liefern, und bedürfe der rechtsphilosophischen Interpretation und Deutung.26 20 Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 20. 21 Berolzheimer, System I, S. VI, IX, ders., System II, 20 f., 403 ff. 22 Berolzheimer, System II, 403. 23 Berolzheimer, System II, 403. 24 Die begrenzte Erklärungsfunktion seiner Betrachtungsweise erkannte Berolzheimer selbst, wenn er schrieb: „Alles Heil wird man freilich von der Rechtsvergleichung ebensowenig erwarten dürfen, wie von der vergleichenden Sprachforschung; denn gerade jenes philosophisch so hoch bedeutsame Problem der Entstehung von Recht und Staat kann eine unmittelbare Lösung aus der Rechtsvergleichung schon um desswillen nicht finden, weil diese immer schon den staatlichen und den Rechtszustand als vorhanden zur Voraussetzung hat . . .“ (Berolzheimer, System II, 403 f.). 25 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19; ders., System III; ders., System IV, 170 f. Mit dieser Vorstellung griff er auf Erkenntnisse zurück, wie sie der Anthropologe Tylor formuliert hatte, der in seinem Werk „Primitive Culture“ (1871) solche Kulturelemente, die als isolierte Rechte eines früheren Entwicklungszustandes in einem späteren bestehen geblieben seien, als „Survivals“ bezeichnet hatte. Zu Tylor vgl. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 102, 104.
I. Der Stellenwert der Rechtsvergleichung
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2. Vergleichende Rechtsgeschichte der Kulturvölker Auch Merkel27 und Liszt28 gingen von dem völkerumfassenden Charakter rechtlicher Institutionen aus und legten der vergleichenden Darstellung des Rechts für seine Gestaltung Bedeutung bei, wenn sie sich auch in der Hauptsache auf die Rechtsentwicklung der sogenannten Kulturvölker stützten. Grundlegend war aber auch bei ihnen der Gedanke, daß sich in der Rechtsentwicklung der verschiedenen Völker eine gleichartige Richtung oder gar eine typische, wiederkehrende Stufenfolge zeige.29 Merkel forderte denn auch die ZusammenfasBerolzheimer, System II, 21. Adolf Merkel (1836 – 1896) habilitierte sich 1862 in Gießen. 1872 ging er nach Wien, wechselte dann an die Universität Straßburg. 1893 wurde er als Nachfolger Jherings zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt. 28 Franz v. Liszt (1851 – 1919) studierte unter anderem bei Jhering und Merkel. Er war Professor in Gießen, Marburg, Halle und von 1899 – 1916 in Berlin. Ab 1909 war er Abgeordneter im Preußischen Landtag und ab 1912 im Reichstag. 29 Merkel sprach von dem „internationalen Charakter“ der Rechtswissenschaft (ders., Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 305, vgl. auch 296, 300, 304 f. sowie ders., Über den Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft, in: Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 63). Die Geschichte der Menschheit stelle sich als ein Ganzes dar, welches im großen ähnliche Linien beschreibe (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 11 f.). Gleichmäßige Entwicklung und Übereinstimmung unter den Völkern werden hier allerdings neben den gleichartigen menschlichen Anlagen auf ihre gegenseitige Beeinflussung gestützt, womit Merkel ein durch den Ethnologen Bastian aufgeworfenes Thema aufnimmt: „Die Völkergedanken über das Rechte, welche von Haus aus verwandte Elemente enthalten, entwikkeln sich in dem Maße, als den Völkern gemeinsame Erlebnisse die Geschichte erfüllen, zu Menschheitsgedanken.“ (ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 606) Kohler äußerte sich sehr abfällig über Merkels Vorgehen, in dem er „eine ganz unfertige Rechtsvergleichung“ ohne eigentliche Vertiefung der Probleme sah, weil sie aus den ihm zufällig bekannten, nicht besonders zahlreichen Rechten einige Abstraktionen zu erlangen suche (Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 16). „Die ganze Merkelsche Rechtslehre entbehrt völlig des wissenschaftlichen Charakters; von Bedeutung ist nur eine wirkliche, ernstlich durchgearbeitete Rechtsvergleichung, und diese allerdings ist die notwendige Vorstufe für eine wissenschaftliche Rechtsphilosophie.“ (ebd., 17). Liszt hob die einheitlichen Grundzüge der verschiedenen Rechtsordnungen der „Kulturvölker“ hervor, die nur Variationen desselben Grundthemas seien (Strafgesetzgebung der Gegenwart Bd. I, Vorwort, S. XXI). Die Bedeutung der ethnologischen Jurisprudenz und der Rechtsgeschichte bei der Aufdeckung der Gesetze und Entwicklungsstufen des Rechts erkannte Liszt zwar an; er sah darin die vielleicht wertvollste Art der Rechtsvergleichung. Zur Verwirklichung seines pragmatischeren Anliegens – der Vorbereitung der Strafrechtsreform und den praktischen Bedürfnissen bei internationaler Strafverfolgung – kam es ihm jedoch im besonderen auf die vergleichende Untersuchung des Rechts der „Kulturvölker“ an. Unter Rechtsvergleichung verstand Liszt kein Nebeneinanderstellen mehrerer Rechte unter Hervorhebung des Gemeinsamen, sondern es ging ihm um die Gewinnung einheitlicher Grundgedanken für eine Strafgesetzgebung der Zukunft und die Etablierung einer über allen einzelnen Rechten stehenden Strafrechtswissenschaft. Auf Antrag Liszts hatte die „Internationale Kriminalistische Vereinigung“ 1890 beschlossen, nach dem Vorbild von Karl Stooß, der die Schweizerischen Strafgesetzbücher zur Vergleichung zusammengestellt hatte, eine rechtsvergleichende Darstellung des europäischen Strafrechts zu erarbeiten (Strafgesetzgebung der 26 27
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
sung der Ergebnisse der verschiedenen rechtswissenschaftlichen Disziplinen zur Darstellung einer „Entwicklungsgeschichte des Rechts“, um darin Bestandteile eines allgemeinen Verlaufs zu erkennen.30 „Wenn der Kriminalist sich vertraut gemacht hat mit der Entwicklung des Strafrechts bei verschiedenen Völkern und darin wiederkehrende Stufenfolgen, eine wenn auch beschränkte Regelmäßigkeit des Vorschreitens zu erkennen meint, wenn Ähnliches von den Vertretern anderer Teile unserer Wissenschaft gilt, so handelt es sich auf jenem allgemeineren Standpunkte darum, in dem auf dieser und auf jener Seite wahrgenommenen gesetzmäßigen Zusammenhange Momente eines einheitlichen Prozesses zu erkennen.“31 Auch Liszt ging davon aus, daß die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens bei den verschiedenen Kulturvölkern derselben Entwicklungstendenz folge. Es gelte daher, diese gesetzmäßige Entwicklung festzustellen32 und zur Aufstellung von „Rechtstypen“ und „typisch wiederkehrenden Entwicklungsstufen“ zu gelangen.33 Die Ansichten über die Berechtigung und die Möglichkeiten der Rechtsvergleichung waren allerdings geteilt. Einmal wurde bereits auf die Unsicherheit des tatsächlichen Materials hingewiesen und die Schwierigkeiten, allgemeingültige Schlüsse aus den verschiedensten Beobachtungen zu ziehen. Im Gegensatz zu den hier angeführten Autoren, die aus der Deutung des gesammelten historischen Materials normative Vorgaben ableiten zu können glaubten, wurde zudem von anderer Seite, namentlich von Radbruch, darauf hingewiesen, daß die auf diese Weise gewonnenen Daten lediglich die Erfahrungserkenntnis im Umgang mit verschiedeGegenwart Bd. I, Vorwort, S. X, XX ff.). Liszt ging grundsätzlich davon aus, daß die Untersuchung aufgrund der gegenseitigen Beeinflussung der Staaten und subjektiver Fehlerquellen bei der Betrachtung der nationalen Entwicklung nicht auf die Geschichte eines noch so bedeutenden einzelnen Staatswesens beschränkt werden könne (Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 556). „Damit ist, wie ich glaube, die Bedeutung der universalgeschichtlichen Betrachtung – und die Rechtsvergleichung ist nichts anderes – klar gelegt.“ (ebd., 556) Vgl. auch Liszt, Zur Vorbereitung des Strafgesetzentwurfs, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 411 ff., 427. Zur Strafrechtsreform vgl. auch: Vergleichende Darstellung des Deutschen und ausländischen Strafrechts. Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform (Hg. Birkmeyer, van Calker, v. Liszt u. a.). 30 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 300. Merkel ging es zunächst um die Zusammenfassung der Ergebnisse der verschiedenen juristischen Disziplinen, aber er unterstrich auch den universalen Charakter der Anstrengungen, weshalb die Untersuchungen nicht territorial beschränkt werden dürften (ebd., 304). 31 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 300. 32 Liszt, Zur Vorbereitung des Strafgesetzentwurfs, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 425: „Diese gesetzmäßige Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, in erster Linie der wirtschaftlichen Produktion und des Güteraustausches, muß sich aber widerspiegeln in der Gestaltung des Rechts überhaupt und des Strafrecht insbesondere, das ja für solche Wandlungen ganz besonders empfindlich ist. Es muß daher möglich sein, in den Rechtssystemen der heutigen Kulturvölker diese einheitliche Entwicklungstendenz festzustellen und zugleich zu zeigen, zu welchen legislativen Bildungen auf strafrechtlichem Gebiete diese Tendenz geführt hat oder zu führen im Begriffe steht.“ (Hervorhebung nur hier). 33 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 556.
II. Zum Begriff der Entwicklung
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nen rechtlichen Gestaltungen erweiterten und allenfalls einen Beitrag zur Bildung einer rechtspolitischen Überzeugung darstellten.34 Die Vorstellung, die Entwicklungsbetrachtung könne normative Richtlinien ergeben, hängt mit einem spezifischen Entwicklungs- und Geschichtsverständnis zusammen, das hier untersucht werden soll. Schon an dieser Stelle deutet sich allerdings unter den bereits angeführten Autoren eine unterschiedliche Einschätzung über die Position der Rechtsvergleichung an. Denn während Merkel und Liszt die „Rechtsphilosophie“ (Merkel) bzw. die Frage nach dem „richtigen Recht“ (Liszt) durch die Untersuchung der Entwicklungsgesetze und Tendenzen des Rechts ersetzen wollten, war für Kohler und Berolzheimer eine solche Substitution undenkbar. Die Rechtsvergleichung sollte nach ihrer Überzeugung vielmehr nur die empirische Grundlage der philosophischen Betrachtung sein.
II. Zum Begriff der Entwicklung Das Entwicklungsverständnis der angesprochenen Autoren, sein epistemologischer Status und seine programmatischen Auswirkungen auf die Rechtsbetrachtung sollen nun genauer untersucht werden. Insbesondere soll geklärt werden, inwiefern die tatsächliche Entwicklung als Ausdruck einer sozialen und historischen 34 Radbruch wies den Anspruch der Rechtsvergleichung, das Seinsollende aus dem Sein ableiten zu können, zurück und betonte, daß eine solche Entscheidung nicht empirisch hervorgebracht werden könne, sondern von der „wissenschaftlich undiskutierbaren Überzeugung“ abhänge. Zur Vorbereitung von Gesetzesvorhaben – hier der Strafrechtsreform – könne die Rechtsvergleichung allerdings als Hilfsmittel bei der rechtspolitischen Entscheidung dienen, indem sie die Betrachtung einer möglichst umfassenden Rechtswirklichkeit ermögliche (Radbruch, Über die Methode der Rechtsvergleichung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 2 (1905 / 06), 423 f.). Vgl. zu dieser Diskussion anläßlich der Strafrechtsreform auch Beling, Strafrechtsreform und „richtiges Recht“, ZStW 26 (1906), 693 ff. „Aus Zwecken, die man bisher verfolgt hat, ergibt sich mitnichten, daß man fortan dieselben Zwecke in ,entwickelter‘ Gestalt verfolgen soll.“ (ebd., 694); Kohlrausch, Zweikampf, in: Vergleichende Darstellung Bes. Teil Bd. III, 131 f., meinte, die Vergleichung verschiedener Rechtssysteme könne nur über die Tauglichkeit der Mittel zum Zweck belehren, aber nicht über die Richtigkeit des Zwecks, die eine gefühlsmäßige Entscheidung sei, „oder in der Sprache des Gesamtorganismus und des Parlamentarismus: eine Macht- und Majoritätsentscheidung“ (ebd., 132); Kantorowicz, Probleme der Strafrechtsvergleichung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 4 (1907 / 08), 78 f., 92 ff.; Wassermann, Begriff und Grenzen der Kriminalstatistik, 25 f. Kurzer Überblick zur Diskussion um das „richtige Recht“ vor allem im Strafrecht bei Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 183 ff. Kritisch aus staatsrechtlicher Sicht auch Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 21: „Konstruktionen aller Sorten vertreten die Stelle von Beweisen, daher jeder, der die Entwicklung menschlicher Gemeinschaftsverhältnisse zum besseren Verständnis der historischen Erscheinungen oder gar um den zukünftigen Gang der Geschichte zu bestimmen, ab ovo kennen lernen zu müssen glaubt, in der Lage ist, für aprioristische Theorien aller Art sowie auch für soziale und politische Forderungen der verschiedensten Färbung aus der Menge des Stoffes das ihm Passende auszusuchen.“ Aus rechtsphilosophischer Perspektive vgl. Mayer, Rechtsphilosophie, 17 (gegen die ethnologische Jurisprudenz).
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
Gesetzmäßigkeit begriffen wird, worauf sich derartige Annahmen stützen und welche Konsequenzen aus einer solchen Annahme abgeleitet werden. Zunächst wird der Entwicklungsgedanke in seinem theoriegeschichtlichen Kontext erläutert.
III. Der Entwicklungsbegriff in der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert Die Beschäftigung mit der geschichtlichen Entwicklung und die Möglichkeiten ihrer Charakterisierung und Typisierung sind im 19. Jahrhundert ein verbreitetes und bedeutsames Thema.35 Für die einen wird der Begriff der Entwicklung dabei zum „Zauberwort“ (Haeckel), andere sehen ihn zum „Schlagwort“ (Rickert) verkommen, so daß der häufigen Verwendung keine einheitliche Bedeutung entspricht.36 Rickert unterschied in seiner Untersuchung zum Entwicklungsbegriff sieben verschiedene Verwendungsmöglichkeiten.37 Diese begriffliche Unschärfe hängt einerseits mit der inflationären Verwendung des Begriffes zusammen, läßt sich aber auch darauf zurückführen, daß sich der Entwicklungsbegriff aus verschiedenen theoretischen Quellen speist und einen Bedeutungswandel durchlaufen hat. 35 Die Versuche, der Geschichte tatsächliche Entwicklungstendenzen zu entnehmen, haben zu zahlreichen Theorien geführt: So hatte Maine in der gesamten Rechtsentwicklung eine Veränderung „From status to contract“ angenommen, L. H. Morgan unterschied in der menschlichen Entwicklung drei Stufen, nämlich Wildheit, Barbarei und Zivilisation, Comte unterschied ein theologisches, ein metaphysisches und ein positives Stadium, Spencer sah einen Übergang vom „Militarismus“ zum „Industrialismus“, Durkheim ging von der Entwicklung „mechanistischer“ zu „organischer“ Solidarität aus, Tönnies von einer Veränderung der „Gemeinschaft“ zur „Gesellschaft“ und Max Weber von dem Wandel „charismatischer“ zu „rationaler“ Herrschaft; Ratzenhofer sah den „Erobererstaat“ zum „Kulturstaat“ werden und nicht zuletzt prophezeite Marx den Wandel vom „Kapitalismus“ zum „Sozialismus“ (Aufzählung z.T. bei Dreitzel, Sozialer Wandel, 58 f.). Allgemein zur Entwicklungshypothese aus soziologischer Sicht Carbonnier, Die großen Hypothesen der theoretischen Rechtssoziologie, in: KZfSS Sonderheft 11 / 1967, 136 ff.; Klassifizierung soziologischer Entwicklungstheorien nach objektivistischen Geschichtsphilosophien, funktionalistisch angeleiteten Evolutionstheorien (Luhmann), entwicklungslogisch angeleiteten Evolutionstheorien (Habermas) und typologisch vergleichender Universalgeschichte bei Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, 42 ff.; Übersicht zu verschiedenen Entwicklungstheorien bei Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse I, 541 ff., Röhl, Rechtssoziologie, 537 ff. Allgemein zur Geschichte des Entwicklungsbegriff Wieland, Art. Entwicklung, Evolution, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, 199 ff.; Dreitzel, Problemgeschichtliche Einleitung, in: ders. (Hg.), Sozialer Wandel, 23 ff.; Stein, Legal Evolution; Grawert, Ideengeschichtlicher Rückblick auf Evolutionskonzepte der Rechtsentwicklung, Der Staat 22 (1983), 63 ff. Grundsätzliche Kritik an der selektiven Betrachtungsweise und der schwachen Tatsachenbindung der Entwicklungstheorien bei Rottleuthner, Theories of Legal Evolution: Between Empiricism and Philosophy of History, in: Rechtstheorie Beiheft 9 (1986), 222, 225 f. 36 Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin, 191111 (18681), 803 (dazu D. Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, 87); Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 396. 37 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 430 ff.
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1. Kontinuität und organisches Wachstum (Historische Schule) Der Gedanke der Entwicklung ist zentraler Bestandteil der Theorie der Historischen Schule.38 In Abgrenzung zum rationalistischen Denken, das von der willkürlichen Konstruierbarkeit des Rechts und der Geltung universeller Vernunftprinzipien ausgegangen war, und den von ihm beeinflußten Naturrechtskodifikationen einerseits und in Anlehnung an die Entwicklungsvorstellungen Herders andererseits betonte Savigny (1779 – 1861) den „organischen Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Character des Volkes“39. Das Recht unterliege ebenso der Veränderung und Entwicklung wie die Sprache, und diese Entwicklung stehe unter dem „Gesetz innerer Nothwendigkeit“40. „Das Recht wächst also mit dem Volke fort, bildet sich aus mit diesem, und stirbt endlich ab, so wie das Volk seine Eigenthümlichkeit verliert.“41 Dementsprechend ist der Entwicklungsgedanke hier auch auf die spezifische Entwicklung eines Volkes beschränkt. Das Recht ist dabei im Ansatz präformiert und entfaltet sich durch Übung, „und was ursprünglich blos im Keim vorhanden war, wird durch die Anwendung in bestimmter Gestalt zum Bewußtseyn kommen.“42 In Opposition zur Aufklärung ging Savigny davon aus, das Recht werde nicht gemacht, sondern gefunden, wobei er sich die Rechtsentwicklung in erster Linie als durch die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung getragen vorstellte.43 Das Recht unterliege nicht dem Einfluß des menschlichen Willens, sondern es sei Ausdruck der Eigenart eines Volkes und seines historischen Zustandes.44 So könne es auch nicht willkürlich geändert werden, sondern nur mit Rücksicht auf die bestehenden Regelungen.45 38 Vgl. ferner die Versuche der historischen Nationalökonomie, Entwicklungsstufen, Gesetzmäßigkeiten und Trends in der Entwicklung zu entdecken (von List, Roscher, Hildebrand, Knies), dazu Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens, 408 ff. und die Kritik bei M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: ders., Ges. Aufs. zur Wissenschaftslehre, 1 ff. 39 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 77. 40 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 78; vgl. auch ders., System des heutigen römischen Rechts I, 17. Dazu Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 309 ff.; Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders., Recht, Staat Freiheit, 12 ff. 41 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 78; ders., System des heutigen römischen Rechts I, 17. Hierbei verwendet Savigny auch das Bild der Lebensalter, in denen sich die verschiedenen Völker befinden. 42 Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, 16. Vgl. Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, 75: „Es sind wertende Rechtsprinzipien, die ihrem Ursprung nach den Menschen von Anfang an mitgegeben sind und daher, bei aller Verschiedenheit ihrer historischen Ausgestaltungen, im Kern nicht von den Menschen geschaffen sind.“ 43 Coing, Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Biologismus im 19. Jahrhundert (Hg. Mann), 151. 44 Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, 17, dazu Stein, Legal Evolution, 51 ff. 45 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 137 / 8.
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
2. Die Entwicklung als Bewährungsprobe (Jhering) Jherings46 Theorie bedeutete nun eine Veränderung gegenüber dem Entwicklungsdenken der Historischen Schule. Im Gegensatz zu Savigny, der angenommen hatte, die grundsätzlichen Prinzipien des Rechts seien innerhalb des geschichtlichen Verlaufs vorgegeben und entfalteten sich in diesem durch unwillkürliches Werden, ging Jhering davon aus, sie seien wesentlich das Ergebnis einer bewußten rationalen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und historischen Bedingungen. Nach seiner Überzeugung lag die Quelle des Rechts nicht in einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung begründet, sondern er hielt den Zweck als praktisches Motiv für den Schöpfer des gesamten Rechts.47 Daher erhielten die grundlegenden Bestimmungen des Rechts ihre Bedeutung erst, indem sich ihre Zweckmäßigkeit im Laufe der Zeit bewähre und sie so zu einem festen Bestandteil der Rechtsordnung würden.48 „Ich lebe der festen Zuversicht, daß die Menschheit nicht immer schlechter, sondern immer besser wird. Aber allerdings nicht von selbst, indem sie nichts dazu tut und sich des spontanen Wachstums des sittlichen Geistes getröstet, sondern indem sie Erfahrungen, Lehren und Warnungen der Geschichte sorgsam beherzigt und sie praktisch verwertet.“49 Jhering sah also keine idealen Kräfte am Werk, sondern stellte deutlich die zweckverfolgende Tätigkeit des Menschen in den Vordergrund.50 Nach seiner Auffassung gibt es keine automatische Entwicklung zum Besseren, sondern es kristallisieren sich im Laufe der Geschichte Prinzipien heraus, die sich im Erfah46 Rudolph von Jhering (1818 – 1892). Nach Professuren in Basel, Rostock, Kiel und Gießen folgte Jhering 1868 einer Berufung nach Wien und 1872 nach Göttingen. Zunächst ein Verfechter der „Begriffsjurisprudenz“, wandte er sich seit dem Ende der 50er Jahre einer soziologischen Betrachtung des Rechts zu. Allgemein zu Jherings Theorie: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 24 ff., 43 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 450 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts III, 237 ff.; zum Entwicklungsgedanken Schelsky, Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3, 47 ff.; Dreier, Jherings Rechtstheorie – eine Theorie evolutionärer Rechtsvernunft, in: Jherings Rechtsdenken (Hg. Behrends), 222 ff., 227: Jherings Theorie sei keine Theorie wertneutraler Entwicklung, sondern eine Fortschrittstheorie; Behrends, Rudolf von Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: Der Evolutionsgedanke in den Wissenschaften (Hg. Patzig), 290 ff.; Gaudemet, Organicisme et évolution dans la conception de l’histoire du droit chez Jhering, in: Jherings Erbe (Hg. Wieacker / Wollschläger), 29 ff.; Stein, Legal Evolution, 65 ff.; zu Elementen der Philosophie Krauses in der Theorie Jherings: Landau, Il momento sostanziale del diritto in Rudolph von Jhering, in: Diritto e Filosofia nel XIX Secolo (Hg. Belvisi / Carina), 385 ff. 47 Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede V. 48 Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 12; dazu Behrends, Rudolf von Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: Der Evolutionsgedanke in den Wissenschaften (Hg. Patzig), 296; ders., Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends), 55 ff. 49 Jhering, Der Zweck im Recht II, 104. 50 Jhering, Der Zweck im Recht I, 24 ff.; ders., Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, 27 f.
III. Der Entwicklungsbegriff in der Rechtswissenschaft im 19. Jh.
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rungsprozeß als taugliche Mittel zur „Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft“51 herausgestellt haben. Diese grundlegenden Rechtsprinzipien haben nicht nur historische Bedeutung und gelten retrospektiv, sondern entfalten gleichzeitig eine evolutive Funktion im Hinblick auf die Fortbildung des Rechts.52 Damit stellte sich für Jhering der Fortschritt als ein Ergebnis der geschichtlichen Erfahrung im Hinblick auf die Erreichung menschlicher Zwecke wie der Selbsterhaltung dar. Diese Vorstellung der Rechtsentwicklung hat auch Auswirkungen auf den Beurteilungsmaßstab von Recht und Sittlichkeit und führt, da sich die Gerechtigkeitsprinzipien erst zeitlich herausbilden, zu einem engen Bezug zu den gesellschaftlichen Bedingungen.53 Jhering hob den Gegensatz zwischen Erkennen und Handeln hervor; im Bereich des Handelns gehe es nicht um Wahrheit – sie sei das Ziel der Erkenntnis – sondern um Richtigkeit.54 Dabei handele es sich aber nicht um einen absoluten Maßstab. Gemäß der Bestimmung, daß alles Recht durch den Zweck hervorgerufen werde, und aufgrund der Abhängigkeit des Zweckmäßigen von den sich verändernden Lebensbedingungen könne der Inhalt des Rechts auf verschiedener kultureller und historischer Stufe ein anderer sein und trotzdem richtig, weil zweckentsprechend. Das Recht „muß sie (scil. die Bestimmungen) vielmehr ebenfalls dem Zustande des Volks, seiner Kulturstufe, den Bedürfnissen der Zeit anschmiegen, oder richtiger, es ist dies kein bloßes Soll, sondern eine geschichtliche Tatsache, die sich stets und überall mit Notwendigkeit vollzieht.“55 Die Annahme eines Universalrechts erwecke nur den „Schein der Wahrheit“56, weil einige Rechtssätze historisch betrachtet überall gültig seien, denn sie wiederholten sich bei allen Völkern: Mord und Raub seien überall verboten, Staat, Eigentum, Familie und Vertrag stellten allgemeine Jhering, Der Zweck im Recht I, 345 (im Orig. gesperrt). Behrends legt dar, daß sich nach Jhering der Mensch durch die Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien im Laufe der fortschreitenden Rechtsentwicklung, die das sich ausbildende Rechtsgefühl aus den Gerechtigkeitsgehalten der positiven Institutionen des Rechts durch Verallgemeinerung gewinne, den Gerechtigkeitsidealen nähere (ders., Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends), 58 f.; vgl. auch ders., War Jhering ein Rechtspositivist? in: Jherings Rechtsdenken (Hg. Behrends), 240 f.; zur Bedeutung des Rechtsgefühls unten Kap. III, I.). 53 „Jherings Innovationsbereitschaft gegenüber auftretenden Gerechtigkeitsfragen führt ihn jedoch keineswegs in die Nähe eines dezisionistischen Relativismus. Davor schützen ihn die materialen Gehalte seines Evolutionismus, sein Glaube an das ,über allen Zweifel erhabene Zweckmäßige‘, das als fest und sicher gewordene Gerechtigkeitsgrundlage ganz ähnlich der Theorie der Grundrechte allen positiven Institutionen zugrunde liegen muss, wenn diese nicht dem Vorwurf der Ungerechtigkeit und des Frevels anheimfallen wollen.“ (Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends), 171 f.). 54 Jhering, Der Zweck im Recht I, 340 f. 55 Jhering, Der Zweck im Recht I, 342. 56 Jhering, Der Zweck im Recht I, 343. 51 52
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Rechtsinstitutionen dar. Diese als „offenbar absolute ,Rechtswahrheiten‘ “57 auftretenden Phänomene, die nicht der historischen Veränderung zu unterliegen schienen, seien aber eigentlich „Niederschläge der Erfahrung in bezug auf die gesicherte Erreichung gewisser menschlicher Zwecke.“58 Seine Auffassung, der Zweck sei der Schöpfer des gesamten Rechts, führte Jhering jedoch letztlich zu einer theistischen Weltsicht, denn der Zweckgedanke in der Welt setze auch einen bewußten Willen voraus und damit „die Annahme eines von Gott gesetzten Zweckes in der Welt“.59 Dabei ist auf ein Spannungsverhältnis in dieser Bestimmung hingewiesen worden, denn die Vorstellung der kausalen Verknüpfung scheint einem der Entwicklung zugrundeliegenden Zweckgedanken zu widersprechen.60 Zudem ist umstritten, inwiefern 57 Jhering, Der Zweck im Recht I, 343. Diesen Gedanken beschreibt Jhering für die parallele Problematik der universalen Geltung im Bereich des Sittlichen wie folgt: Wolle man statt von Richtigkeit von Wahrheit sprechen, so könne man nur sagen, die Wahrheit des Sittlichen erschließe sich „im geschichtlichen Hintereinander – die Entwicklung ist die Wahrheit“ (Jhering, Der Zweck im Recht I, 95.; dazu Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings, 290, ebd., 284 ff. auch zum Verhältnis des linearen Entwicklungsgedankens zum Gedanken der „inneren Chronologie“ gleichzeitiger Rechtseinrichtungen. 58 Jhering, Der Zweck im Recht I, 343. „Es ist das Zweckmäßige, das die Probe von vielen Jahrtausenden bestanden hat, die niederste, im tiefen Grunde lagernde Schicht desselben, welche alle andern trägt, und darum in ihrem Bestande völlig gesichert. Aber der Bildungsprozeß dieser tiefsten Schicht ist kein anderer gewesen, als der der jüngeren, sie ist nichts als abgelagerte, durch die Erfahrung erprobte und über allen Zweifel erhobene Zweckmäßigkeit.“ (Jhering, Der Zweck im Recht I, 344) Die Zweckmäßigkeit habe in vielen Fällen zu übereinstimmenden Institutionen bei Völkern geführt, bei denen Rezeption ausgeschlossen sei (Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 30 ff.). Dabei ging Jhering von einer gewissen Notwendigkeit in der Entwicklung aus: „Das Recht kennt ebensowenig Sprünge wie die Natur, erst muß das Vorhergehende da sein, bevor das Höhere nachfolgen kann. Wenn es aber einmal da ist, so ist das Höhere unvermeidlich – jeder vorhergehende Zweck erzeugt den folgenden, und aus der Summe alles einzelnen ergibt sich später durch bewußte oder unbewußte Abstraktion das Allgemeine . . .“ (Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, X) Vgl. dazu Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends) 120: „Wenn Jhering diese Evolution hin zu zweckmässigen Mitteln der Zivilisation am Ende deterministisch zu deuten wagt und annimmt, dass eine jede wiederkehrende Menschheitsgeschichte zu ihnen gelangen muss, dann ist dabei wohl zu bedenken, dass dieser Determinismus den geschichtlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt stellt, der die Welt seinen Bedürfnissen entsprechend umgestaltet und bereichert, und zwar in einem offenen Prozess von ,challenge und response‘ und ,trial and error‘, der denn auch nur – und dazu dürfte die ,Natur der Sache‘ in der Tat oft ausreichen – ,zu einem gewissen Grad‘ von Übereinstimmungen in voneinander unabhängigen Entwicklungen führt.“ 59 Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, VIII. 60 So Wieacker, Jhering und der „Darwinismus“, in: Larenz-FS, 78 ff., 92; ders., Bemerkungen über Jhering und den Darwinismus, 161, in: Biologismus im 19. Jahrhundert (Hg. Mann), 158 ff. Er sieht hierin eine Parallele zu Darwins Theorie, in der sich der gleiche Widerspruch zwischen Kausalgesetz und Zweck finden lasse, denn die Automatik des Auslesevorgangs solle mit Notwendigkeit eine Entwicklung zu zweckmäßigeren Arten bewirken (Jhering und der „Darwinismus“, ebd., 77 ff., 80 ff.). Jhering hingegen hielt das Kausalitäts-
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Jherings Entwicklungsmodell in Zusammenhang mit der Evolutionstheorie Darwins steht.61 gesetz (für die unbelebte Schöpfung) und das Zweckgesetz (für die belebte) für miteinander vereinbar, denn beide fänden in dem Zweckgesetz als „höchstem weltbildenden Prinzip“ ihre Einheit: Beide vollführten in ihrem Bereich nur die Werke, die ihnen von Anfang an durch den Zweck aufgetragen seien (Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, IX). Die Annahme eines von Gott gesetzten letzten Zwecks „. . . verträgt sich nach meinem Dafürhalten vollkommen mit der Statuierung des strengsten Kausalitätsgesetzes . . . Wenn die Ursache von allem Anfang an durch den Zweck so gestaltet worden ist, daß sie fort und fort sich bewegend eins aus dem andern erzeugt und schließlich anlangt bei dem Punkt, den der Zweck vorausgesehen und gewollt hat, ist es der Zweck oder die Ursache, welche die ganze Bewegung regiert?“ (Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, VIII f.) Dementsprechend betont Pleister, Jhering sei zutiefst davon überzeugt gewesen, daß Gott sich in der Geschichte verkörpere und der geschichtliche Weg von ihm zum Besseren hin gelenkt werde (Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings, 230 f., 230, Fn. 37 auf S. 231). Die von Wieacker angemahnte Antinomie von Kausalität und Telos sieht Pleister dahin gehend aufgelöst, daß die Kausalität bei Jhering im Dienst der Teleologie stehe; das Kausalgesetz sei Mittel, um Gottes Zwecke zu verwirklichen, denn mit der Verfolgung subjektiver Zwecke sei stets die Erreichung eines objektiven Zwecks verbunden (Pleister, ebd., 269 f.). Jherings Denken bezogen auf den gesamten Zweck sei theistisch. Wie Behrends es ausdrückt, die in der Geschichte erscheinenden Gerechtigkeitsideen seien für Jhering Ideen, die schon vor ihrer Verwirklichung potentiell wahr seien, da der erreichte Gesellschaftszustand mit seinen zweckhaften Einrichtungen von Anfang an gottgewollt sei (Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls (Hg. Behrends), 165). Gerade in dieser Verbindung von kausaler Verknüpfung und göttlichem Zweck hatte Wieacker jedoch den Widerspruch gesehen, denn letzterer sei nicht mehr kausal vermittelt (Jhering und der „Darwinismus“, ebd., 80 ff.). 61 Die Frage, ob Jhering bei seinen Überlegungen auf Darwin zurückgegriffen hat, wird unterschiedlich beurteilt. Auch wenn Jhering Darwins Schriften nicht im Original rezipiert hat, muß zumindest eine Kenntnis der Diskussion aus populäreren Darstellungen und den Gesprächen mit seinem Sohn, dem Biologen Hermann von Jhering, angenommen werden (Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings, 238, 359). Im Gegensatz zu Wieacker, der in Jherings Werk vitalistisch-darwinistische Züge wirksam gesehen hatte (Jhering und der ,Darwinismus‘, in: Larenz-FS, 90) kommt Pleister jedoch zu dem Ergebnis, daß eine „nähere Vertrautheit, geschweige denn intensive, systematische Beschäftigung, mit den bei Wieacker erwähnten diffizilen naturwissenschaftlichen Problematiken [ist] nämlich nirgends nachweisbar“ ist (Pleister, ebd. 237). Pleister kommt zu dem Urteil, daß „gravierende Annäherungen“ vorlägen, etwa im Hinblick auf die Übertragung des Selbsterhaltungstriebes auf die Gesellschaft und die Anpassung des Rechts an die jeweiligen Lebensbedingungen (Pleister, ebd., 362 ff.). Speziell im Hinblick auf den Entwicklungsgedanken wird dagegen von Behrends hervorgehoben, daß Jhering, obwohl er den Evolutionsbegriff Darwins aufgegriffen habe, ihn nicht auf die rechtliche Entwicklung übertragen, sondern klar zwischen kultureller und natürlicher Entwicklung unterschieden habe (Behrends, Rudolf von Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: Der Evolutionsgedanke in den Wissenschaften (Hg. Patzig), 290, 298; ders., Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls (Hg. Behrends), 125 f.). Nur im Bereich der genetischen Anthropologie stehe Jhering unter Darwins Einfluß, nicht im Bereich der kulturellen Evolution (vgl. ebd., 144 ff.). Jhering selbst beschreibt sein persönliches Verhältnis zu Darwins Theorien und zu der Annahme einer teleologischen Entwicklung folgendermaßen: „Ich meinerseits maße mir kein Urteil über die Richtigkeit der Darwinschen Theorie an, obschon gerade die Resultate, zu denen ich meinerseits in bezug auf die histo-
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3. Der Einfluß der Biologie auf das Entwicklungsdenken – Entwicklung als voraussetzungsloses Veränderungsprinzip Die aufkommenden biologischen Entwicklungstheorien Lamarcks und Darwins hatten nicht nur enorme Auswirkungen auf das Entwicklungsverständnis, das hierdurch eine dezidiert naturwissenschaftliche und naturgesetzliche Bedeutung erhielt.62 Darwin stellte mit seiner Behauptung, die Vielfalt der Arten sei nicht ursprünglich festgelegt, sondern auf biologische Mechanismen wie Mutation und Selektion zurückzuführen, auf einmal die biblische Schöpfungsgeschichte, die Konstanz der Welt und die Sonderstellung des Menschen in Frage.63 Er stieß damit einerseits auf erheblichen Widerstand, rief aber andererseits auch große Erwartungen hervor. Mit dem „Kampf ums Dasein“ und der „natürlichen Auslese“ war auch die Hoffnung verbunden, Erklärungsprinzipien zunächst biologischer, dann aber auch sozialer Veränderung gefunden zu haben, die ohne, in Orientierung am empirischen Wissenschaftsideal als unwissenschaftlich geltende, wertende und metaphysische Prämissen auskämen, vorraussetzungslos seien und in der reinen Beobachtung Ausdruck fänden. In Deutschland erlangten diese Vorstellungen weite Verbreitung durch die populäre Darstellung des Biologen Ernst Haeckel (1834 – 1919).64 Haeckel sah in dem Selektionsgedanken ein einziges Erklärungsprinzip für sämtliche Erscheinungen und stützte darauf seine rein naturalistische und in diesem Sinn monistische Weltanschauung. Der Entwicklungsgedanke habe, so Haeckel, dazu geführt, die künstliche Unterscheidung der dualistischen und teleologischen Philosophie zwischen Geist rische Entwicklung des Rechts gelangt bin, sie auf meinem Gebiete im vollsten Maße bestätigen. Aber wenn die Richtigkeit derselben auch felsenfest stände, ich wüßte nicht, wie mich dies in meinem Glauben an einen göttlichen Zweckgedanken nur im geringsten beirren sollte.“ (Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, IX). 62 Als Begründer der Abstammungslehre gilt Jean Baptiste de Lamarck (1744 – 1829), aber erst mit Charles Darwins (1809 – 1882) „On the Origin of Species“ (1859) setzte sich die Evolutionstheorie in den biologischen Wissenschaften durch. Insbesondere der Selektionsgedanke – Lamarck war von einem umweltbedingten Einfluß auf die Veränderung der Arten ausgegangen – wurde erst von Darwin entwickelt (zur Entstehung der Theorie Darwins und ihrer Einwirkung auf die Philosophie Bowler, Evolution, 142 ff., 224 ff.). 63 E. Mayr, Die Darwinsche Revolution und die Widerstände gegen die Selektionstheorie, in: Die Herausforderung der Evolutionsbiologie (Hg. H. Meier), 221 f.; Wieser, Die Evolution der Evolutionstheorie, in: Jahrhundertwissenschaft Biologie (Hg. Sitte), 21 ff.; aus zeitgenössischer philosophischer Sicht Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 200 ff.; Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, 132 ff. Zu den Einflüssen auf die Rechtsbetrachtung v. Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht, 176 ff., 180 ff.; Wittkau, Materialismus, 198 ff. 64 Zu der weltanschaulichen Wirkung darwinistischer Gedanken in der Gesellschaft Schlechta, Der Trend des Biologismus zur Weltanschauung im 19. Jahrhundert, in: Biologismus im 19. Jahrhundert (Hg. Mann), 1 ff.; Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, 87 ff. Zu Haeckel auch Sandmann, Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltanschauung, in: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert (Hg. Engels), 326 ff.
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und Körper, Kraft und Stoff aufzulösen.65 Die Erscheinungen der Wirklichkeit seien dagegen insgesamt Selektionsprodukte. Mit dieser Vorstellung ist nun auch die Vernunft kein Rückzugsort mehr für die Behauptung einer autonomen Instanz, sondern ein Entwicklungsprodukt.66 „,Entwickelung‘ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können.“67 Mit dieser Vorstellung folgte die Entwicklung entgegen den idealistischen Präformationstheorien nicht länger einem planvoll angelegten, immanent schon vorhandenen Sinn, der im Laufe der Zeit zur Entfaltung komme. Gleichzeitig wurde „Evolution“ aber auch zu einem Gegenbegriff zu „Geschichte“, denn die historische Forschung hatte sich nach ihrer Abkehr von jeglicher Geschichtsmetaphysik weitgehend darauf beschränkt, geschichtliche Tatsachen zu sammeln und aus der Zusammenstellung des Materials begrenzte Schlüsse zu ziehen.68 Hier wurde jedoch der Anspruch erhoben, eine umfassende Weltdeutung geben zu können, womit zugleich eine Beschränkung des biologischen Entwicklungsgedankens auf die Naturwissenschaften aufgegeben war.69
Haeckel; Natürliche Schöpfungsgeschichte, 191111 (18681), 803. Diese Identifizierung des Geistigen mit der Natur und der damit verbundene Übergriff der naturwissenschaftlichen Methodik auf die Geisteswissenschaften hat auch erheblichen Widerstand ausgelöst. Vgl. hier nur Adickes, Kant contra Haeckel. Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus (1901), der die biologistische Auffassung radikal umkehrt und demgegenüber behauptet, das Geistige sei das Primäre, die Welt der Naturwissenschaften aber nur eine Welt der Erscheinungen. 67 Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Vorwort zur ersten Auflage, S. VIII. 68 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 80. Dort auch zur Entwicklung und den verschiedenen Formen des Historismus (ebd., 51 ff., 56 ff.). 69 Die Beziehung der biologischen Entwicklungsvorstellung speziell auf die gesellschaftlichen Vorgänge hatte bereits Herbert Spencer (1820 – 1903) vorgenommen, indem er die Gesellschaft als Organismus deutete und Entwicklung mit einer Zunahme von Komplexität identifizierte. Spencer ging davon aus, daß kulturelle und soziale Entwicklung lediglich die Fortsetzung der biologischen Prozesse sei, die die menschliche Spezies überhaupt hervorgebracht hätten. Insofern wird die biologische Entwicklung zum Modell (Bowler, Herbert Spencers Idee der Evolution und ihre Rezeption, in: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert (Hg. Engels), 309 ff., dort (319) auch zum Verhältnis der Vorstellungen Spencers zu den Theorien Lamarcks und Darwins). Als einheitliches, statisches Prinzip machte Spencer das Prinzip der Erhaltung der Kraft aus. Das dynamische Prinzip der Wirklichkeit sei das Gesetz der Entwicklung (Spencer, Die Evolutionstheorie, abgedruckt in: Sozialer Wandel (Hg. Dreitzel), 121 ff.). Zur Rezeption von Spencers Theorie im Bereich der Rechtswissenschaft auch Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, 40 ff., 44 ff. Zu den Auswirkungen des Entwicklungsdenkens auf den Kulturbegriff Knapp, Naturgeschichtliche Auffassung von Kultur bei Darwin und Haeckel, in: Naturplan und Verfallskritik (Hg. Brackert / Werfelmeyer), 261 f. 65 66
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IV. Der Entwicklungsgedanke in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie um die Jahrhundertwende Vor diesem Hintergrund sind die gegen Ende des Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende in der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie ausgearbeiteten Entwicklungstheorien zu sehen.70 Sie alle stehen unter dem Einfluß der grundlegenden Erkenntnis der Historischen Schule von der geschichtlichen Bedingtheit und dem Entwicklungscharakter jeder Rechtsordnung; allerdings macht sich deutlich ein empirisch-soziologischer Zug bemerkbar. Das bedeutet, daß neben dem Gedanken der Kontinuität in der Entwicklung die gesellschaftlichen Konflikte und antagonistischen Elemente in den Vordergrund treten und daher die Vorstellung von der organischen Entfaltung des Rechts aus dem Volksgeist abgelöst wird.71 Die Grundlage der Analyse ist in allen Konzepten die tatsächliche historisch-gesellschaftliche Entwicklung. Dabei ist der Ansatz im Ausgangspunkt teilweise insofern holistisch, als die Entwicklung der Menschheit bzw. der Völker als einheitlicher Gegenstand vorausgesetzt wird. Unterschiedlich ist allerdings die Deutung dieses Prozesses im Hinblick auf die ihm zugrundeliegenden Entwicklungsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten. Im Rahmen der folgenden Darstellung soll vorwiegend der Struktur des jeweiligen Entwicklungskonzeptes nachgegangen werden, wobei berücksichtigt werden muß, daß die Ausführungen der Autoren im Hinblick auf ihr praktisches Interesse notwendig skizzenhaft und zum Teil fragmentarisch geblieben sind.
1. Naturalistische Theorien72 Unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich der biologischen Evolution und der mechanischen Physik lag es nahe, die soziale und 70 Die folgende Einteilung lehnt sich an Wassermann, Zur Genealogie des Entwicklungsbegriffs der Sozial- und Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 364 ff., an. 71 Abrupte Veränderungen der Rechtsordnung lassen sich mit Savignys Modell vom organischen Rechtswandel theoretisch nicht erfassen (vgl. auch Coing, Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Biologismus im 19. Jahrhundert (Hg. Mann), 151). Für revolutionäre Rechtsänderungen hatte Savigny in der Praxis mit dem intertemporären Privatrecht jedoch eine Überbrückungsmöglichkeit geschaffen (Savigny, System des heutigen römischen Rechts VIII, 538; dazu Avenarius, Savignys Lehre vom intertemporalen Privatrecht). 72 Der Bezeichnung als „naturalistisch“ soll die Anlehnung an das naturwissenschaftliche Wissenschaftsideal und dessen Entwicklungsdenken zum Ausdruck bringen (zur Wirkung des naturwissenschaftlichen Vorbildes in den Rechtswissenschaften v. Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht, 166 ff.). Daher wird hier auch Abstand genommen von einer Einordnung dieser Theorien als „materialistisch“, sofern damit gemeint ist, daß eine von der Materie unabhängige Existenz der geistigen Welt geleugnet und alles Seelische und Geistige auf materielle Vorgänge (Substanz) reduziert wird (vgl. Wittkau, Materialismus, 13: „Unter
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historische Entwicklung in ähnlicher Weise zu bestimmen. In der sprachlichen Anlehnung an die Naturwissenschaften kommt auf der einen Seite zum Ausdruck, daß hier dem empirischen Wissenschaftlichkeitsideal auch im Bereich der sozialen und rechtlichen Untersuchung Rechnung getragen werden soll.73 Die Verwendung der naturwissenschaftlichen Methoden und ihrer Terminologie erfolgt also zunächst, um den wissenschaftlichen Charakter der Untersuchung zu dokumentieren. Handelt es sich dabei vielfach um Analogien, bildhafte Verwendungen und Parallelvorstellungen, so ist auf der anderen Seite auch eine zugrundeliegende naturwissenschaftliche Weltsicht unverkennbar, so daß sich auch die Analyse gesellschaftlicher Phänomene an den Bedingungen des naturwissenschaftlichen Experiments orientiert und die Formulierung entsprechender Gesetze angestrebt wird. Damit verbunden ist ansatzweise auch der Anspruch, eine soziale Technik zu ermöglichen, die eine bewußte Einflußnahme auf die Entwicklung des historischen Prozesses und letztlich eine Beförderung des Fortschritts erlaubt. a) Die Entwicklungsgesetze des Rechts (Merkel) Unter diesen Voraussetzungen unternahm Adolf Merkel den Versuch, der Rechtsentwicklung selbst einen Beurteilungsmaßstab für das Recht zu entneh,Materialismus‘ verstehe ich dabei eine Weltanschauung, nach der es keine andere Wirklichkeit gibt als die Materie, so daß auch Bewußtsein, Denken und Geist des Menschen als Kräfte oder Bewegungen der Materie aufgefaßt werden.“). Im Hinblick auf Merkel hat Wittkau diese Klassifizierung insofern eingeschränkt, als sie von der „unauffälligeren Variante“ eines „Agnostizismus mit materialistischer Vermutung“ (ebd. 210) spricht (vgl. auch Barth, Die Rechtslehre Adolf Merkels, 9 ff.). Grundsätzlich geht Wittkau davon aus: „In weltanschaulich-systematischer Hinsicht war das Aufkommen des Rechtspositivismus die konsequente Weiterführung der materialistischen weltanschaulichen Vermutung in den Bereich des Rechtsdenkens.“ (ebd. 199) Sowohl Merkel als auch Liszt beschränken sich auf die tatsächliche Entwicklung, weil ihnen alles andere als unwissenschaftlich erscheint, und verweisen aus diesem Grund alle darüber hinausgehenden Positionen in die Welt des Glaubens (Liszt, Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 297; Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abh. II 2, 593 f.). Sie leugnen aber nicht – wie die Materialisten – die eigene Existenz des Geistigen, sondern bringen nur zum Ausdruck, daß nach ihrer Ansicht darüber keine wissenschaftlichen Aussagen getroffen werden können. Auch die Bezeichnung als naturalistische Betrachtungsweise soll also nicht als komplette Reduzierung des Geistigen auf Natur verstanden werden; es geht lediglich um die Beschränkung des Forschungsbereichs aufgrund eines empirischen Wissenschaftsverständnisses. 73 Allerdings muß hier einschränkend darauf hingewiesen werden, daß die Verwendung naturwissenschaftlicher Metaphern nicht notwendig auf eine Nähe zu einem szientistischen Weltbild hindeutet. Bereits Savigny hatte beispielsweise den Organismusgedanken verwandt. Coing differenziert hier gegenüber Jhering: Während dieser organische Begriffe als Vergleich heranziehe, sei die Verwendung des Organismusgedankens bei Savigny mehr als eine bloße Analogie: „Für ihn ist das Organische eher eine Qualität alles Lebendigen, sowohl der natürlichen wie der sittlich-geistigen Welt.“ (Coing, Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Biologismus im 19. Jahrhundert (Hg. Mann), 153). 6 Stier
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men.74 Sein Diktum, wonach das Sollen aus dem Urteil über das Sein folge75, erscheint vorderhand als besonders charakteristisches Beispiel für eine reduktionistische Haltung und unzulässige Ableitung des Normativen aus tatsächlichen Strukturen. Wenn auch die klar empiristische Ausrichtung Kern des Konzepts ist, muß dieser Eindruck im Hinblick auf das Ziel der Bemühungen Merkels in gewisser Hinsicht relativiert werden. Merkel sah den Wert der philosophischen Arbeit in der Bündelung der ausufernden wissenschaftlichen Beobachtungen und Erkenntnisse. Er wandte sich strikt gegen die Auffassung, die Rechtsphilosophie habe dem positiven Recht ein davon unabhängiges ideales Recht gegenüberzustellen.76 Nach seiner Vorstellung sollte die Philosophie die Welt so begreifen, wie sie ist, und ihr nicht ein erfundenes Konstrukt gegenüberstellen.77 Ihre Aufgabe sah er daher in der Erarbeitung eines „allgemeinen Teils“ der Rechtswissenschaft, der in der Erfassung der allen Rechtsgebieten gemeinsamen Grundlagen und der Erforschung der allgemeinen Gesetze der Rechtsentwicklung bestehe.78 Es ging Merkel dabei zum einen um die begrifflich-dogmatische Bearbeitung der systematisch erfaßten Begriffe und zum anderen um die Aufdeckung der ursächlichen Beziehungen zwischen den rechtlichen Einzelerscheinungen, die „hierdurch für unsere Erkenntnis zu einem lebendigen, nach bestimmten Gesetzen sich entwickelnden und behauptenden Ganzen verbunden“ werden.79 74 Zu Merkels Theorie: Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels; Barth, Die Rechtslehre Adolf Merkels, 35 ff.; Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 246 ff.; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 310 ff., ebd. zum Schulenstreit, 386 ff.; Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 238 ff.; Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 43 ff.; Wittkau, Materialismus, 198 ff.; Liepmann, Die Bedeutung Adolf Merkels für Strafrecht und Rechtsphilosophie, ZStW 17 (1897), 638 ff. 75 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319. 76 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 310 ff.; ders., Besprechung von Hälschner, Ges. Abhdlg. II 2, 434 ff. 77 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319. 78 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 299 f. Vgl. auch ders., Rechtliche Verantwortlichkeit, Ges. Abhdlg. II 2, 874; ders., Rechtsphilosophie, in: Die Deutschen Universitäten (Hg. Lexis), 406. 79 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 306 f., 297. Merkel habe sich nicht auf den „rein internen Standpunkt“ der rechtsdogmatisch-konstruktiven Beschäftigung beschränkt, sondern ihn durch eine „externe Betrachtung der Rechtsentwicklung“ ergänzt (so Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 45; vgl. dazu Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 42 f.). Merkel verwendete diese Betrachtungsweise auch im Rahmen der Strafzweck-Diskussion, indem er dabei unter anderem die Bedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Rechts berücksichtigte. Er kam so zu einer Vereinigungstheorie, die Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitsaspekte verbindet (dazu Dornseifer, ebd., 96 ff.; Frommel, ebd., 52 ff., 63 f.; E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 312 f.; Wittkau, Historismus, 203 ff.).
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Die Notwendigkeit für derartige Untersuchungen sah Merkel in dem äußeren Druck, den die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen auf die Rechtswissenschaft ausübten, wodurch die Kontinuität der Rechtsentwicklung in Frage gestellt worden sei. Merkel hielt das Recht für ein Mittel, um eine befriedete Ordnung herzustellen und in diesem Rahmen die freie Betätigung der Interessen sicherzustellen.80 Die durch die veränderten Verhältnisse eingetretene Verunsicherung erfordere eine Überprüfung tradierter Rechte und eine Anpassung an neuartige Anforderungen.81 Das Bestreben Merkels, einen allgemeinen, übergeordneten Standpunkt zu gewinnen, der gleichzeitig den Zusammenhang des Rechts mit der Tradition wahrt, aber auch dessen Anpassungsfähigkeit verbürgt, führte ihn zu dem Gedanken der Entwicklung.82 Durch ihn sollte die sich zwischen Altem und Neuem „dehnende Kluft mit den Elementen einer tieferen Einsicht in die Entwicklungsgesetze des Rechts“83 überbrückt werden. Es ging ihm darum, die geschichtlichen Erscheinungen des Rechts aus ihren allgemeinen Bedingungen zu verstehen, das Gesetzmäßige der Entwicklung klarzulegen und dem rechtlichen Bildungsprozeß zugleich den Maßstab für seine Beurteilung zu entnehmen.84 So konnte er sagen: „Kondensierte Entwicklungsgeschichte ist Philosophie.“85 aa) Elemente, Grundmotive und Charakteristika der sozialen Entwicklung In mehreren Untersuchungen widmete sich Merkel der Analyse tatsächlicher Rechtsentwicklungen, indem er den empirischen Verlauf rechtlicher Veränderungen kulturpsychologisch untersuchte und die für diesen Wandel maßgeblichen Faktoren zu identifizieren suchte.86 Die hier entdeckten Regelmäßigkeiten sind ledig80 Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 25; ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 592. 81 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 295. 82 Kontinuität war für Merkel jedoch nur ein Aspekt der Entwicklung, und deshalb bemängelte er gegenüber der Historischen Schule die einseitige Betonung dieses Elements (Merkel, Über den Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft, Ges. Abhdlg. I, 45 ff., 58). Merkel unterstrich demgegenüber im Anschluß an Jhering die autonome Gestaltungsmöglichkeit der lebenden Generation (ebd., 58; ders., Rudolf von Jhering, Ges. Abhdlg. II 2, 743). Interessanterweise sah Merkel im Hinblick auf den Entwicklungsbegriff weitgehende Übereinstimmungen zwischen Savigny und Darwin, jedoch habe jener das Moment der Kontinuität und Vererbung hervorgehoben, während dieser das Element der Metamorphose betont habe, weshalb es sich im einen Fall um eine hochkonservative, im anderen um eine radikale Richtung handele (ders., Über den Begriff Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft, Ges. Abhdlg. I, 47 ff.). Damit löste er die Vorstellung der Historischen Schule aus ihrem idealistischen Zusammenhang (Wittkau, Materialismus, 210). 83 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 295. 84 Merkel, Rechtsphilosophie, in: Lexis, Die Deutschen Universitäten, 406. 85 Im Anschluß an Jhering: Merkel, Rudolf von Jhering, Ges. Abhdlg. II 2, 745. 86 Merkel, Über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Strafrechts und der Gesamtentwicklung der öffentlichen Zustände und des geistigen Lebens der Völker, Ges.
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lich als Beschreibung und Analyse von Entwicklungstendenzen formuliert.87 Dem liegt jedoch eine bestimmte soziale Entwicklungsvorstellung zugrunde, die Merkel nicht vollkommen ausgearbeitet hat, deren Grundgedanken sich jedoch erkennen lassen.88 Sie liegt zunächst in der Behauptung begründet, daß die Entwicklung nicht zufällig sei: Merkel war der Ansicht, im Verlauf und in den Gestaltungen des gesellAbhdlg. II 2, 556 ff. Ein Beispiel bildet auch die Untersuchung: Über Akkressenz und Dekressenz des Strafrechts und deren Bedingungen, Ges. Abhdlg. II 1, 269 ff. Hier versuchte Merkel anhand der tatsächlichen Ergebnisse ein allgemeines Prinzip der Entwicklung im Hinblick auf den Anwendungsbereich des Strafrechts festzuhalten. Es gebe zwei entgegengesetzte Bewegungen: „. . . eine Entwicklung aufsteigender Linie neben einer Entwicklung absteigender Linie, ein gleichzeitiges Wachsen und Welken.“ (269) Merkel konstatierte zwar eine Zunahme strafrechtlicher Bestimmungen auf bestimmten Gebieten (270 f.), insgesamt sah er jedoch im Hinblick auf strafbare Handlungen, Strafarten und Strafmaß einen Rückzug des Strafrechts gegeben und gelangte zu der Feststellung, „daß der Dekressenz des Strafrechts für die neuere Zeit eine höhere Bedeutung beizumessen sei als der Akkressenz desselben.“ (277, im Orig. gesperrt) Dabei handele es sich nicht um bloße Zufälligkeiten oder gesetzgeberische Willkür, es bestehe vielmehr zwischen diesen Erscheinungen und der gleichzeitigen Entwicklung des öffentlichen Lebens ein wesentlicher Zusammenhang und der Gesetzgeber sei nicht frei in seinen Entscheidungen. Er könne nicht beliebig über Strafwürdigkeit und Strafmaß entscheiden: „Wenn der Gesetzgeber hier über gewisse Grenzen hinausgeht, so findet er auf seinem Wege den Selbsterhaltungstrieb der Gesellschaft, der ihn über kurz oder lang zum Stillstehen bringen wird . . .“ (278) Ursprünglich sei die Strafe Sache des Verletzten und instinktiver Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes. Dann entwickelte sich die Strafjustiz zum neutralen Vermittler, die trotz erreichter Selbständigkeit jedoch insofern an die herrschenden Auffassungen rückgebunden sei, als sie deren Gerechtigkeitsforderungen ausgesetzt bleibe und sich ihnen gegenüber behaupten müsse, wolle sie nicht von der Selbsthilfe abgelöst werden. Entsprechend der gestiegenen Bedeutung der sozialen Faktoren für die Wahrung der gesellschaftlichen Organisation erhalte die Strafjustiz neben der repressiven eine deklarative Funktion, die den Eintritt der sozialen Folgen ermögliche. Die staatliche Strafe trete damit hinter den gesellschaftlichen Folgen der Tat zurück. „So ist auch das völlige Überflüssigwerden und Verschwinden der staatlichen Strafjustiz nicht in geschichtlicher Aussicht. Aber ihrer Idee nach hat sie die Bestimmung, sich überflüssig zu machen, und so lange wir im Fortschritte beharren, wird auch der eingetretene Absterbeprozeß sich fortsetzen.“ (290) 87 Vgl. zum naturalistischen Gesetzesbegriff in den Sozialwissenschaften die Kritik bei Popper, Das Elend des Historizismus, 90 f., 100 ff. Solche Entwicklungstrends seien keine Gesetze, es sei denn der Trend ließe sich durch ein System von Gesetzen erklären (ebd., 95). Popper versteht unter Historizismus „jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, die annimmt, daß historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man die ,Rhythmen‘ oder ,Patterns‘, die ,Gesetze‘ oder ,Trends‘ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen.“ (ebd., 2) Dabei unterscheidet er zwischen einem anti- und einem pronaturalistischen Historizismus. Kritisch auch Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 106 ff., 134 ff. Vgl. allg. zum Begriff des Gesetzes Jammer, Art. Gesetz, in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie (Hg. Seiffert / Radnitzky), 112 ff. 88 In der letzten Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit befaßte sich Merkel zunehmend mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, die als „Fragmente zur Sozialwissenschaft“ veröffentlicht sind; darin sah er die theoretische Zusammenfassung der Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften über die gesellschaftliche Entwicklung (Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 15, 18 f.).
