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German Pages [353] Year 2017
Siegfried Hermle / Dagmar Pöpping (Hg.)
Zwischen Verklärung und Verurteilung Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte
Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 67
Vandenhoeck & Ruprecht
Siegfried Hermle / Dagmar Pöpping (Hg.)
Zwischen Verklärung und Verurteilung Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 10 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-55790-3
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Methodische Grundlagen und historischer Rahmen . . . . . . . . 11 Siegfried Hermle Zwischen Verklärung und Verurteilung Rezeption von evangelischem Widerstand nach 1945 in historischer Forschung und Erinnerungskultur – Eine Einführung . . . . . . . . . .
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Michael Kißener Wegmarken der deutschen Widerstandsforschung nach 1945 . . . . . .
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Widerstandsrezeption in europäischer Perspektive . . . . . . . . 51 Katharina Kunter Vom „Concentration Camp Hero“ zum „Neuen Kreisau“ Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption in internationaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Personen und Gruppen der Erinnerung
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. . . . . . . . . . . . . . 75
Hansjörg Buss Eine Herausforderung für die protestantische Erinnerungs- und Gedenkkultur Karl Friedrich Stellbrink (1894–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Christine Friederich Widerstand als Glaubenstat? Religiöse Deutungen des Widerstands der Weißen Rose . . . . . . . . . 105 Christine Gundermann Widerstand als „Brückenbauer“ Zur Widerstandsrezeption der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste . 119
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Inhalt
Peter Haigis „Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand“ Zur Geschichte der Erinnerungsinitiativen um die Pfarrhauskette . . . 137 Tim Lorentzen Phasen und Funktionen des Bonhoeffer-Gedenkens in Deutschland . . 155 Thomas Martin Schneider Verklärung – Vereinnahmung – Verdammung Zur Rezeptionsgeschichte Pfarrer Paul Schneiders . . . . . . . . . . . . 183 Nora Andrea Schulze Hans Meiser Vom Widerstandskämpfer zur persona non grata . . . . . . . . . . . . 197
Ereignis der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Axel Töllner Erinnern an die Barbarei Die Novemberpogrome im Gedenken der evangelischen Kirchen in Deutschland seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Orte der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Dagmar Pöpping Zwischen Forschung und Erinnerungskultur Ein Katalog über Gedenkorte des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Helmut Rönz Historiker und Gedenkakteure Das LVR-Projekt „Widerstand im Rheinland 1933–1945“ und der christliche Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Hans-Walter Schmuhl Heroisierung, Skandalisierung, Historisierung Die NS-„Euthanasie“ in der Erinnerungskultur diakonischer Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Inhalt
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Texte der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Claudia Lepp Marga Meusel und Elisabeth Schmitz Zwei Frauen, zwei Denkschriften und ihr Weg in die Erinnerungskultur
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Manuel Schilling Verdrängung, Instrumentalisierung, Auslegung Zur Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung nach 1945 in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Kommentare
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Ursula Büttner Betrachtungen zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Christiane Kuller Evangelischer Widerstand in der Erinnerungskultur nach 1945 . . . . . 331 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Vorwort
Warum entdeckte die evangelische Gedenkkultur den von den Nationalsozialisten hingerichteten Geistlichen Karl Friedrich Stellbrink erst in den 1980er Jahren für sich? Warum werden kirchliche Führungspersönlichkeiten wie der bayerische Landesbischof Hans Meiser, die lange als Gegner des Nationalsozialismus verehrt wurden, in jüngster Zeit als nicht mehr erinnerungswürdig betrachtet? Und warum erfreut sich der 1935 entstandene Text von Elisabeth Schmitz, der mit großer Hellsichtigkeit die „Lage der deutschen Nichtarier“ beschrieb und die evangelische Kirche zum konsequenten Eintreten für die Juden aufforderte, erst seit kurzem nationaler und internationaler Beachtung in Forschung und Erinnerungskultur? Diesen und vielen anderen Fragen widmen sich die Autoren des vorliegenden Sammelbandes. Ihre Beiträge gehen auf eine Berliner Tagung mit dem Titel „Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes nach 1945“ im November 2014 zurück. Initiatorin der Tagung war die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Ihr Anliegen war es, den Ort einer protestantischen Erinnerungskultur innerhalb einer allgemeinen Erinnerungsgeschichte an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu bestimmen. Die Arbeitsgemeinschaft, die 1971 aus der „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes“ hervorging, zog damit auch eine kritische Bilanz ihres eigenen historischen Selbstverständnisses. Zudem knüpfte sie an die von ihr erarbeitete Internet-Ausstellung „Widerstand!? – Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“ (www.evangelischer-widerstand.de) an, die in breiter Weise Beispiele widerständigen Verhaltens bietet. Die hier vorgestellten 16 Beiträge und zwei Kommentare bestätigen eindrücklich, dass die Erinnerungskultur einer Gesellschaft immer in einem aktiven und funktionalen Verhältnis zu ihrer Gegenwart steht und weit mehr über die Macht aktueller Konjunkturen in Kultur und Politik aussagt als über die historische Wahrheit des Erinnerten. Der Fokus liegt daher auf den Akteuren und Gruppen der Erinnerung, ihren moralischen und politischen Zielen sowie den Identitäten, die diese sich über die Erinnerung an christlichen Widerstand schufen. Es lässt sich nachverfolgen, was engagierte Promotoren der Erinnerung bewirken können, wenn ihre Ziele von kulturellen und politischen Zeitströmungen getragen werden. Nicht zuletzt an der
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Vorwort
Schnittstelle von persönlichem Engagement und Zeitgeist entscheidet sich, warum bestimmte Persönlichkeiten, Texte oder Orte einen Platz in der Erinnerung an christlichen Widerstand erhalten, während andere in Vergessenheit geraten oder ihren Platz in der Erinnerungskultur räumen müssen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die neben ihren alltäglichen Pflichten die manchmal nicht einfache Aufgabe angenommen haben, ihre Beiträge für die Drucklegung zu bearbeiten. Dank gilt auch den Mitarbeitern der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte Tanja Posch-Tepelmann, Kerstin Müller-Römer und Florian Schiermeier für die sorgfältigen Korrekturarbeiten sowie Robert Helbing und Friederike Basse vom Institut für Evangelische Theologie, Köln, für die Erstellung des Personenregisters. Schließlich möchten wir der Hans und Gretel Burkhardt Stiftung für die großzügige Förderung der Tagung danken. Siegfried Hermle, Dagmar Pöpping
Methodische Grundlagen und historischer Rahmen
Siegfried Hermle
Zwischen Verklärung und Verurteilung Rezeption von evangelischem Widerstand nach 1945 in historischer Forschung und Erinnerungskultur – Eine Einführung
Als der Vorsitzende der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, der Kirchenhistoriker Prof. Joachim Mehlhausen, am 15. Mai 1998 in der Georgenkirche in Eisenach den Festvortrag aus Anlass des 50. Jahrestages der Verabschiedung der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland hielt, wies er – eher beiläufig – darauf hin, dass der Präses der 1948 tagenden Synode der EKD, der Essener Oberbürgermeister Gustav Heinemann, eine Liste von zehn Namen verlesen habe, die „als Bekenner unseres Glaubens im Konzentrationslager und in Gefängnissen seit 1933 […] ums Leben gekommen“ seien1. Mehlhausen fuhr fort: „Ist es nicht merkwürdig, daß uns einige dieser Namen heute fremd sind? Und ist es nicht noch merkwürdiger, daß keine spätere Synode der EKD diese Namenliste zu Ende geschrieben und irgendwo ehrenvoll festgehalten hat?“ Diese Bemerkung Mehlhausens wurde impulsgebend für eine intensive Forschung, die die Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte auf Anregung und Bitte des Rates der EKD beschäftigt hat und in dem von Harald Schultze und Andreas Kurschat herausgegebenen, 2006 erschienenen Band „Ihr Ende schaut an … Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ mündete2. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, bot diese Publikation eine beträchtliche Anzahl von Personen, die im 20. Jahrhundert aufgrund ihrer Glaubenshaltung ermordet worden waren. Als Anschlussprojekt ergab sich fast selbstverständlich, dem evangelischen Widerstand in seiner ganzen Breite nachzugehen und über jene Personen hinaus, die ihr Engagement mit ihrem Leben bezahlen mussten, auch jene ins Blickfeld zu rücken, die sich auf unterschiedlichste Weise dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Regimes entzogen bzw. entgegengestellten. Als im November 2011 in Magdeburg im Rahmen der dort tagenden EKD-Synode die Internet-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“ freigeschaltet wurde3, konnte eine beachtliche Fülle von unterschiedlichsten widerständigen Aktionen verschiedenster Einzelpersonen oder Gruppen präsentiert werden. Der dem Konzept dieser Internet-Ausstellung zugrunde liegende weite Widerstandsbegriff förderte einen bis dahin noch nicht in 1 Mehlhausen, Fünfzig Jahre, 62. 2 Schultze/Kurschat, Ende. 3 Vgl. Oelke, www.evangelischer-widerstand.de; Hermle, Internet-Ausstellung.
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dieser Breite sichtbaren christlichen Widerstand zutage und machte auf zahlreiche Aktivitäten und Personen erstmals aufmerksam bzw. machte sie wieder bewusst. Wichtig war zudem, dass regionale Traditionen zusammengebunden und einem weltweiten Nutzerkreis zugänglich gemacht wurden. Zum Konzept der Internet-Ausstellung gehörte auch eine Rubrik „Nach 1945. Rezeption des christlichen Widerstandes“. Bald zeigte sich, dass dieser Bereich erhebliche Mühe bereitete. Offensichtlich gab es im Blick auf die Rezeption des christlichen Widerstandes kaum Forschungen. Diesem Defizit stellte sich die Tagung ,Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes nach 1945‘, die im November 2014 in Berlin stattfand. Ihr Ziel war es zu klären, wie der christliche Widerstand nach 1945 wahrgenommen, in die Geschichte der evangelischen Kirche integriert und erinnerungskulturell verarbeitet wurde, so dass der christliche Widerstand zum Teil des „kulturellen Gedächtnisses“4 der deutschen Gesellschaft werden konnte5. Darüber hinaus ging es zum einen um Erinnerungsgruppen, die sich in erster Linie über ihre christliche Ausrichtung definierten, aber zum anderen auch um jene Protagonisten, die aus wissenschaftlichen, politischen oder familiären Gründen die Erinnerung an Personen, Texte und Orte des christlichen Widerstandes prägten. Im Vordergrund standen also die Subjekte der Erinnerung und die sich wandelnden politischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen diese ihre Erinnerung gestalteten6. Zudem waren die immer noch offenen Fragen zur Rezeption des christlichen Widerstandes in den Blick zu nehmen: wann hat wer, wen bzw. was, wie und wozu rezipiert?
1. Phasen der Widerstandsrezeption Die Frage nach dem Wann, also nach einer zeitlichen Periodisierung der Rezeption widerständigen Verhaltens von Christinnen und Christen, ist bislang in der Studie von Tim Lorentzen im Blick auf Dietrich Bonhoeffer untersucht worden7 und Andreas Kurschat hat für die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer widerständigen Haltung ermordeten Menschen, den sogenannten Märtyrern, auf verschiedene Stationen der Rezeption nach 1945 4 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume. 5 In Ansätzen: Kuhlemann, Erinnerung; vgl. weiter Oelke, Bonhoeffer; Wolfrum, Erinnerungskultur. Erst die Habilitationsschrift von Tim Lorentzen (LMU München) wagt eine systematische Periodisierung und Gesamtschau einer kirchlichen Erinnerungsgeschichte zum christlichen Widerstand am Beispiel Dietrich Bonhoeffers. Vgl. den Beitrag Lorentzens in diesem Band. 6 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik. 7 Die Studie von Lorentzen (wie Anm. 5) befindet sich im Druck; vgl. auch van Norden, Rezeption.
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aufmerksam gemacht8 : Nach der bereits erwähnten Verlesung der Namen von zehn Märtyrern des evangelischen Widerstandes im Jahre 1948 wurden 1949 durch Bernhard Heinrich Forck und 1979 durch Werner Oehme Erweiterungen der Märtyrerliste publiziert9 ; am 9. April 1953 – dem achten Todestag von Dietrich Bonhoeffer – wurde die auf Anregung von Bischof Albrecht Schönherr in der Krypta des Brandenburger Doms errichtete „Gedächtnisstätte für die Blutzeugen des Kirchenkampfes“ eröffnet10, die freilich im Westen Deutschlands weitgehend unbeachtet blieb. Einen breiteren Kreis von Personen hatte eine Gedenktafel im Blick, die auf Betreiben von Bischof Otto Dibelius am 20. Juli 1964 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eingeweiht wurde; auf ihr war zu lesen: „Den evangelischen Märtyrern der Jahre 1933–1945“11. Zwar votierte der Rat der EKD 1965 dafür, „dem Märtyrergedenken in der evangelischen Kirche größeres Gewicht zu verleihen“12, doch brachte letztlich erst der Impuls von Mehlhausen 1998 – in Verbindung mit der Anregung von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1994, in der er „die Märtyrer ausdrücklich als eine ökumenische Verpflichtung“ benannte13 – weitere Studien wie z. B. die des Historikers Karl-Josef Hummel und von Prof. Christoph Strohm oder von Pfarrer Björn Mensing und Bischof Heinrich Rathke hervor14. Die hier im Blick auf die ,Märtyrer‘ erkennbaren zeitlichen Einschnitte – bis 1953, 1960er Jahre und Ende der 1990er Jahre – werfen die Frage auf, wie es insgesamt um die Periodisierung der Rezeption anderer widerständiger Aktionen bestellt war : wann also wurde beispielsweise der Menschen gedacht, die unter Gefährdung ihres eignen Lebens Jüdinnen und Juden versteckten und damit dem Zugriff der NS-Schergen entzogen15 ? Ganz sicher spielten Jubiläen und Gedenktage eine besondere Rolle: Erinnert sei an die jährlich mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit zelebrierten Gedenkfeiern für die Attentäter des 20. Juli16 und die im Wandel der Jahrzehnte sich ändernden Akzentuierungen17 hinsichtlich des Erinnerungsgehalts der Veranstaltungen. Einschnitte im Blick auf die Erinnerungskultur waren zum einen die Ausstrahlung der vierteiligen Mini-Serie „Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss“ – die eine ganze „Nation […] betroffen“ 8 9 10 11 12 13 14 15
Vgl. Kurschat, Martyrien, bes. 35–44. Vgl. Forck, Gedenkbuch; Oehme, Märtyrer. Vgl. Mensing / Rathke, Widerstehen, 143–145. Kurschat, Martyrien, 38. Ebd., 40. Schultze, Projekt, 20. Vgl. Hummel / Strohm, Zeugen; Mensing / Rathke, Widerstehen. Vgl. die Periodisierung, die Norbert Frei im Blick auf die Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus bietet: Phase der politischen Säuberung (1945 bis 1949), der Vergangenheitspolitik (1950er Jahre), Vergangenheitsbewältigung (1960er und 70er Jahre) und der Vergangenheitsbewahrung (ab 1980er Jahre). Vgl. Frei, Lernprozesse, hier 26. Es ist zu prüfen, ob diese Zeitabschnitte auch im Blick auf die Erinnerungskultur zu veranschlagen sind. 16 Vgl. Toyka-Seid, Widerstand; Steinbach, Widerstandsforschung. 17 Vgl. insbesondere Steinbach, Widerstandsforschung, 611.
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machte18 – im Januar 1979 und zum anderen die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985. Beide Ereignisse19 brachten einen nicht zu unterschätzenden Schub in der Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Hingewiesen sei zudem auf Monographien, die sich einem Jubiläum verdanken – wie z. B. ein Büchlein des Religionspädagogen Folkert Rickers über den in Buchenwald ermordeten Pfarrer Paul Schneider zu dessen 100. Geburtstag20 – oder auch auf das Beispiel von Landesbischof Hans Meiser, wo Gedächtnisveranstaltungen zu dessen 50. Todestag 2006 zu heftigen öffentlichen Debatten führte, ob diese Person überhaupt gedenkwürdig sei – mit dem Resultat der Umbenennung von Meiser-Straßen in Nürnberg 2007 und München 201021. Die Frage ist demnach, ob sich im Blick auf die Rezeption widerständigen Verhaltens bestimmte Rhythmen erkennen lassen und in welchen Zusammenhängen diese gegebenenfalls stehen.
2. Träger des Gedenkens Wer gab den Anstoß, wer ergriff die Initiative für das Gedenken an eine bestimmte Person oder eine Aktion? Die Frage nach dem Trägerkreis der Rezeption, nach den gesellschaftlichen Milieus, die sich in der Zeit zwischen 1945 und heute an den christlichen Widerstand erinnerten, führt für die ersten Nachkriegsjahre zu den Akteuren selbst und Personen, aus ihrem unmittelbarem Umfeld. Verwiesen sei beispielhaft auf Inge Scholl, die 1952 eine Darstellung über die Weiße Rose22 vorlegte, oder auf Margarete Schneider mit ihrem Büchlein „Der Prediger von Buchenwald“23. Auch die Geschichte der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ist ein beredtes Beispiel, bildeten die Kommission zur Erforschung des Kirchenkampfes ab 1955 doch zunächst Personen, die noch selbst gestaltend an den Vorgängen während der NS-Zeit beteiligt waren24. Erst ab Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wandelte sich auch hier – wie in der Allgemeingeschichte – allmählich das Blatt: junge Wissenschaftler – Theologen und Historiker wie Klaus Scholder 18 So der Untertitel einer über die Serien Holocaust erschienenen Publikation. Vgl. M-rthesheimer / Frenzel, Kreuzfeuer. 19 Hingewiesen könnte noch auf die internationale Tagung zum 50. Jahrestag der Machtergreifung im Berliner Reichstag 1983 werden, die neben einer Bilanzierung der bis dahin geleiteten Forschung wesentliche Impulse für weitere Publikationen gab. Vgl. Frei, Lernprozesse, 38; ders., Abschied, 50. 20 Vgl. Rickers, Widerstehen. 21 Vgl. Oelke, Meiser, 234. 22 Scholl, Rose. 23 Schneider, Prediger. 24 Vgl. Kaiser, Wissenschaftspolitik.
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(Jg. 1930), Martin Greschat (Jg. 1934), Carsten Nicolaisen (Jg. 1934), Jörg Thierfelder (Jg. 1938) oder Kurt Nowak (Jg. 1942) – setzten neue Akzente. Diese Generation brachte im Vergleich zu den in das Geschehen Involvierten andere Fragestellungen ein, nahm festgefügte Sichtweisen kritisch unter die Lupe, öffnete sich stärker geschichtswissenschaftlichen Zugängen und gewann gegenüber der Institution Kirche eine größere Selbständigkeit25. Wichtige Impulse gingen von der Mitte der 1980er Jahre forcierten Frauenforschung aus, die den Blick auf die im Widerstand aktiven Frauen lenkte, so beispielsweise auf die Breslauer Theologin Katharina Staritz oder die Lehrerin Elisabeth Schmitz. Letztere wurde von Pfarrerin Dietgard Meyer, ehedem Schülerin von Elisabeth Schmitz, 1999 als Autorin der Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ von 1935 identifiziert26. Auch umfangreiche Forschungsprogramme wurden angestoßen: Ab 1983 förderte die Volkswagenstiftung an der Heidelberger Theologischen Fakultät eine „Gruppe von ,Kernuntersuchungen‘“ zum Kreis um die Geschwister Dietrich und Klaus Bonhoeffer sowie Hans von Dohnanyi27. In den 1980er Jahren wandten sich zunehmend Bürgerinitiativen oder Geschichtswerkstätten ihrer lokalen nationalsozialistischen Vergangenheit zu. Auch ortsgeschichtliche Studien führten zu neuen Erkenntnissen über einzelne Aktivitäten bzw. Akteure. So stellte der Historiker Joachim Scherrieble in einer Studie über Reichenbach an der Fils ausführlich die Wirksamkeit des Theologen Theodor Dipper und der Pfarrhauskette dar, jenem Netzwerk vor allem württembergischer Pfarrerhäuser, in dem untergetauchte Jüdinnen und Juden Unterschlupf fanden28. Außerdem publizierten staatliche Institutionen Bibliographien von Personen aus dem Umfeld des christlichen Widerstandes, so 1995 der Landkreis Esslingen ein Heft über das Leben und den Widerstand des Pfarrerehepaars Gertrud und Otto Mörike29 oder 1997 die Sächsische Stiftung Gedenkstätten ein Lebensbild des Kirchenjuristen Martin Gauger30. Vereinzelt wurden auch Theologen auf Personen aus ihrem Umfeld aufmerksam, rekonstruierten deren Biographie und zeichneten – oft mit beigegebenen Dokumenten – deren widerständiges Handeln nach: die Theologen Jürgen Schäfer und Matthias Schreiber beschrieben 1994 den „Weg des Pastors Wilhelm Schümer“31 und der Religionspädagoge Eberhard Röhm bot eine eindrückliche Studie über 25 Vgl. Oelke, Meiser, 236 f. 26 Erhart / Meseberg-Haubold / Meyer, Staritz. Die Denkschrift findet sich in Auszügen in: Hermle / Thierfelder, Herausgefordert, 377–385. 27 Zur Reihe: Heidelberger Untersuchungen zu Kirchenkampf, Judenverfolgung und Widerstand. Vorwort der Herausgeber. In: Strohm, Ethik, XVI. – Publiziert wurden im Folgenden beispielsweise Studien über Friedrich Justus Perels. vgl. Schreiber, Perels; zu Paul Schneider vgl. Aichelin, Schneider; zu Friedrich Siegmund-Schultze vgl. Grotefeld, Siegmund-Schultze. 28 Vgl. Scherrieble, Reichenbach an der Fils. 29 Vgl. Scherrieble, vorenthalten. 30 Vgl. Bçhm, Entscheidung. 31 Vgl. Sch-fer / Schreiber, Kompromiß.
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den Staatswissenschaftler Hermann Stöhr32. Zu nennen sind als Träger der Erinnerung zuletzt Vereinigungen, die sich dem Andenken an eine bestimmte Person besonders verpflichtet wissen: 1973 wurde die Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft33 ins Leben gerufen oder 1983 der Dietrich-BonhoefferVerein34 gegründet; seit 1987 gibt es die Weiße-Rose-Stiftung35 und seit 1988 einen Georg-Elser-Arbeitskreis36. Ein Förderkreis Kurt Gestein37 veranstaltet seit 1995 jährliche Tagungen und eine 1997 gegründete Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e. V.38 widmet sich dem Andenken Paul Schneiders. Aber auch über den engeren Bereich des Wissenschaftsbetriebs hinaus, beteiligten sich Gruppen und Einzelpersonen an der Erforschung und Darstellung von widerständigen Personen. Genannt seien Kirchengemeinden, die kirchliche Diakonie oder Kirchenleitungen, aber auch die Familien Betroffener, säkulare Institutionen wie Vereine, Parteien und Stiftungen oder Repräsentanten staatlicher Einrichtungen sowie Länder- und Bundesregierungen. Im Kontext der Frage nach den Trägern der Erinnerung muss es auch um Erinnerungskonflikte und widerstreitende Erinnerungsgruppen bzw. Milieus gehen. Beispiele dafür sind etwa katholische und evangelische Akteure, regionale und überregionale Initiativen oder familiengeleitete Erinnerungsgemeinschaften sowie wissenschaftsorientierte Forschungen. Vielfach nahmen diese Gruppen auf dieselben Personen, Texte oder Orte Bezug, interpretierten den „christlichen“ Widerstand aber konform zum eigenen Selbstverständnis und in Abgrenzung zum konkurrierenden Widerpart. Die Erinnerung an den christlichen Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich wohl vielfach nur dann richtig interpretieren, wenn der wechselseitige Bezug zur Erinnerungskultur in der DDR einbezogen wird. Deutlich wird dies am Beispiel von Paul Schneider : In der DDR galt Schneider seit den 1950er Jahren in staats- und parteinahen Kreisen als Figur des antifaschistischen Widerstandes39, während das Gedenken in der Bundesrepublik von einer kirchlich gesteuerten Deutung Schneiders als Märtyrer geprägt war40, die ihn als Glaubenszeugen herausstellte. Zu fragen wäre also, welche Träger sich der Erinnerung an die Widerstand leistenden Christinnen und Christen annahmen – wobei insbesondere auch auf jene Gruppen und Akteure zu achten sein wird, die nicht dem engeren Wissenschaftsbetrieb zuzurechnen sind – und welche Deutungskonflikte sich 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Rçhm, Sterben. Vgl. http://www.dietrich-bonhoeffer.net/ibg/ [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015]. Vgl. http://www.dietrich-bonhoeffer-verein.de/ [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015]. Vgl. http://www.weisse-rose-stiftung.de/ [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015]. Vgl. http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/heidenheim [zuletzt aufgerufen am 19. 2. 2015]. Vgl. http://www.kurt-gerstein.de/f_kreis.htm [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015]. Vgl. http://paulschneider.studio-h-weimar.de/ [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015]. Grabner, In memoriam Pfarrer Schneider. Vgl. den Beitrag von Schneider in diesem Band. Als wirkmächtig erwies sich die Darstellung von Margarete Schneider aus dem Jahre 1953 (wie Anm. 23).
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erheben lassen. Darüber hinaus ist es spannend zu untersuchen, welche Faktoren gegeben sein müssen, dass das Erinnern einzelner Personen oder einer Gruppe innerhalb eines geschlossenen Milieus zum Erinnerungsgut einer Nation – oder doch zumindest beispielsweise der evangelischen Kirche – werden kann.
3. Subjekte bzw. Objekte der Erinnerung Welchen Personen und welchen Ereignissen gedenken wir überhaupt? Unmittelbar nach Kriegsende rückten insbesondere Dietrich Bonhoeffer und Paul Schneider ins Blickfeld der Erinnerungskultur. Weiter mögen jene 1948 von Heinemann genannten Namen einer zumindest begrenzten Öffentlichkeit bekannt gewesen sein: Pfarrer Treuherz Behrendt, Pfarrer Helmut Hesse, Volksmissionar Ernst Kasenzer, Justiziar Justus Perels, Pfarrer Paul Richter, Pfarrer Ludwig Steil, Pfarrer Werner Sylten und Landgerichtsdirektor Friedrich Weißler41. Einer breiteren Öffentlichkeit waren sicherlich Martin Niemöller oder Eugen Gerstenmaier als Personen geläufig, die in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand leisteten; ja selbst die Bekennende Kirche wurde in Bayern 1946 insgesamt als Widerstandsorganisation anerkannt42. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf das wohl früheste Zeugnis für eine widerständige Aktion eines ganzen Kreises von Personen: ein wegen seiner jüdischen Herkunft Verfolgter, der Filmverleiher Max Krakauer, setzte bereits 1947 durch sein Büchlein „Lichter im Dunkel“ der württembergischen Pfarrhauskette ein Denkmal43. Da Krakauer jedoch sämtliche Namen der Helfer nur mit dem ersten Buchstaben des Nachnamens nannte, erschwerte dies die Identifizierung der Helfer beträchtlich – erst 1975 entschlüsselte eine Neuauflage in einem beigegeben Register die Namen der Akteure44 ; seit 2007 sind in einer Neubearbeitung die Personennamen ausgeschrieben und von zahlreichen Helferinnen und Helfern auch Bilder beigefügt45. Mit der Neuorientierung der Widerstandsforschung in den 1960er Jahren, die maßgeblich – um nur zwei Namen zu nennen – von Hermann Graml46 und Peter Steinbach47 befördert wurde, wurden bislang vernachlässigte Träger des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ins Blickfeld gerückt. Der
41 Nach Mehlhausen, Fünfzig Jahre, 62; vgl. zu den einzelnen Personen die Beiträge in Schultze / Kurschat, Ende, darin: Berendt: 226–228; Hesse: 307 f.; Kasenzer : 329; Perels: 391 f.; Richter : 409–411; Steil: 444 f.; Sylten: 452–454; und Weissler: 466–468. 42 Vgl. den Beitrag von Schulze in diesem Band; vgl. auch Meier, Kirchenkampf Bd. 3, 587. 43 Vgl. den Beitrag von Haigis in diesem Band. 44 Vgl. Krakauer, Lichter. 45 Vgl. ebd., 32012. 46 Vgl. z. B. Bracher / Graml, Widerstand. 47 Vgl. Steinbach, Widerstand, bes. 20–40.
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Neuansatz, der unter dem Schlagwort: „Es gab nicht nur den 20. Juli“48 firmierte, lenkte die Aufmerksamkeit auf bisher wenig oder nicht beachtete Formen des Widerstandes, auf den „lautlose[n] Aufstand“49 und auf vergessene Akteurinnen und Akteure50. Greifbar wird dieser Wandel beispielsweise in einem 1963 von dem Theologen Eberhard Bethge publizierten Aufsatz über Adam von Trott zu Solz, in dem er darauf verwies, dass es fünf Stufen des Widerstandes gebe: den „einfache[n] passive[n] Widerstand“, den „offene[n] ideologische[n] Widerstand“, die „Mitwisserschaft“ an Umsturzvorbereitungen, „das aktive Vorbereiten eines Danach“ und die „verantwortliche konspirative Aktion“51. Im Gefolge der großen, 1978 erschienenen Bonhoeffer-Biographie Bethges, wurden Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Darstellungen zu widerständigen Personen bzw. einzelnen Aktionen im Umfeld der evangelischen Kirche vorgelegt. Hingewiesen sei nochmals auf die Studie von Eberhard Röhm zu Hermann Stöhr, genannt sei aber auch die Ausarbeitung der Theologen Klaus Loscher und Udo Hahn über den Lehrer Georg Maus52 oder die sorgfältige Edition von Dokumenten im Umfeld der Denkschrift der Bekennenden Kirche von 1936, die der Kirchenhistoriker Martin Greschat besorgte53. Zu fragen ist also: Welche widerständigen Personen fanden Beachtung, welche Aktionen wurden als widerständige Handlungen erkannt und gewürdigt.
4. Formen der Erinnerung Wie – auf welche Art und Weise – wurde der evangelischen Christinnen und Christen gedacht, die Widerstand geleistet haben? Zunächst ist auf die zahlreichen wissenschaftlichen und populären Publikationen zu verweisen, die den Lebensweg, die Eigenart von Taten sowie die Motivation der darzustellenden Person bzw. Gruppen des Widerstandes dokumentieren. Bücher, Broschüren, Bildbände sind gewiss die Rezeptionsweisen mit der breitesten Wirkung; allerdings finden diese oft nur in einem begrenzten Kreis Beachtung und geraten nur zu bald wieder aus dem Blickfeld. Von besonderer Wichtigkeit für die Ausformung einer Erinnerungskultur ist die Präsenz des Themas Widerstand in Schulbüchern, ist der Lernort Schule doch in der Regel die entscheidende Plattform, um die nachwachsende Generation an eine Kultur 48 Vgl. ebd., 28 f., Zitat: 28. 49 Ebd. 50 Vgl. die Bestandsaufnahme vom Juli 1984, die eine aus Anlass des 40. Jahrestages des gescheiterten Attentats auf Hitler in Berlin durchgeführte wissenschaftliche Konferenz erbrachte: Schm-deke / Steinbach, Widerstand. 51 Bethge, Adam von Trott, 221 f.; vgl. auch Steinbach, Widerstandsforschung, 619. 52 Vgl. Loscher / Hahn, Ich habe nicht verleugnet. 53 Vgl. Greschat, Widerspruch.
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des Erinnerns heranzuführen. Freilich findet sich das Thema „Christlicher Widerstand“ zumeist eingebettet in Unterrichtseinheiten zum Thema Kirche und Nationalsozialismus54 ; hingewiesen sei beispielhaft auf das Buch „Bekenntnis, Widerstand, Martyrium55, auf die Abteilung „Materialien“ der Internet-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“56 sowie auf das 2014 zur Barmer Theologischen Erklärung erschienene Heft der Reihe „Religion betrifft uns“57. Eine weitere Möglichkeit der Erinnerung bieten Orte, seien es historische Orte oder Stätten, die zu Erinnerungsorten gemacht werden. Zu Ersteren gehört der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim im österreichischen Alkoven, wo seit 1992 eine Gedenktafel an den dort ermordeten Pfarrer jüdischer Herkunft Werner Sylten erinnert, zu letzteren die schon erwähnte Gedenkstätte im Brandenburger Dom oder Bonhoeffer-Statuen vor der St. PetriKirche in Hamburg oder in Schwäbisch Hall. In diesem Zusammenhang sind auch Benennungen von Kirchen, Gemeindehäusern oder Schulen nach Personen zu erwähnen, die im Widerstand aktiv waren. Allen voran ist hier Dietrich Bonhoeffer anzuführen, doch ebenso Martin Niemöller oder, je nach Region, Werner Sylten, Paul Schneider, Otto Mörike, Friedrich Weißler, Landesbischof Theophil Wurm, die Pfarrer Georg Fritze, Heinrich Held, Hans Asmussen oder Hanns Lilje, der Ingenieur Kurt Gerstein sowie die Pädagogin Elisabeth von Thadden, um nur Einige zu nennen. Auch Gedenksteine verweisen auf evangelischen Widerstand, so im Fall von Elisabeth Goes, Elisabeth Schmitz, Werner Sylten, Friedrich Weißler oder Ludwig Steil – letzterer wurde immerhin bereits 1954 mit einem Gedenkstein auf dem Holsterhauser Friedhof in Herne geehrt. Ein Gedächtnisort ganz besonderer Prägung ist ein Museum, das die Aktivitäten einer Person oder einer Gruppe dokumentiert. Hier kann auf die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendler-Block in Berlin verwiesen werden, wo zahlreiche Personen aus dem Umfeld des 20. Juli porträtiert sind und wo gegebenenfalls auch deren christliche Prägung mit bedacht ist. An Martin Niemöllers Wirkungsstätte in Berlin-Dahlem ist ein Erinnerungs- und Lernort eingerichtet58 und im Elternhaus von Dietrich Bonhoeffer in BerlinCharlottenburg eine Erinnerungs- und Begegnungsstätte59, die neben dem rekonstruierten Studierzimmer Bonhoeffers auch eine ständige Ausstellung zu dessen Leben bietet. Am 30. Juni 2014 wurde in Wuppertal ein Museum am historischen Ort der Barmer Bekenntnissynode eröffnet, das nicht allein 54 Vgl. z. B. Kursbuch Religion, 176 f.; Breuer / Pirner, Kirche, hier bes. 305–308; und vom Stein, Evangelische Kirche. 55 Vgl. Besier / Ringshausen, Bekenntnis, 169–380; vgl. auch Rickers, Widerstehen. 56 Vgl. http://de.evangelischer-widerstand.de/html/view.php?type=material4 [zuletzt aufgerufen am 19. 2. 2015]. 57 Hermle / Schneider, Barmer Erklärung. 58 Vgl. http://www.projekt-niemoeller-haus-berlin.de/ [zuletzt aufgerufen am 24. 2. 2015]. 59 Vgl. http://www.bonhoeffer-haus-berlin.de/ [zuletzt aufgerufen am 24. 2. 2015].
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Einblick in die Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung gibt, sondern in breiter Weise auch deren Folgen und die Rezeption in der Nachkriegszeit – wenn auch etwas weitschweifend und einem Schwerpunkt auf dem Linksprotestantismus – mit zahlreichen spannenden Ausstellungsstücken vor Augen stellt. Eine besondere Art eines Museum stellt die bereits erwähnte Internet-Ausstellung „Widerstand!?“ dar. Auch Gedenkstätten wie die von der Gemeinde Königsbronn unterhaltene Georg-Elser-Gedenkstätte60 vermögen nachdrücklich an evangelische Widerständler zu erinnern. Eine besondere Art der Erinnerung stellt die Aufnahme einer Person in die Liste der Gerechten unter den Völkern dar, durch die der Staat Israel Menschen gedenkt, die trotz aller Gefährdungen Juden geholfen haben. Hier werden ebenfalls Personen des evangelischen Widerstandes geehrt. Erwähnt seien die Pfarrer Heinrich Grüber, Hermann Maas oder Heinrich Held, der Notariatsassesor Alfred Leikam, das Pfarrersehepaar Gertrud und Otto Mörike61, Pfarrfamilie Eugen, Johanna und Ruth Stöffler oder die Pfarrfrau Elisabeth Goes sowie weitere in der württembergischen Pfarrhauskette engagierte Menschen – wobei es von Interesse wäre zu wissen, wer jeweils die Initiative zur Aufnahme gegeben hat und in welchem Zusammenhang dies erfolgte. Hinzuweisen ist ferner auf Ehrungen im öffentlichen Raum, wenn Straßen oder Plätze nach Personen benannt werden, die im Widerstand aktiv waren. Bereits 1948 wurde im württembergischen Mühlacker ein Platz nach dem ehemaligen Landesbischof Theophil Wurm benannt, in Idar-Oberstein findet sich eine – wenn auch kurze – Straße, die den Namen von Georg Maus trägt und in Köln gibt es seit 2004 einen Weg, der an die Theologin Ina Gschlössl erinnert. Die Schwierigkeiten solcher Straßenbenennungen wurden in Bayern im Zusammenhang mit Landesbischof Meiser deutlich und zeigen die Ambivalenz einer solchen Anerkennung, ist sie doch auch von den sich wandelnden Grundeinstellungen in der Gesellschaft abhängig62. Eine Ehrung im öffentlichen Raum liegt auch dann vor, wenn eine Briefmarke an eine Person erinnert: 1964 wurde in der Bundesrepublik Deutschland ein Block mit acht Portraits – u. a. mit Dietrich Bonhoeffer und Sophie Scholl – zum Gedenken an den 20. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler herausgegeben63 ; 60 Vgl. http://www.koenigsbronn.de/de/Freizeit+Tourismus/Sehensw%C3%BCrdigkeiten/GeorgElser-Gedenkst%C3%A4tte [zuletzt aufgerufen am 19. 2. 2015]. 61 Vgl. beispielsweise http://www.yadvashem.org/yv/de/righteous/stories/moerike.asp [zuletzt aufgerufen am 8. 11. 2015] vgl. auch Fraenkel / Borut, Lexikon. 62 Vgl. den Beitrag von Schulze in diesem Band. – Bezeichnenderweise wurde Ende des 20. Jahrhunderts der ausgeprägte Antijudaismus des ,Kirchenmanns‘ Hans Meiser als so gravierend angesehen, dass eine öffentliche Ehrung – trotz all seiner anderen Verdienste – als nicht mehr opportun angesehen wurde, während beispielsweise der massive Antisemitismus des Musikers Richard Wagner keine entsprechende Diskussionen auslöst (vgl. Wagners zunächst 1850 in der Leipziger Neuen Zeitschrift für Musik anonym erschienenes Pamphlet ,Das Judenthum in der Musik‘. Hierzu: Fischer, Wagners „Das Judentum …“). 63 Michel Block 3; eine weitere Marke zum Widerstand erschien 1983, die hinter Stacheldraht eine
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Dietrich Bonhoeffer wurde auf Marken 1995 und 2003 geehrt64, die Geschwister Scholl 1991 bzw. Sophie 1961 in der DDR65. Paul Schneider wurde 1957 in der DDR und 1989 in der BRD auf einer Marke abgebildet66, Martin Niemöller 199267 und Georg Elser 200368 sowie Helmuth James Graf von Moltke und Claus Schenk Graf von Stauffenberg 200769. Verwiesen sei noch auf Dokumentarfilme wie „Martin Niemöller : Was würde Jesus dazu sagen“ (1985) oder Spielfilme wie „Georg Elser – Einer aus Deutschland“ (1989), „Elser – Er hätte die Welt verändert“ (2015) oder „Bonhoeffer. Die letzte Stufe“ (2000) – und literarische Texte wie Alfred Anderschs „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) oder Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ (1963)70. Zur Erinnerungskultur gehören zudem Gedenkveranstaltungen. Die Gemeinde Niederstetten lädt alle fünf Jahre zu einem Abend ein, an dem an Pfarrer Hermann Umfrid erinnert wird71, der sich gegen die antijüdischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates stellte und 1934 ums Leben kam. Die Gemeinde Königsbronn veranstaltet seit 1999 regelmäßig Symposien in Erinnerung an Georg Elser. Jüngst fand in der Gedenkstätte Buchenwald unter dem Motto „Erinnerung und Verantwortung“ eine Paul Schneider gewidmete prominent besetzte Veranstaltung statt72. Eine lebendige Erinnerungskultur hat viele unterschiedliche Facetten und es wäre zu erheben, auf welche Art und Weise bereits heute eine solche Erinnerung verankert ist und zugleich zu überlegen, wie diese intensiviert und in der Zukunft noch engagierter vorangebracht werden könnte; auch wäre zu bedenken, ob es über die genannten Orte hinaus weitere gibt, die als Gedenkorte eingerichtet sind oder die als solche eingerichtet werden könnten. Und nicht zuletzt wäre zu erheben, wo es regelmäßige oder auch einmalige Veranstaltungen gibt, die der Erinnerung von Widerständlern gewidmet sind. Als Desiderat ist festzuhalten, dass es in der evangelischen Kirche kein institutionell verankertes Gedenken an die Widerstand leistenden Christinnen und Christen gibt. Um eine lebendige Erinnerungskultur zu befördern, sollte überlegt werden, ob nicht im liturgischen Kalender – so wie der 2. Weih-
64 65 66 67 68 69 70 71 72
Weiße Rose zeigte und die Aufschrift „Verfolgung und Widerstand 1933–1945“ trug. Vgl. Michel-Deutschland-Katalog, 1163. Vgl. Michel-Deutschland-Katalog, 1788; 2310. 1991: Michel-Deutschland-Katalog, 1497; 1961: Michel-Deutschland-Katalog, 852. 1957: Michel-Deutschland-Katalog, 698; 1989: Michel-Deutschland-Katalog, 1431. Michel-Deutschland-Katalog, 1584. Michel-Deutschland-Katalog, 2310. Michel-Deutschland-Katalog, 2590. Vgl. Hockerts, Zugänge, 24. Vgl. zu Herman Umfrid vgl. Rçhm / Thierfelder, Juden Bd.1, 118–140. Das Gedenkwochenende fand vom 18.–20. 7. 2014 in Weimar statt; sein Höhepunkt war ein Gottesdienst, der am 18. 7. auf dem Appellplatz des ehemaligen KZ Buchenwald unter Anwesenheit des Ratsvorsitzenden der EKD und Präses der Rheinischen Landeskirche Nikolaus Schneider stattfand (vgl. Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e. V.).