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schaftlichen Lebens herrsche keine regellose Willkür, sondern in der Verbindung der Erscheinungen liege eine Gesetzmäßigkeit, die innerhalb gewisser Grenzen erkennbar sei.89 Dabei sah er weder einen unbeeinflußbaren, naturnotwendigen Mechanismus noch ein metaphysisches Entwicklungsprinzip am Werk. Die Behauptung der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung bezieht sich bei Merkel zum einen auf die kausal notwendige Verbindung der Erscheinungen, zum anderen auf die Vorstellung, in den Ereignissen zeigten sich gewisse konstante Kräfte.90 Nach Merkels Auffassung sind bestimmte gleichartige psychische Bedingungen innerhalb der sozialen Entwicklung wirksam, die bei allen Völkern zu allen Zeiten übereinstimmen und zu einer gleichartigen Gesamtbewegung des geschichtlichen Lebens führen, die bestimmte Richtungen erkennen läßt.91 Diese „beharrenden Elemente“92 – Merkel dachte hier an die „relative Unveränderlichkeit der menschlichen Natur“93, an einen „bestimmten Besitzstand“94 menschlicher Anlagen und „Äußerungen gleichartiger psychischer Kräfte“95 wie u. a. Lust / Unlust, Hunger / Durst, Liebe / Haß, Streben nach Freiheit und das Bedürfnis nach Einordnung in ein größeres Ganzes etc.96 – entfalten nach seiner Vorstellung unter gleichartigen Verhältnissen gleichartige Wirkungen.97 Merkel erweist sich dabei insofern als Gegner des Indeterminismus, als er davon ausgeht, daß die menschlichen Eigenschaften sich unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise äußern müssen.98 Die andere KomMerkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 2, 4. Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 5 ff., 10. Im Rahmen der Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit definierte Merkel den Begriff des Gesetzes folgendermaßen: „Die Gesetze, an welche gedacht wird, wenn von der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen gesprochen wird, sind nicht bestimmende und zwingende Mächte und überhaupt nichts Reales. Es sind zusammenfassende Ausdrücke für ein thatsächliches Geschehen, für die konstante Art nämlich, in welcher Eigenschaften gegebener Objekte sich unter bestimmten Bedingungen äußern.“ (ders., Rechtliche Verantwortung, Ges. Abhdlg. II 2, 887). 91 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 11 f. 92 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 6. Hintergrund ist die Annahme einer „beharrlichen und determinierten Natur der Welt“ (ebd., 5). In den Ereignissen äußere sich ein „fester Besitzstand“ von Kräften, die Merkel mit den psychischen Anlagen des Menschen identifizierte, der nicht regellos erweitert werden könne, was Merkel mit dem ersten thermodynamischen Hauptsatz begründete: Die in der Welt enthaltene Energie zerfließe weder beliebig in das Nichts, sie könne nicht beliebig aus diesem gemehrt werden, noch die Grundformen ihrer Betätigung ändern (ebd., 5). Diesen Hauptsatz hatten Robert Mayer und Heinrich v. Helmholtz 1846 formuliert. Vgl. hierzu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 98 f. 93 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 7. 94 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 6. 95 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 6. 96 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 6 f.; 55. 97 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 7. 98 Neben der „Beharrlichkeit“ ist die menschliche Natur nach seiner Vorstellung durch „Bestimmtheit“ gekennzeichnet: „. . . und die Geschichte unseres Wirkens stellt sich diesen (scil. Dritten) so wenig wie uns selbst als eine Summe zusammenhangloser Fakta, sondern als die fortschreitende Äußerung einer Individualität von bestimmten Qualitäten dar, welche 89 90
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ponente der Gesetzmäßigkeit bilden die den Ereignissen vorausgegangenen Vorgänge, die eine Lage herbeiführen, in der die beharrenden Kräfte zu einer bestimmten Reaktion herausgefordert werden müssen.99 Merkel ging also auch insofern von einem gesetzmäßigen Zusammenhang aus, als menschliches Handeln wie alle Erscheinungen ursächlich bedingt und damit notwendig bestimmt sei. Die Orientierung an den Naturwissenschaften ist hier unverkennbar: Mit der Beschreibung des Zusammenwirkens der konstanten geistigen Faktoren einerseits und der vorfindlichen sozialen und historischen Verhältnisse andererseits schuf Merkel gewissermaßen Grundbedingungen, deren Zusammenspiel er auf ihre regelmäßige Wirkungsweise untersuchen konnte, so daß sich „die Grundmotive des geschichtlichen Lebens“100 bestimmen ließen, die in allen Zeitaltern lediglich in unterschiedlicher Variation und Verbindung thematisiert würden. In der „relativen Unveränderlichkeit der menschlichen Natur“101 sah Merkel demgemäß eine Voraussetzung für die Erkennbarkeit einer sozialen Gesetzmäßigkeit, denn aus der Wirkung der gleichartigen Kräfte und den davon abhängigen elementaren Verhältnissen der Menschen ergebe sich erst ein „Gegenstand von beharrender Natur, wie ihn die Wissenschaft voraussetzt“.102 So entsteht nach seiner Vorstellung in einem in gewissem Sinn schematischen Zusammenwirken eine Kette von Ereignissen, die in ihrem Ablauf einer „natürlichen Notwendigkeit“103 unterliege. Aus der Wirksamkeit der konstanten Faktoren folgerte Merkel, daß in der Entwicklung bestimmte Richtungen erkennbar seien, die einer allgemeinen Charakterisierung zugänglich seien.104 Die Charakteristika der Gesamtbewegung des geschichtlichen Lebens, die trotz der Unterschiede zwischen den Völkern erkennbar seien, skizzierte Merkel in Anlehnung an die biologischen Theorien: Danach seien Wachstum und Difzwar einer Entwicklung unterliegt und unter wechselnden Eindrücken successive einander widersprechende Zwecke verfolgen kann, welche aber jederzeit nur auszusprechen vermag, was sie in sich hat, und auf jede Frage nur die Antwort geben kann, die ihrer Beschaffenheit unter den gegebenen Verhältnissen gemäß ist.“ (Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 7) Die Dignität der ethischen Werturteile werde davon keineswegs berührt. Freiheit bedeutete für Merkel „wirksam sein nach eigenem Maß“ (ebd., 16, im Orig. gesperrt; vgl. auch ders., Besprechung von Hälschner, 448 f.). Zum Problem der Willensfreiheit: Barth, Die Rechtslehre Adolf Merkels, 134 ff.; zu dieser Anthropologie und den Anschauungen Buckles und Mills: Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 122 ff. 99 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 10. Ebenso ders., Besprechung von Hälschner, Ges. Abhdlg. II 2, 435 f. Allgemein zum Kausalitätsbegriff und zur Frage der Notwendigkeit Stegmüller, Das Problem der Kausalität, in: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften (Hg. L. Krüger), 156 ff., 166. 100 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 8, 78. 101 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 7. „So weit uns die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Verhältnisse offen liegt, treten uns Äußerungen gleichartiger psychischer Kräfte entgegen.“ (ebd., 6). 102 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 8. 103 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 11. 104 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 11.
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ferenzierung sowie gleichzeitige Synthese zu neuen Formen für die geistige und gesellschaftliche Entwicklung gleichermaßen kennzeichnend wie für die natürliche.105 Die Auffassung einer solchen kontinuierlichen Tendenz kann selbstverständlich nicht den Status eines universalen Gesetzes im Sinne eines naturwissenschaftlichen „All-Satzes“ beanspruchen und tut dies augenscheinlich auch nicht, sondern stellt sich eher als Feststellung einer in tatsächlichen Regelmäßigkeiten begründeten Entwicklungstendenz dar; Merkel war jedoch zuversichtlich, daß es nicht ausgeschlossen sei, für diese Gesamtbewegung „einen einfachen und bestimmten Ausdruck“106 zu finden. bb) Der neutrale Maßstab der gesellschaftlichen Entwicklung Mit Merkels Entwicklungsvorstellung ist – anders als bei Jhering – keinesfalls die Vorstellung einer Zweckhaftigkeit hinter der gesamten Entwicklung verbunden.107 Eine solche Möglichkeit war Merkel angesichts der Beschränkung der philosophischen Arbeit auf die Aufdeckung der tatsächlichen Beziehungen zwischen den rechtlichen und historischen Vorgängen verschlossen: „Manche sind freilich teleologischer Weltsicht gemäß überall geneigt, das Endergebnis eines geschichtlichen Prozesses seiner Idee nach als das jenen Prozeß von Anfang an beherrschende Prinzip zu betrachten. Allein soweit die kausalen Glieder nicht dargelegt sind, welche den Einfluß dieses Elementes in den verschiedenen Abschnitten des geschichtlichen Prozesses vermitteln, gehört diese Auffassung dem Glauben, nicht der Wissenschaft an.“108 105 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 12. Diese beiden Elemente kehren auch in Merkels Parteienlehre wieder; dabei identifizierte er das konservative mit dem synthetischen, das liberale Interesse mit dem differenzierenden Aspekt und sah im Parteienkampf Gegensätze, die eine Ausprägung der Gegensätze der allgemeinen sozialen Entwicklung darstellten (ebd., 1 f.; ders., Der Gegensatz zwischen liberalen und konservativen Parteien, Ges. Abhdlg. I, 223 f.). Dornseifer (Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 30 ff.) führt Merkels Position auf den positivistischen Evolutionismus Spencers zurück. Vgl. für die Strafrechtspflege Merkel, Über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Strafrechts, Ges. Abhdlg. II, 561: In dem Kampf der Gesellschaft mit dem Individuum lasse sich „ein Fortschreiten erkennen in der Richtung von roheren zu feineren und von einfacheren zu komplizierteren Formen, in der Richtung ferner von einem zusammenhanglosen und unter dem Einfluß leidenschaftlicher Erregungen stehenden Verfahren zu einer nach steten Regeln und unter besonnener Abwägung von Mittel und Zweck sich stetig entfaltenden Thätigkeit . . .“ 106 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 12. 107 So auch Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 48. Das Recht selbst dient nach Merkel bestimmten menschlichen Zwecken (Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 591 f.), wenn sich auch die mit seiner Schaffung verbundenen bewußten Zweckvorstellungen nicht unbedingt darin wiederfänden (Merkel, Rudolf von Jhering, II 2, 755; ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 593). 108 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 593 f. Dem hält Frommel entgegen, Merkel habe eine Geschichtsauffassung gehabt, die als Umkehrung der
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Trotz des Zusammenwirkens der konstanten Faktoren, die die soziale Entwicklung hervorbringen und nach Merkel die Annahme einer, an naturwissenschaftlichen Kriterien gemessen, gesetzmäßigen Entwicklung rechtfertigen, muß betont werden, daß Merkel keinen von menschlicher Willkür unbeeinflußbaren Mechanismus am Werk sah wie die biologischen Entwicklungstheorien.109 Merkels Fortschrittsoptimismus stellt keinen bedingungslosen Glauben an die unweigerliche Besserung der gesellschaftlichen Zustände aufgrund eines dem Geschehen inhärenten gesetzlichen Automatismus dar. Die Betrachtung der bisherigen Entwicklung, die Merkel als „eine weitere Steigerung und zugleich Bereicherung des Lebens, eine fortschreitende Vervielfältigung seiner Formen und Vertiefung seines Inhalts“110 charakterisierte, veranlaßte ihn zu der Auffassung, diese fortschrittliche Tendenz beruhe auf bestimmten einsehbaren Bedingungen, die es zu erkennen und im Sinne einer bewußten Förderung dienstbar zu machen gelte. Der gesellschaftliche Fortschritt stellte für ihn ein zu beförderndes Ziel und kein zwingendes Entwicklungsergebnis dar.111 An die Stelle eines teleologischen Prinzips treten bei Merkel gesellschaftliche Faktoren. Von ihren antagonistischen Standpunkten geht der Impuls für eine fortschrittliche Veränderung aus. Aus ihrer Konkurrenz ergebe sich durch das Aufeinanderprallen der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte die aufsteigende Entwicklung112 und der parteipolitische Kampf stelle nur eine Ausprägung der in der idealistischen Auffassungen konzipiert gewesen, aber gerade wegen dieses Umkehrungsverhältnisses nicht minder spekulativ gewesen sei. Der Unterschied habe lediglich darin bestanden, daß nicht aus einem Prinzip oder einer Idee deduziert werden sollte, sondern aus einer „realen Triebfeder der Geschichte“ (Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 191). Zum Vorwurf der materialistischen Weltdeutung mit agnostischer Fassade auch Wittkau, Materialismus, 210. 109 Auf diesen Gegensatz zum Evolutionismus Spencers verweist auch Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 32. Insofern verkürzend Kaufmann (Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 92 f.), dessen Darstellung nahelegt, Merkel gehe von einem automatisch sich einstellenden Fortschritt aus. Der Fortschritt stellt sich für Merkel jedoch nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ein, die es zu analysieren gilt. 110 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 90. 111 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 79 f. Die wiederkehrende Wendung der „fortschreitenden Entwicklung“ hat, wie die folgenden Beispiele zeigen, hypothetischen Charakter (kursive Hervorhebungen nur hier): „Die Geschichte des Rechts, insofern sie sich in aufsteigender Linie bewegt, hat zum Inhalte das Mächtigwerden dieses Geistes.“ (ders., Recht und Macht, Ges. Abhdlg. II 1, 406) „Es ist keine Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Mehrzahl jemals sich auf diese Stufe erheben werde. Aber gewiß ist, daß, insofern wir fortschreiten, wir uns dem Punkte dieser Erhebung, wenn auch in noch so langsamer Bewegung annähern.“ (ders., Akkressenz und Dekressenz, Ges. Abhdlg., II 1, 290) Vgl. auch ders., Enzyklopädie, § 136: Der Fortschritt sei nicht dahin zu verstehen, daß das höher entwickelte Recht auch immer das bessere sei als das unentwickelte für die von ihm geregelten Verhältnisse; der Fortschritt enthalte in wichtigen Beziehungen nur eine Anpassung an kompliziertere Lebensverhältnisse. 112 Auch hier bediente sich Merkel eines naturwissenschaftlichen Bildes von entschieden mechanistischem Gepräge: „Dieser Wettbewerb um die Herrschaft über die Materialien des
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gesamten gesellschaftlichen Entwicklung wirksamen Gegensätze dar.113 Auf welche Weise dieser Wettstreit zu führen sei, könne Gegenstand wissenschaftlicher Analyse sein. Merkel versuchte dabei, die Zusammenhänge, die für eine fortschrittliche Veränderung verantwortlich sind, zu analysieren und die Voraussetzungen zu ermitteln, die zu einer aufsteigenden Entwicklung führen. „Zugleich wird mit der Einsicht in die Bedingungen einer in aufsteigender Linie beharrenden und stetig fortschreitenden Entwicklung ein Wertmaß gewonnen werden, welches zwar ebensowenig wie irgend ein anderes sich als das allein giltige und als ein notwendig anzulegendes erweisen läßt, das aber den Parteigegensätzen gegenüber sich als ein neutrales Maß zur Geltung bringen muß, und das uns Urteile an die Hand gibt, welche einem Volke nicht gleichgiltig sein können, so wenig wie der Einzelpersönlichkeit das Verhältnis ihrer Bestrebungen zu den Bedingungen einer aufsteigenden und ungestört fortschreitenden Entwicklung ihres besonderen körperlichen und geistigen Daseins gleichgiltig sein kann.“114 Dabei blieb sich Merkel der eingeschränkten Reichweite der aus solchen empirischen Untersuchungen hervorgegangenen Beurteilungskriterien bewußt und wies deutlich darauf hin, daß es sich dabei nicht um ein absolutes Richtigkeitsmaß handeln könne. Merkel war lediglich der Überzeugung, einen neutralen Maßstab finden zu können, den die am gesellschaftlichen Prozeß Beteiligten bei der Verfolgung ihrer Interessen nicht unberücksichtigt lassen könnten. Würden alle Wertvorstellungen und alle gesellschaftlichen Unterschiede zur Übereinstimmung gelangen – und das ist gewissermaßen die Pointe seiner Ausführungen, die ein Plädoyer für eine pluralistische Gesellschaft darstellen und eine homogene Essenz, wie sie die Historische Schule mit dem Volksgeist suggeriert hatte, nicht nur als fiktive Annahme, sondern auch als erstarrten Zustand beschreiben – gäbe es aufgrund der an die gesellschaftlichen Reibungen gekoppelten Dynamik überhaupt keine Entwicklung und keinen Fortschritt mehr: Konflikt ist damit der Motor sozialer Veränderung. „Mit einer definitiven Ausgleichung der Gegensätze würde für die Entwicklung zugleich ein definitives Ziel gesetzt sein. Eine weitere Steigerung und zugleich Bereicherung des Lebens, eine fortschreitende Vervielfältigung seiner Formen und eine Vertiefung seines Inhalts würde nicht mehr in Aussicht stehen.“115 Lebens zwingt dasselbe zur Bewegung in aufsteigender Linie, wie der Zusammenstoß der Winde die Wettersäule sich erheben läßt, wie das Gegeneinanderwirken verschiedener Kräfte die Pflanze nötigt, sich vom Boden zu erheben, den Stamm des Baumes sich senkrecht aufrichten und in erhobener Krone das Leben desselben sich farbenprächtig entfalten läßt.“ (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 90). 113 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I 1, 78 f., 88 ff. „Stets aber weist eine mächtig aufstrebende Entwicklung auf einen vielgestaltigen Widerstreit mannigfaltiger Kräfte als auf ihre Voraussetzung hin. In ihrem Zusammenhang innerhalb des nämlichen Lebensraumes begründet sich für sie die Nötigung zur Ausbildung immer neuer Formen, immer reicherer und komplizierterer Gestaltungen, auf daß es den heterogenen Elementen möglich werde, sich neben einander auszubreiten und zu bethätigen.“ 114 Merkel, Fragmente Ges. Abhdlg. I, 15.
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cc) Die Bildung „idealer Formen“ Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungsvorstellung ist Merkels häufig aus dem Zusammenhang isoliert zitiertes Diktum, das „,Soll‘ ist daher nur eine Konsequenz des Urteils über das ,Ist‘ . . .“116 zu sehen. Merkel wird dabei gelegentlich – so zum Beispiel von Stammler117 – des naturalistischen Fehlschlusses bezichtigt. Dabei wird jedoch vernachlässigt, daß seine Konzeption der Rechtsphilosophie, jedenfalls dem eigenen Anspruch nach, keineswegs auf die Etablierung objektiv gültiger Wertungen gerichtet war; Wertsetzungen im Sinne von verbindlichen, und dies bedeutet für Merkel ethisch als verpflichtend empfundenen Imperativen überhaupt sind nach seiner Ansicht Ausdruck persönlicher Anschauungen und Gegenstand des parteipolitischen Kampfes, aber keineswegs theoretisch begründbar.118 Nach dieser Seite hin ist das Recht für ihn überhaupt nicht Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung; es unterliegt lediglich als positive rechtliche 115 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 90. Zur Kritik am Gedanken eines einheitlichen Volksgeistes ebd., 88 ff., 92 f. 116 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg., II 1, 319. 117 Stammler, Über die Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 14; in dieser Richtung auch Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 17 f.; Kaufmann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 92 f.; Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 556; ders., Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 92, baute auf diesem Gedanken auf, modifizierte ihn aber, wie zu sehen sein wird, wesentlich. 118 Auch an anderer Stelle bekräftigte Merkel die Auffassung, daß ein „Sollen“, das er hier mit dem sittlichen Verpflichtungsgehalt des Rechts identifizierte, wissenschaftlich nicht erwiesen werden könne. Die letzten Gründe der Debatte um das „oberste Wertmaß“ seien nicht theoretischer Natur und hingen auch nicht von theoretischen Gründen ab, denn jeder besitze mit seiner Empfindungsweise und seinen ethischen Idealen ein Wertmaß, das er nicht aufgeben könne, ohne sich selbst aufzugeben (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 24). „Die Richtigkeit der allgemeinen Urteile aber . . . liegt in ihrer Übereinstimmung mit unseren ethischen Empfindungen und Anschauungen, welche ihrerseits keine theoretische Ableitung zulassen . . .“ (ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 611; vgl. auch ders., Übersicht über die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie“ von Geyer, durchgesehen und ergänzt von Merkel, in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (Hg. Holtzendorff), 90) Die Wissenschaft könne nicht beweisen, daß man ein bestimmtes Gefühl haben solle, denn die Quellen des sittlichen Handelns und der Achtungsgefühle lägen nicht in ihrem Einflußbereich. Wissenschaftlich könne nur die Bedeutsamkeit bestimmter Faktoren wie die des Klasseninteresses, des Selbständigkeits- und Freiheitstriebes etc. für eine fortscheitende Entwicklung der Völker geklärt und Aufgaben und Mittel zur Erreichung der angestrebten Ziele offengelegt werden (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 21, 22). Daß aber in einer bestimmten Empfindungsweise (z. B. der Friedensliebe) das oberste, für alle verbindliche Wertmaß liege, sei wissenschaftlich nicht erweisbar (ebd., 22). Merkel glaubte darüber hinaus nicht, daß die Aufklärung über das Zustandekommen des eigenen Wertgefühls dessen ideologischen Einfluß beseitige (ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 612 f.). Mit seinen Ausführungen wollte Merkel dem Parteienstreit daher kein Ziel setzen, aber durch Aufklärung des Sachverhalts die Form der Auseinandersetzung beeinflussen (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 25). Eine Haltung, die auch Gegenstand des Werturteilsstreits war (dazu Käsler, Max Weber, 234 ff.).
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Anordnung der wissenschaftlich-empirischen Analyse.119 Das ist der Rahmen, in dem die Rechtsphilosophie Auskunft geben kann und ihren Beitrag leisten kann zu einer bewußten, wissenschaftlich geleiteten Fortbildung des Rechts. „Diese (scil. tatsächlichen) Verhältnisse sind der Wahrnehmung nicht entzogen (scil. im Gegensatz zu den Wertungen als Tatsachen des Gemüts), und die Letztere vermag die Rechtslehre allein zum Range einer Wissenschaft im strikteren Sinne dieses Wortes zu erheben. Auf sie gestützt vermag sie der Gesellschaft die Möglichkeit zu gewähren, den jeweils gegebenen Zuständen gegenüber ein ihren Interessen entsprechendes und nicht auf Enttäuschungen hinausführendes Verhalten mit Sicherheit zu beobachten, sowie einem Jeden die Möglichkeit, in den Kämpfen des Lebens die Frage, was hier zu stützen und was zu bekämpfen sei, und überall die Frage nach dem, was geschehen ,soll‘, seinen ethischen Idealen gemäß zu beantworten.“120 Wenn später Max Weber daran erinnerte, daß man eindeutige Imperative für praktische Wertungen nicht aus Entwicklungstendenzen ableiten könne, die Wertungsfrage vielmehr dem Gewissen des Einzelnen zu überantworten sei und nicht durch ein vorgeblich wissenschaftliches Prinzip gedeckt werden könne121, so stimmt diese Ansicht in diesem Punkt mit Merkel überein. Merkels umstrittener Satz über die Ableitung des Sollens aus dem Sein bezieht sich daher auch wesentlich auf die im Gesellschaftsleben und in der Rechtsordnung bereits hervorgetretenen Prinzipien. Ziel der rechtsphilosophischen Betrachtung sei es, „die Seite des wirklichen Lebens, auf welche Wort und Begriff des Rechts hinweisen, zu begreifen“122. „Die (scil. positiven) Gesetze erscheinen hier als Data, welche einem gegebenen psychologischen und historischen Zusammenhange angehören, als Glieder eines Ganzen, von unter sich gesetzmäßig verbundenen Thatsachen, welche einerseits auf die konstante Wirksamkeit bestimmter Kräfte, andererseits auf einen beständigen Wechsel der Bedingungen hinweisen, unter wel119 Bestätigt wird diese Einschätzung durch folgende Bereichsbegrenzung der rechtsphilosophischen Arbeit Merkels, auf die schon mehrfach hingewiesen wurde: „Natürlich kommt hier alles darauf an, wonach gefragt wird. Wir fragen: welches sind thatsächlich die Funktionen des Rechts, welches thatsächlich die Quellen seiner Kraft? Davon unterscheiden sich die Fragen: wie können wir uns die Funktionen des Rechts, und an welche Eigenschaften können wir uns seine verpflichtende Kraft gebunden denken, so daß uns dies eine logische oder ethische Befriedigung gewährt? Oder auch: welches sind die objektiv giltigen Werturteile, auf welche die Imperative des Rechts sich stützen müssen, um vernünftiger Weise als verbindlich betrachtet werden zu können? Der Rechtswissenschaft liegen m. E. diese letzteren Fragen ebenso fern, wie der Geographie die Frage, ob es einen vernünftigen Sinn habe, daß die Quellen des Rheins in den Alpen liegen.“ (Merkel, Besprechung von Schuppe, Ges. Abhdlg. II 2, 544) Die Berechtigung einer derartigen Aufgabenbestimmung der Rechtsphilosophie steht auf einem anderen Blatt. 120 Merkel, Besprechung von Hälschner, Ges. Abhdlg. II 2, 435 f. Vgl. auch Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 61, 76 f. 121 M. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders., Ges. Aufs. Zur Wissenschaftslehre, 512. 122 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg II 1, 319. Das Recht ist der Ausdruck der Lebensverhältnisse nach ihrer rechtlichen Seite hin (ebd. 304, Fn. 1).
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chen jene wirksam werden.“123 Aufgrund der so von Merkel gedachten Verknüpfung des Rechts mit den realen Verhältnissen kann dem Recht ein Seinsollendes, und zwar – wie sich zeigen wird – im Sinne einer immanenten Fortbildung der nur unvollkommen im Rechtsleben und den Institutionen ausgebildeten Zwecke und ethischen Prinzipien, entgegengesetzt werden.124 Über die Frage des Sollens war für Merkel also insofern ein Seinsurteil entscheidend, als es dabei um die tatsächlichen Bedingungen ging; hier kommt seine Entwicklungsvorstellung zum Tragen, da durch Analyse der gegenwärtigen Strukturen deren mögliche Entwicklung verfolgt werden kann. Dabei wirkt sich zunächst Merkels Annahme eines inneren gesetzmäßigen Zusammenhangs des Rechts nicht nur in systematischer Hinsicht, sondern vor allem in zeitlicher aus.125 Denn der gegenwärtige Zustand stelle einen „Durchgangspunkt“126 in der Rechtsentwicklung dar. Daher ermögliche es die Entwicklungsbetrachtung, Aufschluß über die „Zielpunkte des praktischen Verhaltens“127 zu bekommen, insofern die angestrebten Ziele innerhalb einer möglichen tatsächlichen Entwicklung des Rechtslebens liegen.128 In diesem Zusammenhang versprach sich Merkel jedoch nicht allein über die Perspektiven der Entwicklung Aufschluß, sondern auch über deren Beurteilung: Die Erforschung des Gegebenen belehre nicht nur darüber, welche Entwicklung möglich sei, sondern auch, „welche Richtung der möglichen Entwicklung zu befördern, welche zu bekämpfen sei. Jenes gilt von den Elementen eines Zustandes, auf welche die von ihm bewirkte Befriedigung, dieses von den Elementen, auf welche die in dem Zustande sich begründenden Schädlichkeiten und Störungen zurückzuführen sind.“129 Merkel fügte also an dieser Stelle noch einen Gedankenschritt ein, der sich letztlich auf die konsequente Entfaltung der in dem bestehenden rechtlichen und gesellschaftlichen Zustand prinzipienhaft angelegten Gesichtspunkte bezieht, und hierin liegt das eigentliche Problem seiner Konzeption. Denn er behauptete, anhand des Bestehenden ließen sich „ideale Formen“ bilden, die den Maßstab für die weitere Veränderung abgäben: Das Bestehende bilde den Maßstab für seine eigene Beurteilung und liefere das Muster für seine Umwandlung.130 Wiederum bediente sich
Merkel, Besprechung von Hälschner, Ges. Abhdlg. II 2, 435. Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 320. 125 Die Möglichkeiten des Entwicklungsgedankens bestünden nur unter der Voraussetzung, daß „ein Zusammenwirken zwischen den Rechtsbestimmungen bestehe, daß dieselben weder in einer gegebenen Zeit bei einem bestimmten Volke in einem bloß äußerlichen Nebeneinander, noch in der Geschichte in einem zusammenhanglosen Nacheinander sich darstellen . . .“ (Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 321 f.). 126 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 304. 127 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319. 128 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319; ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 62. 129 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319. 130 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 319. Hiergegen – und nicht gegen den Entwicklungsgedanken – wendet sich auch Stammler, Die Methode der 123 124
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Merkel einer Analogie aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Er zog den Botaniker und den Mediziner zum Vergleich heran, die auf ihrem Gebiet ebenfalls aus der Beobachtung unvollkommener und normaler bzw. gesunder und kranker Zustände, eine Vorstellung von der normalen Konstitution entwickelten. „Überall führt uns die Beobachtung des Lebens dazu, uns die Formen zu entwerfen, welche der ungehemmten unter günstigen Bedingungen erfolgenden Entwicklung eines Komplexes von Kräften entsprechen. Diese idealen Formen leiten uns bei unserem Urteile über die jeweils gegebenen, zu deren Ausbildung diese Kräfte unter bestimmten Einflüssen und zu einem bestimmten Momente gelangt sind.“131 Die in den rechtlichen Erscheinungen und dem Bewußtsein der Zeit angelegten Prinzipien, die den materiellen Interessen und der ethischen Befriedigung der Menschen entsprächen, seien nicht überall – weder in den Institutionen noch im Bewußtsein der Zeit – widerspruchslos verwirklicht; sie müßten daher bewußt gemacht und zu vollständiger Entfaltung gebracht werden.132 Merkel verzichtete also auf die Etablierung eines absoluten, objektiven Maßstabes, ein solcher war für ihn aufgrund der heterogenen gesellschaftlichen und persönlichen Interessen nicht zu erlangeschichtlichen Rechtswissenschaft, 14: „. . . nicht empirische Wahrnehmung, sondern Vernunftschlüsse können hier allein in Betracht kommen.“ 131 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 320. Sie bezeichneten zugleich ein „erstrebenswertes Ziel“. Die idealen Formen führten so zur Einsicht in die Bedingungen eines geschichtlichen Fortschreitens. „Jene Erkenntnis (scil. die des systematischen und entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhangs der Rechtsnormen) erweitert daher die Möglichkeit, auf die Entwicklung des Rechtslebens einen bewußten und die Absichten des Handelnden nicht überschreitenden Einfluß auszuüben.“ (ders., Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 2, 321) Es geht hingegen nicht darum, die tatsächliche Entwicklung als richtig zu legitimieren, sondern die dem Rechtsleben zugrundeliegenden Prinzipien aufzudecken und ihre Entfaltung theoretisch vorzubereiten (ebd., 320). Diese Ansicht wird durch spätere Ausführungen Merkels bestätigt (ders., Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 20 f.): Es sei nicht möglich, aus dem faktischen Geschehen (z. B. der steigenden Komplexität staatlicher Funktionen, dem organischen Charakter der rechtlichen Einrichtungen) zu folgern, daß dies so sein solle. Das Abbild der Wirklichkeit werde hier unversehens zum Musterbilde, nach welchem sich die Wirklichkeit richten lassen solle (ebd., 20 f.). Eine Gefahr, die natürlich auch bei Merkels „idealen Formen“ nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Festzuhalten ist an dieser Stelle die unterschiedliche theoretische Konzeption dieser Formen im Vergleich zu den Abbildern der Wirklichkeit. 132 Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 320. „Diese Entfaltung hier zu vermitteln – „den Rechtsgedanken, der noch unausgesprochen im Bewußtsein der Zeit lebt, zum Ausdruck und zur theoretischen Gestaltung zu bringen“ (Bär) – dort vorzubereiten, ist die Aufgabe der einen Rechtswissenschaft, zu deren Lösung sie durch das Verständnis des wirklichen Rechtslebens und lediglich durch dieses befähigt wird.“ (ebd., 320) Beachtenswert auch hier wieder die Einschränkung, die Merkel mit Hinweis auf den erklärenden Charakter der wissenschaftlichen Untersuchung macht: „In der That hat die Wissenschaft sich nicht zum Ziel zu setzen die Verwirklichung des Sittlichen und den Kampf für dessen Geltung. Jede Art von praktischer Tendenz liegt außerhalb ihrer ,rein wissenden Natur‘. Aber indem sie ihrem eigenen Geschäfte nachgeht, der Erweiterung und Vertiefung des Wissens, übt sie auf die Bewegung des Lebens einen tiefgreifenden Einfluß aus und bereitet häufig den Triumph jener treibenden Elemente, wenn derselbe den gemeinsamen Interessen entspricht, in entscheidender Weise vor.“ (ebd., Fn. 1).
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gen.133 Seine Analyse bezog sich dem Ziel nach vielmehr auf diejenigen Bedingungen der sozialen Ordnung, die einer empirischen Untersuchung zugänglich sind und die ein Gesetzgeber beachten muß, will er nicht die Grenzen des gesetzmäßig bestimmten Daseins verletzen, wobei der Begriff des Sollens nach Merkel durch das Sein keineswegs restlos erschlossen werden konnte. Die „positivistische Rechtsphilosophie“ kann also schon dem Anspruch nach die normative Betrachtung nicht vollkommen durch die empirische Analyse ersetzen, da sie ihre Ziele ganz anders definiert: Es geht ihr um die in einer Gesellschaft aufweisbaren gesetzmäßigen Zusammenhänge und deren Beziehung zu der rechtlichen Entwicklung, es geht um Aufklärung über das Funktionieren gesellschaftlicher und rechtlicher Entwicklung und die Erarbeitung neutraler Standpunkte als zu beachtender Grundkonstellationen des sozialen Prozesses. Es geht nicht darum, einen absoluten Maßstab zu etablieren; diese Frage ist von vornherein nicht Gegenstand der Untersuchung, vielmehr werden die vorhandenen moralischen Standpunkte in ihrer Bedeutung für eine fortschrittliche Entwicklung untersucht. Die Reduktion des philosophischen Standpunktes auf eine solche Perspektive hat zur Folge, daß der empirische Rahmen gar nicht überschritten werden kann und soll, so daß die nach überkommener Vorstellung im Mittelpunkt des rechtsphilosophischen Interesses stehende Frage nach der Gerechtigkeit keinen zentralen Platz mehr einnimmt. Man mag diesen begrenzten Blickwinkel der normativen Betrachtung als unangemessen kritisieren, hypertroph naturalistisch mit einem Anspruch, die Rechtsentwicklung verbindlich berechnen zu können, ist er wohl nicht.134 b) Der Entwicklungsbegriff als Synthese kausaler und wertender Betrachtung (Liszt) Auch Franz v. Liszt135 hat im Anschluß an Merkel136 den Entwicklungsgedanken weiterverfolgt und damit versucht, die Angemessenheit der Besserungsstrafe gegenüber der Vergeltungsstrafe zu erweisen.137 Seine Vorstellung knüpfte an die 133 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 23 f.; ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 597. 134 Vgl. weiter die Ausführungen bei Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 23 ff. und Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 45 zu der verbreiteten Einschätzung, Merkel sei Positivist. 135 Zu Liszts Straftheorie E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 357 ff., zu seinem Entwicklungsdenken insbes. 367 f.; Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 179 ff.; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, 51 ff., zum Entwicklungsgedanken insbes. 60 ff.; ebenfalls Wassermann, Begriff und Grenzen der Kriminalstatistik, 12 ff., § 2. 136 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 556; ders., Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 92. 137 Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3, (1883) 1 ff.; zum Schulenstreit Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 42 ff.
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Vorstellung Merkels von einer gesetzmäßigen Entwicklung an, nahm aber – was bisweilen vernachlässigt wird – zur Rechtfertigung eines aus dieser Betrachtung abgeleiteten normativen Anspruchs erstaunlich geradlinig Bezug auf das monistische Erklärungsprinzip der biologischen Selektionstheorie. Der Grundgedanke der Entwicklungslehre lag nach seiner Auffassung darin, daß die Summierung unmerkbar kleiner quantitativer Differenzen allmählich zu qualitativen Unterschieden führe.138 Auf diese Weise sei im Laufe der geschichtlichen Entwicklung aus der Strafe als instinktiver, ungezügelter Triebhandlung die durch die Zweckvorstellung bestimmte und gemäßigte Reaktion der Gesellschaft geworden.139 Daher befürwortete der wegen seines soziologischen Standpunktes innerhalb der Straftheorie heftig angefeindete Liszt eine Umgestaltung des geltenden Rechts durch Reformation und nicht durch Revolution.140 Ausgehend von der Beobachtung, daß die Entwicklungsgeschichte der Strafe in den Rechten der verschiedensten Völker gemeinsame Grundzüge zeige141, untersuchte Liszt diese Tendenzen unter Zuhilfenahme der Kriminalstatistik und der rechtsvergleichenden Forschung.142 Liszt war der Auffassung, daß die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Entwicklung nicht zufällig, sondern auf gesetzmäßig wirkende Ursachen zurückzuführen seien. Würden diese einzelnen Kausalbeziehungen allgemeingültig erkannt, gelange man zu dem Begriff eines Gesetzes der gesellschaftlichen und der Rechtsentwicklung im Besonderen.143 Dieser Begriff bildete für Liszt die Synthese der Kausal- und der Wertbetrachtung.144 Insofern ging Liszt nicht nur davon aus, die Betrachtung der Rechtsentwicklung könne wichtige Gesichtspunkte für die Gestaltung des Rechts ergeben, sondern er meinte, auf diese Weise „das Seinsollende“145 erkennen zu können. Die Ansicht RadLiszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), 7. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3, (1883) 6; ders., Lehrbuch des Deutschen Strafrecht, 29. 140 Liszt, Die Zukunft des Strafrechts, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 2; ders., Nach welchen Grundsätzen ist die Revision des Strafgesetzbuchs in Aussicht zu nehmen?, ebd., 394. 141 Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrecht, 27. 142 Dazu Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 14 ff. Frommel verzeichnet einen Wandel im Entwicklungsdenken Liszts und meint, er habe den von Jhering übernommenen teleologischen Entwicklungsgedanken von der geschichtsmetaphysischen Komponente gelöst (182 f.). 143 Liszt, Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 5. Liszt nahm also aufgrund der gleichartigen Rechtsbildungen an, daß ihnen ein gesetzmäßiger Verlauf zugrunde liege. Im Hinblick auf dessen Begründung nimmt er jedoch eine anwendungsbezogene Haltung ein: Es könne dahingestellt bleiben, ob es der soziologischen Betrachtung des Rechts bisher gelungen sei, solche Entwicklungsgesetze aufzudecken, jedenfalls ließen sich mit Hilfe der Rechtsvergleichung typische Entwicklungsstufen aufstellen. Wer aber derartige Gesetze leugne, stelle die Rechtsvergleichung als Wissenschaft in Abrede (ebd., 5). 144 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 93 / 4. 145 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 556. 138 139
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bruchs, daß letzteres „Sache der wissenschaftlich undiskutierbaren Überzeugung“146 sei, hielt Liszt für „die Bankrotterklärung einer ,normativen‘ Wissenschaft“147. „Wenn es wahr wäre, daß es bei legislativen Vorschlägen wirklich nur um eine ,Gefühlssache‘ sich handelt, dann hätte die Rechtswissenschaft als Führerin des Gesetzgebers abgedankt.“148 Sich auf die von Stammler aufgeworfene Frage nach dem „richtigen Recht“ beziehend, suchte Liszt in dem Entwicklungsgedanken ein Mittel, um – anders als jener – material Aufschluß über den konkreten Inhalt des zu gestaltenden Rechts zu erlangen.149 In der empirisch gegebenen Entwicklungsrichtung des gesellschaftlichen Lebens erblickte er das Kennzeichen des „richtigen Rechts“ und die Grundlage eines wissenschaftlichen Systems der Politik.150 In monistischer Tendenz, die sich hier im Gegensatz zu Stammler gerade auf die einheitliche Methode des Bewußtseins bezieht, ging es Liszt darum, den Dualismus zwischen Natur und Geist zu überwinden und eine „einheitliche Auffassung aller Bewußtseinsinhalte“, eine „einheitliche Weltanschauung“ zu etablieren.151 Solange das letzte Ziel der menschlichen Entwicklung verborgen bleibe, könne die teleologische Betrachtung nicht anders als im Rahmen kausaler Erkenntnis zum Ausdruck kommen.152 In dem Begriff der Entwicklung liege jedoch die höhere 146 Radbruch, Über die Methode der Rechtsvergleichung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 2 (1905 / 06), 423. 147 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 92. 148 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 96. 149 „Formaler Maßstab des richtigen Rechts ist seine Zweckmäßigkeit; die Bestimmung seines Inhalts wird gegeben durch den vorgesetzten Zweck.“ Die Rechtsordnung sei für den Bestand des Staates als der höchsten Form des menschlichen Zusammenlebens notwendig, und die Strafe habe den Zweck, die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten (Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 555). Ob nun Vergeltungs- oder Schutzstrafe „richtig“ seien, lasse sich nur anhand des formalen Maßstabs der Zweckmäßigkeit klären und ergebe daher zu verschiedenen Zeiten verschieden Antworten. Die Frage der Richtigkeit decke sich mit der Frage, welcher von beiden geschichtlichen Erscheinungsformen die nächste Zukunft gehöre (557). 150 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 95. Kritisch im Hinblick auf die tatsächliche argumentative Verwertung des Entwicklungsbegriffs durch Liszt: Kantorowicz, Probleme der Strafrechtsvergleichung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 4 (1907 / 08), 93 ff. 151 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 91. 152 Liszt, Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 4. Gegenüber Versuchen, die Strafe metaphysisch zu begründen, betonte Liszt seine empirische Vorgehensweise; die zwingt ihn allerdings nicht dazu, metaphysische Begründungen auszuschließen, er hielt sie lediglich für wissenschaftlich unbegründbar. „Sie gestattet – und darauf lege ich großes Gewicht – jede metaphysische Grundlegung der Strafe und verwehrt zugleich – darauf lege ich nicht minder Gewicht – jeder metaphysischen Spekulation den Einfluß auf die empirische Gestaltung der Strafe.“ (Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht. ZStW 3 (1883), 7) Liszt würde seine Theorie als „evolutionistisch“ bezeichnen, „wenn nicht dieser Ausdruck für eine wesentlich verschiedene, weil den absoluten Urgrund der Dinge leugnende Weltauffassung verwendet zu werden pflegte.“ (ebd., 7) „Die naturwissenschaftliche Deszendenztheorie hat das Welträtsel nicht
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Einheit zwischen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, durch ihn werde die Kluft zwischen kausaler und wertender Betrachtung vermittelt, weshalb Liszt ihm „erkenntnistheoretische Bedeutung“ zusprach.153 Der Begriff der Entwicklung beinhaltete nach seiner Vorstellung nämlich beide Momente: Zum einen die kausale Betrachtung, nach der auf eine Entwicklungsstufe notwendig eine andere folge; zu dieser komme die teleologische hinzu, der zufolge die spätere auch immer eine höhere sei.154 Liszt ging von der „Hypothese von der immanenten Zweckmäßigkeit alles kausalen Geschehens“155 aus und bezog sich dabei auf die Selektionstheorie Darwins, die auch für die Rechtsinstitute gelte: „Gut ist, was im Kampf ums Dasein seine Lebenskraft bewährt“.156 Auf diese Weise sei die kausale Reihenfolge zugleich ein Aufstieg zum Zweckmäßigen.157 Darüber hinaus stützte er diese Annahme mit einem Hinweis auf den evigelöst, nicht lösen können und wollen. Man stelle den Arterhaltungstrieb in den Dienst einer höheren Macht, einer Idee, einer göttlichen Weltordnung, und die Brücken von unsrer Ansicht zur Metaphysik sind geschlagen für jeden, der die ,Reise ins Reich der Dinge an sich‘ nicht scheut. Die Wissenschaft des Strafrechts aber würde als solche sich preisgeben, wenn sie daran dächte, ihm zu folgen.“ (ebd., 11) Daher müsse die Metaphysik aus der nach Erkenntnis strebenden Wissenschaft verwiesen werden, nicht aber aus der nach Anschauung ringenden Weltbetrachtung (ebd., 9). 153 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 93, 94. Der Begriff der Entwicklung bilde die Synthese des Seienden und des Seinsollenden, das als Keim schon in jenem angelegt sei (ebd., 93). 154 Liszt wendet sich gegen den Vorwurf, „. . . daß, wer von Entwicklung im Sinne eines Fortschreitens spreche, damit die deskriptive Grundlage verlasse und ein normatives Element unberechtigt einführe. Bei diesem ,Einwand‘ ist nur eine Kleinigkeit übersehen, daß die erkenntnistheoretische Bedeutung des Entwicklungsbegriffs gerade darin liegt, die Synthese der kausalen und der Wertbetrachtung darzustellen. Man mag die Berechtigung des Begriffs angreifen und behaupten, daß der vielzellige, mit differenzierten Organen arbeitende Organismus nicht ,vollkommener‘ sei als die einfache Zelle, aus der er sich ,entwickelt‘ hat . . .“ (Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 94). 155 Liszt, Bedingte Verurteilung und bedingte Begnadigung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allg. Teil III, 90 f. 156 Liszt, Bedingte Verurteilung und bedingte Begnadigung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allg. Teil III, 90. Dies bezeichnete Liszt kurioserweise mit dem von Jellinek geprägten Begriff der „normative(n) Kraft des Faktischen“ (ebd., 91). Dem Kampf ums Dasein entsprechend vollziehe sich die Klärung der verschiedenen Rechtsideen bei den verschiedenen Rechtsordnungen der Völker (ebd., 90). Vor diesem Hintergrund scheint es problematisch, wenn Frommel eine Bezugnahme Liszts auf biologische Entwicklungstheorien ablehnt. Frommel meint, Liszts Entwicklungsmodell stamme von Jhering. Eine Beschäftigung mit Darwins Schriften und deren Diskussion könne für Liszt weitgehend ausgeschlossen werden (Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 179). Allerdings hat auf Liszt offensichtlich die zu Gemeingut gewordene Theorie Darwins gewirkt. Im Hinblick auf die monistische Sichtweise Liszts und die Verbindung von kausaler und teleologischer Betrachtung ergibt sich aber zudem eine Parallele zu Haeckel (vgl. auch Wassermann, Zur Genealogie des Entwicklungsbegriffs der Sozial- und Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 370). 157 Liszt behauptet, der spätere Entwicklungstypus sei der höhere (Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 557). Da die Entwicklung bei verschiedenen Völ7 Stier
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denten empirischen Verlauf: Es sei nicht zu leugnen, daß der Verfassungsstaat eine höhere Entwicklungsstufe als der nomadisierende Hirtenstaat darstelle.158 Trotz Perioden des Rückschritts und der Stagnation könne daher mit Blick auf das Gesamtbild von einem Fortschritt gesprochen werden, der insgesamt „vollkommenere und differenziertere, lebenskräftigere Gesellschaften geschaffen“159 habe. Wenn also auch das endgültige Ziel dieses Prozesses uneinsehbar sei, gewähre die kausale Verknüpfung zwischen den Zuständen der Gegenwart und der Vergangenheit dennoch die Möglichkeit, die Umgestaltungen der nächsten Zukunft einzusehen.160 „Indem wir das Seiende als ein geschichtlich Gewordenes betrachten und darnach das Werdende bestimmen, erkennen wir das Seinsollende. Werdendes und Seinsollendes sind insofern identische Begriffe.“161 Der naturalistische Fehlschluß wird hier durch eine überraschend aufgeschlossene Haltung gegenüber der universellen Gültigkeit des naturwissenschaftlichen Selektionsprinzips ermöglicht. Als Konsequenz dieses vom Kausalgedanken dominierten Entwicklungsverständnisses ergibt sich die weitgehende Unbeeinflußbarkeit seines Verlaufs durch menschliches Handeln.162 Liszt scheint daher eher der Auffassung zuzuneigen, Recht werde gefunden und nicht gemacht, da das Recht sich als Ausdruck einer der tatsächlichen Entwicklung immanenten Struktur erweist. Allerdings eröffnet nach Liszt die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der sozialen Vorgänge wie im technischen Bereich die Kenntnis der Naturgesetze auch erst deren Gestaltungsmöglichkeit, wodurch zwar nicht die Entwicklung umgekehrt, sie aber doch in sichere Bahnen gelenkt werden könne.163 kern nicht mit derselben Geschwindigkeit vor sich gehe, werde den langsameren durch die fortgeschrittenen Stadien das Ziel gewiesen (ders., Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 5 f.). 158 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 94 f. 159 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 95. 160 Liszt, Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 4. 161 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 556. Liszt verwahrte sich jedoch vehement gegen den Vorwurf, mit seinem Entwicklungsbegriff sei die Legitimierung der tatsächlichen Verhältnisse verbunden; mit dem Satz, daß Seinsollende werde aus dem Seienden erkannt, sei nicht gemeint, daß alles, was geschehe, richtig sei (Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung II, ZStW 27 (1907), 95). Die wissenschaftlich erkannte Entwicklungsrichtung kann also demnach durchaus der staatlichen Rechtsgestaltung entgegenstehen. 162 Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 556; ders., Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 4. 163 Liszt, Tötung und Lebensgefährdung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Bes. Teil V, 4. ders., Die Zukunft des Strafrechts, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 8. Dessen tatsächliches Vorhandensein läßt Liszt allerdings dahingestellt sein: „Gerade weil diese Verhältnisse (scil. die gesellschaftlichen) durch Gesetze bestimmt sind, glauben wir(,) auf sie einwirken zu können. So wie wir dem Fluß sein Bett weisen und die Dampfkraft unseren Zwecken dienstbar machen, so glauben wir – viel-
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Während Merkel den Fortschrittsgedanken lediglich als Postulat der sozialen Entwicklung einführte, meinte Liszt in Rücksicht auf den Selektionsgedanken, der für ihn Anlaß war, von einer immanenten Zweckmäßigkeit alles kausalen Geschehens auszugehen, von einem notwendig fortschrittlichen Verlauf in der Geschichte ausgehen zu können. Die unbewiesen vorausgesetzte Vorstellung, unter den sozialen Ereignissen ließen sich verallgemeinerbare Kausalverknüpfungen erkennen, führte Liszt zu der Annahme von Entwicklungsgesetzen, deren theoretische Begründung er allerdings schuldig blieb. Er nahm insofern eine ausgesprochen pragmatische Haltung ein, denn die Behauptung, daß aufgrund gleichartiger Rechtsbildungen ein gesetzmäßiger Verlauf angenommen werden müsse, diente ihm als Basis zu der Formulierung von Entwicklungstendenzen und Entwicklungsstufen in typischer Reihenfolge. Die so gewonnnen Ergebnisse, denen er aufgrund der synthetischen Funktion des Entwicklungsbegriffs Sollenscharakter beimaß, wollte Liszt zur Grundlage der gesetzgeberischen Tätigkeit machen.164
2. Idealistische Theorien – Sinndeutung auf empirischer Grundlage Eine andere Interpretation erhielten die im Rahmen der Rechtsvergleichung gewonnenen Tatsachen bei Kohler und Berolzheimer mit einer idealistischen Weltdeutung. Für die Entwicklungsbetrachtung geht es hier um die Erkenntnis sich im historischen Verlauf entfaltender Kulturauffassungen und Ideen, die nicht bloß Abstraktionen der empirischen Realität darstellen sollen, sondern in Beziehung zu einer höheren Wirklichkeit stehen. Grundlage dieser Auffassung ist die irrationalistische Annahme, der Mensch habe die Fähigkeit zu einer die empirische Betrachtung übersteigenden tieferen Welterkenntnis. Auch wenn Kohlers und Berolzheimers Gedankengänge auf den ersten Blick aufgrund ihrer metaphysischen Annahmen hinter den Rationalitätsanforderungen leicht täuschen wir uns aber wir glauben es –, daß wir die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen können . . .“ (ebd., 8). 164 Hier zeigt sich allerdings ein Spannungsverhältnis zwischen der wissenschaftlich festgestellten Entwicklungstendenz und den allgemeinen Rechtsüberzeugungen: „Sollte in den Ländern, die mit uns auf derselben Kulturstufe stehen, der alte Vergeltungsgedanke seine Wiedergeburt feiern, sollte das Rechtsbewußtsein anderer Völker noch Sühne für Missetat verlangen und die dem Erstlingsverbrecher gewährte Verzeihung als eine unfaßbare Versündigung an den ethischen Grundgedanken alles Rechtes empfinden: dann werden wir Gegner der Vergeltungsstrafe im Deutschen Reiche uns bescheiden müssen, weiter zu warten, bis unsere Zeit gekommen sein wird – wenn sie überhaupt kommt. Läßt sich aber nachweisen, daß der mosaische Talionsgedanke auch in seinen christlich abgeblaßten Formen im Scheiden begriffen ist, daß die Gedanken der Besserung des Schwachen und der Sicherung der Gesellschaft überall gegen die Idee der Sühne in siegreichem Vordringen sich befinden, daß das Staatswohl immer bestimmter über die Freiheit des Verbrechers gestellt wird, dann ist auch für das Deutsche Reich die Berechtigung unserer Forderungen außer Zweifel gestellt.“ (Liszt, Zur Vorbereitung des Strafgesetzentwurfs, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 425 f., Hervorhebung nur hier). 7*
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an eine philosophische Theorie zurückzubleiben scheinen, darf die von ihnen angestrebte idealistische Begründung selbst, mit der der erfahrungswissenschaftliche Bereich transzendiert werden sollte, keineswegs als anachronistisch eingestuft werden. Sie entsprach vielmehr einer nicht unbeachtlichen zeitgenössischen Strömung, wenn sie auch klar im ausgehenden 19. Jahrhundert verwurzelt ist. Als Beispiel165 sei hier nur der zu seiner Zeit populäre Philosoph Friedrich Paulsen (1846 – 1908) genannt, der die Auffassung vertrat, man müsse über den von Kant gesteckten Rahmen hinausgehen in Richtung eines „objektiven Idealismus“166. Paulsen versuchte das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Naturerklärung und Philosophie zu vermitteln. Er ging zwar von den Erkenntnissen Kants aus und bekräftigte, daß der Metaphysik als reiner Vernunftwissenschaft durch ihn ein Ende gesetzt sei. Es bestehe jedoch nach wie vor „das subjektive Bedürfnis nach philosophischer Spekulation“167, das nicht an den Grenzen der Wissenschaft stehen bleibe, sondern bestrebt sei, das Ganze und den Zusammenhang der Dinge zu erfassen.168 Daher neigte er einer pantheistischen Auffassung zu, in der er einen Abschluß menschlicher Gedanken sah, der durch die Tatsachen nahe gelegt werde, und behauptete: „Alles muß physisch zugehen und erklärt werden; und: Alles muß metaphysisch betrachtet und gedeutet werden.“169 165 Die idealistische Richtung war nie ganz ohne Vertreter geblieben, hingewiesen sei hier nur auf die speziell rechtsphilosophischen Beiträge Adolf Lassons, der mit seinem „System der Rechtsphilosophie“ (1882) die Hegelsche Linie fortgeführt hatte, aber auch der in andere Richtung gehende Ansatz Rudolf Euckens (Geistige Strömungen der Gegenwart, 78 f., 101 ff.), der davon ausgegangen war, daß die Welt der Erfahrung nicht die einzige Wirklichkeit sei, sondern daß es eine geistige Welt gebe, die sich in der Intuition offenbare (zu beiden Ueberweg-Oesterreich, Grundriss der Geschichte der Philosophie IV, 560 ff.; 562). Charakteristisch hierfür der geschichtsphilosophische Beitrag Grotenfelts, Geschichtliche Wertmassstäbe, 187 ff. 166 Paulsen, Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, in: Kultur der Gegenwart, Teil I Abt VI (Hg. Hinneberg), 396. Zu Paulsen: Ueberweg-Oesterreich, Grundriss der Geschichte der Philosophie IV, 362 ff.; Ziegenfuss / Jung, Philosophenlexikon II, 255 ff. 167 Paulsen, Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, in: Kultur der Gegenwart, Teil I Abt VI (Hg. Hinneberg), 391. Ähnlich auch Wundt, der von einem „spekulativen Trieb“ sprach (Wundt, Metaphysik, in: ebd., 106). 168 Paulsen sah in der „Welt der inneren Erfahrung“ den sicheren Ort wahrer Erkenntnis und setzte sich insofern über Kants Skeptizismus hinweg (zu Paulsens Arbeiten über Kant, insbesondere zu dem Versuch, Kants Erkenntnistheorie durch eine biologisch-entwicklungsgeschichtliche Betrachtung des Seelenlebens zu ergänzen, vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 369 ff.). „Der letzte Gedanke, auf den wir, den Spuren der Tatsachen nachgehend, geführt werden, ist der: die Wirklichkeit, die in der Körperwelt unseren Sinnen sich als einheitliches Bewegungssystem darstellt, ist Erscheinung eines geistigen AllLebens, das als Verwirklichung eines einheitlichen Sinnes, als Betätigung eines Ideen verwirklichenden Willens zu deuten ist, von welchem Willen uns in dem eigenen, vernünftigen, von Ideen angezogenen Willen eine Spur wenigstens gegeben ist.“ (Paulsen, Einleitung in die Philosophie, VII). 169 Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 181. Der idealistische Pantheismus stelle die Grundform des philosophischen Denkens des Abendlandes dar (vgl. auch ders., Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, 408). Dabei wurde von ihm Hegels Vorstellung der sich mit
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a) Die „Modernisierung der Hegelschen Philosophie“170 Auch Kohler und Berolzheimer wählten im Rahmen ihres kulturphilosophischen Ansatzes die idealistische Weltbetrachtung als Deutungsgrundlage der historischen Entwicklung. Berolzheimer wird in der Rechtsphilosophie vor allem mit der Strömung des „Neuhegelianismus“ in Verbindung gebracht; er selbst hat diesen Begriff für die von ihm und Kohler vertretene philosophische Richtung geprägt.171 Die idealistische Weltsicht und der Entwicklungsgedanke waren für Berolzheimer Grund genug, sich in diesem Sinn als Neuhegelianer zu bezeichnen172, eine Haltung, die er zunächst als „Neuidealismus“ oder „Neuplatonismus“ charakterisiert hatte.173 In Opposition zu dem spekulativen Idealismus des 19. Jahrhunderts einerseits und der rein historischen Forschung sowie dem ökonomischen Materialismus andererseits wollte Berolzheimer einen „Realidealismus“174 wiederbeleben. Wie bereits erwähnt, war Berolzheimer der Auffassung, man dürfe es nicht bei einer rein beschreibenden und vergleichenden Untersuchung der historischen und ethnologischen Tatsachen bewenden lassen. Die Aufgabe der Rechtsphilosophie liege vielmehr darin, das Material im Hinblick auf die sich in der Entwicklung zeigenden Ideen zu betrachten und wertend Entwicklungstendenzen aufzuzeigen.175 innerer logischer Notwendigkeit vollziehenden Selbstentfaltung der Idee – in entsprechender Argumentation, wie sie auch bei Kohler und Berolzheimer vorhanden ist – als „schematisierende Anordnung“ abgelehnt (ders., Einleitung in die Philosophie, 335). An die Stelle der logisch-dialektischen Auffassung sei die empirisch-spekulative getreten (ders., Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, 401). 170 Berolzheimer, System II, 443. Zum Neuhegelianismus Kohlers und Berolzheimers: Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 9 f.; Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie, 58 ff.; Pound, The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, HLR XXIV (1911) 614 ff., XXV (1912) 154 ff.; Ueberweg-Oesterreich, Grundriss der Geschichte der Philosophie IV, 562 f.; zur weiteren Entwicklung bei Binder und Larenz im Nationalsozialismus vgl. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 271 ff.; Rottleuthner, Die Substantialisierung des Formalrechts, in: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels (Hg. Negt), 211 ff. 171 Berolzheimer, Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1005; ders., Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 508; ders., System I, 133. Ebenso Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 507 Fn. 1) und ders., Berolzheimer und der Neuhegelianismus, Jurist. Literaturblatt 1909, 104. 172 „Damit sind wir bei Hegel angelangt, der das Recht in seinem Entwicklungscharakter erfasste und die Geschichte als die Entfaltung von Ideen erkannte.“ (Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 508). 173 Berolzheimer, System I, 187 f., 320. 174 Berolzheimer, System II, 28; „realidealistische Erkenntnisphilosophie“ (ders., System I, 320). 175 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 199; ders., Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 524. Den Entwicklungsgedanken hervorgehoben zu haben, sei bereits ein Verdienst der Historischen Schule gewesen. Allerdings wandte sich Berolzheimer mit einem für seine Zeit typischen Vorwurf gegen sie, denn trotz dieser Feststellung werde die Rechtswissenschaft von der Philologie beherrscht (ders., Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 508).
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Die Anknüpfung an Hegel geschieht jedoch unter einer erheblichen Modifikation. Als letzter großer Vertreter einer idealistischen Philosophie war Hegel davon ausgegangen, daß die Geschichte von der Vernunft und dem Fortschreiten des Weltgeistes beherrscht sei, der im Stufengang der Weltgeschichte seiner selbst bewußt und damit frei werde. Hegel hatte sich dabei auf den Gedanken der Dialektik gestützt und die verschiedenen Stufen der Weltentwicklung als begriffliche Entfaltung aus dem System der reinen Vernunft entwickelt.176 Diesem Vorgehen widersprach Berolzheimer. Durch die Darstellung des Weltentwicklungsprozesses als eines logischen und nicht eines objektiven Vorgangs würden Recht und Staat „zur bloßen Emanation des selbsttätigen Begriffs in seiner dialektischen Selbstbewegung“177 entwertet. Eine solche nicht auf Erfahrung basierende Bestimmung war für Berolzheimer jedoch unhaltbar. Getreu dem wissenschaftlichen Ideal seiner Zeit, hielt er die Deutung des Rechts aus reiner Vernunft für unmöglich, er ging vielmehr davon aus, sie könne nur empirisch auf der Grundlage von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung erfolgen.178 Auf der Basis historischer und ethnologischer Tatsachen und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse wollte Berolzheimer das Recht der Rechtsidee gemäß gestaltet wissen.179 In seinem Bemühen, interdisziplinär zu arbeiten und verschiedene neu aufgekommene wissenschaftliche Strömungen für seine Zwecke brauchbar zu machen, erreichte er unter Einbeziehung soziologischer, rechtsvergleichender, psychologischer und volkswirtschaftlicher Erkenntnisse ein eigentümliches Theoriegemenge, mit dem er einerseits versuchte, den durch die Naturwissenschaften erreichten wissenschaftstheoretischen Standpunkt nicht zu verlassen, andererseits jedoch über ihn hinauszuweisen, ohne in ein von ihm abgelehntes deduktives Verfahren des Naturrechts zu verfallen.180 Auf dieser Grund176 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807) und ders., Wissenschaft der Logik (1812 – 16). Dazu Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes; Taylor, Hegel, 177 ff. 177 Berolzheimer, System II, 247, auch 237 f., 239. Gegen Hegels Dialektik ders., System I, 102 f.; System II, 237 f. Allgemeine Darstellung und Kritik der Philosophie Hegels aus Sicht Berolzheimers in: System I, 98 ff.; System II, 233 ff. 178 Berolzheimer, System III, 105; ders., Die Deutsche Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert, ARWP I (1907 / 08), 134; allgemein zur deutschen Geschichtsschreibung ders., Deutschland von heute, 167 ff. 179 Berolzheimer, System II, 29. Bezeichnend für Berolzheimers eigene Vorstellungen ist, daß er Merkels Ansatz als einen „aus realen Wurzeln neu ersprießenden Idealismus“ deutete (ders., System II, 462) – nichts dergleichen hatte Merkel, wie gesehen, im Sinn. 180 Berolzheimer, System I, Vorrede V. In seinem „System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ hat Berolzheimer viele einflußreiche Strömungen seiner Zeit aufgenommen und versucht, sie in dem gesamten historisch-philosophischen Kontext darzustellen, weshalb M. E. Mayer es auch als „vorzügliches Nachschlagewerk“ bezeichnete (M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, 7 Fn. 3; Kohlers „Lehrbuch der Rechtsphilosophie“ sei demgegenüber der Sache nach keine Rechtsphilosophie und der Form nach kein Lehrbuch, ebd., 7 Fn. 3). Daher wird häufig auf die Gesamtdarstellung des zweiten Bandes seines „Systems“ zurückgegriffen, die eine historische Darstellung der philosophischen Hauptströmungen umfaßt. Die Darstellung der Philosophiegeschichte hat auch theoretische Gründe, denn die Brauch-
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lage unternahm er den Versuch, gegenüber der Dominanz empiristischen und materiell-ökonomischen Denkens die Berechtigung der Rechtsidee zu bekräftigen, die dazu an Dynamik und Lebensnähe gewinnen mußte. Dabei ging Berolzheimer nicht nur davon aus, daß die grundlegenden Prinzipien einer Rechtsordnung je nach dem Entwicklungsstand der Kultur wechselten, er hielt auch das methodische Vorgehen selbst für geschichtlich bedingt. Insofern ergibt sich in der Rezeption eine deutliche Veränderung gegenüber der Theorie Hegels, die sich im besonderen gegen die in der „Phänomenologie des Geistes“ (1807) entwickelte dialektische Methode richtete. „Wir sind Neuhegelianer, indem wir mit Hegel die immanente Rechtsvernunft, die relative Berechtigung jeder Stufe der Rechtsentwicklung erkennen und anerkennen. Wir sind Neuhegelianer, soweit wir die empirische Forschungsmethode der neuen Zeit in uns aufgenommen haben.“181 Die „neuidealistische empirische Philosophie“ sehe die relative Vernünftigkeit der Geschichte nun aber nicht mehr durch die abstrakte Vernunft als Emanation des Begriffs erwiesen, sondern durch die reale Kultur, also einem empirischer Betrachtung zugänglichen Komplex. Die Veränderung zu diesem, wie Berolzheimer meinte, „völkerpsychologischen Begriff“ beanspruche der moderne Psychologismus.182 Die Rechtsgestaltung sei also vernünftig, nicht insofern sie der jeweiligen Entwicklungsstufe der Vernunft, verstanden als rein logischem Prozeß, entspreche, sondern sofern sie mit dem Bewußtsein einer bestimmten Periode übereinstimme.183 Der Kritik an der Hegelschen Dialektik schloß sich auch Kohler an. Er sah Hegels Theorie durch Berolzheimer dahin gehend berichtigt, „daß er (scil. Berolzheimer) die Entwicklung nicht in die Kategorie der Denkfunktionen einzwängt, sondern anerkennt, daß die Entwicklung in der Empirie unendlich viele Bahnen einschlägt, um das Ziel zu erreichen, ebenso wie die organische Entwicklung des Pflanzenlebens sich in unendlich verschiedenen Einzelformen vollzieht. Die notwendige Ergänzung des metaphysischen Entwicklungsgedankens ist daher nicht die Dialektik, sondern das Studium der Außenwelt mit ihrer unendlichen Fülle und ihrem unerschöpflichen Reichtum, vor allem das Studium der Menschheit in den verschiedensten Phasen ihres Denkens und in den mannigfachsten Formen ihres Wirkens.“184 Die Kategorien des Denkens ließen sich nicht auf die Art der Weltentwicklung übertragen, deren Gesetze könnten nur durch umfassende Einsicht in barkeit philosophischer Theorien erweist sich für Berolzheimer geschichtlich; der Eklektizismus hat Methode. 181 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 31. 182 Berolzheimer, Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), 1005. 183 Berolzheimer, System II, 236 f. 184 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 14; vgl. auch ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 13 f. Zur Vernachlässigung der Dialektik vgl. Schild, Ambivalenz einer Neo-Philosophie, ARSP-Beiheft 43 (1991), 59 ff.
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die menschliche Kultur erfaßt werden. „So wird die Hegelsche Vernunft zur menschlichen Kultur, und statt der dialektischen Bewegung haben wir die Kulturgeschichte in dem Sinne, daß ein Vielfaches, Mannigfaches geschieht, daß aber hinter allem Geschehen ein zeit- und raumloses Ganzes steht . . .“185 Wie sehr eine solche Interpretation, für die Kohler selbst den Begriff der „Realdialektik des Werdens“186 verwandt hat, der Hegelschen Theorie zuwiderläuft, hat eingehend Schild deutlich gemacht.187 Berolzheimer und Kohler wollten das Recht nicht als abstraktes Vernunftprodukt begriffen wissen, sondern es als objektivierte Erscheinungsform der kulturschaffenden Tätigkeit des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung erfassen. Das Recht war nach ihrer Auffassung in seiner wesentlichen Struktur ein Produkt der Kultur und darüber hinaus ein Mittel zu ihrer Beförderung.188 Im Grunde wird hier Hegels Diktum von der Vernünftigkeit der Wirklichkeit aus der Vorrede der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820), nachdem es vom anstößig erscheinenden dialektisch-schematisierenden Element befreit worden ist, in modernisierter empirischer Aufmachung präsentiert und bedeutet dann nicht mehr, als daß die Kultur einer bestimmten Periode bestimmend ist für die Gestaltung des Rechts und die grundlegenden Rechtsprinzipien. Die Werthaftigkeit der Wirklichkeit beruht dabei nicht auf der Selbstentfaltung der Vernunft im Verlauf der Geschichte, sondern auf einer pantheistischen Weltauffassung. Entsprechend gingen Kohler und Berolzheimer aufgrund des Entwicklungscharakters des Rechts davon aus, daß die der jeweiligen Kulturanschauung entsprechende Rechtsgestaltung richtig sei. Darin, daß sie in Übereinstimmung mit dem modernen Wissenschaftsverständnis die empirische Forschung zu ihrer Grundlage machten und den engen Zusammenhang zwischen Recht und Kultur hervorhoben, sahen Kohler und Berolzheimer freilich einen entscheidenden Fortschritt gegenüber dem vernunftrechtlichen Denken; die Gedanken Hegels werden dabei eher illustrierend verwandt. Schon Roscoe Pound, der zu den Gründungsmitgliedern der IVR zählte, registrierte, daß Kohler zwar bekunde, Hegel zu folgen, „but in reality, perhaps, merely taking his clew from a remark of Hegel’s that right and law are phenomena
185 Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 9. Auch das methodische Vorgehen historisierend, meinte Kohler: Der Mißgriff Hegels „war seinerzeit unvermeidlich, da man damals noch nicht die nötige Kulturerkenntnis hatte, um die Kulturentwicklung und ihre Kräfte zu erfassen, und um zu erforschen, in welcher Weise sich empirisch die Kulturentwicklung gestaltet.“ (ebd., 9). 186 Kohler, Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, S. VIII. 187 Schild, Die Ambivalenz einer Neo-Philosophie, in: Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie, ARSP-Beiheft 43 (1991), 46 ff. Teilweise kritisch auch Adolf Lasson, Josef Kohlers Lehrbuch der Rechtsphilosophie, ARWP II (1908 / 09), 318 ff. Grundsätzlich zu den Problemen der juristischen Rezeption Hegels: Schild, Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz. Bemerkungen zu den Schwierigkeiten der Juristen mit Hegels Rechtsphilosophie, ARSP-Beiheft 44 (1991), 328 ff. 188 Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VIII (1913 / 14), 510; ders., Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 31; Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 3.
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of culture. . .“189 Er gab dem Neuhegelianismus folglich eine soziologische Deutung und beschrieb ihn als „historical and sociological in tendency“190. Ebenso muß gleich zu Beginn dem Eindruck entgegengetreten werden, es gehe in den Theorien Berolzheimers und Kohlers im Kern lediglich um die Rezeption Hegels. Geradeso wie Berolzheimer sich auf zahlreiche moderne wissenschaftliche und philosophische Trends stützte, vereinigen sich in Kohlers Weltbild unterschiedliche Strömungen, und das Ergebnis ist erwartungsgemäß keine stringent begründete Theorie; die Rezeption bezieht sich vorwiegend auf die „brauchbaren“ Elemente, Schlagworte und Bilder verschiedener Theorien, die Kohlers ursprünglich ethnologisch fundierte Vorstellungen von der universalen Weltentwicklung zu stützen vermochten. So finden sich der Aspekt der „Entwicklung“ und „Bewegung“ des Hegelschen Weltgeistes, der bei Kohler, ähnlich dem „elan vital“ Bergsons191, Ausdruck einer irrationalen Anschauung von in der geschichtlichen Entwicklung wirksamem überempirischem Potential ist. Die Hervorhebung überindividueller Konstellationen, in deren Dienst die menschlichen Geschicke stehen, eine Mischung aus „List der Vernunft“ und „amor fati“; die Notwendigkeit des entbehrungsreichen Aufwärtsstrebens und die elitäre Haltung gegenüber den kulturschaffenden Lichtgestalten und der dumpfen Masse ergeben ein Konglomerat von Nietzscheanischer Machtmetaphysik192 und Rudimenten des Hegelschen Entwicklungsdenkens. Weltanschauung und subjektives Bekenntnis ersetzen wissenschaftliche Begründungen und verleihen den Ausführungen vielerorts den Charakter emphatischer Stellungnahmen. Dennoch ist es aufschlußreich, sich im vorliegenden Zusammenhang Kohlers und Berolzheimers Theorien zu vergegenwärtigen, obwohl deren methodischer Begründungsweg und ihr Ergebnis den Zugang zu ihren Ausführungen versperren.193 Denn hier werden – vor dem Hintergrund 189 Pound, The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, HLR XXIV (1911), 616, weiter HLR XXV (1912), 154 ff. 190 Pound, ebd., 618. 191 Neben dem Entwicklungsdenken hob Kohler bei Bergson die Betonung der Fähigkeit zu instinktivem Erfassen hervor; allerdings handele es sich dabei um keine neuartigen Erkenntnisse (Kohler, Bergson und die Rechtsphilosophie, ARWP VII (1913 / 14), 56 ff.). 192 „Das Hauptverdienst Nietzsches ist die Kennzeichnung der geschichtlichen Entwicklung und der in ihr waltenden Menschenseele in der Art, daß die Persönlichkeit durchaus nicht in ihrer einzelpersönlichen Wertschätzung betrachtet werden darf, sondern nur in dem, was ihr Wirken für die Geschichte bedeutet.“ (Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 10; ebenso ders., Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, 41) Vgl. auch Kohler, Nietzsche und die Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 355 ff. Kohler scheint im Hinblick auf die Übereinstimmungen seines Denkens mit Nietzsches Philosophie seinen originären Ansatz hervorheben und nahelegen zu wollen, daß die Gedankengänge unabhängig voneinander entstanden seien. Eingehende Nachweise zur Rezeption Nietzsches bei Gängel / Schaumburg, Josef Kohler, ARSP LXXV (1989), 302 f. 193 Hinzu kommt im Falle Kohlers eine grenzenlose Selbstüberzeugung und ein anmaßender Habitus in der wissenschaftlichen Diskussion, der ihn auch vor Verunglimpfungen anderer Kollegen und Autoren nicht haltmachen läßt wie u. a. gegenüber Ahrens, Krause, Röder, Jhering und Merkel, denen er nichts weniger als „Plattheiten“, „Verseichtung“ „dürftige
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eines idealistischen Weltbildes und besonderen Entwicklungsverständnisses – ganz offen die alles überragenden gegenwärtigen Kulturinteressen zum Maßstab der Rechtsgestaltung erhoben, denen gegenüber es keine höhere Instanz mehr gibt. Damit wird ein Begründungsmuster verfolgt, das in dem Bestreben, universalistische, abstrakte Rechtsprinzipien durch erfahrbare, kontextnahe Maßstäbe zu ersetzen, erhebliche Gefahren für den individuellen Gebrauch der Freiheit beinhaltet.194 b) „Realidealismus“ (Berolzheimer) aa) Die erkenntniskritische Betrachtung des Rechts Die auf Hegel gestützte Überzeugung, Recht und Staat seien Kulturerscheinungen, und die wissenschaftliche „Modernisierung“ dieser Auffassung ermöglichten es Berolzheimer, den Zusammenhang zunächst auf empirischer Ebene zu analysieren. Nach seiner Überzeugung konnte die Rechtfertigung von Recht und Staat nicht abermals rechtlich abgeleitet werden. Deren Existenzberechtigung liege vielmehr in ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit, und da Berolzheimer in seiner Zeit eine Bejahung der Kultur überhaupt sah, müßten Recht und Staat als notwendige Teilerscheinungen notwendig gutgeheißen werden.195 „Die Menschheit tritt uns in der Geschichte als Kulturmenschheit oder im Werdeprozesse zur Kulturentfaltung entgegen.“196 Aus diesem entwicklungsgeschichtlichen Datum leitete Berolzheimer die Notwendigkeit staatlicher Ordnung her, die die körperliche und geistige Existenz des Menschen garantiere. Die Kultursteigerung interpretierte er, indem er auf die anthropologische Vorstellung der Degeneration natürlicher menschlicher Instinkte zurückgriff. Diese Vorwegnahme von Arnold Gehlens These vom „Menschen als Mängelwesen“197 führte Berolzheimer zu der in seinem universellen „geschichtsphilosophischen Grundgesetz“198 zum Ausdruck kommenden Ansicht, ein solcher Verlust werde durch die Entwicklung des Menschen zum KulturmenErzeugnisse“ und „Gedankenarmut“ bescheinigt (ders., Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 11 ff., ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 16.). 194 Behrends stellt die Position Kohlers aufgrund der Vernachlässigung des Hegelschen Freiheitsgedankens zugunsten der Verwirklichung unmittelbarer Macht- und Lebensbereiche im Sinne Nietzsches in den Zusammenhang der Entwicklung zum nationalsozialistischen Rechtsdenken (Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken, in: Recht und Justiz im „Dritten Reich“ (Hg. Dreier / Sellert), 53 ff.). 195 Berolzheimer, System III, 26 f., vgl. die Übereinstimmungen mit Jellineks Rechtfertigung des Staates, Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 222. 196 Berolzheimer, System III, 27. 197 Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 20, 33 ff. 198 Berolzheimer, System I, 226 ff. Das „geschichtsphilosophische Grundgesetz“, wonach Fähigkeiten, welche die Naturgeschöpfe besessen hätten als natürliche verlorengingen und durch artifizielle – jedoch in erhöhtem Maße – neu gewonnen würden, offenbare sich in der geschichtlichen Entwicklung dadurch, daß eine stete Rückkehr zu früher verlassenen Standpunkten auf höherer Stufe stattfinde (ebd., 226 ff.).
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schen ausgeglichen. Die Kultur gewähre dem Menschen artifiziellen Ersatz für seine verlorengegangenen oder abgeschwächten natürlichen Kräfte und Instinkte; da sie sich aber nur in geordneten Verhältnissen entfalten könne, bedürfe es der garantierten Ordnung im Staat mittels des Rechts.199 Mit der Vorstellung, das Recht stelle dem Wesen nach eine Kulturerscheinung dar, sollte hervorgehoben werden, daß es nicht von rationalistischen oder utilitaristischen Erwägungen bestimmt werde, sondern aus der Kultur erwachse; es war daher für Berolzheimer Kulturergebnis und nicht Zweckprodukt.200 Recht und Staat stellten für Berolzheimer also Voraussetzungen der Kultur dar und waren gleichzeitig in ihrer Entwicklung in Abhängigkeit zu der jeweiligen Kultur zu sehen.201 Um nun das Wesen des Rechts und seine Bedeutung innerhalb der Entwicklung zu erkennen, sei es die Aufgabe der Rechtsphilosophie, die kulturelle Entwicklung des Rechts darzustellen und zu deuten.202 „Die Rechtsauffassung der Gegenwart ist historisch, empirisch (aus dem positiven Recht schöpfend, rechtsvergleichend), soziologisch. Die heute herrschende Rechtsauffassung bedarf der Ergänzung: die historische Betrachtung durch die erkenntniskritische (hier: geschichtsphilosophische), andernfalls nur ein ewiger Fluß allen Geschehens . . . erblickt, die Tatsache der Rechtsentwicklung erkannt wird, aber nicht ihr inneres Lebensgesetz, ihr philosophischer Inhalt (Kraft und Freiheit) aufgedeckt wird . . .“203 Anders als bei Stammler beinhaltet diese Auffas199 Berolzheimer, System III, 23 ff., insbes. 27 f. Berolzheimer hob unter Hinweis auf die tatsächliche Entwicklung das Ordnungs- und Machtelement des Rechts hervor, obwohl er die Machttheorie allein grundsätzlich ablehnte, weil sie der Bedeutung des Rechts als Kulturelement nicht Rechnung trage (ders., System III, 85, 95, 97). 200 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 199; ebenso ders., System III, 112 f. Staat und Recht haben für Berolzheimer nicht den Zweck, die Existenz des Menschen zu garantieren, aber sie entfalten diese Wirkung. Berolzheimer wollte damit deutlich zum Ausdruck bringen, daß er Staat und Recht nicht teleologisch begründet sah. Sie haben sich nach seiner Vorstellung als Ersatzmittel für verlorengegangene, instinktive Fähigkeiten in dem Entwicklungsprozeß eher notwendig ergeben (ders., System III, 27). Berolzheimer wehrte sich gegen die Vorstellung der von Menschen planvoll hervorgebrachten Institutionen, wie auch Jhering sie vertreten hatte, und der Steuerbarkeit sozialer Prozesse. Die angestrebten Zwecke würden vielfach nicht erreicht, führten zu ganz anderen Ergebnissen als den in Aussicht genommenen oder würden nur unbewußt verfolgt, weshalb die geschichtliche Entwicklung auch nicht planvoll und zweckmäßig verlaufe. Eine treibende Kraft der Entwicklung sah Berolzheimer in der menschlichen Illusion (ders., System II, Vorrede VIII, vgl. auch ders., System III, 55 f., 62). Hier deutet sich mit Berolzheimers ablehnender Haltung gegenüber der Mündigkeit und Politikfähigkeit der großen Menge auch das bereits angesprochene sozial-aristokratische Moment an: Zum einen seien die Motive, die die Masse aus dem politischen Beharrungszustande in Bewegung versetzten, regelmäßig objektiv unwahr, solche Bewegungen erfüllten aber trotzdem damit ihre Kulturmission und leisteten ein Stück Kulturarbeit (ders., System II, Vorrede VII.). Zum anderen sei die große Menge träge, alle Kulturentwicklung erwachse hingegen aristokratisch und bedürfe einiger führender Persönlichkeiten, die die Masse vorantrieben (ders., System III, 99 f.; vgl. auch die noch stärker sozialdarwinistisch geprägte Haltung und die Anlehnung an Nietzsche in ders., Aristo-Plutokratie, 12 ff.). 201 Berolzheimer, System III, 104; ders., Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 196. 202 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 199.
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sung hier keine kritische Reflexion auf die Bedingungen möglicher Erkenntnis. Entsprechend dem empirischen Wissenschaftsideal wurde von Berolzheimer der Anspruch erhoben, die Rechtsphilosophie auf der Basis einer metaphysischen Weltdeutung als theoretische Wissenschaft praktischen Handelns etablieren zu können, nämlich als deutende Beschreibung des historischen Verlaufs praktischer Institutionen. Insofern konnte Berolzheimer sagen: „Die Rechtsphilosophie ist . . . die Erkenntniskritik des (gewordenen und werdenden) positiven Rechts.“204 (1) Das Wesen des Rechts Berolzheimer war daran gelegen, einen inneren Zusammenhang zwischen verschiedenen Rechtsgestaltungen aufzuweisen, indem er sie auf ihren allgemeinen Sinn zurückführen wollte.205 Er fand ihn in dem Begriff der „Kraft“. „Daß das Recht seinem urinnersten Wesen nach (artifizielle) Kraft ist, läßt sich urrechtshistorisch daraus (indirekt) erweisen, daß verschiedene Rechtsinstitutionen der ältesten Zeit als mit der Rechtsgestaltung in Einklang befindlich nur dann erwiesen werden können, wenn man die Wesenheit des Rechts in die Kraft setzt.“206 Die Bedeutung des Rechts und der Sittlichkeit als „artifizieller Kraftpositionen“ ergab sich für Berolzheimer aus der Entwicklungsbetrachtung, denn wie die Kulturentwicklung deutlich zeige, bestehe der Wesenszug der Kultur darin, durch die „Artefacte“ des Rechts, des Staates, der Religion, der Ethik und des gesellschaftlichen Zusammenschlusses die menschliche Kraft zu erhöhen.207 Diese Deutung hängt wiederum ersichtlich mit der von Berolzheimer in Anschlag gebrachten anthropologischen Voraussetzung zusammen, daß der Kulturmensch gegenüber dem Naturmenschen natürliche Triebe und Instinkte verloren hat, die er durch künstlich geschaffene Institutionen ersetzen muß. Der Kraftbegriff beinhaltet jedoch neben dem anthropologisch-biologischen Wesenszug vor allem ein suggestives Element im Sinne einer historisch-kulturellen, wie Berolzheimer es nannte, „Kraftposition“208. Der theoretische Hintergrund dieser Vorstellung bleibt dunkel, Berolzheimer, System III, Vorwort, V. Berolzheimer, System II, 1 f.; ebenso ders., System I, 186, Fn. 3. „Die Rechtswissenschaft beantwortet die (juristische) Frage: Was ist Rechtens? Die Rechtsphilosophie untersucht das (philosophische) Problem: Was ist das Recht? Die Rechtsphilosophie gehört daher zwar der Rechtswissenschaft an, bildet jedoch zugleich eine philosophische Disziplin (und zwar einen Bestandteil der praktischen Philosophie).“ (ders., System II, 2). 205 Berolzheimer, System III, 94. 206 Berolzheimer, System III, 86. Das Vorhandensein von Kraft werde durch ihre Wirkung erschlossen; dies gelte sowohl von der natürlichen als auch der artifiziellen Kraft (ebd., 57). 207 Berolzheimer, System II, Vorrede VII. Der Staat als „rechtsartifizieller Grundkraftquell“ (ders., System III, 23 ff.). „Alle Kultur bedeutet Kraft, Erhöhung menschlicher Kraft durch Schaffung von Kraftpositionen für die Menschheit; die Rechtskultur erhöht die menschliche Kraft durch Bildung und Erhaltung geordneter Herrschaft.“ (ders., System II, 24). 208 Berolzheimer, System III, 28. Ein eminent wichtiger Faktor liegt nach Berolzheimer auch im Vermögen: Es bedeute, „was einer als Rechtssubjekt vermag, ist also eine juristisch203 204
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jedoch trägt der Kraftbegriff Züge einer in weitem Sinne energetischen Konzeption, die über einen physikalischen Zusammenhang hinausgeht.209 Das Recht ist also wesentlich gekennzeichnet durch seine Ordnungsfunktion, es ist „Kulturprodukt“ und erwächst aus den völkerpsychologischen Grundlagen, den religiösen, ästhetischen, ethischen und sittlichen Lebensbedingungen der Menschenkreise210, und es ist „Kulturfaktor“ zugleich.211 „Das Recht ist etwas Unpersönliches, wie etwa eine Maschine. Das Wesen des Rechts ist Kraft. Das Ziel des Rechts ist Ordnung. Die für den Staat wesentliche Ordnung wird durch das Mittel des Rechts geschaffen.“212 Mit der Bestimmung des Rechts als artifizieller Kraft schien Berolzheimer auch die Möglichkeit des Menschen begründet zu sein, in die Entwicklungskette einzugreifen. Gegen Kohler gewandt, hielt er die bloße Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen Recht und Kultur für unzureichend; die Vorstellung, die Menschen würden „getrieben im ewigen Strome der Entwickelung, als willenlose Werkzeuge einer Vernunftidee, an die wir glauben, die wir aber nicht einmal restlos zu deuten vermögen“, verhindere die Möglichkeit praktisch-politischer Aktivität, die durch die Bestimmung des Rechts als artifizieller Kraft gewahrt bleibe.213 (2) Die Idee des Rechts Berolzheimer bemühte sich darüber hinaus insofern um eine „erkenntniskritische Betrachtung“ des Rechts, als er ebenso wie Stammler die Idee des Rechts aufdecken wollte. Allerdings schlug er einen anderen Weg ein und versuchte, obwohl er die dialektische Methode ablehnte, die Ergebnisse der Hegelschen Logik fruchtbar zu machen. Nach seiner Auffassung war die erkenntniskritische Betrachökonomische Kategorie“ (ders., Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 519) und stelle als subjektives Recht eine „rechtswirtschaftliche Kraftposition“ des einzelnen dar, die gleichzeitig der „Kraftstützung des Staates“ diene (ders., System II, 243). 209 Berolzheimer stützte sich zwar auf Leibniz, um das Wesen der Kraft zu klären, löste sich aber von dessen Theorie, um dann frei zu konstruieren (ders., System III, 56 f.). Eine konkrete Übereinstimmung zur juristischen Energetik Ostwalds liegt hierin jedoch nicht. Ostwald war davon ausgegangen, daß sich alle vom Recht erfaßten Dinge unter den umfassenden Begriff der Energie bringen ließen (Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, 1895). 210 Berolzheimer, Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1006. 211 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 199. Vgl. auch ders., System III, 85 ff.; Recht, Sittlichkeit, Religion und Sitte seien „kulturelle Kraftfaktoren“ (ebd., 86). Von diesen unterscheide sich das Recht dadurch, daß es staatliche Ordnungsfunktion sei, der Zwangscharakter sei hingegen nicht wesentliches Attribut des Rechts (ebd. 90 f.). „Das Recht ist daher die durch autonome Herrschaft im Kulturzustande begründete Ordnung.“ (ebd., 90, im Orig. z.T. hervorgehoben). 212 Berolzheimer, System III, 113, vgl. ebd., 114. 213 Berolzheimer, System II, 443.
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tung auf „das Reale im Seienden, auf die Idee“214 bezogen. Die philosophische Untersuchung der Entwicklung des Rechts mußte nach Berolzheimer daher darauf gerichtet sein, in dem geschichtlich Gewordenen die Grundprinzipien des Rechts zu ermitteln. Neben dem bereits angesprochenen begrifflich abstrahierten Entwicklungsprinzip der „Kraft“ sah Berolzheimer in der historischen Entwicklung des Prinzips der Freiheit, des Gleichheitsgrundsatzes und des Entgeltungs- bzw. Äquivalentsprinzips weitere wesentliche Momente der Rechtsentwicklung, die er durch philosophische Deutung des geschichtlichen Verlaufs entdecken zu können glaubte. bb) Die idealistische Weltanschauung Berolzheimers Theorie des Rechts und des Staates war von der Vorstellung geprägt, daß die Geschichte nicht nur eine Reihe zusammenhangloser Ereignisse darstelle: „Die Entwicklungsidee besagt, dass die geschichtlichen Vorgänge nicht ein blosses Nacheinander von Tatsachen bedeuten, dass vielmehr alles Werden nichts anderes ist, als die Entfaltung von Keimen, sodass alle Zukunft in der Vergangenheit bereits in nuce enthalten ist, das Spätere sich mit logischer Notwendigkeit aus dem Früheren herausschält.“215 Alles Seiende sei zugleich der Entwicklungsträger des Kommenden, weshalb der Philosoph der Gegenwart nur gerecht werde, wenn er in ihr die Entwicklungskeime für die nächste Zukunft aufspüre.216 Wenn auch ein naturwissenschaftlicher Einfluß in der gesamten Argumentation nicht zu verkennen ist, ist dieses Entwicklungsdenken doch im wesentlichen idealistisch geprägt.217 Denn Berolzheimer ging davon aus, die sinnlichen Erscheinungen könnten nur Wahrheit beanspruchen, insofern sie mit der Idee übereinstimmten.218 Deshalb gelte es, das Wahre an der Wirklichkeit zu erfassen, denn real sei nur die „absolute Unendlichkeit“.219 In Anlehnung an Hegel behauptete er: „Alles übrige 214 Berolzheimer, System I, 186, Fn. 3. Die Vorstellung von Entwicklung als einem stetigen Wandel spreche nur dem Gedanken der Veränderung Realität zu und dies münde in eine „chaotische Betrachtungsweise“. 215 Berolzheimer, Die Vorfragen zur Deutschen Strafrechtsreform I, ARWP I (1907 / 08), 443. 216 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 34. 217 In einer früheren Schrift (Berolzheimer, Aristo-Plutokratie, 12 ff.) schien Berolzheimer noch ein Anhänger des biologischen Evolutionsdenkens zu sein; er würdigte die Erkenntnisse Lamarcks, Darwins und Haeckels und setzte sich mit Nietzsches Umsetzung dieser Theorien auseinander. Dies hat sich im „System“ gewandelt, in dem er deren erdrückenden Einfluß auf die Geisteswissenschaften zurückwies (vgl. auch die Auseinandersetzung mit Nietzsches Theorie: Berolzheimer, System I, 263 ff.). 218 Berolzheimer, System I, 184 ff. 219 An dieser Stelle sei bereits auf einen wichtigen Unterschied zu Kohlers Denken hingewiesen: Berolzheimer ging es wesentlich darum, durch den Zusammenhang mit dem Ewigen in der Wirklichkeit das Wahre zu erkennen. Wie später deutlich werden wird, verlagerte sich
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ist wahr und real nur als Emanation, als Ausfluß der absoluten Unendlichkeit, als mit ihr in Verbindung stehend. Als Emanation der Unendlichkeit wird aber das Einzelobjekt bezeichnet durch die Idee.“220 Die Möglichkeit, die Wirklichkeit in dieser Weise zu erfassen, sei nur aufgrund der Fähigkeit des Menschen zu ideologischem Denken gegeben, die sich erst im Laufe der Menschheitsentwicklung ergeben habe. Der Kulturmensch unterscheide sich vom Naturmenschen durch das Vermögen ideologischer Weltbetrachtung, und diese Fähigkeit ermögliche ihm die Vernunft.221 Im Gegensatz zu den Begriffen, die logische Vernunftprodukte darstellten, seien die Ideen, wie Berolzheimer, hier eher einem platonischen Ideenverständnis zuneigend, behauptete, intuitiv erschaubare „Urformen des Seins“, welche der menschliche Geist nicht schaffe, sondern nur erfasse und zum Ausdruck bringe222; auf dieses Ideenverständnis läßt sich auch ein immer wieder auftretender irrationalistischer Zug in Berolzheimers Konzeption zurückführen. „Die Idee ist vormenschlich, vorweltlich, ewig und ewig unwandelbar . . .“223 Sie gebe den adäquaten Ausdruck für die unmittelbare Beziehung des Objekts zur Unendlichkeit und die Stellung der Dinge im All.224 Durch bei Kohler das Erkenntnisinteresse dahin, aufgrund der Annahme, daß die Erscheinungen der Erfahrungswelt einen Sinn in der metaphysischen Welt haben, dieses Übersinnliche teilweise erkennen zu können (vgl. zu Kohler: Schild, Ambivalenz einer Neo-Philosophie, 61). 220 Berolzheimer, System I, 187, Fn. 4. 221 Berolzheimer, System I, 184. „Hier ist der tiefe Einschnitt in der organischen Entwicklungsgeschichte, welchem die reine Descendenztheorie ohne Deutungsmöglichkeit gegenübergestellt ist; hier ist die absolute Scheidelinie zwischen Tier und Naturmenschen einerseits, dem mit göttlichen Odem beseelten Kulturmenschen andererseits. . .“ (ebd., 184). „Der Kulturmensch hat die größten Wahlmöglichkeiten in seinem Willensbildungsprozesse: während die niedrigen Tierorganismen beherrscht von dem Instinkte sind, während den höheren Tieren und dem Naturmenschen die Abschwächung der Leistung und Wirksamkeit der Instinkte den Gebrauch des Verstandes abnötigt, muß der Kulturmensch den nahezu völligen Verlust des nur noch rudimentär als Gefühl vorhandenen Instinktes ersetzen durch die Betätigung seiner Vernunft, durch welche sein Handeln (genauer: sein Willensbildungsprozeß) nicht nur durch Vorstellungen, sondern auch durch Ideen beeinflußt wird. . . . der Kulturmensch bedarf für seine Willensbildung einer Idee zur Gewinnung der für sein Handeln maßgebenden Norm: der Ethik.“ (ders., System I, 267). 222 Berolzheimer, System I, 185. Für dieses Verständnis scheint die Bezeichnung „Neuplatonismus“ treffender, die Berolzheimer anfänglich noch verwandte, denn die Idee ist hier der empirischen Welt entgegengesetzt und bedeutet „das Spiegelbild von Unendlichkeiten im menschlichen Geist“, einen „Reflex“ (ders., Rechtsphilosophische Studien, 147 / 8). Aristoteles habe als erster die Idee der Gerechtigkeit klar erschaut und mit dem Gleichheitssatz treffend charakterisiert (ders., System I, 185). Dafür gebe es keine exakte Beweismöglichkeit, die intuitive Betrachtungsweise galt Berolzheimer in diesem Zusammenhang jedoch nicht als unwissenschaftlich (ebd., 257). 223 Berolzheimer, System I, 185. 224 Berolzheimer, System I, 185. Die Idee des Rechts umfasse nicht einen konkreten Rechtssatz. Sie zeige nur das Objekt in seiner Beziehung zur Unendlichkeit, sie erhebe das Endliche über seine individuelle, zufällige, äußere Erscheinung hinaus und offenbare seinen Wesenskern. Alles sinnlich Wahrnehmbare sei eigentlich ein Werdendes, das wahre Seiende dagegen nur die Idee (ebd., 186, Fn. 3).
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die Idee werde auch das Recht „sub specie aeternitatis“ betrachtet.225 Allerdings sei bereits an dieser Stelle angemerkt, daß diese Grundlegung oberflächlich bleibt und Berolzheimer letztlich im Rahmen seiner Ausführungen der Umformung des Ideenbegriffs einem empirischen Verständnis im Sinne der leitenden kulturellen Entwicklungstendenzen einer zeitlichen Periode zuneigte, wie sie schon die nachhegelsche Geschichtsphilosophie vollzogen hatte, was auf die Ersetzung der Dialektik durch die empirische Betrachtung zurückzuführen ist. Gegenüber dem Hegelianischen Anspruch, das Recht in seinem immergleichen Wesen darzustellen, „in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen“226 und die Rechtsidee in der zeitlichen Entfaltung der Wirklichkeit zu begreifen, betonte Berolzheimer die veränderliche Verwirklichung der Rechtsidee innerhalb des geschichtlichen Rechts der jeweiligen Kulturepoche und damit den synchronen Aspekt, „die relative Berechtigung jeder Stufe der Rechtsentwicklung“227. Ihren Ausgang mußte die „erkenntniskritische“ Betrachtung laut Berolzheimer von der Betrachtung der Wirklichkeit nehmen, denn die Ideen seien nicht vor der Erfahrung zugänglich, der ideologischen Erkenntnis gehe vielmehr die empirische Vorstellungswelt voran.228 In der Gesamtheit der Ideen aber offenbare sich den Kulturmenschen das Göttliche.229 Der Glaube an eine Gottheit stelle einen Grundwesenszug der Kulturmenschheit dar.230 Die Verknüpfung der Welt mit Gott sei nicht sinnlich, sondern nur ideologisch wahrnehmbar. Menschliche Erkenntnis bedeute daher zwar Wissen, aber nur relative Wahrheit, weil sie nicht das Unendliche selbst zugänglich mache.231 Berolzheimer, System I, 187. Hegel, Grundlinien der Rechtsphilosophie, Vorrede, 25. 227 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 31; ders., Rechtsphilosophische Studien, 148. 228 Berolzheimer, System I, 189. Das Ewige wird in der Emanation und Realisierung der Idee durch die Einzelerscheinungen und in den Einzelobjekten erblickt (ebd., 187). 229 Berolzheimer, System I, 185. 230 Berolzheimer, System I, 207. Dabei soll es sich nicht um einen personalen Gottesbegriff handeln; die Erfassung Gottes mit dem Personenbegriff sei vielmehr nur die Form der Einheit, in der die Gottheit sich dem menschlichen Verständnis erschließe. Sondern es geht um – wie Berolzheimer sich ausdrückt – einen „idealistischen Monismus oder theistischen Enpantitheismus“ (ebd., 208; ders., Rechtsphilosophische Studien, 157 ff.). Gegenüber dem Pantheismus soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß Gott nicht nur die Summe der Erscheinungen ist, die nur die für uns erkennbare Realisierung des Unendlichen darstellt (ders., Rechtsphilosophische Studien, 167.). „Der ,Beweis‘ für das Dasein Gottes liegt darin begründet, daß wir uns die Welt nicht anders denken, denn als unendliche Zahl relativer Unendlichkeiten (scil. z. B. die Menschen), welche in der all-einen absoluten Unendlichkeit . . . enthalten sind.“ (ders., System I, 208). Ähnlich Paulsen, im Anschluß an Fechner, zur Erkenntnis des All-Einen in: Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, in: Kultur der Gegenwart, Teil I Abt VI (Hg. Hinneberg), 308 f.). 231 Berolzheimer, System I, 319 f. Die Annahme eines ideologischen Erkenntnisvermögens sei unmittelbar verwandt mit der jüdisch-christlichen Religion, denn der Kultur225 226
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cc) Das „Entwicklungsgesetz der Rechtsidee“ – „Relatives Kulturrecht“ anstelle „absoluten Naturrechts“ Diese Wirklichkeitsauffassung und das Verständnis der Geschichte als Entfaltungsprozeß der Idee hat freilich erhebliche Bedeutung für die Formulierung der Rechtsidee. Berolzheimer betonte nachdrücklich, daß die Feststellung des Entwicklungscharakters nicht dazu führen dürfe, nur Veränderung als Realität anzunehmen, und erteilte damit daraus abgeleiteten nihilistischen Grundhaltungen eine Absage. Es lasse sich sehr wohl eine Rechtsidee bestimmen, aber ihr Inhalt konnte nach seiner Auffassung aufgrund der wechselnden Verhältnisse und der unterschiedlichen Kulturstufen nicht auf eine unveränderliche, absolute Formel gebracht werden.232 Statt dessen gelte es, das „Entwicklungsgesetz der Rechtsidee“233 zu finden. Da aufgrund der Unerfaßbarkeit des Unendlichen alles menschliche Wissen nur in Annäherungswissen bestehe, könne es nicht darum gehen, absolute Prinzipien zu etablieren, sondern nur „Richtpunkte der Entwicklungskurve“ zu erkennen, die das Verhältnis des geschichtlichen Rechts zur Rechtsidee darstellten. Die Geschichte war nach Berolzheimers Auffassung nämlich nicht eine „blosse Materialsammlung“, „eine blosse Häufung von Tatsachen“ wie die Neukantianer annähmen: „Geschichte ist ein Grösseres, ein Höheres“, und Geschichtsforschung bedeute die Klarstellung der Entwicklungstendenzen und Aufdeckung der Kulturentwicklung.234 In dieser Methodenfrage sah Berolzheimer den „grundlegenden Streit der Rechtsphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts“235. Der Neuhegelianismus gehe kulturgeschichtlich vor und versuche, die Rechtskulturstufen universalgeschichtlich zu erhärten.236 Berolzheimers Auffassung von dem engen mensch werde als gläubiges bzw. geistig-sittliches Wesen anerkannt (ebd., 320; ders., System II, S. XI). 232 Berolzheimer, System III, 98. 233 Berolzheimer, System III, 101. „Etwa wie der Mathematiker das Gesetz irgendeiner Kurve oder der Astronom das Gesetz der Bewegung irgend eines Gestirns berechnet.“ (ebd., 101) Es gehe um die „Schaffung fester Beharrungspunkte“ (ders., System II, 331). 234 Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 508. 235 Berolzheimer, Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 522. 236 Berolzheimer, Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 522, und weiter: „Die Kant’sche Schule hingegen sagt: In der Rechtsphilosophie (wie in der Ethik) handelt es sich um Wertungen, um Werturteile, die Geschichte hingegen liefert nur Tatsachen; aus blossen Tatsachen lassen sich keine Wertmassstäbe gewinnen.“ Ohne Erfahrung, aus reiner Vernunft könne jedoch keine Erkenntnis erwachsen, weshalb die Rechtsphilosophie zunächst aus der Erfahrung schöpfen müsse (ebd., 524). Der Neukantianismus leide an einer Überschätzung der Methodik (ders., Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1007). Neuhegelianismus und Neukantianismus stellten aber keine unlösbaren Gegensätze dar, sondern seien notwendige Ergänzungen: Grundlegend sei die Feststellung, daß alles Recht Kulturerscheinung und die höchste bisher erreichte Stufe der Rechtskultur die Anerkennung der Menschheitsidee im Recht sei. Für den Ausbau der Rechtsphilosophie sei auch der Neukantianismus fruchtbar (ebd., 1008). 8 Stier
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Zusammenhang zwischen Recht und Kultur bestimmt auch die Darstellung, in der die jeweiligen Zustände „kulturhistorisch und völkerpsychologisch“237 im Hinblick auf die leitenden Prinzipien durchleuchtet werden. dd) Die Idee der Freiheit als Ergebnis der Kulturentwicklung Betrachtete man die Geschichte nun in der von Berolzheimer in Aussicht genommenen Weise, so mußte man nach seiner Überzeugung zu einer Charakteristik des Wesens der Kulturentwicklung in drei verschiedenen Perioden gelangen, aus deren Gestaltungen Berolzheimer neben den Prinzipien der Gleichmäßigkeit und der Entgeltung die Entwicklungstendenz der Emanzipation der Menschheit und damit das Prinzip der Freiheit abstrahierte.238 Die erste Stufe bilde die religiösrechtliche Periode, in der Recht, Gesellschaft und Kult eine undifferenzierte Einheit bildeten und alle Herrschaft religiös begründet sei. Darauf folge die anethische Periode, die durch eine strikte Trennung von Recht und Ethik und damit durch unbegrenzte Rechtsmacht gekennzeichnet sei239, und schließlich ergebe sich die sittlich-rechtliche Synthese, die am stärksten und reinsten in der Idee des Christentums Ausdruck gefunden habe.240 Berolzheimer Berolzheimer, System II, Vorrede VI. Berolzheimer, System III, 101 ff. Vor allem in „Die Entgeltung im Strafrechte“ und „System I“, 254 ff. hatte Berolzheimer noch die Idee des Äquivalents bzw. der Entgeltung als Rechtsidee in den Vordergrund gestellt, die er nicht linear aus der Entwicklungstendenz ableitete, sondern als allgemeine Erfahrungstatsache der Rechtswelt ansah, da jede Handlung eine gleichwertige Folge habe. Hier hatte Berolzheimer noch die intuitive Erfassung der Rechtsidee betont. 239 Nach Berolzheimer besonders ausgebildet im staatlichen Absolutismus, im absoluten Forderungsrecht des Gläubigers bis zur Tötung oder Verknechtung des Schuldners, im unumschränktem Recht am Eigentum und gegenüber den Familienmitgliedern und im Talionsprinzip im Strafrecht (Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18). 240 siehe nur Berolzheimer, System III, 12; ders., Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, 130 ff.; ders., Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 33; ders., Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 524. Diese Entwicklung habe sich nicht „streng einheitlich“ vollzogen, „auf manchen Rechtsgebieten und in manchen Ländern früher, anderwärts später. . .“ (ebd., 525). Die drei grundlegenden Epochen der gesamten Rechtsentwicklung träten in der Geschichte nicht mit absoluter Reinheit und Abgeschlossenheit auf, sie bedeuteten eine Abstraktion aus der Wirklichkeit – vergleichbar einem naturwissenschaftlichen Gesetz, das zwar unverbrüchlich gelte, in der Wirklichkeit aber auf Widerstände treffe. In diesem Zusammenhang äußerte Berolzheimer auch die Auffassung, „dass die Entwicklung von Recht, Staat und Wirtschaft ja doch nur ein Stück der gesamten Naturentwicklung“ sei (ders., Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III, (1909 / 10), 33). Diese Ansicht findet sich auch bei Ratzenhofer, Historische Kausalität und soziale Naturgesetze, ARWP IV (1910 / 11), 448 ff. Zur Kritik an dieser Einteilung G. Lasson, Fritz Berolzheimer, ARWP XIV (1920 / 21), 245 f.: Die Tendenzen, die Berolzheimer in seinen Perioden aufeinander folgen lasse, seien vielmehr zusammengehörige Momente, die sich zu allen Zeiten gemeinsam im Staats- und Rechtsleben wahrnehmen ließen. „Was er die 237 238
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deutete diesen Verlauf zugleich als Prozeß der Emanzipation des Menschen von Bevormundung. Die in der Entwicklung hervorgetretene zentrale sittliche Idee der Menschheit241 offenbare sich im Recht als Idee der Freiheit, wodurch die gesamte Menschheit als Rechtsträger anerkannt sei.242 Diese sittlich-rechtliche Synthese stelle eine Tatsache der Kulturentwicklung dar.243 „Die Freiheit ist in der Tat das Ziel und Ergebnis der Kulturentwicklung in Staat und Wirtschaft von je, vornehmlich in den letzten 2000 Jahren gewesen und geworden.“244 Die Vorstellung natürlicher Menschenrechte bezeichnete Berolzheimer hingegen als Phantom; es handele sich vielmehr um geschichtlich gewordene Positionen.245 ee) Die Bedeutung der Rechtsidee Auf der Grundlage dieser Rechtsidee ließ sich nach Berolzheimer zwar kein ganzes System der Gerechtigkeit etablieren, aber er war der Auffassung, sie könne die Grenzen möglicher Rechtsgestaltung sicherstellen. Während nämlich das Naturrecht geglaubt habe, richtiges Recht aufstellen zu können, beschränke sich die Rechtsphilosophie der Gegenwart demgegenüber darauf, „regulatives Prinzip“ zu sein.246 „Die Rechtsidee ist das öffentliche Rechtsgewissen.“247 Dieses regulative Prinzip leitet sich ganz anders als bei Stammler aus der gegenwärtigen allgemei,sittlich-rechtliche Synthese‘ nennt und als die moderne Kulturform bezeichnet, ist nichts anderes als das dem Staate als solchem zukommende Wesen.“ (ebd., 245). 241 Auch die Menschheitsidee ist nach Berolzheimers Auffassung nicht unwandelbar und unterliegt innerhalb der Gesamtkultur relativen Veränderungen, die Berolzheimers Skepsis gegenüber einer rationalistischen Ethik reflektieren. Der Wesensunterschied des Humanismus des 18. und der Menschheitsidee des 20. Jahrhunderts liege in der Erkenntnis des Menschen als Herdenglied oder als Individualität. Daher führe die Menschheitsidee im ersten Fall zur Generalisierung, nämlich zur Betonung des Gleichheitsmomentes und zu Menschenrechten, und komme in letzter Konsequenz im Kommunismus, der demokratischen Idee und im Sozialismus zum Ausdruck, während die Menschheitsidee des 20. Jahrhunderts die Respektierung der Individualität zum Inhalt habe und die Emanzipation derjenigen Gruppen (Frauen, Arbeiter) zur Folge habe, die ihre Individualität nicht anerkannt fänden (Berolzheimer, System I, 284 f., Fn. 21). 242 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18.; ders., Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1008; ders., Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, 178 ff. Mit der Emanzipation des vierten Standes sah er die Reihe der großen Emanzipationsprozesse der Neuzeit abgeschlossen (ders., System II, 299 f.). Berolzheimer unterschied zwischen Freiheit i.e.S., die er mit negativer Freiheit identifizierte, und der sie positiv ergänzenden Menschheitsidee, die für das Recht nicht nur die Abschaffung jeglicher Versklavung, sei sie religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Art, sondern die Anerkennung jedes Menschen als Rechtsträger bedeute (ders., System III, 101 f.). 243 Berolzheimer, Das Vermögen, Hirths Annalen 37 (1904), 452. 244 Berolzheimer, System II, 310. 245 Berolzheimer, System III, 115; ders., System IV, 231. 246 Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 510. 247 Berolzheimer, System III, 100. 8*
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nen Kulturauffassung ab, wie sie sich aus dem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang ergibt; „relatives Kulturrecht“ statt „absoluten Naturrechts“ lautete Berolzheimers Losung, und er sah darin unverständlicherweise eine Annäherung an Stammlers „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“.248 Mit dem Begriff des Kulturrechts sollte auf der einen Seite deutlich der Anspruch abgelehnt werden, allgemeingültige, überzeitliche Prinzipien aufstellen zu können, auf der anderen Seite die jeweilige Kulturauffassung zu einem neuen maßstäblichen Bezugsrahmen erhoben werden. Den Zusammenhang des positiven Rechts mit der Rechtsidee wahrte Berolzheimer, indem er dem positiven Recht ähnlich wie Stammler eine Tendenz zum Richtigen zusprach.249 Auf diese Weise kam es für Berolzheimer, der die politischen Forderungen der Gegenwart von der Idee der Freiheit bestimmt sah, nunmehr zu einer „Ethisierung des Rechts“, weshalb jegliche Form der Sklaverei und Ausbeutung zurückzuweisen und die sittliche Freiheit jeder Person anzuerkennen sei.250 Wer die zukünftige Entwicklung des Rechts erkennen wolle, müsse aus der Geschichte lernen251; denn das geltende Recht könne nicht für sich allein begriffen werden, es stelle einen Kompromiß der unmittelbaren und der weiter zurückliegenden Perioden mit neuen Forderungen aus verschiedenen Bevölkerungskreisen dar.252 Die historische Betrachtung diente für Berolzheimer der geschichtlichen Klarstellung der Rechtsbegriffe, Rechtsinstitute und Rechtssätze unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung.253 Er behauptete, aus der entwicklungsgeschichtlichen Entfaltung ließen sich die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen ablesen und die „natürliche Entwicklungsrichtung“ berechnen, wie sie sich ohne Eingreifen des Gesetzgebers darstelle.254 Aufgabe des Gesetzgebers sei es nun, den solchermaßen „spontanen Entwicklungsgang“ anzuerkennen und zu fördern, insofern dadurch die Gesamtkultur eine Steigerung erfahre, und umgekehrt zu hemmen, insofern er gemeinschädliche Bahnen einzuschlagen drohe.255 Die von Berolzheimer festgestellte Ethisierungstendenz des Rechts bildete für ihn die Grundlage der Rechtfertigung 248 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 14 und ebd., Fn. 19. Vgl. auch ders., Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 197. 249 Berolzheimer, System III, 97. 250 Berolzheimer, Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1007 f.; ders., Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 33; ders., System III, 151, 149 ff. 251 Berolzheimer, Die Vorfragen zur Deutschen Strafrechtsreform I, ARWP I (1907 / 08), 439. 252 Berolzheimer, Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 508. 253 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 16. 254 Berolzheimer, Die Vorfragen zur Deutschen Strafrechtsreform I, ARWP I (1907 / 08), 443. Hier ließe sich natürlich mit Stammler einwenden, daß von „natürlicher Entwicklungsrichtung“, d. h. ohne ein Eingreifen des Gesetzgebers, schwerlich gesprochen werden kann, denn die Rechtsentwicklung steht ja bereits unter gesetzgeberischem Einfluß. 255 Berolzheimer, Die Vorfragen zur Deutschen Strafrechtsreform I, ARWP I (1907 / 08), 443.