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nachtsfeiertag an den Märtyrer Stephanus und damit an alle Märtyrer erinnert – an einem Sonntag ein solches Gedenken fest verankert werden könnte: Innerhalb des Kirchenjahres, das ja Kalender und Gedächtnis darstellt, wäre z. B. der 20. Sonntag nach Trinitatis – ein Sonntag ungefähr Mitte Oktober – denkbar, der als Thema die „Ordnungen Gottes“ hat und dem der Wochenspruch Micha 6,8 – „Es ist dir gesagt Mensch was gut ist …“ – und als Lied 295 – „Wohl denen, die da wandeln, vor Gott in Heiligkeit“ – zugewiesen ist.
5. Motivation der Erinnerung Fragt man nach dem wozu, danach also, welche Motivationen es gegeben haben mag, sich in Publikationen oder auf andere Weise mit Widerstand leistenden Personen zu befassen, so ist zunächst schlicht auf „das legitime wissenschaftliche Interesse nach Sicherung der Fakten und dem Entwurf eines Deutungshorizonts“ zu verweisen73. Der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke erinnert in „Anmerkungen zur kirchlichen Erinnerungskultur“ anlässlich des Streits um die Rolle des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser im Nationalsozialismus daran, dass die Kirche „die im akademischen Wissenschaftsbetrieb angesiedelte Geschichtsforschung […] im Sinne eines offensiven Umgangs mit der eigenen Geschichte in der NS-Zeit“ durch Öffnung ihrer Archive oder – 1955 – auch finanziell durch die Einrichtung einer „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ gefördert habe74. Auf der Ebene der Erinnerungskultur wurde die Beschäftigung mit Personen aus dem christlichen Widerstand auch damit begründet, dass das „Gedächtnis in den Gemeinden mehr und mehr zu verblassen“ drohe – so Folkert Rickers75 – oder mit der Gefahr, dass „die festen Konturen der Gestalten verblassen“ oder sich „nebelhaft“ auflösen76. Es sei nötig, dass die Lebenswege engagierter Christinnen und Christen, die „das Unrecht der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erkannten, dieses beim Namen nannten und dabei ein großes persönliches Risiko auf sich nahmen“, auch „über den Tag hinaus einer interessierten Leserschaft zugänglich gemacht werden“, so betonte der Oberbürgermeister der Stadt Göppingen, Reinhard Frank, im Blick auf eine Publikation einer in der Neuen Württembergischen Zeitung – Göppinger Kreisnachrichten erschienenen Artikelserie „Mutige Christen im NS-Staat“77. Der seit 1988 in Heidenheim angesiedelte Georg-Elser Arbeits73 74 75 76 77
Kaiser, Distanz, 55. Oelke, Meiser, 232 f.; vgl. zur ,Kommission‘ oben Anm. 24. Rickers, Widerstehen, X. Kçhler, Welt, 6. Ruess / Zecha, Christen, 4.
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kreis betonte das Ziel, Elser in der Erinnerungskultur des deutschen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur einen herausragenden Stellenwert einzuräumen78. Ebenso war in einem Heft über Kurt Gerstein zu lesen, es sei eine „Verpflichtung“ diesem „den ihm gebührenden Platz im Gesamtspektrum des deutschen Widerstands in der NS-Zeit zu sichern“ und ihn „einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.“79 Mehlhausen hatte es 1998 als notwendig herausgestellt, dass die Namen der Märtyrer „ehrenvoll festgehalten“ werden80. Neben diesen eher äußeren Faktoren wurde häufig auf eine moralische Dimension verwiesen. Jochen-Christoph Kaiser erinnerte beispielsweise an die „Bedürfnisse einer positiven Selbstvergewisserung über das ,andere Deutschland‘“, das eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Beschäftigung mit dem Widerstand spiele81 und der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber sah in der Erinnerung an das Leid und die mutigen Taten eine Mahnung an die Gegenwart, „gegen Gewalt und Unrecht aufzustehen“82. Die für das Heidelberger Forschungsprojekt Verantwortlichen stellten heraus, es gelte einem „gleichgültigen Vergessen oder feigen Verdrängen von Schuld [… den] entschiedene[n] Willen zur rückhaltlosen Wahrhaftigkeit“ entgegenzusetzen, da nur diese „eine tragfähige Grundlage für eine freiere Zukunft“ biete83. Einen ähnlich aktuellen Bogen vom Widerstand in die Gegenwart schlug der Berner Kirchenhistoriker Andreas Lindt im Rahmen einer Tagung der Akademie Loccum 1984. Er rückte den Widerstand in Bezug zu aktuellen Herausforderungen, werde doch allenthalben die enge Verbindung von theologischen und politischen Zielsetzungen betont und selbstverständlich ein politisches Mandat für die Kirche beansprucht. Lindt hinterfragte diese Position mit Verweis auf die Situation in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Widerstand zeige, dass das politische „Engagement der Christen […] gerade nicht darin bestehen [dürfe], daß man sich mitreißen läßt von kollektiven Emotionen und gängigen Leitbildern.“84 Die Kirche könne vom Widerstand her erkennen, dass immer da, „wo die vox populi zur vox Dei verklärt“ werde, da sei „für die Substanz des Glaubens Gefahr im Verzug.“ Auch das Moment der Dankbarkeit ist für die Rezeption des Widerstandes bedeutsam. Dies hebt neben Wolfgang Huber auch Freya von Moltke hervor, wenn sie herausstellt: „So wird der Nachlebende […] dankbar für den Mut der Wenigen.“85 Max Krakauer stellt in seinem Schlusswort heraus, es gehe ihm 78 http://www.georg-elser-arbeitskreis.de/heidenheim/index.htm 19. 2. 2015]. 79 Hey, Gerstein, 7. 80 Wie Anm. 1. 81 Kaiser, Distanz, 55. 82 Huber, Geleitwort, 6. 83 Strohm, Ethik, VIII. 84 Lindt, Kirchenkampf, 88. 85 Krakauer, Lichter (1994), 5; vgl. auch Huber, Geleitwort, 6.
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darum, jenen vielen Menschen zu danken, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um ihn und seine Frau zu retten. Er fügt hinzu, ihr Beispiel möge „dazu beitragen, die Menschen zu veranlassen zu helfen, wo andere in Not sind“86. Erinnert sei zudem daran, dass der Politikwissenschaftler Hans Maier nachdrücklich auf die ökumenische Dimension des Widerstehens verwies und betonte, dass die „christlichen Einzelnen […] ihren Kirchen an Mut und Entschlossenheit weit voraus“ gewesen seien und dass ihre Haltung „Anlaß zur Überprüfung des altüberlieferten Denkens bezüglich Staat, Kirche, öffentlicher Ordnung“ sei – „ein Prozeß, der bis zur Stunde andauert.“87 Sehr oft wurde „auf den Vorbildcharakter des Widerstehens“ verwiesen, der in der „Nachkriegsdemokratie die geistig-moralischen Grundlagen für den neuen Staat begründen und festigen“ sollten88. Allerdings wurde zugleich betont, es dürfe weder zu einer Heroisierung noch zu einer Heiligsprechung der Personen kommen89. Zu Recht erinnerte Harald Schultze daran, dass evangelisches Gedenken immer das simul iustus et peccator im Blick zu behalten habe, das eine Hagiographie verhindere, sehr wohl aber ein lebendiges Erinnern befördern könne90. In diesem Sinne sah auch Richard von Weizsäcker in seinem Geleitwort zum Band „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ die Männer und Frauen des 20. Juli als „Vorbild für uns Heutige, für die Alten und die Jungen.“91 Diese Menschen hätten ein Zeichen gegen das Böse aufgerichtet und hätten so ein Vermächtnis hinterlassen. Dabei seien, so von Weizäcker, „nicht historische Zusammenhänge oder politische Berechnungen bei den Verschwörern, sondern ihr Charakter, ihr Gewissen und ihre Tat“ entscheidend92. Diesen Gedanken betonte auch Joachim Mehlhausen, als er 1996 herausstellte, vom „Widerstand lernen heißt und bedeutet mehr, als sich einige von der Geschichtsschreibung kanonisierte Namen und Lebensgeschichten einzuprägen. Es bedeutet vielmehr : Für sich selbst aus den Ereignissen der Zeitgeschichte konkrete Aufklärung darüber gewinnen, daß es auch heute mitten im Pluralismus und Widerstreit der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Überzeugungen übergreifend verpflichtende Grundnormen gibt, deren Gefährdung, Verletzung oder gar Zerstörung alle diejenigen zum Protest – und wenn notwendig zum Widerstand – veranlassen muß, denen die Wahrung der Würde des Menschen und der Menschenrechte in das Gewissen geschrieben ist.“93
86 87 88 89 90 91 92 93
Ebd., 131. Maier, Widerstand, 203. Kaiser, Distanz, 55. Vgl. Hey, Gerstein, 7; Schultze, Märtyrer, 30. Vgl. ebd., 30 f. Tuchel / Steinbach, Widerstand, 14. Ebd. Mehlhausen, Zeugnis, 272.
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Die Scala unterschiedlichster Motive lässt sich sicher erweitern und es werden weitere Beweggründe für eine Beschäftigung mit den christlichen Widerständlern zu erheben sein. Dabei gilt es insbesondere auch auf biblischtheologische Begründungen zu achten: Spielen Bezüge auf die christliche Tradition, wie wir sie beispielsweise bei einer Frau finden, die selbstlos bereit war, untergetauchte Juden zu verstecken – „Wenn mir Christus so bedrängte Menschen in mein Haus schickt, so muss ich sie aufnehmen, ganz gleich, welche Folgen dies für mich hat.“94 – in der Rezeption eine Rolle? Wird in Arbeiten über James Graf von Moltke dessen tiefe Bindung an die „praktischethischen Forderungen des Christentums“95 wahrgenommen und dessen Einschätzung, er stehe „als Christ und als garnichts anderes“96 vor dem Volksgerichtshof angemessen in die Würdigung mit einbezogen?
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Michael Kißener
Wegmarken der deutschen Widerstandsforschung nach 19451
„Wer hält stand?“, diese Frage stellte sich bereits Weihnachten 1942 kein Geringerer als Dietrich Bonhoeffer, einer der bedeutendsten Widerstandskämpfer aus der Bekennenden Kirche (BK) in Deutschland – bemerkenswerterweise nur wenige Tage vor seiner Verhaftung durch die Gestapo, die unmittelbar vor Ende des Krieges dann auch für seine Ermordung sorgte. Ganz anders allerdings, als man es wohl von einem solchen Mann erwarten würde, beantwortete Bonhoeffer diese Frage nicht mit einer präzisen Abgrenzung von „Nazis“, „Mitläufern“ und den wenigen aufrechten Widerstandskämpfern. Bonhoeffer fasste nach zehn Jahren Hitlerdiktatur die deutsche Gesellschaft als Ganzes ins Auge: „Die große Maskerade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt. Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend […].“2
Die „Vernünftigen“, so Bonhoeffer, „versagen, indem sie resignieren oder haltlos dem Stärkeren verfallen. Die ethischen Fanatiker verfangen sich im Unwesentlichen und verfehlen den Urheber des Übels. Die Männer des Gewissens werden zwischen den zahllosen Konflikten, in die sie die Hitlerdiktatur treibt, zerrieben. Die Pflichtbewussten verfallen der Macht des Befehls am leichtesten. Starke willigen in das Schlimme ein, betrügen sich selbst und verschließen die Augen und Ohren vor dem Unrecht um sie herum.“3
Nicht nur gegenüber der gesellschaftlichen Realität zeigte sich Bonhoeffer skeptisch, ausdrücklich auch sich selbst und seine Freunde im Widerstand nahm er nicht von seiner kritischen Analyse aus: „Sind wir noch brauchbar?“ fragte er. „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede 1 Die nachfolgenden Ausführungen sind eine veränderte, weiterentwickelte Fassung von Kissener, Vorbilder. 2 Bonhoeffer, Jahren, 10. 3 Ebd.
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Michael Kißener gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“4
Wer hält stand? Und: Was heißt überhaupt „standhalten“ unter den Bedingungen einer modernen totalitären Diktatur? – Dietrich Bonhoeffer schon hatte mit dieser Frage seine Probleme, wie seine Schrift „Nach zehn Jahren“ zeigt. Den Historikerinnen und Historikern, die sich nach 1945 nunmehr fast 70 Jahre lang bemüht haben, dieses historische Phänomen des „Widerstands“ zu fassen, ist das kaum anders ergangen. Es soll daher im Folgenden der Versuch unternommen werden, wichtige Wegmarken in der deutschen Widerstandsforschung nach 1945 zu definieren, ohne Vollständigkeit anstreben zu können. Die wissenschaftliche Forschung wird dabei im Vordergrund stehen, allenfalls en passant soll auf die Verzahnung der Forschung mit der öffentlichen Debatte um den Widerstand und auf die politischen Rahmenbedingungen eingegangen werden, die natürlich auch Sichtweisen und Schwerpunktsetzungen der wissenschaftlichen Forschung mitbestimmt haben5.
1. Die Anfänge in den 1950er Jahren Für die ersten westdeutschen Historiker, die sich mit dem Widerstand auseinandergesetzt haben, war die Frage, was eigentlich Widerstand sei und wer diesen ausgeübt habe, gar nicht relevant – das Phänomen an sich stand ihnen vor Augen und wohl jeder hatte seine Vorstellung davon, wer und was dazuzurechnen war. Zunächst musste es nämlich einerseits darum gehen, den Widerstand gegenüber der eigenen, oft noch uniformierten, von der Goebbelspropaganda infizierten Bevölkerung zu rechtfertigen – nach den Meinungsumfragen des Allensbacher Meinungsforschungsinstitutes 1956 z. B. war ja noch etwa die Hälfte der Deutschen dagegen, eine Schule nach Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu benennen, weil er ihnen als Verräter galt, der Deutschland womöglich um den Sieg gebracht habe6. Einen solchen Versuch unternahm z. B. Rudolf Pechel 1947 mit seinem in der Schweiz erschienenen Buch, in dem die moralische Integrität einzelner Widerständler betont wurde7, vor allem aber mit großer publizistischer Wirkung noch zehn Jahre nach dem Krieg Annedore Leber mit ihrer Sammlung von Lebensbildern aus dem Wi-
4 5 6 7
Ebd., 25. Vgl. die in Kapitel VIII versammelten Beiträge bei Steinbach / Tuchel, Widerstand. Vgl. Noelle / Neumann, Jahrbuch, 138. Vgl. Pechel, Widerstand.
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derstand8. Solche Bücher hatten in der Summe oft gar keine große öffentliche Wirkung und Verbreitung, aber Zeitungen, Hörfunk und auch Filme transportierten ihre Erträge in einen größeren Zuhörerkreis9. Andererseits bemühten sich Männer wie Günter Weisenborn10 und zuvor schon der emigrierte, jüdischstämmige Historiker Hans Rothfels, der bis heute vielen als der Doyen der deutschen Widerstandsgeschichtsschreibung gilt, die Alliierten von der Existenz des anderen, eben nicht nationalsozialistischen Deutschland zu überzeugen und dadurch jene moralische Integrität wiederzugewinnen, die für einen politischen Neubeginn unabdingbar schien. Sein aus einer Vorlesung an der Universität von Chicago hervorgegangenes Buch erschien deshalb auch zunächst in englischer Sprache11. Wer diesem anderen Deutschland zuzurechnen war, erschloss sich den Zeitgenossen auf den ersten Blick: die Männer des 20. Juli natürlich, die geistigen Wegbereiter eines neuen Deutschland im „Kreisauer Kreis“, die Münchner Studenten der „Weißen Rose“, auch mutige katholische Kleriker wie der Münsteraner Bischof Graf von Galen, der mit seinen Predigten gegen die Euthanasieaktionen aufgestanden war, und den jeder politisch Interessierte wohl kannte. Ob und wie die politische Linke mit einbezogen war, blieb bisweilen offen: Für Gerhard Ritter jedenfalls, der 1954 ein Buch über Carl Friedrich Goerdeler veröffentlichte, war die „Rote Kapelle“ z. B., eine sehr heterogen zusammengesetzte Widerstandsgruppe, die u. a. auch mit sowjetischen Stellen Kontakt gehabt hatte, reiner Landesverrat und daher natürlich nicht dem Widerstand zurechenbar12. Das sah man in der SBZ bzw. der DDR anders. Beachtenswert ist allerdings, dass dort 1945/46 Regimegegner unterschiedlicher Ausrichtung bei ersten Gedenkfeiern zusammenfanden und auch Kommunisten respektvoll den militärischen oder kirchlichen Widerstand öffentlich würdigten. Die Sowjetunion hielt ja auch noch lange an dem politischen Ziel einer gemeinsamen Verwaltung des besiegten Deutschland fest – dies ließ es angeraten erscheinen, nicht nur den kommunistischen Widerstand zu würdigen, sondern auch den im Westen geachteten bürgerlichen. Das änderte sich freilich bald, als die SMAD in ihrem Organ „Tägliche Rundschau“ 1946 den 20. Juli als „Palastrevolution“ abtat und den angeblich rückwärtsgewandten Charakter des Umsturzversuches kritisierte. Auch der sozialdemokratische Widerstand wurde aus der Traditionspflege verdrängt. Man unterschied ab jetzt und für viele Jahre im Zeichen des Kalten Krieges lediglich zwischen „reaktionären“ und „progressiven“ Kräften im deutschen Widerstand, wobei letztere durch den heldenhaften antifaschistischen Kampf der Arbeiterklasse repräsentiert 8 9 10 11 12
Vgl. Leber, Gewissen. Vgl. Toyka-Seid, Widerstand, 579 f. Vgl. Weisenborn, Aufstand. Vgl. Rothfels, Opposition. Vgl. Ritter, Goerdeler, 107.
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wurden, der allein den Inhalt einer ziemlich schnell versteinerten Traditionspflege darstellen sollte13. Im Westen begann demgegenüber in den 1950er Jahren allmählich eine Zeit der zunehmenden Akzeptanz des deutschen Widerstands, vor allem des 20. Juli 1944, und das insbesondere nachdem der damals noch Braunschweiger Staatsanwalt Fritz Bauer im Prozess gegen den neonazistischen Ernst Remer durchgesetzt hatte, dass dem deutschen Widerstand in einem Gerichtsurteil Respekt gezollt wurde und der Vorwurf des „Landesverrats“ vom Tisch gewischt war14. Freilich blieb lange noch die öffentliche Diskussion um den Soldateneid, die vor allem von jenen geführt wurde, für die der Widerstand ein Ärgernis war, weil er bewies, dass der Eid nicht bindend und ein nichtkonformes Verhalten eben doch möglich gewesen war. Hinzu kam das Anschauungsmaterial, das die SED-Diktatur im Osten bot, wo der 17. Juni 1953 ein vielbeachtetes Zeichen der Auflehnung gegen den Stalinismus setzte, das im Kalten Krieg breite Zustimmung erfuhr. Vor diesem Hintergrund musste auch die Auflehnung gegen das totalitäre NS-Regime, zumal bei breiterer Akzeptanz der Totalitarismustheorie, neu gesehen werden. Die Akzeptanz des Widerstands im Bundesentschädigungsgesetz von 1953 wie auch die von Respekt getragene Rede von Bundespräsident Theodor Heuss 1954 setzten neue öffentliche Akzente, und das Gedenken gerade an den 20. Juli erlebte eine allmähliche Breitenakzeptanz, wenn auch die Angehörigen der Attentäter sich noch jahrelang von Ewiggestrigen bedrängt fühlten und nur mit einer regelrechten Selbsthilfeorganisation ihre berechtigten Ansprüche umsetzen konnten15. Die hier allerdings begonnene geradezu heldenhafte Verehrung, die nicht selten die Verschwörer des 20. Juli zu Vordenkern der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik überhöhte, führte in den 1960er Jahren zu Reaktionen einer jüngeren Historikergeneration, die die Zukunftsvorstellungen des deutschen Widerstands kritisch betrachtete und herausarbeitete, dass deren Ideen keineswegs eine Vorwegnahme des Grundgesetzes gewesen waren – wie hätte das auch sein können? Schließlich hatte für die Generation der Widerstandskämpfer die erste deutsche Demokratie von Weimar geradewegs in die Diktatur geführt16. Auch die einseitige Verengung auf den militärischen Widerstand des 20. Juli führte zu artikuliertem Unbehagen in Öffentlichkeit wie historischer Forschung unter dem Schlagwort „Es gab nicht nur den 20. Juli“, für den im öffentlichen Raum etwa Gedenkreden von Bundespräsident Gustav Heinemann standen. Die Vorwürfe der 68er Generation an das Establishment und einige Zeit später das Interesse der neuen sozialen Bewegungen für Geschichte, das sich in den vielfältigen regionalen Geschichts13 14 15 16
Vgl. Danyel, Vergangenheit, 34 f. Vgl. Frçhlich, Remer-Prozess; dies., „Tabuisierung“. Vgl. Steinbach, Widerstandsforschung, 601, 605. Vgl. Graml, Vorstellungen, 46; Mommsen, Gesellschaftsbild, 110 f.
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werkstätten und Gedenkstätteninitiativen formierte, haben diese Perspektive über die Jahre fortgeführt und einer intensiven regionalen Erforschung des Widerstands in der Breite seiner Erscheinungsformen den Weg bereitet17.
2. Widerstandgeschichtsschreibung von den 1960er bis in die 1980er Jahre Für die wissenschaftliche Perspektive besonders interessant ist, dass sich in den 1960er Jahren Differenzierungsmodelle des Widerstands zu entwickeln begannen, die in immer neuen Varianten praktisch bis in die 1980er Jahre verfeinert wurden. Bereits Rothfels hatte ein Gespür für die Problematik der vielfältigen Widerstandsformen, die er mit Begriffen wie „Nichtgleichschaltung“ oder „geistiger Prostitution“ belegte. Nicht zum Widerstand wollte er aber den berühmten Nörgler, der nur punktuell unzufrieden war, oder gar den Schwarzschlächter rechnen, selbst wenn dieser „wegen gelegentlicher Äußerungen der Kritik oder der Empörung als volkszersetzendes oder defätistisches Element dem Todesurteil verfiel“18. Die auf Rothfels folgenden Differenzierungsmodelle unterschieden nach wechselnden Kategorien: Mal war die Motivation, mal die äußere Form, mal die Chronologie, mal der Erfolg das Kriterium für die vorgeschlagene Abstufung. Der Bonhoeffer-Biograph Eberhard Bethge etwa differenzierte und hierarchisierte zugleich 1963 in einem Aufsatz über Adam von Trott zu Solz das deutsche Widerstandsgeschehen19. Auch der Historiker Karl Dietrich Erdmann führte das fort20, in den 1980er Jahren noch schlug der Sozialhistoriker Detlev Peukert ein Modell vor21, das „Kleinformen zivilen Mutes“ differenzieren wollte. Einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte auch ein Drei-Stufen-Vorschlag Richard Löwenthals, der durch Forschungen zu Widerstand und Verweigerung bekannt geworden war22. Nachhaltige Wirkung zeigte das Stufenmodell, das die Historiker Klaus Gotto, Hans-Günther Hockerts und Konrad Repgen zu Beginn der 1980er Jahre mit Blick auf den Widerstand aus dem Katholizismus entwickelten. Sie gingen von folgender Prämisse aus: „Ein historisch brauchbarer Widerstandsbegriff muss stets auf die konkreten Rahmenbedingungen des zugehörigen Herrschaftssystems bezogen sein. Wichtigste Rahmenbedingung des Nationalsozialismus war sein totalitärer Herr17 18 19 20 21 22
Vgl. Kissener, Reich, 89. Rothfels, Opposition, 20 f. Vgl. Bethge, Adam von Trott. Vgl. Erdmann, 570. Vgl. Peukert, Volksgenossen, 97. Vgl. Lçwenthal, Widerstand.
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Michael Kißener schaftsanspruch. […] Gemessen an dem Ziel der totalitären Erfassung konnten Verhaltensformen, die unter anderen, z. B. den westlichen Bedingungen der Nachkriegszeit unerheblich und belanglos wären, Widerstand darstellen. Das Grundkriterium des Widerstandsbegriffs hat daher in der Frage zu liegen, ob ein bestimmtes Verhalten von einzelnen oder von Gruppen damals Risikocharakter hatte oder nicht. Diesem Risiko-Kriterium entspricht ein sehr weiter ,Widerstands“-Begriff; denn grundsätzlich unterlag zwischen 1933 und 1945 jedes Verhalten, das sich dem totalitären Erfassungszwang und Gleichschaltungsdruck entzog, einem Risiko“.23
Aus diesen Prämissen leiten die Autoren ein vierstufiges Modell ab, das mit „punktueller Nonkomformität“ beginnt, über „Verweigerung“ hin zu öffentlichem „Protest“ und schließlich zum „Widerstand im engeren Sinne“ führt. Zwar vermochte auch dieses Modell die Vielfalt der Erscheinungsformen von Widerstand nicht restlos einzufangen – das war zweifelsohne auch den Autoren klar –, aber es öffnete den Blick für die Notwendigkeit, die Breite der Erscheinungsformen zu berücksichtigen und sich dem Problem zu stellen, dass nicht jeder Widerstand heroischer Kampf gegen den Nationalsozialismus war, sondern durchaus auch mit politischer Loyalität oder partieller Bejahung der Ziele des NS-Regimes einhergehen konnte. Es scheint deshalb auch heute noch sehr erkenntnisfördernd, vor allem auch, weil Repgen sein eigenes Modell vor einigen Jahren kritisch hinterfragt hat und mit einer neuen Begriffsvariante, der des „Abstands“, aufwartete24. Damit verwies er insbesondere die Distanz zum NS-Unrecht, das „Sich-nicht-Beteiligen“ als charakteristische Widerstandsform dieses Milieus. Nur angedeutet sei, dass mit solchen Stufungen und Differenzierungen auch der Widerstand auf konfessioneller Grundlage, der nach 1945 ganz unkritisch und über viele Jahre hinweg als mindestens ebenso relevant angesehen wurde wie der gewerkschaftliche oder politisch linke Widerstand, nun allmählich kritischer beleuchtet wurde25. Der Vielschichtigkeit widerständigen Handelns in der totalitären Diktatur stellte sich in den 1980er Jahren ein großes Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte unter dem Titel „Bayern in der NS-Zeit“. Vordenker dieses Projektes war der Historiker Peter Hüttenberger, dessen Bestreben, sich von den politischen Vereinnahmungen und Glorifizierungen einzelner Widerstandsgruppen zu lösen, in eine Betrachtung des polykratisch gedachten Herrschaftssystems mündete, in dem „Widerstand“ nur eine „spezifische Form der Auseinandersetzung innerhalb eines Herrschaftsverhältnisses“ darstellte:
23 Gotto / Hockerts / Repgen, Herausforderung, 173 f. 24 Vgl. Repgen, Widerstand, 555–558. 25 Vgl. Kissener, „Widerstand“, 167.
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„Die Erforschung des Widerstands muss also die sozialen Beziehungen umgreifen und die wechselseitigen Mechanismen von Herrschaft und gesellschaftlicher Reaktion miteinbeziehen, auch dann, wenn die Selbstinterpretation der jeweiligen Herrschaft mit den tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen und Mechanismen nicht übereinstimmen.“26
Herrschaft sei nicht statisch, folglich müssten Herrschaft und Widerstand in Prozesskategorien gedacht werden. Dabei lasse sich Widerstand als eine soziale Beziehung zwischen Herrschaft und Gesellschaft sowie zwischen den einzelnen Elementen von Gesellschaft und Trägern von Herrschaft begreifen, verwoben mit ihren jeweiligen Rollen(selbst-)verständnissen, die in der Regel „asymmetrischer“ Art seien. Hüttenbergers soziologische Vorüberlegungen zum Widerstandsbegriff entfalteten eine Theorie gesellschaftlichen Verhaltens unter den Bedingungen symmetrischer und asymmetrischer Herrschaftsverhältnisse, die hier nicht weiter zu erläutern ist – deutlich dürfte aber schon an dieser Stelle sein, dass der isolierten Betrachtung des Widerstands mit dieser Perspektive der Boden entzogen wurde, dass die Vielfältigkeit der Widerstandsformen in einer gesellschaftlichen Analyse der Diktatur aufgehoben wurde und die vielen Antinomien, die eine isolierte Betrachtung von Opfern, Tätern und Widerständlern aufgeworfen hatte, so doch weitgehend überwunden wurden. Die „Vielfalt der Voraussetzungen, die Grenzen der Widerstandsabsichten und -erfolge und innere Unterschiedlichkeiten der Widerstandskreise und Gruppen, der Milieus und Lebenszusammenhänge“, so beurteilte der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin Peter Steinbach diesen Ansatz, ließen sich nun erstmals anschaulich erfassen27. Dies zeigte sich dann auch in der praktischen Durchführung des Bayernprojektes, die im Wesentlichen von Martin Broszat geleistet wurde. Sie war begleitet von der Einführung eines neuen Terminus in die Widerstandsforschung, dem der „Resistenz“. Unglücklich gewählt, befanden die Kritiker, weil er dem französischen „R8sistance“ oder dem italienischen „Resistenza“ so nahe sei und doch etwas ganz anderes meine. Broszat verstand jedoch unter Resistenz ganz allgemein „wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen und Kräften her“. Zentral war das Kriterium der „Wirksamkeit“, denn die hier subsummierten Verhaltensweisen sollten nach Meinung Broszats dadurch gekennzeichnet sein, dass sie eine „tatsächlich die NS-Herrschaft und NSIdeologie einschränkende Wirkung“ hätten, auch wenn sich diese als noch so klein darstelle: Denn „politisch und historisch zählt vor allem, was getan und was bewirkt, weniger das, was nur gewollt oder beabsichtigt war.“28 Aus dieser Formulierung wird die inhaltliche Spitze gegen den nach Broszats Meinung überbetonten Widerstand des 20. Juli 1944 deutlich. Dagegen wollte er die 26 Hettenberger, Vorüberlegungen, 122. 27 Steinbach, Widerstand als Thema, 59. 28 Broszat / Frçhlich, Alltag, 50.
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Kleinformen zivilen Mutes aufwerten, welche in vielen Bereichen der Untersuchungen in Bayern deutlich geworden waren und ihre hemmende, herrschaftsbegrenzende Kraft hatten erkennen lassen. Es wäre völlig falsch, hinter dem so entworfenen Bild den Versuch einer Exkulpation der deutschen Gesellschaft durch den Nachweis vielfältiger Resistenzen zu sehen – das genaue Gegenteil war der Fall. Durch die sozialhistorische Gesamtbetrachtung regional begrenzter Untersuchungsfelder wurden die Traditionen, konkrete Lebenszusammenhänge, Milieustrukturen und dergleichen mehr deutlich, die angepasstes wie widerständiges Verhalten in ihren Entstehungszusammenhängen und Bedingungen erst richtig verstehbar machen. In vielen Fällen zeigte dieses Verfahren, dass Verhaltensweisen, die bislang als Widerstand eingestuft worden waren, der Überprüfung nicht standhielten, dass umgekehrt aber auch abweichendes Verhalten durchaus als markantes Widerstehen gegen die Zumutungen des Regimes gewertet werden musste. Allerdings ist bei dieser sozialgeschichtlichen Gesamtbetrachtung der Gesellschaft nicht zu übersehen, dass der Widerstandsbegriff keineswegs präzisiert, sondern eher noch fließender wird. Manchem erschien die Realität des nationalsozialistischen Verbrecherstaates gar vor dem Hintergrund vielfältiger Kleinformen zivilen Mutes allzu sehr aus dem Blick zu geraten. Was das „Bayernprojekt“ als „Resistenz“ bezeichne, sei in anderen europäischen Widerstandsbewegungen geradezu als „Kollaboration“ angesehen worden, meinte Walther Hofer deshalb provokant. Allzu sehr würden durch diesen Begriff die qualitativ so unterschiedlichen Widerstandshaltungen nivelliert: „Der Tyrannenmörder erscheint auf der selben Stufe wie der Schwarzschlächter“. Indem „moralisch-politische Urteile aus der Widerstandsdebatte ausgeschlossen werden, huldigt man einer falschen Objektivität“, die zudem noch die Gefahr einer Unterschätzung des brutal-totalitären Charakters des Dritten Reiches mit sich bringe. Hofers Lösungsvorschlag lautete deshalb: „Meines Erachtens würde man am besten zwischen aktivem Widerstand einerseits und Opposition als weiter gefasstem Begriff andererseits unterscheiden“29. Dass sich ein solcher Vorschlag schon damals nicht überzeugend anhören konnte, wird man nach dem Gesagten schnell einsehen: „aktiver Widerstand“ ist weit weniger trennscharf zu definieren als Hofer meinte, und „Opposition“ ist ein problematischer Begriff, der in demokratische Herrschaftsstrukturen passt, aber für die Situation einer totalitären Diktatur eher ungeeignet erscheint.
29 Hofer, Diskussionen, 1120 f.
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3. Neue Sichtweisen und Blicke in den 1990er Jahren Parallel zum „Bayernprojekt“ und der sich in den 1980er Jahren deutlich intensivierenden Holocaustforschung entwickelte sich auch eine Debatte um den Widerstand und sein Verhältnis zu den Juden. Besonders provokant formulierte Christoph Dipper etwa in einem Aufsatz über Carl Friedrich Goerdeler den Vorwurf: Praktisch der gesamte deutsche Widerstand sei antisemitisch eingestellt gewesen. „So kam es, daß nicht schon die Entrechtung als solche, sondern lediglich die als ,Exzesse‘ empfundenen Maßnahmen kritisiert wurden, und zwar nicht als sittliche Ungeheuerlichkeit, sondern als Verstoß gegen überlieferte Maßstäbe […]. 1943/44 fand man im Widerstand manches erträglich, was 10 Jahre zuvor wohl für undenkbar gehalten worden wäre.“30 Und an eine Rückkehr zur Normalität im Verhältnis zu den Juden für die Zeit nach Hitler habe man auch nicht gedacht. Zwar musste manches in diesen teils polemischen Anwürfen bald schon bei ruhigerer Betrachtung zurückgenommen werden, aber die Frage, wie man es denn mit den Juden gehalten habe, ist spätestens seitdem zu einem festen Bestandteil in der Widerstandsforschung geworden. Bemerkenswert ist, dass parallel zum „Bayernprojekt“ seit Beginn der 1980er Jahre und vielleicht auch als Ergebnis der „Entspannungspolitik“ das Dogma des allein erinnerungswürdigen kommunistischen Widerstands in der DDR-Historiographie auch aufweichte: Historiker wie Kurt Finker begannen nun ganz vorsichtig „Grauzonen“ zu untersuchen, die zur Differenzierung des Geschichtsbildes beitragen sollten. Auch der bürgerliche Widerstand wurde auf seine progressiven Elemente hin untersucht. Nun erschienen auch in der DDR Biographien über Stauffenberg und den Kreisauer Kreis, die freilich keine neue Begriffsbildung hervorbrachten, sondern im Wesentlichen das Spannungsfeld „reaktionär“ versus „progressiv“ weiter ausleuchteten31. Die Kritik, die die Historiker Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann am Resistenzbegriff von Martin Broszat dann 1993 formuliert haben, gilt als bislang letzter Versuch, den Widerstandsbegriff neu zu fassen. Ihrer Meinung nach ist der „Resistenzbegriff“ untauglich, weil „er die Totalitarismus-Vorstellung reanimiert, das unrealistisch-exkulpierende Bild einer breit gefächerten Widerständigkeit gegen das Dritte Reich zeichnet, sich die überbewertende, polarisierende Optik der NS-Sicherheitsbehörden zu eigen macht und die Konsensdiskussionen systematisch unterschlägt. Zudem ist er ein Begriff, mit dem sich trefflich Geschichtspolitik betreiben lässt“. Genau genommen seien jene von Broszat und dem „Bayern-Projekt“ beschriebenen Verhaltensformen gar keine „Resistenz“, schon gar kein Widerstand, sondern 30 Dipper, Widerstand, 378 f. 31 Reich, Bild, 561. Vgl. u. a. Finker, Moltke; und ders., Probleme.
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vielmehr das Ergebnis von typischen Polykratiekonflikten oder gar beliebigen sozialen Konflikten. Wer solch distanzierendes Verhalten als „Resistenz“ aufwerte, der unternehme einen „geschichtsklitternde(n) Coup“, weil er aus „systeminternen Konflikten systemexterne Auseinandersetzungen“ mache, die nie existiert hätten32. Konsentiert wurde dieses Urteil freilich nicht. Der Leiter des Stuttgarter Hauses der Geschichte Baden-Württembergs Thomas Schnabel etwa kritisierte, Paul und Mallmann zeichneten ein unzutreffendes Bild der Totalitarismustheorie. Sie beschuldigten das „Bayern-Projekt“ ein Bild vom totalen, effizient arbeitenden, mächtigen NS-Staat zu fördern, das Broszat selbst in Frage gestellt habe. Der von Paul und Mallmann vorgeschlagene Begriff „loyale Widerwilligkeit“ überzeuge nicht, weil er nicht präzise genug definiert werden könne. Er ignoriere schlicht das „Festhalten an alten Traditionen und Werten, die partielle Ablehnung nationalsozialistischer Ideologie oder Politik, das Beharren auf einer Teilautonomie in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen“, durch das zwar nicht das Regime gestürzt worden sei, wohl aber „Tausende von verfolgten Menschen (Juden, politische Gegner, von der Euthanasie bedrohte, Fremdarbeiter) versteckt, rechtzeitig in Sicherheit gebracht oder gut behandelt“ worden seien33. Es blieb der Forschung wohl schließlich nichts anderes übrig, als dem Vorschlag des Historikers Christoph Kleßmann zu folgen und den Widerstandsbegriff möglichst „flexibel“ zu halten, natürlich unter Beachtung der gewonnenen Erkenntnisfortschritte34. So wurde in der Folgezeit nicht mehr Widerstand definiert, wohl aber auf den Spuren des „Bayern-Projekts“ die soziale Integration des Widerstandsgeschehens in die Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches, wie sie Hüttenberger vorgeschlagen hatte, weiter ausgeleuchtet und damit die Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen von Widerstand präzisiert. Das gilt letztlich auch heute noch, beachtet man, mit einem wie weiten Widerstandsbegriff z. B. das Frankfurter Exzellenzcluster „Normative Orders“ arbeitet und dabei auf die Erkenntnisse Hüttenbergers zu Herrschaft und Widerstand zurückgreift35. Für die 1990er Jahre sind freilich einige spezifische Ausprägungen der Widerstandsforschung zu beachten, die Bedingungsfaktoren von Widerstand und Widerständigkeit geklärt haben. So wandte man sich in den 1990er Jahren intensiv der Theorie von den sozial-moralischen Milieus des Soziologen Mario R. Lepsius zu. Lepsius, der seine Milieutheorie an der Gesellschaft des Kaiserreiches entwickelt hatte, versteht Milieus als „lebensweltliche Gesinnungsgemeinschaften“, in denen eine Koinzidenz verschiedener Strukturdimensionen wie regionale Traditio32 Paul / Mallmann, Resistenz, 99. Der Versuch von Rainer Hering, im Zusammenhang mit der Diskussion um die Volksgemeinschaftsideologie den Widerstandsbegriff neu zu durchdenken, hat definitorisch keine neuen Ergebnisse gezeigt. Vgl. Hering, Kategorien. 33 Schnabel, Einleitung, 12 f. 34 Klessmann, Gegner, 37. 35 Vgl. Daase, Widerstand?