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sozialpolitischer Maßnahmen, denn ihren konkreten rechtlichen Niederschlag finde die Idee der Freiheit in der Ablehnung der Konzeption des Arbeitsverhältnisses als Verhältnis unter Gleichen, in den Milderungen der Vertragsfreiheit durch Arbeiterschutzbestimmungen, Beschränkungen nach der Reichsgewerbeordnung und der Anerkennung der Tarifautonomie.256 Im staatlichen Bereich habe die Idee der Freiheit zur Entwicklung vom Rechtsstaat und der damit verbundenen politischen und wirtschaftlichen Emanzipation des Bürgertums zum Kulturstaat geführt. Dessen Aufgabe sah Berolzheimer nicht länger in einer „Nachtwächterrolle“, sondern in der Förderung aller Kulturbestrebungen, womit er auch einen engen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Recht und eine hervorgehobene Bedeutung der Sozialethik und Gesellschaftswohlfahrt verband.257 Der Charakter des Rechts als Herrschafts- und Machtverhältnis bleibe dabei prinzipiell gewahrt, werde jedoch begrenzt und gemildert.258 Die praktische Bewährung eines solchen Maßstabes muß an dieser Stelle noch auf sich beruhen. Neben dem bereits beschriebenen ökonomischen Einfluß auf das Recht kam also der Rechtsidee in der Konzeption Berolzheimers maßgebliche Bedeutung zu, und zwar sowohl im Bereich der Gesetzgebung als auch der Rechtsprechung, wo Berolzheimer sie gegen die von ihm so bezeichnete „Gefühlsjurisprudenz“ der Freirechtsschule fruchtbar zu machen suchte, indem er darin ein überpositives, aber keineswegs metaphysisches, weil der Rechtsentwicklung immanentes Prinzip sah, auf das der Richter bei seiner Entscheidung zurückgreifen dürfe, ohne sich auf sein rein subjektives Empfinden zu stützen.259 Obwohl die Entwicklung nach Berolzheimer nicht auf ein Ziel zustrebt, sondern prinzipiell ergebnisoffen ist, ergibt sich doch eine gewisse Festlegung durch die Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 198. Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10); ders., System III, 79. Im Strafrecht bedeute die Ethisierung des Rechts den Wegfall der Leibesstrafe, die Einschränkung der Todesstrafe sowie die Beseitigung der verschärften Todesstrafe (ders., Deutschland von heute, 147). In seiner Abhandlung „Die Entgeltung im Strafrechte“ (1903) hatte Berolzheimer versucht, das Prinzip der Entgeltung als maßgebliches Strafprinzip zu erweisen. Dabei stand die Vorstellung im Vordergrund, daß sich die philosophische Betrachtung auch auf die älteste Zeit richten müsse, denn nur dort, „an der Wiege des Rechts“, könne das Strafprinzip in ungetrübter Reinheit erkannt werden, während die komplizierten Bedingungen späterer Perioden dies nicht zuließen (ebd., 16). Die Strafe sei nicht die Vergeltung für das Verbrechen, sondern das Äquivalent für Beseitigung des durch das Verbrechen geschaffenen Zustandes, wofür der Verbrecher eine Einbuße erleiden müsse. Sie bedeute daher das von der Gemeinschaft festgelegte Entgelt für die Wiedergewinnung des Friedens (vgl. dazu die kritische Besprechung von Kohlrausch, ZStW 24 (1904), 735 ff.; zur Straftheorie Berolzheimers auch Wassermann, Eine deutsche Strafrechtsphilosophie auf der Grundlage des Neuhegelianismus, ARWP II (1907 / 08), 74 ff.). 258 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19. Die Durchsetzung des Rechts mit ethischen Geboten hat allerdings eine erhebliche Schwäche, auf die noch einzugehen sein wird. 259 Vgl. Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, insbesondere 13 f., 18 f. Dazu unten Kap. III, II 2 b). 256 257
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Entdeckung der Freiheitsidee, in der er nicht nur ein Ergebnis der Kulturentwicklung sah. Durch die induktive Untersuchung ermittelte er ein Prinzip im fragwürdigen Rang einer Idee, deren Wirkungsmacht er auf einen ganzen Zeitraum erstreckte, und kam so zu „objektiven Rechtsprinzipien“260, aus denen alle übrigen Forderungen abzuleiten seien.261 Mit etwas spitzfindig anmutender Begründung und nicht ohne inneren Widerspruch verband Berolzheimer mit dieser erkannten Entwicklungstendenz jedoch erstaunlicherweise nicht die Vorstellung eines sittlichen Fortschritts, es handele sich lediglich um eine Zunahme an Differenzierung und Kultur.262 „Aller Fortschritt ist nichts anderes, als eine Wiederholung früherer Zeiten in höherer Aufstiegslinie“263, weshalb ähnliche Perioden wiederaufträten, sich aber nie wiederholten.264 Berolzheimer hat keine geschlossene Entwicklungsvorstellung vorgelegt; er vermengte naturalistische, idealistische und zyklische Entwicklungstopoi und berief sich zur Unterstützung seiner Auffassungen auf einige „Gesetze“ und Annahmen von unterschiedlicher Qualität und Reichweite, die er zum Teil kurzerhand zu „unbeweisbaren Ursätzen“265 erhob. So sah er die Entwicklung durch das „Gesetz der Pendelbewegung“266 geprägt, wonach sich der historische Verlauf im Zickzack Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18. Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18. 262 Hier machen sich sowohl naturwissenschaftliche als auch idealistische Annahmen geltend. Trotz der Charakterisierung der Entwicklung als „steigend“ betonte Berolzheimer, daß jeder Fortschritt, jede Verfeinerung auch einen Rückschritt bedeute, insofern artifizielle Bildungen natürliche Instinkte und Triebe verdrängten (Berolzheimer, System I, 226 ff.). Was man geistigen oder sittlichen Fortschritt nenne, sei nur eine Zunahme an Differenzierung und Verfeinerung und damit eine Zunahme an Kultur (ders., System II, 228). Es gebe keine Zunahme der in der Welt vorhandenen „Gesamtquanta von Intellektualität und Moralität“, alles sei schon zuvor gedacht worden. Einen Fortschritt in dem Sinn, daß alles einer Vervollkommnung zustrebt, vermochte Berolzheimer darin nicht zu sehen. Dies hängt mit der ideologischen Weltsicht und der Vorstellung eines „theistischen Enpantitheismus“ zusammen. Die Annahme einer göttlichen Kraft in der Welt schließt den Gedanken an eine Zunahme der Vollkommenheit aus, denn das Göttliche ist gleichbedeutend mit Vollkommenheit. Auf diese Weise löst sich der Fortschrittsgedanke im Sinne einer Vervollkommnungsbewegung in einen Differenzierungsprozeß auf. Berolzheimer stützte diese Behauptung naturwissenschaftlich, indem er – wohl im Anschluß an Spencer, der es für den gesellschaftlichen Bereich behauptet hatte – annahm, das Gesetz der Erhaltung von Kraft und Stoff gelte auch für den geistigen und ethischen Bereich (Berolzheimer, System I, 228, 270). Deshalb könne es auch keine sittliche Zunahme im Sinne einer Vervollkommnung geben. 263 Berolzheimer, System I, 266. 264 „Die Zeiten gleichen sich, aber sie wiederholen sich nie.“ (Berolzheimer, System I, 231) Berolzheimer sah in seiner Zeit im übrigen einen „Parallelismus mit der geistigen Welt des Mittelalters“ (ders., System I, 230, im Orig. gesperrt). Der von ihm befürwortete „moderne Klassenstaat“ stelle eine Parallelerscheinung zum späten Mittelalter dar. Zur Vorstellung von Typen geschichtlicher Entwicklung und Lebenszyklen vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, 86 f. 265 Hier vereinigte Berolzheimer einige Axiome, die er für grundlegend, aber unbeweisbar hielt wie das Gesetz der qualitativen Färbung quantitativer Unterschiede oder das Kausalitätsgesetz (ders., System I, 216 ff.). 260 261
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in aufsteigender Entwicklungsspirale vollziehe, ein ausgesprochen vage formuliertes Entwicklungsgesetz, mit dem der Zusammenhang verschiedener Zeitabschnitte beschrieben wird und das in Berolzheimers Annahme der Aufeinanderfolge sich gegenseitig ablösender und in ihrem Wesen sogar wiederkehrender Kulturstufen hervortritt.267 Ausdruck dieser Vorstellung ist auch die schematisierende Anschauung, neue geistige Bewegungen bezeichneten zwar mit berechtigter Kritik gegenwärtige Mängelzustände, verträten ihr Anliegen aber mit überschießender Tendenz, was Berolzheimer zu der Annahme veranlaßte, sie könnten aufgrund dessen in ihrer Beurteilung historisch relativiert und auf ihren Wahrheitsgehalt reduziert werden.268 Bei seiner Analyse ließ sich Berolzheimer von der Vorstellung leiten, „unbefangene geschichtliche Betrachtung“269 zeige den richtigen Maßstab gegenüber neuerlichen Konstruktionen der Rechtsidee. Was für Berolzheimer Ausdruck empirischer Wissenschaftlichkeit zu sein scheint, erweist sich jedoch als Ergebnis einer Untersuchung, die einer methodischen Aufarbeitung weitgehend entbehrt.270 Die umfängliche Darstellung und Wiedergabe von philosophiegeschichtlich bedeutenden Theorien und zeitgenössisch aktuellen Themen in Berolzheimers Hauptwerk löst den mit der Verwendung des Begriffs „System“ erhobenen Anspruch, ein nach Prinzipien gegliedertes Ganzes entwickeln zu wollen, nur bedingt ein. Es fehlt In Anlehnung an Spencer: Berolzheimer, System I, 226 ff., ebd., Fn. 1). Zum Begriff des Entwicklungsgesetzes Popper, Das Elend des Historizismus, 34, 91 ff. 268 Wenn Berolzheimer konstatierte, die augenblickliche Kulturauffassung befürworte eine sittlich-rechtliche Synthese, so sah er sich gleichzeitig mit überzogenen sozialethischen Forderungen konfrontiert. Auch die Möglichkeit, diese Forderungen auf ein berechtigtes Maß zu begrenzen, meinte er, in der historischen Betrachtung zu finden: Wie die historische Erfahrung zeige, träten neue Bestrebungen mit im Kern richtigen, aber in der Tragweite überspannten Forderungen auf, der Pendelschlag gehe über das Ziel hinaus. Man dürfe die Sozialethik daher nicht übertreiben und müsse sie auf ein berechtigtes Maß reduzieren. „Anlass und Grenze zur Ethisierung des Rechts gibt die Idee der Freiheit, derzufolge die Rechtsherrschaft insoweit (und nur insoweit!) zu brechen ist, als dies erfordert wird zur Vermeidung wirtschaftlicher Versklavung der passiv Beteiligten.“ (Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19; vgl. auch ders., Das Programm des Neuhegelianismus, ARWP VII (1913 / 14), 510). 269 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 17. „Philosophische Veranlagung“ abstrahiere aus dem vielfältigen historischen Material (ders., System II, 211). 270 Theoriegeschichtliches Arbeiten ist auch Teil des methodischen Vorgehens Berolzheimers, das auf dem Entwicklungsdenken beruht: Anstatt eine eigene Methode zu erarbeiten, erweist sich für ihn die Methode als Ergebnis der Entwicklung und der Kulturperiode. Nicht nur das Recht unterliegt dem historischen Wandel, sondern auch die methodische Erfassung ist durch die Entwicklung bedingt. „Die Entwicklungsidee hat uns auch die Relativität aller Erkenntnis, jeglicher Forschung gelehrt. . . . Die Wahrheit ist ein Infinitesimalwert, der nur annäherungsweise bestimmt werden kann; der Fortschritt der Wissenschaft offenbart sich als Verringerung des Annäherungskoeffizienten zur Erkenntniswahrheit. Und die jeweils beste Methode ist die Verwertung all der Wissensschätze, die vergangene und Gegenwartskultur zu Gebote stellen.“ (Berolzheimer, Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1007; vgl. auch ders., Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 522 ff.; ders., System II, 25 ff.). 266 267
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vielfach an nachvollziehbarer argumentativer Verknüpfung und einsichtiger theoretischer Konstruktion. Als methodisches Rudiment bleibt die universalhistorische Betrachtung, die Bearbeitung des historischen Materials folgt allerdings nicht einsehbaren Kriterien, und die Auffindung von leitenden Prinzipien geschieht mehr mit persönlichem Nachdruck als durch konsequente Darlegung.271 Die Subjektivität der Darstellungen ist daher unverkennbar und wird eher noch zum Programm erhoben. Denn die im übrigen wissenschaftlichen Bereich vordringende Anschauung, daß man es bei weltanschaulichen Fragen mit nicht verifizierbaren persönlichen Einsichten zu tun habe, wird hier nicht als Anlaß zur Zurückhaltung aufgenommen, sondern führt im Gegenteil zur Bestärkung, von einem subjektiven Standpunkt aus zu argumentieren, der sich aus dem Bedürfnis einer tieferen Welterkenntnis speist. Philosophie könne, so Berolzheimer, nicht „voraussetzungslos“ betrieben werden, sondern erfordere den nicht beweisbaren Glauben an eine Weltanschauung.272 Berolzheimers Vorgehen schwankt daher zwischen historischer Darlegung und irrationalistischem Bekenntnis. 271 Berolzheimer hat versucht, verschiedene Strömungen wissenschaftlich zu verbinden, es ist ihm aber darüber hinaus nicht gelungen, abgesehen von seinem organisatorischen Engagement im Archiv und der IVR, durch das er einige seiner Ansätze einbrachte, der Diskussion wesentliche Impulse zu verleihen. Er ist ein Initiator, der seine Vorstellungen jedoch nicht methodisch begründet und es häufig an kühler wissenschaftlicher Zurückhaltung fehlen läßt, so daß er an den Stellen, an denen er eine Begründung schuldig bleibt, in übertriebene Emphase und redundante Beschwörung vorgeblich selbstevidenter Prinzipien verfällt. Streckenweise trägt das Werk den Charakter einer umfangreichen Materialsammlung, und es wird nicht immer deutlich, welches Ziel die Darlegungen verfolgen. Berolzheimer befreite sich selbst von allen methodischen Zwängen, indem er schrieb, es komme nicht so sehr darauf an, wie man forsche, sondern daß man etwas Brauchbares finde (Berolzheimer, System III, 131 f.; 132; „In Wahrheit fängt aber, wer philosophisch begabt ist, nicht mit der Untersuchung der Methode an. . .“, ebd. 13; vgl. auch ders., Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), 1007: Der Neukantianismus leide an einer Überschätzung der Methodik. Die jeweils beste Methode sei die Verwertung aller Wissensschätze. Zur Methode trete gleichwertig der „Spürsinn des philosophisch veranlagten Kopfes, den feines Gefühl zu neuen Pfaden leitet.“). Vgl. auch die abschließende Beurteilung des „Systems“ von Radbruch in ZStW 27 (1907), 744 f., der fehlende Stringenz in der Gedankenführung rügt. Bei aller Belesenheit fehle doch zum Rechtsphilosophen das Wichtigste, „der systematische Geist, der nirgends das Band zwischen den durchgreifenden großen Gedanken und dem Einzelnen sich lockern und lösen läßt, der stets seiner Methode bewußt, nie unversehens aus einer Betrachtungsweise in die andere hinübergleitet, der in unbeugsam strenger Stoffauswahl und Stoffanordnung sich jeder noch so interessanten Frage zu versagen vermag, wenn sie nur durch den Assoziationsprozeß und nicht durch die Denknotwendigkeit in ihm heraufgeführt wird, der seine Gedanken zu der Einheit zusammenzwingt, die ihnen bei der notwendigen Subjektivität ihres Ausgangspunktes allein den philosophischen, den wissenschaftlichen Charakter geben kann. Von alledem findet sich bei B. das Gegenteil und es steht zu befürchten, daß das Mißlingen des Werkes als Ganzen das etwa gelungene Einzelne nicht zu seinem Rechte kommen lassen wird.“ (Radbruch, Besprechung von Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (Bd. I), ZStW 25 (1905), 252; (Bd. II), ZStW 26 (1906), 261 f.; (Bd. III), ZStW 26 (1906), 250 f.; (Bd. IV und V), ZStW 27 (1907), 744 f.). 272 Berolzheimer, Die Entgeltung im Strafrechte, 514, 516 f. Die Formulierung der Voraussetzungslosigkeit geht auf eine Rede Th. Mommsens zurück, in der dieser im Hinblick auf die
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c) Die Entwicklung als das „geschichtlich Übergeschichtliche“273 und der „Pantheismus der Geschichte“274 (Kohler) aa) Die Bedeutung der Kultur für den Weltprozeß Noch stärker als bei Berolzheimer rückt im Werk Kohlers der metaphysische Zusammenhang in den Vordergrund, in den das Recht gestellt ist. „Die heutige Rechtsphilosophie steht unter dem Zeichen der Metaphysik. Dass etwas hinter der Welt der Erscheinungen sein müsse, und dass die Vielheit der Erfahrung zu einer Einheit zu verbinden sei, das ist eine Überzeugung, der kein tieferer Denker unserer Tage sich verschliessen kann.“275 Kohler behauptete, die Erscheinungen der Natur und Geschichte folgten einer Zweckmäßigkeit, die man nicht begreifen könne, ohne ein auf bestimmte Ziele hinwirkendes Wesen anzunehmen.276 So äußere sich in der Geschichte „göttliche Vernunft“, die für den Menschen in den Erscheinungen teilweise erfahrbar werde.277 Kohler unterschied zwar zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Welt, war aber der Auffassung, daß sich letztere als hinter der Welt der Erscheinungen stehende, planvolle Macht den Menschen zeige.278 „Die ganze Behauptung, daß es uns nicht möglich sei, mit unserer Urteilskraft in das Metaphysische zu dringen, beruht auf der irrigen Annahme, daß das Metaphysische etwas von uns so vollkommen Verschiedenes wäre, daß es mit uns gar keine Berührungspunkte hätte. Das ist aber unrichtig. Ist das Metaphysische unserer Anschauung nicht zugänglich, so ist es zugänglich unserem Denken.“279 Das Ziel der Entwicklung sei die „Vervollkommnung der Menschheit bis politisch motivierte Besetzung eines Lehrstuhls an der Universität Straßburg Stellung bezogen und als ideales Ziel der Wissenschaft gefordert hatte, trotz bestehender religiöser, politischer und sozialer Überzeugungen entgegenstehenden Anschauungen gerecht zu werden und nicht das zu finden, was man im Hinblick auf diese Einstellungen finden wolle oder solle. Die Rede von einer voraussetzungslosen Wissenschaft wurde dann zu einem maßgeblichen Begriff in der Werturteilsdebatte (Hühn, Art. Voraussetzungslosigkeit, in: HistWB der Phil., Sp. 1174.). 273 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 9: „Die Entwicklung ist das geschichtlich Übergeschichtliche; das Geschichtliche kraft ihrer zeitlichen Bewegung, das Übergeschichtliche aber kraft der in der zeitlichen Bewegung liegenden Einheit, die im letzten Augenblick nur das entrollt, was im ersten Augenblick schon vorhanden war.“ 274 Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 506. 275 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 11. Zur Kritik an Kohler vgl. nur M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, 17; knappe und gute Darstellung bei Castillejo y Duarte, Kohlers Rechtsphilosophie und Rechtslehre, ARWP IV (1910 / 11), 56 ff., 264 ff.; durchweg ablehnende Besprechung bei Radbruch, Besprechung Josef Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Ztschrft. f. Politik 3 (1910), 427 f. 276 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 8. 277 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 9. 278 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 8. 279 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 11. Die Unterscheidung Kants zwischen Subjekt und Objekt hielt Kohler für übertrieben und neigte einer Identitätsphilosophie zu, die er
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zur Gottähnlichkeit“ und das „Aufgehen des Weltprozesses im Ewigen“, zumindest die ständige Annäherung an dieses Ideal liege der Entwicklung zugrunde.280 Dieser Aufstieg geschehe durch die Hervorbringung von Kulturwerten durch den Menschen. Seine Aufgabe bestehe darin, die Kultur fortzubilden, bleibende Kulturwerte zu schaffen und sich so über sich selbst zu erheben. Der Mensch ist bei Kohler lediglich Teil eines allumfassenden Prozesses und dazu bestimmt, einem absoluten Ziel zu dienen281, wird aber von Kohler trotzdem als willensfrei angesehen.282 Kohler legte in seiner Theorie dementsprechend eine starke Betonung auf den übergeordneten Bezug, den gesamten zielgerichteten Entwicklungsprozeß und die Steigerung der Kultur. Die kulturelle Entwicklung erhält vor dem Hintergrund der metaphysischen Weltanschauung einen tieferen Sinn, denn in ihr zeige sich das göttliche Walten.283 Wie bereits geschildert, bauten auch Kohlers philosophische Betrachtungen wesentlich auf universalhistorischen Erkenntnissen auf, zielten jedoch auf eine umfassende Deutung des Weltprozesses als Bewegung des Weltgeistes.284 Die bereits bei Berolzheimer aufgezeigte fehlende Methodenbewußtheit in der Darstellung ist, nebenbei bemerkt, auch bei Kohler zu verzeichnen, der hierzu behauptete, die richtige Ausscheidung des historischen Materials beruhe auf „geschichtlichem folgendermaßen umschrieb: Ich und Nicht-ich gehören zu einem großen Weltganzen, und aufgrund dieses Zusammenhanges kann die Bedeutung der Welt über empirische Erkenntnis hinaus intellektuell konstruiert werden (ebd., 7 ff.). Die Denkformen (Raum und Zeit, Kausalität) sind daher nicht nur subjektiv, sondern Objektivitäten der Welt (ebd., 10). Sein und Denken werden hier entgegen der Lehre Hegels als parallele Bereiche aufgefaßt, in denen sich das Weltganze in gleicher Weise entfaltet (Schild, Die Ambivalenz einer Neophilosophie, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 52, 60). 280 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 9. „Die Aufgabe der Menschheit ist Schöpfung und Fortbildung der Kultur und die Erlangung bleibender Kulturwerte, wodurch eine neue Gestaltungsfülle entsteht, die der göttlichen Schöpfung als ein zweites Geschaffenes entgegentritt.“ (Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1.) „Alles erkennen und alles können und damit die Natur bemeistern, das ist das letzte Ziel der Kulturentwicklung . . .“ (ebd., 14). 281 Vgl. Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 11. 282 Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 22 ff. 283 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 8. Schild, Die Ambivalenz einer NeoPhilosophie, in: ARSP-Beiheft 43 (1991), 52 ff., hat dargelegt, daß Kohler die Unterscheidung und Vermittlung von objektivem Geist und absolutem Geist bei Hegel nicht nachvollzogen hat und die naturalistische von der metaphysischen Entwicklung trennt. Nach Hegels Logik muß die entscheidende Bestimmung der Welt durch das begriffliche Denken des Subjekts erfolgen; Denken und Sein sind so aufeinander bezogen, daß sie im begriffenen Sein vermittelt werden. Mit der Betonung des empirischen Wissenschaftsverständnisses des Neuhegelianismus und der Deutung der Wirklichkeit als eines Momentes der metaphysischen Welt ist gerade nicht das Begreifen der Realität verbunden. So bezeichnet Schild den Neuhegelianismus als „geschrumpfte Philosophie Hegels“ (Schild, ebd., 63). Vgl. die Darstellung der Theorie Hegels durch Kohler, Hegels Rechtsphilosophie, ARWP V (1911 / 12), 104 ff., und ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 7 ff. 284 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 14 f.
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Takt“285. Wolle nun die Geschichtsbetrachtung nicht bei der reinen Tatsachensammlung stehenbleiben, müsse sie zwangsläufig auf eine philosophische Ebene gelangen. „Aber was soll alle geschichtliche Betrachtungsweise, wenn sie nicht in eine Philosophie der Geschichte einmündet und man zwar die Rechte der Völker erkennt, nicht aber die Zwecke und Ziele auffasst, welche das Recht in dieser ungeheuren Entwicklung der Menschheit erstrebt, und die Aufgaben, welche es zu erfüllen hat? Sobald die Rechtsgeschichte wirkliche Wissenschaft wurde, d. h. sich nicht auf Einzelheiten beschränkte, sondern die großen Gedanken der Geschichte zu erfassen suchte, musste von selber die Philosophie Einzug halten . . .“286 bb) Entwicklung – „Das Ewige in seiner Bewegung“287 Im Zusammenhang mit dieser pantheistischen Weltdeutung, die Kohler dem tatsächlichen geschichtlichen Verlauf gab, erschließt sich die besondere Bedeutung des Entwicklungsbegriffs. „Dass aber die Zeitgestaltung nichts anderes ist, als das Ewige in seiner Bewegung, und zwar in seiner stets aufsteigenden Bewegung, das besagt das Wort Entwicklung.“288 Die Erscheinungen unterlägen einem ständigen Wandel, aber die Zufälligkeiten des historischen Verlaufs „bleiben Zufälligkeiten in der empirischen Welt, lösen sich aber auf als Emanationen der Weltseele“.289 Der historische Verlauf selbst unterliegt nach Kohlers Einschätzung keiner Gesetzmäßigkeit und entfaltet sich nicht nach einer bestimmten Reihenfolge, vielmehr ringe sich die Weltseele in Form der verschiedensten Erscheinungen zutage.290 Damit widersprach er sowohl der dialektischen Entwicklungsvorstellung Hegels als auch den biologischen Entwicklungstheorien. Von Gesetzmäßigkeit könne allen285 Kohler, Die Geschichte im System des Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 321. Kohler setzte auf den geschulten und genialen Betrachter. Viele Einsichten werden mit der Berufung auf Überzeugung und tiefere Einsicht in die Dinge begründet. Dies läßt sich auch dadurch erklären, daß intuitive und gefühlsmäßige Erkenntnis weder bei Berolzheimer noch bei Kohler aufgrund ihrer Weltanschauung zufällig erscheint. Die intuitive Erfassung spielt eine große Rolle für Vorgänge, die nicht restlos empirisch ausdeutbar sind (Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 7, 8). 286 Kohler, Einleitung zum VI. Bande des Archivs, ARWP VI (1912 / 13), 1. Vgl. auch ders., Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 3. So habe auch die Soziologie ihre Verdienste gegenüber dem Naturrecht, aber sie habe ebenfalls die empirische Betrachtungsweise übertrieben (ders., Soziologie und Rechtsphilosophie, ARWP IV (1910 / 11), 558 ff.; ähnlich Berolzheimer, vgl. nur ders., System II, 329 f.). 287 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 9. 288 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 9; ders., Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP VIII (1914 / 15), 44. Geschlossenste Ausführungen in ders., Moderne Rechtsprobleme, 6 ff. 289 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 8. 290 Kohler, Die Geschichte im System des Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 322; Kohler erkannte die Bemühungen der Soziologie an, Gesetze in der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, er betonte jedoch die Bedeutung von Zufälligkeiten für die Kulturgeschichte (ders., Soziologie und Rechtsphilosophie, ARWP IV (1910 / 11), 558 ff.).
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falls insofern gesprochen werden, als die menschlichen biologischen und sozialen Bedingungen und das Ziel der Entwicklung festlägen; die Bewegung selbst jedoch verlaufe zufällig.291 Während Merkel und Liszt, aber auch Berolzheimer versuchten, die historische und gesellschaftliche Entwicklung als Ausdruck allgemeiner Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten, und auf der Suche nach empirischen Regelmäßigkeiten und Gesetzen waren, hebt sich Kohlers Gesetzesverständnis deutlich davon ab: Er verstand darunter die Bestimmung des historischen Verlaufs durch ein übergeordnetes Telos und nicht durch einen gesetzmäßigen Ablauf. Während beispielsweise bei Berolzheimer neben dem idealen Präformationsgedanken das treibendes Moment der Entwicklung die Ersetzung menschlicher Instinkte durch Kulturschöpfungen darstellt, steht bei Kohler ganz der metaphysische Gesamtzusammenhang im Vordergrund. „Die ungeheure Mannigfaltigkeit in der Entwicklung macht es unmöglich, für sämtliche Fälle ein für allemal gewisse Entwicklungstypen aufzustellen, so daß man nach diesen Typen die Weltgeschichte beurteilen könnte. Ein jedes Verfahren der Art, daß man die Zukunft aus der Vergangenheit nach logischen Rücksichten ableiten möchte, wäre völlig unzulässig. Die Geschichte will im einzelnen erforscht werden. Wenn wir etwa bei einer Reise den Anfangs- und den Schlußpunkt kennen, so kennen wir durchaus nicht die Bahn, welche die Reise durchläuft; und ebenso ist es in der Weltentwicklung.“292 Es ging Kohler daher nicht darum, äußere Regelmäßigkeiten in der Geschichte allgemeingültig festzuschreiben – die Beobachtung solcher Gleichförmigkeiten gab ihm nur Veranlassung, an ein dahinter stehendes, höheres Prinzip zu glauben –, sondern ihm war daran gelegen, die Erscheinungen auf den ihnen zugrundeliegenden tieferen Sinn und ihr letztes Ziel zurückzuführen. Es handelt sich „um ein nach teleologischen Grundsätzen geordnetes Prinzip des einzelnen Handelns und Wirkens. Die Zufälligkeit der Geschichte wird aufgehoben durch die Allgemeinheit der Funktion des Allwesens . . .“293 Aufgrund des metaphysischen Bezugsrahmens ging Kohler davon aus, daß sich dem Betrachter in der Entwicklung die Idee offenbare: „. . .wo bisher nur Tatsachen walteten, da waltet die Idee.“294 Das Zeitliche sei nur eine unter dem Kausal291 Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 20. Vgl. dazu auch ders., Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08): „. . . der Neuhegelianismus mit seiner Entwicklungslehre und der großen Wahrheit, dass, was aus dem Allwesen in das Reich der Erscheinungen dringt, nicht nur einem ständigen Wandel unterworfen ist, sondern eine gesetzmässige Weiterbildung darstellt als Entwicklung aus ursprünglichen Keimen. . .“ 292 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 13. Daher bekräftigte Kohler auch die Erforschung der Einzelheiten in der Geschichte. Dem entspricht es, wenn Kuck konstatiert, Kohler habe sich im Laufe seiner Entwicklung mehr auf die Einzelrechtsevolution und nicht auf die Universalrechtsevolution konzentriert (Kuck, Die Anfänge der deutschen Rechtsanthropologie, 147, 178). 293 Kohler, Die Geschichte im System des Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 323 f. 294 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 12. Dabei sei es eminent wichtig, Zufälliges von Besonderem zu scheiden und die tiefere Rechtsidee, den Rechtsgedanken zu erkennen
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gesetz stehende Entfaltung und Entwicklung aus ursprünglichen Keimen, so daß die Zukunft die aus der Vergangenheit hervorgehende Fortschrittsbildung darstelle.295 Diese Ideen „läutern und reinigen“ sich im geschichtlichen Prozeß. Auch wenn die Entwicklung zeitweise ein Sinken aufweise, sei diese Bewegung jedoch nur vorübergehend und der Fortschritt in der Weltentwicklung sicher.296 Der Zweck der Kultur eines Volkes liegt nach Kohler daher darin, „möglichst viele unvergängliche Werte zu erzeugen“297, und in diesen Dienst der Kulturschöpfung ist das Recht als Gestaltungsfaktor gestellt.298 „Die Rechtsordnung erlangt ihre Rechtfertigung durch die Rechtfertigung der Kultur, und diese wird gerechtfertigt durch die Weltentwicklung und die Betrachtung der Menschheit als einer evolutionistischen Wesensgattung, deren Bestimmung über die gewöhnliche Naturbestimmung hinausgeht. Der Kern der Menschheitsgeschichte ist, dass das Unendliche mit Hilfe der endlichen Welt sich zu neuen Ergebnissen hinaufringt.“299 (Kohler, Über die Methode der Rechtsvergleichung, zitiert nach: Rechtsvergleichung (Hg. Zweigert / Puttfarken), 22). Wie dies methodisch sicher verwirklicht werden soll, bleibt ungeklärt. Kohler sah es als besondere Fähigkeit des Wissenschaftlers an, hier Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Auch Kohler sprach wie Berolzheimer den Menschen die Fähigkeit des ideologischen Denkens zu. Hingegen sich allein auf die Erfahrung zu stützen, sei naiv. So warf Kohler Jellinek Naivität vor, da dieser meine, sich allein auf die Erfahrung beziehen zu können, und auf diese Weise alles der Subjektivität überlasse, die sich nur auf einer metaphysischen Basis vermitteln lasse. „Von einer solchen Metaphysik ist bei Jellinek usw. keine Rede, sie wollen nicht von der Erfahrung abgehen. Allerdings können sie uns auch über die Bedeutung der Erfahrung gar nichts weiter sagen; sie stehen hier auf einem völlig naiven ungeklärten Standpunkt. Um welche Erfahrung handelt es sich denn? Um die chaotischen Empfindungen, welche uns die Sinne bringen? Oder um die aus einer Menge sinnlicher Wahrnehmungen durch unsere Denkkraft konstruierte Anschauung der äusseren Welt? Und bis zu welchem Grad der Konstruktion liegt noch Erfahrung vor? Wann beginnt der ausserhalb der Erfahrung liegende Rationalismus? Inwiefern gehören die erkenntnistheoretischen Untersuchungen hierher? Denn diese sind doch nichts anderes als eine Fortsetzung der aus den chaotischen Empfindungen der Sinne aufgebauten Konstruktionen, die schliesslich auf das Grunddogma hinauslaufen: cogito, ergo sum . . .“ (Kohler, Rez. von Emges Ueber das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus, ARWP X (1916 / 17), 196). Jellinek und anderen, die nicht namentlich erwähnt werden, hielt Kohler vor, ein Werten nach unvollkommenem Augenmaß vorzunehmen und nicht mit den Mitteln der konstruierenden Wissenschaft zu arbeiten (ebd., 196, 198). 295 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 12; ders., Moderne Rechtsprobleme, 7. 296 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 8. 297 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 6 (im Original gesperrt). 298 Der Kulturbegriff Kohlers ist vielfach als unpräzise und nichtssagend attackiert worden, und Kohler selbst hat auf die Kritik eher gereizt reagiert und dessen Selbstverständlichkeit behauptet, als ihn genauer zu bestimmen (ders., Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 502). „Das Wesen der Kultur im Sinne der Rechtsphilosophie besteht in der möglichsten Entwickelung der menschlichen Erkenntnis und in der möglichsten Entwicklung der menschlichen Beherrschung der Natur, also der menschlichen Macht.“ (ders., Vom Positivismus zum Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 170 f.; ebenso ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 14). 299 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 7.
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Das Recht selbst ist kein substantielles Element der Kultur, sondern nur ein vermittelndes, „um das menschliche Erkennen und das menschliche Schaffen zu unterstützen“, es ist „eine Begleiterscheinung, ohne welche die sozialen Vorgänge nicht erfolgen könnten.“300 cc) Das Recht als Instrument der Kulturbeförderung und die Bedeutung von Individualrechten Dementsprechend sah Kohler die Bedeutung des Rechts auch nicht in der Statuierung subjektiver Rechte, wenn er auch eine derartige tatsächliche Entwicklungstendenz für seine Zeit zu erkennen meinte301, sondern in seiner kulturfördernden Funktion. „. . . und nicht das ist das Bedeutsame, dass es (scil. das Recht) dem einzelnen Individuum seinen Schutz gibt gegen dessen Unterbutterung und Unterdrückung, sondern das ist das Wesentliche, dass wir das Bewußtsein haben, mit Hilfe des Rechts mitzusteuern im Strom der Geschichte und zu erreichen, was der Menschheit bestimmt ist. Das Recht ist ein unentbehrliches Element der Entwicklung, es ist die Vernunft des Unendlichen, die sich im geschichtlichen Werden zutage ringt, es hilft dazu, dieses Werden den Zielen des Weltprozesses zuzuführen, bis einst die Menschheit in unendlicher Aufhäufung der Kulturwerte zur Gottähnlichkeit gelangt ist und der Weltprozess im Ewigen aufgeht . . .“302 Das Recht ist damit „den Postulaten des Kulturlebens untergeordnet“303. Daß es vollkommen verfehlt sei, wie das Naturrecht und der Kantianismus das Recht auf das autonome Individuum zu beziehen, ergab sich für Kohler aber auch noch aus einem tatsächlichen Grund: dem Umstand, daß der Mensch in Gemeinschaft lebt.304 Die Feststellung, daß das Recht ein Phänomen sozialer Verbände ist, ist gewiß ebenso für eine individualistische Theorie grundlegend. Aber Kohler nahm dies nicht zum Anlaß, in der Abgrenzung individueller Freiheitssphären die Kohler, Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP VIII (1914 / 15), 45. „Die Rechtsordnung gibt sich im Laufe der Entwicklung mehr und mehr kund als eine Ordnung der subjektiven Rechte, d. h. der Austeilung der Lebensgüter unter die Menschheit, und eine wesentliche Aufgabe der Rechtsordnung besteht im Schutz dieser subjektiven Rechte.“ (Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 39). 302 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 9. Nach Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: R. v. Jhering, Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls (Hg. Behrends), 93 f. Fn. 46, ist die Konsequenz dieser Auffassung, daß Recht und Gerechtigkeit dem Fortschritt zu weichen hätten, womit der Willkür Tür und Tor geöffnet seien. Vgl. auch Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken, in: Recht und Justiz im „Dritten Reich“ (Hg.: Dreier / Sellert), 53 ff. 303 Kohler, Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP VIII (1914 / 15), 46. 304 Demgegenüber sei das Recht der Person eine spätere historische Erscheinung, „von Anfang an treten die Menschen in Gruppen auf“; „. . . die Kultur hat nicht die Freiheit des einzelnen beschränkt, sie hat die Freiheit des einzelnen geschaffen.“ (Kohler, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1). 300 301
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wesentliche Aufgabe des Rechts zu sehen, sondern als Ausgangspunkt, um das Recht in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Das Recht sei dazu bestimmt, den ständigen Widerspruch zwischen der Gesamtheit und dem einzelnen zu begleichen.305 Es ordnet bei Kohler nicht nur soziale Verhältnisse zum Zwecke des konfliktfreien Zusammenlebens oder weitergehend der Erhaltung des kollektiven Verbandes selbst, sondern es ist Koordinationsinstrument mit dem Ziel einer erhöhten Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft im Hinblick auf die Steigerung der Kultur. „Das Ganze lehrt zur Genüge, dass nie der einzelne Mensch der Träger großer Errungenschaften ist, dass vielmehr stets die Menschheit im gesamten durch ihr soziales Zusammenwirken hervorragendes geleistet hat.“306 Deshalb dürfe das Recht nur im Verhältnis zur Gesamtheit menschlicher Bestrebungen untersucht werden und nicht im Hinblick auf einzelne Bedürfnisse.307 Individuelle Rechte sind lediglich von der Gemeinschaft abgeleitet.308 Die strikte Ablehnung individualistischer Rechtsbegründungen ergab sich für Kohler nicht zuletzt aus ihrem unhistorischen, konstruktivistischen Charakter. Es sei falsch, wie Stammler die Kriterien richtigen Rechts aus „ein für allemal gegebenen Erfordernissen des Individual- und Soziallebens“ abzuleiten.309 Kohler hob demgegenüber die kulturelle Eingebettetheit des Menschen hervor, weshalb sich auch die rechtlichen und ethischen Verhaltenspflichten aus diesem Kontext ergeben und nicht von einer an den Rechten des Individuums orientierten Betrachtungsweise ihren Ausgang nehmen. Aus der existentiellen Verbundenheit mit der gemeinschaftlichen Kultur ergibt sich auch die bindende Kraft des Rechts. Die normativen Verhaltenspflichten drängten sich dem einzelnen von der Gesamtheit aus intuitiv auf, denn die vernünftige – und das heißt, die mit der Kulturordnung übereinstimmende Lebensgestaltung – entspreche einem „inneren Triebe“ des Menschen.310 Bei genauer Betrachtung schloß Kohler also aus der Tatsache, daß Kohler, Das Recht, 1 f. Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 502. 307 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 3. 308 Zum Verhältnis von Gesamt- und Einzelwesen vgl. insbesondere Kohler, Das Recht. Auch hier herrscht die Organismusvorstellung vor. Die Gesamtheit verfolge Ziele und Aufgaben und bestehe aus einer Menge von einzelnen, die ihr dienten und sich den Zwecken der Kollektivs unterordnen müßten. Weil nun die einzelnen funktionstüchtige Glieder des Ganzen sein müßten, müsse die Gesamtheit ihnen gegenüber besondere Rücksichten beobachten (ebd., 1 ff.). Dies ergab sich für Kohler letztlich aus einem „Gefühl der Weltorganisation“, dem Bewußtsein, „dass der Einzelne ein Teil des Ganzen ist, daher dem Ganzen dienen muß, aber daneben als Einzelner das Anrecht hat auf Bestand; denn nimmer dürfen die Einzelnen zum Brei zermalmt werden, stets muß die einzelne Zelle in ihrer Einzelheit gewahrt bleiben. So entwickelt sich das Gefühl, daß der Persönlichkeit ihre Stellung werden soll im Bereiche des Ganzen und daß sie nicht zurückgedrängt und ins Nichts verwiesen werden darf.“ (ders., Das Recht, 92). 309 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 16. 310 Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 504; ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 39. 305 306
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der Mensch unvermeidlich mit seiner kulturellen Lebenswelt verbunden ist, auf den Geltungsanspruch der sozialen Ordnung.311 Mit dem Hinweis auf die gemeinschaftlich bedingte, notwendige Bindung des einzelnen lehnte Kohler eine individualistische Begründung normativer Verbindlichkeit ab und identifizierte sie statt dessen mit der tatsächlichen Bestimmung des Subjekts durch überindividuelle kulturelle Zusammenhänge, deren Bedeutung er letztlich in einer metaphysischen Überhöhung ihrer Existenz auflöste. Aus seiner Entwicklungstheorie ergibt sich notwendig der kulturelle und rechtliche Relativismus Kohlers und die Bindung der Rechtsstandards an den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, die sich jedem Versuch einer Universalisierung versperren: Jede Stufe der Entwicklung bildet die ihr entsprechende Rechtskultur, die zum bestimmenden Moment des Rechts wird. Eine unabänderliche, von jeglichem geschichtlichen Zusammenhang abstrahierende Konstante, wie sie das Naturrecht mit der Natur des Menschen und seinen unveräußerlichen Rechten in den Mittelpunkt der Rechtsbegründung stellt, gibt es in Kohlers Konzeption nicht. Daher wies er auch Stammlers Versuch der Begründung von individuellen Freiheitsrechten zurück: „Alles was die Lehre vom Richtigen Recht weiter will, ist verkehrt. Es ist verkehrt, aus der sozialen und zugleich individuellethischen Natur des Menschen zu schließen, dass das Recht nicht so gestaltet sein dürfe, dass der einzelne vollständig unterbuttert werde, so dass er nicht mehr sich selbst der nächste sein dürfe. Es ist völlig verkehrt, zu sagen, dass die Sklaverei in Rom dem richtigen Recht widersprochen habe . . . Die Sklaverei ist zu gewissen Zeiten einer Kultur eine notwendige Einrichtung, ohne welche eine intensive Wirtschaft und eine kräftige Machtentfaltung nicht möglich wäre.“312 Auch hier zeigt sich deutlich die Übergeordnetheit der Kulturentfaltung, in deren Dienst der einzelne und die gesamte Menschheit gestellt sind, denn wo es im Sinne der Kulturförderung notwendig ist, muß die Rechtsordnung von den einzelnen auch Opfer verlangen.313 In dieser philosophischen Wertung des Rechts sah Radbruch einen grundsätzlichen weltanschaulichen Gegensatz deutlich werden, „das Recht als nur individualethisch ableitbarer Wert und als individualethisch unableitbarer, Kultur-, Wert (sic); und so personifiziert sich dieser Gegensatz, wie einstmals in Kant und Hegel, so heute in Stammler und Kohler.“314 Im Gegensatz zu Berolzheimer, der die Idee der Freiheit und Humanität in den Vordergrund der Entwicklung gerückt hatte, relativierte Kohler diese Position, indem er auch in ihr nur das Mittel zur Förderung der fortschreitenden Entwicklung sah und dem Gesamtziel unterordnete. „Wenn in einer Kulturwelt auch Tausende geknechtet sind, so ist dieses richtig und zutreffend, sobald es die einzige Möglichkeit ist, damit grosse wissenschaftliche oder künstlerische Schöpfungen erstehen . . .“, allerdings: „. . . wo aber ein freier Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 3. Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 07), 4 f.; ebenso ders., Die Grenzen der Rechtsphilosophie, ARWP VIII (1914 / 15), 46. 313 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 6. 314 Radbruch, Literaturbericht zur Gründung des ARWP, ZStW 28 (1908), 686. 311 312
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Staat freier Menschen eine unerhörte Reihe von Ideenschöpfungen hervorbringt und Erfindung auf Erfindung häuft, da ist wiederum der freie Staat das Ideal des Rechts . . .“315. Zu Recht hat Behrends Berolzheimers Position im Gegensatz zu Kohler als „universalistische-humanistische Interpretation der neuhegelianischen Rechtslehre“ charakterisiert.316 So bestimmt sich der Inhalt des Rechts durch die Effizienz im Hinblick auf das Ziel der Kultursteigerung. Der Kulturentwicklung läßt sich der Maßstab zur Bewertung des Rechts entnehmen. In der Beziehung zwischen Kultur und Recht erblickte Kohler die einzig zulässige „aprioristische Bestimmung“317 des Rechts, „eine für alle Zeiten giltige Beziehungsnorm“318. Die Formulierung unabänderlicher Prinzipien stünde der Bestimmung des Rechts sogar entgegen, denn es kann nur dann seine Aufgabe, dem Fortschritt der Kultur zu dienen, erfüllen, wenn es sich der jeweiligen Kultur anpaßt.319 Bei allgemeinen Rechtsprinzipien wie der Gerechtigkeit und namentlich der Gleichheit, die für alle Entwicklungsperioden Geltung beanspruchten, handele es sich überhaupt nur „um Schablonen, die erst durch die Anforderungen der betreffenden Kulturperiode ausgefüllt werden könnten. Eine jede Kulturperiode hat sich zu entscheiden, wer würdig und unwürdig, wer schuldig und wer unschuldig, was gleich und was verschiedenwertig ist.“320 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 6. Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken, in: Recht und Justiz im „Dritten Reich“ (Hg. Dreier / Sellert), 54. 317 Kohler, Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 505. „. . . das Recht ist zwar relativ, aber es hat seine allgemeine Bestimmung im Kulturleben eines Volkes und soll eine Förderung des Kulturlebens sein. So verschieden es im einzelnen ist, so gleichartig ist die Grundbestrebung, nämlich die Kulturförderung durch die Zwangsordnung der Dinge. . .“ (Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 2). 318 „. . . und wenn es kein absolutes Recht gibt für alle Zeiten, so gibt es doch eine für alle Zeiten giltige Beziehungsnorm, nämlich die Beziehungsnorm zwischen dem Recht und zwischen der Kultur, die nur eben bei der unendlichen Verschiedenheit der menschlichen Bildungszustände einen verschiedenen Inhalt annehmen muß. . .“ (Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 2). 319 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2; ders., Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 505. 320 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 5. „Eine Kulturperiode kann z. B. von dem Gedanken ausgehen, daß verschiedene Menschenklassen eine verschiedene Stellung einnehmen und eine verschiedene Betätigung im staatlichen Leben zu vollziehen haben, wie z. B. die höheren und niederen Kasten der Hindus oder der Adel bei morgen- wie abendländischen Völkern; eine Kultur kann ferner verlangen, daß die Träger religiöser Ämter eine besondere Berücksichtigung finden und eine gewisse Ausnahmestellung einnehmen; eine Kulturperiode kann wiederum In- und Ausländer sehr verschieden behandeln, den Ausländer sogar ganz rechtlos machen; eine Kultur kann den einzelnen verantwortlich machen für seine Familie und die Familie für den einzelnen; sie kann bestimmen, daß auch schuldlose Verletzung zur Strafe führt; und derartige Bestimmungen sind ebensowenig von der rechtlichen Betrachtung zurückzuweisen, als z. B. der Satz unseres Rechts, daß, wenn der fremde Staat uns Anlaß zum Kriege gibt, wir berechtigt sind, seine Heere zu dezimieren und seine Soldaten totzuschießen, soweit es die Zwecke unserer Kriegsführung erheischen.“ (ebd., 5). 315 316
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Das Recht ist nicht nur Entwicklungsprodukt, sondern ihm kommt auch eine evolutionistische Aufgabe zu; es ist so zu gestalten, daß es die „bestimmungsgemässe Entwicklung des sozialen Organismus fördert und unterstützt.“321 Richtig ist das Recht für Kohler dann, wenn es dem kulturellen Entwicklungsstand entspricht und die weitere Entwicklung fördert.322 Die Bewertung der diesem Fortschritt gedeihlichen Mittel und Ziele unterliegt in Kohlers Theorie keinem Zweifel und ist unmittelbar einsichtig, so daß mit ihrer Feststellung gleichzeitig auch ein Maßstab zur Bewertung des Rechts gefunden ist. Daher ging er davon aus, daß die rechtsphilosophische Betrachtung für die Rechtspolitik bedeutsam sei, „welche nicht eine Wissenschaft, sondern eine Technik ist und dahin abzielt, jeweils dasjenige zu erspähen, was der gegenwärtigen Kulturordnung am besten entspricht“323, und sprach ihr darüber hinaus Einfluß auf die Auslegung des Rechts zu.
V. Zeitgenössische Kritik an der Entwicklungsbetrachtung Die Annahme, daß dem historischen Ablauf ein tatsächlicher Entwicklungsverlauf immanent sei oder gar Gesetzmäßigkeiten auffindbar seien, sieht sich um 1900 allerdings längst erheblichen Einwänden ausgesetzt. Ein Punkt der Kritik war neben der Abwehr der metaphysischen Geschichtsbetrachtung die auch schon von Stammler angegriffene Vorstellung, daß es im Hinblick auf soziale und historische Prozesse analog den naturwissenschaftlichen Gesetzen Gesetzmäßigkeiten geben könne.324 Dagegen sollte die wissenschaftliche Untersuchung sozialer und geschichtlicher Vorgänge von der Erforschung natürlicher Vorgänge geschieden werden.325 321 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 4; ders., Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 505. 322 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. „. . . das Recht jeder Kulturperiode soll so gestaltet sein, daß es den Entwicklungskeimen eben dieser Kulturperiode entspricht, daß es dazu beiträgt, die ihr gemäße Gestaltung zu sichern und zu fördern. Diese Idee habe ich schon längst dargelegt, schon längst, bevor man den unschönen Ausdruck vom richtigen Recht gebrauchte. Allerdings ist es stets mein Bestreben gewesen nicht bei dem richtigen Recht stehen zu bleiben, sondern darzulegen, wie es in der Kultur und wie die Kulturbestrebungen wieder in der Weltentwicklung wurzeln.“ (Kohler, Moderne Rechtsprobleme, 13). 323 Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP I (1907 / 08), 10. 324 Vgl. auch Wolf, Der Begriff Gesetz, in: von Lübtow-FS, 109 ff., 120. Zur Kritik am naturalistischen und anti-naturalistischen Entwicklungsdenken Popper, Das Elend des Historizismus. Zu den soziologischen Theorien Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses, 77 ff.; Dreitzel, Sozialer Wandel, 23 ff.; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, 29. 325 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, 21; Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 191 ff. Allgemein zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Sozialwissenschaften vgl. auch Landau, Rechtsgeschichte und Soziologie, in: Rechtsgeschichte und Soziologie (Hg. Killias / Rehbinder), 11 ff.
V. Zeitgenössische Kritik an der Entwicklungsbetrachtung
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1. Soziale und historische Gesetze entsprechend den Gesetzen der Natur? Hier sind insbesondere die Unterscheidungen des Neukantianers Heinrich Rikkert326 von Bedeutung geworden, der die Naturwissenschaften gegenüber den Kulturwissenschaften327 durch ihre unterschiedliche Begriffsbildung abgegrenzt und die Möglichkeit historischer und sozialer Gesetze verneint hatte. Ausgehend von der Annahme, daß die unmittelbar gegebene Realität sinnfrei und chaotisch sei, prägte Rickert die Auffassung, erst durch die verschiedene bewußtseinsmäßige Erfassung werde diese Wirklichkeit in die naturwissenschaftliche und die kulturelle Begriffswelt umgeformt; erst durch die Betrachtungsweise entstehe damit der Objektbereich und unterschieden sich die Kultur- von den Naturwissenschaften. Leitend war dabei die Überzeugung, daß mit der kritiklosen Übernahme des naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideals den verschiedenen Gegenstandsbereichen nicht Rechnung getragen werden könne und die Voraussetzung des Positivismus, daß die Erkenntnisobjekte der Natur- und Geisteswissenschaften gleichartig seien, unhaltbar sei.328 Denn den Geisteswissenschaften geht es nach Rickert um die Erfassung sinnerfüllten Kulturlebens und damit um individuelle und „idiographisch“ zu beschreibende Vorgänge, während den Naturwissenschaften an einer verallgemeinernden, „nomologischen“ Betrachtung gelegen sei. Die von den Naturwissenschaften auf diese Weise ermittelten Gesetze seien im übrigen keineswegs der 326 Heinrich Rickert (1863 – 1936) wurde 1896 Professor für Philosophie in Freiburg i. Breisgau. 1916 wurde er Nachfolger seines Lehrers Wilhelm Windelband in Heidelberg. Zu Rickert: Wuchterl, Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts, 130 ff.; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 70 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 92 ff. 327 Rickert ersetzte den Begriff der Geisteswissenschaften durch den der Kulturwissenschaften, weil er jenen mit metaphysischen und psychologischen Bedeutungsinhalten belastet sah (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 28 f., 178 ff., 183). 328 So argumentierte Windelband, ähnlich wie bereits Dilthey in seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 1883, in seiner berühmten Straßburger Rektoratsrede „Geschichte und Naturwissenschaft“ (1894) für eine eigenständige Forschungsmethode im Bereich der historischen Wissenschaften. Dilthey hatte zu diesem Zweck auf die Unterscheidung von „Verstehen“ und „Erklären“ zurückgegriffen. Windelband und im Anschluß an ihn Rickert (Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899) befürworteten ebenso wie Dilthey eine Unterscheidung unabhängig vom Gegenstandsbereich. Sie bezogen sich aber auf die methodische Abgrenzung zwischen „nomothetischer“ und „idiographischer“ Betrachtungsweise: Das nomothetische Verfahren der Naturwissenschaften bedeute die Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, wobei der einzelne Fall lediglich als Anwendungsfall des Gesetzes Bedeutung erlange. Die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften betrachteten ihre Gegenstände jedoch idiographisch: Ihnen gehe es um die Beobachtung vergangener individueller Vorgänge und Ereignisse (dazu Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 77 ff.; ders., Geschichtsphilosophie nach Hegel, 137 ff.). Zur Zurückdrängung des Exaktheitsanspruchs der Naturwissenschaften im Bereich geisteswissenschaftlicher Erkenntnis auch Tenbruck, Neukantianismus als Philosophie der modernen Kultur, in: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme (Hg. Orth / Holzhey), 71 ff.; Pascher, Einführung in den Neukantianismus, 60 ff.
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Wirklichkeit immanent, sondern stellen Konstruktionen des menschlichen Verstandes dar. In diesem Sinn konnte es für Rickert kein historisches Entwicklungsgesetz geben, denn bei der gesetzesmäßigen Erfassung wird von allen Besonderheiten, die gerade die geschichtswissenschaftliche Arbeit ausmachen, abstrahiert; ein historisches Gesetz war für ihn daher ein Widerspruch in sich.329
2. Alternative Entwicklungsvorstellungen – Zeitgenössische Kritik an einem tatsächlichen Entwicklungsbegriff aus erkenntnistheoretischer Perspektive Schließlich wurde bereits die Annahme eines dem historischen Ablauf ohne weiteres immanenten, objektivistischen Entwicklungsganges, sei er naturalistischer oder idealistischer Art, in Zweifel gezogen. Im folgenden sollen deshalb diese Vorstellungen anhand von drei Beispielen – den Konzeptionen Rickerts, Jellineks und Stammlers – mit einem anderen Entwicklungsverständnis kontrastiert werden.330
329 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 410; ders., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 90. Aufgrund der unterschiedlichen Betrachtungsweise könne auch die nach allgemeinen Kausalgesetzen suchende Soziologie, sofern sie als Geschichtsphilosophie auftrete, nicht zum Ziel gelangen, wenn sie nach kulturellen Gesetzen suche, denn „Kultur“ entstehe erst durch die individuelle Betrachtungsweise, die in allem die individuelle Kausalität und unwiederholbare Gegebenheit zum Gegenstand habe (ebd., 91 ff.). Mit anderer Akzentuierung, aber ähnlicher Intention wandte sich auch Georg Jellinek gegen den Versuch, soziale Gesetze zu etablieren. Auch Jellinek war der Ansicht, daß soziale Prozesse wesentlich individuellen Charakter besäßen, ging allerdings davon aus, daß der Unterschied zu den natürlichen Vorgängen im Objekt liege (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7; ders., Die Unberechenbarkeit politischer Massenwirkung, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden II, 331). Soziale Prozesse seien im Gegensatz zur Natur, die entweder unverändert bleibe oder in rhythmischem Wechsel wiederkehrende Erscheinungen zeige, dynamisch, weshalb es unmöglich sei, wie in den Naturwissenschaften „feste, jedem Zweifel entrückte Entwicklungs- und Rückbildungsgesetze“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7) nachzuweisen. Sie seien vielmehr Ausdruck individueller menschlicher Handlungen, die im Gegensatz zu den meßbaren natürlichen Kräften nicht berechenbar seien und könnten daher nicht als Ausprägung eines allgemeinen Gesetzes verstanden werden (ebd., 27 ff.). Unter den menschlichen Individuen herrschten trotz Ähnlichkeiten in der psychischen Ausstattung die Unterschiede vor, denn in jedem von ihnen liege „ein einziggeartetes, unwiederholbares Element“ (ebd., 29). Um diese Schwierigkeiten methodisch zu überwinden, entwickelte Jellinek den „empirischen Typus“ (ebd., 30 ff., 37). 330 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffbildung, 437 ff.; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 41, ff.; Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, Einleitung, in: Systematische Rechtswissenschaft (Hg. Hinneberg), 1. Aufl. S. I ff.; vgl. dazu Wassermann, Zur Genealogie des Entwicklungsbegriffs in der Rechts- und Sozialphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 182 Fn. 12.
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a) Geschichtswissenschaft: Entwicklung und „teleologisches Prinzip“ (Rickert) Entsprechend Rickerts Wissenschafts- und Begriffsverständnis ist eine Entwicklung nicht den tatsächlichen Ereignissen eigen, sondern erst das Produkt einer bestimmten Betrachtungsweise. Gegenüber einem materialen Geschichtsverständnis und einem tatsächlichen Begriff der Entwicklung machte Rickert im Rückgriff auf die Erkenntnistheorie Kants in der Interpretation der von ihm und Windelband geprägten Heidelberger Richtung des Neukantianismus auf die logische Bedeutung der Betrachtung bei der Wirklichkeits- und Gegenstandskonstitution aufmerksam.331 Die Auffassung der mannigfaltigen Wirklichkeit als Entwicklung entstehe erst durch die wertbeziehende Betrachtung, und Rickert legte sich Rechenschaft über die Möglichkeit eines historischen Entwicklungsbegriffs ab.332 Danach lasse sich zwar nicht bestreiten, daß historische Betrachtung über die reine Sammlung geschichtlichen Materials hinausgehen solle. Sie müsse sich jedoch darüber bewußt sein, daß die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dabei unter ganz bestimmten Gesichtspunkten geordnet werde. Für den im Rahmen der historischen Betrachtung einzig tauglichen Entwicklungsbegriff machte Rickert das „’teleologische’ Prinzip“333 fruchtbar. Dabei werde das Geschehen rein theoretisch auf einen Wert bezogen, ohne daß es zu einer beurteilenden Stellungnahme, zu einer Wertung komme.334 Ohne diese Wertbeziehung könne es gar keine „Entwicklung“ geben.335 Die empirische Wirklichkeit weist für Rickert nicht in sich bereits eine Ordnung auf, eine solche wird vielmehr erst von dem Betrachter geschaffen. Erst durch die Wertbeziehung würden unter den historischen Objekten „wesentliche von unwesentlichen Bestandteilen“336 unterschieden: „Es heben sich dann aus der unübersehbaren Mannigfaltig331 Dazu Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel, 144 ff. Zur Rezeption Kants: Wagner, Geltung und normativer Zwang, 108 ff. Zur Tauglichkeit des Ansatzes in der Rechtswissenschaft Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 313 f. 332 Rickert unterschied sieben verschiedene Entwicklungsbegriffe, wobei er diejenigen aussonderte, die keine historisch tauglichen Entwicklungsbegriffe darstellten, da sie empirisch nicht überprüfbare Aussagen machten (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 430 f., vgl. auch ders., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 92 f.). 333 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 429. 334 Rickerts Theorie ist nicht unwidersprochen geblieben, eben die Unterscheidung zwischen Wert und Wertbeziehung ist als undurchführbar angegriffen worden. Zur Kritik der Wert / Werturteils-Unterscheidung Oakes, Rickerts Wert / Wertungs-Dichotomie und die Grenzen von Webers Wertbeziehungslehre, in: Max Webers Wissenschaftslehre (Hg. Wagner / Zipprian), 146 ff., der bemängelt, daß Wertungen Voraussetzungen für Wertbeziehungen seien und Rickerts Unterscheidung daher nicht haltbar sei. Zu den Problemen des Entwicklungsbegriffs Rickerts für die historische Arbeit vgl. Merz, Max Weber und Heinrich Rickert, 197 ff. 335 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 431. 336 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 428.