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nen, Religion, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung und schichtenspezifische Zusammensetzung gegeben sind. Eine Untersuchung gerade solcher Milieus lässt Aufschlüsse darüber erwarten, wie es mit der Widerstandsresp. Anpassungsfähigkeit definierter sozialer Gruppen wie der Arbeiter, der Katholiken etc. in der NS-Zeit bestellt war. Welche sozialen Rahmenbedingungen es den Menschen erlaubte, resistent gegenüber den Verlockungen des NS-Staates zu bleiben, wie weit diese Resistenz reichte und wann sie in Kooperation, Kollaboration oder gar Gefolgschaft überging – all diese Fragen lassen sich, wie einzelne Studien gezeigt haben, auf diese Weise leichter beantworten36. Eine neue Widerstandsdefinition hat die Anwendung milieutheoretischer Untersuchungsverfahren allerdings nicht eigentlich hervorgebracht, vielmehr hat sie unser Verständnis für fließende Übergänge zwischen den Widerstandsformen, vor allem aber für die soziale Bedingtheit und auch Begrenztheit von Widerstandshandlungen wachsen lassen. Denn gerade in Bezug auf die konfessionellen Milieus, insbesondere das katholische Milieu, hat die Milieutheorie gezeigt, wie wesentlich etwa Formen christlicher Verweigerung auf das Milieu begrenzt waren. Christliche Verweigerung verfolgte vor allem die Intention, das Milieu vor den Eingriffen des totalitären Staates zu bewahren, weniger oder gar nicht den Nationalsozialismus politisch zu bekämpfen. Allerdings endet die Aussagereichweite dieses Ansatzes auch da, wo „das Milieu“ exakt definiert werden soll: Während sich das sozialdemokratische Arbeitermilieu und das katholische Milieu noch vergleichsweise gut definieren lassen, ist das beim evangelischen Milieu schon wesentlich schwerer, beim konservativen Milieu kaum mehr machbar, wie Axel Schildt in einer instruktiven Problemskizze gezeigt hat37, ganz zu schweigen davon, wie schwierig es ist, das Funktionieren einer Milieustruktur im Großen historisch exakt zu fassen. Außerdem erklärt der Ansatz nicht die einsame Entscheidung des einzelnen, sich in den aktiven Widerstand vorzuwagen. Die an sich schon unrealistische Vorstellung vom reinen, heldenhaften Widerständler, der sich Hitler mutig in den Weg zu stellen versuchte, verblasste immer mehr vor dem Hintergrund so vieler sozialer Bedingungsfaktoren bei gleichzeitig notwendigen Anpassungsleistungen gegenüber einem modernen totalitären Regime. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass spätestens jetzt auch die Vorstellung von einem heldenhaften Kampf der Christen, z. B. in der Bekennenden Kirche, ihre Kraft verlor. So lehnte der evangelische Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen 1994 den Begriff „Kirchenkampf“ für das Verhalten der BK ab, da seiner Ansicht nach nur kleine bis kleinste Segmente des vielschichtigen Geschehens als „Kampf“, als „resistentes Verhalten“, als „Opposition“ oder als „Widerstand“ gegen die 36 Die Bedeutung des Milieus für Widerständigkeit wurde insbesondere am katholischen Milieu veranschaulicht. Vgl. den Diskussionsverlauf bei Kçsters, Milieu; Rauh-Kehne, Anpassung. 37 Vgl. Schildt, Bindung.
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nationalsozialistische Herrschaft bezeichnet werden können38. Damit einher ging eine zeitweilige Aufwertung eindeutiger politischer Gegnerschaft – die freilich auch recht bald wieder in einschlägigen Studien über das Arbeitermilieu dekonstruiert wurde – sowie die Aufwertung eines radikalen religiös motivierten Verhaltens, wie es etwa von den Zeugen Jehovas praktiziert worden war, die den christlichen Volkskirchen zeitweise als leuchtendes Beispiel eines religiös motivierten Widerstands entgegengehalten wurden39.
4. Widerstandsforschung nach der Jahrtausendwende Die Beobachtung, dass Widerstand und Anpassung sich nicht gegenseitig ausschließen mussten, hat den Blick der Widerstandsforschung nach der Jahrtausendwende zunehmend geprägt. Historische Studien über den Widerstand der Militärs, vor allem an der Ostfront in der Heeresgruppe Mitte, etwa von Christian Gerlach oder Johannes Hürter, haben nicht eigentlich den Widerstandsbegriff definitorisch geschärft oder verändert, sondern vor allem die Skepsis am Widerstandsbegriff überhaupt genährt. Gerade diejenigen, die gemeinhin an erster Stelle als Widerständler genannt werden, erschienen in diesen Arbeiten als Kollaborateure, die (zu) lange die verbrecherische Politik des Regimes mitgetragen hätten40. Diese höchst skeptische Beurteilung widerständigen Verhaltens traf übrigens nicht nur Vertreter des 20. Juli 1944. Sie traf auch vormals so anerkannte Gruppen wie die „Weiße Rose“, bei der man den Einfluss des Zeitgeistes und eine partielle Regimekonformität entdecken wollte41, oder die christlichen Kirchen, deren Handeln heute in der Forschung nicht selten weitgehend die Widerstandsqualität abgesprochen wird42. Allenfalls die Auseinandersetzung mit dem Martyriumsbegriff und die Erstellung eines katholischen Martyrologiums des 20. Jahrhunderts deutet da noch eine gegenläufige Tendenz an43, die aber von einer sich als kritisch bezeichnenden Kirchengeschichtsschreibung, stark gefördert von amerikanischen Historikerinnen und Historikern, heftig bekämpft wird44. Diese Entwicklung hin zu einer immer skeptischeren Einschätzung des Widerstands kann man als Folge eines sich auch in den Geschichtswissenschaften auftuenden radikalen Konstruktivismus ansehen. Sie scheint aber auch durch zwei Faktoren stark befördert worden zu sein. Zum einen fällt auf, dass die Rolle der Zeitzeugen in der Widerstandsfor38 39 40 41 42 43 44
Mehlhausen, Nationalsozialismus, 67 f. Vgl. Garbe, Zwischen Widerstand, 24 f. Vgl. Becker / Lçttel / Studt, Widerstand. Vgl. Zankel, Flugblättern. Vgl. Kissener, Katholiken, 25 f.; Kçsters, Katholiken, 162 f. Vgl. Moll, Zeugen. Vgl. etwa die Beiträge von Spicer und Griech-Polelle in Gailus / Nolzen, „Volksgemeinschaft“.
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schung zunehmend kritisch hinterfragt worden ist. Galten sie noch in den 1950er und 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als authentische Interpreten des Widerstandsgeschehens, weil naturgemäß zeitgenössische schriftliche Aufzeichnungen über den Widerstand fehlten, wurde ihre Zuverlässigkeit in den letzten rund zehn Jahren zunehmend in Zweifel gezogen. Dies geschah vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über das menschliche Erinnerungsvermögen und im Kontext des Verdachts, dass Erinnerungsberichte geschönt wurden, um von eigenen Belastungen abzulenken. Wer freilich aus diesem Grund ganz auf die Zeitzeugenerinnerung verzichtet oder sie unter den Generalverdacht des interessegeleiteten Erinnerungsirrtums stellt, der wird kaum mehr Widerstand gegen den Nationalsozialismus finden können, weil die zeitgenössischen Quellen ja eben fehlen, der wird schnell die wenigen, vermeintlich besseren zeitgenössischen Quellen der Täter überbewerten und dem wird am Ende der Begriff des Widerstands ganz fremd werden45. Ein zweiter Faktor, der die geschilderte Entwicklung wenigstens z. T. erklärt, scheint der zunehmende Verzicht auf die Motivationsforschung zu sein. Zeigten die ersten Veröffentlichungen zur Widerstandsgeschichte schon teilweise im Titel ganz deutlich (z. B. „Das Gewissen steht auf“), wie sehr es nach Meinung der Autorinnen und Autoren auf die Motive der Akteure angekommen sei, so ist in den letzten zwei Jahrzehnten ein nahezu völliger Verzicht auf die Frage nach den Motiven des Handelns festzustellen, weil Motive eben quellenmäßig nur sehr schlecht wirklich valide zu erfassen sind. Kaum jemand hat zu einem für die heutige Widerstandsforschung quellenkritisch passenden Zeitpunkt sich womöglich auch noch schriftlich für die Nachwelt darüber geäußert, aus welchem Grund er sich dem Nationalsozialismus entgegenstellte. Und selbst wenn er es getan hätte, würde das der modernen Widerstandsforschung dennoch fragwürdig erscheinen, wissen wir doch aus der modernen Psychologie, wie situativ bedingt und komplex menschliche Entscheidungen sind. In der Regel entscheiden wir nicht aus einem einzigen Grund, meist sind es miteinander verwobene Motivbündel, die unser Handeln bestimmen. Die demgegenüber vielfach favorisierte Methode, Motive aus dem tatsächlichen Handeln abzuleiten, führt für die Widerstandsforschung aber nicht selten in die Sackgasse46, denn die „Kunst der Verstellung“ und der „mehrdeutigen Rede“, so Bonhoeffer47, das „Leben in der Lüge“, so etwa der tschechische Widerstandskämpfer V#clav Havel48, sind ja gerade eine Bedingung des Lebens in einer etablierten totalitären Diktatur. Folglich werden auch die daraus abzuleitenden Motive selten eine valide Aussage zulassen. 45 Vgl. Heinemann, Kriegsführung. 46 Zur Psychologie menschlicher Entscheidungsstrukturen vgl. u. a. Jureit, Erfahrungsaufschichtung. 47 Vgl. Bonhoeffer, Jahren, 25. 48 Havel, Versuch.
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An einem wirklich neuen wissenschaftlichen Versuch, den Begriff des Widerstands zu definieren, fehlt es also, und das mag auch, wie Peter Steinbach vermutet, daran liegen, dass jeder Definitionsversuch nach den Erfahrungen der vergangenen 70 Jahre sofort unter den Verdacht fallen würde, interessengeleitet zu sein. Er empfiehlt daher nach wie vor den seit jeher eigentlich als Königsweg geltenden Ansatz, jeden Fall individuell zu prüfen und sich dem „Widerstand“ also empirisch, beschreibend zu nähern. Genau das macht seit einigen Jahren auch ein großes Forschungsprojekt des Landschaftsverbandes Rheinland mit dem Titel „Widerstand im Rheinland“, das auf weitere methodisch-begriffliche Schärfungen und Diskussionen verzichtet und vielmehr eine digitale Kartierung von Widerstandsaktionen bei Anwendung eines breiten Widerstandsbegriffs anstrebt49. Vielleicht könnte es für eine Fortentwicklung der Widerstandsforschung zielführend sein, die jüngere Diskussion um die NS-Volksgemeinschaftsideologie für eine Neukonzipierung zu nutzen. Zwar war der Begriff der „Volksgemeinschaft“ sehr vage und unbestimmt, aber die „Volksgemeinschaft“ wurde mit großem propagandistischen Aufwand inszeniert und zielte im Kern auf eine Veränderung des sozialen Bewusstseins, um eine möglichst große psychosoziale Kraftentfaltung zu gewährleisten. Eckpunkte dieser Volksgemeinschaftsideologie waren die Nivellierung zwischen den sozialen Klassen, die Bekämpfung des Individualismus, eine rassistische Reinigung und die politische Gleichschaltung, mit der gesellschaftliche Konflikte und Sonderinteressen ausgeschaltet werden sollten. Permanent wurden die „Volksgenossen“ aufgefordert, Loyalitätsbekundungen abzugeben, sich in die Volksgemeinschaft einzuordnen und ihren Zielen zu dienen. Der Krieg verschärfte die neue Normsetzung noch und verstärkte den sozialpsychologischen Druck auf die „Volksgenossen“. Vor diesem Hintergrund kann die „Volksgemeinschaftsideologie“ als Ausdruck der sozialen Praxis des NS-Regimes verstanden werden, wodurch die Analyse von gesellschaftlichen Inklusionen und Exklusionen erleichtert wird50. Diese Perspektiven könnten auch für die Widerstandsforschung fruchtbar gemacht werden, zur Entideologisierung der Debatte beitragen und die Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reiches bereichern. Dabei käme es darauf an, Elemente der Anpassung an die propagierte „Volksgemeinschaft“, die gewiss auch mit der Akzeptanz eines neuen, nationalsozialistisch definierten Wertekanons einhergingen, von jenen der Anpassungsunwilligkeit zu unterscheiden und vor diesem Hintergrund das Maß von Inklusion und Exklusion zu bestimmen. Damit könnte der Blick für den eigentlichen Gehalt des empirisch belegten „widerständigen“ Potentials geschärft werden. Sich in diesem Sinne zu distanzieren, stellte in einer Diktatur keine nebensächliche Kleinigkeit dar, denn der gesellschaftliche 49 Vgl. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/Widerstandskarte.aspx [zuletzt aufgerufen am 15. 1. 2016]. 50 Vgl. Frei, 1945, 107 f.
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Druck war hoch, es galt, sich gegen die mitziehende und für die Anpassungsbereitschaft reich belohnte Mehrheit zu stellen, „nein“ zu sagen, wo alle anderen frenetisch „ja“ brüllten. Mit einem in diesen Bahnen noch zu schärfenden Forschungsdesign wäre die Hoffnung zu verbinden, dass sich so die immer noch heftige Debatte über den deutschen Widerstand zumindest ein Stück weit entideologisieren ließe und eine sachgerechtere Annäherung an das Phänomen Widerstand erfolgen würde51. Denn seine Faszination hat er, allen historischen Einwendungen entgegen, bis heute nicht verloren.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Becker, Manuel / Lçttel, Holger / Studt, Christoph (Hg.): Der militärische Widerstand gegen Hitler im Lichte neuer Kontroversen (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. 12). Berlin 2010. Bethge, Eberhard: Adam von Trott und der deutsche Widerstand. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), 213–223. Blaschke, Olaf: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration. In: Henkelmann, Andreas / Priesching, Nicole (Hg.): Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus (theologie.geschichte. Beiheft 2). Saarbrücken 2010, 63–88. Bonhoeffer, Dietrich: Nach zehn Jahren. In: ders.: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloh 172002, 9–26. Broszat, Martin / Frçhlich, Elke: Alltag und Widerstand. Bayern im Nationalsozialismus. München / Zürich 21987. Daase, Christopher: Was ist Widerstand? Zum Wandel von Opposition und Dissidenz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 27 (2014), 3–9. Danyel, Jürgen: Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin 1995. Dipper, Christof: Der deutsche Widerstand und die Juden. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), 349–380. Erdmann, Karl Dietrich: Die Zeit der Weltkriege. 2. Teilband (Gebhard – Handbuch der deutschen Geschichte 4). 9. neu bearb. Aufl. Stuttgart 1976. Finker, Kurt: Graf Moltke und der Kreisauer Kreis. Berlin 1978. –: Probleme des militärischen Widerstandes und des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 in Deutschland. In: Klessmann, Cristoph / Pingel, Falk (Hg.): Gegner des Nationalsozialismus. Wissenschaftler und Widerstandskämpfer auf der Suche nach historischer Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1980, 153–186. Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen. München 2005, 107–128. 51 Vgl. Kissener, Rheinland; Blaschke, Stufen, 63–88.
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II. Internetquellen http://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/nordkirche/Synode/Synode_201309 _Stellungnahme_Reichspogromnacht.pdf [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015]. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/Widerstandskar te.aspx [zuletzt aufgerufen am 16. 4. 2015].
Widerstandsrezeption in europäischer Perspektive
Katharina Kunter
Vom „Concentration Camp Hero“ zum „Neuen Kreisau“ Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption in internationaler Perspektive 1. Einführende Überlegungen Wie „der Widerstand“ evangelischer Christen und Christinnen gegen den Nationalsozialismus außerhalb Deutschlands nach 1945 erinnert und gedeutet wurde, ist bislang weder in einer übergreifenden internationalen Studie noch in einem größeren europäischen Forschungszusammenhang vergleichend untersucht worden. Abgesehen davon, dass in der aktuellen wissenschaftlichen und kirchlichen Debatte unterschiedlich enge und weite Definitionen des christlichen Widerstandes diskutiert werden, können dafür zusätzlich auf der einen Seite zahlreiche methodische, sprachliche, historiographische und forschungsstrukturelle Gründe angeführt werden. Auf der anderen Seite ist jedoch gleich zu Beginn der folgenden Ausführungen darauf aufmerksam zu machen, dass die Frage nach der europäischen und internationalen Erinnerung und Rezeption des deutschen evangelischen Widerstandes ein politisch sensibles Feld der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte berührt. Denn die Konzentration auf die Rezeption bzw. die Erinnerungskultur des deutschen evangelischen Widerstandes verengt die internationale Dimension des Themas, weil sie beispielsweise christlichen Widerstand und seine Rezeption in den von den Nationalsozialisten besetzten europäischen Ländern ausblendet. Damit wird nicht zuletzt ein vergleichender Blick alternativer konfessioneller Handlungsmöglichkeiten und dann auch auf internationale Erinnerungsorte verwehrt. Insofern fällt die Fragestellung hinter den Ansatz der jetzt von dem niederländischen Historiker Jan Bank veröffentlichten, großen gesamteuropäischen Studie „Gott im Krieg“1, die einen breiten Vergleich von Widerstand und Anpassung der christlichen Kirchen in Europa vorlegt, zurück. Politisch könnte man der Fragefokussierung darüber hinaus einen typischen Germanozentrismus vorwerfen sowie ihn als einen Versuch einer weiteren deutschen Opferinszenierung beschreiben, analog etwa der in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit vorgebrachten Einwände und Argumente in der Diskussion um die Einrichtung eines Zentrums bzw. der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung. Gleichwohl macht die Fragestellung mit ihrer Orientierung auf die internationale Rezeption des deutschen evangelischen Widerstandes auf ein be1 Bank, God.
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stehendes Forschungsdefizit in der Kirchlichen Zeitgeschichte aufmerksam, denn es handelt sich in der Tat um ein bislang nicht untersuchtes Feld. Die folgenden Ausführungen verstehen sich daher vor allem als eine erste übergreifende, sichtende und ordnende Perspektive. Sie sind allerdings nicht mehr als eine breite Feldbeschreibung, die einerseits im Hinblick auf die internationale, materielle Erinnerungskultur noch vielfältig ergänzt werden könnten, und für die es andererseits für die Analyse der historiographischen Tiefenstrukturen des Vergleiches weiterer europäischer Vertiefungsstudien bedürfte. Darüber hinaus ist für die Zeit nach 1945 festzuhalten, dass sich die Rezeption und Erinnerungskultur des deutschen evangelischen Widerstandes nicht nur auf Europa erstreckte, sondern dass sie schließlich die Grenzen Europas verließ, und mit ihrer Aneignung in den USA, in Lateinamerika und Afrika auch Teil einer globalen Wirkungsgeschichte wurde. Methodische Zugänge Inhaltliche Annäherungen sind über eine Vielzahl an methodischen Zugängen möglich. So könnte man beispielsweise an eine systematische Sichtung von außerhalb Deutschlands gehaltener Reden zum 20. Juli 1944 denken, etwa durch Repräsentanten deutscher auswärtiger Kulturpolitik (Botschaften, Deutsche Schulen oder Goethe-Institute) und die entsprechende publizistische oder kirchliche Resonanz auf diese. Es ließen sich auch personengebundene Spuren, etwa von Martin Niemöller oder Dietrich Bonhoeffer, in Europa oder außerhalb Europas verfolgen, oder mit Hilfe der historischen Netzwerkforschung die interaktiven Vertrauensbeziehungen ökumenischer Widerstandskreise aufzeigen und im Anschluss daran nach der kollektiven Prägung bestimmter kirchlicher Milieus durch den deutschen evangelischen Widerstand fragen2. Ein typisches Erschließungsproblem internationaler und ökumenischer Erinnerungskultur besteht allerdings darin, dass sich ein großer Teil der Kultivierung und Aneignung einer eigenen Widerstandsrezeption in der Regel in nichtwissenschaftlichen, kleineren und durchaus auch informellen ökumenischen Kreisen, Netzwerken und Milieus vollzog und vollzieht. Dabei stellt sich zum einen das Problem, dass ohne Kenntnisse der jeweiligen Landessprache der Zugang zu diesen Kreisen häufig nicht einfach ist. Zum anderen ist aber auch daran zu denken, dass sich Elemente einer Erinnerungskultur nicht unbedingt nur an veröffentlichten, schriftlichen Quellen zeigen, sondern vor allem in und an Erinnerungsorten, also an materiellen Bezugspunkten. Darunter fallen reale historische Orte, Gebete, Lieder, Rituale, visuelle Quellen, Memorabilia oder auch gemeinschaftliche Zusammenkünfte und sich 2 Vgl. hierzu weiterführend Dering, Netzwerke.
Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption in internationaler Perspektive 55
entfaltende kollektive Identitäten3. Für die Sichtung und Erschließung der Erinnerungskultur sind also nicht nur Sprachkenntnisse, Dolmetscher und Zugang in die Netzwerke nötig, sondern auch ein über die Literatur hinaus reichender, manchmal durchaus ethnographisch orientierter Blick4. Vor dem Hintergrund dieser breiten alternativen methodischen Möglichkeiten und Zugriffe orientieren sich die folgenden Ausführungen an den vorgegebenen Frageebenen des Tagungskonzeptes, das sich partiell an die inhaltliche Struktur der Online-Ausstellung „Evangelischer Widerstand. Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“5 anlehnt. So werden nach einigen 1) einführenden Überlegungen 2) besonders profilierte ökumenische Akteure, Netzwerke und Milieus sowie die mit ihnen verbundenen Erinnerungsorte skizziert. Daran anknüpfend werden 3) Phasen, Kennzeichen und Schwerpunkte dieser internationalen Widerstandsrezeption herausgearbeitet. Den Abschluss des Artikels bilden 4) einige zusammenfassende Überlegungen.
2. Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption: Akteure, Orte, Milieus Die hier vorzustellenden drei Ebenen sind naturgemäß miteinander verschränkt und weisen vielfältige Interaktionen auf, denn die unterschiedlichen zeitgenössischen Akteure waren während des Nationalsozialismus häufig durch Freundschaften oder kirchliche Netzwerke miteinander verbunden, die Begegnungen an ausgewählten Orten im Ausland mit sich brachten. Insbesondere die Orte, die in Beziehung zu einem von den Nationalsozialisten ermordeten Protagonisten standen oder an denen sich diese trafen, entwickelten sich nach 1945 zu Erinnerungsorten, mit denen sich im Laufe der Jahre spezifische ökumenische Milieus oder auch wieder neue Netzwerke verknüpften. In der Regel waren es Familienmitglieder, Freunde oder persönliche Beziehungen mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit, auf der sich dann auf der ersten Ebene eine spätere ökumenische oder internationale Rezeption des evangelischen Widerstandes in Deutschland vollzog. Beispielhaft lässt sich das an den beiden im politischen Widerstand tätigen Protestanten, dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer und dem im Kreisauer Kreis für 3 Grundlegend und weiterführend vgl. Nora, Geschichte; FranÅois, Erinnerungsorte; und der Beitrag von Pçpping in diesem Band. 4 Aus der vielfältigen und breiten Literatur zur historiographischen Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur vgl. exemplarisch und weiterführend u. a. Assmann, Schatten sowie dies., Unbehagen; vgl. weiter Rerup, Schatten; und Erll, Kollektives Gedächtnis. 5 Vgl. dazu: http://de.evangelischer-widerstand.de/ [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016].
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das Amt des Außenministers vorgesehenen evangelischen Juristen Adam von Trott zu Solz zeigen. Für beide bildeten die Ökumenische Bewegung in Genf und der reformierte, niederländische Theologe Willem Visser ’t Hooft eine zentrale Anlaufstelle und einen wichtigen Dreh- und Angelpunkt ihrer Widerstandsaktivitäten. Denn über die Person Visser ’t Hoofts, der seit 1939 als Generalsekretär des sich im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) designiert war und seitdem in einem kleinen Sekretariat in Genf residierte, liefen zahlreiche ökumenische und internationale Kontakte von Einzelakteuren und Gruppen des europäischen Widerstandes. Visser ’t Hooft brachte diese zusammen und versuchte den deutschen und den europäischen Widerstand miteinander zu vernetzten, um beide Seiten für den gemeinsamen Aufbau einer zukünftigen europäischen Nachkriegsordnung zu gewinnen6. Dabei spielten seine engen ökumenischen Vertrauten, wie etwa der Engländer George Bell, seit 1929 Bischof von Chichester, eine wichtige Rolle. Bell kannte Bonhoeffer seit 1933 über die ökumenische Arbeit in der Bewegung für Praktisches Christentum („Life and Work Movement“) und war bestens über die Vorgänge im nationalsozialistischen Deutschland informiert7. Er unterstützte die Bekennende Kirche, wo er es vermochte, etwa durch die internationale Verbreitung der Barmer Theologischen Erklärung von 19348. Zudem setzte er sich seit 1936 als Vorsitzender des International Christian Committee for German Refugees (Internationales Christliches Komitee für deutsche Flüchtlinge) besonders für die Auswanderung von in Deutschland verfolgten Christen jüdischer Herkunft ein. Dazu gehörte etwa, neben anderen, Bonhoeffers Zwillingsschwester Sabine, ihr „nichtarischer“ Mann, der Jurist Gerhard Leibholz, und ihre beiden Töchter, die im November 1938 in London ankamen. Leibholz wurde von Dietrich Bonhoeffer mit Bell bekannt gemacht und entwickelte sich rasch zu einer Art politischem Berater für Bell9. Die Einbindung der Familie Bonhoeffer in das ökumenische Unterstützungsnetzwerk in England und in Genf führte nach Bonhoeffers Ermordung am 9. April 1945 auch dazu, dass eine erste, eigenständige Rezeption des evangelischen Widerstands in Deutschland in Gang gesetzt wurde. Denn obwohl noch gar keine genaueren Umstände von Bonhoeffers Tod bekannt waren, fand auf Initiative der ökumenischen Freunde am 27. Juli 1945 in der Londoner Holy Trinity Church der erste Gedenkgottesdienst für Bonhoeffer statt10. Eine große englisch-deutsche Gemeinde, zu der zahlreiche deutsche Flüchtlingspfarrer zählten, die mit ihren englischen Pfarrerskollegen durch
6 Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlicher neben den Schilderungen in Visser ’t Hooft, Memoirs, u. a. Garstecki, Ökumene; Zeilstra, European Unity ; Greschat, Protestantismus; und Lipgens, Documents. 7 Vgl. u. a. Zimmerling, Bonhoeffer, 294–313; Chandler, Resistance. 8 Vgl. Kunter, Europa, 207–222. 9 Vgl. u. a. Bethge / Jasper, Schwelle. 10 Vgl. Bethge, Gedenkheft.
Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption in internationaler Perspektive 57
den German-British Christian Fellowship in Wartime11 verbunden waren, hörte die Traueransprachen Bells und des ebenfalls ins englische Exil gegangenen lutherischen Pfarrers Franz Hildebrandts, die zugleich im Radio übertragen wurden. So konnte auch Bonhoeffers Freund Eberhard Bethge in Berlin hören, wie Bell Bonhoeffer erstmals als „dear brother and martyr of the Church“ bezeichnete und seinem Tod mit den Worten „a death for Germany – indeed for Europe too“ eine europäische Bedeutung zuwies12.
Ökumenische Erinnerungsorte an Dietrich Bonhoeffer Niemand anderes aus dem deutschen Widerstand oder der Bekennenden Kirche erfuhr eine so breite und unterschiedlich akzentuierte internationale Erinnerung und Rezeption wie Dietrich Bonhoeffer. Fast jede seiner biographischen Aufenthaltsorte im Ausland ist mittlerweile zu einem Erinnerungsund teilweise auch zu einem Pilgerort geworden und seit den 1990er Jahren zunehmend sichtbar durch Plaketten, Gedenksteine oder Hinweisschilder ausgezeichnet. Das gilt beispielsweise für die Deutsche Evangelische Gemeinde im Londoner Vorort Sydenham/Forest Hill, an der Bonhoeffer vom Herbst 1933 bis zum Frühjahr 1935 als Pfarrer wirkte und wo sich heute eine internationale Gemeinde dem Erbe Bonhoeffers verpflichtet weiß. Nachdem es hier bereits seit 1980 ein Bonhoeffer-Studienzentrum gab, entstand 2013 das neue Dietrich Bonhoeffer Centre London (DBCL)13, das die Auseinandersetzung mit Werk und Leben Bonhoeffers im britischen Kontext fördern möchte. Auch die Deutsche Kirche in Bradford, wo Bonhoeffer an einer Konferenz mit deutschen Auslandspfarrern teilnahm und die Bradforder Erklärung vom November 1933 mit verfasste, ist mittlerweile zu einem offiziellen Erinnerungsort geworden. Anlässlich des 100. Geburtstages Bonhoeffers stiftete ihr die Stadt Bradford eine Erinnerungsplakette, die Bonhoeffer als „martyr in the anti-racist cause“ ausweist. 10 Jahre früher, 1998, entstand bereits an der Fassade der Westpforte der Westminster Abbey die bekannte Bonhoeffer-Figur, die Bonhoeffer in die Märtyrer des 20. Jahrhunderts einreiht. Ebenfalls in den 1990er Jahren wurde auf der dänischen Nordseeinsel Fanø, auf der Bonhoeffer 1934 an einer Konferenz des Weltbundes für Freundschaftsarbeit teilnahm, von der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft, ein Gedenkstein aufgestellt. Ein weiterer, fester Ort der ökumenischen Begegnung und des Erbes der europäischen Widerstandsbewegung befindet sich in der schwedischen Stadt Sigtuna. Hier gab es seit 1917 im Sigtunastiftelsen ein christlich-ökumenisches Bildungszentrum und 1940 wurde das Nordisch11 Vgl. u. a. Roggelin; Franz Hildebrandt, 203–205. 12 Bethge, Gedenkheft, 7–9. 13 Vgl. die Selbstdarstellung auf www.dbcl.jimdo.com [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016].
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Ökumenische Institut gegründet, aus dem heraus die sogenannte SigtunaGruppe Kontakte zum deutschen Widerstand, vor allem zum Kreisauer Kreis, aufbaute14. Aufgrund dieser Verbindungen fand in einem Gebäude der Hauptstraße der Stadt, in der Stora Gatan, am 31. Mai 1942 das Treffen zwischen Bell und Bonhoeffer statt. Heute ist in diesem Haus das Touristenbüro der Stadt untergebracht; der zweite Stock, wo Bell und Bonhoeffer zusammentrafen, befindet sich im Originalzustand von 1942 und wird zunehmend von Bonhoeffer-Touristen aufgesucht. Das nicht weit davon entfernt liegende Sigtunastiftelsen existiert auch heute noch als christlich geprägtes Kulturzentrum15.
Erinnerungsort Sigtuna: Hier trafen Bell und Bonhoeffer 1942 zusammen. Im Untergeschoss befindet sich heute das Tourismusbüro von Sigtuna. (Foto Katharina Kunter).
Das letzte Beispiel für einen ökumenischen Erinnerungsort befindet sich schließlich außerhalb Europas, in den USA, am Union Theological Seminary in New York, wo sich Bonhoeffer im Juni 1939 aufhielt. Obwohl sich Bonhoeffer nicht sehr freundlich über das theologische Niveau am Union geäußert hat16, wird er hier bis heute in großen Ehren gehalten. So gibt es neben einer Bonhoeffer–Gastprofessur einen Bonhoeffer-Raum, der für Veranstaltungen genutzt wird, und in dem auch einige Bilder und Dokumente zu Bonhoeffers 14 Vgl. Ryman, Sigtuna-Gruppe, 71–86. 15 Vgl. www.sigtunastiftelsen.se [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 16 Vgl. Bonhoeffer, Barcelona, 220 f.
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Aufenthalt in New York aufgehängt sind. Darüber hinaus setzt sich die akademische Gemeinschaft am Union intensiv mit der Theologie Bonhoeffers und ihrer Gegenwartsrelevanz auseinander und deutet dieses theologisch politisch in den Traditionen von Martin Luther King, dem Social Gospel und der Befreiungstheologie. So wurde etwa der bekannte amerikanische Bonhoefferforscher Clifford Green am Union Theological Seminary 1972 mit seiner Arbeit „Bonhoeffer : a theology of sociality“17 promoviert. Er begründete dann im gleichen Jahr als Präsident die Internationale Bonhoeffer Gesellschaft18 mit und wurde schließlich zum Mitherausgeber der englischen Ausgabe der Dietrich Bonhoeffer Werke. Adam von Trott in britischer Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption Wie bei Bonhoeffer bildete die Ökumenische Bewegung auch bei einzelnen Mitgliedern des Kreisauer Kreises eine wichtige Scharnierfunktion zwischen deutschem Widerstand und ihrem Versuch, die Alliierten von der Existenz dieses „anderen Deutschlands“ zu überzeugen. Neben Helmuth von Moltke, mit dem Bell seit November 1935 Kontakt hatte19, ist insbesondere Adam von Trott zu nennen. Von Trott war bereits seit 1929 einige Male in England gewesen und hatte dann von 1931 bis 1933 am vor allem in politischen Kreisen besonders angesehenen Balliol College in Oxford, einem der ältesten Colleges der Universität Oxford, studiert. In dieser Zeit war er tief in die akademische und politische Elite des Landes eingetaucht, hatte einflussreiche Kontakte geknüpft und Freundschaften geschlossen, etwa mit dem für die Labour Party im Unterhaus sitzenden Sir Stafford Cripps oder dem aus einer der reichsten Familien Englands stammenden, späteren Journalisten David Astor. Diese Kontakte öffneten ihm bei seinen Friedensmissionen in England und in den USA manche diplomatische und politische Tür – wenn sie auch nicht den gewünschten politischen Erfolg brachten. In ähnlicher Weise fand er, als er mit dem Kreisauer Kreis im Ausland nach Unterstützung für die Umsturzpläne suchte, in Visser ’t Hooft, Bell und anderen ökumenischen Persönlichkeiten wichtige politische und menschliche Unterstützer. Es war schließlich Gerhard Leibholz, der Bell am 11. September 1944 über die Hinrichtung von von Trott 17 Green, Bonhoeffer. 18 Die Internationale Bonhoeffer Gesellschaft, die neben dem englischsprachigen auch einen etwas später gegründeten deutschsprachigen und niederländischsprachigen Zweig umfasst, gehört ebenfalls zu den einflussreichen internationalen Netzwerken, in denen die Erinnerung an den evangelischen Widerstand in Deutschland, auch durch die aktive Beteiligung von Mitgliedern aus der Bonhoeffer-Familie, bis heute wachgehalten und entsprechend theologisch und kirchlich aktualisiert wird. Vgl. www.dietrichbonhoeffer.org [zuletzt aufgerufen am 15. Juni 2016]. 19 Vgl. den Hinweis auf die entsprechenden Archiv-Quellen bei von Klemperer, Resistance, 17, FN 44.
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informierte und die Verbindung zwischen Bonhoeffer, der Ökumene und dem Kreisauer Kreis mit den Worten „You know it was Adam von Trott who always gave Dietrich the possibility of going abroad and also of meeting you in Sweden“ bestätigte20. Von Trotts tiefe Vertrautheit mit der angelsächsischen Kultur auf der einen Seite und seinem in geheimer Mission auch in Großbritannien erfolgtem Einsatz für den deutschen Widerstand auf der anderen Seite machten ihn früh zu einem eigenen Subjekt englischer Historiographie und Fiktion, bei der partiell auch seine christliche Identität und seine ökumenische Orientierung thematisiert wurden. Diese sehr eigenständig geprägte britische Rezeption von Trotts Widerstandsaktivitäten ist dadurch gekennzeichnet, dass es zahlreiche Stimmen aus dem Umfeld seiner Oxforder Studienzeit gab, die seine Rückkehr nach Deutschland nicht nachvollziehen konnten, aber seit den 1950er Jahren ihre Erinnerungen an von Trott publizierten und damit eine Deutungskontroverse um seine Person und seine Mission entfachten21. Im Zentrum der englischen Debatte stand und steht von Trotts Patriotismus und seine Haltung zum Antisemitismus des Hitler-Regimes bzw. die von bestimmten politischen Kreisen in England vermutete politische Doppelagententätigkeit22. Die Faszination von Trotts Persönlichkeit hat nicht zuletzt auch in jüngster Zeit fiktionale Werke über Adam von Trott inspiriert, wie etwa das Fakten und Fiktion vermischende Werk von Justin Cartwright „The Song before it is sung“23. Neben dieser spezifisch, mehrschichtigen journalistisch und historiographisch geprägten Rezeption etablierte sich zugleich seit den 1980er Jahren an den originalen Studienorten eine eigene Erinnerungskultur an Adam von Trott. So wurden 1983, anlässlich des 50. Jahrestages der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, am Mansfield College der Universität Oxford, wo von Trott 1929 studierte, die Adam von Trott Memorial Lectures eingerichtet, auf denen sich ausgewiesene Historiker oder Personen des öffentlichen Lebens mit von Trott und dem Erbe des Widerstandes auseinandersetzen. Diese finden in einem akademischen Rahmen und mit Unterstützung der Deutschen Botschaft in Großbritannien statt; zu ihr kommen neben Angehörigen der Universität regelmäßig auch Familienmitglieder, Nachkommen von Freunden, engagierte Ökumeniker sowie Politiker und Diplomaten zusammen24. Seit 2010 verleiht das Mansfield College außerdem für deutsche Postdocs ein Adam-von-Trott Stipendium, das aus dem 2004 gegründeten 20 Bell Papers, vol. 40, fol 265, zitiert bei Chandler, George Bell, 123, FN 59. 21 Vgl. u. a. Sykes, Loyalty ; Malone, von Trott zu Solz; Hopkins, Tree; Bielenberg, Deutsche; Duff, Krieg; Bull, Challenge (darin u. a. David Astor, Adam von Trott: A Personal View); von Klemperer, Combat; und MacDonough, German. 22 Einen guten Überblick in die Debatte gibt Daniel, „Troubled Loyality“?, 409–440. 23 Kritisch: vgl. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/stolz-undvorurteil-1465020.html [zuletzt aufgerufen am 16. 6. 2016]. 24 Vgl. Bull, Challenge.
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Adam von Trott Memorial Appeal hervorging. In dessen Kuratorium sind mit Levin von Trott zu Solz und Jan von Haeften auch Nachkommen des deutschen evangelischen Widerstandes vertreten25. Auch am Balliol College, an dem Adam von Trott später studierte, hat die Erinnerung an den deutschen Widerstandskämpfer mittlerweile materielle Form gefunden. Ende Februar 1997 wurden hier einige Studienräume nach von Trott benannt; zur Eröffnung sprach der Historiker Joachim Fest26 ; außerdem wurde von Trotts Name im World War II Memorial in der Chapel Passage der East Wall aufgenommen – eine große Auszeichnung für einen Deutschen seiner Generation. Das feine Netz von politischen und ökumenischen Freunden in England stand auch nach der Ermordung von Trotts am 26. August 1944 seiner Frau Clarita und ihren beiden Töchtern zur Seite und erreichte, dass allen dreien 1946 ein Visum für England ausgestellt wurde. Clarita von Trott war damit die erste Deutsche nach dem Krieg, die nach England einreisen durfte27. Einen symbolisch-sichtbaren Ausdruck fand die tiefe Verbundenheit zwischen der Familie von Trott und den Nachkommen der damaligen Freunde aus der Ökumene im Jahr 2004. Aus Anlass des 60. Jahrestages des 20. Juli 1944 fand am Familiensitz der von Trotts im hessischen Imshausen eine große internationale Konferenz zum Thema „Die Ökumene und der Widerstand gegen Diktaturen“ statt28. An ihr nahmen neben Clarita von Trott u. a. Mitglieder der Familie Visser ’t Hooft, der Direktor des George-Bell-Instituts (heute in Chichester) sowie der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, teil. Zugleich erfolgte die Umbenennung des Herrenhauses in Visser ’t Hooft – Haus. Die 1986 gegründete Adam-von-Trott-Stiftung, die sich mit der Familie von Trott für diese Zusammenkunft eingesetzt hatte, lässt sich als ein aus dem evangelischen Widerstand in Deutschland hervorgegangenes, protestantisch geprägtes Milieu und neues ökumenisches Netzwerk verstehen, das sich der politischen Gegenwartsgestaltung aus dem Geist des europäischen Widerstandes verpflichtet fühlt und dieses auch in internationalen Kooperationen, z. B. mit dem George-Bell-Institut in England oder der Jugendbegegnungsstätte Kreisau in Polen pflegt29.
25 Vgl. http://www.mansfield.ox.ac.uk/alumni/adamvontrott.html [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 26 Fest erwähnt von Trotts Freund Visser ’t Hooft und vergleicht von Trotts Entschluss, wieder nach Deutschland zurückzukehren, mit Bonhoeffers Motiven für die Rückkehr nach Deutschland, geht aber ansonsten nicht auf die Rolle der Ökumene, Kirche oder Konfession ein; vgl. die deutsche Version von Fests Rede, Fest, Spiel, 1–18. 27 Vgl. die „Biographical note“ zum Nachlass Adam von Trott im Balliol Vollege Archive. In: http:// archives.balliol.ox.ac.uk/Modern%20Papers/von%20Trott/trott1.asp [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 28 Vgl. den Newsletter/October 2004/Vol. X, no. 10 der Association of Contemporary Church Historians, hg. von John S. Conway, zu finden unter: http://www.calvin.edu/academic/cas/akz/ akz2410.htm [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 29 Vgl. unten, 68.