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keit des Ablaufs der Ereignisse bestimmte Stadien heraus und schließen sich zu dem Begriff einer einmaligen Entwicklung zusammen.“337 Als solche allgemeinen Kulturwerte wies Rickert Wertbegriffe wie den Staat, die Kunst, die Religion oder die wissenschaftliche Organisation aus.338 Es handelt sich dabei laut Rickert um Wertungen, die der Betrachter tatsächlich vorfindet.339 Insofern sind empirisch vorfindliche Kulturwerte Voraussetzung historischen Arbeitens, und die Beziehung auf einen allseits anerkannten Wert verbürgt die intersubjektive Bedeutung dieser Betrachtung.340 Bei den Werten handele es sich um „empirisch zu konstatierende Tatsachen“341. Indessen gehe es nicht um eine praktische Wertbeurteilung, sondern um eine theoretische Wertbeziehung, denn die Beziehung eines Wertgesichtspunktes auf ein Geschehen sei frei von positiver oder negativer Stellungnahme zu diesem Wert.342 337 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 428. Eine Folge von historischen Ereignissen, eine Entwicklung kann nach Rickerts Vorstellung nicht als an sich ablaufender Prozeß erkannt werden, sondern durch eine bestimmte Betrachtungsweise, durch Einnahme eines konkreten Standpunktes, von dem aus sich die Wirklichkeit in wertvolle und wertlose Tatsachen gliedert. „Das Ganze erhält durch die theoretische Beziehung auf den Wert nur einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende, insofern die vorangehenden oder nachfolgenden Ereignisse für den Wert nicht mehr bedeutungsvoll sind, und zugleich gliedert alles sich in eine bestimmte Reihe von verschiedenen Stadien, die zwischen Anfang und Ende liegen, weil überall dort ein Einschnitt in den kontinuierlichen Fluß des Werdens entsteht, wo die allmähliche Veränderung groß genug geworden ist, um eine andersartige Bedeutung mit Rücksicht auf den leitenden Wertgesichtspunkt der Darstellung zu besitzen.“ (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 428 f.). 338 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 61, 80. 339 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 61. 340 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 325, 330 f., 520 f. Dazu Merz, Max Weber und Heinrich Rickert, 207 ff. Rickert ging weiter davon aus, daß die rein formale Voraussetzung akzeptiert werden müsse, daß irgendwelche Werte überhaupt absolut gelten, und meinte, daß die Werte in eine hierarchische Ordnung zu bringen seien. „Für Rickert ist die Befestigung der Geschichte an der transzendentalen Objektivität von Werten eine Notwendigkeit, welche die Objektivität der historischen Erkenntnis berührt.“ (Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, 35.) Vgl. zu diesem Unterschied zwischen M. Weber und Rickert auch Wagner / Zipprian, Eine Studie zu Max Webers kulturwissenschaftlichem Formalismus, Ztschrft. f. Soz. 18 (1989), 8 ff., 10; kritisch im Hinblick auf die metaphysischen Annahmen auch Wagner, Geltung und normativer Zwang, 122 ff. 341 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 61. „Die Geschichte ist gewiß keine wertende Wissenschaft, das heißt der Historiker wertet als Historiker seine Objekte nicht, wohl aber findet er Wertungen wie die des Staates, der wirtschaftlichen Organisationen, der Kunst, der Religion usw. als empirisch zu konstatierende Tatsachen vor, und durch die theoretische Beziehung der Objekte auf die Werte, die dabei faktisch gewertet werden, das heißt mit Rücksicht darauf, ob und wodurch ihre Individualität etwas für diese Werte bedeutet, gliedert sich ihm die Wirklichkeit in wesentliche und unwesentlichen Bestandteile, ohne daß damit von ihm irgendein direktes positives oder negatives Werturteil über die Objekte selbst gefällt zu werden braucht.“ (ebd., 61). 342 Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 429. Als Kontrast sei an dieser Stelle noch einmal auf Kohlers Geschichtsbetrachtung eingegangen: Was bei Rickert Gegenstand erkenntniskritischer Aufarbeitung ist, ergibt sich für Kohler als Folge
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b) Sozialwissenschaften: Entwicklung als „Wertbegriff“ (Jellinek) Der von Rickert entwickelte Zusammenhang tritt modifiziert bei Jellinek343 in Erscheinung, dem es um den Gegenstandsbereich der historischen Forschungsweise in der den Staat als gesellschaftliche Einrichtung betrachtenden sozialen Staatslehre ging.344 Jellinek etablierte den Entwicklungsbegriff als „Wertbegriff“ und sah dadurch die Unterscheidung der historischen Tatsachen in – aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise – „wertvolle und wertlose“ ermöglicht.345 Diese Differenzierung hatte nach seiner Auffassung eine inhaltliche Bevon „Takt und sicherem Anempfinden“ (Kohler, Die Geschichte im System des Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 32). Auch Kohler betonte mit Rickert den individuellen Charakter allen geschichtlichen Geschehens. „. . . und man hat den Individualismus des geschichtlichen Geschehenen noch eindringlicher hervorgehoben und ihn in seiner ontologischen und erkenntnistheoretischen Bedeutung darzulegen versucht. Das ist namentlich durch Rickerts Forschungen geschehen, und auf diese folgte die inhaltsreiche Abhandlung meines einstigen Zuhörers Rava.“ (ebd., 321) – mit letzterer Erwähnung scheint Kohler andeuten zu wollen, daß seine eigenen Gedanken schon zuvor in diese Richtung gegangen seien. Es gelte jedoch nicht nur die Fülle der Tatsachen zu registrieren – hier erfaßt Kohler Rickerts Auffassung auf seine Weise – und „mit Recht hat man darauf hingewiesen, daß jeder Historiker aus der Fülle der Tatsachen eine Anzahl von Geschehnissen herauszuheben, diese zu verknüpfen und so zum Gegenstand seiner Darstellung zu machen habe. Die Tat des Geschichtsforschers besteht also zunächst in der Ausscheidung, und diese richtig zu vollziehen ist Sache des geschichtlichen Taktes. Insofern haben diejenigen Recht, welche die Geschichte als eine Kunst darstellen . . . Man hat nun diese Ausscheidung als Ausscheidung nach Wertung gekennzeichnet und den Satz aufgestellt, dass die Wertung Hauptaufgabe des Geschichtsforschers sei.“ (ebd., 321) In Bezug auf die Wertung des geschichtlichen Geschehens und die Auswahl sei die Metaphysik für die Wissenschaft von Bedeutung: „Die grössere Wertigkeit des Einen oder Anderen kann sich nur bemessen nach dem Einfluss der einzelnen Tatsache auf die Folge der geschichtlichen Ereignisse.“ (ebd., 322) „Mit anderen Worten, die Wertbemessung kann nur eine teleologische sein, und dieses Telos kann nicht ohne Zuhilfenahme der Metaphysik ermittelt werden.“ (ebd., 323) Das Wesen der geschichtlichen Tätigkeit sei die Kulturentwicklung und alles Geschehen danach zu bemessen, ob es einen günstigen oder ungünstigen Einfluß ausübt oder indifferent sei. Die theoretische Wertbeziehung erhält hier offenkundig eine ganz andere Wendung. 343 Georg Jellinek (1851 – 1911) wurde 1883 außerordentlicher Professor für Staatsrecht in Wien, hatte dort allerdings wegen seiner jüdischen Abstammung Schwierigkeiten, akademisch voranzukommen. Jellinek wurde schließlich 1889 in Basel ordentlicher Professor für Staatsrecht und ab 1890 für allgemeines Staatsrecht, Völkerrecht und Politik in Heidelberg, wo er u. a. in engem Kontakt mit Max Weber stand. Zu den Beziehungen zwischen Jellinek und Weber: Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber. Eingehend zur Biographie Jellineks: Camilla Jellinek, Georg Jellinek. Ein Lebensbild entworfen von seiner Witwe, in: G. Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden I, 5 ff. und Kempter, Die Jellineks 1820 – 1955, 154 ff., 235 ff., 261 ff. Überblicksdarstellungen zu seinem Werk bei M. J. Sattler, Georg Jellinek (1851 – 1911). Ein Leben für das öffentliche Recht, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (Hg. Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis), 355 ff.; Heller, Jellinek, Georg, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, Vol. 8, 379. 344 Zur von Jellinek entwickelten Zwei-Seiten-Theorie des Staates vgl. unten Kap. III, Abschn. IV 2 a). 345 „. . . eine Scheidung, die natürlich nur relativ ist und für jedes Wissensgebiet andere Resultate ergibt.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 43).
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schränkung der geschichtlichen Betrachtung gesellschaftlicher Institutionen im Rahmen der Staatslehre zur Folge. Jellinek stand auf rational-evolutionistischem Standpunkt und war der Ansicht, daß die historische Erforschung zum wissenschaftlichen Verständnis der menschlichen Institutionen notwendig sei.346 Da er für dieses Verständnis jedoch nicht lückenloses Wissen über die Vergangenheit für erforderlich hielt, kritisierte er die allgemeine Rechtsvergleichung, wie sie etwa von Kohler betrieben wurde, wegen ihrer ausufernden universalgeschichtlichen und ethnologischen Betrachtungsweise. Weder die Kenntnis der Urrechtsperiode noch die Untersuchung entfernter Kulturkreise sei erforderlich, wenn man die heutigen Erscheinungen des Staates und des Rechts verstehen wolle.347 Hinter solchen Bemühungen zeigt sich nicht selten auch der Präformationsgedanke wirksam, wonach – da es sich um eine Entfaltung aus ursprünglichen Keimen handelt – das Studium jedes Rechtsinstituts im Hinblick auf seine gesamte Entwicklung betrachtet werden muß. Hiergegen wandte sich Jellinek. Durch Bezugnahme auf den Zweck rechtlicher Einrichtungen schuf er gewissermaßen den Gegenstandsbereich der sozialwissenschaftlichen Betrachtung: Dadurch scheiden sich die Erscheinungen in wertvolle und wertlose Tatsachen, denn nur die innerhalb desselben, noch der gegenwärtigen Konzeption der Institution zugrundeliegenden Zwecks vor sich gehende Veränderung sei für die geschichtliche Erkenntnis des Gegenstandes von Interesse. Ansonsten handele es sich lediglich um einen rein äußerlichen Zusammenhang mehrerer zeitlich auseinander liegender Ereignisse.348 Unter Entwicklung könne daher nicht schlicht eine konstante Änderung des Rechts verstanden werden, wie beispielsweise Kohler dies getan habe.349 Der Entwicklungsbegriff sei für die Sozialwissen346 „Ausdrücklich oder unausgesprochen liegt aller geschichtlichen Denkungsart die Überzeugung zugrunde, daß die Geschichte uns nicht bloß eine Abfolge von Erscheinungen, sondern deren lebendige Ausgestaltung, ihr Wachsen und Vergehen, zu lehren habe.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 42 f.) Diese Vorstellung beruhe auf dem fortschreitenden Sieg der „evolutionistischen Denkweise“ (ebd., 42). „Wenn man von den Lehren der Geschichte spricht, so hat man damit – bewußt oder unbewußt – das typische Element in den menschlichen Dingen vor Augen. Nur weil unter ähnlichen Bedingungen Ähnliches sich wiederholt, kann überhaupt die Geschichte zur Lehrmeisterin werden.“ (ebd., 41) Durch die typisierende Forschungsweise gelangte Jellinek über die idiographische Betrachtungsweise hinaus. Damit gibt es in sozialen Dingen zwar keine Gesetzmäßigkeit, aber analoges Geschehen, Vorgänge, die im Hinblick auf bestimmte allgemeine Merkmale zusammengefaßt werden können. 347 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 21 ff., 45. 348 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 43. Was vor dieser Entwicklung liege, diene nicht mehr der Erfassung der Gegenwart. „Wenn ich den Ursprung der Adoption aus dem Ahnenkult erkannt habe, so wird mir das Wesen der heutigen Adoption um nichts verständlicher, da jeder lebendige Zusammenhang der Gegenwart mit jenen entschwundenen religiösen Zuständen mangelt. Ebensowenig sind die Forschungen über Raub- und Kaufehe für die Erkenntnis unserer heutigen Ehe von Bedeutung.“ (ebd., 45 f.). 349 Vgl. Jellineks Hinweis auf Kohler, Das Recht als Kulturerscheinung, 23 f.: „Dies wird genügen, um zu zeigen, daß das Recht nichts Stabiles ist, dass es vielmehr eine ständige Entwicklung aufweist, ein ständiges Auf- und Abstreben, ein ständiges Fluthen der Ideen, wo eine Welle die andere drängt und wo Kronos seine eigenen Kinder verzehrt. Aber alle diese
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schaften nur als „Wertbegriff“ brauchbar.350 Das hinderte Jellinek allerdings nicht daran, am Fortschritt als Weltanschauungsbegriff festzuhalten.351 c) Rechtsphilosophie: Entwicklung als „heuristische Maxime“ (Stammler) Stammler gebrauchte den Begriff der Entwicklung ebenfalls nicht zur Bezeichnung tatsächlicher Vorgänge, sondern sah in ihm eine „heuristische Maxime“352. „Wir aber nehmen diesen (scil. den Gedanken der gesellschaftlichen Entwicklung) überhaupt nicht als Mitteilung von etwas tatsächlich Geschehenem und nicht als Ausmalung von kommenden Ereignissen, die vielleicht jetzt schon festgestellt werden könnten.“353 Schon die Feststellung einer Rechtsentwicklung ist nach Stammler nicht auf reine Beobachtung zurückzuführen, sondern setzt ein systematisches Urteil des Richtigen voraus. Daher konnte die tatsächliche EntwicklungsbeZwischenstufen, die im Meere der Zeit versinken, haben mitgeholfen zur Erreichung grosser Ziele, und was untergeht, lebt in einem Höheren, in einem Vollkommeneren weiter.“ 350 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 43, Fn. 1. Allerdings belegte Jellinek den Entwicklungsbegriff mit bestimmten Attributen, die auf einen naturwissenschaftlichen Einfluß hinweisen, denn Jellinek sah Entwicklung durch Veränderung vom Einfachen zum Komplizierten, durch wachsende Größe, Zeitdauer, Intensität einer Erscheinung, steigende Mannigfaltigkeit, Leistungsfähigkeit und Zweckmäßigkeit einer Institution gekennzeichnet, während Zurückbildung nicht unter den Entwicklungsbegriff falle (ebd., 43.). Damit erfährt die geschichtliche Betrachtung durch den Entwicklungsbegriff eine Bewertung. Auch Jellineks Entwicklungsbegriff nimmt also wertende Elemente auf. Das ist aber insofern unverfänglich, da es sich dabei nicht um der tatsächlichen Entwicklung zugrundeliegende Prinzipien handelt, sondern diese Wertungen in der Begründung als Wertbegriffe transparent bleiben. 351 „Eine spekulative Anschauung, die, wenn auch nur zur hypothetischen Vollendung unseres Wissens, niemals gänzlich entbehrt werden kann, wird in solchem Wandel eine aufsteigende Entwicklung behaupten können. Mit den Mitteln empirischer Forschung hingegen wird in vielen Fällen nur Änderung, nicht Entwicklung nachzuweisen sein. Daß der mittelalterliche Staat, verglichen mit dem antiken, eine höhere Entwicklungsstufe sei, wie oft behauptet wird, wird schwerlich mit Erfolg nachgewiesen werden können. Aber er war etwas wesentlich anderes als der antike Staat, wies Erscheinungen auf, die nach keiner Richtung hin in diesem bereits im Keime vorhanden waren.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7, vgl. auch ebd., 262 sowie ders., Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 24 f. und ders., Die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden I, 40 f.). 352 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 368. 353 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 370. Entsprechend seiner Unterscheidung von naturwissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Betrachtungsweise (Erkennen und Wollen) verbot sich für Stammler ein Rückgriff auf die naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorien (ebd., 369 f.). Von den Prinzipien der naturwissenschaftlichen Deszendenztheorie sei in Beziehung auf die innere politische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten nichts zu lernen, denn es handele sich dabei um bloß naturwissenschaftliche Erkenntnis und die einheitliche Erfassung von Wahrnehmungen. Politik und Gesetzgebung nähmen aber Bezug auf das soziale Leben, auf ein Wollen und stünden daher unter grundlegend verschiedenen allgemeingültigen Bedingungen.
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trachtung nach Stammler für die Frage der Richtigkeit des Rechts auch nichts austragen.354 Nach Stammlers Auffassung bedeutet der Entwicklungsbegriff nicht nur Veränderung und Verursachung, sondern beinhaltet selbst bereits ein Werturteil.355 Begrifflich sei die Entwicklung auf einen festen Punkt bezogen und bedeute die Annäherung an eine dabei notwendige, vorherige Zweckbestimmung.356 „Das bloße Werden nach natürlichem Gange ist wirr und führerlos. Und wer immer es sich anquält, gewaltsam jenes bloß zu sehen und vor dem elementar sich aufdrängenden Gedanken des Zweckes den Kopf zu verbergen: Er selbst bringt ihn mit dem Begriffe der Entwickelung, wie wir sahen, wieder in seine Forschung hinein.“357 Ebensowenig wie der Zweckgedanke den Erscheinungen anhänge, sei auch die Betrachtung desselben in der Entwicklung nichts an sich Bestehendes, sondern entstamme erst einer synthetischen Bewußtseinstätigkeit. Die Leistung des Entwicklungsbegriffs lag nach Stammlers Auffassung in der Herstellung von Einheit in der geschichtlichen Betrachtung, andernfalls die Geschichte nur eine „unübersehbare Masse, stetig sich vermehrender, besonderer Fälle“358 biete. Da für Stammler „Entwicklung“ die Annäherung an einen Zweck bedeutet, sah er in dem Begriff der Entwicklung die Möglichkeit, historische Abläufe im Hinblick auf das Ziel des „sozialen Ideals“ zur Darstellung zu bringen. Der Gedanke der Entwicklung diente ihm als „heuristische Maxime“359, insofern es sich um „eine ideale Anleitung zur Beobachtung des Werdens von Erscheinungen der Natur oder des Auftretens von Mitteln und Zwecken in der Gesellschaft“360 handelte. Im Bereich des sozialen Lebens bedeute der Begriff der Ent354 Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: Systematische Rechtswissenschaft (Hg. Hinneberg) 1. Aufl., S. XLVI. Hier wandte er sich auch gegen die Vorstellung einer Naturnotwendigkeit der Entwicklung zu höheren Zwecken, wie Liszt sie angenommen hatte. 355 „Der Begriff der ,Entwicklung‘ führt also die Verwendung von ,höheren‘ und ,niederen’, von ,wertvollen‘ und ,unrichtigen‘ Zuständen notwendig mit sich. Er bewegt sich in Werturteilen, deren Möglichkeit und methodische Bedingungen bei seiner Anwendung einfach vorausgesetzt werden. Ob etwas ,richtiger‘ oder ,höher‘, als ein anderes ist, das kann nicht einfach durch die Bewegung von dem einen zu dem anderen, oder umgekehrt, bewiesen werden, sondern für das eine und für das andere in systematischer Bestimmung nach einem methodisch maßgeblichen Grundgesetz. Für unsere Frage kommt es dabei, wie wir genau dargelegt haben, auf die Harmonie eines besonderen rechtlichen Wollens mit dem allgemeinen Grundgedanken des Rechtes an. Folglich ist dieser es auch, der für ein begründetes Urteil, ob eine rechtliche ,Entwicklung‘ zu einem ,höheren‘ Zustand vorliege, die logische Bedingung abgibt, und nicht umgekehrt.“ (Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: Systematische Rechtswissenschaft (Hg. Hinneberg) 1. Aufl., S. XLV f.). 356 Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: Systematische Rechtswissenschaft (Hg. Hinneberg) 1. Aufl., S. XLV.; ders., Die Lehre von dem richtigen Rechte, 368. 357 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 372. 358 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 368. 359 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 368. 360 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 368.
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wicklung daher nicht Bewegung und zeitliche Aufeinanderfolge, sondern die Vervollkommnung im Hinblick auf ein ideales Ziel. Wenn Stammler nun die gesellschaftliche Entwicklungslehre als „die Auffassung der sozialen Geschichte als Fortschreiten der Menschheit zum Besseren, zum Richtigen“361 bezeichnete, so darf das nicht dahin gehend verstanden werden, daß er sich darunter einen notwendigen Prozeß vorstellte. Stammler ging nicht von der zuverlässigen Tatsache des Fortschritts aus.362 Es ging ihm vielmehr darum, den historischen Verlauf im Hinblick auf das soziale Ideal zu betrachten.363 Für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte bedeutet dies nach seiner Auffassung: „In einheitlichem Gedankenzuge schalten sich danach die mannigfachen sozialen Mittel zum Fortschreiten nach dem Besseren ein. Was immer an einzelnen Rückschlägen kommen mag, durch Verirrung in besonderen Taten oder durch die unerschöpften Neuaufnahmen zurückgebliebener Völker, Klassen, Menschen: Für das Ganze des sozialen Wollens bleibt die Maxime einer vorschreitenden Betrachtung unerschüttert.“364
VI. Entwicklung und richtiges Recht – Zusammenfassung zur Bedeutung des Entwicklungsbegriffs 1. Entwicklung und Normativität Nachdem die naturalistischen und idealistischen Entwicklungstheorien in ihrem zeitgenössischen Kontext dargestellt worden sind, soll nun abschließend die Bedeutung des Entwicklungsbegriffs festgehalten werden. Der Gedanke der Entwicklung reduziert die Kontingenzerfahrung einer unkalkulierbar veränderlich erscheinenden Lebenswelt, die mit der Historisierung allen Geschehens verbunden war, 361 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 369. Frommel sieht hierin jedoch ein Bekenntnis und nicht nur ein methodisches Mittel (Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion, 186 f., Fn. 82; ebenso bereits Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 309). 362 Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, in: Systematische Rechtswissenschaft, (Hg. Hinneberg) 1. Aufl., S. XLVII. 363 Stammler verdeutlicht dies an folgendem Beispiel: „Wie sich der Mensch, den man in seinen jungen Jahren vor sich sieht, dereinst einmal entwickeln wird: Wer will sich vermessen, das mit begründeter Bestimmtheit zu sagen. Ob seine Entwicklung zum Guten oder zum Schlechten führen möge: Ich weiß es nicht! – Dieses aber kann ich wissen, daß kein Urteil über solche Entwicklung mit Fug gefällt werden kann – sei es als Wunsch, als Hoffnung oder Befürchtung, sei es im späteren Rückblicke – , ohne daß der Verlauf seines Wollens und der Gang von dessen Betätigung daran gemessen und gerichtet wird, ob er der festen Zweckbestimmung seines Seins, seines Sollens, mehr oder geringer sich angenähert und angepaßt hat. Und andererseits ist es sicher: Daß mit der Festhaltung solchen Zieles es möglich und allein zulässig ist, das Ganze seines Lebens als eine Entwicklung und damit als eine Einheit zu nehmen.“ (Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 370). 364 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 370.
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indem mit ihm Strukturen und Sinndeutungsgerüste zur Einordnung des historischen Materials bereitgestellt wurden. Sie sollten eine Standortbestimmung und überdies eine Orientierung über den weiteren Entwicklungsverlauf ermöglichen. Der Entwicklungsgedanke, der das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft bildet, wird dabei zum methodischen Mittel, das eine Verbindung zwischen gegenwärtiger Rechtswirklichkeit und zukünftiger Gestaltung schaffen soll. Auf diese Weise schlägt die historisch-empirische Untersuchung in eine normative Betrachtung um, was der Entwicklungsbegriff gedanklich jedoch nur dann leisten kann, wenn er werthafte Elemente beinhaltet, die die Entwicklung selbst als normativ maßgeblich ausweisen.365 So hat beispielsweise für die Historische Schule die geschichtliche Betrachtung hauptsächlich deshalb über die richtige Ausgestaltung des Rechts belehren können, weil sie mit der Vorstellung des organischen Wachstums ein spezifisches Verständnis sozialen Wandels formuliert und den Gedanken der Identität und Kontinuität innerhalb der Entwicklung eines Volkes in den Vordergrund gestellt hat. Insofern die Rechtsentwicklung von ihr als organisches Werden beschrieben wurde, erlangte Kontinuität die Qualität eines Prinzips der Rechtsgestaltung.366 Auch in den naturalistischen und idealistischen Entwicklungstheorien sind derartige Hypothesen über sozialen und geschichtlichen Wandel wirksam, die sich auf Ziele und Mechanismen der Entwicklung beziehen und für die Möglichkeiten der Rechtsgestaltung entscheidende Bedeutung erhalten. Dabei kommt der zum Teil nur im Hintergrund theoretisch angedeuteten Annahme, sozialer Wandel lasse sich als Ausprägung allgemeiner Gesetze oder übergeordneter Wirkungsmächte verstehen, eine entscheidende Bedeutung zu, die einen Vorgriff auf weitere Veränderungen erlauben soll. Im Mittelpunkt der Ausführungen stehen jedoch eher pragmatisch unmittelbar verwertbare Entwicklungstendenzen und beobachtete Regelmäßigkeiten, die für die Rechtsgestaltung fruchtbar gemacht werden. Die letzten Ziele des historischen Verlaufs bleiben – ausgenommen für Kohler – unerkennbar; die Entwicklungsbetrachtung eröffnet jedoch scheinbar die Möglichkeit, aus dem bisherigen Entwicklungsabschnitt die Richtung auf ein Ziel hin ablesen zu können, so daß damit eine Teleologie verschleiert wird, indem die in der augenblicklichen Entwicklungstendenz liegenden Ziele aufgegriffen werden. Die Frage, warum diese Ziele auch zu befördern seien, beantwortet sich mit der Feststellung der eigendynamischen Entwicklung. Recht wird als Ausdruck anthropologischer, gesellschaftlicher Mechanismen oder übergeordneter Wirkungszusammenhänge verstanden; es wird bis zu einem gewissen Grad daher eher gefunden und ist nicht frei konstruierbar. Die bei der vorgeblich voraussetzungslosen Betrachtung des historischen und sozialen Verlaufs vermiedenen Wertungen liegen jedoch bereits in den zugrundeliegenden Entwicklungskonzepten und Weltan365 Historischer Überblick zur Sein-Sollens-Frage in der Rechtswissenschaft bei Fikentscher, Methoden des Rechts III, 12 ff. Vgl. zum Verhältnis von Normativität und Empirie die Klassifikation bei Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900, 217 ff. 366 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft, 112 ff.
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schauungen, die die aufgrund der Entwicklungsbetrachtung gewonnenen Ergebnisse als notwendig oder wertvoll rechtfertigen. Daher bleibt nunmehr zusammenzufassen, worauf die normative Relevanz der Ergebnisse bei Merkel, Liszt, Berolzheimer und Kohler gestützt ist.
2. Die besondere Interpretation der Wirklichkeit a) Übertragung naturalistischer Vorstellungen Bei der Vorstellung einer „natürlichen“ Entwicklung liegt der Verdacht nahe, daß die vermeintlich rein deskriptive, weltanschauungsfreie Darstellung bereits auf tatsächlicher Ebene normativ angereichert ist. Denn durch die Voraussetzung eines naturgesetzlich verbundenen Ganzen wird der wirklichen Entwicklung eine Bedeutung beigemessen, die nicht aus der bloßen Betrachtung resultiert, sondern aus der vorausgesetzten naturalistischen Auffassung, die verschiedenen Rechtsbildungen ließen sich als Ausprägungen dem Anspruch nach allgemeingültiger Gesetze interpretieren. Mit der naturalistischen Entwicklungsbetrachtung wäre dann aufgrund der Annahme der Gesetzmäßigkeit gleichzeitig impliziert, daß der Verlauf und ihre Ziele auch zu befördern bzw. wertvoll seien. Diese Vermutung bestätigt sich im Falle Liszts. Wie gesehen, handelt es sich bei Liszts Vorstellung von Gesetzmäßigkeit allerdings lediglich um eine Hypothese, die er aus der Übereinstimmung der Rechtsentwicklung bei verschiedenen Völkern ableitete, womit er ein als naturgesetzlich verknüpftes Gebilde als Ganzes voraussetzte, was jedoch erst noch zu beweisen gewesen wäre. Die darüber hinaus seinem Entwicklungsdenken zugrunde gelegte Annahme, jede weitere Stufe stelle auch gleichzeitig einen höheren Grad der Entwicklung dar, bedeutet ein Wertungsmoment, das er durch die Übertragung der biologischen Selektionstheorie auf die soziale Entwicklung und die empirische Betrachtung einer zunehmenden Komplexität der historischen Erscheinungen stützte. Liszt sah daher in der Entwicklung der Strafe von der Trieb- zur Zweckhandlung die Grundlage für die richtige Gestaltung des Rechts. Durch die Beschreibung als „natürlich“ und „gesetzlich ablaufend“ erhält die Entwicklung einen Eigenwert zugesprochen, dem die Rechtsgestaltung folgen muß, und zwar nicht bloß aufgrund menschlichen Kalküls, sondern gerade weil sich diese mehr oder weniger zuerkannte Eigengesetzlichkeit vollständiger menschlicher Beeinflussung entzieht. Auch wenn die Übertragung naturalistischer Vorstellungen bei Merkel wesentlich zurückhaltender durchgeführt ist und immerhin die grundlegenden Bedingungen einer gesetzmäßigen Entwicklung bestimmt werden, führt auch hier die Annahme eines naturgesetzlich verknüpften Ganzen zu einer klaren Überschreitung der empirischen Beschreibung, die von den biologischen Entwicklungstheorien inspiriert ist. Daraus resultiert auch die von Merkel der Entwicklung beigelegte Tendenz der Steigerung von Komplexität und gleichzeitiger Synthese. Allerdings findet sich hier der Vorwurf, Merkel meine, die
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Entwicklung „berechnen“ zu können, so nicht bestätigt. Ihm ging es nicht darum, die Entwicklungstendenzen und gegenwärtigen Kulturzustände und Ergebnisse als zwangsläufig oder wertvoll zu erweisen. Sein Anspruch reduzierte sich darauf, auf der Grundlage der Behauptung der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens mit seinen differenzierten Analysen der Vergangenheit die an der Rechtsentwicklung beteiligten Faktoren und Bedingungen sozialen Forschritts zu ermitteln und insofern einer bewußten Steuerung des Rechts dienstbar zu machen. Sowohl Merkel als auch Liszt waren der Auffassung, daß menschlicher Gestaltungsfreiheit die Möglichkeit einer sinnvollen Beeinflussung und Steuerung der weiteren Entwicklung verbleibe, ja erst durch die Einsicht in deren Bedingungen ermöglicht werde. b) Idealistischer Bezugsrahmen – Rechtsidee und Zweckursache Im Bereich der idealistischen Weltbetrachtung wird durch die Prädominanz der metaphysischen Weltdeutung die Wirklichkeit zu einem wertvollen Sein aufgewertet. Als Ganzes vorausgesetzt wird eine universelle Allheit, die sich in den historischen Erscheinungen manifestiert. Die bloße empirische Betrachtung wird durch die Identitätsphilosophie bzw. die Ideenlehre transzendiert und die tatsächliche Entwicklung als teleologischer Verlauf (Kohler) bzw. Entfaltungsprozeß (Berolzheimer) gedeutet. Das Recht wird vor dem Hintergrund dieser Weltdeutung durch die Entwicklungsbetrachtung in den verschiedenen Ausformungen seines Wesens als Mittel der Kulturförderung und „Kraft“ zu erkennen gegeben. Gleichzeitig führt der Entwicklungsgedanke zur Rechtfertigung jeder Kulturperiode als notwendiges Stadium eines sich entfaltenden Ganzen, so daß über den Umweg einer besonderen Interpretation der Wirklichkeit die sich entwickelnde Kultur aufgewertet wird und den Schluß auf ein Sollen ermöglicht. Bei Berolzheimer ist die idealistische Entwicklungsvorstellung überdies durchsetzt von naturalistischen Entwicklungstopoi wie der anthropologischen Erklärung der Kultursteigerung, die Berolzheimer auf die Ersetzung tierischer Instinkte zurückführte. Der Prozeß läuft damit prinzipiell nicht auf ein übergeordnetes Telos zu, Berolzheimer erkannte jedoch in der fortschreitenden Emanzipation der Menschheit das Ziel der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, worin er einen Entwicklungsaspekt der Rechtsidee sah. Freiheit wird so, als vorgeblich voraussetzungslos aus der empirischen Betrachtung abgeleitete Entwicklungstendenz, zu einem Prinzip für das geltende und zu gestaltende zukünftige Recht. Alles, was die tatsächliche – und zudem außerordentlich willkürlich strukturierte – Betrachtung mit dem Anspruch normativer Erkenntnis ausstattet, ist die Einordnung in einen übergeordneten Entwicklungszusammenhang, der die Wirklichkeit über die Konstruktion einer sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich auswirkenden ewigen Rechtsidee mit einer immanenten Werthaftigkeit anreichert und der kulturellen Relativität des Rechts einen normativen Gehalt verleiht. Auch Kohler setzte das Weltganze wie selbstverständlich voraus, machte allerdings, indem er den geschichtlichen Verlauf als Fortschreiten zu einer Vervoll-
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kommnung der Menschheit und zu einer Einheit mit Gott interpretierte, dieses Ziel zur Zweckursache, die die Entwicklung von Anfang an bestimmt. Die Entwicklungsbetrachtung ergibt dabei einen an die Menschen gerichteten Auftrag, die rechtlichen Institutionen kulturfördernd zu gestalten. Kohler widmete sich jedoch nicht der Formulierung von Entwicklungsgesetzen; mit der aus der Entwicklungsbetrachtung abgeleiteten Behauptung, das Recht müsse sich der Kultur anpassen, betonte er gegenüber dem diachronen Aspekt, der bei Berolzheimer in die Formulierung von Entwicklungstendenzen ausmündete, stärker die synchrone Übereinstimmung von Kultur und Recht. Da das Recht eine funktionale Rolle im Hinblick auf die Förderung der Kulturentwicklung einnehmen soll – Kultur aber über das Menschliche hinausgeht und einen metaphysischen Bezug herstellt – tritt der autonome Status des Rechts zugunsten einer funktionalen und dynamischen Bedeutung in den Hintergrund. Die Forderung, daß Recht möge zur Kulturförderung beitragen, bedeutet im Ergebnis Unsicherheit hinsichtlich des Ziels und der zu seiner Erreichung anzuwendenden Mittel. Damit wird auch deutlich, daß entgegen dem eigenen Anspruch der Rechtsgestaltung mit der Entwicklungsbetrachtung keine ausreichende Grundlage gegeben werden kann, was mit dem theoretizistischen Zug der Entwicklungsbetrachtung zusammenhängt. Denn Kohlers und Berolzheimers Entwicklungskonzepte begreifen Recht und Unrecht vorrangig in zeitlichen Kategorien in Abhängigkeit zu der jeweiligen Kultur und nicht als wertendes Urteil. Die Einteilung in Kulturstufen oder die Feststellung, ein Phänomen sei kulturell überholt, ist, abgesehen von den mit der Entwicklungsbetrachtung verbundenen methodischen Problemen, freilich ein retrospektiver Akt, der der zeitlichen Distanz bedarf und daher im Augenblick der Wertentscheidung nur unvollständig verwirklicht werden kann. Die „Eule der Minerva“ beginnt ihren Flug jedoch erst in der Abenddämmerung.
3. Veränderung des Richtigkeitsverständnisses Der Entwicklungsbetrachtung kommt das Verdienst zu, die Relativität des Rechts, den Zusammenhang zwischen Recht und Kultur, zwischen Recht und sozialen Bedingungen ins Bewußtsein gebracht und sich der Struktur rechtlichen Wandels gewidmet zu haben. Dabei mußte die Bedeutung des Rechts innerhalb der Entwicklung neu definiert werden. Das Recht ist nicht länger als organisch mit den kulturellen und sozialen Verhältnissen verbunden gedacht, wie es die Historische Schule angenommen hatte.367 Die Preisgabe dieser Vorstellung setzte verschiedene 367 „Der Einzelne und das Volk leben in und mit ihrem Recht, sie schaffen bzw. setzen nicht Recht zur Verfolgung bestimmter gesellschaftlicher Zwecke. Nicht die Bewegung der Gesellschaft ist hier geschichtsbestimmendes Subjekt und das Recht ihr Mittel, sondern das Recht als überindividuelle geistige Lebensmacht bestimmt seinerseits den Gang der Gesellschaft mit.“ (Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 16).
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Kap. II: Der Entwicklungsgedanke
Teilbereiche frei und deren grundsätzliche Möglichkeit, sich autonom nach eigenständigen Prinzipien zu entwickeln. Die Durchführung einer rein konstruktiven Jurisprudenz – von Savigny und Puchta zunächst als Repräsentation des Volksgeistes durch die Wissenschaft verstanden – wird in ihrer Fortentwicklung als Loslösung des Rechtssystems von seiner gesellschaftlichen Grundlage gedeutet.368 Die Behauptung der organischen Verbindung wird von Bestimmungen über Struktur und Funktion des Rechts als einem Mittel zur Verwirklichung gesellschaftlicher Zwecke und einem Träger der Kulturentwicklung ersetzt. Während Liszt und Merkel den Zweck des Rechts im Verhältnis zur Gesellschaft bestimmten und allein den konkreten Inhalt des Rechts der Entwicklungsbetrachtung entnahmen, erschlossen Berolzheimer und Kohler die Bedeutung des Rechts aus dem historischkulturellen Verlauf. Der Inhalt des Rechts ist insofern keinesfalls beliebig, sondern auf die vorausgesetzte Funktion und Bedeutung – sei es die Verwirklichung gesellschaftlicher Interessen, die Friedenswahrung, die Sicherung der Lebensbedingungen oder die Kultursteigerung des Rechts – bezogen. Die konkreten Rechtsinhalte ergeben sich jedoch aus der jeweiligen geschichtlichen Situation. Daher ist die Suche nach einem absoluten Richtigkeitsmaßstab gerade alles andere als erstrebenswert, die Einnahme eines relativen Standpunktes wird dagegen durch die Entwicklungsbetrachtung, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung im einzelnen, als der einzig mögliche dargetan. Man muß sich dabei vergegenwärtigen, in welchem theoretischen Kontext die Frage nach der Gestaltung des Rechts gestellt und inwiefern sie mit der Frage nach dem richtigen Recht verknüpft wird. Dabei zeichnet sich deutlich eine Veränderung des Maßstabes ab, denn das richtige Recht macht nicht länger seine Übereinstimmung mit der Idee der Gerechtigkeit als einem übergeordneten Prinzip aus. Dadurch, daß das Recht in Funktion genommen wird und den innerhalb einer Kulturstufe verfolgten Zwecken entsprechen muß, gerät der Gerechtigkeitsaspekt eher in den Hintergrund und tritt verstärkt im subjektiven Kulturempfinden der Gesellschaft in Erscheinung. Es zeigt sich, daß sich einzig Berolzheimer klassisch im Rahmen philosophischer Untersuchung mit der Erfassung der Rechtsidee beschäftigte, die sich allerdings im Ergebnis unter dem Einfluß seiner Entwicklungsauffassung auf ein historisch aufweisbares „relatives Kulturrecht“ reduzierte. Kohler wiederum befaßte sich in seinen rechtsphilosophischen Ausführungen nicht mit der Begründung der Gerechtigkeit, sondern der Bedeutung des Rechts innerhalb des Weltprozesses. Dies hat zur Folge, daß die Gestaltung des Rechts allein im Hinblick auf dieses überindividuelle Ziel bewertet wird. Zum Maßstab des Rechts wird für Kohler und Berolzheimer gleichermaßen die Anschauung einer jeden Kulturperiode. Dieses Verständnis eines Rechtsmaßstabes begriffen sie gegenüber dem „starren“, unhistorischen Naturrecht als große Errungenschaft. Merkel widmete sich im Rah368 Zur Berechtigung dieser Einschätzung vgl. die Ausführungen in Kap. I, III. Zu den Einschränkungen im Hinblick auf Puchtas eigene Theorie Landau, Puchta und Aristoteles, ZRG RA CIX (1992), 8 f.
VI. Zusammenfassung zur Bedeutung des Entwicklungsbegriffs
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men seiner „positivistischen Rechtsphilosophie“ der Gerechtigkeitsfrage nur am Rande, denn seine Bestrebungen gingen dahin, den Zusammenhang zwischen sozialen Bedingungen und rechtlicher Ordnung aufzuarbeiten und für eine bewußte Rechtsgestaltung fruchtbar zu machen. Er sah darin einen neutralen und objektiven Maßstab für die soziale Entwicklung; Gerechtigkeitsvorstellungen beruhen demgegenüber auf einem subjektiven Werturteil, das auf die ethischen Anschauungen zurückzuführen ist, aber nicht theoretisch begründet werden kann. Liszt wiederum stellte seine Ausführungen zwar überraschenderweise in den Zusammenhang des „richtigen Rechts“ und kontrastierte sie mit Stammlers Ansatz; er verstand sie jedoch weder als rechtsphilosophischen Beitrag, noch befaßte er sich unter die-sem Etikett mit Fragen der Gerechtigkeit. Der Inhalt richtigen Rechts bestimmte sich nach Liszt durch den vorgesetzten Zweck der Sicherung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens.369 Die Entwicklungsbetrachtung könne hier über die „richtige“ Rechtsgestaltung belehren, insofern sie zu einer bestimmten Zeit zu gegebenem Zweck über das richtige Strafmittel Auskunft gebe. Eine Konkurrenz zu den Darlegungen Stammlers scheidet also von vornherein aus. In dieser Zusammenschau wird deutlich, daß die Entwicklungstheorien, die sich im Rahmen der Entwicklungsbetrachtung den menschlicher Einflußnahme vorgeordneten äußeren Entwicklungsbedingungen als normativen Vorgaben widmen, „Richtigkeit“ aus dem Lebens- und Kulturzusammenhang verstehen, sich von diesen Vorgaben zwangsläufig nicht lösen können und daher weitgehend bei beschreibenden Analysen und Zweckmäßigkeitsüberlegungen verbleiben. Die Beantwortung der Frage nach der Richtigkeit des Rechts durch die Entwicklungstheorien leidet insofern an einer Unterbestimmtheit, als weder die vorausgesetzten Zwecke des Rechts noch die einzusetzenden Mittel einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Indem die Gestaltung des Rechts an gesellschaftliche und kulturelle Tatsachen gebunden wird, wird das Recht der Gefahr einer Ideologisierung ausgesetzt, ohne den Mißbrauch der eigenen Voraussetzungen verhindern zu können.
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Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, ZStW 26 (1906), 555.
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Kapitel III
Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins und der allgemeinen Kulturanschauungen für das Recht Die historische Betrachtung hatte das Bewußtsein für die Bedingtheit der rechtlichen Ordnung und ihrer Fundamentalsätze geschaffen; die Abschiednahme von überzeitlichen Grundsätzen wurde überwiegend nicht als Defizit aufgefaßt, weil eine deduktiv abgeleitete Richtlinie keinen Bezug zu den tatsächlichen Lebensverhältnissen mehr aufzuweisen schien. Gleichzeitig hatte die Entwicklungsbetrachtung objektive Wertungen und Anhaltspunkte für die Rechtsgestaltung liefern sollen, indem sie über die Bedeutung des Rechts im entwicklungsgeschichtlichen und sozialen Kontext Aufschluß geben und weitergehend auch über Tendenzen, Regelmäßigkeiten, Typen und allgemeine Grundsätze der Rechtsentwicklung belehren sollte. Neben dem Entwicklungsgedanken zeigt sich dabei durchgängig ein weiterer Topos, der damit in engem Zusammenhang steht: Es sind die allgemeinen Gerechtigkeits- und Kulturanschauungen, die zunächst lediglich relative Standpunkte innerhalb der Entwicklung markieren. In Hervorhebung der Übereinstimmung zwischen Recht und Kultur hatten Berolzheimer und Kohler den Maßstab des Rechts in der der Entwicklung entsprechenden Kulturanschauung gesehen. Bei Merkel und Liszt ergab sich hier im Verhältnis zu der erkannten Entwicklungsrichtung ein gewisses Spannungsverhältnis, denn der von ihnen erarbeitete Maßstab hing nach ihrer eigenen Vorstellung von der Empfindungsweise jeder Generation bzw. dem Rechtsbewußtsein der Kulturvölker ab.1 In diesem letzten Kapitel soll nun die Untersuchung des Entwicklungsdenkens vertieft werden, indem mit den allgemeinen Rechts- und Wertvorstellungen dessen subjektiver Aspekt eingehender betrachtet wird.2
1 Diese Friktion verzeichnet Dornseifer für Merkel: So könne der Gesetzgeber oder die sonstige Autorität richtiges Recht jedenfalls nicht aus der erklärten Entwicklungsgeschichte ableiten, wenn die Mehrheitsmeinung dieser Erkenntnis entgegenstünde (Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 77). 2 Dabei werden die Ansätze Merkels, Berolzheimers und Kohlers weiter verfolgt, Liszts Ausführungen hierzu verbleiben bei Andeutungen.
I. Der Volksgeist der Historischen Schule
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I. Der Volksgeist der Historischen Schule und die hervortretende Bedeutung des Rechtsgefühls Die Vorstellung allgemeiner Kulturanschauungen erweckt zunächst Assoziationen an das Konzept der Historischen Schule. Der Gedanke der Historischen Schule, das Recht sei als organische Lebensäußerung eines darüber hinaus als kulturell-ideale Einheit verstandenen Volksgeistes zu begreifen, stieß nun jedoch durchweg auf Ablehnung. Die Historische Schule hatte gegenüber den naturrechtlichen Konstruktionen den Charakter des Rechts als Produkt des Volkes hervorgehoben und damit auch die Verbindlichkeitsfrage auf plausible Weise gelöst. Dabei hatte sie den Gedanken des Volksgeistes aufgegriffen und ihn als Quelle des Rechts in den Mittelpunkt gerückt mit der Folge, daß das solchermaßen begründete Recht der staatlichen Gesetzgebung vorgeordnet war. Mit dem Begriff des Volksgeistes war allerdings keineswegs die Vorstellung einer empirischen Durchschnittsmeinung verbunden, es war kein Sammelbegriff für die Einheitlichkeit kultureller Tradition und historischer Erfahrung, sondern ein „idealer Kulturbegriff“3. Puchta sah in dem „nationellen Rechtsbewußtsein“4 eine durch die natürliche Verbindung der Vereinigten geprägte nationale Überzeugung.5 Diese Konstruktion erlaubte es ihm, ein analytisches Verhältnis zwischen dem Volks- und dem Rechtsbegriff zu behaupten: „Denn sobald man ein Volk als wirklich anerkennt, so schreibt man damit dem Volksgeist eine Thätigkeit zu, daher eine gemeinsame 3 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 393; Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 15 f. H. H. Jakobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 51 ff., 101 ff. Vgl. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, 30 f. In der Totalität der einzelnen erblickte Savigny nur eine Gesamtheit des gegenwärtigen Augenblicks (ebd., 31). Die von Savigny gemeinte Einheit ist eng mit dem Begriff der Tradition verbunden: Sie gehe durch die einander ablösenden Geschlechter hindurch und verbinde Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft (ebd., 20). Rückert hält diese Lehren für „in Wahrheit elitär und ideologisch“, da „die Rückbindung ans Volk nicht das wirkliche Volk zur Geltung bringt“ (Rückert, Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys, ZRG GA 103 (1986), 239). 4 Puchta, Gewohnheitsrecht II, 19. 5 Vgl. Puchta, Vorlesungen über das heutige römische Recht I, 22 f.; vgl. auch ders., Cursus der Institutionen, 24. „Die Glieder eines Volkes sind durch eine gemeinsame Geistesrichtung (Volkscharakter) verbunden. Gewisse Ansichten und Ueberzeugungen, oder wenigstens Empfänglichkeiten dafür und Keime sind ihnen als Volksgliedern angeboren.“ (ders., Vorlesungen über das heutige römische Recht I, 23) „Die Rechtssätze beruhen auf einer gemeinsamen Ueberzeugung, vermöge deren die in rechtlicher Gemeinschaft Stehenden eine Vorschrift als rechtliche Norm anerkennen.“ (ebd., 22) Zu Puchtas Rechtsquellentheorie und zur Bedeutung der Repräsentation des Volkes durch den Juristenstand Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 70 ff.; Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 84 f. Vgl. auch J. Schröder, Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre. Gesetzgebungs- und Rechtsquellentheorie im 17. und 18. Jahrhundert, ZRG GA 109 (1992), 1 ff. Die Renaissance des Gewohnheitsrechts in der Historischen Schule habe eigentlich nicht mehr dem Volksrecht, sondern dem wissenschaftlichen Recht gegolten (ebd., 47).
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
Überzeugung über moralische und rechtliche Freiheit; und da das Gewohnheitsrecht diese Überzeugung gerade in ihrer unmittelbaren, natürlichen Gestalt ist, so ist mit dem Volk nothwendig auch das Gewohnheitsrecht gegeben.“6 Damit beantwortete sich auch die Frage nach der Gültigkeit des Rechts von selbst.7 Eine derartige homogene Kategorie, wie Savigny und Puchta sie mit dem Volksgeist vorausgesetzt hatten, war jedoch angesichts der gesellschaftlichen Disparität und der zunehmenden Kontroversen im Hinblick auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die besonders im Kulturkampf und der sozialen Frage zutage traten, nicht mehr verfügbar.8 Anstelle verschiedener nationaler Überzeugungen schien vielmehr ein durch die Nationen laufender Klassenkonflikt sichtbar zu werden. Als allgemeine Wert- und Geltungsgrundlage war die gemeinsame Rechtsüberzeugung aufgrund der in den Vordergrund getretenen pluralen Gesellschaftsstruktur daher in höchstem Maße unglaubwürdig geworden. Mit dem Vordringen eines etatistischen Rechtsbegriffs trat damit zugleich die Rechtsquellenlehre der Historischen Schule in den Hintergrund und verlor ihre autonome Stellung gegenüber den Festlegungen des Gesetzgebers.9 Gegenüber diesen rein machtgestützten Imperativen konnte Autonomie nur über eine „subjektiv begründete überpositive Rechtsgewißheit“10 behauptet werden. Auf diesen Umstand führt Landau die verstärkte Diskussion des Rechtsgefühls nach 1871 zurück.11 Wie dabei die Auseinandersetzung zwischen Jhering und Rümelin zeigt, wurde die Be6 Puchta, Gewohnheitsrecht I, 181. Ein Mißverständnis wäre es jedoch zu glauben, die Gewohnheit erzeuge den Rechtssatz. Die Gewohnheit ist für Puchta lediglich Zeugnis für eine bestehende Rechtsüberzeugung, weshalb seine Konzeption auch als „Gewohnheitsrecht ohne Gewohnheit“ bezeichnet worden ist (Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 71). 7 Puchta, Gewohnheitsrecht I, 181. 8 Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 83. „Wurden wesentliche gesellschaftliche Kräfte wie der politische Katholizismus und die Sozialdemokratie als ,Reichsfeinde‘ diffamiert, so konnte Recht nicht durch gemeinsame Rechtsüberzeugung geschaffen werden.“ (ebd., 83). 9 Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 83. 10 Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 83. Zum Verhältnis von Autonomie und Recht vgl. Kaufmann, Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 1 ff. 11 Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 83 f. Landau bezieht sich dabei auf Rümelin und Jhering. Vgl. z. B. auch Gierke: „Das Rechtsbewusstsein verhält sich zum Recht nicht nur kritisch: es verwirft bestehendes Recht als unzweckmäßig und wünscht seine Aenderung, es verdammt sogar geltende Satzungen als ungerecht und fordert ihre Vernichtung. Ohne diese Autonomie des Rechtsgefühls gegenüber dem Recht gäbe es keinen Fortschritt der Rechtsgeschichte. Allein Recht wird jedes noch so begründete und noch so einstimmige Postulat erst dann, wenn es sich in Gesetz oder Gewohnheit seinen Körper erringt. Und auch das ungerechte Recht bleibt Recht, bis es formell beseitigt wird.“ (ders., Naturrecht und deutsches Recht, 10).
I. Der Volksgeist der Historischen Schule
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deutung des Rechtsgefühls zunächst wesentlich in der rechtskritischen Stellungnahme gegenüber dem geltenden Recht gesehen. Heftig umstritten war hier die Herkunft des Rechtsgefühls und zwar, ob es sich dabei um einen angeborenen Rechtstrieb oder um ein erst im Laufe der Entwicklung unter dem Einfluß rechtlicher Ordnung entstandenes Urteilsvermögen handele. Rümelin12 hatte die von Jhering später als Nativismus bezeichnete Auffassung vertreten.13 Er war von einem angeborenen „sittlichen Ordnungstrieb“14 ausgegangen, der neben dem nach innen gekehrten Gewissen das auf die äußere Ordnung gerichtete Rechtsgefühl umfasse.15 Darin sah Rümelin die ursprüngliche Quelle aller Rechtsbildungen.16 Bezeichnenderweise hielt Rümelin die Begriffe Rechtsidee, Rechtsbegriff und Rechtsbewußtsein für gleichbedeutend, denn es handelt sich eben lediglich um ein menschliches Streben nach sozialen Ordnungsprinzipien.17 Ausführungen wie 12 Gustav Rümelin (1815 – 1888) war Theologe und wurde 1848 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Er war anschließend schulpolitisch im Kultusministerium tätig, bis er schließlich 1867 einen Lehrauftrag an der Universität Tübingen bekam, wo er statistische, soziologische, psychologische und rechtsphilosophische Vorlesungen hielt. 1870 wurde er Kanzler der Universität, in dieser Funktion hielt er 1871 auch die angesprochene Rede. 13 Rümelin, Über das Rechtsgefühl, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit, Reihe Deutsches Rechtsdenken (Hg. E. Wolf), 5 ff. Jhering unterschied innerhalb der nativistischen Ansicht drei Spielarten: die naive, die davon ausgehe, daß die höchsten Rechtsprinzipien angeboren seien, die evolutionistische, nach der diese Prinzipien nur im Keim vorhanden seien und sich erst im Lauf der Geschichte und in der philosophischen Betrachtung erschlössen, und schließlich die formalistische, der zufolge lediglich ein sittlicher Trieb ohne Inhalt vorliege (Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 15 ff.). Jhering wandte sich gegen die allen drei Ansichten gemeinsame Annahme, daß dem Menschen eine bestimmte sittliche Ausstattung angeboren sei. Zu dieser Kontroverse auch Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung, 1 ff. 14 Rümelin, Über das Rechtsgefühl, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit (Hg. E. Wolf), 11. 15 Rümelin, Über das Rechtsgefühl, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit (Hg. E. Wolf), 11 f., 17. 16 Rümelin, Über das Rechtsgefühl, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit (Hg. E. Wolf), 20. Rümelins Ausführungen haben eine volksrechtliche Tendenz und stehen im Zusammenhang mit seiner Befürchtung, daß die logisch-technische Fortentwicklung des Rechts, die sich aufgrund seiner im Lauf der Geschichte zunehmenden Komplexität ergeben habe, dazu führe, daß die von der ursprünglichen psychologischen Wurzel geschiedene Rechtswissenschaft die Berührung mit dem Rechtsgefühl des Volkes verliere und sich in einer unzugänglichen Begriffswelt isoliere (ebd., 19). Dabei wollte Rümelin nicht das geübte Rechtsgefühl der Juristen mit dem naiven des Volkes eintauschen, er plädierte jedoch für die Abfassung von Gesetzbüchern in gemeinverständlicher Sprache, die Öffnung der Gerichtssäle, und vor allem wies er auf den Widerspruch des römischen Rechts mit den gesellschaftlichen Verhältnissen hin (ebd., 21). 17 Rümelin, Über das Rechtsgefühl, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit (Hg. E. Wolf), 18. Im Rechtsgefühl erblickte er die Grundlage für eine „ideale, kritische Forderungen stellende Gerechtigkeit“, die nichts anderes sei „als der abstrakte ideale Begriff des Rechtes selbst, wie wir ihn unter den Impulsen des in uns liegenden sozial-sittlichen Ordnungstriebs, den wir Rechtsgefühl nennen, frei konstruieren und mit den Merkmalen der Gleichheit, der Gegenseitigkeit, der Vergeltung, der Proportionalität von Handlung und Gegenhandlung ausstatten . . .“ (Rümelin, Über die Idee der Gerechtigkeit, in: Rechtsgefühl und Gerechtigkeit (Hg. E. Wolf), 39).
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
diese veranlaßten Bergbohm zu der polemischen Feststellung, daß der Begriff der Rechtsidee sich von denen des Rechtsgefühls oder Rechtsbewußtseins nur noch durch „den vornehmeren Klang des Wortes“18 unterscheide. Im Gegensatz zu Rümelin sah Jhering im Rechtsgefühl ebenso wie in den Rechtsideen ausschließlich ein Produkt historischer Erfahrung: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl . . .“19 Es bilde sich erst unter dem Einfluß einer herrschenden Rechts- und Kulturauffassung heraus und sei damit das Ergebnis eines gesellschaftlichen, innerhalb eines rechtlichen Rahmens stattfindenden Aneignungsprozesses und nicht dessen Ausgangspunkt20, weshalb Schelsky es als „Sekundärphänomen“21 gegenüber der geltenden Rechtsordnung bezeichnet hat. Während für Rümelin Gerechtigkeit wesentlich durch eine angeborene, subjektive Fähigkeit gewährleistet war, sah Jhering den Zwiespalt zwischen der Rechtsord18 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 454, Fn. 35, und 457, Fn. 37. Ebd., 454 ff. auch eine grundsätzliche Kritik zur Vorstellung eines angeborenen Rechtsgefühls und der Rechtsidee. 19 Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, S. X. „. . . jeder vorhergehende Zweck erzeugt den folgenden, und aus der Summe alles einzelnen ergibt sich später durch bewußte oder unbewußte Abstraktion das Allgemeine: die Rechtsideen, die Rechtsanschauung, das Rechtsgefühl.“ (ebd., S. X) Ebenso ders., Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 11, 18 f. 20 Jhering, Der Zweck im Recht II, 87 f.; ders., Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 18 f. 21 Schelsky, Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3 (1972), 60 ff. Die Quelle des Rechts liegt nach Jhering allein in den praktischen Zwecken, die ursprünglichen rechtlichen Einrichtungen seien auf den Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen und nicht auf ein angeborenes Rechtsgefühl (Jhering, Der Zweck im Recht I, Vorrede, X). Darüber hinaus schrieb Jhering dem Rechtsgefühl aufgrund seiner Abstraktionsleistung eine evolutive Bedeutung zu (Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles, 45, 19; ders., Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, 26). Diese Position hat Behrends als „kritischen Positivismus“ bezeichnet (Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends), 70, 81 f.). Gegen die Einordnung Jherings als Positivisten: Dreier, Jherings Rechtstheorie – eine Theorie der evolutionären Rechtsvernunft, in: Jherings Rechtsdenken (Hg. Behrends), 233 f., vgl. dazu die Erwiderung Behrends, War Jhering ein Rechtspositivist?, ebd., 235 ff. Zur rechtspolitischen Relevanz des Rechtsgefühls Behrends, ebd., 138 ff. Das Verhältnis von Rechtsgefühl und Recht umschrieb Jhering mit dem Bild eines Wanderers. Der Wanderer, der das Recht symbolisiert, wird von der Sonne der Geschichte auf seinem Weg von Westen nach Osten beschienen, wobei sich sein Schatten – das Rechtsgefühl – verändert: Am Morgen hat er seinen Schatten zunächst hinter sich, mittags parallel zu sich und am Nachmittag vor sich. Zunächst schafft die Intuition des Genies das Recht, während das Rechtsgefühl diesen Inhalten hinterher eilt, das Vorangehen des Rechtsgefühls beruht auf der Abstraktionsleistung des Rechts (Jhering, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, 27). Dabei maß Jhering weitblickenden, „hervorragenden Geistern“, die sich zuerst von den hergebrachten Anschauungen lösten und die öffentliche Meinung beeinflußten, eine erhebliche Bedeutung bei, wohingegen das Rechtsgefühl der Masse im wesentlichen von diesen abgeleitet sei (ebd., 23 ff.). Zu den verschiedenen Funktionen und Stadien der Entwicklung des Rechtsgefühls Schelsky, Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3 (1972), 60 ff.
I. Der Volksgeist der Historischen Schule
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nung und der Gerechtigkeit durch die im historischen Prozeß fortschreitende Sittlichkeit der Menschheit verbürgt.22 Auch in der Folge wurde das Rechtsbewußtsein in vielfältiger Hinsicht zu einem theoretischen Ausgangspunkt; hier variieren die Annahmen von einer eher psychologischen Disposition bis zu einem metaphysisch-materialen Wertempfinden und verbinden sich in unterschiedlichem Maße mit Substantialisierungsversuchen. Während dem wertphilosophischen Relativismus die gefühlsmäßige Wertung eine nicht weiter zu rechtfertigende subjektive Stellungnahme bedeutete und das Recht unter eine solchermaßen fundierte Wertungs- oder Anerkennungsdifferenz gestellt war, gab es Deutungsansätze, die die subjektive Werterfahrung der Normadressaten als sekundäres Empfinden materialer Werte interpretierten und von einem metaphysischen Wertfühlen ausgingen.23 Andere Versuche waren darauf gerichtet, durch die Erfassung biologisch-anthropologischer und psychischer Strukturen ein empirisches Naturrecht zu etablieren.24 Der entwicklungsgeschichtliche Ansatz Jherings fand in der Freirechtsschule neben stärker voluntaristischen Elementen ebenso Resonanz25 wie die Ansicht Rümelins, die Quelle des 22 Vgl. Jherings Schlußsatz seines Vortrages „Über die Entstehung des Rechtsgefühles“, 54: „Der Fortschritt unseres Sittlichen, das ist die Quintessenz der ganzen sittlichen Idee, das ist Gott in der Geschichte.“ (dazu Landau, Die Rechtsquellenlehre in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Rättshistorika Studier XIX (1993), 84 f.). 23 Vgl. zur materialen Wertethik Max Schelers und Eduard Hartmanns: Eley, Rechtsgefühl und materiale Wertethik, in: Das sogenannte Rechtsgefühl, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 10 (1985), 136 ff. Zu ihrer Wiederbelebung durch Coing nach 1945 Matz, Rechtsgefühl und objektive Werte. 24 Das Rechtsgefühl wird bei Kuhlenbeck, Zur Psychologie des Rechtsgefühls, ARWP I, (1907 / 08), 16 ff., zur Grundlage der Rechtsphilosophie erhoben. Sturm, Die psychologischen Grundlagen des Rechts, versuchte das Wesen des Rechts mittels einer biogenetischen Ableitung des Rechtsgefühls zu ermitteln. Allgemein untersuchte der Arzt Kornfeld (Das Rechtsgefühl, Ztschrft. f. Rph. 1. Bd. (1914), 135 ff. und 2. Bd. (1919), 28 ff.) die psychischen und psychophysischen Strukturen. 25 Fikentscher, Methoden des Rechts III, 365 ff., 368 f. Stärker den Subjektivismus dieser Bewegung betont Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 60 f. Den Vertretern dieser Richtung, vor allem Ehrlich, Fuchs und Kantorowicz, ging es darum, entgegen dem Subsumtionsideal zu zeigen, daß richterliches Entscheiden wesentlich gefühlsmäßig begründet sei und auf diese Weise eine gerechte Entscheidung verbürgt werde (vgl. nur Kantorowicz alias G. Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 63 ff.; Gängel, Der Richter und seine Rechtsfindung im Licht der Freirechtslehre, ARSP-Beiheft 43 (1991), 121 ff.). Kantorowicz war der Ansicht, „daß ich richtig diejenige Rechtnorm nenne, die irgend jemandes Gerechtigkeitsgefühl entspricht“, und, um einem Subjektivismus zu entgehen, kamen für ihn im Rahmen einer Rechtsphilosophie als Wertwissenschaft nur die kulturbedeutsamen Werte in Betracht, „die dem Gerechtigkeitsgefühl einer mächtigen sozialen Gruppe entsprechen“ (Kantorowicz, Zur Lehre vom Richtigen Recht, ARWP II (1908 / 09), 59). Dies nahm er zum Anlaß, in der Rechtsphilosophie eine Wertwissenschaft zu erkennen, die die verschiedenen als gleichberechtigt anzuerkennenden Werthaltungen in ein System zu bringen habe (Kantorowicz, Probleme der Strafrechtsvergleichung, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 4 (1907 / 08), 102 f.; ders., Die Lehre vom Richtigen Recht, ebd., 73). Zum Rechtsgefühl und zur weiteren Entwicklung des Relativismus bei Kantorowicz vgl. Muscheler, Relativismus und Freiheit, 30 ff.