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Weitere ökumenische Erinnerungsträger Aber auch abseits dieser beiden politisch-protestantischen Repräsentanten des deutschen Widerstandes entstanden in den 1930er und 1940er Jahren ökumenische Kontakte und Freundschaften, die nach Kriegsende in unterschiedlichem Maße zur internationalen Rezeption des Widerstandes und seiner evangelischen Protagonisten beitrugen. Dazu gehörten die individuell sehr verschiedenen, ökumenischen Beziehungen zwischen Vertretern der Bekennenden Kirche und insbesondere mit den Verfassern der Barmer Theologischen Erklärung, die dafür sorgten, dass die Barmer Theologische Erklärung etwa in der Schweiz, in den Niederlanden, in Frankreich oder in England rezipiert wurde – wobei Karl Barth eine wichtige Vermittlerrolle spielte30. In diesem Sinne lässt sich auch der über die Bekennende Kirche laufende Kontakt zwischen Barth und dem tschechischen Theologen Josef Hrom#dka als eine spezifische Rezeption evangelischen Widerstands deuten. Eine besondere Rolle spielte hierbei der berühmte Brief Barths an Hrom#dka vom 19. September 1938, in dem Barth die „Söhne der alten Hussiten“ zum militärischen Widerstand, auch für die „Kirche Jesu Christi“ gegen die deutsche Besatzung aufrief31. Dieser Brief entfaltete später eine eigene Wirkungsgeschichte im Hinblick auf die kirchliche Rezeption von Barths Haltung zum Kommunismus, vor allem zu Ungarn. Zu denken ist aber etwa auch an den schwedischen Pfarrer Birger Forell, der zwischen 1929 und 1942 Gesandtschaftspfarrer an der schwedischen Victoriagemeinde in Berlin-Wilmersdorf war. Weil seine Gemeinde exterritoriales Gebiet war, konnte er hier Vertreter der Bekennenden Kirche wie Martin Niemöller oder Otto Dibelius treffen, auf vielfältige, praktische und diplomatische Weise die Bekennende Kirche unterstützen und die Flucht von verfolgten Juden, etwa mit falschen Pässen, in die Wege leiten32. Weil er jedoch immer stärker ins Visier der Gestapo geriet, musste er 1942 nach Schweden zurückkehren. Dort trugen jedoch seine Erfahrungen und Einsichten im nationalsozialistischen Deutschland und seine Verbindung mit der Bekennenden Kirche zu einem positiven Bild der Bekennenden Kirche und des evangelischen Widerstandes bei. Auch schlug er mit seinem durch Bischof Bell eingefädelten Einsatz für deutsche Kriegsgefangene in England 1944 und durch die Hilfe für deutsche Flüchtlinge im westfälischen Espelkamp nach 1945 eine Brücke der deutsch-schwedischen Versöhnung. Erwähnt werden muss zudem die Niederländerin Hebe Kohlbrugge, die seit 1936 in Berlin lebte, dort zu verschiedenen Mitgliedern der Bekennenden 30 Vgl. Kunter, Europa. 31 Vgl. K. Barth, Brief an J. L. Hrom#dka vom 11. 9. 1938. In: Barth, Stimme, 58 f. 32 Weiterführend Ekdahl, Victoriaförsamlingen, v. a. 124–200; Bothe von Richthofen, Widerstand.
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Kirche Kontakt hatte und sich später im niederländischen Widerstand engagierte33. Forell brachte, wie Kohlbrugge und andere, bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland „ihre“ Bilder, Erfahrungen und Deutungen des evangelischen Widerstandes in Deutschland, der sich für sie zumeist an einzelnen Personen der Bekennenden Kirche festmachte, mit. Mit ihrer nicht nachlassenden, solidarischen Anteilnahme und Unterstützung trugen sie nach 1945 zur Wiederaufnahme der deutschen evangelischen Kirchen in die weltweite Ökumene bei oder engagierten sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland für im Untergrund oder Widerstand tätige Protestanten in anderen Diktaturen, beispielsweise in den sozialistischen Ländern Osteuropas, wie das Engagement Kohlbrugges in der Tschechoslowakei zeigte.
3. Phasen, Kennzeichen und Schwerpunkte der ökumenischen Erinnerungskultur und internationalen Widerstandsrezeption Überblickt man die hier skizzenhaft angedeuteten Erinnerungsträger, Orte und Milieus lassen sich verschiedene zeitliche Phasen und inhaltliche Schwerpunkte der internationalen Rezeption des evangelischen Widerstandes in Deutschland ausmachen. Individuelle Heroisierung des Widerstandes Eine erste Phase des vom kirchlichen Ausland als Widerstand gegen die Nationalsozialisten wahrgenommenen „Kirchenkampfes“ erstreckte sich von der Entstehung der Bekennenden Kirche über die Abfassung der Barmer Theologischen Erklärung 1933/34 bis hin zur Verhaftung und Inhaftierung Martin Niemöllers im Konzentrationslager Sachsenhausen 1937 und seit 1941 im Konzentrationslager Dachau. Es waren die Freunde aus der Ökumene, die die Kenntnis darüber verbreiteten und für die Veröffentlichung in der ausländischen Presse sorgten. Aufgrund des Einsatzes von Bischof Bell informierte etwa am 3. Juli 1937 die Times ihre Leser über die Inhaftierung Niemöllers34 und trug mit dieser unmittelbaren öffentlichen Reaktion aus dem Ausland mit dazu bei, dass Hitler von der Ermordung Niemöllers Abstand nahm. Nachdem ihn das amerikanische Time Magazine am 23. Dezember 1940 als Märtyrer des Jahres mit dem Titel: „In Germany only the cross has not bowed to the swastika” auf seine Titelseite erhoben hatte, erschienen 1942 u. a. zwei weitere bildprägende Veröffentlichungen: Millers „Martin Niemoeller, Hero of the 33 Vgl. Kohlbrugge, Zwei. 34 Vgl. u. a. Chandler, Church, 177, FN 49.
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Concentration Camp“ und Leo Steins „I was in Hell with Niemoeller“35. Beide Werke trugen mit ihren symbolträchtigen Titeln dazu bei, dass Niemöller auch nach 1945, vor allem in den USA, eine der bekanntesten Verkörperungen des deutschen evangelischen Widerstandes blieb. Dazu mochte seine Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau durch die Amerikaner ebenso beigetragen haben wie verschiedene, seit den 1950er Jahren erschienene populärere Veröffentlichungen, so die Niemöller-Biographie der amerikanischen Journalistin Clarissa Start Davidson oder später die des englischen Journalisten James Bentley sowie die Biographie von Sibylle Niemoeller-von Sell, der zweiten Ehefrau Niemöllers, die er 1971 geheiratet hatte und die die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß36. Niemöllers Gedicht „Als die Nazis die Kommunisten holten“ erlebte seit seiner englischen Veröffentlichung 1955 in Milton Meyers Buch „They thought they were free: The Germans 1933–1945“ weite Verbreitung und wurde nicht nur in den 1960er Jahren zu einem „Klassiker“ der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sondern wird auch in mehreren seit den 1990er Jahren errichteten amerikanischen Holocaust-Gedenkstätten präsentiert, z. B. im New England Holocaust Memorial in Boston oder dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das die „Communists“ im Original jedoch durch „Socialists“ ersetzte37. Die in der Erinnerungskultur von Niemöller in den USA zum Ausdruck kommende heroische Deutung, nach der Niemöller als ein individueller Held im Kampf gegen ein barbarisches Regime gezeichnet wird, war für diese erste Phase der internationalen Widerstandsrezeption typisch38. Gleiches gilt auch für die Einordnung Bonhoeffers als „Märtyrer“ in Bells Trauerrede 1945, die ebenfalls heroisierende Züge trug. Neben Bonhoeffer und Niemöller taucht in der internationalen Wahrnehmung als dritte Person des evangelischen Widerstandes der 1939 im Konzentrationslager Buchenwald ermordete Pfarrer Paul Schneider auf; die von seiner Witwe nach dem Krieg zusammengestellte Biographie erschien 1956 in der englischen Übersetzung39. Die auch für Schneider bis zum Ende der 1950er Jahre vorherrschende internationale Einordnung als christlicher Märtyrer wurde in der jüngsten Zeit durch die Aufnahme Schneiders in das katholische Märtyrergedenken fortgesetzt. So nannte Papst Johannes Paul II. bei seiner Gedächtnisfeier für die Zeigen des 35 Miller, Niemoeller; Stein, Hell. 36 Start Davidson, Man; Bentley, Niemöller ; und Niemoeller, Crowns. 37 Vgl. http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10007392 [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 38 Auf die zur Zeit aktuelle und sehr lebendige Forschungsdebatte zum „Heroischen in der neueren kulturhistorischen Forschung“ kann an dieser Stelle leider nicht weiter eingegangen werden. Im Hinblick auf Niemöller und Bonhoeffer wäre es aber interessant, ihrer Funktion als „Held“ für die Nachkriegsgesellschaft Englands und der USA weiter nachzugehen, vgl. weiterführend den Überblick bei http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2216#note136 [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 39 Robertson, Schneider.
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Glaubens am 7. Mai 2000 im Kolosseum in Rom nur zwei Namen ausdrücklich in seiner Predigt: den orthodoxen Metropoliten Benjamin von Sankt Petersburg, der 1922 von den Kommunisten ermordet wurde, und mit einer kurzen biographischen Erläuterung den „lutherischen Pastor“ Paul Schneider40. Im Anschluss daran kam ihm als evangelischen Glaubenszeugen aus Deutschland die Ehre zu, mit einer eigenen Ikone in dem großen, 2002 eingeweihten Märtyreraltar der Basilika San Bartholomeo in Rom bedacht zu werden. Dort sitzt er in seiner Sträflingskleidung in der Bildmitte, direkt unter der Osterkerze. Die Gemeinde dieser Kirche, die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio, versteht sich als eine ökumenisch orientierte Gemeinde und pflegt ein mit Devotionalien versehenes Märtyrergedenken. So findet sich hier in der Kirchenausstellung beispielsweise auch ein Brief, den Paul Schneider aus dem Konzentrationslager Buchenwald an seine Familie schrieb. Widerstandsrezeption als gesellschaftlich-geistliches Erneuerungsprogramm Eine neue Phase der Widerstandsrezeption, die die Protagonisten des evangelischen Widerstandes in Deutschland stärker in ein umfassendes theologisches und geistliches Erneuerungsprogramm einbettete, lässt sich seit den 1960er Jahren ausmachen. In fast allen evangelischen Kreisen Europas erschienen nun die häufig in die Landessprache übersetzten Gefängnisbriefe Bonhoeffers und sein Buch „Nachfolge“ in gedruckter Form, wurden intensiv gelesen und beförderten eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Bekennenden Kirche, mit Bonhoeffer und Karl Barth sowie der Barmer Theologischen Erklärung. In der Tschechoslowakei entstand 1958 eine neue theologische Richtung in der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder und ihrer stärker reformiert orientierten Theologie, die sich „Neue Orientierung“ nannte und – in Anlehnung an Bonhoeffer und Barth – nach Wegen eines überzeugenden christlichen Zeugnisses in einer feindlich atheistischen, und zunehmend säkularer werdenden Welt suchte41. Zu ihren Vertretern gehörte etwa Hrom#dka sowie der spätere Charta 77-Unterzeichner und evangelische Theologe Jakub Trojan. In dem 1963 von dem evangelischen Philosophen Ladislav Hejd#nek gegründeten Ökumenischen Seminar von Jircharich, eine Art theologischer Untergrundklub, wurde ebenfalls intensiv über die Bekennende Kirche und Bonhoeffer diskutiert; in den von Jakub Trojan in Prag organisierten vergleichbaren kirchlich-theologischen Untergrundseminaren war in den 1980er Jahren auch Eberhard Bethge zu Gast. In diesen Kreisen wurde der evangelische Widerstand aus Deutschland Ermutigung für den 40 Vgl. die offizielle deutsche Übersetzung der päpstlichen Predigt: https://w2.vatican.va/content/ john-paul-ii/de/homilies/2000/documents/hf_jp-ii_hom_20000507_test-fede.html [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016]. 41 Vgl. hierzu und im Folgenden Kunter, Religion, 169–185; dies., Kirchen, 727–740.
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eigenen Protest gegen das kommunistische Regime und legitimierte das Engagement in der Bürgerrechtsbewegung Charta 77. Zugleich wurde das Erbe der Bekennenden Kirche aber auch von der anderen, staatsloyaleren Seite der Theologischen Fakultät in Prag in Anspruch genommen und mit Bezug auf die Barmer Theologische Erklärung nicht nur ein kirchenoffizielles Bekenntnis zum Sozialismus formuliert, sondern auch der Ausschluss evangelischer Charta 77-Unterzeichner aus der Kirche legitimiert42. Nicht zuletzt fanden Barth und Bonhoeffer Aufnahme in den christlich-marxistischen Dialog, etwa in der 1965 publizierten programmatischen Schrift Milan Machovecs „Barth, Bonhoeffer und Hrom#dka in atheistisch-kommunistischer Sicht“43. Auch im Norden Europas begann in den 1960er Jahren eine neue Phase der theologischen Auseinandersetzung mit dem Erbe Bonhoeffers. In Dänemark beispielsweise wurden die „Nachfolge“ und Bonhoeffers Gefängnisbriefe von der Inneren Mission veröffentlicht und leiteten eine Neuinterpretation der christlichen Existenz in einer religionslosen Gesellschaft ein, wie das etwa die Werke der dänischen Theologen Kirsten Ejner Skydsgaard, Regin Prenter oder Jørgen Glenthøj zeigen44. Die europäische Neuentdeckung Bonhoeffers in den 1960er Jahren wurde zusätzlich durch die die Bonhoeffersche Idee des religionslosen Christentums weiterdenkenden Werke der amerikanischen Theologen Paul van Buren und Harvey Cox stimuliert. Letzterer hatte für seine 1965 erschienene „Stadt ohne Gott“ ein Studienjahr in Berlin absolviert und sich dort auf die Spuren der Bekennenden Kirche, Bonhoeffers und des Widerstandes begeben45. Selbst im sowjetisch besetzten Estland wurde Bonhoeffer 1968 nicht nur in der maschinenschriftlichen Zeitschrift „Teoloogiline kogumik“ übersetzt, sondern auch von entsprechenden Interpretationen durch Paul van Buren (1969) und Eberhard Bethge (1970) begleitet46. Der 1967 herausgegebene Sammelband „World Come of Age. A Symposium on Dietrich Bonhoeffer“47, mit (englischen) Beiträgen u. a. von Barth, Bethge, Bultmann und dem marxistischen DDR-Theologen Hanfried Müller markierte dann in gewisser Weise den Abschluss dieser Phase und leitete über zur Phase globalpolitischer Rezeption des evangelischen Widerstandes in Deutschland seit den 1970er Jahren. Vom Widerstand im „Dritten Reich“ zur politischen Opposition Es würde sich lohnen, die Rezeption und Erinnerungskultur Bonhoeffers und des christlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in den evan42 43 44 45 46 47
ˇ SSR. Vgl. die Dokumentation in: C Machovec, Marxismus. Für diese Hinweise danke ich Peter Lodberg aus Aarhus/Dänemark. Vgl. van Buren, Meaning; ders., Bonhoeffer; und Cox, City. Für diese Hinweise danke ich Riho Altnurme aus Tartu/Estland. Vgl. Smith, World.
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gelischen Kirchen Mittel- und Osteuropas während der Zeit der kommunistischen Regime zu vertiefen, da sie an einigen Stellen durchaus von der westlichen, also west- und nordeuropäischen sowie nordamerikanischen, Aneignung dieser Zeit abweicht. Denn unter den diktatorischen Bedingungen Mittel- und Osteuropas galt Bonhoeffer als ein unmittelbares Vorbild für einen „Kirchenkampf“ gegen den Kommunismus und die Bildung einer „Bekennenden Kirche“, innerhalb einer Ideologie und Politik, die das Christentum marginalisierten. Die von den Kommunisten mit Schärfe vorangetriebene Privatisierung der Religion und die Eliminierung sämtlicher öffentlicher Aufgaben der Kirchen führte dann vor allem im Hinblick auf Frömmigkeit und Spiritualität zu einem stärker gemeindeorientierten und christozentrischen Interesse an Bonhoeffer48. Insgesamt lässt sich aber beobachten, dass seit den späten 1960er Jahren sowohl in den kommunistischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas als auch in verschiedenen Diktaturen Asiens und Afrikas die eigene kirchliche Existenz zunehmend in den Kategorien des deutschen Kirchenkampfes gedeutet wurde. Die Rezeption des evangelischen Widerstandes, exemplifiziert an der Person Bonhoeffers, an dem Text der Barmer Theologischen Erklärung und dem Begriff der Bekennenden Kirche („confessing church“), wurde motiviert durch Multiplikatoren aus der Ökumenischen Bewegung. Teilweise lässt sie sich den entstehenden Befreiungstheologien und christlichen Befreiungsbewegungen zuordnen49. Besonders augenfällig war dies in Südafrika, wo bereits 1971 ein offener Brief von 40 südafrikanischen Christen die These II und These V der Barmer Theologischen Erklärung zitierte und dabei die Äußerungen der Deutschen Christen mit der Pro-Apartheid-Einstellung verschiedener südafrikanischer Kirchenvertreter verglich50. Südafrikanische Theologen wie Beyers Naud8 – von dem Bethge sagte, er erinnere ihn an Bonhoeffer51 – oder John de Gruchy, die sich zusammen mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen gegen das Apartheidsregime und die Rassentrennung in Südafrika einsetzten, beriefen sich auf Bonhoeffer und den Kampf der Bekennenden Kirche gegen die Nationalsozialisten. De Gruchy hatte bei einem vom Ökumenischen Rat der Kirchen finanzierten Studienaufenthalt in Chicago Vorträge von Eberhard Bethge über Bonhoeffer gehört, woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte. So besuchte er Bethge 1970 in Deutschland und lud ihn 1973 nach Südafrika ein, wo Bethge zahlreiche Vorträge über Bonhoeffer hielt und Parallelen zwischen der Situation der Kirche im Dritten Reich und in Südafrika zog52. Nachdem de Gruchy seine Dissertation über Bonhoeffer, Barth und die Bekennende Kirche und deren 48 Vgl. Krçtke, Barmen. 49 Vgl. Kunter, Europa. 50 Vgl. de Gruchy, Odyssey, 5 f.; Koopman, Barmen, 60–71; und den Beitrag Schillings in diesem Band. 51 Vgl. de Gruchy, Beyers Naud8, 41–56. 52 Vgl. Bethge, Church, 167–178.
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theologische Relevanz für das heutige Südafrika unter dem Apartheidsregime abgeschlossen hatte, wurde er zu einem anerkannten Bonhoeffer-Interpreten und zu einem prominenten Mitglied der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft. 1979 erschien sein einflussreiches Werk „The Church Struggle in South Africa.“ Die Frage, inwiefern eine spezifische kirchliche Widerstandsrezeption in Südafrika das Ende der Apartheid und einen friedlichen Übergang in die Demokratie förderte oder unterstützte, lässt sich zwar nicht beantworten. Es ist aber auffällig, dass die Erinnerung an den christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den 1980er Jahren nicht nur in Südafrika, sondern auch in Mittel- und Osteuropa theologische und politische Oppositionsarbeit ermutigte und expliziten Vorbildcharakter hatte. Das zeigt auch das letzte Beispiel, nämlich die Erinnerung an den deutschen Widerstand, vor allem an Bonhoeffer und an den Kreisauer Kreis in Polen. 1970 erschien das Bonhoefferbuch der polnischen Publizistin Anna Morawaska „Ein Christ im Dritten Reich“ sowie eine von derselben Autorin herausgegebene Auswahl an Briefen Bonhoeffers53. Die Publikationen Morawaskas über Bonhoeffer, die vornehmlich in den Kreisen der intellektuellen Katholiken um die polnische Laienorganisation Znak (deutsch: Zeichen) gelesen wurden, spielten in den 1970er Jahren bei der Herausbildung der demokratischen Opposition Polens eine richtungsweisende Rolle54. Der spätere, erste freigewählte Premierminister Polens, Tadeusz Mazowiecki, rezensierte „Ein Christ im Dritten Reich“ und öffnete damit eine Tür für die in den 1970er Jahren beginnenden Kontakte zwischen der Aktion Sühnezeichen DDR und verschiedenen katholischen Mitgliedern der Solidarnos´c´-Bewegung. Eine zentrale Gestalt dieser Netzwerke war Ludwig Mehlhorn, der seit 1986 im Arbeitskreis „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ der evangelischen Bartholomäuskirche in Berlin mitarbeitete55. Rasch bildete sich daraus ein breiterer Kreis von polnischen Solidarnos´c´-Mitgliedern, weiteren Oppositionellen aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung wie etwa dem evangelischen Dozenten am Ostberliner Sprachenkonvikt Wolfgang Ullmann, Aktivisten der westdeutschen Aktion Sühnezeichen und Mitgliedern der Familie von Moltke, die sich dafür einsetzten, aus dem alten Landgut der von Moltkes in Kreisau eine internationale Begegnungsstätte aufzubauen. So entstand noch vor dem Mauerfall am 9. November 1989 an dem Erinnerungsort Kreisau das „Neue Kreisau“, aus dem schließlich die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau erwuchs56. Über 7000 Teilnehmer jährlich machen sich hier auf die Spuren des Widerstandes im Nationalsozialismus und Kommunismus und lernen auf Konferenzen, Tagungen und Workshops, was Zivilcourage heute bedeuten kann. 53 54 55 56
Vgl. Morawaska, Bonhoeffer. Vgl. Mehlhorn, Rezeption, 148–155. Ausführlicher vgl. Weigt, Demokratie. Vgl. http://www.krzyzowa.org.pl/index.php/de/osrodek [zuletzt aufgerufen am 15. 6. 2016].
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4. Abschließende Überlegungen Die unterschiedlichen Phasen der internationalen Widerstandsrezeption, die hier an ausgewählten Beispielen verdeutlicht wurden, könnten um zahlreiche weitere ökumenische Erinnerungen und internationale Aneignungskontexte ergänzt und vertieft werden. Nur kurz erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass mit dem europäischen, und zunehmend globalen Interesse am christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus immer auch eine lebhafte, dynamische akademische Forschung einherging. Internationale Historiographie und das erinnerungskulturelle Interesse von Familie, Freunden, Netzwerken, ökumenischen Milieus oder Publizistik überlappten sich nicht immer ; häufig gab es zwischen diesen gar keine Berührungspunkte oder auch keine gegenseitige Kenntnis. Zu erinnern ist allerdings daran, dass vor allem in den 1990er Jahren zahlreiche innovative Studien, vor allem englischer und amerikanischer Historiker, wichtige Impulse für die historische Aufarbeitung des christlichen Widerstandes in Deutschland brachten57. Das internationale Interesse an Bonhoeffer ist noch längst nicht abgeschlossen, wie etwa das jüngst erschienene Buch über Bonhoeffer und Martin Luther King58 oder die australische Bonhoeffer-Aneignung „Bonhoeffer Down Under“59 belegen. Erinnerungskultur und Widerstandsrezeption erweisen sich in der internationalen Perspektive als insgesamt sehr divers, sowie länder- und konfessionsabhängig. Die Phasen der Rezeption lassen sich nicht trennen von der gemeinsamen Geschichte und vom politischen Zustand der jeweils bilateralen Beziehungen und sind dabei zugleich immer eingebettet in die historischen Zäsuren und Phasen der globalen Nachkriegsgeschichte. Nach der hier vorgelegten Sichtung lässt sich daher nicht von einer eigenen „europäischen“ oder „globalen“ Widerstandsrezeption und Erinnerungskultur sprechen.
I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 22014. –: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. München 2013. Bank, Jan: God in de oorlog. De rol van de kerk in Europa 1939–1945. Amsterdam 2015. 57 Vgl. von Klemperer, Resistance; Thomas, Women; und Barnett, Bystanders sowie der kanadische Kirchenhistoriker John Conway mit seinem Netzwerk der Contemporary Church Historians. 58 Vgl. Jenkins, Bonhoeffer. 59 Vgl. Preece / Packer, Bonhoeffer.
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Personen und Gruppen der Erinnerung
Hansjörg Buss
Eine Herausforderung für die protestantische Erinnerungs- und Gedenkkultur Karl Friedrich Stellbrink (1894–1943) Am 10. November 1943 wurden in der Hamburger Untersuchungsanstalt am Holstenglacis die drei katholischen Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller und Johannes Prassek sowie Karl Friedrich Stellbrink, Pastor der lutherischen Landeskirche in Lübeck, hingerichtet. Das gemeinsame Sterben der Geistlichen beider Konfessionen, versinnbildlicht in der Metapher Ihr Blut floss ineinander1, war einzigartig im Deutschen Reich, eine Tatsache, die das Nachkriegsgedenken an die Lübecker Glaubenszeugen nachhaltig geprägt hat und noch immer bestimmt: „Sag niemals drei, sag immer vier!“2 Auch wenn dieser Satz lange Jahre vor allem von der katholischen Kirche mit Leben erfüllt wurde, war er rückblickend dennoch leitmotivisch für die kirchliche wie lübeckische Erinnerung an die vier Hingerichteten. Der folgende Beitrag fokussiert in fünf Abschnitten das wechselvolle protestantische Gedenken an Pastor Stellbrink. Der Kontakt Stellbrinks zur Lübecker Landeskirche kam Anfang 1934 auf Vermittlung des Flensburger Hauptpastors Friedrich Andersen zustande und stand in direktem Zusammenhang mit seinem Wirken für den antisemitischen „Bund für Deutsche Kirche“, der sich die völkische Erneuerung der Kirche zum Ziel gesetzt hatte3. Dem nicht studierten Brasilienrückkehrer und Thüringer Landpfarrer wurde von NS-Senator Hans Böhmcker, zugleich Vorsitzender der Lübecker Interimskirchenleitung, das Seniorat angeboten, d. h. das Amt des Lübecker Kirchenführers4. Stellbrink lehnte ab, bat aber um ein einfaches Pfarramt. So kam er im Juni 1934 an die Luthergemeinde, die in den folgenden Jahren zu einem Zentrum der Deutschkirche wurde5. Im August 1 Vgl. u. a. Pelke, Christenprozeß, 79; Plate, Blut. 2 Mit diesen Worten soll Adolf Ehrtmann (1897–1979), Rendant der katholischen Pfarrei in Lübeck, der im Juli 1942 verhaftet und 1943 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war, noch auf dem Sterbebett an die Verbundenheit der vier Geistlichen erinnert haben, http://www.luebeckermaer tyrer.de/de/geschichte/personen.html [zuletzt aufgerufen am 28. 4. 2015]. Vgl. Thoemmes, Gedenken. 3 Vgl. Sonne, Theologie, 30–55; Meier, Bund; Kehl-Freudenstein, Religionspädagogik; Linck, Epilog; und Gerstner / Hufenreuter / Puschner, Deutschkirche. Stellbrink war dem Bund in seinem Gründungsjahr 1921 beigetreten. 4 Hans Böhmcker an Stellbrink am 23. 1. 1934 (AHL, NSA, IX, 1–4/9). Vgl. Buss, Kirche, 158–167, 223–230, 302–310, 329–342. Zur Biografie Stellbrinks vgl. Voswinckel, Wege, 75–110. 5 Auch Stellbrinks Amtskollege Gerhard Meyer gehörte dem „Bund für Deutsche Kirche“ an. Vgl. Buss, Christentum; ders., Meyer.
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Hansjörg Buss
1936 trat Stellbrink aus dem Bund aus. Überhaupt setzte in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ein rapider Ablösungsprozess vom Nationalsozialismus ein, der ihn letztendlich zur Abkehr vom und in die Gegnerschaft zum NS-Staat führte. Dennoch wirkte in der unmittelbaren Nachkriegszeit die kirchliche Wahrnehmung Stellbrinks als „häretischer Theologe“ fort.
1. Die Perspektive der Bekennenden Kirche: Gedenken ohne Anteilnahme (1943–1958) Nach Kriegsende vollzog sich die landeskirchliche Neuordnung durch die Lübecker Bekennende Kirche, die im Mai 1945 sämtliche kirchenleitende Gewalt an sich zog. Für sie galt die Landeskirche nach der „deutschchristlichen Häresie“ der Jahre 1933 bis 1945 als in ihren Grundlagen zerstört. Beim Neuaufbau der Landeskirche waren die Wiederherstellung der biblischen Autorität und die Bekenntnisbindung in sämtlichen Maßnahmen handlungsleitend, auch bei der „kirchlichen Selbstreinigung“, wo die neue Lübecker Kirchenleitung im Gegensatz zu den anderen evangelischen Landeskirchen einen Sonderweg einschlug: Ende 1946 war ein Viertel der 28 Lübecker Pastoren, die zum 1. Mai 1945 im landeskirchlichen Dienst gestanden hatten, dauerhaft aus ihrem Amt entfernt6. Dass sich der Vorwurf der „Zerstörung der Kirche“ auch gegen die Verkünder deutschkirchlicher Vorstellungen richtete, die von der „notwendigen kurzen und scharfen Reinigungsaktion“ der Jahre 1945/1947 nur deshalb nicht betroffen waren, weil die maßgeblichen Repräsentanten des „Bundes für Deutsche Kirche“ das Kriegsende nicht erlebten, steht außer Frage7. Noch 1952 machte Pastor Wilhelm Marxsen den früheren Lübecker Bischof der Jahre 1934 bis 1945, Erwin Balzer, Mitglied der NSDAP seit 1931 und ein überzeugter Antisemit, dafür verantwortlich, die Luthergemeinde „dieser häretischen“ Theologie ausgeliefert zu haben8. Im Fall Stellbrinks stand die Kirchenleitung damit vor einem Dilemma. Einerseits war man sich des beschämenden landeskirchlichen Verhaltens nach der Verhaftung und Verurteilung Stellbrinks bewusst, andererseits erinnerte man sich an ihn vor allem als einen Propagandisten deutschkirchlichen Gedankenguts, der nach allgemeiner Lesart zudem vor allem aus politischen 6 Kirchenrat an die Kanzlei der EKD am 7. 1. 1947 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 200). Vgl. Linck, Wege, 68–71; Buss, Kirche, 379–406; und ders., Beitrag. 7 Propst Pautke an Superintendent Schweitzer am 9. 5. 1947 (LKA Kiel, 41.01, Nr. 1). Pfarrer Gerhard Meyer, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine der zentralen Figuren des Bundes, war im September 1939 gefallen. Sein ebenfalls deutschkirchlich eingestellter Amtsvorgänger Ulrich Burgstaller hatte 1933 den landeskirchlichen Dienst quittiert und war in den Lübecker NS-Senat eingetreten. Er starb 1935. 8 Stellungnahme zum Einspruch im Überprüfungsverfahren Balzer vom 23. 5. 1952 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 29, 20).
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Gründen gehandelt hatte9. Anfang Juni 1945 erkannte der Kirchenrat der Witwe Stellbrinks zwar die Rechtsstellung einer Pfarrwitwe und die damit verbundenen Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung zu, womit zumindest indirekt die Aberkennung der Rechte des Geistlichen Standes durch das NS-Bischofsregiment rückgängig gemacht wurde, er verzichtete aber darauf, sich darüber hinaus zu positionieren oder Stellbrink gar zu rehabilitieren10. Das erste landeskirchliche Schreiben an Hildegard Stellbrink weist keinen Bezug zu Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung auf11. Zu den Plänen für die Anbringung einer Gedenktafel nach der Überführung der Urne Stellbrinks in die Lutherkirche anlässlich des 6. Jahrestages der Hinrichtung im November 1949 heißt es in einem Kirchenleitungsprotokoll lapidar : „Von dem Schreiben der Pastorenwitwe Stellbrink betr. die Errichtung einer Gedenktafel für den hingerichteten Pastor Stellbrink und über die hiermit stattgefundene Gedenkfeier nimmt die Kirchenleitung Kenntnis. Von den entstandenen Kosten werden 400.– RM auf die Allgemeine Kirchenkasse genommen: den Restbetrag trägt Frau Stellbrink.“12
Im November 1945 löste die Anordnung Widerspruch aus, Stellbrink zum Jahrestag seiner Hinrichtung zu gedenken13. Der Bekenntnispfarrer Gerhard Fölsch schrieb: „Weil alle Welt heute Märtyrer des Antifaschismus ehrt, so muß und will es die Kirche auch. Und weil es die katholische Kirche mit großer Leidenschaft tut, hat die evangelische Kirche die Zwangsvorstellung oder den ganz und gar unangebrachten Minderwertigkeitskomplex, um keinen Preis zurückstehen zu dürfen.“14
Fölsch widersprach auch dem Entwurf für ein Gedenkwort, in dem Propst Johannes Pautke unvermittelt und offensichtlich ohne vorherige Abstimmung in den kirchlichen Gremien eine Deutung Stellbrinks als „Märtyrer“ aufgegriffen und die Hingerichteten unpräzise als Gefallene im Kampf der Kirche 9 Nachdem Stellbrink im Juni 1943 als erster evangelischer Pfarrer überhaupt vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war, verfassten die landeskirchlichen Pastoren ein Gnadengesuch und bemühten sich des Weiteren, ihn als geisteskrank darzustellen. Der Kirchenrat, der Stellbrink bereits nach seiner Verhaftung im April 1942 ans Messer geliefert hatte, sah sich zu einem Gnadengesuch außerstande. Protokoll des Kirchenrates vom 16. 7. 1943 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 384). 10 Vgl. Protokoll des Kirchenrates vom 4. 6. 1945 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 701); Protokoll des Kirchenrates vom 15. 3. 1946 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 702). 11 Vgl. Kirchenrat an Hildegard Stellbrink am 23. 5. 1945 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 12 Protokoll der Kirchenleitung vom 25. 11. 1949 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 705). 13 Vgl. Protokoll des Kirchenrates vom 5. 11. 1945 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 701). Es handelte sich um eine Sollbestimmung. Eine Gedenkveranstaltung in der Lutherkirche mit Hauptpastor Paul Denker soll der Witwe Stellbrinks „weder gefallen, noch Eindruck gemacht“ haben. Propst i. R. Jürgen Stoldt an Pautke am 4. 2. 1946 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 304). Über die Umsetzung in anderen Gemeinden ist nichts bekannt. 14 Fölsch an den Kirchenrat am 11. 11. 1945 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 108).
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Lübecks gegen den nationalsozialistischen Staat sowie als „unsere Opfer“ bezeichnet hatte15. In dem konkreten Fall sah er sich zusätzlich bestärkt, da er die Handlungen Stellbrinks „im Existenzkampf seines Volkes“ durchaus als Verbrechen ansah. Sein Verweis auf Römer 13, 2–4 lässt sogar eine Billigung der Hinrichtung Stellbrinks erkennen. Weiter erinnerte Fölsch daran, „wie zügellos Stellbrink in seinen ersten Lübecker Jahren an der Seite seines damaligen Lutherkollegen die volle Geltung des Evangeliums“ bekämpft habe und führte seine Hinrichtung auf „Wahrheitsfanatismus“ und „psychopathische Gründe“ zurück: „Es widerstrebt mir daher, nun hier einen Märtyrer der Wahrheit, geschweige denn einen Märtyrer des Evangeliums zu sehen und auf der Kanzel ehren zu sollen.“16 Intern war diese Haltung offensichtlich vorherrschend. Als Gustav Heinemann 1948 auf der Eisenacher Kirchenversammlung die evangelische Blutzeugen-Liste verlas, fehlte der Name Stellbrinks17. Vorausgegangen war eine Korrespondenz zwischen Landeskirche und der Kanzlei der EKD, in der Pautke Stellbrinks Blutzeugenschaft offengelassen hatte. Dieser sei wegen seines politischen Kampfes gegen das Dritte Reich verhaftet worden, nicht wegen seines Kampfes für das Evangelium, auch habe er „in den krassesten Worten […] das Alte Testament beschimpft“18. Bilanzierend bleibt für die ersten 15 Jahre nach der Hinrichtung Stellbrinks festzuhalten, dass das Gedenken an Stellbrink aufseiten der evangelischen Kirche kaum ausgeprägt war und ohne innere Anteilnahme erfolgte. Bei den altlübeckischen Bekenntnispastoren wirkte das Bild des deutschkirchlichen Häretikers nach. Stellbrinks Wandel war „irgendwie“ bekannt, fand aber keinen Eingang in die Erinnerung an ihren früheren Amtskollegen, auch fehlte für sein Handeln, das als vornehmlich politisch motiviert galt, anhaltend das rechte Verständnis. Bei den sogenannten Ostpfarrern, die in der Lübecker Nachkriegskirche zahlenmäßig eine große Rolle spielten, fehlte schlichtweg der Bezug auf das historische Geschehen um Stellbrink19. Auch die Luthergemeinde fiel als Erinnerungs- und Gedenkakteur weitgehend aus. So heißt es in einem Gemeinderückblick aus dem Jahr 1955 lediglich: „Nach dem Heimgang von P[astor]. Mildenstein zog Pastor Stellbrink in das Pastorat I 15 Pautke an die Mitglieder des Geistlichen Ministeriums am 7. 11. 1945 (LKA Kiel, 40.01, Nr. 1057). Der Begriff des Märtyrers wurde erstmals von Reinhard Darimont verwandt: Sie starben für ihren Glauben. In: Lübecker Post vom 10. 11. 1945. Zur allgemeinen Verwendung des Begriffs ,Märtyrer‘ und zur Rezeptionsgeschichte in Bezug auf Stellbrink nach 1945 vgl. Schultze, Märtyrerdebatten; Voswinckel, Abschiedsbriefe, 297–300. Zu Pautke vgl. Buss, Erblasten. 16 Fölsch an den Kirchenrat am 11. 11. 1945 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 108). 17 Vgl. Pastor Wolfgang Lehmann an Hans Asmussen am 26. 4. 1948 (EZA Berlin, 2/92). Vgl. den Gesamtvorgang bei Mensing, Märtyrien, 140–146. 18 Pautke an W. Niemöller am 28. 2. 1948 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 19 Im August 1946 amtierten in Lübeck 16 vollbeschäftigte und sieben hilfsbeschäftigte Pastoren aus den Vertreibungsgebieten bzw. der sowjetischen Besatzungszone. Vgl. Verzeichnis der Ostgeistlichen vom 24. 8. 1946. KABl. Lübeck, Nr. 3 vom 3. 9. 1946.
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ein, der bekanntlich am 10. November 1943 unter der Herrschaft des Nationalsozialismus sein Leben lassen musste.“20 Stellbrinks Nachfolger Gerhard Gülzow, ein prominenter Ostpfarrer, hielt zwar den Kontakt zur Familie, auch gab es jährliche Kranzniederlegungen, hierbei handelte es sich aber mehr um eine Pflichterfüllung als um eine ernsthafte Auseinandersetzung oder ein ehrendes Gedenken. Noch in den 1970er Jahren äußerte Gülzow, die Lutherkirche war 1949 auf Initiative der Familie zur Grabstätte Stellbrinks geworden: „Ich bin ganz und gar unschuldig daran, daß die Angehörigen eine Platte meißeln ließen, in der er als Märtyrer bezeichnet wird.“21 Das Gedenken an Stellbrink wurde hingegen stark von der katholischen Kirche getragen, die ihn von Beginn an, d. h. seit 1944, mit einer nicht selbstverständlichen Selbstverständlichkeit in das Gedenken an „ihre“ drei Kapläne einbezog22. Bereits die erste Zusammenstellung „Wo Seine Zeugen sterben ist Sein Reich“, 1946 vom katholischen Pfarramt der Hansestadt und ohne Beteiligung der Landeskirche herausgegeben, enthielt ein Lebensbild Stellbrinks und eine mehrseitige Erinnerung seiner Tochter Gisela, eine Gedächtnispredigt des Prälaten Bernhard Behnen, in der auch Stellbrink gedacht wurde23. Es war dieses katholische Engagement, das die Landeskirche unter Druck setzte. Propst Pautke hatte in dem erwähnten Schreiben zur Aufnahme in die EKD-Blutzeugenliste die endgültige Entscheidung der Kirchenkanzlei überlassen, sich aus opportunistischen Gründen aber dafür ausgesprochen:
20 Kirchenbrief der Luthergemeinde vom Advent 1955 (KKA Lebeck-Lauenburg, Dokumentation Luthergemeinde). 1959 führten Überlegungen, in der Lutherkirche eine Ehrentafel für den langjährigen Kirchenvorsteher Johannes Sievers anzubringen, zu einem Eklat. Das Vorhaben scheiterte schließlich nach einer Intervention der Landeskirche (OKR Werner Göbel an Pastor Gülzow am 5. 8. 1959. LKA Kiel, 42.08, Nr. 640, I). Wenig einsichtig beschloss der Kirchenvorstand daraufhin das Anbringen eines Bildes im Pastorat. Vgl. das Protokoll vom 20. 8. 1959 (KAL Lebeck, Nr. 58). OKR Sievers, ein überzeugter Nationalsozialist, war in den Jahren 1939 bis 1945 Leiter der Landeskirche und auch überregional fest in das Lager der radikal völkischen Deutschen Christen (Nationalkirchlicher) eingebunden. Er hatte Stellbrink persönlich gekannt und mit ihm in den Jahren 1934 bis 1942 im Kirchenvorstand zusammengearbeitet. Im Juli 1943 sprach er sich als Vorsitzender des Kirchenrates gegen ein landeskirchliches Gnadengesuch zugunsten Stellbrinks aus, da es die Kirche ablehnen müsse, sich für einen „Volksverräter“ einzusetzen. Vgl. Protokoll des Kirchenrates vom 16. 7. 1943 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 384). 21 Zitiert nach Meyer-Rebentisch, Luther, 56. 22 Pautke an W. Niemöller am 25. 2. 1948 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). Vgl. die ökumenische Feier am 9. 11. 1947 in der Katharinenkirche mit Beteiligung von Pautke (LKA Kiel, 40.01, Nr. 66). Die erste öffentliche Erinnerung an Stellbrink erfolgte auf einer städtischen Gedenkveranstaltung durch den SPD-Polizeipräsidenten Otto Passarge (Feier für die Opfer des Faschismus 1945. In: Lübecker Post vom 19. 9. 1945). In den Jahren 1946/1954 gab es mehrere Einladungen an die Familie, u. a. von der Hansestadt Lübeck, der „Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes“ (VVN/BdA) sowie der KPD (Privatbesitz Waltraut Kienitz, mittlerweile AHL, 5.05 Karl Friedrich Stellbrink, Nr. 4). 23 Vgl. Sch-fer, Zeugen. Das Lebensbild stammt von Propst i. R. Jürgen Stoldt aus der schleswigholsteinischen Nachbarkirche, dort einer der wenigen Pröpste, der aufgrund seiner Nähe zur nationalsozialistischen Weltanschauung nach 1945 nicht im Amt bestätigt wurde.
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Hansjörg Buss „Die katholische Kirche hat das kirchliche Märtyrertum ihrer Kapläne in stärkster Weise betont, trotzdem es auch bei ihnen wohl mehr ein politisches ist. Das hat uns, die Landeskirche, in die Zwangslage versetzt, mitzugehen, da sonst die seltsame Lage entstanden wäre, daß die katholische Kirche auch Stellbrink mit ihren 3 Opfern zusammen selig gesprochen hätte und wir nicht.“24
2. Protestantische Annäherungen (1958–1980er Jahre) Eine Revision dieser Haltung erfolgte 1958. Kurz nach dem 15. Jahrestag der Hinrichtung vermerkte Heinrich Meyer, der Pautke nach einer Kampfabstimmung gegen Gülzow ins Bischofsamt gefolgt war, dass die Landeskirche allen Anlass habe, „Herrn Pastor Stellbrink als Zeugen der evangelischen Wahrheit zu ehren“. Vorsichtig formulierte er, dass dieser als „evangelischer Pastor seine seelsorgerischen Pflichten, so wie er sie verstand“ wahrgenommen habe und deshalb hingerichtet worden sei. Zugleich schlug er der Kirchenleitung vor, „eine Ehrung dieses Märtyrers der evangelischen Kirche in würdiger Form – etwa in Gestalt einer Gedenktafel in der Lutherkirche“ zu beschließen25. Zwei Monate später fasste die Kirchenleitung den Beschluss, Stellbrinks und der drei Kapläne jährlich zu gedenken26. Fortan wurde Stellbrink als „Märtyrer“ der evangelischen Kirche anerkannt. Bereits 1960 fand er Eingang in eine Neuauflage des bedeutendsten wissenschaftlichen Lexikons der protestantischen Theologie „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG)27. Die Wende im Gedenken an Stellbrink fiel mit den Recherchen der Journalistin Else Pelke für ihr Buch „Der Lübecker Christenprozeß 1943“ zusammen, für das sie die Witwe Stellbrinks und deren Sohn Gerhard interviewte und das 1961 publiziert wurde. In bisher nicht gekannter Materialfülle berichtete sie über das Leben der vier Geistlichen, die sie allerdings stark 24 Pautke an W. Niemöller am 25. 2. 1948 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 25 Vermerk vom 28. 11. 1958 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). Dabei ging Meyer fälschlicherweise davon aus, dass Stellbrink seine Mitgliedschaft im „Bund für Deutsche Kirche“ offiziell nicht gelöst habe. Wenige Tage vor Meyers Vermerk hatte ein „Freund“ Stellbrinks öffentlich beklagt, dass die Landeskirche im Gegensatz zur katholischen Kirche keine Aktivitäten zur Erinnerung an Stellbrink entfalte (Leserbrief in den Lübecker Nachrichten vom 18. 11. 1958). In diesen Zeitraum fallen auch die staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen den früheren Oberreichsanwalt Ernst Lautz, Ende 1947 im sogenannten Nürnberger Juristenprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt, der in dem Prozess gegen die vier Lübecker Geistlichen die Anklage vertreten hatte. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung hatte sich Lautz in Lübeck niedergelassen. In einem Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Totschlag wurde auch die Personalakte Stellbrinks eingesehen (Oberstaatsanwalt beim Landgericht an Kirchenleitung (Rückgabe) am 2. 12. 1959. LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). Vgl. Voswinckel, Wege, 198 f. 26 Vgl. das Schreiben der Kirchenleitung an die landeskirchlichen Pastoren am 3. 11. 1959 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 27 Vgl. Hohlwein, Kirchengeschichte, 591.
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idealisierte. Ausgehend von dem Leitbegriffs des Martyriums stand dabei das erinnernde Gedenken an den Leidensweg der vier Geistlichen im Mittelpunkt, nicht das Bemühen, deren Handlungen in den historischen Kontext einzuordnen. Bezeichnenderweise wählte sie als Überschrift für ihr Schlusskapitel – das für die Taschenbuchausgabe des Jahres 1974 komplett gestrichen wurde –, die programmatisch-rhetorische Frage Heilige für morgen? In Bezug auf Stellbrink handelt es sich um die erste längere biografische Darstellung, die auch kritische Passagen seines Lebens – hier insbesondere sein Nationalismus und seine zeitweise NSDAP-Parteimitgliedschaft – nicht ausließ, wobei dem „faustischen Sucher“ aber idealistisch-ehrliche Ziele zugestanden wurden: „Die Gemeinschaft von Blut, Geist, Nationalität und Glauben […] war ihm Stoff und Idee zugleich, die Worte hatten für ihn ihren ursprünglich, reinen Klang.“28 Als problematisch erwies sich, dass Pelke in ihrem Buch, das sich rasch als Standardwerk durchsetzte, Deutungsangebote lieferte, die sich bis in einzelne Formulierungen teils bis in die Gegenwart hinein hielten. Dies gilt zuvorderst für die Bagatellisierung der Deutschkirche als einer „kleinere[n] evangelische[n] Bruderschaft mit stark nationalem Charakter“, ein Terminus, der in der Folgeliteratur wiederholt aufgegriffen wurde29. 1963, mit dem 20. Jahrestag der Hinrichtung der vier Lübecker Geistlichen erreichte das Gedenken einen ersten Höhepunkt. Eine gemeinsam von katholischer und evangelischer Kirche ausgerichtete ökumenische Feier in der Katharinenkirche besuchten etwa tausendfünfhundert Gäste30. Am 10. November predigte Bischof Meyer erstmals in der Lutherkirche, ebenfalls dort wurde unter Leitung von Walter Ruder, Direktor des Lübecker Kammerspielkreises, der mit Stellbrink noch persönlich in Kontakt gestanden hatte, das aufsehenerregende Theaterstück „Korczac und die Kinder“ von Ernst Sylvanus über den 1942 in Treblinka ermordeten polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczac aufgeführt31. Doch tat sich die evangelische Kirche 28 Pelke, Christenprozess, 179–204, hier 184. 29 Ebd., 187. Vgl. u. a. Hoffmann / Kohlwage, Stellbrink, 12; Danker / Schwabe, SchleswigHolstein, 70. Vgl. aktuell den Stellbrink-Beitrag bei wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/ Karl_Friedrich_Stellbrink [zuletzt aufgerufen am 25. 5. 2015]. In diesem Zusammenhang wurde oftmals darauf hingewiesen, dass Stellbrink sich nie den Deutschen Christen angeschlossen habe. Stellbrink folgte hier aber dem „Bund für deutsche Kirche“, der auch während des Nationalsozialismus seine Unabhängigkeit wahrte. Neue Forschungsergebnisse belegen, dass die Kontakte Stellbrinks zu den Deutschen Christen zeitweise enger waren als bisher angenommen. Beispielsweise schloss er sich noch im April 1937 im Vorfeld der geplanten Kirchenwahlen dem Lübecker Zusammenschluss der verschiedenen deutschchristlichen Untergruppen und des „Bundes für Deutsche Kirche“ an (Gründungsvereinbarung vom 23. 4. 1937, als Faksimile abgedruckt in: Buss, Kirche (Abb. 17). Vgl. Wagener, Gott. 30 Vgl. Lübecker Nachrichten vom 9. 11. 1963. 31 Ruder gehörte, wie der ebenfalls beteiligte Wolfgang Radbruch, zu den ehemaligen Mitgliedern des Laienspielkreises von Pastor Meyer. In der Korrespondenz mit den beiden jungen Männern, die im Fronteinsatz standen, hatte sich Stellbrink kritisch zum Krieg und zur sogenannten Euthanasie geäußert. Hinweis von Karen-Meyer-Rebentisch am 7. 5. 2015. Zum Laienspielkreis vgl. Buss, Meyer.
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weiterhin schwer : Eigene Gedenkformen etablierte sie nicht. Noch 1970 bemühte sich die Landeskirche, das Gedenken an Stellbrink federführend in die Hände der Luthergemeinde zu legen32. Aber selbst dies gestaltete sich schwierig, wohl auch, weil in Fortführung der BK-Tradition noch immer nicht alle Bedenken gegenüber Stellbrink ausgeräumt waren. Der Kontakt zur Familie wurde gehalten, auch gab es jährliche Kranzniederlegungen und kleinere Veranstaltungen, weiterführende Impulse gingen von der Gemeinde jedoch nicht aus33. Das protestantische Gedenken an Stellbrink beschränkte sich anhaltend auf die Jahrestage. Nachdem Pastor Gülzow nach 25jähriger Gemeindetätigkeit zum Jahresende 1970 in den Ruhestand trat, kam das Gedenken unter Pastor Reinhard Hausmann quasi zum Erliegen34. Dies änderte sich erst 1980, als Pastorin Isabella Spolovjnak-Pridat an die Luthergemeinde wechselte, die sich das Gedenken an ihren hingerichteten Amtsvorgänger mit großem Engagement zu eigen machte. Begünstigt durch den generationellen Umbruch, der auch in der Lübecker Pastorenschaft zunehmend greifbar wurde, und einer partiellen gesellschaftlichen Neubewertung des politisch motivierten Widerstands gegen den Nationalsozialismus, die sich mehr und mehr durchsetzte, wurde der Boden für eine weitere Neuorientierung vorbereitet35. Durch Veröffentlichungen, Fernsehbeiträge und eine zunehmende Berichterstattung in den Medien ist seit den 1960er Jahren eine allmähliche Wissens- und Gedenkverbreiterung zu konstatieren36. Der Begriff „Lübecker Märtyrer“ verankerte sich im kollekti32 Vgl. das Schreiben der Kirchenkanzlei an KV Luther am 16. 10. 1970 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 33 Vgl. das Schreiben des Kirchenvorstandes der Luthergemeinde an Kirchenkanzlei am 21. und 24. 10. 1970 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385); vgl. auch Kirchenkanzlei an den Kirchenvorstand der Luthergemeinde am 9. 11. 1970 (Ebd.). 34 Pastor Hausmann, seit 1968 an der Luthergemeinde tätig, war stark im Umfeld der Vertriebenenverbände (Schlesien) engagiert. Der Causa Stellbrink stand er offensichtlich bezugslos gegenüber. Auch der Kontakt zur Familie Stellbrinks – seine Witwe Hildegard starb 1970, sein Sohn Gerhard 1974 – brach in diesem Zeitfenster ab. 35 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, 307–396; ders., 1945, 23–40 und 129–144; und Rethers, Verräter, 2–27. In diesem Zusammenhang bedeutsam waren die 1954 erschienenen „Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand“. Vgl. Leber, Gewissen. Stellt man in Rechnung, dass auch in Lübeck die Nachkriegskirche ein „Zentrum der Bewahrung und Restitution konservativer Milieus und Denkweisen“ war – gestützt auf das protestantisch-konservative Bürgertum erzielte die „Deutsche Konservative Partei – Deutsche Rechtspartei“ bei den Landtagswahlen 1947 rund 10 Prozent, die Deutsche Partei bei den Bürgerschaftswahlen ein Jahr später circa 12 Prozent der abgegebenen Stimmen –, kann angenommen werden, dass dieser gesellschaftliche Einstellungswandel zum politischen Widerstand sich vor Ort erst allmählich durchsetzte; vgl. Schildt, Ordnungsmächte, 262. Vgl. ders., Konservatismus, 211–213; Botsch, Rechte, 17–23; und Buss, Kirche, 427–454. Wie mühsam dieser Prozess verlief, zeigt beispielhaft die 1962 erschienene Schrift „Verräter oder Märtyrer?“ des katholischen Autors Franz Kloidt, der sich in seinen einleitenden Worten „Blutzeugen im Zwielicht zeitgeschichtlicher Bewertung“ genötigt sah, die anhaltenden Vorwürfe des „Volksverrats“ zurückzuweisen; vgl. Kloidt, Verräter, 7–11. Zu den „Vier Lübeckern“ vgl. ebd., 77–85. 36 So gab es zum 25. Jahrestag einen akademischen Festakt mit ökumenischer Beteiligung (Die Christen und ihr Widerstandsrecht: Lübecker Nachrichten vom 13. 11. 1968), fünf Jahre später
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ven Gedächtnis. Anfang der 1970er Jahre kam es auch zu den ersten Schritten einer ökumenischen Zusammenarbeit, wobei die Impulse weiterhin vor allem von der katholischen Kirche ausgingen37. Exkurs: Stellbrink im Kontext der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lübecker Landeskirche im NS-Staat (1965/1988) Im Gegensatz zu den drei katholischen Kaplänen hatte Stellbrink in seiner Landeskirche über keinen Rückhalt verfügt, auch in seiner Gemeinde war er weitgehend isoliert. Eine Bedeutung für die evangelische Kirche erlangte die Hinrichtung Stellbrinks und der drei katholischen Geistlichen erst nachträglich. Diese Randstellung Stellbrinks spiegelte sich auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lübecker Landeskirche während der Zeit des Nationalsozialismus wider. 1965 veröffentlichte Karl Friedrich Reimers seine Dissertation zur Lübecker Landeskirche im „Kirchenkampf des Dritten Reiches“38. Der Möllner Pfarrerssohn hatte bei Fritz Fischer promoviert, seine Arbeit war von der Landeskirche unterstützt worden. Trotz der zeittypischen Verengung auf den Kirchenkampf hebt sich Reimers quellengesättigte und wissenschaftlich fundierte Arbeit von der damals vorherrschenden Erinnerungs- und Rechtfertigungsliteratur ab, sie endet allerdings mit dem von der Gestapo vermittelten „kirchenpolitischen Waffenstillstand“ vom 3. April 1937, der das Ende des „offenen“ Kirchenkampfes in Lübeck markierte. Die folgenden Jahre bis 1945 werden von Reimers auf weniger als 20 Seiten abgehandelt. Zu Stellbrink, dessen Verhaftung und Hinrichtung knapp und präzise geschildert werden, heißt es: „Stellbrink gehörte nicht zur engeren Bruderschaft der Lübecker Bekenntnispastoren. Als leidenschaftlicher Wahrheitsfanatiker und ,Feuerkopf‘, auf ständiger Suche nach einer unmittelbaren Glaubenserfüllung, sehnte er sich vergebens nach herzlicher Verbundenheit mit seinen evangelischen Glaubensbrüdern – um so aufrichtiger, als er sich schon nach den ersten Monaten des Hitler-Regimes in prüfender Besinnung von dem Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus zu einen ökumenischen Gottesdienst im Dom (Lübecker Nachrichten vom 10. 11. 1973). Vgl. die Kurzchronik: http://www.luebeckermaertyrer.de/de/geschichte/kurzchronik/index.html [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015] sowie die (allerdings unvollständige) Literatur- und Medienübersicht http://www.luebeckermaertyrer.de/de/geschichte/literatur.html [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015]; und Voswinckel, Wege, 211–222. 37 Anfang der 1970er Jahre wurde im Hamburger Untersuchungsgefängnis eine Gedenktafel zur Erinnerung an die vier Hingerichteten angebracht. Einladung vom Verband der römisch-katholischen Gemeinden Hamburgs vom 8. 4. 1970 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). Vgl. den Bericht im Kirchenboten des Bistums Osnabrück vom 20. 7. 1970. Die evangelische Kirche war durch den Lübecker Altsenior Ernst Jansen und den Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber vertreten. 38 Vgl. Linck, Anfänge, Bd. 2, 67–70.
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Hansjörg Buss distanzieren begonnen hatte. Die Tatsache, dass ihm die brüderliche Gemeinschaft mit der lutherischen Bekenntniskirche versagt bleiben, dann aber als einzigem evangelischen Geistlichen die Hansestadt die Gnade des Märtyertodes zuteil werden sollte, führt uns an die Grenze historischer Aussagemöglichkeit.“39
Stephan Linck interpretiert diese Aussage als einen Spagat, Stellbrink einerseits zu ehren, gleichzeitig aber die Selbstdeutung der Lübecker BK-Theologen nicht infrage zu stellen40. In der Tat blieb Reimers in dem zitierten Absatz hinter seinen Möglichkeiten zurück, denn er hatte nicht nur zentrale Stellungnahmen der Lübecker Bekennenden Kirche ausführlich zitiert, in denen Stellbrink namentlich als Vertreter einer bekenntniswidrigen kirchlichen Richtung benannt wurde, sondern ihm lagen auch BK-interne Mitschriften von öffentlichen Vorträgen Stellbrinks vor, auf die er allerdings nicht zurückgriff41. Vor dem Hintergrund der Ereignisse der Jahre 1942/1943 waren Reimers die Komplexität des Vorganges und die ihm innewohnende Sprengkraft offenbar bewusst. Nichtöffentlich fiel sein Urteil deutlicher aus. Als 1962, also drei Jahre vor der Veröffentlichung seiner Dissertation, im Zusammenhang mit der Namenssuche für das Gemeindezentrum in Mölln, wo sein Vater Pastor war, der Name Stellbrink fiel, erklärte Reimers diese Überlegung gegenüber Bischof Meyer aus theologischen Gründen für abwegig42. Die zweite zentrale Arbeit zur Lübecker Landeskirche in der NS-Zeit, ein komprimierter Aufsatz des 1941 in Lübeck geborenen Kirchenhistorikers Wolf-Dieter Hauschild, erschien 1988. Stellbrink wird hier nur einmal genannt, im Zuge der nationalsozialistischen Umgestaltung der Landeskirche43. Bereits 1985, in einem Aufsatz zum kirchlichen Widerstand am Beispiel der Lübecker Landeskirche – der sich im Kern auf die Bekennende Kirche als innerkirchliche Opposition und deren Auseinandersetzung mit dem 39 Vgl. Reimers, Lübeck, 374 [Hervorhebung im Original]. 40 Vgl. Linck, Anfänge, Bd. 1, 92. 41 Vgl. die Eingabe des Bruderrates der Bekennenden Kirche Lübecks vom 14. 11. 1935 an das Reichskirchenministerium (RMkA) und den Reichskirchenausschuss bzw. Antrag zur Neuordnung der Ev.-Luth. Kirche in der Freien und Hansestadt, überreicht an das RMkA zu Händen Ministerialrat Dr. Julius Stahn am 5. 5. 1936 (Auszugweise Abgedruckt in: Reimers, Lübeck, 187–191, 200–201). Eine Mitschrift des Stellbrink-Vortrags vom 28. 2. 1935 findet sich in: LKA Kiel, 49.01, Nr. 50. Vgl. eine weitere Mitschrift von Rollenhagen (LKA Kiel, 98.86, Nr. 41). Ebenso wenig berücksichtigte er ein Schreiben der „Bekennenden Lübecker Kirche“ an Bischof Balzer, in dem Stellbrink vorgeworfen wurde, die Grundlage der Kirche verlassen zu haben. Otto Schorer, Paul Ebell und Friedrich Wilcken an Balzer am 7. 3. 1935 (LKA Kiel, 49.01, Nr. 58). Die Unterzeichnenden erklärten, dass die Forderungen Stellbrinks zur Beseitigung des Alten Testaments, zur Ausmerzung des Matthäus-Evangeliums und der Paulusbriefe sowie für eine „artgemäße Verkündung des deutschen Heilands als Herzog und starken Gotteshelden“ mit der evangelischen Lehre unvereinbar seien: „Von der Grundlage des Herrn Pastor Stellbrink aus lässt sich ein Abwehrkampf gegen das neue Heidentum nicht führen. – Es ist nur ein Mangel an Folgerichtigkeit, wenn er von seinem Ausgangspunkt aus nicht zur Ablehnung von Jesu kommt.“ 42 Vgl. das Schreiben Reimers an Meyer am 17. 8. 1962 (LKA Kiel, 42.07, Nr. 385). 43 Vgl. Hauschild, Kirche in Lübeck, 166.
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deutschchristlichen Kirchenregiment beschränkte – war Hauschild nur in seinem Schlussabsatz auf die „merkwürdige Gestalt“ von Stellbrink eingegangen: „Er war gewiß kein Widerstandskämpfer, doch wird man zurecht seinen Namen überall dort nennen müssen, wo das Thema ,kirchlicher Widerstand‘ behandelt wird.“44 Nolens volens stellte Hauschild damit die Sonderstellung Stellbrinks heraus, der sich in die Grunderzählung des Lübecker Kirchenkampfes kaum harmonisch einordnen ließ. Ein Festvortrag, den Hauschild am 11. November 1983 anlässlich des 40. Jahrestages der Hinrichtung der vier Geistlichen im Lübecker Dom gehalten hatte, steht im auffälligen Kontrast zu den beiden genannten Beiträgen. Gestützt auf die bis dato bekannte Literatur und eigenen Auswertungen des Gemeindeblattes der Luthergemeinde führte der wohl beste Kenner der Lübecker Kirchengeschichte Stellbrinks Wandel, der letztlich in der Gegnerschaft zum NS-Staat mündete, allein auf kirchlich-theologische Gründe zurück. Dass Stellbrink, den er als einen „Bekenner von ganz eigenem Profil, mit einem persönlichen Format, das sich jeder Schablonisierung entzieht“ charakterisierte, als kirchlicher Märtyrer starb, stand für ihn außer Zweifel45. Dennoch wirken die Passagen, die Stellbrink betreffen, insgesamt inkonsistent46. Auch ist die vollständige Ausblendung von Stellbrinks Kontakten zu den katholischen Geistlichen bemerkenswert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der Vortragsort zugleich eine Ausstellung zu den vier Lübecker Geistlichen beherbergte47. Endgültig zum erinnerungspolitischen Akteur wurde Hauschild mit seiner Forderung nach der Benennung von Kirchen bzw. Gemeindehäusern nach Stellbrink48. Insgesamt manifestiert sich in dem Vortrag eine genuin protestantische Sichtweise, die Hauschild mit seinem Verweis auf Artikel 21 der Confessio Augustana „Vom Dienst der Heiligen“ in seinem Schlussabsatz nochmals deutlich unterstrich. Interessanterweise griff er diesen Gedanken in einem seiner letzten Beiträge, den er vor seinem Tod verfasste – Hauschild starb 2010 – erneut auf. Noch einmal monierte er das Fehlen einer 44 Hauschild, Widerstand, 98. 45 Hauschild, Kirche, 255. Hauschild würdigte Stellbrink als den „einzigen Märtyrer unter den evangelischen Pastoren Lübecks“. Recht unvermittelt erinnerte er gleichwohl an den früheren Dompastor Helmuth Johnsen, seit 1934 deutschchristlicher Landesbischof in Braunschweig, der 1947 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft umkam, dem 1974 bei einer ökumenischen Andacht im Kloster Beuron als Märtyrer gedacht worden sei. Als den ersten „Lübecker Märtyrer“ würdigte er zudem den konfessionslosen Sozialdemokraten und Journalisten Fritz Solmitz, der als überzeugter Demokrat und Pazifist und aufgrund seiner jüdischen Herkunft im September 1933 in Hamburg-Fuhlsbüttel ermordet wurde (Ebd., 257). 46 Schon 1977 hatte Hauschild zum 40-jährigen Jubiläum der Lutherkirche über „Volkskirche und Bekenntniskirche in Vergangenheit und Gegenwart“ gesprochen. Ausweislich eines Zeitungsartikels bezeichnete er Stellbrink hier als einen Theologen, „für den die Volkskirche auch eine bekennende Kirche“ gewesen sei. (Lübecker Nachrichten vom 1. 11. 1977). 47 Die Ausstellung war vom „Arbeitskreis 10. November“ und anderen „Ehemaligen“ erstellt worden. Eröffnet wurde sie vom katholischen Propst Theobald Bultjer und Propst Niels Hasselmann. 48 Vgl. Hauschild, Kirche, 246.
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Stellbrink-Kirche bzw. die Widmung eines anderen Gebäudes mit diesem Namen, wofür er eine „kaum praktizierte Erinnerungskultur und die protestantische Scheu vor dem Märtyrerbegriff“ verantwortlich machte49.
3. Ehrendes Gedenken seit 1983 Entscheidende Weichenstellungen für das Gedenken an die vier Lübecker Geistlichen wurden 1983 getroffen. Am bedeutsamsten war die Gründung des „Arbeitskreises 10. November“, unter dessen Dach sich die ökumenische Zusammenarbeit zusehends vertiefte50. Die Deutung der Ereignisse als „Ökumene im Widerstand“, so auch der prägnante Titel des 2001 von Helmut Siepenkort, Propst der Propsteikirche Herz Jesu, und Isabella SpolovjnakPridat, Pastorin der Luthergemeinde, herausgegebenen Buches, setzte sich als Haupterzählung durch51. Stellbrink stieß nun auch innerhalb der evangelischen Kirche und in der Luthergemeinde auf vermehrtes Interesse. Ein „TabuThema“ sei, so heißt es im aktuellen Internetauftritt der Luthergemeinde, angekommen52. Die Anzahl der Aktivitäten abseits der etablierten Gedenkveranstaltungen am Jahrestag der Hinrichtung nahm zu, darunter waren wichtige Wegmarken wie z. B. drei gut besuchte Gemeindeabende mit früheren Konfirmandinnen und Konfirmanden Stellbrinks53. 1988 predigte mit Dompastor Jürgen Reuß erstmals ein evangelischer Geistlicher in einem katholischen Märtyrergottesdienst. Eine herausragende Bedeutung erlangte schließlich der 50. Jahrestag der Hinrichtung Stellbrinks. Die Nordelbische Kirche, in der die Lübecker Landeskirche mittlerweile aufgegangen war, nahm das Jubiläum zum Anlass, Stellbrink offiziell zu rehabilitieren. Im Juni 1993 erklärte sie: „Er ist den schweren Leidensweg eines Zeugen der evangelischen Wahrheit gegangen, der sein Leben für die erkannte Wahrheit geben musste.“54 Auf Antrag der Kirchenleitung hob das Berliner Landgericht zudem das Todesurteil gegen Stellbrink auf. Damit war Stellbrink auch rechtlich rehabilitiert55. Maßgeblich engagierte sich dabei der Vorsitzende der Kirchenleitung, Karl Ludwig Hauschild, Märtyrergedenken, 339. Vgl. Weisser, Arbeitskreis. Vgl. Spolovjnak-Pridat / Siepenkort, Ökumene. http://www.kk-ll.de/index.php/luebeck-luther-melanchthon/geschichte [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2014]. Zum 40. Jahrestag predigte der damalige Propst Niels Hasselmann in der Lutherkirche. 53 Vgl. Kruckis, Erinnerungsarbeit. 54 Erklärung der Kirchenleitung vom 23. 6. 1993. Abgedruckt in: Hoffmann / Kohlwage, Stellbrink, 18–19 f. 55 Die Frage der Rehabilitierung Stellbrinks hatte sich bereits Mitte der 1960er Jahre gestellt. Sie wurde allerdings als chancenlos angesehen, auch, da die Prozessakten als verschollen galten. (Vermerk vom 16. 6. 1964 LKA Kiel, 42.07, Nr. 385).
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Kohlwage, der seit 1991 als Bischof für den Sprengel Holstein-Lübeck zuständig war. Kohlwage, in Lübeck aufgewachsen, wo er auch die Bombardierung Lübecks am 28./29. März 1942 („Palmarum“) erlebte, war Anfang der 1960er Jahre Vikar an der Luthergemeinde gewesen56. In Sachen „Lübecker Märtyrer“ ist Kohlwage bis heute sehr engagiert. Ebenfalls 1993 wurde im Kulturforum Burgkloster der Stadt Lübeck – hier hatte im Juni 1943 der Volksgerichtshofprozess gegen die vier Geistlichen stattgefunden – die vielbeachtete Ausstellung zum „Leben und gewaltsamen Sterben der vier Lübecker Geistlichen in der Zeit des Nationalsozialismus“ gezeigt, die unter Federführung der Historikerin und Leiterin des Burgklosters, Ingaburgh Klatt, in Kooperation mit dem „Arbeitskreis 10. November“ erarbeitet worden war. Im Anschluss wanderte sie als Dauerausstellung (bis 2013) auf die Empore der Lutherkirche und wurde damit im Wortsinn zu einem omnipräsenten Bestandteil der Gemeindegeschichte: Am historischen Ort trug sie dazu bei, dass die Erinnerung an Pastor Stellbrink und die katholischen Kapläne in der Gemeinde teils identitätsstiftende Züge annahm57. In der Gesamtschau ist festzuhalten, dass in dieser Phase die ehrende Erinnerung an die vier Geistlichen im kulturellen Gedächtnis der Stadt wie in der Kirche ankam und zu einem festen Bestandteil der Lübecker Gedenk- und Erinnerungskultur wurde58.
4. Gedenken im neuen Jahrtausend Zur Jahrtausendwende setzen zwei Großprojekte neue Impulse59. In der Nordelbischen Kirche begann Ende der 1990er Jahre ein intensiver Austausch zur Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum, der am 22. September 2001 in der Synodenerklärung „Christen und Juden“ mündete60. Als Teil des Gesamtprozesses wurde parallel zu der in Rendsburg tagenden Synode die von Stephan Linck konzipierte Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933–1945“ eröffnet61. In unserem 56 Die Konfirmationspredigt Stellbrinks am Palmsonntag 1942 war der unmittelbare Anlass für seine Verhaftung. 57 Vgl. Klatt, Augen; Merz, Pfaffen; und Kirchenvorstand der Luthergemeinde Lebeck, 80 Jahre. Zur Lübecker Gedenkkultur nach 1945 vgl. Rathmer, Stadt. 58 Vgl. Meyer, Weltkrieg, 721. 59 Das EKD-Projekt „Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ spielte im diesem Zusammenhang keine hervorgehobene Rolle. Vgl. Schultze / Kurschat, Ende; Kurschat, Stellbrink; und Kaiser, Märtyrertum. 60 Christen und Juden. Erklärung der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche vom 22. 9. 2001. Abgedruckt in: Gçhres / Linck / Liss-Walther, Jesus, 15–16. 61 Das Ausstellungsprojekt erwies sich als Initialzündung für weitere Forschungsprojekte, so dass sich der Forschungsstand zu den vier Vorgängerkirchen der Nordelbischen Kirche deutlich
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Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Ausstellung mit der biografischen Station zu Hauptpastor Friedrich Andersen erstmalig den „Bund für Deutsche Kirche“ in breiter Öffentlichkeit thematisierte62. Ein Folgeprojekt war die Dissertation des Verfassers, die mit Blick auf Stellbrink und die bis dahin vernachlässigte Einordnung in den gesamtlübeckischen Kontext mit einem Stipendium der Nordelbischen Kirche unterstützt wurde. 2007 erfolgte eine erste Veröffentlichung, die neue biografische Details über Stellbrink bekannt machte und sein Engagement für den „Bund für Deutsche Kirche“ als handlungsleitend in den Mittelpunkt stellte. Bezüglich des landeskirchlichen Nichtgedenkens an Stellbrink in der Nachkriegszeit, dem lange Zeit mit Unverständnis begegnet worden war, wurde herausgearbeitet, dass dies durchaus dem konsequenten Vorgehen der neuen Kirchenleitung beim Neuaufbau der Kirche entsprach, deren Grundlagen sie für zerstört hielt63. Im Raum stand damit nicht mehr das Narrativ des geläuterten Nationalsozialisten, der den christentumfeindlichen Unrechtscharakter des NS-Staates erkannt, einen Wandlungsprozess durchgemacht hatte und schließlich „seine schlichte Erkenntnis, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, unter dem Fallbeil bezeugte“, sondern die Neuaneignung der Frage, wie mit einem Pastor umzugehen sei, der mit seinen Auslassungen zeitweise den Boden der Kirche verlassen hatte und – dieser Punkt fand sehr viel stärkere Beachtung als in der Nachkriegszeit – der offenen Antisemitismus und antikatholische Positionen vertreten hatte64. Vor dem Hintergrund der intensiven Vorarbeiten des Seligsprechungsverfahrens für die drei katholischen Geistlichen und der in deren Folge verstärkten ökumenischen Zusammenarbeit erwiesen sich diese Erkenntnisse als problematisch und störend65. Rückblickend jedoch fanden
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verbesserte. Vgl. u. a. Gçhres / Linck / Liss-Walther, Jesus; Buss u. a., Chronik; Buss, Folgeprojekte; und Pr-sident des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Kirche. Vgl. Linck, Ausstellungstexte, 60–61. Auf lokaler Ebene wurde die Deutschkirche insbesondere am Ausstellungsstandort Itzehoe aufgegriffen. Vgl. Schwichtenberg, St. Laurentii; ders., Kirche. 2004 erschien infolge der Ausstellung die Arbeit von Wattenberg, Andersen. Vgl. Buss, Andersen. Vgl. Buss, Märtyrer ; vgl. u. a. Hoffmann / Kohlwage, Stellbrink, 17–18. Hauschild hingegen attestierte noch 2009 der BK-Kirchenleitung ein „skandalöses Fehlurteil in Anlehnung an das NS-Volksgerichtshofurteil.“ Hauschild, Märtyrergedenken, 338. Saltzwedel, Luthergemeinde, 138. Vgl. das Protokoll der „Arbeitsgruppe Lübecker Märtyrer“ vom 19. 9. 2007 (LKA Kiel, Registratur 982.03.10). Die Einsichtnahme der Registraturunterlagen „EKD-Projekt ev. Märtyrer/ Blutzeugen“ im Landeskirchlichen Archiv der Nordkirche, Standort Kiel, erfolgte mit freundlicher Genehmigung von dessen Leiterin Frau Dr. Annette Göhres. Bereits zwei Jahre zuvor hatte ein Werkstattbericht des Verfassers vor dem „Ökumenischen Arbeitskreis Lübecker Märtyrer“ für Irritationen gesorgt, und, nachdem der Journalist Andreas Hüser unmittelbar vor dem 68. Jahrestag der Hinrichtung in einer katholischen Kirchenzeitung aus dieser nichtöffentlichen Sitzung berichtet hatte, eine gemeinsame Stellungnahme des Erzbistums Hamburg und der Nordelbischen Kirche evoziert (Sag immer Vier. In: Neue Kirchenzeitung – Die Woche im Erzbistum Hamburg 44 vom 6. 11. 2005; „Offene und schonungslose Aufklärung“. In: ebd. 45 vom 13. 11. 2005). Vgl. auch Voswinckel, Abwege.
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die historisch-kritischen Grundthesen des Verfassers trotz abweichender Schwerpunkt- und Akzentsetzungen in die Forschung66. Die Frage, wie Stellbrink zu gedenken sei, wurde innerhalb der Nordelbischen Kirche nun intensiv diskutiert. Deren Theologischer Beirat, der um eine Stellungnahme zum Märtyrergedenken in der evangelischen Kirche gebeten worden war, stellte im Juni 2007 fest, dass es kein objektives Kriterium gebe, wie „heiligmäßig“ der Lebenswandel in der entscheidenden Lebensphase vor dem Tod gewesen sein müsse bzw. welches Ausmaß an „Verfehlungen“ für ein ehrendes Gedenken tolerabel sei: „Theologisch bedeutsam ist, dass jeder, der hoffen darf, durch Christus gerechtfertigt zu werden, grundsätzlich unseres Gedenkens würdig ist und dass der ,Schatten‘ der Personen immer Teil des Gedenkens sein sollte. Die Abwägung, wann dies opportun ist und wann nicht, unterliegt aber historisch-kontingenten Bedingungen und der praktischen Urteilskraft der Beteiligten.“67
Des Weiteren gab er der Verwendung des Begriffs des „Glaubenszeugen“ Vorrang vor dem als enger verstandenen Begriff des „Märtyrers“, der „allzu leicht die Schattenseiten der betreffenden Personen“ verdecke, die entsprechend Luthers „simul iustus et peccator“ [zugleich gerecht und Sünder] immer in das Gedenken zu integrieren seien68. Letztendlich bestätigte die Kirchenleitung ihre Erklärung von 199369. Ein zweiter wesentlicher Impuls für die Neubeschäftigung mit Stellbrink und der Frage, wie das (landes)kirchliche Erinnern und Gedenken an ihn aussehen könne, war das bereits erwähnte Seligsprechungsverfahren, das 66 Vgl. Voswinckel, Wege, 75–110. Dies gilt auch für einzelne Detailfragen, wie z. B. die der nur mündlich überlieferten Kontakte Stellbrinks zu benachbarten „Juden“ (d. h. sogenannten nichtarische Christen), die der Veröffentlichung von Pelke folgend in der Literatur zu Stellbrink immer wieder aufgegriffen und – teils in falscher Darstellung – in einen handlungsleitenden Zusammenhang gestellt wurden. Anhand der bisher bekannten Quellen sind diese nicht zu verifizieren: „Wie der ,Judenkontakt‘ genau aussah und ob und inwieweit diese Vorgänge seine antijüdische Einstellung beeinflußt oder verändert haben, entzieht sich unserer Kenntnis.“ Ebd., 109. 67 Stellungnahme des Theologischen Beirates vom 5. 7. 2007. Ich danke dem damaligen Beiratsvorsitzenden Propst Dr. Horst Gorski, ab 1. 9. 2015 Leiter des Kirchenamtes der VELKD und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD, dass er mir die Stellungnahme zur Verfügung gestellt hat. 68 Das Gedenken an Glaubenszeugen sei „wesentlicher Bestandteil unseres Glaubens, weil wir ohne die ,Wolke der Zeugen‘ (Hebräer 12,1) vom Ursprung unseres Glaubens und von der Glaubensgemeinschaft mit unseren Schwestern und Brüdern abgeschnitten wären.“ Zum Begriff des Märtyrers wurde zudem angeführt, er sei „wegen seiner Verwendung für Selbstmordattentäter in der derzeitigen medialen Öffentlichkeit vermutlich im Augenblick ungeeignet, um eine evangelische Gedenkkultur zu fördern.“ Ebd. 69 Vgl. FN 53. Niederschrift der Kirchenleitung über die 38. Sitzung der 6. Kirchenleitung am 2./ 3. 4. 2007 (LKA Kiel, Registratur 982.03.10). Die Einsichtnahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Leiterin des Landeskirchlichen Archivs der Nordkirche Frau Dr. Annette Göhres.
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maßgeblich auf Initiative des Hamburger Weihbischofs Dr. Werner Thissen in Gang gesetzt worden war. Nach mehrjährigem Vorlauf sprach die katholische Kirche die drei Kapläne am 25. Juni 2011 in Lübeck selig70. Karl Friedrich Stellbrink wurde ehrend erwähnt, als Vertreter der evangelischen Kirche war der Vorsitzende der Landeskirchenleitung, Bischof Gerhard Ulrich, in das Pontifikalamt eingebunden. Die Hinwendung Stellbrinks zum gekreuzigten Christus und dessen Überwindung antikatholischer Einstellungen beurteilte er als Abkehr von der nationalsozialistischen Wahnvorstellung eines heldischen bzw. arischen Jesus71. Die Frage, inwieweit die Seligsprechung der drei katholischen Kapläne das gemeinsame Gedenken an die vier Hingerichteten letztendlich eher gestärkt oder geschwächt hat, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden72. Ohne Zweifel aber markiert deren offizielle Kanonisierung einen Höhepunkt des öffentlichen Gedenkens, der kaum mehr zu überbieten ist73.
70 Das entsprechende Dekret war von Papst Benedikt XVI. am 1. 7. 2010 erlassen worden. Vgl. Erzbistum Hamburg / Bistum Osnabreck, Seligsprechung (Wer sterben kann, wer will den zwingen?); ders., Seligsprechung. In: http://www.luebeckermaertyrer.de/de/seligsprechung/ chronik/index.html [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015]. 71 Vgl. die Dokumentation der Messfeier. http://www.youtube.com/watch?v=bCQt50WApnY [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015], hier ab Minute 46. 72 Vgl. z. B. Weiss, Blickwinkel; Buchner, Seligsprechung. Neben grundsätzlichen theologischen Bedenken wurden wiederholt auch die sich fast zwangsläufig einstellenden Vereinnahmungstendenzen moniert. Ähnliche Bedenken bestanden auch in der Familie Stellbrink. Bestehende Überlegungen, Stellbrink zusammen mit den drei katholischen Kaplänen auch formal seligzusprechen, wurden nach einem Gespräch zwischen Bischöfin Barbara Wartenberg-Potter und Erzbischof Werner Thissen (2003) nicht mehr weiterverfolgt (Sachstandbericht für die Kirchenleitung vom 14. 3. 2007. LKA Kiel, Registratur 982.03.10). Die Einsichtnahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Leiterin des Landeskirchlichen Archivs der Nordkirche, Frau Dr. Annette Göhres. 73 Bestandteil des mehrjährigen Vorlaufs war eine intensive Medienarbeit. Über das Verfahren wurde regelmäßig berichtet, die Anzahl an Zeitungsartikeln ist kaum zu überschauen, zudem gab es weitere Veröffentlichungen, Fernseh-, Radio- und Videobeiträge, Vorträge, Kirchentagsveranstaltungen usw.; auch gewannen die jährlichen Gedenkfeiern an Bedeutung. Weiterhin beförderte das Seligsprechungsverfahren weitere Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, z. B. die Errichtung eines Denkmals unter den Rathausarkaden in Lübeck, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen. Vgl. u. a. Voswinckel, Wege, 211–226. Vgl. http://www.luebeckermaerty rer.de/de/aktuelles/pressebereich/index.html [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015]. 2008 wurde im Lübecker Dom eine Ausstellung über den 2005 seliggesprochenen Kardinal Clemens August Graf von Galen und sein Verhältnis zu den vier Lübecker Geistlichen gezeigt. Vgl. Thissen, Zeit. Große Bedeutung kam der Entdeckung des bis dahin als verschollen geltenden Abschiedsbrief Stellbrinks durch Peter Voswinckel in Unterlagen des Berliner Bundesarchives zu. Vgl. Voswinckel, Abschiedsbriefe.