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
Rechts liege im Rechtsgefühl.26 Die Tatsache, daß der Mensch trotz der Nichterweislichkeit eines allgemeingültigen Maßstabes offenbar mit einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit und einem „Rechtsbewußtsein“27 ausgestattet zu sein schien, das sich in einer Stellungnahme zu dem geltenden Recht manifestierte, war ein Umstand, der die Theorie beschäftigte. Nicht zuletzt unter dem Eindruck zeitgenössischer Strömungen der Soziologie und der Sozialpsychologie28 galt es, die Vorstellungen der Historischen Schule zu revidieren, den Zusammenhang zwischen individuellem Rechtsgefühl und dem gesamten Volksempfinden einer Überprüfung zu unterziehen und Konstruktionen bereitzustellen, um einen Subjektivismus zu überwinden und einen für das Recht notwendigen Konsens herzustellen.
II. Kulturstufe und allgemeines Rechtsbewußtsein (Berolzheimer und Kohler) 1. „Kulturrecht“ statt Naturrecht Berolzheimer und Kohler nahmen mit der von ihnen befürworteten entwicklungsgeschichtlich-völkerpsychologischen Betrachtungsweise eine metaphysisch irrationalistische Linie auf und gingen davon aus, mit den allgemeinen Kulturanschauungen ein Wertfundament vorzufinden, das jeglichem Subjektivismus entzogen sei. Im Zuge ihrer Entwicklungsvorstellung behaupteten sie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem kulturellen und geistigen Zustand eines In diesem Sinn gegen Jhering: Loening, Über Wurzel und Wesen des Rechts, 28. Eine Übersicht über die verschiedenen Verwendungen des Begriffs findet sich bei M. Rümelin, Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein, 5 ff., vgl. auch Riezler, Das Rechtsgefühl, 6 ff., 23 f. Das Rechtsgefühl kann ein biologisch (Rechtsinstinkt, Rechtstrieb) oder kulturell-verstandesmäßig geprägtes Rechtsempfinden (Rechtsbewußtsein, Rechtsüberzeugung) bedeuten. Ausgewählte Beiträge in dem Sammelband: Beiträge zur Rechtspsychologie (Hg. Jakob / Rehbinder). Neuere systematische Untersuchungen bei Bihler, Rechtsgefühl, System und Wertung, und Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 55 f. (Übersicht zur aktuellen Diskussion über das Rechtsgefühl). Vgl. auch Rother, Recht und Bewußtsein, der das Rechtsgefühl in Zusammenhang bringt mit der „Gleichartigkeit der seelischen Verfassung der Menschheit“ (93 f.), aus der er sogar eine „Gemeinsamkeit der Rechtsanschauung“ folgert. Insbesondere zur Entstehung von Rechtsbewußtsein vgl. den Sammelband: Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (Hg. Lampe). 28 Ihr Begründer Wundt entwickelte einen rationalen Begriff der Gemeinschaft und ging davon aus, „daß das Bewußtsein des Einzelnen unter dem Einfluß seiner geistigen Umgebung steht“, weshalb man deren Gehalte als die „Vorbedingungen subjectiver Erfahrung“ kennen müsse (Wundt, Völkerpsychologie I 1, 1). Im Gegensatz zu dem Verhalten der Individuen hielt er die gesellschaftlichen Vorgänge für berechenbar. Wundt formulierte den Begriff der Volksseele. Dabei handele es sich nicht um irgendeine metaphysische Substanz, sondern um einen Ausdruck der durch das Zusammenleben der einzelnen hervorgerufenen gemeinsamen Vorstellungen, Gefühle und Willensrichtungen. Zu Wundts Völkerpsychologie vgl. Oelze, Wilhelm Wundt. Die Konzeption der Völkerpsychologie, insbes. 105 ff., 117. 26 27
II. Kulturstufe und allgemeines Rechtsbewußtsein
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Volkes und dem Recht als Kulturerscheinung. In dem allgemeinen Rechtsbewußtsein sahen sie ein „Kulturrecht“29. Im Rückgriff auf das subjektive Rechtsempfinden, das zu einer intuitiven Rechtseinsicht überhöht wird und bei Berolzheimer überdies im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Rechtsidee steht, wird hier das allgemeine kulturelle Rechtsbewußtsein als harmonisierender Maßstab entworfen. Vergegenwärtigt man sich die nicht ganz widerspruchsfreie Vorstellung Berolzheimers, so fällt sowohl hinsichtlich der Erkenntnisweise als auch im Hinblick auf den Erkenntnisgegenstand eine stark antirationalistische Tendenz ins Auge, denn die maßgeblichen Wertungen und Ideen sind nach seiner Auffassung nicht theoretisch begründbar, sondern lediglich gefühlsmäßig ableitbar.30 Die rationale Begründung sei demgegenüber sekundär: „In Wirklichkeit erwächst alle Erkenntnis auf gefühlsmäßigem Grunde, wird aber rationalistisch ausgebaut, gefördert durch Vernunft, durch das Denken.“31 Eine detaillierte Analyse dieses Zusammenhangs und eine zufriedenstellende Untersuchung des Rechtsgefühls sucht man allerdings vergebens. Auch hier werden, wie bereits Bergbohm gegenüber Rümelin abwertend festgestellt hatte, Rechtsgefühl und Rechtsidee als „ideale Seite des Rechts“32 weitgehend identifiziert, sie unterscheiden sich allein durch das Maß an rationaler Durchdringung, denn die Rechtsidee wird aufgelöst in das logisch bearbeitete Rechtsgefühl. Nach Berolzheimers Auffassung war es notwendig, daß die „ideologische Rechtsbejahung“ zur objektiven, machtmäßigen Rechtsgestaltung hinzutrete, denn Recht könne nur entstehen und sich dauerhaft behaupten, solange es 29 Kohler, Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, 27; Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 14. 30 „Wie alle Kultur im tiefsten Grunde auf gefühlsmäßigen Momenten beruht, die lediglich den Aus- und Überbau rationalistisch, logisch erhalten, so auch die Ethik.“ (Berolzheimer, System III, 131) Allgemein zu irrationalistischen Tendenzen in der Rechtswissenschaft Dreier, Irrationalismus in der Rechtswissenschaft, in: ders., Recht – Staat – Vernunft, 120 ff., und Schnädelbach, Über Irrationalität und Irrationalismus, in: ders., Vernunft und Geschichte, 64 ff. 31 Berolzheimer, System III, 105 (im Original teilweise gesperrt). Allgemein begriff Berolzheimer die gefühlsmäßige Erkenntnis als ein Rudiment tierischer Instinkte (ders., System I, 314). Gegenüber dieser auf gefühlsmäßiger Erkenntnis beruhenden ideologischen Einsicht, der intuitiven Erfassung der dem Beweis unzugänglichen Ideen, sei die vernunftmäßige Bearbeitung sekundär. Die Kriterien für diese ideologischen Urteile ließen sich „vernünftig“ umschreiben und gliedern, aber letztlich seien sie alle auf das Gefühl des Kulturmenschen zurückzuführen (ebd., 311 f.). „Nachdem das Christentum die Idee der Menschheit geweckt hatte, konnte auch die Vernunft feststellen, daß die polygamische Ehe oder die Versklavung jeder Art der Menschheitsidee widersprechen und deshalb sittlich zu verurteilen und rechtlich zu verneinen sind.“ (ebd., 312) Für das Recht heißt das: Auf höherer Entwicklungsstufe werde die triebhafte Festlegung der sozialen Ordnung vom Gefühl übernommen und erst im Laufe der Rechtsentwicklung trete an die Stelle dieser Form der Erkenntnis ein bewußter Begriff der Gerechtigkeit (System III, 97 f.). Auch hier macht sich das „geschichtsphilosophische Grundgesetz“ bemerkbar: Der Kulturmensch kompensiert den Verlust natürlicher Instinkte durch den Gebrauch von Gefühl und Vernunft. 32 Berolzheimer, System III, 95 ff.
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
mit der Rechtsidee übereinstimme und als gerecht empfunden werde.33 Diese vorderhand erkennbare Anlehnung an die Anerkennungstheorien hat allerdings keinerlei Auswirkung auf den Rechtscharakter des Rechts34 und vermittelt lediglich die Behauptung des Rechts als Ordnungs- und Machtinstrument und damit vor allem als Element der Kultur- und Kraftsteigerung.35 Die Berechtigung der Rechtsidee folgerte Berolzheimer letztlich aus dem erkennbaren Urteilsvermögen des Menschen, denn die tatsächliche Erfahrung, daß Menschen ein sicheres Urteil über Recht und Unrecht fällen, veranlaßte ihn dazu anzunehmen, daß dem Menschen die Idee des Rechts als solche eine wesensnotwendige Vorstellung sei.36 Allerdings macht sich auch hier die metaphysische Weltauffassung bemerkbar, denn Berolzheimer sah darin mehr als bloß subjektive Vorstellungen und ging, sich hier dem Gedanken eines materialen Wertempfindens nähernd, davon aus, die so erfaßbaren Inhalte stünden in Verbindung zu einer höheren Wirklichkeit: Die menschlichen Gefühle besaßen für ihn Erkenntniswert im Hinblick auf die der empirischen Betrachtung unzugänglichen Werte.37 Aufgrund des bereits angesprochenen, von Berolzheimer angenommenen ideologischen Erkenntnisvermögens war die Rechtsidee für ihn zwar nicht beweisbar, aber intuitiv erfaßbar.38 Allgemein ging er davon aus, daß gefühlsmäßige Erkenntnisse genauso 33 Berolzheimer, System III, 89, 97. In dem subjektiven Moment liege „das metaphysische, das transzendente (religiös gesprochen: das Wunder-)Moment in der Entstehung von Staat und Recht“ (ebd., 97). 34 „Zugleich ist die Anerkennung, wie bemerkt, nur eines der möglichen Mittel der Herrschaftsbehauptung, aber kein notwendiges. Durch verweigerte Anerkennung allein büßt die Herrschaftsbehauptung von ihren Rechtswirkungen nichts ein.“ (Berolzheimer, System III, 34). 35 „Nicht die Anerkennung wirkt das neue Recht, sondern Herrschaftsbehauptung macht aus der neuen Tatsache die Rechtstatsache, aus dem reinen Zustand einen Rechtszustand und dafür ist die Anerkennung bloßes Medium. Deshalb ist es auch rechtlich belanglos, ob die Anerkennung eine freiwillige oder erzwungene ist (Berolzheimer, System III, 34). Rechtsquelle ist nicht der Volksgeist oder das Rechtsbewußtsein der Gesamtheit. „Das Wesentliche des Rechts- und Rechteentstehungsprozesses ist nicht Machterlangung oder Machtübung, sondern Machtbehauptung. Das subjektive (psychologische) Begleitmoment der Rechtsüberzeugung ist bloßes Medium der Herrschaftsbehauptung.“ (ebd., 117) „Dieses subjektive Moment des Rechtsentstehungsprozesses scheidet die Rechtsentstehung von der bloßen Machtbehauptung.“ (ebd., 120) Die Bedeutung der Anerkennung leitete Berolzheimer aus historischen Studien ab (Berolzheimer, Rechtsphilosophische Studien, 15 ff.; ders., System III, 31 ff.). 36 Berolzheimer, System I, 311, 313. 37 Berolzheimer, System III 17; ders., System I, 315 f. Dieser Erkenntnisfaktor unterscheide sich von anderen Faktoren der Erkenntnis nur durch die Eigenart der Erkenntnisquelle. Berolzheimer möchte diesem Gefühl daher auch einen anderen Status zuweisen als den von der Psychologie untersuchten Tatsachen des Bewußtseins und beschreibt es als „Außengefühl“, das nicht auf einen Zustand des Gemüts hinweise, sondern die gefühlsmäßig vermittelte Anschauung über irgendwelche Verhältnisse und Gestaltungen der Außenwelt darstelle (ders., System I, 315). 38 Berolzheimer, System I, 185, 187, 311. Trotz fehlender Beweismöglichkeit „hängen Existenz, Inhalt und Richtigkeit der Ideen nicht in der Luft. Wir unterscheiden ganz klar die
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wie das instinktive Erfassen dem Kriterium des Richtigen oder Falschen entzogen seien.39 Sie seien vielmehr als Ausdruck der göttlichen Vorsehung hinzunehmen.40 Das Rechtsgefühl geht damit in seiner Konzeption über eine empirische Kategorie hinaus und stellt einen vagen metaphysischen Bezug her: „Das Rechtsempfinden einer bestimmten Kulturepoche ist ein grundlegender Faktor für die Rechtsphilosophie, für die Rechtsgestaltung und die Rechtshandhabung, der sich nicht empirisch restlos deuten lässt; er ragt hinaus über menschliches Wissen und über Menschenkunst. Das Rechtsbewusstsein ist ein Teil des ewigen Waltens, das den einzelnen in unmittelbaren Zusammenhang setzt mit dem All.“41 In den gefühlsmäßig vermittelten Erkenntnissen sah Berolzheimer keine Selbsttäuschung, sondern einen Beleg für die relative Berechtigung der intuitiven Anschauungen. „Jedes Volk, jede Zeit, jeder Mensch hat die der jeweiligen psychischen Gesamtdisposition entsprechenden Vorstellungskomplexe und man kann hierauf die Kriterien des Richtigen und Falschen nicht weiter ausdehnen, als etwa im Gebiet der Sprache; . . .“42 In ähnlicher Weise, wie es der umstrittene Kulturhistoriker Karl Lamprecht (1856 – 1915) im Anschluß an die Völkerpsychologie Wundts getan hatte, sah Berolzheimer in der gemeinsamen Gefühlswelt das unterscheidende Merkmal zwischen verschiedenen Kulturstufen.43 Lamprecht hatte sich reale Idee von der bloßen Phantasie, wir sind keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Monotheismus eine reinere Religion bedeutet, als etwa der griechische Götterkult, wir scheiden das echte Kunstwerk von der virtuosen Mache, wir fällen ein präzises Urteil über Recht und Unrecht.“ (ebd., 311) Gefühlsmäßige Erkenntnis gehe aufs Transzendente (ebd., 316, Fn. 7). Zur Illustration seien hier die Ausführungen Berolzheimers zur Maßgeblichkeit des Prinzips der Entgeltung angeführt: „Ich persönlich habe die gefühlsmäßige Überzeugung, den unerschütterlichen, aber durch keinerlei Beweismöglichkeit zu erhärtenden Glauben, daß hinter der Äquivalentsidee ein weiteres, unwissbares erklärendes Moment steht; daß das Äquivalent nichts ist, als eine Form, ein Ausdrucksmittel für eine höhere, göttliche, dem Menschengeiste unzugängliche Idee, in der die Gerechtigkeit rein zur Auflösung gelangt. Aber es fehlt für die Idee des Äquivalents jede halbwegs exakte Beweismöglichkeit: sie bildet einen der erkenntniskritischen Ursätze. Als Stützpunkte dieser Idee erweisen sich folgende: Der positiv wissenschaftliche, daß bei Betrachtung der Rechtswelt diese Idee sich intuitiv dem Beschauer aufdrängt. Der positiv unwissenschaftliche, daß die Idee der Verhältnismäßigkeit, der Angemessenheit, der Billigkeit (ius aequum) uns im Blute liegt, instinktiv, gefühlsmäßig zum Ausdruck kommt. Endlich der negative wissenschaftliche, daß andere rechtsphilosophische Begründungen haltlos sind.“ (ebd., 257). 39 Berolzheimer, System I, 314. 40 „Die Kulturmenschheit steht in ihrem Banne, oder theologisch gesprochen: in ihnen offenbart sich das Walten der göttlichen Vorsehung.“ (Berolzheimer, System I, 314). 41 Berolzheimer, Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 526. Das Spannungsverhältnis zwischen ideologischer, erkenntnisleitender Funktion und sozialpsychologischer Entstehung des Rechtsempfindens wird aufgelöst in der Vorstellung der Sinnhaftigkeit der Welt, die sich dem Betrachter in den Ideen offenbart. 42 So Berolzheimer, System I, 313, für die Gottesidee. Berolzheimer behauptete, daß dem Kulturmenschen die Gottesidee eine ideologische Wesensnotwendigkeit bedeute, ebenso wie die Kausalidee, die Idee der Zeit, des Raumes und andere. Die Ablehnung dieser Ideen sei ein Rückfall in vorideologische Zeiten der Unkultur (ebd., 313 f.). „Die Ideen sind ein Stück Kultur; und da wir diese bejahen, können wir uns von jenen nicht losreißen.“ (ebd., 314).
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gegen die traditionelle politische Geschichtsschreibung gewandt und die Geschichte als entwicklungsgesetzliche Abfolge von Kulturzeitaltern beschrieben, die er auf die jeweils eine Periode beherrschenden seelischen Gesamtzustände zurückführte.44 Berolzheimer verwandte eine ähnliche Vorstellung in normativem Zusammenhang, indem er die Frage der Richtigkeit auf das ethische Richtigkeitsempfinden zurückführte und behauptete, sie lasse sich nur relativ beantworten, „innerhalb der Grenzen einer bestimmten Kulturperiode aus dem Gefühlsleben der betreffenden Periode“45 und damit im Sinne der Völkerpsychologie eine gewisse Psychologisierung der Kulturentwicklung andeutete. „Als gerecht gilt in jeder Periode das Recht, soweit es sich mit dem Kulturbewusstein der Zeit deckt.“46 Mit der Wertbegründung des Rechts auf das zeitbedingte Wertbewußtsein wird freilich, wie Böckenförde prägnant feststellt, „die Richtigkeitsfrage als solche nicht mehr gestellt.“47 Die gemeinsamen Kulturideale werden in Berolzheimers entwicklungsgeschichtlicher Darstellung nicht nur zum Charakteristikum jeder Kulturstufe, sondern auch zum Maßstab für die Rechtsgestaltung. Die von Berolzheimer angenommene Rechtsidee verliert auf diese Weise ihren autonomen Status gegenüber der Wirklichkeit, indem sie als intuitiv erfaßbarer kulturpsychologischer Ausdruck beschrieben und damit an Seinsstrukturen gebunden wird, auch wenn Berolzheimer versicherte, es handele sich um den Ausdruck einer höheren Wirklichkeit. Der Richtigkeitsmaßstab etabliert sich nach seiner 43 Berolzheimer, System III, 104 f.: „Die einzelnen Stufen der Rechtskultur heben sich wesentlich nicht dadurch voneinander ab, daß die Rechtsglieder (alle oder die maßgebenden, ausschlaggebenden, bestimmenden) anders denken als in früheren Epochen, sondern primär dadurch, daß sie anders empfinden, daß der gefühlsmäßige Grund ihrer Anschauungen über Staat und Herrschaft über Recht und Postulate der Ethik ein anderer geworden ist. Erst auf dieser gefühlsmäßigen Änderung bauen sich die neuen Gedanken auf.“ 44 Auf diese Weise unterschied er eine entwicklungsgesetzliche Abfolge von Animismus, Symbolismus, Typismus, Konventionalismus, Individualismus und Subjektivismus. In dem sogenannten Lamprechtstreit trafen kulturgeschichtliche und politikgeschichtliche Vorstellungen aufeinander. Lamprecht war der Auffassung, die Geschichtsschreibung überschätze die Bedeutung „großer Männer“ für die historische Entwicklung und vernachlässige die Rolle der kulturellen „Zustände“ (Kunst, Literatur, Recht, Wirtschaft, Sprache etc.), in denen er die eigentlichen dynamischen Elemente der Entwicklung sah. Gegenüber einer politikgeschichtlichen Betrachtung befürwortete er eine kulturgeschichtliche (Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte?, in: Ausgewählte Schriften (Hg. Schönebaum), 257 ff.; ders., Deutsche Geschichte, 5 Bände (1891 – 1895); zu Lamprecht vgl. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, 110 ff., 143 ff.). 45 Berolzheimer, System I, 314. 46 Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 32; ebenso ders., Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 525. Bezeichnend auch der Zusatz (hier kursiv), den Berolzheimer einem Stammler-Zitat zum „richtigen Recht“ gibt: „Der Materie nach haben richtiges (scil. d. h. als gerecht wirkendes und empfundenes) Recht und sittliche Lehre das gleiche Gebiet.“ (ders., System III, 147). 47 Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 90.
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Konzeption schließlich im Seinsmodus, und das maßgebliche Rechtskulturempfinden wird als historisches Entwicklungsprodukt innerhalb einer bestimmten staatlichen Gemeinschaft keiner weiteren Rechtfertigung ausgesetzt. Als Konsequenz ergibt sich, daß gegenüber den herrschenden Kulturanschauungen kein äußerer Standpunkt mehr begründet werden kann, denn über eine solche gefühlsmäßige Basis läßt sich nicht streiten.48 Mit Recht sind derartige Versuche von Stammler als „ein Einschütten unserer Rechtserkenntnis in ein unermeßbar und unerkennbar wogendes Meer“49 bezeichnet worden. Stärker als Berolzheimer widmete sich Kohler den konkreten völkerpsychologischen Erscheinungen. Er vertrat eine ähnlich mystische Gemeinschaftsvorstellung und bekräftigte, daß die Kultur eines Zeitalters eng zusammenhänge mit der Volksseele und Volksstimmung, deren Untersuchung Sache der Völkerpsychologie sei.50 Deren Kenntnis wie die Kenntnis der Einzelseele sei unabdingbar um zu wissen, von welchen Triebfedern sie geleitet seien, denn die in der Menschheit waltenden Entwicklungstriebe müßten durch das menschliche Seelenleben hindurch.51 Kohler sah die Gesamtheiten von Bestrebungen und Trieben geleitet, die nicht auf Vorstellungen der einzelnen zurückzuführen seien, weshalb man die Geschichte soziologisch betrachten müsse.52 „Wenn auch das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, so ist es doch nichts Äußerliches und Zufälliges, sondern es ruht mit seinem innigsten Gefaser in den Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige hervorragende, weltschauende Geister . . .“53 Diese irrationalistische Tendenz findet gleichermaßen Ausdruck in der bereits erwähnten Vorstellung Kohlers, das Recht dränge sich dem einzelnen intuitiv auf, weil die der herrschenden Kultur entsprechende Lebensgestaltung einem „inneren Trieb“ des Menschen entspreche.
48 Diese Tatsache wurde von ihm aber auch gar nicht als Mangel empfunden, denn er sah im Gefühl den Ort der metaphysischen Weltanschauung, gegenüber dem die Vernunft meist nur als ordnendes Prinzip des gefühlsmäßig Erkannten auftrete (Berolzheimer, System I, 316). Allgemein ging Berolzheimer davon aus, daß sich nur auf der Grundlage derselben gefühlsmäßigen Einsichten die Erkenntnis rational beeinflussen lasse (ebd., 317). 49 Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 111; kritisch zu Berolzheimer: Wielikowski, Die Neukantianer in der Rechtsphilosophie, 106 ff. 50 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 23. 51 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 26. Vgl. auch ders., Das Recht, 62 ff.: Kohler untersucht hier verschiedene völkerpsychologische Triebkräfte im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Rechtsentwicklung. 52 Kohler, Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart, 40 f. 53 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 6.
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2. Die Dynamisierung des positiven Rechts im Sinne der herrschenden Kulturanschauung Die enge Verbindung zwischen Kulturanschauungen und Recht – und damit die Gefahr der Dynamisierung der Begriffe des Rechts im Sinne einer objektivierten Kulturauffassung – manifestiert sich ganz deutlich in Berolzheimers und Kohlers Auffassungen über die richterliche Anwendung des Rechts. Mit dem Rückgriff auf eine nichtpositivierte allgemeine Rechtsanschauung versuchten sowohl Berolzheimer als auch Kohler nicht nur der Gesetzgebung Vorgaben zu machen, sondern auch auf der Ebene der Rechtsanwendung das Problem der Rückständigkeit des Rechts gegenüber einer voranschreitenden Kultur zu lösen.54 Hierbei wird der Maßstab der Rechtsgestaltung zu einem Maßstab des geltenden Rechts: Beide gingen nämlich davon aus, daß die gegenwärtigen Kulturanschauungen bei der Anwendung des Rechts berücksichtigt werden müßten, und durchbrachen auf diese Weise den positivistischen Rechtsbegriff. Von eben diesen Vorstellungen hat interessanterweise auch Pound für seine „sociological Jurisprudence“ Nutzen gezogen und die Vorstellung übernommen, daß es kulturelle Rechtsanschauungen gebe, die, obwohl nirgends ausdrücklich formuliert, für die richterliche Entscheidung von Bedeutung sein könnten.55 a) Kulturanschauung und objektive Auslegungsmethode (Kohler) Besonders anschaulich wird die Beseitigung der kulturellen Rückständigkeit des Rechts im Sinne Kohlers in der Auseinandersetzung mit Jhering über die Deutung von Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“.56 Darin schildert Shakespeare, wie der Kaufmann Antonio dem Juden Shylock ein Pfund Fleisch seines Körpers gegen ein Darlehen verpfändet. Vor Gericht wird Shylock schließlich zu54 Später von dem amerikanischen Soziologen William F. Ogburn (Social Change, 1922) als „cultural lag“ bezeichnet, abgedruckt in: Dreitzel, Sozialer Wandel, 328 ff. 55 vgl. Terry di Fillippo, Pragmatism, Interest Theory and Legal Philosophy: The Relation of James and Dewey to Roscoe Pound, in: Transactions of the Charles S. Peirce Society 24 (1965), 502 f. Pound, The Ideal Element in Law, 28, 179 ff. Hierbei verschaffte Kohler sicher auch seine Richtertätigkeit, die Pound hervorhob, fachliches Ansehen (ebd., 179). Kohlers Ansichten „Judicial Interpretation of Enacted Law“ sind in dem Sammelband „The Science of Legal Method“ (1917), 187 ff., in der bereits erwähnten Reihe „Modern Legal Philosophy Series“ in Amerika erschienen. Ebenso Berolzheimers Beitrag unter dem Titel „The Perils of Emotionalism: Sentimental Administration of Justice – its Relation to Judicial Freedom of Decision“, ebd., 166 ff. Pound unterstützte Berolzheimer, der sich gegen Jherings Zweckdenken gewandt hatte (Berolzheimer, Rechtsphilosophische Studien, 143 f.; ders., System II, 363 f.), in der Hervorhebung der Bedeutung von Gerechtigkeitsidealen für das Recht (Pound, Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence, HLR (1912), 144). 56 Zu der Kontroverse zwischen Jhering und Kohler vgl. Spendel, Josef Kohler: Bild eines Universaljuristen, 30 ff.; Behrends, Das ,Rechtsgefühl‘ in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, in: Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (Hg. Behrends), 93 f. Fn. 46.
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gesprochen, dem Antonio zwar entsprechend dem Schuldschein Fleisch vom Körper schneiden zu dürfen, allerdings ohne dabei Blut zu vergießen, da dies von der Pfändung nicht umfaßt sei. Der Streit zwischen Kohler und Jhering betraf die Gültigkeit eines solchen Schuldscheins. Während Jhering die Ansicht vertrat, die Verpflichtung Antonios gegenüber Shylock sei sittenwidrig und damit nichtig,57 eine Auffassung, die auch Stammler wegen des Grundsatzes des Achtens teilte58, wandte sich Kohler gegen solch eine Beurteilung. Er wies darauf hin, daß in diesem Stadium der Rechtsentwicklung, das in der Geschichte aller Völker wiederkehre, der Schuldner auch mit seinem Körper hafte.59 Diese vom heutigen Standpunkt aus betrachtete Grausamkeit zu verurteilen, hielt Kohler für vollkommen oberflächlich und unhistorisch. Das Problem lag nach seiner Auffassung vielmehr darin, daß das für Shylock sprechende Gesetz bereits zum damaligen Zeitpunkt unzeitgemäß gewesen sei, da die Rechtsentwicklung bereits in eine Stufe eingerückt gewesen sei, in der das Recht sittliche Elemente aufgenommen und der Schuldschein dem Gerechtigkeitsgefühl widersprochen habe.60 Kohler hielt das Urteil deshalb für richtig, wenn auch in der Begründung für falsch, worauf es aber – dies wieder ein Beispiel für die ergebnisorientierte und wenig methodenbewußte Haltung der Neuhegelianer – weniger ankomme.61 An dieser Nahtstelle, an der die Spannungen zwischen dem Kultur- und dem Rechtszustand besonders augenfällig werden, dokumentiert sich die Dominanz der Kulturauffassung gegenüber dem Recht, denn in Kohlers Sichtweise mußte das Recht den kulturentwickelnden, im Rechtsbewußtsein zum Ausdruck kommenden Bestrebungen des Volkes Rechnung tragen. Kohler hielt zwar vorrangig daran fest, daß es eigentlich Aufgabe der Gesetzgebung sei, „dem Volksinstinkte stets den Puls zu fühlen, und, sobald das Rechtsbewußtsein den nötigen Sättigungsgrad erreicht hat, den neuen Satz mit dem festen Griffel des Gesetzes in das Buch des Rechts einzutragen.“62 Geschehe dies aber nicht, übernehme dies die Rechtspflege, die sich dem Rechtsbewußtsein nicht entziehen könne. Die methodische Lösung ist in der von Kohler vertretenen objektiven Auslegungsmethode63 formuliert. Danach muß die Auslegung die in dem Gesetz enthalJhering, Der Kampf um’s Recht, 58 ff., 59 f. Fn. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 269. 59 Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 11. In der Frühzeit des Rechts habe der Gläubiger dem nicht leistenden Schuldner Stücke Fleisch vom Körper schneiden dürfen (ebd., 11). 60 Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 39 ff. 61 Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 43, 47 f. 62 Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 42. Kohler ging davon aus, daß die Rechtsquellen in der „unbewußten volklichen Bildung und in der bewußten Verordnung“ liegen (ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 57). 63 Kohler, Ueber die Interpretation von Gesetzen, Grünhut’s Ztschrft. 13 (1886), 1 ff. Vgl. auch ders., Recht und Gesetz, ARWP 11 (1917 / 18), 1 ff. Zur objektiven Auslegungstheorie J. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 32 ff., 34, 64 ff.; Larenz, Methoden57 58
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tenen Prinzipien hervorbringen, und der Richter sich am Zweck des Gesetzes orientieren, wobei er nach Kohler die Kulturinteressen seiner Zeit zu berücksichtigen habe und nicht, wie die gängige Auslegungstheorie forderte, auf den subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers festgelegt sei. Auf diese Weise könne das ungerechte und veraltete Gesetz durch veränderte Interpretation dem Zeitbewußtsein angepaßt werden. „Wie das Recht einer steten Umwandlung unterworfen ist, so müssen auch nothwendig Zeiten eintreten, in welchen die gesetzlichen Bestimmungen in ihrer richtigen Interpretation dem Rechtsbewusstsein nicht mehr entsprechen und das Gesetzesrecht in Reibung tritt mit den Culturinteressen.“64
b) Das Rechtsgefühl als „begrenzte Rechtsquelle“ – „Relatives Kulturrecht“ (Berolzheimer) Berolzheimer löste das durch das Spannungsverhältnis auftretende Auslegungsproblem ebenfalls durch einen Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsanschauungen, in denen er „objektive Rechtsprinzipien“65 sah, und wandte sich damit gegen die freirechtliche Strömung, die er mit einer dezisionistisch-voluntaristischen Rechtsauffassung identifizierte und die er abschätzig als „Gefühlsjurisprudenz“ tadelte.66 Er warf der freirechtlichen Auffassung vor, sie beeinträchtige die Rechtssicherheit und berge die Gefahr, daß sich der Richter bei freier Entscheidungsfindung allein von seinem Gefühl, „und zwar heute, bei der sozialethischen Hochflut, schlechthin von Gefühlen der Sentimentalität leiten lasse“67. Hatte Berolzheimer die Funktion des Rechtsgefühls zunächst wesentlich in seiner Bedeutung als kritische Instanz gegenüber den jeweiligen Ausgestaltungen der Rechtsordnung gesehen, ging er in diesem Zusammenhang davon aus, daß „die Rechtsanschauung einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kulturkreis“68 in begrenztem Maß Rechtsquelle sei, und sah den Richter allein auf dieser Grundlage lehre der Rechtswissenschaft, 32 ff.; Gängel / Schaumburg, Josef Kohler, ARSP LXXV (1989), 307 ff. Heck bezeichnete Kohlers Anschauung als „Einlegung“ (ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 275 (im Original gesperrt), zur Kritik an Kohlers Vorgehensweise ebd., 274 ff.). 64 Kohler, Ueber die Interpretation von Gesetzen, Grünhut’s Ztschrft. 13 (1886), 58 f. Rückblickend betrachtete sich Kohler als frühen Vertreter der Freirechtslehre und sah in seinen Ausführungen die „Morgenröte der Freirechtsbewegung“ (ders., Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, S. VI). 65 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 18. 66 Zur Berechtigung einer solchen Einschätzung Fikentscher, Methoden des Rechts III, 367 ff. 67 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 20. 68 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 14. Das natürliche Rechtsempfinden wechsele „je nach den zeitlich-völkisch-örtlichen Verhältnissen“ (ebd., 17). In Anlehnung an Stammler sprach Berolzheimer auch von einem „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“, freilich mit gänzlich anderer Bedeutung als dieser (ebd., Fn. 19).
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A ï èÝóåé äßkáéïí finzu einer freirechtlichen Entscheidung autorisiert. „Das íüìù det seine Ergänzung und Berichtigung durch das jýóåé äßkáéïí, wobei das ,natürliche‘ Rechtsempfinden wechselt, je nach den zeitlich-völkisch-örtlichen Verhältnissen.“69 In dem „relativen Kulturrecht“, das durch die geschichtliche Untersuchung der Rechtsbegriffe und Rechtsinstitute unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung erkannt werde, sah Berolzheimer eine höherrangige Rechtsordnung, durch die die Geltung eines Gesetzes in Ausnahmefällen eingeschränkt werden könne, ohne einer gefühlsmäßigen, „höchstsubjektiven“70 Jurisprudenz das Wort zu reden.71 Mit den von ihm ermittelten grundlegenden Kulturanschauungen wollte Berolzheimer die kulturrückständigen Bestandteile des Rechts, die dem Rechtsempfinden widersprächen, beseitigt und unter Berufung auf die Rechtsidee die Freiheit im Recht durchgesetzt sehen.72 Wie gezeigt, war Berolzheimer der Überzeugung, daß im Kulturstaat der Gegenwart entsprechend der sittlich-rechtlichen Synthese unverbrüchlich gewisse fundamentale Rechtsanschauungen gültig seien, die aufgrund der Idee der Freiheit zu fördern seien, wie die Unzulässigkeit der persönlichen Ausbeutung und die Freiheit des religiösen und politischen Bekenntnisses.73 „Daher folgt z. B. aus der Freiheitsidee unmittelbar – ohne daß es eines Gesetzes bedürfte – die rechtliche Unwirksamkeit der Trusts, soweit sie die Konkurrenz (den freien Handel) ausschalten; die Rechtswidrigkeit des Boykotts; die Ungültigkeit eines Arbeitsvertrages mit übermässiger Arbeitszeit usw.“74
3. Kulturanschauung und Bestimmungskompetenz Es unterliegt keinem Zweifel, daß das hier angesprochene kulturelle Bewußtsein offen für subjektiv wertende Zuschreibungen ist und keineswegs den empirisch meßbaren Ausdruck vorhandener Kulturauffassungen darstellt. Der Begriff der Kultur selbst ist wenig präzise und um die Jahrhundertwende ohnehin geradezu Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 14. Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 17. 71 „Recht muss doch Recht bleiben.“ (Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 20) Es ging Berolzheimer bei der „Emanzipation des Richters vom Gesetz“ nicht darum, ihn über das Gesetz zu stellen; dennoch behauptete er, der Richter sei nicht Werkzeug des Gesetzes, sondern das Gesetz sei Werkzeug des Richters (ders., Die Deutsche Rechtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert (1900 bis 1906), ARWP I (1907 / 08), 148). Vgl. dazu Rückert, Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys, ZRG GA 103 (1986), 226, der den größten Teil des Methodenstreits und der „Reformbewegungen“ nach 1900 antiparlamentarischen Motiven zuordnet. 72 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19. 73 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 13. Es handele sich dabei nicht nur um außerrechtliche Richtigkeitskriterien, sondern nach der Anschauung der Kulturstufe um Recht: „Es sind Rechtsgrundsätze, die nicht von je waren und vielleicht auch nicht dauernd bestehen bleiben.“ (ebd. 13 f.). 74 Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19. 69 70
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zum Modewort geworden.75 Berolzheimer faßte ihn zwar vorderhand empirisch und sah darin den völkerpsychologischen Komplex verschiedener in einem Menschenkreis ausgebildeter Bereiche: „Kultur als Zustand (oder als Ergebnis) bezeichnet jene Stufen der Menschheitsentwicklung, in welchen Menschheitsgruppen in Recht und Staat, in Sittlichkeit und Sitte, in (einem wie immer gearteten) Kult oder Metaphysik, endlich durch Gedankenaustausch und (wenn auch noch so primitive) Kunst vereinigt sind.“76 Es ist dennoch unverkennbar, daß bei der Identifizierung der eine Kultur bestimmenden Ideen und ihrer Anwendung auf konkrete Sachfragen bei Berolzheimer ausnahmslos persönliche Einschätzung vorherrscht.77 Dabei zeigt sich zugleich die begrenzte Reichweite der von Berolzheimer befürworteten Freiheitsidee, da der Rechtsbegriff erstens gerechtigkeitsindifferent gefaßt ist und nur durch die Freiheitsidee ethisch durchsetzt wird, so daß der prinzipielle Charakter des Rechts als Herrschaftsinstrument dadurch nur gemildert wird, und zweitens Berolzheimer lediglich einen negativen Freiheitsbegriff – nämlich die Verhinderung von Ausbeutung – heranzieht. Willkürlich erscheinen insofern seine Einschätzungen über die Reichweite sozialpolitischer Maßnahmen, etwa die Durchführbarkeit der 40-Stunden-Woche, obgleich Berolzheimer selbst davon ausging, die Erkenntnis der Freiheitsidee ermögliche eine „präzise Stellungnahme 75 Perpeet, Zur Wortbedeutung von „Kultur“, in: Naturplan und Verfallskritik (Hg. Brakkert / Werfelmeyer), 26; zur Kultur als einem der noch im 20. Jahrhundert „anerkannten Höchstwerte“ vgl. A. Brecht, Politische Theorie, 435, 418, ebd., 418 f. auch zu Kohlers fortschrittsbezogenem Kulturbegriff; Übersicht zur Verwendung des Kulturbegriffs in den Rechtswissenschaften bei Sprenger, Recht als Kulturerscheinung, ARSP-Beiheft 43 (1991), 134 ff. 76 Berolzheimer, Für den Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 196; ebenso ders., Hegel und Kant in der modernen Rechtsphilosophie, DJZ XII (1907), Sp. 1006. Der Kulturbegriff ist hier auf die ideelle Seite beschränkt; vom weiten Begriff der „Wirtschaftskultur“ ist keine Rede. Die Verwendung des Kulturbegriffs bei Berolzheimer ist nicht einheitlich: Neben dem erwähnten völkerpsychologischen Komplex wird damit der Zustand der sogenannten Kulturvölker von den sogenannten Naturvölkern abgegrenzt (Berolzheimer, System III, 104; ders., System II, 343 f.), so daß Kultur im zivilisatorischen Sinn als Steigerung und Sublimierung der Verhältnisse im Laufe der geschichtlichen Entwicklung aufgefaßt wird. Neben diesem gegenständlichen Verständnis der Kultur als Summe bestimmter Erscheinungen steht die Begründung des Kulturbegriffs als Wertbegriff. Danach ist Kultur erst ein durch die menschliche Bewußtseinstätigkeit geschaffenes Gefüge. Es ist das geschichtliche Leben, an dem aus Sicht des Menschen ein Sinn haftet, der es zur Kultur macht (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 520 f.; M. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 180). Zur Kulturphilosophie des Neukantianismus Tenbruck, Neukantianismus als Philosophie der Kultur, in: Neukantianismus: Perspektiven und Probleme (Hg. Orth / Holzhey), 73 ff.; Homann, Die „Philosophie der Kultur“, ebd., 94 f. Den Kulturbegriff Rikkerts suchte M. E. Mayer für die Rechtsphilosophie fruchtbar zu machen, dazu unten III. 77 „Für die wissenschaftliche Politik ergeben sich aus der modernen Kultur gewisse fundamentale Wertungen, Werturteile, die der wissenschaftliche Arbeiter zugrunde legt, zugrundelegen muss: die Postulate des Nationalstaats, der Sozialethik etc. Diese Wertungen erfolgen nicht durch Vernunftschlüsse, sondern auf gefühlsmässigem Grunde.“ (Berolzheimer, Politik als Wissenschaft, ARWP I (1907 / 08), 215).
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gegenüber der heute oft in unklarer Formulierung und ohne jede scharfe Grenzziehung erhobenen sozialethischen Postulate“78. Die Bestimmung subjektiver Rechte als Kraftpositionen des einzelnen sowie gleichzeitig des Staates rechtfertige eine sozialethische Einschränkung nur zum Ausschluß wirtschaftlicher Versklavung. Weil nun die sittlich-rechtliche Kulturauffassung im Arbeitsrecht lediglich gegen Ausbeutung und damit gegen übermäßige Arbeitszeit schütze und dies auf einen über acht Stunden hinausgehenden Arbeitstag nicht zutreffe, seien derartige Forderungen unberechtigt, Berolzheimer bezeichnete sie gar als „naturrechtliche Absolutheit“79. Ähnlich argumentierte er bei der Frage der Beteiligung von Frauen am politischen Prozeß: Da die rechtliche Gleichbehandlung von Frauen und Männern aufgrund der ethischen Kulturauffassung nur die Ausbeutung der Frauen verbiete, ergebe sich auch keine Verpflichtung, ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben einzurichten80, wie aus dem Unterdrückungsverbot auch noch lange nicht gefolgert werden könne, daß es eine Repräsentativverfassung geben müsse, vielmehr nur kein Mensch als Objekt behandelt werden dürfe.81 Die Feststellung, im Übergang vom Parlamentarismus zu den im „neuständischen Klassenstaat“ konsolidierten Wirtschaftsgruppen liege demgegenüber die „richtige Entwicklungstendenz“82 kann sich dabei zur Rechtfertigung allein auf Berolzheimers uner78 Berolzheimer, System III, 186, ebd., 345 ff., 394 ff. „Die Sozialethik wirkt Rechtsbegrenzung durch Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Freiheit der wirtschaftlich Schwachen. Über diese Grenze hinaus fehlt jedes haltbare Argument für die Rechtspflicht sozialethischer Betätigung.“ (ebd., 186) Die in der Sozialethik zum Ausdruck kommenden Forderungen suchte Berolzheimer wiederum mit der historischen Betrachtungsweise zu begrenzen, indem er unter Berücksichtigung des „Pendelgesetzes“ vor dem Überschwang neuer Richtungen warnte und im Hinblick darauf den berechtigten Kern dieser Forderungen erkennen wollte (Berolzheimer, Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 19; ders., Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, ARWP III (1909 / 10), 34. 79 Berolzheimer, System IV, 130 f. Berolzheimer sah keine Veranlassung, die Einrichtungen des Eigentums oder der Vertragsfreiheit grundsätzlich in Frage zu stellen; es gehe lediglich um die „sichere Grenzziehung“ bei der sozialverträglichen Ausgestaltung der Eigentumsordnung, des Schuldrechts und des Arbeitsvertrages (ebd., S. VII). Die Ethisierung des Rechts hindere lediglich die Ausbeutung, wozu regelmäßig zwingende Rechtsvorschriften ausreichten (ebd., 61 f.). Die Rechtfertigung des Eigentums sah Berolzheimer darin, daß es als Bestandteil des Vermögens der Kraftentfaltung des einzelnen und damit der Erhöhung der Kraftposition des Staates diene (ebd., 60). 80 „Für die politischen Rechte ist Grundvoraussetzung die politische Fähigkeit. Soweit diese auf intellektuellem Grunde ruht, mag die Durchschnittsfrau nicht hinter dem Manne zurückstehen. Hingegen bezüglich der politischen Besonnenheit bleibt die Frau meist hinter dem Manne zurück; sie läßt sich primär von Gefühlen leiten . . .“, die sie – so Berolzheimers Sorge – zur Sozialdemokratie und zum Ultramontanismus trieben (Berolzheimer, System IV, 191). 81 „Die ethische Forderung der Anerkennung jedes Menschen als Menschen führt im modernen, durch die sittlich-rechtliche Synthese charakterisierten Recht zur Forderung der Anerkennung jedes einzelnen Rechtssubjektes (als persona im Rechts- und wirtschaftlichen Sinne) . . . Damit ist aber nicht gesagt, daß diese allgemeine publizistische Rechtssubjektivität zur Repräsentativverfassung führen müsse.“ (Berolzheimer, System IV, 231). 82 Berolzheimer, System III, 244; ders., Die Deutsche Rechtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert (1900 bis 1906), ARWP I (1907 / 08), 137.
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
schütterliche Bekenntnisfähigkeit stützen. Hier macht sich der Primat der philosophischen Weltdeutung bemerkbar. Das Rechtsbewußtsein einer Zeit, die „gemeinsame Gefühlswelt“ ist nicht lediglich Ausdruck der durchschnittlichen Volksmeinung und wird nicht etwa durch sozialpsychologische Forschung erfaßt, sondern sie ist das Resultat einer mehr oder weniger stark „objektivierten“ und durchaus selektiven entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung, die methodisch keiner Rechtfertigung unterliegt. Die Reichweite des von Berolzheimer entwickelten Maßstabes der allgemeinen Kulturauffassungen sah er jedoch begrenzter, als die erwähnten Beispiele ahnen lassen. Die von Berolzheimer hervorgehobene Abgrenzung des Rechts gegenüber der bloßen Machtausübung wurde von ihm letztlich zurückgenommen zugunsten autoritärer politischer Gestaltung. Das Rechtsbewußtsein einer Zeit umreißt lediglich den maßgeblichen äußeren Rahmen der Gestaltung des Rechts: „Mit dem – der Erfahrung entnommenen – Massstab der Rechtsgestaltung im Einklang mit der jeweils herrschenden Kultur können wir die Grenzen abstecken, jenseits deren das Recht als ungerecht gewertet würde . . . Innerhalb der Grenzen, die das Rechtsbewusstsein einer bestimmten Kulturperiode setzt, walten das Ermessen, der Zufall der Parteienmehrheit, ja auch die Willkür und blosse Machtfaktoren.“83 Verstärkt wird das Problem der subjektiven Definitionskompetenz der maßgeblichen Kulturauffassung durch Berolzheimers antiparlamentarische und elitäre Haltung, die auf einer tiefen Abneigung gegen demokratisierende Tendenzen beruhte.84 Die Hervorhebung bedeutender Persönlichkeiten für die Rechtsentwicklung entsprach verbreiteten Anschauungen; im Zusammenhang mit der offenen Bestimmung des Rechts als Kulturrecht gewinnt diese Vorstellung jedoch eine ausgesprochen dezisionistische Dimension. Das im Volksgeist bzw. der Volksseele als kollektives völkerpsychologisches Phänomen fortbestehende Rechtsgefühl entwikkelte sich laut Berolzheimer aus den sozialen Bewegungen.85 Das so massenpsy83 Berolzheimer, Zum Methodenstreit der Rechtsphilosophie der Gegenwart, ARWP III (1909 / 10), 525. Und weiter: „Aber das Rechtsbewusstsein, wie es einer bestimmten Kultur zu eigen ist und in und mit der Entfaltung einer bestimmten Kultur weiterentwickelt wird, lässt sich nicht ungestraft verletzen. Wird ihm nicht willig Genüge getan, so bricht es gewaltsam sich Bahn.“ 84 Der Fortschritt werde von einzelnen, überdurchschnittlichen Menschen angestoßen, wogegen der demokratische Gedanke „gegenüber jeder wahren geistigen Größe, gegenüber aller wahrhaft schöpferischen Leistung“ versage (Berolzheimer, System III, 162). 85 Berolzheimer, System III, 99. Die Vorstellungen der Historischen Schule wurden hier von Berolzheimer unter soziologischem Einfluß ausdrücklich modifiziert, indem er die Vorstellung allgemeiner Anschauungen ablehnte und die antagonistischen gesellschaftlichen Strukturen hervorhob: Das Volk erscheine bei diesem „massenpsychologischen Entwicklungsgange nicht als homogene, kompakte Einheit (vielmehr nur ausnahmsweise: in nationalen Fragen), sondern als Dualismus, als Konglomerat von Klassen, durch deren gegenseitige Reibungen die Gestaltung des Rechtsgefühls“ erwachse (ebd., 99 f.). Berolzheimer betonte gegenüber beiden Strömungen – der Historischen Schule und der Soziologie – die Bedeutung eines geistigen Führers, der den Anstoß für die dumpfe Masse gebe und den massenpsychologischen Untergrund aus dem Unbewußten zu bewußter Klarheit erhebe. „Alle Kulturentwicklung erwächst aristokratisch“ (ebd., 99).
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chologisch erzeugte, eher diffuse Rechtsempfinden werde durch die schöpferische Tat weniger oder eines einzelnen Führers aus dem Unbewußten zum klaren Bewußtsein gebracht und auf diese Weise Gemeingut.86 Jede entdeckte „ideologische Kulturerrungenschaft finde nur dann Zustimmung und Anerkennung bei der reifenden Menschheit, wenn ihr Gefühlsleben den geeigneten Resonanzboden zur Aufnahme der Idee enthält“87. Insofern wird bei Berolzheimer das Erkennen und die Artikulation der leitenden Kulturprinzipien durch einzelne führende Persönlichkeiten bei der Masse der Menschen zum Anerkennen. Das Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Volksanschauung und aristokratisch-elitärem Weitblick tritt auch bei Kohler offen zutage, dessen Ausführungen über die maßgebenden Kulturanschauungen einen ausgesprochen bevormundenden Zug haben. Sucht man nach dem Entscheidungsträger, der die von Kohler in den Raum gestellte Notwendigkeit, daß eine jede Kulturperiode „sich zu entscheiden hat, wer würdig und unwürdig, wer schuldig und wer unschuldig, was gleich und was verschiedenwertig ist“88, so zeigt sich, daß Kohler gegenüber mehrheitlichen Anschauungen äußerst skeptisch war und demgegenüber auf den geschulten Betrachter der historischen Entwicklung setzte: „Auf der einen Seite das Volksleben, welches naiv zu einem der Unkultur entsprechenden Rechte gelangen möchte, und auf der anderen Seite die Sehnsucht weitschauender Geister, welche dem entgegenzuwirken suchen. Man denke nur an die Zeiten der Menschenopfer, der Hexenprozesse, und noch an die Zeiten, wo die vernunftwidrige Einrichtung des Zweikampfes manchem als unentbehrlich galt . . . Hier ist es besonders, wo die Gesetzgebung eines über dem Volke stehenden Geistes die Aufgabe hat, mit dem Volksbewusstsein zu ringen und die unlogischen Bestrebungen möglichst zu verhindern.“89 Kohlers Behauptung, die der Kultur entsprechende Rechtsgestaltung sei dem einzelnen unmittelbar einsichtig, wird durch diese Ausführungen ad absurdum geführt. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß Kultur für Kohler nicht nur Ausdruck eines konkreten Entwicklungszustandes ist, sondern vor allem die Sublimierung und Erhebung des Menschlichen über sich selbst hinaus bedeutet, also eine Wertsteigerung impliziert.90 Die Hervorhebung besonderer PersönlichBerolzheimer, System III, 99 f. Berolzheimer, System I, 312 (im Original gesperrt). 88 Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaften, 5. 89 Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 39. 90 „Das Wesen der Kultur im Sinne der Rechtsphilosophie besteht in der möglichsten Entwicklung der menschlichen Erkenntnis und in der möglichsten Entwicklung der menschlichen Beherrschung der Natur, also der menschlichen Macht.“ (Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie,17 ff.) Kultur bedeutet „Aufwärtsstreben“ (ders., Aufgaben und Ziele der Rechtsphilosophie, ARWP III (1909 / 10), 502 f.). „Da man aber nicht aufhört, mich mißzuverstehen, und insbesondere die Kultur, so wie ich sie darlege, als etwas unbestimmtes, als einen allgemeinen Stand der der (sic) Menschheitsentwicklung bezeichnet und die Fabrikation der Knöpfe ebenso als Kulturereignis darstellt, wie die Entdeckung des Himmelskörpers, so will ich jetzt nochmals kurz folgendes erörtern: Das Wesen der Kultur besteht in der möglichsten Entwickelung der menschlichen Erkenntnis und in der möglichsten Entwickelung der 86 87
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keiten für die geschichtliche Entwicklung versetzt die Mehrheitsmeinung in eine passive, wirkungsmächtige, aber geistig untergeordnete Rolle und ermöglicht die elitäre Bestimmung der Kultur und des Rechts. So tarnt der Kulturbegriff subjektive Einschätzungen über die soziale und kulturelle Angemessenheit des Rechts, ohne wirklich eine Wertungsgrundlage erschließen zu können. Berolzheimer und Kohler wollten sich dem Kulturfortschritt widmen, ihr Eintreten für die Gestaltung des Rechts in unmittelbarer Anbindung an die Kultur, notfalls auch unter Umgehung des Gesetzgebers, hat freilich einen deutlich reaktionären Zug.91 Die erklärungsbedürftige Verknüpfung zwischen dem Recht und der sozialen und kulturellen Wirklichkeit wird in Kohlers und Berolzheimers Konzepten mit dem Verweis auf den vorgeblich eindeutigen Begriff einer allgemeinen Kulturauffassung ersetzt, mit dem der Pluralisierung der Gesellschaft und ihrer Ideale ein homogenes Gegenbild gegenübergestellt wird. Auf diese Weise soll ein außer Zweifel stehendes, übereinstimmendes Wertfundament des Rechts gesichert werden. Mit dem Kulturbegriff suggerierten Kohler und Berolzheimer einen verläßlichen Standort. Er wird als geeignetes Instrument angesehen, die Ergebnisse der dynamischen, antagonistischen gesellschaftlichen Entwicklung zu kondensieren und eine verbindliche Wertungsgrundlage zu schaffen. Damit belebten sie allerdings ein weitgehend unzeitgemäßes Konzept, das der Vorstellung einer allgemeinen Rechtsüberzeugung nahekommt.92 Wenn man – wie es die Historische Schule tut – einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Volksgeist, Recht und allen anderen kulturellen Äußerungen zugrunde legt und die verschiedenen Bereiche als Emanationen des Volksgeistes auffaßt, in dessen höherer Einheit sie vermittelt sind, steht die Rechtsentwicklung notwendig im Einklang mit der sozialen Wirklichkeit.93 Indem nun aber der Wille des Gesetzgebers, Recht zu schaffen und gesellschaftliche Prozesse zu steuern, in den Vordergrund gerückt war, ging auch diese organische Verbindung zwischen Recht und Volksgeist verloren.94 Dieses menschlichen Beherrschung der Natur, also der menschlichen Macht. Was das Intellektuelle betrifft, so deckt sich der Kulturbegriff einigermassen mit der Vernünftigkeit Hegels; was aber die Macht angeht, so ist ihre Hervorhebung ein besonderes Ergebnis der modernen Philosophie. Was sonst Kultur heisst, ist nur der Untergrund für diese höchsten Ergebnisse menschlichen Strebens und Ringens.“ (ders., Vom Positivismus zum Neuhegelianismus, ARWP III (1909 / 10), 170 f.; vgl. allerdings ders., Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 6). 91 Das unterstreicht bzgl. Berolzheimers auch Rückert, Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys, ZRG GA 103 (1986), 243. 92 Darauf, daß Kohler und Berolzheimer mit ihrer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise eher der Historischen Schule als Hegel nahe stehen, verweist Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 9 f. 93 Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 16 f.: „Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und gesellschaftlicher Wirklichkeit braucht als solche gar nicht gestellt zu werden, ja sie kann es eigentlich nicht einmal. Die ,organische‘ Entsprechung von beiden versteht sich von selbst: Sie wird vermittelt durch die in beiden wirksame höhere Einheit des Volksgeistes.“ 94 Die Unvereinbarkeit der Vorstellung von der neuen Rolle des Gesetzgebers mit der überkommenen Kategorie des Volksgeistes zeigt Bierlings Kritik: Die Lehre vom Volksgeist
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Spannungsverhältnis zwischen sozialer Wirklichkeit und normativer Ordnung wird bei den Neuhegelianern durch die Vorstellung allgemeiner Kulturanschauungen vermittelt. Daß ein solches Substrat nicht mehr verfügbar war, war jedoch auch Berolzheimer sehr wohl bewußt; er sah darin allerdings das Krisenphänomen einer Übergangszeit, die es zu überwinden gelte. „Aus dieser Zeit der kulturellen Vielspältigkeit und Zerrissenheit bahnt sich in mählichem Werden neue Einheitlichkeit und Geschlossenheit an. Das kulturpsychologische Moment, das zur Bildung eines neuen Klassenstaates drängt, ist die Zerrissenheit unserer Kultur von heute, und die daraus resultierende tiefe Sehnsucht nach Frieden, nach innerer und äußerer Einheit. Aber kein Fortschritt, keine neue Kultur ohne Kampf! Heute ringen vor allem um die neue Kultur: Materialismus (Haeckelscher „Monismus“); mittelalterliche Intoleranz; aufgeklärter toleranter Protestantismus samt verwandten Richtungen idealistischer Philosophie. Der aufmerksame Beschauer der großen Kulturentwicklungen wird kaum im Zweifel bleiben, welche dieser Richtungen den Aufstiegsweg zu neuer dauernder Kulturhöhe darstellt.“95 Nicht zuletzt diese vorhandenen Gegensätze nötigten Berolzheimer, die Erkenntnis der maßgeblichen Kulturprinzipien einer geistigen Führungspersönlichkeit anzuvertrauen.
III. Die Forderungen der Kultur – M. E. Mayers Kulturnormentheorie In diesem Zusammenhang darf die bereits 1903 von Max Ernst Mayer96 entwikkelte Kulturnormentheorie nicht unerwähnt bleiben, in der Berolzheimer „eine erkläre nicht die Respektierung der gesetzgeberischen Subjekte als Volksgeist oder sie setzte die Wirksamkeit des Volksgeistes in allen übrigen Volksgenossen voraus, d. h. ihre „rückhaltlose Empfänglichkeit“, die Anerkennung einer Verfassung (ders., Kritik der juristischen Grundbegriffe I, 61 f., 65). Bierling wirft hier ein Problem auf, das sich im Rahmen des Konzepts der Historischen Schule aufgrund der organischen Verbindung zwischen Recht und Volksgeist gar nicht stellt. Das Recht entsteht als Gewohnheitsrecht aufgrund der gemeinsamen Überzeugung im Volk. Die Rolle des Gesetzgebers – ebenso wie die der Wissenschaft – ist dann eine ganz andere; sie beschränkt sich auf das Erkennen und Umsetzen des allgemeinen Willens. 95 Berolzheimer, System II, 491. Berolzheimer betrachtete das Vorherrschen des naturwissenschaftlichen und technizistischen Denkens sehr skeptisch, glaubte aber, daß es durch einen im Vordringen begriffenen Idealismus überwunden werden könne (ders., Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, 394). Zum Kulturpessimismus Portinario, Kulturpessimismus und die Grenzen der Entzauberung, in: Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 (Hg. vom Bruch / Graf / Hübinger) 175; Ringer, Die Gelehrten, 229 ff. 96 Max Ernst Mayer (1875 – 1923) entstammte einer jüdischen Familie, war aber evangelischer Konfession. Er studierte zunächst Philosophie und Literatur- und Kunstgeschichte in Leipzig und promovierte in Philosophie. Später studierte er Rechtswissenschaften in Straßburg, wo er sich mit der hier im Mittelpunkt stehenden Schrift „Rechtsnormen und Kulturnormen“ (1903) habilitierte. Seine akademische Karriere entwickelte sich aufgrund seiner jüdischen Herkunft langsam, 1910 wurde er außerordentlicher Professor in Straßburg und 1919 in Frankfurt a. M., unterbrochen von einer Tätigkeit bei den Justizbehörden in Wilna
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glückliche Synthese von Kohler’scher und Binding’scher Rechtsphilosophie“97 erblickte. Ähnlich wie Kohler und Berolzheimer hatte Mayer versucht, die allgemeine Kulturauffassung, die nach seiner Auffassung in den Kulturnormen Ausdruck findet, zur Grundlage der Rechtsgestaltung zu machen und als außerjuristischen Normenkomplex zu gewinnen. Seine wiederholt als geistreich und anregend gelobten Ausführungen stießen zwar überwiegend auf Ablehnung98, sie stellen jedoch ein weit elaborierteres Konzept des Zusammenhangs von Kultur und Recht vor. Gleichzeitig läßt sich an diesem Versuch anschaulich demonstrieren, wie das Kultur-Konzept von Mayer selbst aufgrund der unglaubwürdig gewordenen Vorstellung einer homogenen Gesellschaftsstruktur aufgebrochen werden muß, wodurch, wie sich zeigen wird, die Kulturnormentheorie ihre Schlüssigkeit einbüßt.