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5. Ausblick Die Berliner Tagung „Zwischen Verklärung und Rezeption. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes nach 1945“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte vom 7. bis 9. November 2014 fiel auf den 71. Jahrestag der Hinrichtung der vier Lübecker Geistlichen. Wie gezeigt wurde, war das protestantische Gedenken an Karl Friedrich Stellbrink von großen Brüchen bestimmt. In vielen Bereichen wie z. B. der Einstellung zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder dem Verständnis von Ökumene war die Geschichte der Erinnerung an Stellbrink auch ein Spiegel der innerkirchlichen wie gesamtgesellschaftlichen Grundentwicklungen. Heute nimmt die Hinrichtung der vier Geistlichen in der Lübecker Gedenkund Erinnerungskultur einen herausragenden Platz ein. Ihr gemeinsames Sterben war und ist ein bedeutender Baustein einer gelebten und gewollten Ökumene, das gemeinsame Gedenken gilt heute als selbstverständlich74. Unterschiedliche Erinnerungsnarrative und Gedenktraditionen, letztendlich auch eine anhaltende Deutungskonkurrenz, bleiben trotz des erklärten Willens zur ökumenischen Zusammenarbeit hiervon freilich unberührt. Zwei aktuelle Erinnerungsprojekte machen dies deutlich: Im Nachgang zum Seligsprechungsverfahren für die drei katholischen Geistlichen wurde im September 2012 die Erzbischöfliche Stiftung Lübecker Märtyrer gegründet75. Ihrem Selbstverständnis nach „pflegt sie das Gedenken an die Lübecker Märtyrer in spiritueller, liturgischer und ökumenischer Hinsicht und entwickelt es weiter“, auch trägt sie die Gedenkstätte in der katholischen Propsteikirche Herz Jesu zu Lübeck, die im Oktober 2013 neu eröffnet wurde. Allein die Bausumme für den Anbau von über einer Million Euro macht deutlich, dass die „Lübecker Märtyrer“ einen anderen, höheren Stellenwert bekommen haben. Das Gedenken ist erstmals institutionalisiert und auch professionalisiert: mit hauptamtlichem Geschäftsführer, Stiftungsrat und Stiftungsbeirat, einer Gedenkstätte mit regelmäßigen Öffnungszeiten, Kursprogrammen für Ehrenamtliche, einem professionellen Internetauftritt einschließlich der Kontaktpflege in den Neuen Sozialen Medien und Videos 74 Vgl. Mecklenfeld / Kallies / Pabst, Freunde. Beispielsweise arbeiten die „Erzbischöfliche Stiftung Lübecker Märtyrer“ und die „Gedenkstätte Lutherkirche“ bei der Ansprache von Schulen intensiv zusammen. 75 Die Anwesenheit von Landtagspräsident Klaus Schlie, Bernd Heinemann, erster Vizelandtagspräsident, Ministerpräsident a. D. Björn Engholm und Stadtpräsidentin Gabriele Schopenhauer bei einem Festakt im Rathaus der Hansestadt Lübeck unterstreichen die Bedeutung der Stiftung. Dem ersten Stiftungsrat gehören von evangelischer Seite aus u. a. die Pröpstin in Lübeck-Lauenburg, Petra Kallies und Ingaburgh Klatt, langjährige Leiterin des Lübecker Kulturforums Burgkloster und Synodale der Synode der ev.-luth. Kirche in Norddeutschland an. Vgl. http://www.erzbistum-hamburg.de/?we_objectID=1529 [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015].
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auf Youtube. Zudem verwaltet die Stiftung den ihr anvertrauten Nachlass der „Lübecker Märtyrer“ und stellt ausgewählte Dokumente als Online-Ressource zur Verfügung. Ein markantes Logo – der Schriftzug „Lübecker Märtyrer“ und die stilisierten Porträts der vier hingerichteten Geistlichen – hat einen hohen Wiedererkennungswert. Es ist zu erwarten, dass der Internetauftritt der Stiftung zu einem zentralen Medium für das Gedenken an die hingerichteten Geistlichen wird. Entstanden ist ein dauerhafter und solide ausgestatteter erinnerungspolitischer Akteur, der die Erinnerung und das Gedenken voraussichtlich nachhaltig prägen wird. Nach aktuellen Angaben des Erzbistums Hamburg (2016) ist die Gedenkstätte mit jährlich etwa 10.000 Besucherinnen und Besuchern mittlerweile die am meisten frequentierte Gedenkstätte zur Erinnerung an den Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein76.
Logo „Lübecker Märtyrer“ (Bildgeber : Stiftung Lübecker Märtyrer/Erzbistum Hamburg)
Auch die Bedeutung der Lutherkirche als Erinnerungsort wurde aufgewertet. Neben den KZ-Gedenkstätten in Ladelund und Neuengamme fungiert sie nun als eine von drei NS-Gedenkstätten der Nordkirche. Mittel der Nordkirche, des Kirchenkreises Lauenburg-Lübeck und der „Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten“ ermöglichen eine kontinuierliche Gedenkstättenarbeit77. Kernstück ist die von der Kulturwissenschaftlerin Karen Meyer-Rebentisch – mittlerweile als Projektleiterin hauptamtlich angestellt – neu konzipierte Dauerausstellung „,…ich kann dich sehen.‘ Widerstand, Freundschaft, Ermutigung der vier Lübecker Märtyrer“ auf der Empore in der Lutherkirche, die nach langer Vorlaufzeit am 8. November 2014 eröffnet wurde. Dem Ansatz folgend, keinen Ort der Verehrung, sondern der kritischen Dokumentation und Reflexion zu schaffen, werden hier neue Ergebnisse aus der historischen Forschung aufgegriffen: Stellbrink wird stärker als bisher kontextualisiert und in die Geschichte seiner Luthergemeinde eingeordnet78. Eine Besonderheit ist die intensive Reflexion des Ortes, in dem die Ambivalenz Stellbrinks sinnbildlich zur Entfaltung kommt. Wie der Historiker und da76 Vgl. Newsletter, 32. 77 Vgl. u. a. http://www.kk-ll.de/luther-melanchthon-luebeck-gedenkstaette-lutherkirchen [zuletzt aufgerufen am 4. 5. 2015]. 78 Vgl. Meyer-Rebentisch, Luther.
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malige Gedenkstättenbeauftragte der Nordelbischen Kirche Stephan Linck herausgearbeitet hat, war die 1937 fertiggestellte Lutherkirche, der einzige Lübecker Kirchenbau während der NS-Zeit, als steingewordener und „symbolträchtiger Ort deutschkirchlicher Verkündung“ konzipiert worden. Deshalb war die Kirche nicht – wie üblich – nach Osten, sondern nach Norden hin ausgerichtet79. Der Versuch im Zuge der Neugestaltung des Kircheninnenraums im Jahr 2014 zumindest eine symbolische Ostung der Kirche in Form einer lichtdurchfluteten Gaube herzustellen, scheiterte zunächst an der Denkmalschutzbehörde. Stattdessen wurde die Ausrichtung des Altarraums nach Osten mit künstlerischen Mitteln und verstärkt durch ein aufwändiges Lichtkonzept erreicht80. Mittels einer Spiegelinstallation des Künstlers Werner Mally wurde die 1937 von dem Bildhauer Otto Flath geschaffene überlebensgroße Skulpturengruppe „Die deutsche Familie“ – Großeltern, der mit einem Schwert bewaffnete Vater, Mutter, vier Kinder – kritisch reflektiert, die schon 1990 vom Altarraum in den Seiteneingang verlegt worden war81. Bei aller Gemeinsamkeit ist die unterschiedliche Grundanordnung der beiden Gedenkorte Propsteikirche Herz Jesu und Lutherkirche dennoch eklatant. Während die Krypta der Propsteikirche Herz Jesu als „Ort der Verehrung der Lübecker Märtyrer“ seit 1955 fester Bestandteil der Gedenkstätte ist, fehlt in der Ausstellung der Luthergemeinde ein derartiges Element: Die Grabstätte Stellbrinks nimmt keinen hervorgehobenen Platz ein. Vor dem Hintergrund des Gesagten und weil die Generation der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in absehbarer Zeit nicht mehr zu Verfügung stehen wird, ist zu erwarten, dass sich das Erinnern und Gedenken an die hingerichteten Geistlichen in den nächsten Jahren und Jahrzenten verändern und weiterentwickeln wird82. Ein Beispiel für eine neue bzw. zumindest veränderte Deutung der Ereignisse bot jüngst die Großnichte Stellbrinks, Barbara Stellbrink-Kesy, die im Mai 2014 während eines Podiumsgesprächs in der Berliner Topografie des Terrors nachdrücklich an die „vergessene“ Geschichte von Stellbrinks Schwester Irmgard erinnerte, die im Zusammenhang der nationalsozialistischen Vernichtung des sogenannten lebensunwerten Lebens 79 Linck, Anfänge, Bd. 1, 86. Die Lutherkirche war auch die erste Kirche überhaupt, in der Konfirmandinnen und Konfirmanden nach einem deutschkirchlichen Ritus eingesegnet wurden (1938). Vgl. Buss, Meyer. 80 Mündliche Mitteilung von Karen Meyer-Rebentisch vom 5. 11. 2014. Vgl. Endlich / Geyler von Bernus / Rossi8, Christenkreuz, 66–68; Linck, Anfänge, Bd. 1, 86–90. 81 Die weitere werkkritische Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Kunst ist angedacht, beispielsweise mit Erich Klahn, der 1922 zum Gedenken an die Weltkriegstoten der Luthergemeinde ein Ehrenmal in Form eines Glasfensters schuf. Vgl. Repetzky, Verhältnis. 82 Der Nachlass Karl Friedrich Stellbrinks (05.05 Karl Friedrich Stellbrink) wurde im Herbst 2014 dem Archiv der Hansestadt Lübeck übergeben. Er umfasst familiäre Unterlagen aus dem Privatbesitz der Stellbrink-Tochter Waltraut Kienitz und der Enkelin Anke Laumeyer (d. h. Unterlagen ihres Vaters Gerhard Stellbrink) sowie die Arbeitsmaterialien von Ingaburgh Klatt und Brigitte Templin für die Ausstellung „Lösch mir die Augen aus …“ (1993). Vgl. Meyer-Rebentisch, Vorwort.
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Blick auf die Ausstellung „,… ich kann dich sehen.‘ Widerstand, Freundschaft, Ermutigung der vier Lübecker Märtyrer“. Eröffnet am 8. November 2014. (Bildgeber : Gedenkstätte Lutherkirche).
ebenfalls dem NS-Staat zum Opfer gefallen war. Die intensiven Kontakte der beiden Geschwister und Stellbrinks Wissen über den nationalsozialistischen Massenmord in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten könnten erklären, warum er die Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August von Galen verteilte, in denen dieser die „Euthanasie“ offen anprangerte83. Hier eröffnet sich ein neuer Blick auf die Abwendung Stellbrinks vom NS-Regime. Nicht zuletzt aber werden künftige Generationen andere und neue Fragen formulieren und, angesichts der zu erwartenden gesellschaftlichen Veränderungen, zu neuen Bewertungen kommen84. Während eines Kurzbesuchs in Lübeck im Vorfeld der Eröffnung der neuen Dauerausstellung wurde dem Autor mitgeteilt, dass die Erinnerungsarbeit und das Gedenken an Karl 83 Stellbrink-Kesy, Irmgard Heiss. Im Ausstellungskatalog „Erfasst. Verfolgt. Vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“ heißt es im Beitrag zu Irmgard Heiss: „Über den Zusammenhang zwischen dem Widerstand des Fritz Stellbrink und der Biografie seiner Schwester Irmgard hatten seine Kinder geschwiegen.“ Schneider / Lutz, Erfasst, 161. Vgl. Buss, Märtyrer, 643. 84 Beispielsweise findet aus Sicht des Verfassers die Erinnerung an Wilhelm Jannasch (1888–1966), einst Hauptpastor der Lübecker St. Aegidiengemeinde im kulturellen Gedächtnis der Kirche keine angemessene Berücksichtigung. Der streitbare Theologe und überzeugte Gegner des NSStaates war 1934 aus dem Lübecker Kirchendienst entlassen worden, arbeitete zeitweise für die 2. Vorläufige Kirchenleitung und war in die Rettungswerke für Juden bzw. „nichtarische“ Christen aktiv und mit hohen persönlichen Risiko eingebunden. Vgl. Buss, Erblasten.
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Friedrich Stellbrink in der Luther-Melanchthon-Gemeinde – die Luthergemeinde fusionierte im Jahr 2000 mit der Melanchthon-Gemeinde – auf große Resonanz stoße und aktiv mitgetragen werde85. Die „gebrochene Biografie“ Stellbrinks mit ihrer ganzen Vielschichtigkeit fordere einen kontinuierlichen Aneignungsprozess geradezu heraus. Das Gedenken an Karl Friedrich Stellbrink wird die Kirche und die evangelischen Christen weiterhin beschäftigen. Nachtrag Im Rahmen des Entwicklungsprozesses zum „Pastoralen Raum Lübeck“ werden die sechs bestehenden katholischen Pfarreien am 26. März 2017 in einer einzigen Pfarrei zusammengefasst86. Nach einer Entscheidung des Erzbistums Hamburg trägt die neue Großpfarrei den Namen „Zu den Lübecker Märtyrern“. Die Namensgebung erfolgte mit Zustimmung der Bischöfin für den Sprengel Hamburg und Lübeck, Kirsten Fehrs, des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg und der Kirchengemeinde LutherMelanchthon. Sie unterstreicht eindrucksvoll die überragende Bedeutung, die die katholische Kirche dem Gedenken an die vier „Lübecker Märtyrer“ zumisst. Zugleich ist sie ein klares Zeichen für die Ökumene: „Der Sinn des Namens ist die ökumenische Selbstverpflichtung und Weiterentwicklung. Ohne Vereinnahmung der anderen Konfession gemeinsam Christsein.“87 Die Tatsache, dass – wenn auch nicht formal, aber inhaltlich – ein lutherischer Pfarrer Mit-Namensgeber einer katholischen Pfarrei wird, ist in der Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland ohne Beispiel88. Im November 2016 wurde das Gedenken an Karl Friedrich Stellbrink auch während der Lübecker Station der Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945“ in St. Marien thematisiert. Das lokale Fenster „Friedrich Stellbrink. Der schwierige Märtyrer“ enthält verschiedene Faksimile und ist als PDF-Datei online abrufbar89.
85 Mündliche Mitteilung von Karen Meyer-Rebentisch vom 5. 11. 2014. Dies betrifft sowohl die ehrenamtliche Mitarbeit von Gemeindegliedern, aber auch die Teilnahme an weiterführenden Aktivitäten wie z. B. Prozessionen „gegen rechts“. 86 AG Öffentlichkeitsarbeit im Entwicklungsprozess zum Pastoralen Raum Lübeck: Neues aus dem Pastoralen Raum Lübeck [Stand 1. 4. 2016]. In: http://www.kath-kirche-luebeck.de/con tent/view/188/345/ [zuletzt aufgerufen am 31. 5. 2016]. 87 Diözesanarchivar Martin Colberg an den Autor am 9. 7. 2016. 88 Voraussetzung für das Patrozinium einer katholischen Kirche ist der Akt der Seligspechung/ Heiligsprechung, der grundsätzlich Katholiken vorbehalten ist. Wie dargelegt, haben sich die beiden Konfessionen im Vorfeld des Seligsprechungsverfahrens auf ein ehrendes Gedenken an Stellbrink geeinigt, um den Grundsatz „Sag niemals drei, sag immer vier“ über die konfessionellen Grenzen hinweg zu erfüllen. Martin Colberg an den Autor am 9. 7. 2016. 89 https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Neue_Anfaenge/ NA_Luebeck_Lokales-Fenster_Stellbrink_A4.pdf. Vgl. Meyer-Rebentisch, Zeit.
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I. Unveröffentlichte Quellen und Darstellungen Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA Berlin) Bestand 2: Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland Nr. 92: Bekennende Kirche. Landeskirchliches Archiv der Nordkirche, Kiel (LKA Kiel) Bestand 40.01: Kirchenrat/Kirchenleitung Landeskirche Lübeck Nr. 66: Kirchliche Ehrungen; Nr. 200: Spruchkammer Nr. 701–705: Protokolle des Kirchenrates/der Kirchenleitung Nr. 1057: Geistliches Ministerium Bestand 41.01: Bischof für Lübeck Nr. 1: Korrespondenz. Bestand 42.07: Personalakten Pastoren Landeskirche Lübeck Nr. 29: Gerhard Balzer Nr. 108: Gerhard Fölsch Nr. 304: Johannes Pautke Nr. 384/385: Karl Friedrich Stellbrink Bestand 42.08: Personalakten Beamte, Angestellte, Arbeiter Landeskirche Lübeck Nr. 640: Johannes Sievers Bestand 49.01: Kirchenkampf Lübeck Nr. 50: Bund für Deutsche Kirche Bestand 98.86: Nachlass Julius Jensen Nr. 41: Schriftgut aus der Zeit des Kirchenkampfes und danach Bestand 982.03.10: EKD-Projekt ev. Märtyrer/Blutzeugen (Registratur). Die Einsichtnahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung von der Leiterin des Landeskirchlichen Archivs der Nordkirche. Archiv der Hansestadt Lübeck (AHL) Bestand NSA: Neues Senatsarchiv Nr. 1–4/9: Ernennung des Bischofs Balzer zum Bischof der ev.-luth. Kirche in der Freien und Hansestadt Lübeck. Nr. 5: Private Archive, 05: Familienarchive und Nachlässe: Stellbrink Karl Friedrich [bis Herbst 2014 teilweise Privatbesitz Waltraut Kienitz]. Kirchenarchiv der Luthergemeinde Lübeck (KAL Lübeck) Nr. 58: Protokollbücher
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Kirchenkreisarchiv Lübeck-Lauenburg (KKA Lübeck-Lauenburg) Dokumentation Luthergemeinde.
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Botsch, Gideon: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute. Darmstadt 2012. Buchner, Bernd: Seligsprechung ökumenisch? Chronik einer verpassten Chance. In: https://aktuell.evangelisch.de/artikel/105352/seligsprechung-oekumenischchronik-einer-verpassten-chance [zuletzt aufgerufen am 25. 4. 2015]. Buss, Hansjörg: Der kirchliche Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Shoah und der Schuldfrage am Beispiel der evangelischen Landeskirche der Hansestadt Lübeck. In: Fritz, Regina / R#sky, B8la (Hg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte […]. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Jüdinnen und Juden (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien 2). Wien 2016, 393–412. –: „Für arteigene Frömmigkeit – über alle Konfessionen und Dogmen hinweg – in einiger deutscher Kirche“. Gerhard Meyer (1907–1939) und der Bund für Deutsche Kirche. In: Gailus, Manfred / Vollnhals, Clemens (Hg.): Völkische Theologen im ,Dritten Reich‘. Biografische Studien (Berichte und Studien des HAIT 65). Göttingen 2016, 119–134. –: Friedrich Andersen und der „Bund für Deutsche Kirche“ in der schleswig-holsteinischen Landeskirche. In: Schmidt, Daniel / Sturm, Michael / Livi, Massimiliano (Hg.): Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen, Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1919 und 1933 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen: Beiträge 18). Essen 2015, 179–191. –: Völkisches Christentum und Antisemitismus. Der Bund für Deutsche Kirche in Schleswig-Holstein. In: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 138 (2013), 193–240. –: „Entjudete Kirche“. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus. Paderborn 2011. –: Ein Märtyrer der evangelischen Kirche. Anmerkungen zu dem Lübecker Pastor Karl Friedrich Stellbrink. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/8 (2007), 624–644. –: Folgeprojekte der Ausstellung. In: Nordelbische Stimmen 8 (2005), 13–16. – / Gçhres, Annette / Linck, Stephan / Liss-Walther, Joachim (Hg.): „Eine Chronik gemischter Gefühle“. Bilanz der Wanderausstellung Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933–1945. Bremen 2005. Danker, Uwe / Schwabe, Astrid: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus. Handbuch – Lehrbuch – Lesebuch. Neumünster 2005.
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Hansjörg Buss
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Christine Friederich
Widerstand als Glaubenstat? Religiöse Deutungen des Widerstands der Weißen Rose
1. Einleitung Es ist verlockend, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit Etiketten wie „bürgerlich“, „militärisch“ oder eben „evangelisch“ zu versehen. Sie bringen Übersichtlichkeit in die Vielzahl unterschiedlicher Akteure, ihre Motive und Ziele, und machen Zugehörigkeiten deutlich. Solche Zuordnungen sind Bestandteil der Rezeptionsgeschichte des Widerstands und zeigen, wie unterschiedliche Milieus und gesellschaftliche Gruppen sich die Erinnerung an den Widerstand zu eigen machten und wie die historische Forschung versuchte, durch Klassifikation mehr Klarheit in die Geschichte des Widerstands zu bringen. Wie unterschiedlich und auch konkurrierend solche Etikettierungen ausfallen können und was das für die Rezeptionsgeschichte bedeutet, werde ich im Folgenden am Beispiel der Widerstandsgruppe Weiße Rose untersuchen. Die Geschichte der Weißen Rose gehört zu den bekanntesten aus dem deutschen Widerstand und ist in ihren Grundzügen schnell erzählt: Mehrere Studenten und ein Professor verfassten und verteilten seit dem Frühsommer 1942 in München und anderen Städten Flugblätter, in denen sie zum passiven Widerstand und zum Sturz des NS-Regimes aufriefen. Am 18. Februar 1943 wurden die Geschwister Hans und Sophie Scholl entdeckt, als sie an der Universität München ihre Flugblätter verteilten. In der Folge wurden die Studenten Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell sowie Professor Kurt Huber zum Tode verurteilt und hingerichtet. Doch was machte diese Geschichte so attraktiv, dass sie in der Nachkriegszeit zu einer der wichtigsten bundesdeutschen Widerstandserzählungen avancierte? Wer erinnerte an die Weiße Rose und gab es Versuche, die Widerstandstat, ihre Motive und Ziele als spezifisch „evangelisch“ zu etikettieren? Welche Rolle spielten katholische sowie überkonfessionell-christliche Interpretationen für die Rezeption des Widerstands der Weißen Rose in der unmittelbaren Nachkriegszeit? Diesen Fragen werde ich in drei Schritten nachgehen. Erstens werde ich zeigen, wie bereits vor Kriegsende die Weichen für die Erinnerung an die Weiße Rose gestellt wurden. Dabei werde ich insbesondere die Rolle Inge Scholls beleuchten, der ältesten Schwester Hans und Sophie Scholls. Inge Scholl war nach dem Krieg die bedeutendste Erinnerungsakteurin der Weißen Rose. In einem zweiten Schritt werde ich nach den
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Christine Friederich
Bedingungen für christliches Erinnern an den Widerstand in der unmittelbaren Nachkriegszeit fragen und herausarbeiten, wie Inge Scholls Interpretation des Widerstands der Weißen Rose sich in diesen Rahmen fügte und damit erst ein erfolgreiches Erinnern an die Weiße Rose ermöglichte. Abschließend werde ich ein kurzes Fazit ziehen.
2. Widerstand als „imitatio christi“ Mit der im Februar 1943 beginnenden Verhaftung und Verurteilung zahlreicher Mitstreiter der Weißen Rose schien die Geschichte der Widerstandsgruppe zu Ende zu sein. Doch bereits kurz nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probsts am 22. Februar 1943 setzte die Rezeption des Widerstandsgeschehens ein. In Deutschland wurden weiterhin Flugblätter der Weißen Rose vervielfältigt und verteilt und die britische Luftwaffe warf einen Flugblatt-Nachdruck millionenfach als Gegenpropaganda über Deutschland ab1. Der im Exil lebende Schriftsteller Thomas Mann sprach in seiner BBC-Radiosendung „Deutsche Hörer!“ über die Münchner Widerstandsaktionen2 und in den Anzeigenteilen der Zeitungen erschienen Annoncen von Privat- und Geschäftsleuten namens Scholl, die darauf hinwiesen, mit den „Hochverrätern“ gleichen Namens nicht verwandt zu sein3. Es war keine öffentliche Debatte, die da stattfand, vielmehr hatten all diese Aktivitäten vor allem Appellcharakter : Jeder einzelne musste entscheiden, ob er sich davon angesprochen fühlte oder nicht und ob er für oder gegen den Widerstand Stellung beziehen sollte. Ganz ohne die Möglichkeit, eine Öffentlichkeit jenseits des engsten Familien- und Freundeskreises zu erreichen, war hingegen Inge Scholl (1917–1998)4. Die älteste Schwester Hans und Sophie Scholls war in den Widerstand nicht eingeweiht gewesen und die Nachricht von der Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung ihrer Geschwister hatte sie ganz unvorbereitet getroffen. Im Gegensatz zu ihren Eltern und ihrem jüngsten Bruder Werner, die bereits am Tag des Prozesses gegen Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst aus Ulm nach München gekommen waren, hatte Inge Scholl sich von Hans und Sophie nicht einmal mehr verabschieden können. Als sie am 23. Februar 1943, dem Tag nach dem Prozess, in München eintraf, waren ihre Geschwister bereits tot5. Sie selbst wurde kurze Zeit später zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Elisabeth in „Sippenhaft“ genomVgl. Zankel, Mit Flugblättern, 549–553, 555. Vgl. ebd., 553. Vgl. Münchner Neueste Nachrichten, 2. 3. 1943 und 3. 3. 1943. Zur Biografie Inge Scholls und ihren Einfluss auf die Rezeptionsgeschichte der Weißen Rose vgl. Hikel [Friederich], Sophies Schwester. 5 Vgl. den Erinnerungsbericht Inge Scholls über diesen Tag in: Vinke, Sophie Scholl, 170.
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men und verbrachte mehrere Monate im Gefängnis am Frauengraben in Ulm6. Im Frühjahr 1944 zog sie – zunächst nur mit ihrer Mutter, ihr Vater war noch im Gefängnis – auf einen Bauernhof im Schwarzwald. Die soziale Ausgrenzung, die drohende Kündigung ihrer Mietwohnung in Ulm und die schwierige wirtschaftliche Situation hatten diesen Schritt notwendig gemacht7. Erst im Sommer 1945 kehrte sie nach Ulm zurück8. Auf die Aneignung der Geschichte ihrer Geschwister und der Weißen Rose durch die Alliierten, durch Schriftsteller und Intellektuelle, durch andere Widerstandskämpfer oder auch durch den Nationalsozialismus hatte Inge Scholl zu dieser Zeit keinerlei Einflussmöglichkeit. Von den meisten dieser Aneignungsversuche wusste sie nicht einmal. Dennoch beschäftigte sie sich bereits kurz nach ihrer eigenen Verhaftung intensiv mit den Biografien ihrer hingerichteten Geschwister. Die Lücke, die der Tod Hans und Sophie Scholls in die Familie gerissen hatte, war nicht nur physisch. Vielmehr wurde deutlich, dass wesentliche Teile der Familienbiografie fehlten. Die Hinterbliebenen wussten nichts Genaueres über die Widerstandsaktionen Hans und Sophie Scholls, über ihr Vorgehen, ihre Motive und ihre Ziele. Inge Scholl hatte zwar im Sommer 1942 ihre Geschwister in München besucht, als diese ihre Widerstandstätigkeit bereits aufgenommen hatten9. Sie hatten gemeinsam an einer Lesung des katholischen Theologen Theodor Haecker im Atelier des Architekten Manfred Eickemeyer teilgenommen, eine Vorlesung Professor Hubers gehört und Inge Scholl hatte die Freunde ihrer Geschwister kennengelernt. Doch vom Widerstand hatte sie nichts geahnt und ihre Geschwister hatten sie nicht ins Vertrauen gezogen. Das traf sie nun umso mehr, da sie sich gerade seit dem Besuch in München ihrem Bruder Hans sehr nahe gefühlt hatte und auch ihr seit einiger Zeit schwieriges Verhältnis zu Sophie Scholl hatte sich wieder entspannt10. Um herauszufinden, was ihre Geschwister zum Widerstand motiviert hatte und was in München geschehen war, blieb nur eine akribische Spurensuche. Erste Informationen über das Widerstandsgeschehen erhielt Inge Scholl bei Verhören durch die Gestapo während der „Sippenhaft“11. Dazu kamen die eigenen Erinnerungen, der Austausch mit Familie und Freunden und die Lektüre der hinterlassenen Briefe, Tagebücher und Notizen Hans und Sophie Scholls. In der Korrespondenz Inge Scholls aus dieser Zeit finden sich immer wieder Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit Hans und Sophie Scholl; Zitate aus deren Briefen und Tagebüchern oder 6 Vgl. Aicher-Scholl, Sippenhaft. 7 Vgl. den Artikel Wie lange noch Scholl? – eine berechtigte Frage. Das zersetzende Vorbild des Vaters stürzte die ganze Familie ins Verhängnis. In: Ulmer Sturm, 8. 10. 1943 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 240). Vgl. Aicher-Scholl, Sippenhaft, 101 f. 8 Vgl. Tagebucheintrag Inge Scholls, 7. 8. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). 9 Vgl. Tagebucheinträge Inge Scholls, 18. 6. 1942, 11. 7. 1942, 14. 7. 1942 und 23. 7. 1942 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). 10 Vgl. Tagebucheinträge Inge Scholls, 14. 7. 1942 und 27. 8. 1942 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). 11 Vgl. Schreiben Inge Scholls an Robert Scholl, 1. 5. 1963 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 406).
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den Briefen waren Fotos beigelegt, die zu wichtigen Erinnerungsstücken wurden. Inge Scholls Blick auf die Biografien Hans und Sophie Scholls war sehr stark von ihrer eigenen Hinwendung zum Katholizismus geprägt. Zwar war sie evangelisch getauft, doch hatte sie sich bereits längere Zeit vor dem Tod ihrer Geschwister unter dem Einfluss ihres Freundes Otl Aicher mit dem katholischen Glauben beschäftigt und dort Orientierung gefunden12. In der schwierigen Phase nach der Hinrichtung Hans und Sophie Scholls bot ihr die katholische Glaubenstradition Vorbilder und das passende Vokabular, um die Lebensgeschichten ihrer Geschwister neu zu fassen: als Hagiografie, also als Heiligengeschichte. Es sind Erzählungen von der Nachfolge Christi, die beispielhaft nachgelebten Glauben präsentieren. Dass dies die „richtige“ Sichtweise war, schien sich in den Aufzeichnungen ihrer Geschwister selbst zu zeigen. Am 28. August 1943 schrieb Inge Scholl an ihren Verlobten Otl Aicher : „Ich fand gestern ein kleines schwarzes Wachstuchheft, in das Sophie in ihrer Kriegshilfsdienstzeit in Blumberg einige Tagebuchnotizen gestreut hat. Ich war so sehr ergriffen, als ich sie gelesen hatte. Ihr Wollen war tatsächlich das einer Heiligen und irgendwie habe ich ein Gefühl der Scham, ob ich solche Größe neben mir wert war.“13
In Inge Scholls Interpretation wurden die Leben ihrer Geschwister zu Heiligengeschichten, zu ahistorischen, überzeitlichen Erzählungen über den Glauben, nicht über den Widerstand. Im Zentrum stand die Geschichte vom „seligen Sterben und der großen Freude“14 und die „Heimkehr“15 zu Gott. Lebensgeschichte wurde zur imitatio Christi und Widerstand zur Glaubenstat. Diese Deutung ermöglichte Inge Scholl auch, das Trennende zwischen ihrer eigenen Biografie und denen ihrer hingerichteten Geschwister wieder aufzuheben. Im gemeinsamen Glauben schien sich die Kluft, die durch den Widerstand entstanden war, überbrücken zu lassen. Denn Inge Scholl war überzeugt, dass es vor allem die Hinwendung zum Katholizismus war, die sie mit ihren Geschwistern verband16. Sie ging davon aus, dass Hans und Sophie Scholl als Katholiken gestorben waren und die Konversion zwar nicht mehr formal, aber ideell vollzogen hatten. Bestärkt wurde sie in dieser Überzeugung von ihrem jüngsten Bruder Werner, der ihr berichtet hatte, Hans Scholl habe ihm kurz vor seinem Tod gesagt, er sterbe „im Glauben an die katholische Kirche“17. Als Inge Scholl sich dann nach langem Überlegen zur Konversion 12 Vgl. Tagebucheinträge Inge Scholls, 11. 7. 1942 und 14. 7. 1942 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Vgl. auch Scheler, „Im Geiste…“. 13 Inge Scholl an Otl Aicher, 28. 8. 1943 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 31). 14 Inge Scholl an Otl Aicher, 30. 3. 1943 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 31). 15 Inge Scholl an Otl Aicher, 14. 1. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 33). 16 Vgl. Inge Scholl an Otl Aicher, 4. 3. 1944; Inge Scholl an Otl Aicher, 10. 2. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 32, Bd. 33). 17 Inge Scholl an Theodor Haecker, 24. 9. 1944 und 22. 1. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 22).
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entschloss18, war sie der festen Überzeugung, dass diese Entscheidung im Einklang mit Hans und Sophie Scholl stand. Die Vorbereitung auf ihre Konversion, insbesondere die Beschäftigung mit dem eigenen Lebensweg bis hin zur „Lebensbeichte“ kurz vor dem Übertritt zum Katholizismus, führte auch zu einer neuen und intensiven Auseinandersetzung mit den Biografien Hans und Sophie Scholls. In dieser Zeit begann Inge Scholl, eine erste biografische Skizze über ihre hingerichteten Geschwister zu verfassen, die Erinnerungen an München19. Als Tag ihrer Konversion wählte sie den 22. Februar 1945, den zweiten Todestag Hans und Sophie Scholls. Über diese Entscheidung schrieb sie an Otl Aicher : „[…] ich wollte das Mitfreuen hier irgendwie zum Ausdruck bringen und an ihre Heimkehr die meine knüpfen. Und dann hat dieser Tag für mich eine tiefe Bedeutung gerade durch das Licht, das von ihren Narben ausging […].“20 Inge Scholl stellte damit ihr Leben in die Nachfolge ihrer Geschwister und schrieb sich in das „Heilsgeschehen“ mit ein. Die Konversion stellte für sie den Akt dar, der symbolisch dem Tod ihrer Geschwister am nächsten kam: Das Ende des alten Lebens und der Neubeginn. Dass der Glaube eine ganz zentrale Motivation für den Widerstand ihrer Geschwister gewesen war, blieb für Inge Scholl zeitlebens unbestritten. Doch gleichzeitig finden sich in Inge Scholls frühen Überlegungen zum Widerstand der Weißen Rose auch Anknüpfungspunkte für eine überkonfessionellchristliche oder – wie es zeitgenössisch oft hieß – „humanistische“ Deutung. So notierte sie beispielsweise am 23. Februar 1945 in ihr Tagebuch: „Diese Tat von Hans, die den Tod zur Folge hatte, ist im Grunde eine Rückkehr zu einem tiefen Wesenszug seiner Kindheit: Versöhnung. Es war zweifellos ein Versuch, das deutsche Volk zu versöhnen, seine Geschichte zu heilen. […] Bei Sophie kam es aus Erbarmen und Gerechtigkeitsgefühl.“21
Die in diesem Tagebucheintrag genutzten Begriffe Versöhnung, Heilung, Erbarmen und Gerechtigkeitsgefühl, die gleichermaßen Motivation wie Ziele des Widerstands beschreiben, ließen sich durchaus in einem religiösen Sinne lesen, ohne auf den Katholizismus beschränkt zu sein. Zugleich boten sie Anknüpfungspunkte für eine säkulare Interpretation des Widerstands. Es war also möglich, die Geschichte der Weißen Rose so zu erzählen, dass ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Milieus sich angesprochen fühlen konnten. Doch wer wollte diese Geschichte überhaupt hören? Und wie sollte Inge Scholl sich Gehör verschaffen?
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Vgl. Tagebucheintrag Inge Scholls, 21. 12. 1944 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Inge Scholl: Erinnerungen an München, o. D. [1944/45] (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Inge Scholl an Otl Aicher, 14. 1. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 33). Tagebucheintrag Inge Scholls, 23. 2. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35).
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3. Evangelisch, katholisch oder christlich? Nach Kriegsende war Inge Scholl ebenso wie die anderen Angehörigen und Überlebenden der Weißen Rose damit konfrontiert, dass es bereits eine Rezeption der Widerstandsgruppe gab, die ohne ihr Zutun während der NS-Zeit entstanden war22. Dazu kam, dass vor allem seit dem Herbst 1945 der Weißen Rose in einer Vielzahl von Zeitungsartikeln, Rundfunkansprachen und Gedenkfeiern gedacht wurde23. Doch auch die Angehörigen und Überlebenden gerieten nun als Zeitzeugen in den Fokus des öffentlichen Interesses. So war Inge Scholl bereits wenige Monate nach Kriegsende damit beschäftigt, eine Gedenkrede über ihre Geschwister vorzubereiten, die im Rundfunk gesendet werden sollte24. Diese große Aufmerksamkeit, die der Geschichte der Weißen Rose, aber auch ihr selbst als Zeitzeugin entgegenschlug, rief in Inge Scholl zwiespältige Gefühle hervor. Am 9. September 1945 notierte sie in ihr Tagebuch: „Es ist ein […] Geschreie um diese Toten – mir kommt es ein wenig vor wie das Getriebe einer Leichenfeier. Und darum sind sie doch so schön gekommen. Man wird ganz einsam in diesem Gewühl und fast möchte ich Hans und Sophie darum um Nachsicht bitten.“25 In den polyphonen Chor des Erinnerns mischten sich auch evangelische und katholische Stimmen, die eine konfessionell geprägte Sicht auf den Widerstand der Weißen Rose in die Öffentlichkeit einbrachten. Diese Beiträge setzten sich mit den eigenen Glaubensüberzeugungen und deren Verhältnis zum Widerstand auseinander und schrieben so die Erinnerung an den Widerstand der Weißen Rose als religiöses Vorbild für die jeweilige Glaubensgemeinschaft hinein oder hinaus. Das geschah nicht unwidersprochen, sei es von den Angehörigen und Überlebenden oder auch von den Amtskirchen selbst. Die Debatte über den Widerstand wurde so auch zu einer Debatte über Glaubensvorbilder und das Verhältnis von Widerstand und Kirche. 1946 erschienen die Erinnerungen des evangelischen Gefängnispfarrers Karl Alt, der im Münchner Gefängnis Stadelheim auch die Geschwister Scholl vor der Hinrichtung seelsorgerisch betreut hatte. Unter dem Titel „Todeskandidaten“ berichtete Alt über seine Erlebnisse und widmete knapp zehn Seiten den „Häupter[n] der Münchner Studentenverschwörung“26. Die Erstauflage des Buches war mit 10.000 Exemplaren angegeben, sodass wohl zumindest der Verlag auf ein großes Publikumsinteresse hoffte. Alt schilderte die letzten Stunden der Geschwister Scholl und Christoph Probsts und erwähnte auch die nachfolgenden Prozesse und die Todesurteile gegen Kurt Huber, 22 23 24 25 26
Vgl. Steinbach / Tuchel, „Helden“. Beispiele finden sich in IfZ Menchen, ED 474, Bd. 240, Bd. 382. Vgl. Tagebucheintrag Inge Scholls, 28. 8. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Tagebucheintrag Inge Scholls, 9. 9. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Alt, Todeskandidaten, 85–94, hier 85, Hervorhebung i. Orig.
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Alexander Schmorell und Willi Graf. Ein längerer Abschnitt schließlich befasste sich mit dem Schicksal des kurz vor Kriegsende hingerichteten Hans Konrad Leipelt, der, nachdem die Urheber der Flugblätter der Weißen Rose verhaftet worden waren, deren Flugblätter weiter verteilt hatte27. Während Alt in seiner Darstellung der Betreuung anderer zum Tode Verurteilter eher die Hinwendung zu Gott und das Zurückfinden zum Glauben im Allgemeinen betonte, hob er in der Passage zur Weißen Rose neben dem „Opfertod fürs Vaterland“28 die Bedeutung evangelischer Schriften und Glaubensüberzeugungen für die zum Tode Verurteilten hervor. So verwies er etwa darauf, dass Kurt Huber zwar ein gläubiger Katholik gewesen sei, sich vor der Hinrichtung aber auch mit evangelischen Schriften beschäftigt und daraus Kraft geschöpft habe. Auch bei der Schilderung des Schicksals Hans Konrad Leipelts sprach Alt dessen Auseinandersetzung mit dem evangelischen Glauben große Bedeutung zu. Für den heutigen Leser irritierend ist das ungebrochene Fortbestehen rassistischer und sozialbiologischer Überzeugungen Alts, die in dessen Hinweis zum Ausdruck kommen, dass Leipelts Mutter zwar „tiefgläubig evangelisch“ gewesen sei, doch „rassisch“ dem „Judentum“ angehöre29. Ob Aussagen wie diese auch der Grund dafür waren, dass Inge Scholl Alts Darstellung ablehnte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht jedoch, dass sie Karl Alts Veröffentlichung wenig positiv sah. Im Juli 1946 schrieb sie kritisch: „Nach dem, was ich von Pfarrer Alt gelesen und in seinem Benehmen erfahren habe, ist er meilenweit davon entfernt, darüber [die Weiße Rose, C. F.] das Richtige und Treffende sagen zu können.“30 In der Konsequenz händigte sie Alt keinerlei Material von oder über ihre Geschwister aus, das seinen Äußerungen zusätzliches Gewicht verleihen konnte31. Tatsächlich blieb es bei dieser einen Auflage von Karl Alts Buch. Ob es dann wirklich Inge Scholls fehlende Unterstützung oder vielmehr Alts früher Tod wenige Jahre nach Kriegsende war, der dazu führte, dass das Buch schnell in Vergessenheit geriet, ist jedoch kaum zu klären. Auch mit katholischen Stellungnahmen zum Widerstand hatte Inge Scholl es nicht immer ganz einfach. Dabei war es ihr gar nicht so wichtig, ob diese den Katholizismus ihrer Geschwister betonten oder katholische Dogmen und Traditionen mit dem Widerstand verbanden. Wesentlich bedeutsamer erschien ihr die „richtige“ Darstellung und Interpretation der Lebenswege ihrer Geschwister. Als der Tübinger katholische Theologe Romano Guardini ihr die Rede vorab übersandte, die er bei einer Gedenkfeier in München im November 1945 halten wollte32, war sie zunächst enttäuscht33. Guardini hatte 27 28 29 30 31 32
Vgl. Zankel, Mit Flugblättern, 514–530. Alt, Todeskandidaten, 88. Ebd., 91. Inge Scholl an Hans Hirzel, 12. 7. 1946 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 268). Vgl. ebd. Vgl. Romano Guardini an Inge Scholl, 17. 10. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 382). Siehe auch
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Christine Friederich
Hans und Sophie Scholl nicht gekannt und zur Vorbereitung seiner Rede von Inge Scholl Tagebuchaufzeichnungen der beiden erhalten, dennoch hatte ihm die Abfassung des Textes große Mühe bereitet, wie er in einem Brief an Inge Scholl bekannte34. Auf den ersten Blick erscheint der Grundgedanke Guardinis der Interpretation des Widerstands durch Inge Scholl sehr ähnlich. Es sei den Widerstandskämpfern, so schrieb Guardini, nur vordergründig darum gegangen, die Universität als Ort der Wahrheitsfindung zu rehabilitieren und die „Ehre des deutschen Volkes“35 wiederherzustellen. Der eigentliche Sinn des Widerstands jedoch liege, so Guardini weiter, im bewussten Selbstopfer als Nachvollzug des Selbstopfers Christi. Dabei betonte Guardini den Wert der Tat an sich, ganz unabhängig von ihrem unmittelbaren Erfolg oder Wirken. Selbst wenn sie vollkommen unbekannt geblieben wäre, hätte dies ihre Bedeutung nicht geschmälert. Denn dadurch, dass das Handeln allein im Vertrauen auf Gott erfolgt sei und nur Gott der Tat auch in der weltlichen Geschichte einen Sinn geben könne, offenbare sich die Größe des Widerstandshandelns. Inge Scholl haderte mit dieser Betonung der Tat und erst nach einigem Nachdenken konnte sie der Rede Guardinis etwas abgewinnen. Am 30. Oktober 1945 notierte sie erleichtert in ihr Tagebuch: „Guardinis Gedenkrede für die Feier der Toten (Sophie und Hans) hat bei mir plötzlich Anklang gefunden: Es ist die Wertung des Materiellen. Manchmal kommen mir Ahnungen, daß man nicht zu radikal nur geistig sein wollen sollte.“36
Dieser Tagebucheintrag zeigt auch, wie sehr Inge Scholls Auseinandersetzung mit den Lebens- und Glaubensgeschichten von Hans und Sophie Scholl gerade in dieser frühen Zeit noch mit ihrer eigenen Religiosität korrespondierte. Ihre Kritik an Guardini richtete sich weniger gegen dessen Interpretation des Widerstands im Speziellen als vielmehr gegen die Interpretation dessen, was ein gelungenes katholisches Leben ausmachte und in welchem Verhältnis Spiritualität und praktische Lebensgestaltung zueinander standen. Die Bedeutung des Widerstands für die Glaubens- und Lebenspraxis ihrer Gläubigen beschäftigte auch die katholische Amtskirche, die jedoch durchaus ihre Vorbehalte gegen den Widerstand der Weißen Rose als Vorbild für ein katholisches Leben hegte. Die Verbindung von Widerstand und Katholizismus erschien ihr nicht so selbstverständlich wie manchen von den Angehörigen der Widerstandskämpfer. Diese Erfahrung musste vor allem Angelika Probst
33
34 35 36
die beiden undatierten Entwürfe der Rede Guardinis (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 382). Die Rede wurde 1946 unter dem Titel „Die Waage des Daseins“ publiziert. Die Antwort Inge Scholls an Guardini war zwar sehr positiv, vgl. Inge Scholl an Romano Guardini, 20. 10. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 382). Ihr Tagebuch hingegen offenbart ihre Zweifel an Guardinis Rede-Entwurf, vgl. den Tagebucheintrag Inge Scholls, 30. 10. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35). Vgl. Romano Guardini an Inge Scholl, 17. 10. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 382). Guardini, Waage, 17. Tagebucheintrag Inge Scholls, 30. 10. 1945 (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 35).
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machen, die Schwester des zusammen mit Hans und Sophie Scholl hingerichteten Christoph Probst. 1947 verfasste sie für die katholische Zeitschrift Der Fährmann einen Artikel über die Weiße Rose und die Beteiligung ihres Bruders am Widerstand. Vor der Veröffentlichung wurde der Beitrag vom Generalvikar des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg, Dr. Simon Hirt, begutachtet. Dessen Urteil fiel sehr kritisch aus. Er monierte, dass Probst und „seine Gesinnungsgenossen in der Bekämpfung des sogenannten Dritten Reiches Wege [gegangen sind], welche nicht in Einklang stehen mit den christlichen Moralgrundsätzen. Denn Revolution, auch gegenüber einer Regierung, welche Unrecht übt und eine Tyrannei darstellt, ist nicht erlaubt.“37 Dabei hatte Angelika Probst in ihrem Artikel keineswegs zu einer Nachfolge im Widerstand aufgerufen als vielmehr zu einer Nachfolge im Glauben: „Mit dem Namen Christi auf den Lippen sind sie gestorben, und das Kreuz des Heilandes ward nicht nur auf Golgatha errichtet, sondern auch in den Mordkellern der Gestapo. Das große Erbe aber müssen und dürfen wir antreten. Und wer es recht begriffen hat, für den gibt es kein Schwanken mehr auf dem Weg.“38
Hirt riet zwar nicht direkt von der Veröffentlichung ab, forderte aber eine klarstellende Einleitung seitens der Redaktion. Die Interpretation des Widerstands als Martyrium, wie ihn etwa Inge Scholl sah, spielte hier also gar keine Rolle, sondern wurde vollständig überlagert von der Frage, ob die Kirche einen „revolutionären Aufstand gegen eine bestehende Regierung moralisch als erlaubt betrachtet“39. Angelika Probsts Artikel erschien schließlich im Fährmann, allerdings kündigte eine Vorbemerkung der Redaktion an, dass zu dem moralischen Problem, das sie entdeckt zu haben schien, in einer späteren Ausgabe eine ausführlichere Stellungnahme erscheinen werde. Die konfessionelle Aneignung der Erinnerung an die Weiße Rose gelang in den ersten Nachkriegsjahren also nur sehr holprig, sei es, weil Angehörige wie Inge Scholl Vorbehalte hatten, sei es, dass die jeweiligen Amtsträger moralische Prinzipien oder Glaubensgrundsätze durch den Widerstand infrage gestellt sahen. Dazu kam, dass der Anteil explizit konfessioneller Beiträge zum Widerstand der Weißen Rose gemessen an der Vielzahl der säkularen Veröffentlichungen und Erinnerungsaktivitäten insgesamt sehr klein und ihre Reichweite beschränkt blieb. Konfessionell geprägte Äußerungen erreichten allein schon deshalb häufig nur eine beschränkte Zielgruppe, weil sie in Formaten getätigt wurden, die von vornherein vor allem die eigene Glaubensgemeinschaft im Blick hatten. Weitet man allerdings den Blickwinkel und bezieht auch Zeitungsartikel, Gedenkreden und Rundfunkansprachen mit ein, die sich nicht explizit konfessionell verstanden, so entsteht ein anderes Bild des Erinnerns an den Wi37 Dr. Hirt an die Schriftleitung des Fährmann, 19. 2. 1947 (IfZ Menchen, Fa 215, Bd. 4). 38 Probst, Christoph Probst, 11. 39 Ebd.
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derstand in den ersten Nachkriegsjahren, das sich zwar an christlichen Vorstellungen und einem religiös konnotierten Vokabular bediente, dies aber säkular interpretierte. Zentral war vor allem die Deutung des Widerstands als Martyrium: Die Widerstandskämpfer hätten sich ganz bewusst zum Opfer gebracht, um ein Zeichen zu setzen, dass es nicht nur das nationalsozialistische, sondern auch das „andere“, „echte“ Deutschland gab. In der Interpretation der Nachkriegszeit war damit ein Deutschland gemeint, das sich auf abendländische, christliche Wurzeln berief und sein politisches und kulturelles Erbe in der Tradition der Befreiungskriege, von Klassik und Romantik und der Revolution von 1848 sah40. In den Flugblättern der Weißen Rose schien sich das zu bestätigen: Sie hatten sich auf das Christentum berufen, Schiller und Goethe zitiert41 und mit Theodor Körners Aufruf „Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!“ zu einem neuen „Befreiungskrieg“ gegen Hitler aufgerufen42. Wer also von sich behaupten konnte, während des Nationalsozialismus an diesem politischen und kulturellen Erbe festgehalten zu haben, konnte sich auch zu diesem nicht-nationalsozialistischen Deutschland zählen. Mehr noch: Die Entscheidung, die Traditionen des „wahren“ Deutschlands während der Zeit des Nationalsozialismus für die deutsche Zukunft im Verborgenen zu hüten, erschien vor diesem Hintergrund als die bessere. Angesichts des übermächtigen NS-Staats – so die zeitgenössische Interpretation – musste die Entscheidung zum aktiven Widerstand der zum Martyrium gleichkommen. Schließlich hatte keine Widerstandsaktion zum Sturz des NS-Regimes geführt, sondern zur Hinrichtung der Widerstandskämpfer. Widerstand war demnach objektiv sinnlos und nur als bewusstes Märtyrertum in seiner symbolischen Funktion für die Nachwelt wertvoll und erinnerungswürdig43. Zugleich bestanden darin das entscheidende Argument und die Rechtfertigung dafür, nicht aktiv gegen das NS-Regime eingetreten zu sein. In dieser Argumentationslinie war der Widerstand eben kein Vorwurf an all diejenigen, die geschwiegen hatten, sondern eine Bestätigung dieser Verhaltensweise als der klügeren44. Franz Josef Schöningh, der Mitherausgeber der Süddeutschen Zeitung, schrieb 1946 über die Weiße Rose: „Wenn es ihnen an Klugheit im Sinn der Welt gebrach, so besaßen sie doch eine höhere: Nur ihr Lebensopfer konnte für diejenigen draußen, deren Blick nicht von Haß verdunkelt ist, im grell leuchtenden Blitz des Fallbeils offenbaren, was in zahllosen Deutschen während jener schrecklichen Zeit vorging.“45 40 41 42 43 44 45
Vgl. Eckel, Transformationen. Vgl. 1. Flugblatt, zit. nach: Scholl, Weiße Rose, 86–88. 6. Flugblatt, zit. nach: Scholl: Weiße Rose, 110. Vgl. Agamben, Auschwitz, 23–25. Vgl. auch die knappen Überlegungen von Kirchberger, „Weiße Rose“, 32, 40 f. Franz Josef Schöningh: Sechs Tote bitten die Welt um Gerechtigkeit. In: Sonderdruck aus der Süddeutschen Zeitung vom 1. 11. 1946 (Stadtarchiv Menchen, NL Kurt Huber, Nr. 196). Ähnlich auch schon Hans von Hülsen: Helden.
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Somit konnte die Geschichte des Widerstands der Weißen Rose zu einer positiven Gegenerzählung zur Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus werden, ohne ein Vorwurf an diejenigen zu sein, die geschwiegen hatten. Mehr noch: Die Interpretation des Widerstands als bewusstes Selbstopfer hob die Täter-Opfer-Dichotomie auf. Denn wer sich selbst geopfert hatte, brauchte niemanden, der ihn zum Opfer gemacht hatte46. Bestätigung fand diese Interpretation in der Geschichtswissenschaft. Exemplarisch dafür steht Hans Rothfels’ Studie Die deutsche Opposition gegen Hitler, die 1949 in Deutschland erschien47. Rothfels zeichnet darin die Weiße Rose als Widerstandsgruppe, der es vor allem darum ging, ein Zeichen zu setzen, um „ihren Glauben [zu] bekennen und sich selbst sowohl wie den Namen Deutschlands zu reinigen.“48 „Opferwille“ und „Martyrium“ charakterisierten das Handeln der Oppositionellen, so Rothfels weiter49. Das „Prinzipielle“ – so Rothfels – des Widerstands lag „in den Kräften moralischer Selbstbehauptung, die über die Erwägung des bloß politisch Notwendigen weit hinausgehen.“50 Mit einer solchen Interpretation des Widerstands ihrer Geschwister konnte Inge Scholl sich durchaus anfreunden. Sie hatte selbst in ihren ersten Überlegungen zum Widerstand Anknüpfungspunkte dafür geliefert, die sich nun als anschlussfähig erwiesen. In ihren ersten öffentlichen Äußerungen zum Widerstand bestätigte Inge Scholl zentrale zeitgenössische Deutungen der unmittelbaren Vergangenheit. Sie verortete den Widerstand im Christentum als verbindendem Wertekanon51. Es sei, so wiederholte sie immer wieder, ihren Geschwistern und deren Freunden um das „Menschliche schlechthin“ gegangen, das jedoch ohne das Christentum nicht denkbar war52. 1945 sagte sie in einer Rundfunkansprache: „Wenn man schon über meine Geschwister und ihre Freunde sprechen will, so muss vor allem dies gesagt sein, dass ihre Kraft nicht aus einem politischen Aktionismus erwuchs, sondern aus Gefühlen der Menschlichkeit, die sich bestärkten und gerade richteten in einer befreienden Bindung an Gott. Ohne diese
46 47 48 49 50 51
Vgl. Macho, Bedeutungswandel; Goschler, Moral. Vgl. Rothfels, Opposition; Eckel, Geschichte; und Berg, Holocaust, 160–174. Rothfels, Opposition, 18. Ebd., 19. Ebd., 17. [Inge Scholl]: Zum Gedenken an Hans und Sophie Scholl und ihre Freunde…, ohne Angabe [vermutlich Rundfunk, ca. 1945], [Inge Scholl]: Zum Gedenken der Freunde…, ohne Angabe [ca. Ende 1940er-Jahre] (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 397, Bd. 398). 52 [Inge Scholl]: Zum 22. Februar, o. Ang. [handschriftl. erg.: „Radioansprache (in München?) 1946“]. Siehe auch: [Inge Scholl]: Zum Gedenken an Hans und Sophie Scholl und ihre Freunde…, ohne Angabe [vermutlich Rundfunk, ca. 1945],[Inge Scholl]: Zum Gedenken der Freunde…, ohne Angabe [ca. Ende 1940er-Jahre] (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 397, Bd. 398).
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Festigung in einer tiefen Religiosität liesse sich nicht ihr Leben verstehen, und noch weniger ihr Tod.“53
Damit eröffnete sie Perspektiven, die die Weiße Rose über konfessionelle Grenzen hinweg rezeptionsfähig machten. Der Widerstand konnte und sollte nicht nur ein Vorbild für katholische oder evangelische Christen sein, sondern für all jene, die das Christentum oder den Humanismus als kleinsten gemeinsamen Nenner für sich und ihre Handlungsweise in Anspruch nehmen konnten. Inge Scholl bewegte sich damit in einem Deutungsrahmen, der den common sense der frühen westdeutschen Vergangenheitsbewältigung ausmachte. Ihre Interpretationen entsprachen den gängigen Mustern, die die öffentlichen Debatten ebenso bestimmten wie die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die familiären, öffentlichen und historiografischen Deutungen entsprachen sich, bestärkten sich gegenseitig und stabilisierten damit die Erinnerung an die Weiße Rose als Bestandteil einer neuen historischen Selbstverortung.
4. Fazit Die Geschichte des Widerstands der Weißen Rose fand bereits kurz nach Kriegsende Eingang in die westdeutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Dabei spielte eine konfessionelle Einordnung als spezifisch „evangelischer“ oder „katholischer“ Widerstand jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gab es durchaus konfessionelle Aneignungsversuche, allerdings waren diese nicht unumstritten. Sei es, dass Angehörige wie Inge Scholl diesem Vorhaben skeptisch gegenüberstanden und es deshalb nicht unterstützen wollten, sei es, dass die Vertreter der jeweiligen Kirche Vorbehalte gegen den Widerstand hatten und daran zweifelten, ob den Gläubigen dadurch das passende Vorbild geboten würde. Dagegen erwies sich die Deutung des Widerstands der Weißen Rose als überkonfessionell „christliche“ oder „menschliche“ Tat als wesentlich wirkmächtiger und als anschlussfähiger für eine breite gesellschaftliche Rezeption. Um die Erinnerung an den Widerstand als relevant für das eigene Leben anzusehen, war es nicht nötig, sich einer bestimmten Konfession zugehörig zu fühlen, sondern es genügte, christlichen oder auch „allgemein menschlichen“ Werten verbunden zu sein. Selbst die Geschichtswissenschaft vertrat diese Einschätzung und betonte vor allem die moralische Dimension des Widerstands. Auch Inge Scholl hatte in ihren ersten Überlegungen zum Widerstand der Weißen Rose eine solche Interpretation nahegelegt. Diese Deutung erwies sich nun nach Kriegsende als kompatibel zum neu entstehenden westdeutschen Geschichtsbild und er53 [Inge Scholl]: Zum Gedenken an Hans und Sophie Scholl und ihre Freunde…, ohne Angabe [vermutlich Rundfunk, ca. 1945] (IfZ Menchen, ED 474, Bd. 397).
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möglichte Inge Scholl Zugang zur Debatte über Widerstandserinnerung. In der Folgezeit war so eine breite gesellschaftliche Verankerung der Erinnerung an die Weiße Rose möglich. Gleichzeitig ließ sich über die Erzählung des Widerstands als Martyrium eine Entschuldungsstrategie etablieren, die die Grenzen zwischen Täter, Opfer und Mitläufer verschwimmen ließ. Die Frage nach individueller Schuld, nach Reue und Buße löste sich auf, weil die Glaubenstat einiger weniger sie gesühnt zu haben schien.
I. Unveröffentlichte Quellen Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München (IfZ) ED 474: Nachlass Inge Aicher-Scholl Fa 215: Sammlung Weiße Rose Stadtarchiv München Nachlass Kurt Huber
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a. M. 2003. Aicher-Scholl, Inge (Hg.): Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl. Frankfurt a. M. 1993. Alt, Karl: Todeskandidaten. Erlebnisse eines Seelsorgers im Gefängnis MünchenStadelheim mit zahlreichen im Hitlerreich zum Tode verurteilten Männern und Frauen. München 1946. Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung. Göttingen 2003. Eckel, Jan: Geschichte als Besinnung. Hans Rothfels’ Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. In: Danyel, Jürgen u. a. (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Göttingen 2007, 33–36. –: Intellektuelle Transformationen im Spiegel der Widerstandsdeutungen. In: Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002, 140–176. Goschler, Constantin: Politische Moral und Moralpolitik. Die lange Dauer der „Wiedergutmachung“ und das politische Bild des „Opfers“. In: Knoch, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007, 138–156.
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Guardini, Romano: Die Waage des Daseins. Rede zum Gedächtnis von Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Prof. Dr. Huber, gehalten am 4. November 1945. Tübingen u. a. 1946. Hikel [Friederich], Christine: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose. München 2013. Helsen, Hans von: Helden gegen Hitler. In: Süddeutsche Zeitung, 23. 10. 1945. Kirchberger, Günther : Die „Weiße Rose“. Studentischer Widerstand gegen Hitler in München. München 1980. Macho, Thomas: Zum Bedeutungswandel der Begriffe des Opfers und des Opfertodes im 20. Jahrhundert. In: Treml, Martin / Weidner, Daniel (Hg.): Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung. München 2007, 225–235. Probst, Angelika: Christoph Probst. In: Der Fährmann. Zeitschrift der katholischen Jungmänner-Gemeinschaft im Bund der katholischen Jugend (1947), H. 3, 8–11. Rothfels, Hans: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung. Krefeld 1949. Scholl, Inge: Die weiße Rose. Frankfurt a. M. 1952. Scheler, Barbara: „Im Geiste der Gemordeten…“. Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit. Paderborn / München / Wien u. a. 2000. Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes: Von „Helden“ und „halben Heiligen“. Darstellungen und Wahrnehmungen der Weißen Rose 1943 bis 1948. In: Kißener, Michael / Schäfers, Bernhard (Hg.): „Weitertragen“. Studien zur „Weißen Rose“. Festschrift für Anneliese Knoop-Graf zum 80. Geburtstag. Konstanz 2001, 97–118. Vinke, Hermann: Das kurze Leben der Sophie Scholl. Ravensburg 1980. Zankel, Sönke: Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell. Köln u. a. 2008.
Christine Gundermann
Widerstand als „Brückenbauer“ Zur Widerstandsrezeption der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste
Die Aktion Sühnezeichen (AS) begann ihr Wirken 1958. Ziel des Gründers Lothar Kreyssig war es, ein Zeichen der Sühne und Versöhnung stellvertretend für „das deutsche Volk“ in den Ländern zu tätigen, die „Gewalt“ von den Deutschen erlitten hatten1. Diese Zeichen sollten von deutschen Jugendlichen errichtet werden. Bis heute haben mehr als 10.000 Freiwillige einen solchen Dienst erbracht, erst in Westeuropa, später in der ganzen Welt. Anfänglich errichteten die Freiwilligen ganz im Sinne des Gründers Gebäude als Sühnezeichen; in dieser Bauphase entstanden mehr als 25 Begegnungszentren, Wohnhäuser und Heime. Nach der Umstrukturierung der AS in einen Langzeitfreiwilligendienst 1968, nun unter dem Namen Aktion Sühnezeichen/ Friedensdienste (ASF), arbeiteten die jungen Deutschen vor allem in sozialen Diensten und engagierten sich in hohem Maße für eine kritische öffentliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte. Die nationalsozialistischen Verbrechen waren für Kreyssig und seine Mitstreiter Anlass zur Gründung der AS, Kreyssig war selbst Mitglied der Bekennenden Kirche und seine Handlungen waren stark durch seine Erfahrungen im NS-Staat geprägt. Die Rezeption der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs waren von entscheidender Bedeutung für alle Mitglieder der AS. Die ASF entwickelte sich zu einem der wichtigsten christlichen deutschen Vereine, die sich kritisch mit der deutschen Vergangenheit und Erinnerungskultur auseinandersetzen und bis heute immer wieder öffentlich fragen, was dies für unsere Gegenwart bedeutet. So beteiligten sich die Mitglieder der ASF nicht nur aktiv an Gedenkritualen für (vergessene) Opfer des Nationalsozialismus, sondern setzten sich zum Beispiel ebenso für Bleiberechte von Asylsuchenden ein. Handlungen als Sühne für die deutschen Verbrechen erstrecken sich also nicht nur auf die Opfer des Nationalsozialismus, sondern ebenso auf Missstände in der Gegenwart und deren aktuelle Opfer, nun als Friedensdienst. Widerstandsnarrative spielten in der Vereinsgeschichte eine vielschichtige Rolle: Widerstand gegen den Nationalsozialismus und auch gegen die deutschen Besatzer wurde breit erinnert, ohne in eine überhöhte Verehrung abzugleiten. Der christliche Widerstand war dabei nur ein Aspekt der Erinnerung, der sich vor allem durch die Verortung vieler Gründungsmitglieder in 1 Skriver, Aktion Sühnezeichen, 13.
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der Bekennenden Kirche erklären lässt. Die eher unspezifische Rezeption von Widerstand, so die hier vertretene These, ermöglichte zum einen eine positive Identifikation der Freiwilligen mit ihrer Herkunft und der zu erbringenden Sühne-Leistung. Andererseits ermöglichten der Kontakt mit ehemaligen Widerstandskämpfern und der Bezug zu zentralen Widerstandsgeschichten der jeweiligen Nationen überhaupt erst ein Arbeiten im Ausland. Die Erinnerungen an den Widerstand erscheinen „multidirektional“, wie der amerikanische Kulturwissenschaftler Michael Rothberg in seiner Analyse der Veränderungen von Shoah-Erinnerungen herausgestellt hat. Danach können etablierte Erinnerungen von verschiedenen Kollektiven genutzt werden, um auf das Leiden einer bisher im eigenen Erinnerungskollektiv unterrepräsentierten Gruppe aufmerksam zu machen2. Wie dies geschah und wie sich die Freiwilligen selbst mit Widerstandsnarrativen auseinandersetzten, wird im Folgenden in drei Schritten ausgeführt. Erstens werden die historischen Wurzeln der Aktion Sühnezeichen (AS) in der Bekennenden Kirche beleuchtet, zweitens werden historische Deutungsangebote der AS in Eigenpublikationen und Vorbereitungsmaterialien analysiert und schließlich drittens am Beispiel der Freiwilligen in den Niederlanden erläutert, wie die jungen Deutschen mit diesen Deutungsangeboten umgingen und welche Akzente sie selbst setzten. Die Niederlande wurden ausgewählt, weil hier nicht nur der erste Einsatz der deutschen Freiwilligen stattfand, sondern die AS auch in den 1960er Jahren das größte und teuerste Gebäude ihrer Geschichte in Rotterdam erbaut hat3. Den Niederlanden kam also eine besondere Bedeutung zu, bevor es der ASF möglich war, in Israel und Osteuropa zu wirken.
1. Die Wurzeln der Aktion Sühnezeichen Bereits 1952 entwarf Lothar Kreyssig als Präses der sächsischen Provinzialsynode einen ersten Gründungsaufruf für eine „Aktion Versöhnungszeichen“. Er diskutierte seinen Entwurf unter anderem 1954 mit Helmut Gollwitzer, der seit 1934 der Bekennenden Kirche angehörte und nunmehr als Nachfolger Karl Barths systematische Theologie in Bonn lehrte. Gollwitzer schlug vor, besser von einer „Aktion Sühnezeichen“ zu sprechen, denn eine Versöhnung sollte ja erst mit einer entsprechenden Tat erreicht werden, und nicht bereits vorausgesetzt werden. 1958 verlas Kreyssig seinen Aufruf auf der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands in Berlin: „Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist. […] Aber noch können wir, unbeschadet der Pflicht zu gewis2 Vgl. Rothberg, Multidirectional Memory. 3 Vgl. Gundermann, Bürger, 226–228. Nur der Bau der Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz in den 1980er Jahren übertraf das finanzielle Budget des Rotterdam-Projektes.
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senhafter politischer Entscheidung, der Selbstrechtfertigung, der Bitterkeit und dem Haß eine Kraft entgegensetzen, wenn wir selbst wirklich vergeben, Vergebung erbitten und diese Gesinnung praktizieren. Des zum Zeichen bitten wir die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, daß sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun, ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Versöhnungszeichen zu errichten. Laßt uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen wir wohl am meisten wehgetan haben.“4
Schuldeinsicht, die Hinwendung zu Gott und die damit verbundene Annahme des stellvertretenden Opfers Christi sollten einen Handlungsspielraum für das deutsche „Volk“ eröffnen, den Kreyssig letztlich als Grundbedingung für das Gelingen einer deutschen Vergangenheitsbewältigung ebenso wie als Voraussetzung für eine europäische Integration verstand5. Kreyssigs Aufruf traf auf eine hochpolitisierte Synode. In der Bundesrepublik hatte nicht nur der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess eine Debatte um die deutsche Schuld ausgelöst, ebenso führten Entschädigungsforderungen aus den im Aufruf genannten Nationen und auch die in der EKD deutlichen antikommunistischen Strömungen zu Diskussionen. So war die Zustimmung zu Kreyssigs Idee anfangs gering. Zu den ersten Unterzeichnern gehörten aber unter anderem Gustav Heinemann als ehemaliger Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD, der amtierende hessen-nassauische Kirchenpräsident der EKD Martin Niemöller und Wilhelm Niesel als Mitglied des Rates der EKD und Präses des Reformierten Bundes – Männer, die bereits an der Stuttgarter Schulderklärung mitgewirkt hatten6. Ein Blick auf die Biografie Lothar Kreyssigs und die Organisationsstruktur der AS zeigt ihre starke Verwurzelung in der Bekennenden Kirche und – nach Kreyssigs Selbstverständnis – anderen Widerstandskreisen. Kreyssig wandte sich unter dem Erstarken des Nationalsozialismus der Bekennenden Kirche zu. 1934 trat er der lutherisch-sächsischen Bekenntnisgemeinde Flöha bei, ein Jahr später wurde er Präsident der 1. Sächsischen Bekenntnissynode und engagierte sich fortan in der Bekennenden Kirche. Ab 1937 arbeitete er am Amtsgericht Brandenburg/Havel als Vormundschafts-, Register- und Nachlassrichter. In diesem Zusammenhang lehnte er die Löschung jüdischer Firmen im Handelsregister ab. Nach Zusammenstößen mit „Deutschen Christen“ wurden strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Ein 4 Skriver, Brücken, 13. Eine theologische und semantische Deklination der Sühne- und Versöhnungsbegriffe muss an dieser Stelle ausbleiben, da auch innerhalb der AS und später der ASF immer wieder Verständnisschwierigkeiten diskutiert wurden, deren Wiedergabe hier den Fokus der Arbeit überschreitet. Vgl. Legerer, Entstehung, 47. Legerer bezieht sich hier auf die Ausführungen Manfred Karnetzkis, der von 1993 bis 2001 Vorstandsvorsitzender der ASF war und als solcher mehrfach über die Extensionen des Sühne- und Versöhnungsbegriffs kritisch reflektierte. 5 Vgl. Legerer, Entstehung, 16 f. Zur Vorgeschichte des Aufrufs vgl. auch Kammerer, ASF, 13 f. 6 Mit der Stuttgarter Schulderklärung gestand die EKD ihr Versagen während der Zeit des Nationalsozialismus ein. Vgl. Vollnhals, Erblast, 379–431.
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Dienststrafverfahren gegen Kreyssig folgte, denn er hatte sich als Vormundschaftsrichter 1940 bei Reichsjustizminister Franz Gürtner beschwert. Er vermutete hinter den häufigen Todesmeldungen über seine Mündel eine systematische Tötung und protestierte dagegen. Trotz Verwarnung erstattete er sogar Anzeige gegen den zuständigen Reichsleiter Philipp Bouhler wegen Mordes und versuchte die Verlegung seiner Mündel in Anstalten zu verhindern, in denen solche Todesfälle vermehrt aufgetreten waren. Gegen Kreyssig erging kein Urteil, sein Gesuch auf Ruhestand verhinderte dies. 1942 wurde er pensioniert7. Besonders der Gründer und Leiter der Evangelischen Akademie zu Berlin Erich Müller-Gangloff hatte großen Einfluss auf die Ausgestaltung des Gründungsaufrufes und war maßgeblich an der Operationalisierung der Versöhnungskonzeption der AS beteiligt8. Anton Legerer interpretiert in seiner Dissertation Kreyssigs und Müller-Gangloffs Vita auf Grund von Selbstzeugnissen vor allem als Wandlungsgeschichte von deutsch-nationalen zu bekennenden Christen; aus dieser Wandlung sei bei beiden auch die Motivation zur Gründung der AS erwachsen9. Dass noch während des Krieges eine deutschnationale Einstellung und die Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche kein Widerspruch war, blendeten beide Personen in der persönlichen Rückschau aus10. Als Gründungsdirektor der Evangelischen Akademie zu Berlin war es ein zentrales Anliegen Müller-Gangloffs, die nationalsozialistische Geschichte aufzuarbeiten und den geringen, aber vielfältigen Widerstand gegen das NS-Regime zu thematisieren11. Gotthard Kutzner fungierte als Hausjurist der AS. Ursprünglich war er Regierungsdirektor des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Er akquirierte Finanzmittel, leitete die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und warb Freiwillige an. In den ersten Jahren der AS tat er dies zum Beispiel über Kontakte zu Sozialpfarrämtern, Berufsschulen und den Deutschen Gewerkschaftsbund. Zusammen mit Lothar Kreyssig schuf er ein Netzwerk aus Freunden und Unterstützern, das sich vor allem aus bereits bestehenden Netzwerken aus der Bekennenden Kirche speiste. Über die in Berlin anwesenden „fraternal workers“ und den Ökumenischen Rat der Kirchen stellten sie zum Beispiel Kontakte zum Ausland her. In den ersten Jahren waren Angehörige der Bekennenden Kirche und des Kreisauer Kreises die wichtigsten innerdeutschen Unterstützer der AS. Anton Legerer fasst dies unter dem Phänomen des „Widerstandsmilieus“ der AS zusammen und führt in diesem Zusammenhang Personen wie den Sozialpfarrer Harald Poelchau und Otto Heinrich von der Gablentz auf. Aber auch verwandtschaftliche Beziehungen lassen sich nachweisen. So wurde Freya 7 8 9 10 11
Vgl. Legerer, Entstehung, 71–73. Vgl. ebd., 85–87. Vgl. ebd., 79–81, 85–87. Vgl. Grettner, Brandstifter, 401; Nowak, Geschichte, 256. Vgl. ebd., 90.
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Gräfin von Moltke Ehrenvorsitzende des 1960 gegründeten Dachvereins „Versöhnungszeichen e.V.“; ihr Lebensgefährte, der bekannte Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy, hatte mit seiner Erfahrung von der Durchführung freiwilliger Arbeitsdienste auch Einfluss auf die Gestaltung der AS. Ulrike von Moltke gehörte zu den ersten Freiwilligen der AS in Israel und Margarethe von Trotha, als eines der ersten Mitglieder des Kreisauer Kreises war schließlich ab 1972 Mitglied des Vorstandes der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste12. Obwohl der christliche Widerstand ein wichtiges Element im Leben der Gründer und Unterstützerinnen der AS war, wurde er nicht zur Doktrin für die Freiwilligen erhoben. Die wenigen erhaltenen Unterlagen aus den ersten „Rüsten“, so nannte man die Vorbereitungszeit der Freiwilligen, zeigen dies deutlich. Die „gute“ Vergangenheit der Gründungsmitglieder war viel mehr eine notwendige Voraussetzung, um überhaupt im Ausland Kontakte aufbauen zu können. Auch hier erwiesen sich die Netzwerke von Bekennender Kirche und dem Ökumenischen Rat der Kirchen als sehr wertvoll13. Der Blick auf dieses „Widerstandsmilieu“, wie es Anton Legerer formulierte, zeigt zugleich die enorme Spannung, unter der die AS ihre Arbeit aufnahm. Weder die Gründungsmitglieder noch die jugendlichen Freiwilligen gehörten zu den „Schuldigen“ und Tätern, für die man Buße tun wollte. Allein dies ermöglichte erst die vielen Einsätze junger Deutscher im Ausland. Es blieb jedoch für die Jugendlichen eine enorme Herausforderung, sich selbst die Frage zu beantworten, wie und für was genau sie eigentlich Buße taten und Versöhnung erbitten wollten.
2. Zur Geschichtsrezeption der ASF Wie die AS und später die ASF mit der deutschen und insbesondere mit ihrer eigenen Geschichte umgegangen sind, lässt sich exemplarisch anhand von Eigenpublikationen und den Materialien zur Vorbereitung der Freiwilligen in einem Langzeitquerschnitt über 30 Jahre analysieren. Zentral für die AS war die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld und den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Widerstandsnarrative haben in den Selbstdarstellungen der AS wenige Spuren hinterlassen. Das betraf aber nicht nur konkrete Widerstandshandlungen einzelner Mitglieder, sondern generell historische Reflexionen, wie der Schriftsteller Volker von Törne in einem Brief an Lothar Kreyssig Ende der 1970er Jahre kritisierte14. Die Mitglieder des Führungskreises haben nur sehr 12 Vgl. ebd., 108 f. 13 Das lässt sich am Beispiel des Visser ’t-Hooft-Centrums zeigen. Für die AS hatte sich nicht nur der in Berlin tätige und aus Rotterdam stammende „fraternal worker“ Johannes Siezen und der in Rotterdam hochgeachtete Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde, Hans Fischer, eingesetzt, sondern auch der Ökumenische Rat Rotterdams. Vgl. Gundermann, Bürger, 226 f. 14 Der Brief ist ohne genaue Datumsangabe, es handelt sich bei der Akte um Schriftstücke aus den
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wenige öffentliche Debatten darüber geführt und kein einheitliches Geschichtsbild an die Freiwilligen weitergegeben. Es lässt sich daher nur ein eher unvollständiges Mosaik zeichnen. Erste Hinweise über die Widerstandsrezeption finden sich zum zehnjährigen Jubiläum der AS. Franz von Hammerstein, der seit 1968 Vorsitzender der AS war, und Volker von Törne, der seit 1963 als ihr Geschäftsführer fungierte, veröffentlichten 1968 eine erste Gedenkschrift unter dem Titel „10 Jahre Aktion Sühnezeichen“. Darin enthalten war auch ein Beitrag des Bischofs der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Kurt Scharf, der in einem historischen Rückblick zwar Kreyssig als mutigen Widerstandskämpfer beschrieb; eine intensive Heldenverehrung Kreyssigs als Ikone der AS lässt sich daraus jedoch nicht ablesen15. In diesem Sammelband findet sich ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Franz von Hammerstein berichtet, dass die jeweils aktivsten Partner für Versöhnungsdienste nicht nur Mitarbeiter in Gedenkstätten und ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager seien, sondern auch Friedenskirchen, und – speziell in Norwegen – ehemalige Widerstandskämpfer16. Für die Niederlande lässt sich das ebenso bestätigen17. Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime spielte also vor allem als Netzwerk nach 1945 eine bedeutende Rolle für die Auslandsarbeit der AS und später der ASF. Zentral in solchen und anderen Schriften ist ein anderer Gedanke, der sich mit der wichtigsten Botschaft der AS – der Sühne und Versöhnung – auseinandersetzt: der Prozess des Umdenkens und damit eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die die AS couragiert begleiten und fördern wollte, und die, so Erich Müller-Gangloff 1968, noch nicht erfolgt war18. Umso mehr wurden Bauerfolge im Ausland gefeiert, wie auch Ansgar Skrivers Schrift „Brücken über Blut und Asche“ zeigt; hier wurden die einzelnen Projekte näher beschrieben und als Versöhnungswerk gefeiert19. Widerstandsleistungen wurden auch hier nicht besonders hervorgehoben oder mythisiert. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen ging es den Gründungsmitgliedern darum, stellvertretend für die Deutschen Zeichen zu setzen und diese damit auch anzusprechen. Eine Betonung der eigenen „unbelasteten“
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Jahren 1973–1979 (EZA Berlin, 614/57). Von Törne kritisierte, dass Kreyssig die Geschichte zu oft unter individuellen theologischen und historischen Reflexionen dargestellt habe, ohne konkrete Bezüge zu gesellschaftlichen, kirchlichen und politischen Kontexten herzustellen. Vgl. Scharf, Zum 70. Geburtstag von Lothar Kreyssig, 5–7. Vgl. Hammerstein, Sühnezeichen, 20–29. So waren zwei der zentralen niederländischen Kontaktpersonen beim AS-Einsatz auf GoereeOverflakkee ehemalige KZ-Häftlinge. Auch das Projekt in Rotterdam wäre nicht ohne den umfangreichen Einsatz des Pfarrers der Deutschen Evangelischen Gemeinde Rotterdams möglich gewesen, der wegen seiner oppositionellen Haltung während der Besatzung inhaftiert worden war und damit den niederländischen Bürgerinnen und Bürgern als „guter Deutscher“ galt. Vgl. Gundermann, Bürger, 211, 187. Vgl. Meller-Gangloff, Umkehr, 52–55. Vgl. Skriver, Brücken.
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Vergangenheit hätte die Mehrheit der Deutschen jedoch im Zweifel eher an das eigene Versagen erinnert. Außerdem war der deutsche Widerstand in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht positiv besetzt. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat Erich Müller-Gangloff, der der AS auch nach deren Gründung nahe stand, in seiner Zeit als Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin so viele Veranstaltungen zu dem Thema Widerstand durchgeführt – diese Art der Aufklärungsarbeit war bitter nötig. Die Aktion konnte nur dank deutscher Spenden ihre Versöhnungsbotschaft ins Ausland überbringen. Es war dafür von entscheidender Bedeutung, möglichst einen großen Kreis an Unterstützern auch außerhalb der EKD zu gewinnen. Ein klares Widerstandsnarrativ in der eigenen Gründungsgeschichte hätte aber in der sich im Wirtschaftswunder einrichtenden bundesdeutschen Gesellschaft nur wenig Resonanz und eine oftmals unliebsame Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit gefördert. Hätten hier Widerstandsnarrative die Aufforderungen zur Umkehr verdrängt, wäre das sicherlich für viele potentielle deutsche Geldgeber ein Grund gewesen, sich nicht zu engagieren. Taten und Gesten einer (christlichen) Versöhnung20 waren in der deutschen Gesellschaft weitaus willkommener. Je aktiver die AS auf geschichtspolitischer Ebene wurde und sich öffentlichkeitswirksam engagierte, desto stärker trug sie auch Erinnerungsdebatten aus. In der Vereinszeitschrift zeichen lässt sich das gut nachvollziehen, auch im Hinblick auf Widerstandsnarrative. So betonten zum Beispiel Franz von Hammerstein und Gerhard Möckel 1974: „…wir fühlen uns bis heute den Widerstandsgruppen von Norwegen bis Griechenland, von Frankreich bis Polen und der SU verbunden, auch dem Kreisauer Kreis, Einzelnen wie Dietrich Bonhoeffer, die nicht nationale oder sonstige Gruppeninteressen vertraten, sondern Menschen vom Terror befreien wollten.“21
Bis heute, so die beiden Autoren, verpflichtete dieses historische Erbe zur Nachahmung. Und damit zeigt sich in den 1970er Jahren deutlich die Funktion, die Widerstandsnarrative innerhalb der ASF einnahmen – sie waren eine der wichtigsten positiven Identifikationsmöglichkeiten der „Sühnezeichler“ mit der deutschen Vergangenheit und dadurch ebenso Brückenbauer zu den Gastländern, in denen die Freiwilligen ihre Dienste leisteten. So konnten die „Sühnezeichler“ zwar als „Büßer“ für die nationalsozialistischen Verbrechen kommen, waren aber gleichzeitig für die Gastländer durch ihre historischen Wurzeln und ihr Alter „gute Deutsche“. Über Jahrzehnte hinweg waren diese Interpretationen der Geschichte in vielen Ländern die Grundbedingungen, damit überhaupt ein Einsatz von Deutschen an sensiblen geschichtspoliti20 In der Tat verwendete Kreyssig oftmals Sühne und Versöhnung synonym, das zog sich auch durch die Presseberichte. In den Niederlanden wurde die AS deswegen auch oftmals als „Aktion Versöhnungszeichen“ wahrgenommen. Vgl. Gundermann, Bürger, 207–326. 21 Hammerstein / Mçckel, Vorwort, 2.