1. Die Anerkennung von Kulturnormen und ihre Bedeutung für das Recht Die Verbindung von Recht und Kultur ist hier im Sinne einer, wie Radbruch bemerkt hat, „Modifikation der Anerkennungstheorie“99 ausgearbeitet. Die Kulturnormentheorie bedeutet jedoch nicht nur eine sozialpsychologisch erklärende Geltungstheorie, dahinter verbergen sich zugleich Elemente einer Rechtsquellenlehre. Mayer bezog sich zur Begründung der verpflichtenden Kraft des Rechts anders als die übrigen Anerkennungstheorien nicht auf die Anerkennung der Rechtsnormen, sondern auf dem Bürger von der Kultur auferlegte, gleichlautende Pflichten, die von ihm als Kulturnormen bezeichnet wurden.100 Damit wollte Mayer allerdings nach eigenem Bekunden keineswegs die juristische Verbindlichkeit begründen, sondern, wie er später gegen mehrfach geäußerte Kritik vorgebracht hat, eine „Rechtfertigung des Rechts“101 im Sinne einer „Erklärung des rechtmäßigen Verhaltens“102 geben. Mayer behauptete: „Die Rechtfertigung des Rechts und in Son(zu Mayer: Hassemer, Max Ernst Mayer, in: Juristen an der Universität Frankfurt am Main (Hg. Diestelkamp / Stolleis), 84 ff.). 97 Berolzheimer, System II, 402. Dies wurde von Mayer allerdings zurückgewiesen, und zwar sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf die zeitliche Veröffentlichungsreihenfolge (Mayer, Rechtsphilosophie, 31 f., Fn. 1). 98 Vgl. nur Thon, Der Normadressat, in: Jherings Jahrbücher 50 (1906), 21 und Gerland, Besprechung von Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, Krit. Vierteljahresschrift 46 (1905), 439. 99 Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 167 f. Fn. 7. 100 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 17. Mayer knüpfte damit an Bindings Normentheorie an, wonach der Straftäter nicht das Strafgesetz, sondern die darin enthaltene Norm verletze (zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden ders., ebd., 130 ff.). 101 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 16. 102 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 45 f. Fn. 9 (im Orig. gesperrt). Recht war für Mayer „die Gesamtheit von Handlungen, die ein Staat vornimmt, um durch Aufstellung und Durchführung eines Systems von Normen, die durch Zwang garantiert, und
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derheit die Verbindlichkeit der Gesetze beruht darauf, dass die Rechtsnormen übereinstimmen mit Kulturnormen, deren Verbindlichkeit das Individuum kennt und anerkennt.“103 So lasse sich erklären, warum es aus Sicht des Individuums keine Willkür bedeute, nach Normen gerichtet zu werden, die sich seiner Kenntnis entziehen. Im Fall der Nichtübereinstimmung mit den Kulturnormen sollte den Gesetzen nach Mayers Auffassung bloß juristisch verbindliche Kraft zukommen.104 Der Hintergrund dieser Bemühung liegt in Mayers im Anschluß an Jhering entwickelter Vorstellung, die Normen richteten sich nicht an die Bürger, sondern an die Organe des Staates.105 Damit war ein Erklärungsbedarf im Hinblick auf die Verbindlichkeit des Rechts für das Volk entstanden. Mayer führte sie entsprechend einer zeitgenössischen Strömung106 auf das subjektive Verpflichtungsempfinden zurück und behauptete: „Das Bewusstsein verpflichtet zu sein, ist aber identisch mit der Kenntnis der Kulturnormen, die dem Individuum seine Pflichten auferlegen und bekanntgeben.“107 von Zwangsmaßnahmen, die an Normen gebunden sind, die Pflege von gemeinsamen Interessen zu sichern“ (Mayer, Rechtsphilosophie, 56). 103 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 16 (im Orig. gesperrt). 104 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 26; dazu kritisch Kohlrausch, Besprechung von Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, ZStW 24 (1904), 737 ff.; ebenso Gerland, Besprechung von Max Ernst Mayer, Rechtsnormen und Culturnormen, Krit. Vierteljahresschrift 46 (1905), 435. 105 Aufgrund der Tatsache, daß das Volk die Gesetze nicht kenne, ging Mayer davon aus, daß es nicht der Adressat der Rechtssätze seien könne, sondern diese sich an die Organe des Staates, insbesondere den Richter richteten (Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 4 f., 6 ff.). Mayer bezog sich dabei auf die Rechtsnormen des Strafrechts. Neben dieser internen Wirkung bestehe die externe Wirkung gegenüber den Bürgern in der Garantie des Staates, bestimmte Interessen und Pflichten als solche anzuerkennen und zu schützen (ebd., 49). Eine Ausnahme sollte nach Mayer das Polizeirecht bilden, hier würden dem Bürger unmittelbar Rechtspflichten durch die Rechtsnorm auferlegt, weil vorrangige Kulturnormen fehlten (ebd., 27 f., 109 ff.). Vgl. auch Jhering, Der Zweck im Recht I, 262. 106 Mayer griff damit auf die Vorstellungen Ernst Rudolf Bierlings (1841 – 1919) zurück. Bierling gilt als Begründer der individuellen Anerkennungstheorie (dazu Bahlmann, Die Rechtslehre Ernst Rudolf Bierlings unter besonderer Berücksichtigung seiner Anerkennungstheorie, 30 ff., 47 ff.; Ott, Der Rechtspositivismus, 61 ff.). Er ging davon aus, daß stillschweigend eine vorherige subjektive Normenanerkennung, verstanden als „habituelle(s), dauernde(s) Respektieren gewisser Normen“ (Bierling, Juristische Prinzipienlehre I, 42 f.), vorausgesetzt sei, die festlege, daß die in Form des Gesetzes auftretende Norm gültig sei. Die Notwendigkeit der Anerkennung ergebe sich aus der Notwendigkeit der bewußtseinsmäßigen Aneignung der Norm. Die Bedeutung der Anerkennung rückt bei Bierling, wie Brockmöller herausgestellt hat, in die Nähe der Kelsenschen Grundnorm, indem Bierling Anerkennung nur indirekt und zwar für die Norm fordere, die die Bindung an die Staatsgesetze vorschreibt (Bierling, Kritik der juristischen Grundbegriffe I, 138; Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 253). Brockmöller widerspricht damit der Kategorisierung der Bierlingschen Theorie als psychologischer Rechtstheorie, wie sie Fikentscher, Methoden des Rechts III, 362 f.; Ott, Der Rechtspositivimus, 61 ff.; Tripp, Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 282, und mit Einschränkungen auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 39 ff., 40, vorgenommen haben.
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Mayer fand seine Auffassung durch zwei Bedingungen bestätigt: Zum einen kenne das Individuum die Kulturnormen und erkenne sie an, zum anderen stimmten die Rechtsnormen mit den Kulturnormen überein. Die zweite Voraussetzung sah Mayer dadurch gegeben, daß sich das rechtliche Normensystem neben anderen religiösen, sittlichen oder konventionellen Ordnungen aus dem Kulturnormensystem ausdifferenziert habe, Kultur- und Rechtsnormen also ursprünglich identisch seien und auch jetzt keine inhaltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Ordnungen bestünden, sondern nur ihrer Form und der Art ihrer Garantie nach.108 Im Hinblick auf die erste Bedingung ging Mayer von einem vergleichbaren Zusammenhang wie Kohler und Berolzheimer aus: „Wenn wir aber den Blick auf die grosse Menge des Volkes richten, dann finden wir in jedem Einzelnen das Bewusstsein seiner Pflichten und eine volle Uebereinstimmung zwischen den von ihm und von der Allgemeinheit anerkannten Pflichten, wir finden in jedem Individuum ein Mitglied der Kulturgemeinschaft.“109 Damit sah Mayer die Anerkennung über die Verbindung zu einer gemeinsamen Lebenswelt hergestellt. Die Kultur war für Mayer ein vorrangiger, außerrechtlicher Komplex, auf den das Recht Bezug nehme, denn es gebe „kein Verhalten, welches der Staat verbietet, ohne dass es vor ihm die Kultur verboten hat.“110 Neben dieser rechtskritischen Funktion der Kultur sprach Mayer jedoch auch dem Recht eine kulturkritische Funktion zu111 und ging von einer Wechselwirkung zwischen Kultur und Recht aus.112 Unter Kulturnormen verstand Mayer „einen Sammelnamen für die Gesamtheit derjenigen Gebote und Verbote, die als religiöse, moralische, konventionelle, als Forderungen des Verkehrs und des Berufs an das Individuum herantreten.“113 Die Übereinstimmung gemeinsamer Wertungen wird auf eine „Mitgliedschaft“, ein organisches Verwachsensein mit der Gesellschaft gegründet. Den Idealzustand erMayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 77 (im Orig. gesperrt). Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 19. Hierbei bezog sich Mayer auf den Staatsrechtler Richard Schmidt, der das Recht durchschnittlich „als unter öffentliche staatliche Garantien gestellte(n) Teil der Volksmoral und Volkssitte“ betrachtet hatte (Schmidt, Allgemeine Staatslehre I, 170). Duve charakterisiert Schmidts Argumentation als „Konsensobjektivität durch Sozialpsychologie“ (Duve, Normativität und Empirie, 223 ff.). 109 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 18. 110 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 20. 111 Begriffe bei Besser, Max Ernst Mayers Kulturnormentheorie und ihre Kritiker, 43. 112 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 23 f.; ders., Rechtsphilosophie, 39. 113 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 17, im Orig. gesperrt. „Die Kultur fordert, verbietend und gebietend tritt sie an den Einzelnen heran, sie schafft einen Normenkomplex, ja in gewissem Sinne den Normenkomplex, da alle Normen Kulturprodukte sind . . . Kulturnormen sind Verbote und Gebote, durch die eine Gesellschaft das ihrem Interesse entsprechende Verhalten fordert . . . Unter diese Definition fallen die Normen der Religion und der Moral, die Normen des Verkehrs im örtlichen und geistigen, im wirtschaftlichen und geselligen Sinne, die Normen der agrarischen, militärischen, technischen, akademischen Kultur usw. und natürlich auch die Rechtsnormen.“ (ders., Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 44, im Orig. teilweise gesperrt; ebenso mit Beispielen: ders., Rechtsphilosophie, 38, 39 Fn. 1). 107 108
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läuterte Mayer später dahin gehend, daß der einzelne als Folge eines Aneignungsprozesses mit der Kultur eins geworden und mehr als Glied denn als Mitglied der Interessengemeinschaft zu betrachten sei.114 Mayers Ansatz birgt bereits in sich unübersehbare Schwächen.115 So bestehen – worauf Kelsen hingewiesen hat116 – Zweifel im Zusammenhang mit einem Perspektivenwechsel im Rahmen der Anerkennung: Hat es den Anschein, als sei diese im Ausgangspunkt von Mayer als individuelle gedacht, da Mayer zeigen wollte, warum es dem einzelnen nicht als Willkür erscheinen müsse, nach Normen gerichtet zu werden, die er nicht kenne, so stellt sich jedoch heraus, daß Mayer letztlich nicht auf die subjektive Pflichtvorstellung abstellte, sondern auf die allgemeine Anerkennung, „auf die große Menge des Volkes“117, auf Pflichten, „die von der in Deutschland herrschenden Kultur hoch gehalten werden“118. Die Spannung zwischen individuellem und kollektivem Bewußtsein wird über den Kulturbegriff vermittelt und tritt daher nicht als Problem in Mayers Blickfeld.119 Damit ist eine homogene Auffassung der Kulturgemeinschaft vorausgesetzt, die sich in jedem einzelnen widerspiegelt. „An jeden treten die Forderungen der Kultur auf die mannigfachste Weise heran; die kulturelle Tradition, die in jedem Volk von Generation zu Generation getragen wird, hat tausend Wege.“120 Die subjektive Anerkennung folgte nach Mayers Vorstellung aus der notwendigen Teilhabe an der Kultur und der mit ihr gegebenen allgemeinen Kulturnormen. Entsprechend argwöhnisch sprach Thon davon, daß die Kulturnormen von Mayer „als eine Art Aether gedacht (scil. seien), der die Seelen wenigstens normaler Menschen ständig durchdringt.“121 Für Normverweigerer konnte laut Mayer die Rechtsordnung nicht gerechtfertigt werden. Mayer hatte dabei nur vereinzelte Fälle vor Augen wie den Adventisten, der den Militärdienst verweigert, oder den Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 44. Vgl. insbesondere Thon, Der Normadressat, in: Jherings Jahrbücher 50 (1906), 12 ff.; Binding, Die Normen und ihre Übertretung II 1, 366 ff.; Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 370 ff.; ausführliche Darstellung der Kritiker bei Besser, Max Ernst Mayers Kulturnormentheorie und ihre Kritiker, 47 ff.; Kritik auch bei H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 113 ff. 116 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 372. 117 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 18. 118 Mayer, Glossen zur Schuldlehre, ZStW 32 (1911), 501. 119 Später hat Mayer im Anschluß an Simmel zwischen objektiver und subjektiver Kultur, der Kultiviertheit des einzelnen durch Aneignung der Kulturwerte, unterschieden, wobei er sich allein auf erstere stützte (Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 43). Simmel hatte auf dieser Differenzierung seine Entfremdungsthese aufgebaut, wonach die Gefahr eines rein sachlich zweckmäßigen Wachstums der Objektivationen des Geistes (Kunstwerke, Sozialformen, Institutionen, Erkenntnisse) bestehe, das für das Individuum nicht mehr nachvollziehbar sei (vgl. nur Simmel, Vom Wesen der Kultur, abgedruckt in: Brücke und Tür (Hg. Landmann / Susmann), 86 ff., 93 f.). 120 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 18. 121 Thon, Der Normadressat, in: Jherings Jahrbücher 50 (1906), 14. 114 115
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
Anarchisten, der den Fürstenmord glorifiziert, und bezeichnete diese Haltungen als „Privatmoral“122. „Nicht seine, sondern unsere Kultur ist der Maßstab.“123 Die dabei deutlich werdende Schwierigkeit, aus der allgemeinen Normenanerkennung eine individuelle Verpflichtung für einen Normverweigerer zu begründen, stellt ein grundlegendes Problem der generellen Anerkennungstheorien dar, auf das unten noch zurückzukommen sein wird. Das Problematische ist hier insbesondere der grundlegende Begriff der Kultur und Mayers Vorstellung von kulturellen Geboten und Verboten.
2. Kultur als Wertbegriff Der Kulturbegriff wurde von Mayer zunächst lediglich als beschreibender Begriff vorausgesetzt. Die damit verbundene Vorstellung einer zweifellos homogenen Kultur hat erhebliche Kritik hervorgerufen. Kelsen hat eine Übereinstimmung der Rechtsnormen mit den Kulturnormen vehement zurückgewiesen, eine einheitliche objektive Kultur, wie es eine einheitliche Rechtsordnung gebe, sei nicht vorhanden.124 Mayer gab daraufhin zu, die Verschiedenheit der Kulturwerte zu wenig betont zu haben, und gestand im Zuge dessen ein, daß man nicht schlicht, wie er es getan hatte, von schlechten weil „kulturfremden“ Gesetzen sprechen könne.125 Er wandte sich dem Problem nun differenzierter zu und unterstrich, daß jede Gesellschaft eine Interessengemeinschaft mit bestimmten Kulturwerten sei, wobei er den Gesellschaftsbegriff – wohl in Anlehnung an den Soziologen Georg Simmel126 – sehr weit faßte und darunter sowohl Elementarformen wie die Ehe als auch organisierte soziale Gebilde wie Vereine, kommunale Körperschaften, Berufsstände, Nationen und Staaten verstand. Wo die divergierenden Interessen auf ihren gemeinsamen Ausgangspunkt zurückgeführt würden, sei die „intersoziale Wirkung“ der Kultur, deren Überwindung das Ziel sei, gesellschaftsbildend.127 Er ging damit dazu über, verschiedene Gruppierungen innerhalb einer Gesellschaft als ein Nebeneinander mehrerer Kulturen aufzufassen, die miteinander im Austausch, unter Umständen sogar im Kampf begriffen seien. Darin sah er einen meistens frucht122 Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 18; ders., Glossen zur Schuldlehre, ZStW 32 (1911), 501. 123 Mayer, Glossen zur Schuldlehre, ZStW 32 (1911), 501. 124 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 371. Zur Unterstellung eines kohärenten Wertschemas in der kulturellen Verfaßtheit moderner Gesellschaften in gegenwärtigen integrationistischen Kommunitarismuskonzepten vgl. Gutmann, „Keeping ‘em down on the farm after they’ve seen Paree“: Aporien des kommunitaristischen Rechtsbegriffs, ARSP 83 (1997), 56. 125 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 48 Fn. 14. 126 Vgl. Simmel, Soziologie, in: Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, 17 f. 127 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 44. Die Nation identifizierte Mayer neben den Berufs- und Gesellschaftsklassen aufgrund ihrer Intensität und Eigenart als stärkste kulturbildende Gesellschaft (Mayer, Rechtsphilosophie, 35).
III. Die Forderungen der Kultur
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baren „Konflikt von Kulturnormen“128 und funktionalisierte ihn als eine „der Kultur immanente[n] Selbstkritik“129. Von einem „bloß als Sammelnamen“ verwendeten Ausdruck von Kulturnormen abrückend, bestimmte Mayer den Kulturbegriff im Anschluß an Rickert nun allgemein als „Pflege eines gemeinsamen Interesses“130 und betonte die Werthaftigkeit des Kulturbegriffs: „Kultur ist nicht bloß Wirklichkeit und ist nicht bloß Wert, sondern die Einheit von beiden. Kultur ist wertvoll gewordene Wirklichkeit und darum auch wirklich gewordener Wert.“131 Der Kulturbegriff ist damit nicht länger ein Sammelbegriff, sondern ein Wertbegriff, der nach Mayer den Gedanken des Fortschritts und der Annäherung an ein Ideal beinhaltet.132 „Denn vom Standpunkt einer jeden Gesellschaft ist das wertvoll, was dem gemeinsamen Interesse zuträglich ist; und dieses gesellschaftsfreundliche Verhalten ist es, das von der Kultur gefordert wird.“133 Der wissenschaftliche, eine Begriff der Kultur umfasse also viele verschiedene Kulturen: „Es gibt prinzipiell so viel Kulturwerte als Gesellschaften.“134 In diesem Zusammenhang führte Mayer ein neues Begründungselement ein, das aufgrund des Nebeneinanderbestehens von verschiedenen Kulturnormen notwendig geworden war, nämlich die Anerkennung seitens des Staates.135 Mayer ging Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 48 (im Orig. gesperrt). Mayer, Rechtsphilosophie, 37; vgl. auch ebd., 58 ff. 130 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 41. Vgl. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 520 f. Auf Radbruchs Konzeption der Kultur als nicht bloßem Seins-, sondern Wertgebilde und seine Unterscheidung zwischen einem historischen, einem geschichtsphilosophischen und einem ethischen Kulturbegriff kann hier nur hingewiesen werden (Radbruch, Ueber den Begriff der Kultur, in: Logos 2 (1911 / 12), 200 ff.; dazu E. M. Maier, die bezüglich der rechtsphilosophischen Rezeption der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung von einem „Zerfall praktischer Vernunft“ spricht, da sie kein Kriterium ermögliche, an dem sich menschliche Praxis und juristische Legitimationsansprüche orientieren könnten (E. M. Maier, Naturrecht und Kulturwissenschaft, in: ARSP-Beiheft 35 (1989), 53 f., 55 ff.). 131 Mayer, Rechtsphilosophie, 34. Kritisch dazu Stammler, Kultur und Recht, in: ders., Rechtsphilosophische Grundfragen, 83 ff. 132 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 41; vgl. auch ders., Rechtsphilosophie, 33, im Orig. gesperrt. In dieser Richtung auch Münch, Kultur und Recht, Ztschrft. f. Rechtsphilosophie 1 (1914), 345 ff. sowie ders., Die wissenschaftliche Rechtsphilosophie der Gegenwart in Deutschland, Beitr. zur Phil des. dt. Idealismus I, 138 ff. Allerdings sah Münch deutlich, daß eine tatsächliche Allgemeinheit anerkannter Werte nicht mehr vorhanden sei, sowie es sich um irgendwelche die elementarsten Lebensbedürfnisse übersteigende Bedeutungen handele. Münch folgte daher der auch bei Berolzheimer anzutreffenden Auffassung, daß das Recht dem Kulturbewußtsein der geistig Höchststehenden zu entnehmen sei, für die Gesamtheit nur anerkennbar und erfüllbar sein müsse (ders., Kultur und Recht, ebd., 379). 133 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 41 f. 134 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 42, 40 f., Fn. 4. 135 Nicht mehr die Kultur verbietet, sondern: „Die Abgrenzung des rechtmäßigen vom rechtswidrigen Verhalten vollzieht sich in der Gesetzgebung durch Anerkennung von Kulturnormen.“ (Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 51) Zu dieser Modifikation auch Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 116 f. 128 129
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
davon aus, in der Rechtsordnung gelangten mit den Kulturnormen grundsätzlich allgemeine Interessen zu staatlicher Anerkennung.136 Er hob nun aber stärker hervor, daß jeder Staat in seinen Rechtsnormen zur Kultur Stellung nehmen und eine Wahl zwischen der Anerkennung verschiedener Kulturnormen treffen müsse137; insofern sprach er auch von einer „Parteinahme des Rechtes“138. Damit werden allerdings die Voraussetzungen der Kulturnormentheorie aufgehoben, da nunmehr sowohl die Behauptung einer allgemein vorhandenen, unmittelbaren Einsichtigkeit der Kulturnormen erschüttert ist, als auch die Übereinstimmung zwischen Rechtsnormen und Kulturnormen von Mayer eingeschränkt wird. Hierdurch leidet die Plausibilität seiner Kulturnormentheorie, denn es bleibt unschlüssig, wie sich die Verbindlichkeit der Rechtsnormen gegenüber denjenigen Gruppierungen begründet, von denen die vom Staat anerkannten Normen nicht gebilligt werden. Von einer allgemeinen Kenntnis und Anerkennung läßt sich nicht mehr sprechen, wie Kelsen in seiner Kritik zeitgemäß veranschaulicht hat: „Man muß durchaus nicht Marxist sein, um einzusehen, daß die in der jeweiligen Rechtsordnung zur Herrschaft gelangten Kulturnormen sich keinesfalls mit demjenigen vereinbaren lassen, was einer zahlreichen Klasse von Menschen als Kulturnorm erscheint. Die in der Rechtsordnung herrschende Kultur ist die Kultur der herrschenden Klasse und ihre Normen stehen im schärfsten Gegensatze zu denjenigen, die als Kulturnormen des Proletariats gelten müssen . . . Und angesichts der Tatsache, daß die heutige Gesellschaft in zwei und noch mehr Lager gespalten ist, deren Welt- und Kulturanschauungen zum großen Teile divergieren, kann auch nicht von einer Durchschnittskultur und deren Normen gesprochen werden.“139 Damit kann Mayers Kulturnormentheorie die von ihm angestrebte Rechtfertigung des Rechts nicht leisten, geschweige denn außerrechtliche Kritik ermöglichen. Wie die Wahl zwischen verschiedenen Kulturnormen vom Gesetzgeber zu treffen ist, bleibt in diesem Zusammenhang ungeklärt.140
3. Kulturnorm und richtiges Recht Daß Mayer mit seiner Kulturnormentheorie von 1903 mehr im Sinn hatte, als nur eine erklärende Darstellung rechtmäßigen Verhaltens zu geben, legt der Umstand nahe, daß er sich in seiner zeitgleichen Kritik gegenüber Stammler auf den Standpunkt stellte, die im Volk herrschenden Anschauungen oder auch Kulturnormen könnten als „Princip des richtigen Rechts“141 nicht zurückgewiesen werden. Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 45. Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 45. 138 Mayer, Rechtsphilosophie, 40. 139 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 371 f. 140 Mayer, Der allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 49. 141 Mayer, Besprechung von Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Krit. Vierteljahresschrift (1905), 185. 136 137
III. Die Forderungen der Kultur
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Mayer gestand Stammler zu, daß ihm mit seiner Untersuchung die erkenntnistheoretische Analyse der ungeprüften Rechtsauffassung gelungen sei, allerdings lehnte er die Vorstellung ab, damit sei eine Methode zur Bewertung des Rechts gefunden, da der bewußte Vollzug der Methode auch weiterhin dem intuitiven Rechtsgefühl überlassen sei.142 Stammler habe eine „Kritik der juristischen Urteilskraft“ geleistet, mit der erkenntnistheoretischen Anlage seiner Ausführungen jedoch keine die Praxis motivierende Richtlinie für das Recht ermitteln können, sondern allein die Bedingungen des Richtigen formuliert.143 Gegen Stammler verteidigte Mayer die allgemeine Rechtsauffassung – zunächst ohne eigentliche Begründung – als Kriterium zur Unterscheidung von richtigem und unrichtigem Recht und scheint sich damit auf so etwas wie das „Faktum des Sittengesetzes“ berufen zu wollen.144 Mayers hier schon zum Ausdruck kommende Erwartung, es sei nicht unberechtigt zu meinen, die Überzeugung einer Gemeinschaft von der Richtigkeit einer Rechtsnorm habe die Vermutung für sich, mit den objektiven Erfordernissen der Richtigkeit übereinzustimmen, so daß das Maß der Geltung nicht außer Beziehung zum Maß der Richtigkeit stehen könne, ist im Zusammenhang mit seiner später ausgearbeiteten Wertlehre zu sehen.145 Mayer war der Auffassung, jeder Kulturwert finde sein Wesen neben der persönlichen Geltung, die Radbruch in den Vordergrund gestellt hatte, in einer sachlich bedingten Geltung.146 Auf der Grundlage des werthaften Kulturbegriffs entwickelte Mayer eine kritisch-relativistische Rechtsphilosophie, wobei er die prinzipielle Geltung transzendenter, vom Subjekt unabhängiger ethischer Werte voraussetzte, ohne die gar nicht von Richtigkeit gesprochen werden könne.147 Den subjektiven Standpunkt der persönlichen Wertungen versuchte Mayer durch den Hinweis auf die Kulturrelativität des Rechts zu überwinden. Alle in Frage stehenden Kulturwerte seien relativ, weil vom jeweiligen Kulturzustand abhängig, weshalb die aus einem Kulturzustand hervorgewachsenen Zwecke und Ideen eben in ihm eine gewisse Rechtfertigung fänden: „Die sachlichen Bedingungen der Relativität sind auch die der Richtigkeit“, wobei Mayer die 142 Mayer, Besprechung von Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Krit. Vierteljahresschrift (1905), 191, 183. 143 Mayer, Besprechung von Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Krit. Vierteljahresschrift (1905), 190 ff. 144 Mayer, Besprechung von Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, Krit. Vierteljahresschrift (1905), 184, 183 ff., 192 f. 145 Mayer, Rechtsphilosophie, 58. Geltung sei „die sozialpsychologische Form des objektiv Richtigen.“ (ebd., 58). 146 Mayer, Rechtsphilosophie, 68. 147 Mayer, Rechtsphilosophie, 70 Fn. 1. An Radbruch anknüpfend, entwickelte Mayer ein Wertschema, in dem die Wertsysteme den politischen Strömungen zugeordnet werden (Mayer, Rechtsphilosophie, 65 ff., krit. dazu Sauer, Besprechung von M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, ZStW 44 (1924), 709 ff.; Salomon, Die „Überwindung“ des Personalismus und Transpersonalismus bei Max Ernst Mayer, ARWP XVIII (1924 / 25), 431 ff.; aus stark gemeinschaftsorientierter Perspektive Angerthal, Untersuchungen zur Kulturidee in der neueren Rechtsphilosophie, 19 ff.).
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
Richtigkeit einer Theorie darin sah, daß sie sich bei der Ordnung des Stoffs bewähre.148 So sei beispielsweise die Theorie, die dem Staat den Zweck setze, Macht zu entfalten, zur Zeit Machiavellis richtiger gewesen als zur Zeit Bismarcks. „Relativ richtig“ sei daher eine pleonastische Redensart.149 Von gewissen Idealen behauptete Mayer schließlich, sie stellten die am wenigsten vergänglichen Aufgaben aller Zeiten dar, und begründete so die Idee der Humanität, die in überrelative Geltung erwachsen sei.150 Das Rückgrat der Anerkennungstheorie Mayers bildet die Vorstellung eines homogenen Kulturbewußtseins, an das das Recht anknüpft. In Mayers ursprünglicher Version der Kulturnormentheorie sind daher stärker als in anderen generellen Anerkennungstheorien Elemente einer Rechtsquellenlehre enthalten; das Recht bedient sich der allgemeinen Kulturauffassung weniger aus dem Grund, um seine Durchsetzung zu sichern, vielmehr müssen die Kulturnormen als die primäre Ordnung angesehen werden. Indem Mayer das Recht den Geboten und Verboten der Kultur öffnete, setzte er es der Gefahr ideologischer Vereinnahmung aus und untergrub dessen Autonomie. Dabei muß darauf hingewiesen werden, daß der Kulturbegriff hier noch nicht als autoritäres Ordnungs- und Zwangsprinzip eines allgemeinen Volkswillens gedacht ist und gegen einen vermeintlich überholten Normativismus in Stellung gebracht wird.151 Seine Bedeutung liegt in erster Linie in der Begründung der Verbindlichkeit des Rechts gegenüber den Bürgern, die aufgrund der Adressatentheorie Mayers erklärungsbedürftig geworden war. Hier sollte der Begriff der Kultur eine allgemeine Wertungsgrundlage für das Recht vermitteln, wodurch reale gesellschaftliche Konflikte theoretisch nicht adäquat dargestellt werden können. Die Unangemessenheit dieser Vorstellung zeigt sich an Mayers Mayer, Rechtsphilosophie, 69. Mayer, Rechtsphilosophie, 69. 150 Mayer, Rechtsphilosophie, 69. Der soziologische Begründungsansatz, der Mayer zu einem werthaften Kulturbegriff führte, wird an dieser Stelle metaphysisch abgeschlossen (ebd., 87 ff.). Ausgehend von der Voraussetzung, daß das Recht eine Kulturerscheinung sei, konnte nach Mayers Auffassung auch die Rechtsidee nur im höchsten Kulturwert gefunden werden. Da jeder Kulturwert an eine Gesellschaft zurückgebunden sei, müsse der höchste Kulturwert an die menschliche Gesellschaft anknüpfen, die ein an die Erfahrung grenzender Begriff, kein reales, sondern ein denknotwendiges Gebilde sei (ebd., 30 f., 87 ff.). Ihr korrespondiere der unbedingte Kulturwert der Humanität. Die Rechtsidee ist dabei für Mayer allerdings nicht identisch mit der Gerechtigkeit als individuellem Prinzip, sondern ein Synthesisprinzip der Erscheinungen, sie setze die Materie in Beziehung zu einem Wert, bilde jedoch im Gegensatz zu den Kulturwerten kein anzustrebendes Ziel (ebd., 63 ff., 89). Die verschiedenen Rechtsideale betrachtete Mayer – dann allerdings im Anschluß an Platon und Hegel – als Erscheinungsformen der allgemeingültigen Idee der Humanität (ebd., 90). Zum Spannungsverhältnis zwischen neukantianischen und hegelianischen Elementen in der Rechtsidee Mayers vgl. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 62 ff. und Moór, Eine Rechtsphilosophie des „kritischen Relativismus“, ARWP XVII (1923 / 24), 93). 151 Letzteres akzentuiert jedoch Besser, Max Ernst Mayers Kulturnormentheorie und ihre Kritiker, 79. Zur weiteren Entwicklung derartiger Denkmuster vgl. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie (19342), 150 ff. 148 149
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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Versuch, das Bestehen sozialer Differenzen in seine Kulturnormentheorie zu integrieren, wodurch das gesamte Konzept aus den Fugen gerät.
IV. Die Bedeutung der allgemeinen Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen für eine soziale Betrachtungsweise (Merkel und Jellinek) Während sowohl Kohler und Berolzheimer als auch Mayer mit der Behauptung der Konvergenz von Wertbewußtsein und Kultur das Fundament des Rechts in einer den Richtigkeitsmaßstab bildenden allgemeinen Kulturanschauung sahen, war es bereits Merkel nicht mehr um die Vermittlung einer allgemein akzeptablen Weltanschauung gegangen. Allgemeine Wertvorstellungen sind in Merkels Entwicklungskonzeption demgegenüber zunächst Ausdruck eines pluralen Gesellschaftsverständnisses. Dementsprechend war Merkel auch davon ausgegangen, daß ein aus der Entwicklungsbetrachtung gewonnener neutraler Maßstab allgemeine normative Verbindlichkeit nur insofern entfalten könne, als er sich in Übereinstimmung befinde mit den subjektiven Wertungen der einzelnen. Entsprechend ging er im Rahmen seiner Anerkennungstheorie davon aus, daß das Recht auf eine sittliche Grundlage treffen müsse, die es unterstützt, und nicht allein auf positiver Setzung beruhen könne, so daß es insofern auf die allgemeinen Gerechtigkeitsanschauungen ankomme. Während Berolzheimer, Kohler und auch Mayer meinten, mit dem Begriff der Kultur an ein gemeinsames Substrat als Wertfundament anknüpfen zu können, hatte Merkel mit seiner Anerkennungstheorie eine ethische Geltungsbedingung des Rechts formuliert, die im Zusammenhang mit seiner Parteienlehre als empirischsoziologische Reaktion auf eine pluralistische Gesellschaftsstruktur verstanden werden muß. Seine Geltungstheorie ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, daß er in dem individuellen Wertempfinden eine wertende Stellungnahme sah, die keines wissenschaftlichen Beweises fähig war, wie dies später auch Max Weber und Radbruch betont hatten.152 Gegenüber dem Rückgriff auf das integrierende Leitbild der Kultur muß dieser Versuch als ein Beispiel für die theoretische Wahrnehmung divergierender Richtigkeitsanschauungen und das Bestreben ihrer konzeptionellen Integration gewertet werden – ein Hinweis darauf, daß die Theorien Kohlers und Berolzheimers einem überholten, aber gleichwohl nach wie vor attraktiven, weil in hohem Maße ideologieoffenen Programm anhingen.153 Die Bedeutung des Rechts152 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 150 f.; Radbruch, Rechtsphilosophie, 96. 153 Die Aktualität der Theorie Merkels hob Jellinek hervor: „Einen untrüglichen Beweis aber der Tatsache, dass die Gestalt MERKELS heute noch in lebendiger Frische dasteht, liefert die eigentümliche Huldigung, die ihm KOHLER darbringt, der auf ihn, ähnlich wie auf andere hervorragende Tote, unaufhörlich schimpft. Der ausgezeichnete Kenner primitiver Rechtszustände wendet offenbar die Methode vieler Naturvölker an, die die fortlebenden und deshalb unbequemen Geister der Abgeschiedenen durch grossen Lärm zu vertreiben suchen.“ (Jellinek, Rez. zur 4. Auflage der Juristischen Enzyklopädie Merkels, AöR 25 (1909), 392.
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
gefühls ist hier von der abstrakten Gerechtigkeitsfrage abgelöst und orientiert sich hin zur Problematik der Effektivitätssicherung des Rechts und der Konstruktion eines gesellschaftlichen Konsenses, mit der ein Subjektivismus verläßlich überwunden werden kann. In diesem Zusammenhang soll auch die Anerkennungstheorie Jellineks Erwähnung finden, in der über Merkel hinausgehend der Versuch unternommen wird, die sozialpsychologischen Quellen des Rechts klarzulegen, die der Stellungnahme gegenüber dem geltenden Recht zugrunde liegen. Jellineks Ausführungen stehen ebenfalls im Zeichen einer evolutionistischen Geschichtsauffassung. In seiner Untersuchung der psychologischen Zusammenhänge, die als Beitrag zur Diskussion um das Rechtsgefühl verstanden werden können, kommt hingegen ein Methodenbewußtsein zum Ausdruck, das den zeitgenössischen Theorien Berolzheimers und Kohlers fernsteht. Hierin liegt ein gegenüber derartigen irrationalistischen Begründungsmustern weiterführendes Konzept, das die Diskussion um das Rechtsgefühl unter Heranziehung der zeitgenössisch bedeutsamen Sozialpsychologie auf empirischer Ebene fortsetzt. Diese Zusammenhänge werden im Rahmen der Frage nach der Rechtsgeltung thematisiert, die seit 1870 zunehmend behandelt wurde, nachdem die fragwürdig gewordenen Naturrechtslehren und die Rechtsquellentheorie der Historischen Schule hier eine Lücke hinterlassen hatten.154 Die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes konnte entsprechend der positivistischen Trennungsthese, wonach das Recht unabhängig von der Moral ist, nicht mehr aus der Übereinstimmung mit überpositiven Werten hergeleitet werden.155 Sie konnte aber angesichts der mangelnden sozialen Homogenität auch nicht länger auf einem idealen Kulturzusammenhang beruhen, der die Inhalte des Rechts allseitig intuitiv einsichtig macht. Es bestand jedoch das dringende Bedürfnis, das Recht gegenüber der bloßen Machtausübung abzugrenzen, und so konnte Verbindlichkeit auch nicht, wie es die Zwangstheorie Jherings dargestellt hatte, allein auf einen von außen an den Normadressaten herangetragenen Befehl gestützt werden. Merkel und Jellinek reagierten auf diese Situation insofern mit einer Subjektivierung des Verständnisses von Verbindlichkeit, als sie dem Recht seinen Verpflichtungscharakter über die Fähigkeit zur Motivierung des Normadressaten zu normgemäßem Verhalten zusprachen und die Geltung des Rechts auf die Anerkennung der Rechtsunterworfenen zurückführten.156 Sie wandten sich im Zuge dessen explanativ der Frage zu, wie das Recht als zunächst von außen gesetzte Ordnung vom Normadressaten als verpflichtende Norm empfunden werden kann.157 Allerdings verzichteten 154
Landau, Rechtsgeltung bei Georg Jellinek, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte),
299. 155 Zur positivistischen Trennungsthese Dreier, Recht und Moral, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 185 f.; Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 39 ff. 156 Allgemein zu den Anerkennungstheorien Ott, Der Rechtspositivismus, 60 ff., 66 ff.; H. L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 84 ff.; Welzel, An den Grenzen des Rechts, 7 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 506; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 43 ff. 157 Dabei ist hier also nicht von den von Ott getroffenen Begriffsbestimmungen auszugehen. Ott unterscheidet Positivität, faktische und normative Geltung sowie Verbindlichkeit des
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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auch sie nicht ganz auf eine heteronome Absicherung des Rechts; darüber hinaus entschärft sich das mit diesem subjektiven Ansatz verbundene effektive Geltungsproblem weiterhin dadurch, daß Merkel und Jellinek auf die generelle Akzeptanz abstellten und indirekte Anerkennung zuließen. Von wesentlichem Interesse sind im vorliegenden Zusammenhang jedoch die Begründungswege, in deren Kontext die Bedeutung von Wertvorstellungen erörtert wird. Denn Merkels und Jellineks Ansätze verlagerten bei der Festlegung des Rechtscharakters den Schwerpunkt von einer obrigkeitlichen Bestimmung des Rechts zu einer gesteigerten Bedeutung des Normadressaten, was zu einer gewissen Öffnung des Rechtsbegriffs für Fragen der Legitimität führt, insoweit damit tatsächlich vorhandene Gerechtigkeits- und Kulturvorstellungen berücksichtigt werden. Durch das Ausgehen vom Subjekt rücken hier der Begriff der Pflicht und die subjektive Vorstellung vom Verpflichtetsein in den Vordergrund.158 Dabei gingen Merkel und Jellinek durchaus unterschiedliche Wege: Hinsichtlich der Natur dieser Motivation muß daher unterschieden werden zwischen einer Begründung, die an die ethische Natur des Menschen anknüpft und darin eine Unterstützung des Rechts sucht, und einer Argumentation, die die Entstehung des Rechts auf eine psychologische Disposition des Menschen stützt. Auf der Ebene des Begriffs des Rechts wird auf diese Weise ein Korrektiv gegenüber dem positivistischen Rechtsbegriff eingeführt, denn das Recht kann sich nicht allein auf den heteronomen Machtbefehl stützen, es muß den Normadressaten vor ihrem kulturell-ethischen Lebenszusammenhang vermittelbar sein und steht damit in Abhängigkeit zu den jeweiligen Kulturanschauungen.159 Rechts und identifiziert Positivität mit faktischer Geltung, Verbindlichkeit bedeute hingegen die Rechtfertigung des Rechtssatzes von einem höheren Standpunkt aus (ebd., 19 ff.). Auch Welzel identifiziert mit dem Begriff der „Verpflichtungskraft des Rechts“ das Legitimitätsproblem (ders., An den Grenzen des Rechts, 11 Fn. 19, 21). 158 Vgl. auch Binder, der mit dem Satz „Das Recht verpflichtet rechtlich zu nichts“ hatte ausdrücken wollen, daß das Recht als reine Machtordnung nicht in der Lage sei, ein Sollen im Sinne einer Verpflichtung zu begründen (Binder, Rechtsnorm und Rechtspflicht, Erlanger Prorektoratsrede, Vortragsfassung, 16). Er schlug daher vor, die Begriffe der Pflicht und der Schuld durch den der Haftung zu ersetzen. Zu Binder: Dreier, Julius Binder (1879 – 1939). Ein Rechtsphilosoph zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: ders., Recht – Staat – Vernunft, 142 ff.; Jakob, Grundzüge der Rechtsphilosophie Julius Binders. 159 Die Bedeutung der allgemeinen Anerkennungstheorien erblickt Welzel darin, daß sie die folgenschwere Identifikation der Positivität (Faktizität) der Rechtsgeltung mit der Durchsetzbarkeit eines Befehls abwehre und das Recht schon auf der Ebene der Positivität von der bloßen Macht- und Zwangsordnung unterscheide (Welzel, An den Grenzen des Rechts, 13). Die allgemeinen Gerechtigkeitsanschauungen erhalten auf diese Weise eine gewisse theoretische Rechtfertigung, indem sie zu einem Begründungselement des Rechtsbegriffs werden. Wenn auch Merkel betonte, es handele sich bei seinen Untersuchungen um rein empirische Feststellungen jenseits der Frage, ob die Gerechtigkeitsanschauungen objektiv richtig seien, so darf dabei nicht übersehen werden, daß sich die Einbindung der allgemeinen Anschauungen in den Rechtsbegriff auch auf ihren Inhalt konsolidierend auswirkt. Denn auch aus der beschriebenen Abhängigkeit des Rechts von den allgemeinen Gerechtigkeitsanschauungen wird auf bestimmte Eigenschaften der Rechtsnormen zurückgeschlossen, die eben in ihrer Qualität liegen, den Normadressaten zur Befolgung zu motivieren. An den empirisch vor12*
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
1. Die moralische Natur des Menschen (Merkel) a) Die „herrschenden Vorstellungen des Gerechten“ – Ethische Verbindlichkeit des Rechts durch Anerkennung Merkel war der Auffassung, das Recht müsse auf eine sittliche Grundlage treffen, die es trägt, und könne nicht allein auf positiver Setzung beruhen. Die verpflichtende Kraft der Rechtsvorschriften rührt für ihn daher aus dem „Bündnis mit den im Volke lebenden moralischen Kräften, kraft dessen von den Letzteren eine Nötigung zur Erfüllung der Rechtsgebote ausgeht“160. Er operierte dabei nicht mit der Vorstellung einer einheitlichen Rechtsauffassung und einem notwendigen Zusammenhang zwischen Volksgeist und Recht, sondern begründete seine Ansicht funktional: Das Recht könne seine wesentlichen Ziele wie die Sicherung des gesellschaftlichen Friedensinteresses nur dann erfolgreich erfüllen, wenn es als gerechte Ordnung empfunden und befolgt werde.161 Neben der ethischen Nötigung ist bei Merkel zwar auch die heteronome Durchsetzung des Rechts vorhanden162, denn das materielle bzw. mechanische Zwangsmoment sei unentbehrlich, um den Ausgleich zwischen den verschiedenen Individuen und sozialen Gruppen durch das Recht zu schaffen, aber es stelle „keine Eigenschaft“ des Rechtssatzes dar.163 Anders als bei dem mechanischen Zwangsmoment handele es sich bei den Werten, die dem Recht von der Gemeinschaft zugemessen werden, nämlich der Zweckmäßigkeit und dem ethischen Wert, um Merkmale des Rechtsbegriffs.164 Diese Einschätzung beruht letztlich auf dem grundlegenden Postulat der Freiheit des Menschen. „Denn das Recht ist ein Inbegriff ,geltender Normen‘; in dem ,Gelten‘ aber liegt hier jene Anwartschaft auf eine freiwillige Befolgung.“165 Das Recht setze findlichen Gerechtigkeitsidealen muß sich der Gesetzgeber zumindest orientieren, will er „verbindliches“ bzw. „anerkanntes“ Recht schaffen. 160 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 590. „Die Gebote und Verbote des Rechts erweisen sich, wenn wir sie auf ihre verpflichtende Kraft ansehen, als Moralvorschriften.“ (Merkel, Verhältnis der Rechtsphilosophie, Ges. Abhdlg. II 1, 313) Vgl. auch die Darstellung bei Ott, Der Rechtspositivismus, 66 ff. 161 Dazu Dornseifer, Rechtstheorie und Strafrechtsdogmatik Adolf Merkels, 59 f. 162 Merkel, Juristische Enzyklopädie, §§ 46 ff., § 50. 163 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 588 f. Ihm kommt gegenüber dem Zweckmäßigkeitswert (gemeinsame Interessen) und den Anschauungen über das Gerechte nur eine untergeordnete Rolle zu. Eine Schwäche des Utilitarismus sah Merkel darin, daß er die selbständige Bedeutung der Anschauungen über das Gerechte gegenüber den Zweckmäßigkeitsvorstellungen und dem positiven Recht nicht zu würdigen vermocht habe (ders., Übersicht über die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (Hg. Holtzendorff), 88). 164 Vgl. Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 589; ders., Juristische Enzyklopädie, § 24. 165 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 589. Es geht hier um die Statuierung eines Sollens, das ethisch verbindlich gedacht ist. Daher kann es sich nicht auf machtmäßige Durchsetzung stützen, sondern muß prinzipiell auf freiwilliger Befol-
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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daher ethisches Empfinden voraus und stütze sich zur Erreichung seiner Zwecke auf die moralische Natur der Menschen.166 Die maßgebliche Legitimitätsgrundlage, an die die menschlichen Vorstellungen anknüpfen, hat sich Merkel zufolge dabei im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verändert: Ursprünglich ruhe die „verpflichtende Kraft“ des Rechts auf dem Glauben an die sie setzende Autorität; doch mit fortschreitender Entwicklung der Völker reicht die charismatische und traditionelle Rechtfertigung des Rechts im Sinne Max Webers167 nicht mehr aus, so daß nach Merkel der Inhalt der Normen Gegenstand kritischer Prüfung werde.168 „,Eine Norm hat Geltung bei einem Volke‘ heißt soviel wie: Es wird ihm von diesem ein Wert zuerkannt, auf welchen sich eine von der Anwendung irgend welcher Zwangsmittel unabhängige Wirkungsfähigkeit und thatsächliche Wirkungsmacht gründet.“169 Es müsse daher an die „herrschenden Anschauungen über das Gerechte“170 anknüpfen, um den Glauben an seine Legitimität zu sichern, wobei nicht auf einzelne Normen, sondern auf den Gesamtcharakter des Rechts abzustellen sei.171 Die einzelnen empfänden nicht deshalb eine moralische Nötigung beruhen. „Sollen“ bezieht sich auf die ethische Macht des Rechts, „Müssen“ bedeutet die materielle Macht im Sinne von sinnlicher Notwendigkeit (ders., Juristische Enzyklopädie, § 46). 166 Auf diese Weise sind Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit verknüpft: „Der Inhalt des Rechts unterliegt aber zugleich einem Einfluß in der Richtung einer Herstellung oder Wahrung seiner Übereinstimmung mit herrschenden ethischen Anschauungen, speziell den Anschauungen über das Gerechte, und nimmt überall neben der Eigenschaft der Zweckmäßigkeit diejenige der Gerechtigkeit für sich in Anspruch. Die Feststellung des Verhältnisses beider ist eines der Grundprobleme der allgemeinen Rechtslehre.“ (Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 25). 167 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 122 ff., 124. 168 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 602. Auf diese Weise erhielt auch die Rechtsidee bei Merkel eine historische Erklärung, denn die subjektiven Vorstellungen über den Wert des Rechts und die für ihn erheblichen Kriterien hätten sich zur Idee der Gerechtigkeit verdichtet (ders., Juristische Enzyklopädie, § 49). 169 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II, 589. Merkel wollte mit seiner Vorstellung nicht sagen, daß das gesetzte Recht bei Kollisionen mit den allgemeinen Anschauungen seine positive Geltung verliert, wohl aber, daß es zur Erreichung seiner Zwecke auf Dauer von dem subjektiven Verpflichtungsgefühl der Rechtsunterworfenen nicht absehen kann. Insofern differenzierte Merkel zwischen „Verbindlichkeit“ und „Positivität“ des Rechts: „Auf dieses Verhältnis, auf das Primat des Willens im Rechte, wird hingewiesen, wenn von der ,Positivität‘ oder der ,positiven Natur‘ des Rechts die Rede ist. Wir drücken damit aus, daß seine Bestimmungen Geltung in Anspruch nehmen als Äußerungen eines bestimmten Willens, unabhängig davon, ob die in ihnen enthaltenen Urteile im einzelnen mit unseren Überzeugungen im Einklang stehen; zugleich aber, daß es so in Ordnung ist, weil die Wirksamkeit dieses Willens weder entbehrt, noch überall in Einklang gebracht werden kann mit Wahrheit und Gerechtigkeit und den bestehenden Meinungen über das, was geschehen sollte.“ (ders., Juristische Enzyklopädie, 59). 170 Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 25. Die Gerechtigkeit eines Rechtssatzes ergebe sich aus seiner tatsächlichen und moralischen Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung mit den herrschenden ethischen Anschauungen (ebd., § 30 ff.; ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 610).
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
gung zur Normbefolgung, weil sie die Rechtsnorm als gültig anerkannt hätten, sondern umgekehrt würden die Rechtsnormen anerkannt, weil ihnen ein aus anderer Quelle, nämlich dem ethischen Empfinden, fließender Wert und Gehorsamsanspruch beigemessen werde.172 b) Die ethischen Ideale – Individuelles Wertempfinden Dieses „ethische Empfinden“ war im Grunde der gedankliche Ausgangspunkt der Überlegungen Merkels. Auf der Grundlage des individuellen Wertempfindens, das von unterschiedlichen persönlichen und parteilichen Interessen bestimmt ist, wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Bestrebungen geführt. Die ethischen Ideale sind Ausdruck eines authentisch verstandenen Persönlichkeitsbildes, denn Merkel sah in ihnen das Wertmaß eines jeden, „das er nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben“173. Sie sind darüber hinaus nach seiner Auffassung nicht theoretisch ableitbar oder objektiv zu rechtfertigen. Insofern dem Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft nahekommend, war Merkel der Ansicht, man könne zwar die historischen Bedingungen und die Bedeutung eines Phänomens klarstellen, aber nicht dessen sittlichen Wert beweisen.174 „Wir können evident machen, daß sowohl die energische Geltendmachung der Individualität und ihrer besonderen Interessen wie die Friedensliebe und der Geist der Hingebung für allgemeine Interessen eine Bedeutung habe für eine fortschreitende Entwicklung der Völker, aber weder darthun, daß in den Bedingungen der letzteren der Maßstab des Urteils gegeben sei, welchen jeder anlegen solle, noch daß jenen Arten des Verhaltens unabhängig von dieser Bedeutung eine höhere Dignität zukomme. Hier überall gilt das Wort: ,wenn Ihr’s nicht fühlt, Ihr werdet’s nicht erjagen‘.“175 Allerdings war nach Merkels Auffassung die auf der Grundlage der individuellen ethischen Ideale bestimmte Gerechtigkeit aber auch immer insofern unvoll171 Das Recht finde die moralische Stützung auch im Hinblick auf die Vorschriften, die die moralischen Empfindungen verletzen, solange der Gesamtcharakter im Einklang mit den moralischen Urteilen und Empfindungen der Beteiligten stehe (Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 48, § 80 Nr. 3). 172 Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 49 Anm. a. E. Der Begriff der verpflichtenden Kraft enthalte bereits die Anerkennung, denn eine Vorschrift habe nur dann verpflichtende Kraft, wenn der Verpflichtete sie zum Maßstab seines Verhaltens mache (ebd., § 49 Anm.). Damit wandte er sich gegen die Kritik Ernst Rudolf Bierlings, der Verbindlichkeit rechtlich und nicht ethisch begründen wollte (s. o. Fn. 106). 173 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 24; ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 611. 174 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 22. 175 Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 22 (Hervorhebung nur hier). Die Doktrin ist „an das von Gemütskräften getragene Evangelium der Humanität, der Nationalität oder der Freiheit u.s.w. gebunden“ (ebd., 23).
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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kommen, als die Vorstellungen über das Gerechte unter den Menschen im einzelnen divergierten.176 Hier zeigt sich eine deutliche Abgrenzung Merkels gegenüber der Historischen Schule, denn die von ihr vorausgesetzte gemeinsame Überzeugung war auch für ihn unhaltbar geworden.177 In seinem Bewußtsein griff die Erkenntnis Platz, daß das Recht sich nicht organisch als Lebensäußerung der Gesamtheit des Volkes im kulturell-idealen Sinne entwickele, sondern ein Produkt der antagonistischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen sei. Deshalb besitze auch der vom Recht angelegte Maßstab nicht die gleiche Gültigkeit für alle, insofern er nicht gegenüber allen eine verpflichtende, im Sinne einer von Zwangsmitteln unabhängigen Wirkungsfähigkeit entfalte.178 c) Die Annäherung der allgemeinen Grundgedanken des Gerechten Die in ihrem Ursprung individuell gemütshaften Wertvorstellungen sind freilich nicht ohne Bezug zu den geschichtlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen sich allgemein akzeptierte Gerechtigkeitsanschauungen herausbilden.179 So haben sich in der Gesellschaft nach Merkels Überzeugung die Anschauungen des Gerechten im Hinblick auf gewisse Grundgedanken angenähert, die im Recht zum Ausdruck kommen sollen, „und dies ist gleichbedeutend mit der Herstellung und beziehungsweise Erweiterung eines dem Streit entrückten Gebietes, auf welchem Parteien aller Art sich zusammenfinden und ihre Streitigkeiten in friedlichen Formen auszutragen vermögen.“180 Im Hinblick auf die Gerechtigkeitsanschauungen ließen sich in der Entwicklung bestimmte Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz etc. als gemeinschaftlicher Konsens erkennen, und weiterhin meinte Merkel „eine sich steigernde Wertschätzung der menschlichen Persönlichkeit“ und „ihrer geistigen Selbständigkeit“ feststellen zu können. Damit hingen das Schuldprinzip und Freiheits- und Eigentumsrechte zusammen sowie „die Regel des modernen Rechts, wonach Jedem, gleichviel welchem Volke er angehören möge, Rechtsfähigkeit zukommt und Jedem der innerhalb einer Herrschaftssphäre in seinen privaten Ansprüchen verletzt wird, der Rechtsweg offen steht, desgleichen die sittliche Mißbilligung, welche jede Art von Leibeigenschaft oder Hörigkeit bei den 176 177
Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 37. Merkel, Fragmente, Ges. Abhdlg. I, 92 ff.; ders., Rudolf von Jhering, Ges. Abhdlg. II 2,
743. 178 Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 39: „Die Gerechtigkeit des Rechts könnte ferner eine vollkommene nur sein, wenn eine allgemeine Übereinstimmung der Anschauungen über die tatsächliche Beschaffenheit und moralische Qualifikation der Verhältnisse, Personen und Handlungen existierte, welche einer Beurteilung und Einwirkung seitens des Rechts unterliegen. Denn nur unter dieser Voraussetzung würde der von dem Rechte angelegte Maßstab die gleiche Gültigkeit für alle besitzen.“ 179 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 605. 180 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 598 (Hervorhebung nur hier).
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
modernen Völkern erfährt“ und „die in der modernen Welt beinahe überall zum Siege gelangte Anschauung von der Verwerflichkeit jeder Art von Glaubenszwang“181. Wie hier bereits anklingt, sind diese grundlegenden Vorstellungen nicht nur auf eine konkrete Gesellschaft beschränkt, sondern Ausprägungen eines modernen Rechts, das unter Rückgriff auf die Entwicklungsvorstellung Merkels extrahiert werden kann. Denn in den Anschauungen über das Gerechte läßt sich „ein Gemeinsames von anscheinend konstanter Bedeutung und lassen sich Richtungen erkennen, in welchen die Entwickelung seit Jahrhunderten beharrlich voranschreitet. Wir können hier von geschichtlichen Tendenzen sprechen, die in den gleichartigen Anlagen der menschlichen Natur, den verwandten Einflüssen, unter welchen diese Anlagen sich entfalten, und den geistigen Wechselwirkungen zwischen den Nationen ihre Erklärung finden. Die Völkergedanken über das Rechte, welche von Haus aus verwandte Elemente enthalten, entwickeln sich in dem Maße, als den Völkern gemeinsame Erlebnisse die Geschichte erfüllen, zu Menschheitsgedanken.“182 Die dynamische Sichtweise des sozialen Wandels ist hier eingeschränkt durch die Vorstellung eines gegenüber den wechselnden historisch-politischen Verhältnissen widerstandsfähigen Bestandes allgemeiner Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese Anschauungen erhalten eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den momentanen gesellschaftlichen Interessen.183 Sie bilden einen gesellschaftlichen Grundkonsens, einen neutralen Boden, der den gesellschaftspolitischen Machtkämpfen entzogen ist. Bei Merkel gibt es also mit den allgemeinen Gerechtigkeitsanschauungen noch einen überpositiven Rest, den er aus ihrem metaphysischen Kontext gelöst und auf empirische Ebene gebracht hat. So erlangen die herrschenden Gerechtigkeitsanschauungen über die Frage der Verbindlichkeit Bedeutung für den Inhalt des Rechts und werden insofern zu einer Vorgabe für das Recht, denn es ist auf diese Weise von den „ethischen Werturteilen abhängig, welche sich bei einem gegebenen Volk zu einer gegebenen Zeit als die herrschenden erweisen“184. Merkel ließ jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich dabei allein um einen faktischen Bestand handelt und nicht um einen normativen Maßstab: Den allgemeinen Gerechtigkeitsanschauungen deshalb einen darüber hinausgehenden Status des Richtigen zuzusprechen, war nach Merkel völlig verfehlt.185
Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 606, 605. Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 606 (Hervorhebung nur hier). 183 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 605, 612. 184 Merkel, Juristische Enzyklopädie, § 32. Die Verbindlichkeit des Rechts tritt auf diese Weise „in eine Abhängigkeit von den Urteilen über das den Verhältnissen in tatsächlicher und moralischer Beziehung Entsprechende, welche im Volksbewußtsein Macht gewinnen und mit welchen es sich in Einklang halten muß.“ (ebd., § 49 Anm. Mitte; ebenso ders., Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 605). 185 Merkel, Elemente der allgemeinen Rechtslehre, Ges. Abhdlg. II 2, 603 f. 181 182
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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2. Die „normative Kraft des Faktischen“ und die Vorstellung eines überpositiven richtigen Rechts als Bestandteile der psychischen Ausstattung des Menschen (Jellinek) a) Recht als Bewußtseinsphänomen Gegenüber dem Konzept Merkels, in dem die notwendige Übereinstimmung des Rechts mit dem allgemeinen Rechtsempfinden weitgehend funktional im Sinne einer Rechtsbehauptung begründet und Verbindlichkeit gewissermaßen als ethisches Geltungsproblem verstanden wird, steht die erkenntniskritisch-psychologische Begründung der Anerkennung Jellineks. Hier beruht die Bedeutung der allgemeinen Kulturanschauungen über den Rechtscharakter nicht in erster Linie auf dem Gedanken, die erfolgreiche Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben des Rechts zu gewährleisten, sondern leitet sich aus der Bestimmung des Rechts als subjektiver, psychischer Funktion ab. Aus diesem Grund knüpfte Jellinek Begriff und Geltung des Rechts an die Anerkennung der rechtlichen Norm durch die Rechtsunterworfenen. In seiner „Allgemeinen Staatslehre“ von 1900 widmete sich Jellinek eingehend methodischen Fragen und etablierte hier die „Zwei-Seiten-Theorie“ des Staates.186 Er war der Auffassung, daß neben der juristischen Behandlung des Staates die soziale Betrachtung notwendig sei, um den Staat als Phänomen ganz erfassen zu können.187 Im Rahmen dieser soziologischen Betrachtungsweise, die den Staat nicht als juristische Konstruktion, sondern als empirisches gesellschaftliches Gebilde betrachtet, widmete er sich dem Begriff des Rechts und seinen Geltungsvoraussetzungen. Hier machte er eine grundlegende Entdeckung fruchtbar, die er schon im Zusammenhang der Bestimmung des Staatsbegriffs entwickelt hatte: Recht und Staat seien keine „objektiven realen Mächte“, sondern besäßen Realität allein in den Köpfen der Menschen.188 Sie seien Funktionen der menschlichen Gesellschaft und nichts An-sich-Seiendes.189 Diese erkenntnistheoretische Wen186 Zu Jellineks Staatslehre Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatsrechtslehre, 145 ff., 229 ff.; Albert, Der Staat als ,Handlungssubjekt‘, 80 ff.; zu Jellineks Haltung gegenüber der parlamentarischen Repräsentation Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 216 ff.; dem Anliegen Jellineks wenig gerecht wird die Kritik bei Herwig, Georg Jellinek, in: Staat und Recht (Hg. M. J. Sattler), 72 ff., sowie Holubek, Allgemeine Staatslehre als empirische Wissenschaft, die in Jellinek einen reinen Machtstaatstheoretiker sehen, der hinter einer positivistischen Fassade eigene Inhalte transportiere. 187 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 10 ff. Zur Zwei-Seiten-Theorie vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland II, 451 ff.; Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 156 ff.; Koch, Die staatsrechtliche Methode im Streit um die ZweiSeiten-Theorie des Staates, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 371 ff.; mit dem Vorwurf der mangelnden Trennung von Sein und Sollen Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 116 ff. 188 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 174 f., 334. 189 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 174 f., 334; zum Staat als sozialpsychologischer Funktion der Gesellschaft vgl. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatsrechtslehre, 269.
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
dung, die Ihre Wurzeln unter anderem in der neukantianischen Philosophie hat190, war sowohl gegen das Naturrecht gerichtet als auch gegen jede positivistische Vorstellung, weil sie die Anschauung des Rechts als etwas objektiv Vorfindliches zurückwies; eine Kritik, die selbstverständlich auch auf die Vorstellung der Neuhegelianer vom Recht als einer objektiven Kulturtatsache zutrifft. Die Unterscheidung zwischen einer Welt des Handelns, der das Recht und der Staat angehören, und einer Welt der objektiven Dinge beruht auf der Ansicht, daß der methodischen Betrachtungsweise für die Gegenstandskonstitution eine wesentliche Bedeutung zukomme. Anders als später Kelsen ging Jellinek jedoch nicht so weit, aufgrund dieser Differenz von verschiedenen Erkenntnisgegenständen auszugehen; er unterschied allein die methodische Bearbeitung, mit der die unterschiedlichen Disziplinen den einheitlichen Gegenstand menschlicher Handlungen entsprechend ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse zu Objekten ihrer Wissenschaft machen.191 Jellinek war der Auffassung, daß das Recht nun zwar mit theoretischer Erkenntnis nicht erfaßbar sei, da es keine Substanz in der äußeren Welt als greif- oder sichtbarer Gegenstand habe, sondern „eine Welt der Dinge für uns, nicht der Dinge an sich“ darstelle.192 Die Bestimmung des Rechts als Bewußtseinsphänomen beruht aber nicht in erster Linie auf der begrifflichen Natur des Rechts als einem gedanklichen Produkt; das Recht besteht vielmehr in seinem konkreten Dasein aus einer Reihe menschlicher Handlungen, Beziehungen und Wirkungen psychischer Akte. Es ist Jellinek zufolge eine psychologische, innermenschliche Erscheinung und damit wie jede soziale Erscheinung in objektiver Hinsicht eine „psychische 190 Zu den Bezügen der Theorie Jellineks zu den Neukantianern vgl. Albert, Der Staat als ,Handlungssubjekt‘, 45 ff. Lepsius hebt hingegen Jellineks eigenständige Position gegenüber den Neukantianern hervor und spricht lediglich von der Verwendung vergleichbarer erkenntnistheoretischer Kriterien (Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 341 ff.). 191 So Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 331. Jellinek ging also davon aus, daß ein Gegenstand verschiedenen Betrachtungsweisen unterliegt (Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 13 f.); den Schritt zu der Vorstellung, daß durch eine unterschiedliche Methode vollkommen verschiedene Gegenstände konstituiert werden, vollzog erst Kelsen. Lepsius sieht in Jellineks Theorie daher den Ausdruck einer erkenntnistheoretischen Umbruchsphase (ebd., 334). Vgl. zur unterschiedlichen Betrachtungsweise sehr anschaulich das von Jellinek angeführte „Symphonie-Beispiel“, ebd., 14 f. 192 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 16; vgl. auch ders., Allgemeine Staatslehre, 138, 162. „Es ist die Welt menschlicher Zwecke und Werte, in welcher das Rechtssystem seine Stelle hat.“ (ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 16) Die Natur des „Objektiven“ wird von Jellinek nicht für sich bestimmt (Jellinek wies darauf hin, daß die „letzte erkenntnistheoretische Frage nach der transzendenten Bedeutung dieses Objektiven“ im Rahmen seiner Erörterungen ausgeklammert bleibe), sondern nur von seinem Gegenstück dem „Subjektiven“ abgegrenzt: Jenes sei das „außer uns Befindliche“ (ders., Allgemeine Staatslehre, 136, Fn. 1), das „unabhängig von unserer praktischen Welt Existierende, dieser vielmehr Subsistierende“ (ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 27), dessen Erforschung die theoretische Erkenntnis der Naturwissenschaften unternehme.
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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Massenerscheinung“, deren letzte Substanz die Menschen sind.193 Recht und Staat selbst haben für Jellinek – wie auch die Erscheinungen der Sprache, der Religion, der Kunst und der Wissenschaft – keine Substanz, kein Dasein als „objektive reale Mächte“194, sondern existieren nur als subjektive Vorstellungen und in den sich darauf gründenden menschlichen Beziehungen.195 Es seien Funktionen der menschlichen Gemeinschaft, die psychisch vermittelt seien, d. h. nur im menschlichen Bewußtsein Realität hätten196, und „zwar Veränderungen in der Welt der Objekte wirken, primär jedoch in einer Reihe psychischer Akte bestehen“.197 Als gedankliche Produkte konstituierten sich rechtliche und staatliche Erscheinungen durch eine synthetische Leistung des Bewußtseins, wodurch kontingente Folgen von Abläufen und Handlungen, die unter „rein psychologischen Gesichtspunkten eine Vielheit rein geistiger Akte“198 darstellten, als Einheiten aufgefaßt würden.199 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 174 f., für den Staat auch explizit ebd. 137. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 175. 195 Jellinek bestimmte das Recht als einen „Teil der menschlichen Vorstellungen, es existiert in unseren Köpfen, und die nähere Bestimmung des Rechts hat dahin zu gehen, welcher Teil unseres Bewußtseinsinhaltes als Recht zu bezeichnen ist.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 332). 196 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 174 f., 334. Ausdrücklich für den Staat: „Die staatlichen Vorgänge sind insgesamt menschliche Handlungen und Wirkungen menschlichen Handelns. Alles Handeln aber ist psychische Tätigkeit. Daher ist die Psychologie die Lehre von den psychischen Zuständen und Akten, Voraussetzung wie aller Geisteswissenschaften so auch der Staatslehre.“ (ebd., 81) Daraus ergebe sich unter anderem, daß der Staat „wesentlich eine innermenschliche Erscheinung“ sei (ebd., 81). Vgl. auch: Denn alle „gesellschaftlichen Vorgänge können nur erschlossen werden, wenn man die sie verursachenden begleitenden psychischen Akte kennt. Denn alles äußere Geschehen in der Gesellschaft ist, wie alle von Menschen ausgehende Veränderung, durch den Willen bedingt, dessen, Richtung und Inhalt durch das ganze psychische Sein und Wirken des Menschen gegeben ist. Mit dieser Erkenntnis wird der Staat von der Welt der Objekte in die der Subjekte verlegt.“ (ebd., 13). 197 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 175. 198 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 179. 199 „Unter dem Gesichtspunkte theoretischer Erkenntnis gibt es keine Rechte und Substanzen oder Qualitäten, sondern wiederum nur höchst verwickelte psychische Massenprozesse und Beziehungen der Individuen zu einander, als deren Resultat sich bestimmte Relationen darstellen, die zu der Vorstellung von subjektiven Rechten und objektiven rechtlichen Institutionen führen. Eigentum und Besitz, Dienstbarkeit und Pfandrecht, Kauf und Miete, Ehe und Erbschaft sind nicht greif- oder sichtbare Dinge oder Eigenschaften, sondern Relationen von solcher Kompliziertheit, dass es schwer fällt, sie in vollem Umfange sich zum Bewusstsein zu bringen.“ (Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 15 f.) Die menschlichen Willensaktionen erhielten erst durch den Zweck ihre juristische Einheit: „Rechtsgeschäfte und Delikte stellen sich uns als Einheiten dar und werden von dem Rechte als solche aufgefasst und beurteilt kraft des einheitlichen Zweckes, der eine Reihe von oft zeitlich unterbrochenen Handlungen zu einer Einheit zusammenfasst.“ (ebd., 24 f.) Zur Unterscheidung von objektiven und subjektiven Einheiten ebd., 21 f.; vgl. auch ders., Allgemeine Staatslehre, 181 f. Als bedeutendstes Einigungsprinzip für die praktische Welt des menschlichen Gemeinlebens und also auch des Rechts identifizierte er „die Beziehung der Dinge und Personen zu menschlichen Zwecken“ (ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 25; auch ders., Allgemeine Staatslehre, 181 f.). Dabei handele es sich um denknotwendige Synthesen (ebd., 136 f.). 193 194
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
„Ohne die Fähigkeit, subjektive Synthesen zu bilden, gäbe es für uns keine Welt des Fühlens, des Erkennens, des Handelns.“200 Diese Synthesen seien jedoch nichts Objektives, sondern „Abkürzungen höchst verwickelter und in ihren Details gar nicht zu entziffernder psychologischer Massenprozesse.“201 Mit dieser erkenntnistheoretisch fundierten Position gab Jellinek einer voluntaristisch kulturgestaltenden Position gegenüber einem entwicklungstheoretischen Naturalismus eine Basis, denn die Institutionen des Rechts sind nach seiner Auffassung vom Menschen bewußt geschaffen und unterliegen nicht einer unwillkürlichen Entwicklung.202 Sie sind an den menschlichen Willen gebunden und stellen keine davon isolierten Mächte dar. Schon allein aus dieser Begründung erklärt sich, daß Jellinek den Volksgeist und die Volksseele, sofern sie als reale Entität aufgefaßt wurden, als „wahre Spukgestalten“ betrachtete, „wenn man vergißt, daß ihr Wert nur darin liegen kann, daß sie Abkürzungen höchst verwikkelter und in ihren Details gar nicht zu entziffernder psychologischer Massenprozesse sind“203. b) Die Rechtsüberzeugung – Psychologische Wirksamkeit des Rechts Aus der Bestimmung des Rechts als Bewußtseinsphänomen erklärt sich, daß bei Jellinek die Anerkennung für den Rechtsbegriff konstitutiv ist: Wie sich aus Jellineks Begründung von Normativität ergibt, handelt es sich dabei um eine im Ansatz 200 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 152 f. Zwar nimmt nach Jellinek das Recht seinen Ausgang von den tatsächlichen Verhältnissen. Die Erkenntnis des „Objektiven“ liegt der Welt des praktischen Handelns voraus, insofern die konstruierte Welt des Rechts von den realen Vorgängen in der Welt des äußeren und inneren Geschehens ausgeht. Die Rechtsbegriffe sind aber in ihrem juristischen Bestand von den tatsächlichen Verhältnissen unabhängig; sie bilden eine durch Abstraktion hervorgebrachte Gedankenwelt, der nicht Reales in der Welt des Objektiven entspricht (ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 17; vgl. auch ders., Allgemeine Staatslehre, 162; dazu Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 317 ff.). 201 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 153. Vgl. auch ebd., 178 f. Der Welt des Handelns könnten nur die subjektiven Tatbestände des Bewußtseins zugrunde gelegt werden, nicht die dem Menschen nur innerhalb enger Schranken erkennbare objektive Realität der Dinge (ebd., 161). Aus theoretischer Sicht gebe es nur „höchst verwickelte psychische Massenprozesse und Beziehungen der Individuen zu einander“, deren Untersuchung aber nicht Aufgabe der juristischen Disziplin sei (ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 16). 202 Der Staat ist keine „von den Menschen losgelöste, menschlicher Willkür entrückte Macht. Aber alle Tradition, so mächtig sie sein mag, wirkt nicht als von außen kommende Macht, sondern kraft der inneren Neuschöpfung, die sie in jeder Generation erfährt. Nicht dunkle, unbewußt wirkende Kräfte gestalten in mystischer Weise die Kontinuität aller menschlichen Verhältnisse. Vielmehr muß das ganze Wissen und Können der Vergangenheit durch inneres Erleben eines jeden neuen Geschlechts, durch Lernen und Erfahrung von neuem erzeugt werden, und diese Prozesse fallen überwiegend in die Sphäre des Bewußtseins.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 176). 203 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 153.
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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nicht etatistische Rechtsgeltungslehre.204 Jellinek definierte das Recht als eine Summe von Regeln für äußeres Verhalten der Menschen zueinander, die von einer anerkannten äußeren Autorität ausgehen, deren Verbindlichkeit durch äußere Mächte garantiert ist.205 Um ein Dasein zu haben, muß das Recht aber psychologische Wirksamkeit entfalten.206 Dementsprechend ist eine Norm für Jellinek nie etwas nur von außen Herangetragenes, der Rechtssetzungsakt für sich erhebe lediglich den Anspruch, Normen zu begründen207, das Recht müsse jedoch als Norm 204 So Landau, Rechtsgeltung bei Georg Jellinek, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 301; dagegen Kersten, Rez. Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), Ius Commune XXVIII, 491 f.: Jellineks Modell stelle wesentlich auf die Anerkennung der Autorität des Staates ab, die auf eine unterstellte Anerkennung hinauslaufe. Da nur ein generell anerkanntes Staats- bzw. Rechtssystem sozial funktioniere, man aber den Bürgern nicht in die Köpfe und Herzen schauen könne, müsse vice versa vom sozialen Funktionieren des Systems auf dessen generelle Anerkennung geschlossen werden. Verbindlichkeit beruht jedoch nach Jellinek auf der zusätzlichen „Überzeugung von der Gültigkeit der Norm“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333, Fn. 1, Hervorhebung nur hier); die Tätigkeit der staatlichen Autorität ist daher auch zunächst lediglich Versuch der Rechtssetzung (ebd., 371). In den Rechtsüberzeugungen sah Jellinek „die tiefste und höchste Quelle allen Rechts auch für den Staat“ (ebd., 370 Fn. 2). Dies zeigt auch Jellineks Beispiel, ebd., 334 Fn. 1: „Die Opfer der spanischen Inquisition haben die Normen, auf Grund deren sie verurteilt wurden, schwerlich als Recht empfunden.“ Davon zu trennen ist das Problem, wie die generelle Anerkennung verläßlich festgestellt werden soll. 205 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333. Zur Geltung des Rechts zählte Jellinek, daß die psychologische Wirksamkeit des Rechts durch „sozialpsychologische Mächte“ garantiert sei. In der Zwangsbewährung sah Jellinek lediglich eine der „Garantien“ neben der anderer sozialer Institutionen wie der allgemeinen Sitte, sozialen Gruppierungen, kirchlichen Verbänden, Presse und Literatur, die zur Einhaltung der Norm motivierten (ebd., 333 f.). 206 Das Recht als ein Bewußtseinsphänomen zu bezeichnen, weil die Pflicht als psychisches Phänomen verstanden wird, und den Grund für die Notwendigkeit der Anerkennung in der psychologischen Fassung des Pflichtbegriffs zu sehen, trifft das Anliegen Merkels, ist hingegen im Fall Jellineks unzureichend (dies legt aber die Darstellung H. L. Schreibers nahe, Der Begriff der Rechtspflicht, 110 f.). Denn damit ist noch nicht die Frage geklärt, warum es für das Recht überhaupt auf das Sich-für-verpflichtet-Halten ankommt; dies folgt erst daraus, daß das Recht nichts Objektives ist, sondern, wie alle sozialen Erscheinungen, allein im Bewußtsein Realität hat. Die Besonderheit dieses Bewußtseinsinhaltes besteht in der psychologischen Fähigkeit, sich durch Anforderungen an den eigenen Willen für verpflichtet zu halten, und ist für Jellinek Voraussetzung jeder Rechtsordnung (vgl. zum Pflichtbegriff Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge: „Der Act der Verpflichtung ist ein Vorgang der Motivation, er besteht darin, dass an einen Willen die Anforderung gestellt wird, ein bestimmtes Motiv als das absolut stärkste anzusehen . . . Nur durch das Medium meines Intellects kann eine andere Person meinen Willen bestimmen. Nur meine Vorstellungen können mich bestimmen und das Gesetz, welches einer mir fremden Macht entstammt, kann Leben und Kraft erst dann gewinnen, wenn ich es selbst meinem Willen zur Richtschnur vorgeschrieben habe.“ (ebd., 15) Es handelt sich dabei um die „rätselhafte psychologische Erscheinung, daß der Wille sich als verpflichtbar und verpflichtet weiss.“ (ebd., 17) Die Rechtsordnung setze diese Möglichkeit der Verpflichtbarkeit eines Willens voraus (ebd., 17). Auf der Idee autonomer Willensbildung beruhte Jellineks Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates und seine Begründung eines öffentlichen Rechts). 207 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 371. Vgl. auch Thon, Der Rechtsbegriff, Grünhut’s Ztschrft. 7 (1880), 247 f.: „Der Versuch einer Gemeinschaft, durch ihre Befehle das Verhalten
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
wahrgenommen werden, um geltendes Recht zu sein.208 „Die Positivität ruht daher in letzter Linie immer auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit. Auf dieses rein subjektive Element baut sich die ganze Rechtsordnung auf. Das ergibt sich als notwendige Folge der Erkenntnis, daß das Recht in uns steckt, eine Funktion der menschlichen Gemeinschaft ist und daher auf rein psychologischen Elementen ruhen muß.“209 An dieser Stelle wird deutlich, daß Jellineks Theorie mit dem Erfordernis der psychologischen Wirksamkeit nicht hauptsächlich das Problem der Effektivität des Rechts behandelt – neben der erkenntnistheoretisch-psychologischen Ableitung steht auch noch eine funktionale Begründung der Anerkennung, wonach sich reine Macht ohne Anerkennung der Rechtsunterworfenen nicht halten könne210 – sondern schon das Phänomen der Normativität zu erklären unternimmt. Eine Vertauschung von Geltungsgrund und Wirksamkeitsursachen des Rechts läßt sich Jellinek insofern nur mit Einschränkungen vorwerfen. Von daher erklärt sich auch, daß Jellinek die Rechtsgeltung als zum Begriff des Rechts gehörig betrachtete, denn die bewußtseinsmäßige Anerkennung ist für ihn konstitutiv für den Rechtsbegriff. Im Gegensatz zu der ethischen Begründung Merkels oder auch Berolzheimers leitete Jellinek theoretisch ab, warum das Rechtsbewußtsein für das Recht maßgeblich ist: Das Recht hat seinen Existenzort im Rechtsbewußtsein, verstanden als Überzeugung von dem Rechtscharakter eines Satzes, eine Norm muß „als Recht empfunden“211 werden. c) Psychologische Quellen des Rechts – Die „normative Kraft des Faktischen“ und das menschliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit (Naturrecht) Die erkenntnistheoretische Bestimmung des Rechts als Bewußtseinsphänomen fordert eine Erklärung der psychologischen und sozialpsychologischen Ursachen und die hierzu erfolgenden Ausführungen Jellineks lassen sich thematisch als Beitrag zu Entstehung und Bedeutung des Rechtsempfindens lesen. Jellinek selbst stellte seine Ausführungen in den rechtsphilosophischen Kontext der Unterscheidung von Recht und Nichtrecht.212 Er warf der Rechtswissenschaft vor, sich mit der Feststellung der Positivität des Rechts zu begnügen, das Problem, wie Nichtder Genossen zu bestimmen, ist Versuch der Rechtssetzung. Das Befohlene wird und bleibt Recht, wenn und solange dieser Versuch gelingt. Oder mit anderen Worten: Recht ist Motivation; es hört auf Recht zu sein wenn es nicht mehr als Motiv wirkt.“ 208 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 371; vgl. auch ders., Die rechtliche Natur der Staatenverbindungen, 17 f. (unter Bezugnahme auf Bierling). 209 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 333 f. 210 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 341 f. 211 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 334 Fn. 1. 212 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 350.
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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recht zu Recht werde, schiebe man der Rechtsphilosophie zu, deren Antworten jedoch nicht ernst genommen würden. Jellinek suchte eine Antwort auf die Frage im Rekurs auf die rechtserzeugenden psychologischen Kräfte.213 Da er das Recht als einen Teilbereich der menschlichen Vorstellungen ansah, konnte er für die Bestimmung des Rechtsbegriffs und der Rechtsgeltung eine psychologische Erklärung fruchtbar machen.214 Ausgehend von einer weiter nicht begründbaren Disposition des Menschen, der psychologischen Grundtatsache des Sich-verpflichtetWissens, auf der alles Recht beruhe215, wollte Jellinek die „letzten psychologischen Quellen“216 des Rechts ermitteln und widmete sich der „sozialpsychologischen Grundlage“217 des Rechts. Jellinek unterschied zwei Elemente, die nach seiner Auffassung der Rechtsentwicklung zugrunde liegen, einmal die konservative „normative Kraft des Faktischen“, die dazu führt, daß tatsächlich verbreitete Standards internalisiert werden und ein Gefühl der Verbindlichkeit erzeugen, und zum anderen das rationale, evolutionistische Element überpositiver Rechtsvorstellungen, das im vorliegenden Zusammenhang von vorrangigem Interesse ist, da hier der Bezug auf Gerechtigkeitsinhalte verortet ist. Was die Begründung der normativen Kraft des Faktischen betrifft, muß berücksichtigt werden, worauf Landau verweist, daß es sich bei dem Theorem der normativen Kraft des Faktischen um eine Theorie der Rechtsgenese und nicht der Rechtsgeltung handelt.218 Jellinek ließ sich bei seinen Überlegungen 213 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 350. Die Rechtswissenschaft gebe sich mit der Aufstellung von Gewohnheitsrecht und Gesetz als Rechtsquellen zufrieden. 214 Die Bestimmung des Rechts als innermenschlicher Erscheinung hat daher auch Konsequenzen für die Untersuchungsmethode. Hier bedarf es gegenüber der Erkenntnis des Objektiven einer anderen Betrachtungsweise, die Jellinek die subjektive nannte (so explizit für den Staat, Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 137). Denn es handele sich bei allem sozialen Geschehen um menschliche Handlungen und damit um psychische Akte der Menschen, die nur durch Deutung mittels innerer Erfahrung entschlüsselt werden können. Indem Jellinek alles menschliche Handeln als psychische Tätigkeit auffaßte, sah er in der Psychologie entsprechend einer verbreiteten Strömung seiner Zeit (z. B. Wundt, Logik II 2, 19 f.) die Grundlagenwissenschaft aller Geisteswissenschaften (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 80 f.; ähnlich auch ders., Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 10 f.). Auch wenn nach seiner Vorstellung alle gesellschaftlichen Vorgänge psychische Phänomene waren, ging es Jellinek jedoch nicht um eine Reduzierung der sozialen Betrachtung auf Psychologie, sondern um eine Erweiterung der Erkenntnis des Staates (ebd. 81); insofern kann nicht von einer psychologistischen Haltung gesprochen werden. Allgemein zur Psychologie als Grundlagenwissenschaft Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 97, 126; Wuchterl, Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts, 27; Lehmann, Die Philosophie des 19. Jahrhunderts II, 152 ff. 215 „Der letzte Grund alles Rechtes liegt in der nicht weiter ableitbaren Überzeugung seiner Gültigkeit, seiner normativen motivierenden Kraft.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 371; vgl. auch ders., Die rechtliche Natur der Staatenverbindungen, 17). 216 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 337. 217 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 371. 218 Landau, Rechtsgeltung bei Georg Jellinek, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 302. Zu dieser Annahme W. Jellinek, Über die normative Kraft des Faktischen, JZ 1951,
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Kap. III: Die Bedeutung des Rechtsbewußtseins
von der Beobachtung leiten, daß eine allgemeine Tendenz bestehe, das Faktische zum Normalen zu erheben.219 „Der Mensch sieht das ihn stets Umgebende, das von ihm fortwährend Wahrgenommene, das ununterbrochen von ihm Geübte nicht nur als Tatsache, sondern auch als Beurteilungsnorm an, an der er Abweichendes prüft, mit der er Fremdes richtet.“220 Normative Vorstellungen entstehen nach Jellinek damit aus konkreten Lebenszusammenhängen heraus. Auch das Sittliche werde oft nicht nach allgemeinen Prinzipien bewertet, sondern nach dem, was als solches bei einem bestimmten Volk oder Gesellschaftskreis angesehen werde.221 Allerdings machte Jellinek gleich deutlich, daß er damit das Faktische nicht in eine für seinen Ansatz transzendente Kategorie des objektiv Richtigen erheben wolle.222 Ursprünglich war nach Jellinek damit alles Recht nichts anderes als tatsächliche Übung.223 347 ff.; Albert, Der Staat als ,Handlungssubjekt‘, 193 ff.; zur Rezeptionsgeschichte des Theorems vgl. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatsrechtslehre, 382 ff.; zu verwandten Argumentationsstrukturen Grimmer, Die Rechtsfiguren einer „Normativität des Faktischen“, 12 ff. 219 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 338. Diese Neigung bestehe allgemein und sei nicht auf den Bereich des Juristischen oder Ethischen beschränkt. Jellineks Beispiele reichten von der heimatlichen Zubereitung der Nahrung und modischen Vorstellungen bis zu den Vorurteilen und der Lebensweise der eigenen Gesellschaftsklasse. Diesem Vorgang unterliege auch das höherwertige Sittliche (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 338). Das hat Holubek dazu veranlaßt, abwertend zu bemerken, der ethische Trieb könne etwa gegenüber dem Trieb zum Briefmarkensammeln keinesfalls durch Höherwertigkeit herausgehoben werden (Holubek, Allgemeine Staatslehre als empirische Wissenschaft, 77). Damit ist ungewollt auf etwas Entscheidendes verwiesen: Für Jellinek gibt es so etwas wie einen spezifisch ethischen Trieb nicht, er versuchte vielmehr eine allgemeine psychologische Tatsache zu beschreiben, die sowohl gewöhnliche als auch sogenannte höherwertigen Triebe erfaßt. 220 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 337. Jellinek belegte diese Entdeckung, die zur Entstehung von Normativität geführt habe, entwicklungspsychologisch – bei Kindern werde die Tendenz, Faktisches zu Normativem zu erheben, sichtbar – und griff auf das von dem Biologen Ernst Haeckel (Generelle Morphologie, 1866) formulierte „Biogenetische Grundgesetz“ zurück, wonach die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese darstellt (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 338). Diese aus der Biologie stammende Vorstellung hat gegen Ende des Jahrhunderts der Amerikaner Stanley Hall (1846 – 1924) auf die psychische Entwicklung bezogen und angenommen, daß die Entwicklungsstadien der Menschheit auch in der individuellen seelischen Entwicklung jedes Menschen wiederkehren („Psychogenetisches Grundgesetz“). 221 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 338. 222 Den „Grund der normativen Kraft des Faktischen in seiner bewußten oder unbewußten Vernünftigkeit zu suchen, wäre ganz verkehrt. Das Tatsächliche kann später rationalisiert werden, seine normative Bedeutung liegt aber in der weiter nicht ableitbaren Eigenschaft unserer Natur, kraft welcher das bereits Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist als das Neue.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 338). 223 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 339 f. Dieser Disposition kommt nach Jellinek sowohl für die Rechtsentstehung – ursprünglich sei alles Recht nichts als faktische Übung, die die Überzeugung der Normgemäßheit hervorrufe – als auch für das Dasein der Rechtsordnung Bedeutung zu. Durch die beschriebene psychologische Tendenz werde die Voraussetzung geschaffen, daß der bestehende soziale Zustand zu Recht bestehe. Bestrebungen zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse müßten demgegenüber ihre bessere Berechtigung unter Beweis stellen.
IV. Bedeutung allgemeiner Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen
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Gegenüber diesem Element mache sich in der Rechtsentwicklung jedoch noch eine zweite psychologische Eigenschaft geltend, die Jellinek als evolutive Komponente einführte und die aus der Diskussion bei Jhering und Rümelin als rechtskritische Stellungnahme des Rechtsgefühls bekannt ist. Jellinek optierte hier für eine gemäßigt nativistische Auffassung.224 Die Vorstellungen eines natürlichen objektiven Rechts seien eine Begleiterscheinung der beschriebenen psychologischen Grundtatsachen, auf der die Möglichkeit einer Rechtsordnung überhaupt beruhe.225 Sie gehörten zur psychischen Ausstattung des Menschen wie das religiöse Bedürfnis.226 „Alles Recht ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß wir die Fähigkeit haben, uns durch Anforderungen an unseren Willen, deren Inhalt subjektivem Gutdünken entrückt ist, verpflichtet zu halten. Wesen, denen solche psychisch-ethische Qualität mangelte, stünden notwendig jenseits von Recht und Unrecht.“227 Jellinek beschäftigte sich in diesem Zusammenhang unter empirischem Blickwinkel mit dem bedeutenden Einfluß des Naturrechts, dem er zwar den Charakter einer geltenden Rechtsordnung absprach, das er aber für ein wichtiges Moment der Rechtsentwicklung hielt. Im Fall des Naturrechts erzeuge nämlich umgekehrt die Vorstellung eines übergeordneten Rechts das Faktum, denn die Vorstellung derartiger Rechte als bereits existierender, ziele auf Änderung der gegebenen Rechtsordnung und damit auf die Positivierung des Naturrechts.228 Dieses rationale, evolutive Element ermögliche eine kritische Stellungnahme gegenüber der positiven Rechtsordnung, indem dadurch die Vorstellung eines über dieser Ordnung stehenden Rechtes imaginiert werde, das mit einem höheren Geltungsanspruch, d. h. als in Wahrheit gültiges Recht auftrete.229
224 „Diese Eigenschaft äußert sich aber im Menschen unabhängig von allen abstrakten Vorstellungen einer positiven Rechtsordnung, ja, bevor das Bewußtsein einer solchen überhaupt möglich ist.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 352). 225 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 352 f. Auch hier griff Jellinek wieder auf die Entwicklungspsychologie und das ontogenetische Grundgesetz zurück. 226 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 351 f. 227 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 352. Vgl. auch ders., Die rechtliche Natur der Staatenverbindungen, 15 ff. 228 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 352 f. Nelson (Die Rechtswissenschaft ohne Recht, 51) und Holubek (Allgemeine Staatslehre als empirische Wissenschaft, 39) haben diesem explanativen Ergebnis zu Unrecht den Vorwurf der Bewußtseinsspaltung gemacht: Was subjektiv als Objektivität des Wertes verstanden werde, erweise sich theoretisch als Illusion. 229 Im Fall der Revolution bewirke die Überzeugung von der Vernünftigkeit der neuen Ordnung die Vorstellung der Rechtmäßigkeit, noch ehe Gewöhnung die Umsetzung des Tatsächlichen in Normatives vollzogen habe und verhindere so Zustände der Anarchie (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 353). Über die Verursachung von Änderungen des tatsächlichen Rechtszustandes hinaus, diene das Element auch der Rationalisierung und Festigung der bestehenden Ordnung, indem sich die Erfahrungen mit einem Rechtsinstitut zur Überzeugung von seiner Vernünftigkeit verdichteten (ebd., 354 f.).
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d) Die Maßgeblichkeit der durchschnittlichen Rechtsüberzeugung Da das Recht ein bewußtseinsmäßiges Phänomen ist, ist es auch in seiner Geltung von der durchschnittlichen Volksmeinung abhängig. Hier konnte Jellinek auf die eingangs dargestellte erkenntnistheoretische Grundlegung zurückgreifen: Die maßgebliche Zustimmung der Normadressaten richte sich nach der im Volk herrschenden durchschnittlichen Überzeugung, eine Behauptung, für die Jellinek problematischer Weise eine eingehende Begründung schuldig blieb und lediglich auf die Sozialpsychologie verwies: Bei „allen massenpsychologischen Feststellungen werden notwendig die entgegenwirkenden Akte einer Minderzahl vernachlässigt.“230 Die subjektive Grundlegung seines Konzepts kann jedoch prinzipiell nicht erklären, wie eine Norm für jemanden als verbindlich gelten soll, der das entsprechende Rechtsbewußtsein anders als die Mehrheit der Adressaten nicht entwikkelt.231 Dies war ja auch der Grund, warum Merkel erklärt hatte, das Recht besitze nicht die gleiche Verbindlichkeit für alle. Dabei war Jellinek sich der Konflikte innerhalb der Gesellschaft bewußt und ging davon aus, daß Veränderungen in den rechtlichen Anschauungen vom Rechtssystem wahrgenommen würden, wenn sie „eine gewisse Stärke und Umfang“ erreicht hätten, so daß die in Streit stehende Norm durch derogatorisches Gewohnheitsrecht formell beseitigt sei.232 Dem Ergebnis seiner Konstruktion, das die Geltung der Rechtssätze vor dem Hintergrund einer konkreten Lebenswirklichkeit auf der Grundlage einer gemeinschaftlichen Rechtsanschauung sichert, kommt strukturell ein legitimitätserhöhendes Verdienst zu. Es birgt jedoch auf den ersten Blick hypothetisch die Gefahr, das Recht der Mehrheitsmeinung rückhaltlos durchzusetzen. Jellinek beschrieb im Rahmen der „Allgemeinen Staatslehre“ lediglich die psychologischen Faktoren als für das Recht grundlegende Bedingungen und machte sie sich bei der theoretischen Begründung der Möglichkeit des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts zunutze.233 Er hat jedoch, wie seine Überlegungen zum Schutz von Minderheiten 230 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 334, Fn. 1. Jellinek ließ wie Bierling auch eine indirekte Anerkennung zu (ebd., 333 Fn. 1). 231 Welzel, An den Grenzen des Rechts, 21. Welzel sieht mit der Anerkennungstheorie das Effektivitätsproblem aufgeworfen, das sich hier zum Legitimitätsproblem ausweite. Dazu auch Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 502 ff. 232 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 334 Fn. 1. 233 Auf die Kritik durch Kelsen und Nelson kann hier nur kurz hingewiesen werden. Kelsen (1881 – 1973) bemängelte, die Anerkennungstheorie antworte auf eine normative, d. h. auf Rechtfertigung zielende Frage mit einer explikativen Antwort, indem sie eine Erklärung des tatsächlich Geschehenden biete (Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 13). Das Sollen sei so ein Spezialfall des Seins (ebd., 7). Die Theorie laufe letztlich auf eine Fiktion heraus, denn ein solcher Akt der Anerkennung sei bei den Menschen nicht nachzuweisen. Ein derartiger real-psychischer Akt könne doch nur im Wege empirischer, sozialpsychologischer Forschung festgestellt werden, wovon allerdings bei den konstruierenden Anhängern der Theorie keine Rede sei. Die Geltungsfrage könne aber nur eine normative sein (ebd., 12 f.), es müsse also gefragt werden, warum Rechtsnormen befolgt werden sollen und nicht warum sie tatsächlich befolgt werden. Nelson (1882 – 1927) kriti-
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zeigen, auch die Probleme gesehen, die sich für die Autonomie des Rechts mit einer Anbindung an die durchschnittlichen Mehrheitsvorstellungen ergeben. In der schrankenlosen demokratischen Mehrheitsmeinung sah Jellinek eine Gefahr für die Zivilisation: „Nichts kann rücksichtsloser, grausamer, den primitiven Rechten des Individuums abholder, das Große und Wahre mehr hassend und verachtend sein, als eine demokratische Mehrheit . . . Nur ein der Wirklichkeit gänzlich abgewendeter Mensch kann heute noch den Traum von der Güte und Wahrheitsliebe der Massen träumen.“234 In dem Schutz der Minoritäten sah er eine Sicherung der freien Entwicklung der Individualität gegenüber einer Inbesitznahme für kollektive Ziele und bemühte sich um die Verankerung von Minderheitsrechten und die Begründung der Selbstbindung des Staates.235 e) Die Rechtsüberzeugung der Kulturvölker Jellinek sah das Recht in seinem Bestand und seiner Entwicklung damit zwangsläufig in einer Abhängigkeit zu den geschichtlichen Rechts- und Wertvorstellungen. Die in der Theorie erwiesene Notwendigkeit der Anerkennung des Rechts hat zur Folge, daß auch hier die herrschenden Rechts- und Gerechtigkeitsanschauungen einer bestimmten historischen Periode für den Rechtscharakter maßgeblich sind.236 Aufgrund der Notwendigkeit der Anerkennung des Rechts „ist es schließsierte in ähnlicher Richtung, der rechtliche Gehalt könne nicht mit einer Wissenschaft vom Seienden erforscht werden, denn das Recht sei nichts Seiendes. Die Anerkennung liefere kein Kriterium des Rechts, sondern eröffne nur einen logischen Zirkel: „Von der Überzeugung, daß etwas Recht sei zu sprechen, hat nur Sinn, wenn ,Recht‘ etwas anderes bedeutet als dasjenige, wovon wir überzeugt sind, daß es Recht sei.“ (Nelson, Die Rechtswissenschaft ohne Recht, 17) Die Rechtswissenschaft werde so zum Zweig der Psychologie. In Wahrheit ergebe sich dann das Recht aus Macht- und Interessenverteilung und nicht aus Rechtsüberzeugung. 234 Jellinek, Das Recht der Minoritäten, 85. 235 Jellinek, Das Recht der Minoritäten, 84, 87. Auch er betonte im übrigen in diesem Zusammenhang, daß aller Fortschritt in der Geschichte das Werk von Minoritäten sei. 236 Und für die Frage nach der Möglichkeit eines Staatsrechts, die sich Jellinek vorgelegt hat, bedeutete das: „Es kommt daher hier in letzter Linie darauf an, ob nach der Anschauung einer bestimmten Zeitepoche der Staat selbst durch seine abstrakten Willenserklärungen gebunden ist oder nicht . . . Diese Frage ist aber eine historische, mit keiner allgemein gültigen Formel zu lösende.“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 343) Dieser historische Relativismus zeigt sich als durchgängiges Prinzip, so entnehmen sich auch die Staatszwecke „aus dem jeweiligen Bewußtsein eines Volkes und einer Zeit“ (ebd., 249). Im wissenschaftstheoretischen Bereich ist für Jellinek auch der Forscher von den Voraussetzungen seiner Zeit durchdrungen, wobei für die letzten Grundlagen „kein zweifelsfreies Wissen, sondern nur ein Bekennen möglich“ sei und dabei keine Einheitlichkeit zu finden sei; allerdings könne der Wissenschaftler sein Bekenntnis nicht willkürlich wählen, auch hier sah Jellinek die Lösung in der historischen Betrachtung, denn die Forschung bleibt für ihn an den Wissensstand einer Zeit gebunden, worin Jellinek einen „universellen Standpunkt“ sah, da „nur aus dem ganzen Wissen einer Zeit heraus der Maßstab gefunden werden könne, an dem Wert und Unwert politischer Prinzipien zu messen ist.“ (Jellinek, Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, 13*
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lich eine von der gesamten Kulturanlage eines Volkes bedingte Überzeugung, ob etwas, was den Anspruch erhebt, Norm zu sein, in einem gegebenen Zeitpunkt diesen Charakter wirklich besitzt.“237 Bereits diese Formulierung läßt die Vermutung aufkommen, daß Jellinek hier mit der kulturellen Verfaßtheit einen objektivierten Bestand von Traditionen und Erfahrungen einbrachte, der die Anerkennung erzeugt. Diese Annahme bestätigt sich angesichts der Tatsache, dass Jellinek gegenüber der Dynamik der sich verändernden Auffassungen an einer relativ beständigen Rechtsüberzeugung der Kulturvölker festhielt und einen überhistorischen Rechtsbestand etablierte, indem er auf den Kunstgriff der „Scheidung alles Rechtes in konstante oder doch nur sehr langsam umzubildende und variable Bestandteile“ zurückgriff: „Diese Konstanten sind aber in dieser Eigenschaft gemäß der ganzen Kulturlage eines Volkes ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt und bilden damit einen rechtlichen Maßstab für die Beurteilung auch der formal unanfechtbaren Staatswillensakte. Daher kann ein Gesetz oder ein rechtskräftiger irreversibler Richterspruch als unrecht, nicht nur als ungerecht gewertet werden. Ferner ist damit auch eine Richtschnur de lege ferenda gegeben . . .“238 Keineswegs kann der Gesetzgeber jeden beliebigen Inhalt zum Rechtssatz erheben. Diese historisch entwickelten Grundlagen bedeuteten für Jellinek, daß es mit der zeitgenössischen Kulturauffassung unvereinbar sei, beispielsweise die Straflosigkeit des Mordes auszusprechen.239 Während sich das klassische Naturrecht in seiner Darstellung lediglich als vorgestellter Komplex eines höherrangigen Rechts darstellte, ging er davon aus, es habe sich historisch ein uneinschränkbarer Bestand von Rechten herausgebildet. „Wohl aber war von jeher und ist heute unzweifelhaft in umfassenderem Maße in dem Rechte der Kulturvölker ein Grundstock vorhanden, der gesetzgeberischer Willkür entzogen ist. Das ist der Niederschlag der gesamten geschichtlichen Entwicklung eines Volkes, wie er als bleibende Bedingung von dessen ganzem historischen Dasein sich in den rechtlichen Institutionen konstant ausprägt.“240 Auf diese Weise finden auch die subjektiven Wertungen ihre Grenze in: Ausgewählte Schriften und Reden II, 424 ff.) Dazu La Torre, Der Kampf des ,neuen‘ Rechts gegen das ,alte‘ – Georg Jellinek als Denker der Moderne, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 49 f. Vgl. auch die Replik des damit angegriffenen Staatsrechtlers Zorn, der sich gegen die Tauglichkeit eines solchen Maßstabes wandte und seine Auffassung von der monarchischen Gewalt „für ebenso ,modern‘ wie die Jellinek’sche“ hielt; niemand beherrsche „das ganze Wissen einer Zeit“ (Zorn, „Moderne Legitimisten“, ARWP II (1908 / 09), 164 f.; zu Zorn: J. Schmidt, Konservative Staatsrechtlehre und Friedenspolitik). 237 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 371. 238 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 375. 239 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 374. Dies liege wohl „außerhalb der realen gesetzgeberischen Möglichkeiten“ (ebd., 374). 240 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 374. Jellinek setzt nach Landau für das Recht der Kulturvölker eine Rechtsüberzeugung voraus, die zwischen einem bloßen ius iniquum, das Geltung beanspruchen könne, und dem Mißbrauch der Rechtsformen als ungeheuerlichem Rechtsbruch unterscheide. In dieser Unterscheidung sieht Landau eine Vorwegnahme der Radbruchschen Formel im Zeitalter des Positivismus (Landau, Rechtsgeltung bei Georg Jellinek, in: Georg Jellinek (Hg. Paulson / Schulte), 306 f.).
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an einem gewachsenen, geprüften und relativ konstanten Bestand grundlegender Rechtsanschauungen, die im Rechtssystem ausgeprägt sind.
V. Allgemeine Kulturanschauungen und die Entwicklung historischer Standards Bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen den verschiedenen Theorien lassen sich abschließend gewisse Strukturähnlichkeiten festhalten. Die Abhängigkeit des Rechts von der herrschenden Geistesrichtung als Kennzeichen der entwicklungsgeschichtlichen Denkweise offenbart in unterschiedlichem Maß ein strukturelles Problem, das die Beziehung zwischen Erkenntnisgegenstand und Betrachterperspektive betrifft. Denn wie die Feststellung der gegenwärtigen Kulturauffassung methodisch sicher verwirklicht werden kann, wird nicht thematisiert. Bei Berolzheimer und Kohler führte nicht zuletzt dies dazu, hervorragende Persönlichkeiten für die Auffindung der maßgeblichen Prinzipien zu favorisieren. Die Dynamisierung der gesellschaftlichen Entwicklung wird allerdings nicht als rückhaltlos angesehen. Zwar stellen sich Naturrecht und Rechtsidee im Rahmen der allgemein befolgten genetischen Betrachtungsweise lediglich als Entwicklungsprodukte menschlicher Vorstellungen dar; die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung des Rechtsgefühls und der Rechtsidee ist hierfür augenfälligstes Anzeichen. Gerechtigkeit beruht maßgeblich auf anthropologisch-psychologischen Gegebenheiten des Menschen und wird ähnlich den religiösen Anschauungen auf ein subjektives Bedürfnis reduziert. Ihr Existenzort ist das menschliche Empfinden. Einer auf dieses Bewußtsein gestützten Kritik ist das Recht als machtgestützte Ordnung ausgesetzt. Macht und Recht werden dabei nicht als absolute Gegensätze aufgefaßt, vielmehr verstärkt sich die Vorstellung, daß auch das Recht an sich schon Macht bedeutet und diese Wesensbestimmung nur gemäßigt werden kann durch das Rechtsbewußtsein der Normadressaten und einen Bestand historisch bewährter Rechtssätze. Sowohl Merkel als auch Jellinek, Mayer und Berolzheimer machen in unterschiedlicher Weise den Versuch, die subjektiven Rechtsvorstellungen auf objektive Zusammenhänge zurückzuführen, in denen sie eine gewisse Rechtfertigung finden können. Diese Bezugspunkte liegen in der geschichtlichen Tradition und Kultur als umfassendem überindividuellem Kontext. Die allgemeinen Anschauungen werden trotz der Anleihen im empirisch-soziologischen Bereich wesentlich als historisch und kulturell bedingt angesehen.241 Da sie auch das historisch erworbene Wissen umfassen, eröffnet sich die Möglichkeit, natur- und vernunftrechtliche Prinzipien in begrenztem Maße als relativ beständige Grundsätze des Rechts zu reformulieren und die Menschheitsidee als Entwicklungsgrundsatz zu etablie241 Daß, wenn von „allgemeinem Rechtsbewußtsein“ die Rede ist, nicht immer ein soziologisches Verständnis zugrunde liegt, betont auch Welzel, An den Grenzen des Rechts, 19. Er meint, darin seien Vorstellungen eines „objektiven Geistes“ als des wahrhaft Wirklichen im Sinne Hegels lebendig.
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ren.242 Gegenüber den legislativen Normsetzungen und den faktischen Interessengegensätzen bildet sich eine starke Entwicklungstendenz oder ein Bestand besonderer Auffassungen, der sich durch relative Konstanz bzw. Widerstandsfähigkeit gegenüber der geschichtlichen Entwicklung auszeichnet und auf diese Weise dem kontinuierlichen Wandel entzogen ist.243 Die Gefahr des Mißbrauchs derartiger historisch begründeter Standards wird nicht kritisch reflektiert.
242 Bereits bei Jhering existiert die Vorstellung, aus dem historischen Erfahrungsschatz ließen sich grundsätzliche Normen destillieren, die den Eindruck „allgemeiner Rechtswahrheiten“ erweckten. Damit werden zwar keine überpositiven Werte etabliert, es ergibt sich aber so etwas wie ein überzeitliches Gerüst, Normen, die nicht ohne weiteres revidierbar sind, weil sie zum Bestand des historisch Erreichten und zweckmäßig Bewährten gehören. 243 Hier geht es um einen Bestand von Menschen- und Bürgerrechten, die ebenfalls Radbruch nach 1945 gegen den von ihm früher mitvertretenen Relativismus reaktivierte: „Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“ (Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), abgedruckt in: ders., Rechtsphilosophie, 328, Hervorhebung nur hier).
Schlußbetrachtung Die Versuche einer Neubelebung der Rechtsphilosophie um 1900 steckten in einem Dilemma. Einerseits ging man übereinstimmend von der Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf Aufgaben und Maßstäbe des Rechts – insbesondere angesichts der erheblichen sozialen und politischen Herausforderungen – aus, andererseits bedeutete die Trennung von Weltanschauung und Wissenschaft für die Erneuerung der Rechtsphilosophie ein schwieriges Erbe. Die Kontroverse um die erkenntnistheoretische Auflösung der Richtigkeitsfrage in Stammlers „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“ führte in der Folge zu entwicklungsgeschichtlichen und kulturphilosophischen Ansätzen, denen das Bestreben gemeinsam war, gegenüber Stammlers regulativer Idee bedingte und inhaltsvolle Maßstäbe als richtiges Recht auszuweisen. In der Entwicklungsbetrachtung fand die mit dem Vordringen des Historismus einhergehende Feststellung, daß überzeitlich geltende Rechtssätze nicht mehr begründbar seien, ein Widerlager, das in bestimmten Erklärungsansätzen geschichtlichen Wandels die Kontingenzerfahrung des zeitlichen Geschehens zu überwinden half. Die Analyse und Deutung rechtsvergleichender und soziologischer Untersuchungen sollte zur Standortbestimmung und Orientierung beitragen und die Gestaltung des Rechts leiten. Pragmatische Gesetzgebungsanleitung wurde dabei zu einem wesentlichen Aspekt rechtsphilosophischer Erörterungen. Gleichzeitig stellte die Entwicklungsbetrachtung den Versuch dar, der im Vordringen begriffenen Anschauung, die theoretische Begründung allgemein verbindlicher Maßstäbe mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Theorie stelle ein in sich widersprüchliches Unterfangen dar, ein allgemeingültiges Deutungsschema entgegenzusetzen. In den Entwicklungskonzepten werden dabei Hypothesen über die Struktur des Rechts offenbar, die das Recht zu einer den sozialen Frieden, die Lebensbedingungen der Gesellschaft oder die Kultursteigerung sicherstellenden Ordnung machen. Diese Annahmen waren von bestimmendem Einfluß auf die Formulierung eines Maßstabs des Rechts, der sich in erster Linie an der dem Recht zugesprochenen Aufgabe orientierte. Mit dem Entwicklungsdenken wurden Sein und Sollen auf unterschiedliche Weise und in verschiedenem Maß auf der Grundlage eines jeweils besonderen Wirklichkeitsverständnisses verschränkt. Während Liszt mit einer überraschend pragmatisch-robusten Übernahme darwinistischer Entwicklungstopoi kausale und normative Betrachtung verknüpfte und in jeder weiteren Entwicklungsstufe gleichzeitig einen höheren Grad der Entwicklung sah, hatte Merkel mit der Annahme, in der Geschichte seien soziale Gesetze erkennbar, den Bereich der dem Recht vor-
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Schlußbetrachtung
ausgehenden tatsächlichen Gegebenheiten, die einer wissenschaftlichen Expertise zugänglich sind, ausgeweitet und eine konsequent empirische Untersuchung befolgt. Er hatte dabei die an der Rechtsentwicklung der sogenannten Kulturvölker beteiligten Faktoren isolieren und Entwicklungstendenzen des Rechts herausarbeiten wollen, um auf diese Weise gegenüber den ideologischen Parteikämpfen einen neutralen Maßstab zu schaffen. Subjektiv verbindliche Wertungen ließen sich nach seiner Auffassung auf diese Weise jedoch nicht begründen. Im Gegensatz zu der rational-entwicklungsgeschichtlichen Perspektive Merkels werteten Berolzheimer und Kohler die augenblickliche Kulturanschauung vor dem Hintergrund einer metaphysischen Entwicklungsbetrachtung mit der Identitätsphilosophie und der Ideenlehre als normativen Bezugspunkt auf. Über die historisch-rechtsethnologische Vorgehensweise hinaus entdeckt man in ihrer Rechtskonzeption jedoch hauptsächlich eine aus dem Defizitempfinden der ausschließlich empirisch betriebenen Rechtsbetrachtung resultierende, weltanschauliche Stellungnahme, womit ein zeitgenössisches Bedürfnis nach philosophischer Werterkenntnis und Orientierung befriedigt wurde. Ihre von empirischen Grundlagen ausgehende Rechtskonzeption geriet allerdings durch eine geschichtsmetaphysische Perspektive und ein pantheistisches Deutungsmuster zu einer weltanschaulich beliebigen Behauptung, deren Inhalte wesentlich von der politisch moralischen Auffassung ihrer Begründer geprägt wurden. Abgesehen von ihren organisatorischen Verdiensten um eine Wiederbelebung der rechtsphilosophischen Diskussion, lieferten sie mit ihren Auffassungen keine überzeugenden Beiträge zu einem Neuansatz.1 Radbruch, der zunächst nur von „der Kohlerschen Rechtsmetaphysik“2 gesprochen hatte, sah dessen Werk später in Gefahr, „unter einer wachsenden Schicht von Trivialitäten, bis zur Unauffindbarkeit für die Nachwelt“3 begraben zu werden, und vermißte bei Berolzheimer zu Recht den „systematischen Geist“4 eines Rechtsphilosophen. Berolzheimer und Kohler begaben sich in eine theoretische Grundlagenisolation und rekurrierten unbefangen auf Selbstgewißheiten, die erst recht vor dem Hintergrund des damaligen Werturteilsstreits nicht mehr fraglos erschienen und mit der Notwendigkeit tieferer Einsicht gegenüber empirischer Betrachtung eine ausreichende Rechtfertigung finden sollten, ohne daß damit der Rechtsgestaltung eine sichere Grundlage gegeben worden wäre.
1 So für Berolzheimer: Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft (Hg. Heinrichs / Franzki / Schmalz / Stolleis), 174. 2 Radbruch, Besprechung Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, ZStW 24 (1904),160. 3 Radbruch, Besprechung Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Zeitschrift f. Politik III (1910), 427. 4 Radbruch, Besprechung von Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, ZStW 27 (1907), 744.
Schlußbetrachtung
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Bedenken gegenüber einer in normativer Intention durchgeführten Entwicklungsbetrachtung zeigen sich dagegen in den Konzepten Jellineks und Stammlers, die die wertende Tendenz des Entwicklungsbegriffs unterstrichen. Im Zuge der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise wurde die Richtigkeit des Rechts in Abhängigkeit zu der herrschenden Kulturauffassung gesehen. Dem Vergleich mit Stammlers Bemühungen, eine Lehre vom richtigen Recht aufzubauen, halten derartige Rehabilitierungsversuche nicht stand. Stammler war der Meinung, mit seiner wissenschaftlich begründeten Rechtsidee einen Standpunkt jenseits weltanschaulicher Entwürfe etabliert zu haben. Sein Ansatz sollte dem Anspruch nach im Gegensatz zur genetisch-entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise die Richtigkeitsbedingungen gesellschaftlichen Lebens in kritischer Selbstreflexion aufzeigen. Richtiges Recht war nach Stammlers Begriffsbildung die tatsächliche Gestaltung des Rechts, die sich von der Rechtsidee leiten läßt. Das soziale Ideal selbst macht keine inhaltlichen Vorgaben, sondern ist ein methodischer Maßstab, eine regulative Idee, in der die Grundprinzipien einer individualistischen Gesellschaftsauffassung zum Ausdruck kommen. Mit der Bezugnahme auf den lebensvollen Begriff der Kultur sollte diese umstrittene, methodisch-formale Vorgehensweise Stammlers ersetzt werden. Die Hervorhebung der Kulturabhängigkeit des Rechts schien gleichzeitig geeignet, die Legitimität des Rechts in der lebensweltlichen Verankerung des Rechts zu begründen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Vermittlung von Gerechtigkeit weitgehend in das subjektive Empfinden verlagert wurde, denn aus historischer Distanz – so die vorherrschende Auffassung – erwiesen sich alle naturrechtlichen Behauptungen als zeit- und kontextabhängige Vorstellungen eines überpositiven richtigen Rechts. Mit dem Verweis auf ein einheitliches Substrat der Kultur wurde ein Gewißheitsanspruch verteidigt, der die tatsächlichen Verhältnisse verklärte. Daß ein derartig homogenes Fundament nicht vorhanden war, sah auch Berolzheimer; er hielt die kulturelle Zerrissenheit jedoch für eine krisenhafte Übergangsphase, die zu einem wiedererstarkenden Idealismus führen werde. Der Rückgriff auf den Kulturbegriff entstand hier nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, den schmerzhaft empfundenen Mangel an geistiger Identität zu kompensieren. Das Festhalten an einem inhaltsvollen, monolithischen Kulturbegriff als Wertungsgrundlage ging jedoch an den tatsächlichen gesellschaftlichen Bedingungen vorbei und führte, wie besonders in Mayers Kulturnormentheorie deutlich wird, zu Friktionen. Mayers Versuch, allgemein einsichtige Kulturnormen als einen dem Recht vorgängigen Normenkomplex zu erweisen, verlor in dem Augenblick seine Plausibilität, in dem Mayer sich gezwungen sah, die Pluralität gesellschaftlicher Kulturwerte zu akzeptieren und das soziale Konfliktpotential in seine Theorie zu integrieren. Bereits Merkel hatte keine Möglichkeit mehr gesehen, wie die Volksgeistlehren von einer gemeinschaftlichen Wertungsgrundlage auszugehen, und hatte ganz im Gegenteil im gesellschaftlichen Konflikt die maßgebliche Bedingung für Entwicklung und Fortschritt gesehen. Pragmatisch verlegte er sich mit seiner generellen Anerkennungstheorie zur Begründung der Geltung des Rechts auf die ethische Zustimmung der
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Schlußbetrachtung
Mehrheit der Rechtsunterworfenen zu einem Grundkonsens. Auch Jellinek, der im Recht eine „psychische Massenerscheinung“ sah, stellte im Hinblick auf die Geltung des Rechts mit sozialpsychologischer Argumentation auf die im Volk herrschende durchschnittliche Rechtsüberzeugung ab. Diese Tendenz, das Recht an der Kulturanschauung einer bestimmten Periode zu orientieren, ermöglicht grundsätzlich jede Art der Rechtsgestaltung, so daß Gerechtigkeit ihre Grenzen an den tatsächlichen Strukturen der Gemeinschaft und der Kulturentwicklung findet; subjektive Rechte wurden vielfach lediglich als historische Entwicklungsprodukte aufgefaßt. Gleichzeitig ist augenfällig, daß zwar das Bestehen eines von menschlicher Satzung unabhängigen Naturrechts abgelehnt, gegenüber der dynamischen Rechtsbetrachtung jedoch mit einem Grundstock relativ konstanter Rechtsanschauungen argumentiert wurde. Ausgehend von der tatsächlichen historischen Entwicklung, ließen sich naturrechtliche Sätze als relativ beständige, historisch erworbene Prinzipien und allgemeine Gerechtigkeitsanschauungen der Kulturvölker reformulieren. Die Möglichkeit der Umkehrbarkeit und Pervertierung historisch begründeter Standards wurde allerdings nicht kritisch reflektiert. Im Vordergrund stand das Bestreben, sich von einer rein deduktiven, spekulativen Theoriebildung abzugrenzen. Für die Vorstellung der ideologischen Vereinnahmung dieser notwendig offenen Theoriekonzepte fehlte vor dem Hintergrund des aus dem 19. Jahrhundert nachwirkenden Fortschrittsdenkens jegliches Problembewußtsein. Vielmehr herrschte die Auffassung vor, daß von einem bestimmten Bestand kultureller Errungenschaften ausgegangen werden könne, hinter den ein Rückfall nicht ohne weiteres möglich sei.
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