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schen Orten erfolgen konnte. In dem Zitat von Hammerstein und Möckel zeigt sich ebenso eine eher unspezifische Definition von Widerstand. Weder wurden einzelne Gruppen besonders hervorgehoben, noch klar definiert, ab wann eine Handlung als Widerstand galt. Damit konnte die ASF auf ein sehr breites Verständnis von Widerstand zurückgreifen. In den Vorbereitungsmaterialien für die Freiwilligen lassen sich deutlicher Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte ablesen. Am Beispiel der Niederlande lässt sich zeigen, dass die AS erst im Laufe der Jahre eine spezifische historische Vorbereitung für die Freiwilligen entwickelte. Die ersten Freiwilligen, die 1959 auf der südholländischen Insel Goeree-Overflakkee Bäume pflanzten und eine Ferienunterkunft für Arbeiter errichteten, fuhren noch gänzlich ohne Informationen über die Besatzung der Niederlande über die Grenze. Der zweite Einsatz in den Niederlanden fand 1961 im friesischen Joure statt. Die Freiwilligen errichteten hier ein Gemeindehaus. Da der Dienst ein Ersatz für einen Israel-Einsatz war, der wegen des beginnenden Eichmann-Prozesses nicht starten konnte, sah das Rahmenprogramm des Einsatzes nicht nur IwritStunden vor, sondern auch einen Besuch der Freiwilligen im Anne-FrankHaus in Amsterdam. Damit hatten die Freiwilligen erste Informationen über die Shoah in den Niederlanden erhalten, jedoch keine spezifischen Informationen über die Besatzung der Niederlande22. Aber auch bei dem größten und äußerst symbolträchtigen Bauprojekt, dass die AS in den 1960er Jahren plante, dem Bau des „Visser ’t-Hooft-Centrums“, einer Sozialakademie in Rotterdam, wurden die Sühnezeichler vor der Abfahrt in die Maas-Stadt nicht über die Verbrechen der deutschen Besatzer oder die daraus entstandene niederländische Erinnerungskultur unterrichtet. Diesen Einsatz in Rotterdam hatte Lothar Kreyssig seit Gründung der AS vorbereitet, denn die Bombardierung der Stadt am 14. Mai 1940 war ähnlich wie die Bombardierung Coventrys oder Warschaus bereits während des Zweiten Weltkrieges zum Symbol der Zerstörungswut der Nationalsozialisten geworden. In den Niederlanden war Rotterdam einer der zentralen Erinnerungsorte für die deutsche Besatzungszeit geworden. Ein Versöhnungszeichen in Rotterdam errichten zu dürfen, war gleichzeitig ein Signal von (inter-)nationaler Tragweite. Hier übernahm der Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde Rotterdams, Hans Fischer, eine Unterweisung der SühnezeichenFreiwilligen nach deren Ankunft, um sie über die Geschehnisse von 1933 bis 1945 aufzuklären23. Fischer hielt einen solchen Geschichtsunterricht grundlegend für das Gelingen dieses Sühnezeichens, nicht zuletzt, weil die Freiwilligen Kontakte zu der einheimischen Bevölkerung suchten und auch fanden. Die Fertigstellung und Eröffnung des Visser ’t-Hooft-Centrums in Rotterdam im Jahr 1968 markiert eine Zäsur in der Arbeit der AS. Mit der Umwandlung 22 Vgl. Gundermann, Bürger, 211–213. 23 Vgl. ebd., 231.
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Das Visser ’t-Hooft-Centrum in Rotterdam, 1968 von Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen erbaut (Foto Christine Gundermann, März 2008).
der AS in einen Freiwilligendienst endeten die Baueinsätze, die jungen Deutschen waren nun Langzeitfreiwillige. Damit veränderte sich auch die soziale Herkunft der Freiwilligen. Waren es anfangs junge Menschen aus verschiedenen Klassen und Milieus gewesen, die sich engagieren, aber auch kostengünstig ins Ausland wollten, so traten nun durch die Möglichkeit des „Ersatzdienstes“ immer mehr junge Menschen mit bildungsbürgerlichem und politisch eher linkem Hintergrund solche Dienste an24. Das hatte Konsequenzen auf die inhaltliche Vorbereitung und damit auch auf die interne geschichtspolitische Ausrichtung der ASF. Seit den 1970er Jahren lassen sich daher immer mehr Seminare zu dem mittlerweile zentralen Thema der ASF, dem Holocaust und dem Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit diesem historischen Erbe finden. Wenn auch bei weitem nicht im selben Maße, spielte auch der deutsche Widerstand eine stärkere Rolle, nicht zuletzt in den Vorbereitungsmaterialien für die Freiwilligen25. 24 Vgl. ebd., 240; vgl. Bernhard, Zivildienst, 194–196. Bernhard erfasst dieses Phänomen unter dem Stichwort der „Akademisierung“ der Kriegsdienstverweigerer. 25 Vgl. 1974–1975: Vorbereitungsmaterialien für Freiwillige (EZA Berlin, 97/1067); Vorberei-
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Die 1968 errichtete Stele vor dem Visser ’t-Hooft-Centrum kennzeichnet das Gebäude als Teil eines Sühne- und Versöhnungsangebotes an die Rotterdamer Bürgerinnen und Bürger (Foto Christine Gundermann, März 2008).
In den ersten Jahren seit der Umstrukturierung der ASF hatten Langzeitfreiwillige in den Niederlanden mehrere Probleme zu bewältigen. Sie wurden intensiv über die Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah in Vorbereitungen unterwiesen, u. a. war ein Besuch einer KZ-Gedenkstätte in allen Vorbereitungsseminaren ein zentrales Element. Die Freiwilligen erfuhren aber zu wenig über die Geschichte des Landes, in das sie entsandt wurden. Gerade das deutsch-niederländische Verhältnis war aber im europäischen Vergleich besonders durch die deutsche Okkupation belastet. Die Freiwilligen wurden daher oftmals mit Ressentiments konfrontiert, die sie sich nicht erklären konnten. Damit erlebten sich die Freiwilligen häufig als Einzelkämpfer, die ihrer antizipierten Sühneleistung zumindest in Gesprächen über den Zweiten Weltkrieg nicht gerecht werden konnten. Das veränderte sich, als sich die Freiwilligen in den Niederlanden Ende der tungsmaterialien für Freiwillige (EZA Berlin, 97/253); und 1986–1989: Schriften zu Widerstand und Holocaust (EZA Berlin, 97/1067).
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1970er Jahre vernetzten und durch einen Koordinator Unterstützung erhielten. Nun trafen sich die jungen Deutschen regelmäßig, tauschten sich aus und konnten auf eine erste Materialsammlung über die niederländische Erinnerungskultur zurückgreifen: In diesen Materialien hieß es einführend zur Geschichte der ASF, dass diese theologisch an die Bekennende Kirche anknüpfe und sich politisch an den Kreisauer Kreis um Graf von Moltke orientierte. Daraus folge nicht nur eine gemeinsame Erinnerung an den Nationalsozialismus, sondern auch der Wille, für die von ihm verursachten Schäden einzustehen und künftige Entwicklungen in dieser Richtung zu bekämpfen26. Die Widerstandshandlungen der Bekennenden Kirche und des Kreisauer Kreises sollten als historisches Vorbild für die Gegenwart dienen. Auch Martin Niemöllers Schrift „Kirche und Faschismus. Erfahrung und Verpflichtung aus dem Widerstand“ als Material für die Freiwilligen Mitte der 1970er Jahre stützte diese Interpretation27. Aus dem Jahr 1984 finden sich Seminarunterlagen über die „Barmer Theologische Erklärung und ihre Auswirkungen auf die Ökumene“. Darin heißt es, dass der „Kirchenkampf in Holland“ von der Bekennenden Kirche im nationalsozialistischen Deutschland gelernt hätte, die niederländischen Christen sich aber weitaus intensiver der Judenfrage gewidmet hätten28. Auch hier zeigt sich der Gedanke eines historischen deutschniederländischen Brückenschlages. Des Weiteren finden sich Materialien über die Geschichte der Niederlande während des Zweiten Weltkrieges. Neben einem nicht näher spezifizierten Aufsatz mit dem Titel „Ein Volk wehrt sich“, der die Freiheitsliebe der niederländischen Bevölkerung hervorhebt und über Widerstandsgruppen, den berühmten Februarstreik von 1941, der eine Reaktion auf die antijüdischen Maßnahmen der Besatzer war, die Judenverfolgung und die Brutalität der Besatzer berichtet, liegen Auszüge aus dem Tagebuch der Anne Frank bei sowie Kapitel aus Theun de Vries’ „Der Aufstand“ und „Das Mädchen mit dem roten Haar“29. In der fiktionalen Geschichte „Der Aufstand“ erzählt de Vries den Februarstreik aus der Perspektive einer Familie nach. „Das Mädchen mit dem roten Haar“ wiederum ist ein Roman über die niederländische Widerstandskämpferin Hanni Schaft30. Der Holocaust war für die ASF Ende der 1980er Jahre bereits das zentrale Erinnerungsfeld geworden, wie weitere 26 Vgl. Niederlande, Vorbereitungsmaterialien 1981, kurze Geschichte der ASF (EZA Berlin, 97/ 1271). 27 Vgl. 1974–1975: Vorbereitungsmaterialien für Freiwillige (EZA Berlin, 97/252). 28 1976–1984: Materialien über NL für Freiwillige (EZA Berlin, 97/409). Susanne Hennecke stellt den intensiven Austausch der deutschen und niederländischen Theologen während der deutschen Besatzung eindrucksvoll dar, vgl. Henneke: Karl Barth, 263–265. In den Materialien der ASF werden diese Transferprozesse nicht ausgeführt, es ist jedoch anzunehmen, dass der deutsche Kirchenkampf durch die aus dem Deutschen Reich flüchtenden Theologen in den Niederlanden intensiv rezipiert und dadurch die niederländische Diskussion forciert wurde. 29 Vries, Mädchen; ders., Stadt. 30 Vgl. Niederlande, Vorbereitungsmaterialien 1981 (EZA Berlin, 97/1271).
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Materialien31, aber auch die bereits erwähnte allgemeine Vorbereitung für alle Freiwilligen belegen. Die Werke von Theun de Vries waren jedoch noch in den frühen 1980er Jahren Ikonen der niederländischen Erinnerungskultur, die vor allem die eigene moralische Integrität und die damit verbundenen Widerstandshandlungen hervorhoben. Damit nahm die ASF die enorme Bedeutung von Widerstandserzählungen für die niederländische Gesellschaft wahr und an. Gleichzeitig konnten die Freiwilligen dieses Wissen um zentrale niederländische Erinnerungsorte nutzen, um geschichtskulturelle Verbindungen zu bauen, wenn sie sich selbst und die ASF in der Nachfolge der Bekennenden Kirche präsentierten. Widerstandserzählungen fungierten in diesem Sinne als wichtige Brücke. Diese Materialien wurden zusammen mit Informationen zu aktuellen gesellschaftlichen Krisen in der Bundesrepublik und den Niederlanden angeboten. So findet sich ein Plakat für „Hanni Schaft Herdenking ‘79“ neben Artikeln über Rudi Dutschkes Tod über Emanzipation und Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft bis hin zur Frage der sicheren Nutzung von Atomkraftwerken32. Auch in Spendenbriefen setzte sich die ASF vermehrt mit Tugenden auseinander, die in Bezug zu konkreten gesellschaftlichen Anlässen wie Asylpolitik und Ausländerfeindlichkeit ein Wegsehen, Schweigen und Unbeteiligtsein vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen scharf angriffen33. Die historischen Wurzeln der ASF in deutschen Widerstandskreisen wurden so in einen aktuellen Diskurs übertragen. Diese Interpretation der Geschichte war äußerst hilfreich für die Freiwilligen, denn 1989 war auf der Hauptamtlichenklausur für die Freiwilligen in Westeuropa festgehalten worden, dass es eine immer größere Kluft gab zwischen der Außendarstellung der ASF als Organisation, die das Unrechtsregime des Nationalsozialismus „sühnte“, und der Notwendigkeit, in der aktuellen politischen Situation Stellung zu beziehen. Probleme gesellschaftlicher Randgruppen, so meinte man, würden „nicht dadurch gelöst [werden], dass ich ihnen ein negatives Bild der NS-Zeit gegenüberstelle. […] Vor dem Hintergrund einer Analyse von Faschismustheorien und dem Willen, daß so etwas nie wieder geschehen darf, setzen wir unsere Kräfte für antifaschistische Arbeit ein. Dieses bedeutet heute das Studium internationaler Zusammenhänge und einen umfassenden Einsatz für Gerechtigkeit.“34
31 Vgl. 1989–1991 (EZA Berlin, 97/1375). 32 Vgl. 1979–1980: Niederlande/Belgien: Info-Bündel der Freiwilligen (EZA Berlin, 97/1359). 33 Vgl. 1975–1992: Spendenbriefe und Spender, ASF-Gemeindebrief Nr. 4/März 1992 (EZA Berlin, 97/1793). 34 Vgl. 1988–1989: Mitarbeiter, Arbeitstagungen und Vermerke, Bemerkungen zur Hauptamtlichenklausur am 4. und 5. 12. 1989 (EZA Berlin, 97/25).
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3. Geschichtsrezeptionen der Freiwilligen Die Freiwilligen nahmen die oben skizzierten Interpretationen der Geschichte an, wie ein Flugblatt aus den späten 1970er Jahren belegt35. Solidarität mit den Opfern des deutschen Faschismus verpflichte auch zur Solidarität mit den aktuellen Opfern von Unrecht und Gewalt. Das bedeutete aber auch eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen. Seit den 1980er Jahren setzten sich die Freiwilligen immer intensiver mit der Besatzung und in besonderem Maße der Judenverfolgung in den Niederlanden auseinander. Dass der niederländische Widerstand ebenso intensiv rezipiert wurde, ist bereits im vorangehenden Abschnitt dargestellt worden. Ende der 1970er Jahre wurden die Freiwilligen in den Niederlanden und Belgien über ihren Dienst hinaus aktiv. Sie organisierten eine Wanderausstellung unter dem Titel „Het verzet in Duitsland tegen het Nationaal-Socialisme 1933–1945“36. Über die Entstehung und die konkreten Inhalte der Ausstellung ist im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin nur wenig Material erhalten, sie scheint aber von einer ähnlichen Ausstellung inspiriert worden zu sein, die im Sommer 1979 in Rotterdam unter dem Titel „Duits Verzet 1933–1945“ gezeigt wurde37. Kurz vor dem 40. Jahrestag des Überfalls auf die Niederlande beschäftigten sich viele niederländische Städte mit ihrer Geschichte. In diesem Zusammenhang wurden an mehreren Orten, wie zum Beispiel in Enschede, erstmals Informationen über den in den Niederlanden geradezu unbekannten deutschen Widerstand präsentiert. Da solche Ausstellungen auf einer von der deutschen Botschaft bereit gestellten Wanderausstellung basierten38, kann hier spekuliert werden, inwieweit dies auch eine Möglichkeit war, den im Hinblick auf den Jahrestag wieder zunehmenden antideutschen Ressentiments ein positives Image entgegenzustellen. Widerstandsnarrative waren Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre eine sehr gute Möglichkeit, an den populären Geschichtsdiskurs in den Niederlanden anzuknüpfen, der immer noch vom „klein, aber tapfer“-Image geprägt war und im Kern auf einem Narrativ basierte, das eine „kleine, tapfere und letztlich unbesiegte Nation unter deutscher Okkupation“ tradierte39. Unabhängig davon führten solche Ausstellungen wie auch die der ASF zu einer intensiven
35 Vgl. 1978–1980: Regionalgruppen ehemaliger Freiwilliger und Freunde von ASF, allgemeine Vermerke und Rundbriefe (EZA Berlin, 97/697). 36 Ü: Der Widerstand in Deutschland gegen den Nationalsozialismus 1933–1945 (GAR, 444.04/ 202). 37 Ü: Deutscher Widerstand 1933–1945; Programm und Ankündigung der Ausstellung. Ebd. 38 Vgl. Gundermann, Bürger, 159. 39 Ebd., 33.
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und oftmals positiven Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte von Niederländern und Deutschen40. Die elf zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden aktiven Freiwilligen erarbeiteten die Wanderausstellung zusammen mit zwei Frankfurter Vereinen, dem dortigen VVN und dem „Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des deutschen Widerstandes 33–45“. Die Eröffnungsansprache im März 1980 hielt der renommierte Zeithistoriker Ger van Roon. Die Wanderausstellung wurde in fast allen Wirkungsstätten der Freiwilligen gezeigt, so zuerst im Rosenstock-Huessy Huis in Haarlem, im späten Frühjahr im Mozeshuis in Amsterdam und danach in Amersfoort. Die Ausstellung wurde äußerst positiv aufgenommen, wie Presseberichte und die Besucherbücher zeigen. Viele Besucher zeigten sich erstaunt über die Vielfalt des Widerstandes, die beteiligten Gruppierungen und deren Ziele und fragten, warum das kein Thema im niederländischen Schulunterricht sei. Die deutschen Jugendlichen, so ein niederländischer Zeitungsartikel, seien auf der Suche nach Vorbildern auf die Widerstandskämpfer gestoßen, die ASF-Freiwilligen und die ASF selbst hatten in Pressenachrichten ein solches Bild vermittelt41. Auch die Akten im Evangelischen Zentralarchiv bestätigen die Interpretation des historischen Widerstandes als aktuelles Vorbild. So wurden Presseausschnitte über die Ausstellung zusammen mit Artikeln zu neonazistischen Bewegungen in der Bundesrepublik und den Niederlanden für die zukünftigen Freiwilligen in den Vorbereitungsunterlagen aufbereitet42. Die in den Niederlanden starke öffentliche Diskussion um die sogenannten Berufsverbote in der Bundesrepublik legte zudem die Frage nahe, wie es denn mit der Sicherung der Demokratie beim deutschen Nachbarn bestellt sei. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Widerstand bot damit nicht nur einen die nationalen Grenzen überschreitenden Erinnerungstransfer an, sondern war ebenso geeignet, aktuelle Spannungen im deutsch-niederländischen Verhältnis auf zivilgesellschaftlicher Ebene argumentativ aufzugreifen. In diesem Sinne wirkte die Auseinandersetzung mit dem Widerstand zweifach als brückenbauendes Element.
40 So tourte eine Ausstellung über den deutschen Widerstand seit 1979 durch die Niederlande, die u. a. in der Euregio und im Frühjahr 1980 im Paleis am Dam gezeigt wurde; die „Verzetstoonstelling 1933–19nu“. In der Euregio führte das zur intensiven Kontaktaufnahme von ehemaligen deutschen und niederländischen Widerstandskämpfern. Vgl. Gundermann, Bürger, 166. 41 Vgl. Übersetzungsnotiz: aus Die Neue vom 21. 3. 1980 aus 1979–1980: Niederlande/Belgien: Info-Bündel der Freiwilligen (EZA Berlin, 97/1359). 42 Vgl. Niederlande/Belgien: Info-Bündel der Freiwilligen (EZA Berlin, 97/1359); Niederlande Vorbereitungsmaterialien 1981 (EZA Berlin, 97/1271).
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4. Fazit Die AS und später die ASF haben sich vor allem mit den für sie zentralen Begriffen von Schuld, Sühne und Versöhnung auseinandergesetzt. Eine intensive Erinnerung an den deutschen christlichen Widerstand war dagegen nicht ihr Ziel. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die ASF in ihrer Erinnerungskultur keine historischen Märtyrer des christlichen Widerstandes schuf und in ihrem Masternarrativ die Bekennende Kirche und der Kreisauer Kreis vor allem als Wurzel und Inspiration eine Rolle spielten. Eine zu intensive Betonung dieser Wurzeln war jedoch in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende in der deutschen Nachkriegsgesellschaft noch nicht anschlussfähig, zu wenige Menschen konnten und wollten sich mit der eigenen Schuld oder mit denen, die Widerstand geleistet hatten, auseinandersetzen. Doch gleichzeitig erlaubten ihre Wurzeln im Widerstand der AS erste Sühne- und Versöhnungsbotschaften ins Ausland zu tragen. Die Männer und Frauen aus der Bekennenden Kirche und dem Kreisauer Kreis ermöglichten der AS europäische Netzwerke zu knüpfen, teils zu anderen ehemaligen Widerstandskreisen. Andererseits zeichnete die Widerstandsvergangenheit der AS sie aber auch im Ausland öffentlich als „gute Deutsche“ aus, gerade in den Niederlanden war dies eine Grundvoraussetzung, um überhaupt eine Sühneleistung stellvertretend für die Bundesrepublik erbringen zu dürfen. Erst mit der Umgestaltung der AS zur Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste 1968 spielte eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen bei der Vorbereitung der Sühnezeichler eine entscheidende Rolle. Diese Prozesse gingen einher mit Veränderungen der Erinnerungsdiskurse in der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Rezeption des Widerstandes spielte dort mit einsetzender Historisierung des Nationalsozialismus eine wichtigere Rolle, ohne jedoch den Diskurs über die Shoah zu übertönen. In den 1970er und 1980er Jahren setzten sich daher auch vermehrt die Freiwilligen mit dem deutschen Widerstand auseinander. Die Ausstellung der Freiwilligen 1979 in den Niederlanden zeigt, dass diese als geschichtskulturelles Element verbindend, also brückenbauend, wirken konnte. Der historische Widerstand wirkte als Vorbild für die Freiwilligen, die Parallelen zogen zwischen den Taten der Gründerväter der AS und ihrem eigenen Einsatz für Minderheiten, Benachteiligte und Stimmenlose in aktuellen politisch-gesellschaftlichen Prozessen.
I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) Bestand 614
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57: Nachlass L. Kreyssig 1973–1979. Bestand 97 25: 1988–1989: Mitarbeiter, Arbeitstagungen und Vermerke 252: 1974–1975: Vorbereitungsmaterialien für Freiwillige 253: 1975: Vorbereitungsmaterialien für Freiwillige 409: 1976–1984: Materialien über NL für Freiwillige 697: 1978–1980: Regionalgruppen ehemaliger Freiwilliger und Freunde von ASF, allgemeine Vermerke und Rundbriefe 1067: 1986–1989: Schriften zu Widerstand und Holocaust 1271: 1979–1981: Niederlande, Vorbereitungsmaterialien für Freiwillige 1359: 1979–1980: Niederlande/Belgien: Info-Bündel der Freiwilligen 1375: 1989–1991: Materialien über NL, Zeitungsartikel etc. 1793: Spendenbriefe und Spender Gemeentearchief Rotterdam (GAR) Bestand 444.04 202: Algeme Zaken, hier: Duitsland (BRD/DDR)
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982. München 2005. Grettner, Michael: Brandstifter und Biedermänner. Deutschland 1933–1939. Stuttgart 2015. Gundermann, Christine: Die versöhnten Bürger. Der Zweite Weltkrieg in deutschniederländischen Begegnungen 1945–2000. Münster 2014. Hammerstein, Franz von: Vom Sühnezeichen zum Friedensdienst. In: ders. / Törne, Volker von (Hg.): 10 Jahre Aktion Sühnezeichen. Berlin 1968, 20–29. Hammerstein, Franz von / Mçckel, Gerhard: Vorwort. In: zeichen 3 (1974), 2. Henneke, Susanne: Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960). Göttingen 2014. Kammerer, Gabriele: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Aber man kann es einfach tun. Göttingen 2008. Legerer, Anton: Schuld, Sühne und Versöhnung nach den nationalsozialistischen Verbrechen in der BRD, DDR und Österreich. Entstehen und Wirken von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und Gedenkdienste. Florenz 2007. Meller-Gangloff, Erich: Umkehr oder Umsturz? Fragen an eine erinnerungslose Generation. In: Hammerstein / Törne, 10 Jahre, 52–55. Nowak, Kurt: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 1995.
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Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009. Scharf, Kurt: Zum 70. Geburtstag von Lothar Kreyssig. In: Hammerstein / Törne, 10 Jahre, 5–7. Skriver, Ansgar : Aktion Sühnezeichen. Brücken über Blut und Asche. Stuttgart 1962. Vollnhals, Clemens: Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung. Die Erblast des Nationalprotestantismus. In: Gailus, Manfred / Lehmann, Hartmut (Hg.): Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes. Göttingen 2005, 379–431. Vries, Theun de: Das Mädchen mit dem roten Haar. Roman aus der Widerstandsbewegung 1942–1945. Berlin 1961. –: Stadt wider den Tod. Amsterdam 1941. Berlin 1965.
Peter Haigis
„Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand“ Zur Geschichte der Erinnerungsinitiativen um die Pfarrhauskette
Die Tatsache, dass in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung Juden in Deutschland durch private Rettungsinitiativen der Deportation entgingen – wenn auch nur in vergleichsweise geringer Zahl –, ist historisch bereits gut erforscht. Auch dass dabei evangelische Pfarrhäuser regional eine wichtige Rolle spielten, ist – zumindest in Fachkreisen – weithin bekannt. Doch wie ist es um die öffentliche Erinnerung an die Pfarrhauskette bestellt? Wo und wie wird das Gedächtnis daran gepflegt? Im Folgenden soll zunächst geklärt werden, was sich hinter dem Schlagwort der „Pfarrhauskette“ verbirgt. Die beiden anschließenden Abschnitte nehmen Bezug auf Phasen der Publikationsgeschichte zum Thema. Dabei ist das 2007 erschienene Buch des Autors „Sie halfen Juden. Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand“1 selbst Teil der hier vorgestellten Rezeptionsgeschichte. Deshalb werden Entstehungshintergründe sowie persönliche Erfahrungen des Autors mit der Rezeption des Buches thematisiert. Schließlich sollen weitere Rezeptionsformen, die sich auf die Pfarrhauskette beziehen, in den Blick genommen werden. Die Ausführungen dienen außerdem dem Ziel, die Initiierung und Pflege der Erinnerung an die Pfarrhauskette anzuregen.
1. Die „Pfarrhauskette“ – ein Netzwerk zur Hilfe für untergetauchte Juden in der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Die historische Materie, um die es in diesem Beitrag geht, ist mit dem Begriff „Pfarrhauskette“ nur unzureichend erfasst. Im Zuge des fortschreitenden Krieges und der immer brutaler werdenden Zwangs- und Gewaltmaßnahmen des NS-Staates gegenüber Juden entstand Anfang 1942 eine neue Situation: Die damals noch im Reich verbliebenen und zur Zwangsarbeit gedrängten Juden sollten in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden, um sie dort mittels einer industriellen Tötungsmaschinerie systematisch zu beseitigen. An eine weitere „Verwendung“ im Rahmen von Zwangsarbeit war nicht gedacht – mit Ausnahme der in der Rüstungsindustrie tätigen jüdischen 1 Vgl. Haigis, Juden.
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Zwangsarbeiter. Dies änderte sich im Januar und Februar 1943 durch Massendeportationen, die nun auch diese Gruppe erfassten2. Angesichts der neuen Gefährdungslage tauchten zunächst viele der in Berlin, dann aber auch in anderen deutschen Großstädten noch lebenden Juden unter. Wir besitzen eine Reihe von Aufzeichnungen dieser Geschichten, zum Teil aus der Perspektive der Verfolgten, zum überwiegenden Teil aber aus der Perspektive der „Retter“ erzählt. An ihrer Dokumentierung und systematischen Auswertung hat das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin wesentlichen Anteil3. Der Begriff des „Untertauchens“ meint zweierlei: zum einen den Versuch, sich in die Hände von Fluchthelfern zu begeben, um den Weg ins sichere Ausland, etwa in die Schweiz, zu finden; zum anderen den Versuch, mittels einer verdeckten Identität oder in einem Versteck das eigene Überleben bis zum Ende des Krieges zu sichern. In beiden Fällen war es nötig, in den Besitz gefälschter Papiere zu gelangen und den Kontakt zu vertrauenswürdigen Personen zu erhalten. Im zweiten Fall jedoch war auch das tägliche Überleben, und das heißt zunächst einmal Obdach und Lebensunterhalt, vor dem Hintergrund der ungewissen Länge des Krieges und der fortdauernden Bedrohung durch den NS-Staat zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang erhielt die zunächst auf die inneren Belange der evangelischen Kirche gerichtete Arbeit der Bekennenden Kirche eine neue Herausforderung und Dynamik. Anfangs waren es Pfarrer der Bekennenden Kirche in Berlin, die für die Not der flüchtigen und untergetauchten Juden sensibilisiert wurden und mittels der Bereitstellung von Asylorten reagierten4. Diese Idee griff bald auf Kirchenkreise in anderen Landeskirchen Deutschlands über. Sie war auch notwendig, weil die Kapazitäten in Berlin, Brandenburg und Pommern nicht ausreichend waren, um die untergetauchten Juden zu retten. Sowohl die verstärkten Bombenangriffe als auch die zurückgedrängten Frontlinien sowie die faktische Erschöpfung zur Verfügung stehender Quartiere machten ein Ausweichen notwendig5. Im Blick auf die sogenannte württembergische Pfarrhauskette, lassen sich folgende Beobachtungen festhalten, die bedingt verallgemeinerungsfähig sind: Pfarrhäuser boten sich als Aufenthaltsorte für Verfolgte aus verschiedenen Gründen in besonderer Weise an. Sie waren geräumig, hatten halböffentlichen Charakter und großen Besucherverkehr. Diese Umstände erlaubten 2 Rçhm / Thierfelder, Juden, Band 4/2, 188. 3 Vgl. Kosmala / Schoppmann, Überleben; und Benz, Überleben. – Die hierin enthaltenen Studien zeigen, dass der Einsatz mutiger Männer und Frauen in der evangelischen Kirche in dieser Sache nur Teilmoment einer größeren Unterstützungsbewegung war. Die nachfolgende Fokussierung auf diesen Teil hat hier nicht den Sinn, das Widerstandshandeln einzelner Christen besonders hervorzuheben, sondern die spezifischen Voraussetzungen und Möglichkeiten, aber auch Wirkungen solchen Handelns in den Blick zu nehmen. 4 Vgl. Rçhm / Thierfelder, Juden, Band 4/1, 161 ff. 5 Vgl. Haigis, Juden, 186 ff.
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es zwar weniger, ein anonymes Versteck anzubieten, eröffneten aber umso leichter die Möglichkeit, Verfolgte als Bombenflüchtlinge getarnt zu beherbergen und dies wiederum nach außen als Werk christlicher Nächstenliebe zu vertreten. Die Pfarrer der Bekennenden Kirche standen aufgrund ihres Interesses, die ideologische Überfremdung ihrer Verkündigungsarbeit durch die NS-Doktrin abzuwehren, in einem intensiven Arbeits- und Gesprächskontakt. Versammlungen, die dem Austausch theologischer Arbeit dienten, konnten leicht und unbemerkt von Partei, Staat und Öffentlichkeit, zur Organisation der Asylhilfe für untergetauchte Juden genutzt werden. In Württemberg als einer sogenannten intakten Kirche war die Bekennende Kirche nicht durch eine Parallelstruktur zur verfassten Kirche, sondern in Arbeitsinitiativen in ihr organisiert. Hier bestanden zwei Gruppierungen, die im Geist der Bekennenden Kirche arbeiteten, ein „rechter“ und ein „linker“ Flügel: die „Evangelische Bekenntnisgemeinschaft“6 und die „Kirchlich-theologische Sozietät“7. Im Blick auf die Hilfe für verfolgte Juden arbeiteten beide Gruppierungen – trotz ihrer theologischen Differenzen – Hand in Hand. Ansonsten bleiben die organisatorischen Hintergründe und Entstehungsbedingungen des württembergischen Helferkreises weitgehend im Dunkeln. Um sich dem Zugriff der Gestapo zu entziehen, wurden keinerlei schriftliche Unterlagen angefertigt. Man beschränkte sich auf den mündlichen Austausch. Zudem war keinem der Helfer das gesamte Netzwerk bekannt. Jeder verfügte nur über eine Reihe von Namen und Kontakten im eigenen Bekanntenkreis. Eine systematische Übersicht sollte aus Sicherheitsgründen niemand haben. Nach dem Krieg schwiegen sich viele der Helfer lange über ihre Tätigkeit aus, zum Teil aus Bescheidenheit oder aus dem Schuldgefühl heraus, letztlich zu wenig getan zu haben, gewiss auch aus einer Scheu vor gesellschaftlicher Missbilligung. So bleiben spät, d. h. ca. 25 bis 45 Jahre danach verfasste Lebensrückblicke der Protagonisten, oft die einzige Rekonstruktionsquelle neben den Berichten und Erinnerungen der Verfolgten selbst. Während die Pfarrkollegen meist das institutionelle Rückgrat der Hilfsarbeit darstellten, kann man die Frauen in den Pfarrhäusern als die „ökonomische Basis“ bezeichnen. Sie waren diejenigen, die den Alltag bis hinein in die ganz praktischen häuslichen und wirtschaftlichen Fragen zu bewerkstelligen und dabei die tägliche Überlebenshilfe zu leisten hatten: Lebensmittel bereitstellen, Wäsche waschen, Verletzungs- und Krankheitsfälle pflegen etc. Rasch zeigte sich, dass – aufs Ganze gesehen – unter den genannten Bedingungen eine Unterbringung in Landpfarrhäusern unproblematischer und 6 Der Vorsitzende des Landesbruderrats der Bekennenden Kirche und langjährige Leiter der Bekenntnisgemeinschaft hat ihre Geschichte später rückblickend aus seinen eigenen Erfahrungen ausführlich dargestellt, vgl. Dipper, Bekenntnisgemeinschaft. 7 Martin Widmann, dessen Vater Richard zur „Sozietät“ gehörte, hat die Geschichte der „Kirchlichtheologischen Sozietät“ später kenntnisreich rekonstruiert und nennt auch die Namen zahlreicher Mitglieder, vgl. Widmann, Geschichte, 142 f.
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auch ungefährlicher war als in den Städten – unproblematischer, weil beispielsweise die Versorgungslage auf dem Land besser war, und ungefährlicher, weil die Städte von den Bombardements viel stärker betroffen waren.
2. Phasen der Publikationsgeschichte zum Thema Pfarrhauskette Die wichtigste Quelle zum Thema Pfarrhauskette ist der von Max und Ines Krakauer gemeinsam im Mai 1945 verfasste Bericht „,Lichter im Dunkel‘. Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich“. Dabei handelt es sich um eines der frühesten, vor allem aber das umfassendste persönliche Dokument von Beteiligten über die Pfarrhauskette. Im Oktober 1947 wurde das Buch unter der Lizenz-Nummer „US-W1102“ der „Publications Control“ im Stuttgarter Behrendt-Verlag als achter Band der von Karl M. Fraas herausgegebenen Reihe „Das kleine Gildenbuch“ in einer Auflage von 5000 Exemplaren erstmals veröffentlicht. Der 125 Textseiten umfassende Bericht erwähnt die Namen der Helfer jedoch nur in Kürzeln. Dies deutet meines Erachtens darauf hin, dass Krakauer gegen die eigene Absicht, seine Retter dem Vergessen zu entreißen, die Bereitschaft der Öffentlichkeit für eine solche Transparenz offenbar skeptisch einschätzte. Krakauers Aufzeichnungen wurden dann nahezu 30 Jahre später, im Jahr 1975, nach dem Tod von Max und Ines Krakauer – er verstarb 1965, sie im Jahr 1972 – vom Quell-Verlag Stuttgart übernommen und von Pfarrer Otto Mörike (1897–1978), der als eine Schlüsselfigur der württembergischen Pfarrhauskette bezeichnet werden kann, als Reprint erstmals neu ediert. Das Motiv für die Neuauflage sowie wohl auch für das lange Schweigen, das inzwischen über dieser Geschichte lag, benennt Mörike in seinem Vorwort unter Anknüpfung an ein Zitat von Dorothee Sölle aus ihrem Buch „Leiden“: „,Leidfrei bleiben wollen kann eine Art Berührungsangst sein, man will nicht angerührt, angesteckt, befleckt, hineingezogen werden, man hält sich so weit wie möglich heraus, kümmert sich um seine Angelegenheiten…‘ Dieses Wort trifft doch wohl das Verhalten, das wir Deutschen und wir Christen im Dritten Reich in all dem Leid und Leiden gegenüber den Verfolgten in den Konzentrationslagern und vor allem gegenüber den Juden an den Tag legten – mit Ausnahmen.“8 Die Neuauflage von 1975 enthält eine im Anhang beigegebene Liste mit den vollen Namen aller Fluchthelfer sowie ein Geleitwort des ehemaligen württembergischen Landesbischofs D. Dr. Martin Haug (1895–1983). Haug verweist auf die inzwischen weitgehend bekannte Geschichte der NS-Judenverfolgung in ihren grauenhaften Ausmaßen. „Dagegen ist das Schicksal der verhältnismäßig wenigen Juden, welche die Schreckensjahre in Deutschland 8 So in seinem Vorwort zu: Krakauer, Lichter, 3 (Zitate und Verweise erfolgen, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe).
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selbst, in Verstecken aller Art und unter unvorstellbaren Ängsten und Nöten durchgemacht und wider alles Erwarten überlebt haben, weithin unbekannt geblieben.“9 Für Haug war es wohltuend und „tröstlich“, neben dem „grauenvolle(n) Dunkel jener Jahre“ „auch helle Lichter in dem Dunkel“ zu sehen: „den Glaubensmut und die Barmherzigkeit von Christen und anderen Mitmenschen“10. Doch dürfte die neu publizierte Rettungsgeschichte Krakauers nicht nur jene tröstliche Funktion gehabt und Menschen, die halfen, entlastet haben; offenbar hat sie in späterer Zeit eben auch belastend gewirkt, denn immer stand die Frage mit im Raum, warum es so wenige waren, die halfen. Warum sonst hatte man das Zeugnis Krakauers jahrzehntelangem Schweigen ausgesetzt? Neben der erinnernden Sicherung des Geschehenen angesichts eines drohenden Vergessens beinhaltete Mörikes Neuauflage mit der Nennung der Namen indirekt eine Kritik an der vorangehenden Generation, die nicht geholfen hatte. Neu ediert erzielte „Lichter im Dunkel“ dann bis 1998 in rascher Folge insgesamt achtzehn Auflagen, was das starke und anhaltende Interesse an dieser Geschichte spiegelt. Ab der zehnten Auflage 1991 wurde die Ausgabe mit einem neuen Geleitwort von Freya von Moltke versehen. Anders als Haug schlägt von Moltke deutlich kritischere Töne an: Die in diesem Buch erzählte Geschichte – „zugleich schrecklich und tröstlich“ – dürfe nicht zu falschen Vorstellungen über den Widerstand gegen das mörderische Treiben des NSStaates führen. Auch die erwähnten Pfarrer und Pfarrfrauen, die halfen, seien „leider nur eine Minderheit“ gewesen; und im Blick auf die geretteten Juden heißt es: „Stolz kann man darauf nicht sein; dazu ist die Zahl zu gering. Die Angst war meistens größer als die Menschlichkeit.“11 Den Schluss ihres Geleitworts bildet eine knappe Notiz über ihren eigenen Bezug zum aktiven Widerstand. Nach 1991 war Krakauers Buch zunächst vergriffen, bis es Ende 2007 vom Calwer Verlag Stuttgart neu publiziert wurde12. Diese Neuausgabe folgte dem 1947 veröffentlichten Text von Max Krakauer, wobei die ursprünglich abgekürzten Namen der Fluchthelfer nun im fortlaufenden Text ausgeschrieben waren. Angereichert wurde die Edition durch zahlreiche Fotos aus dem Bestand der erwähnten Familien und Einzelpersonen. Zum beigegebenen Bildmaterial gehört auch die Geburtsurkunde Max Krakauers sowie jeweils eine Kartenskizze und tabellarische Ortsauflistung der Fluchtroute Nord und der Fluchtroute Süd. Eine biographische Zeittafel und ein Personenregister er9 10 11 12
Geleitwort von Landesbischof i. R. Haug in ebd., 4. Ebd., 5. Geleitwort von Freya von Moltke zu Krakauer, Lichter (1991), 4 f. Neu herausgegeben von Gerda Riehm und Jörg Thierfelder. – Ich habe leider erst nach dem Erscheinen meines Buches von dem Publikationsvorhaben des Calwer Verlags Kenntnis bekommen, andernfalls hätten sich beide Publikationen, die überdies dasselbe Titelmotiv verwenden, gewiss besser koordinieren lassen.
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leichtern die Orientierung. Ein Nachwort von Jörg Thierfelder schildert die „Nachgeschichte“ der Familie Krakauer nach 1945, etwa die Wiederbegegnung mit der 1920 geborenen und 1939 nach England ausgereisten Tochter Inge, verheiratete Stutzel, oder den fortdauernden Kontakt mit den Retterfamilien. Auf diese Weise wird „dieses in seiner Art einmalige Zeugnis christlicher Solidarität mit Juden durch zahlreiche zeitgenössische Abbildungen, Karten und Übersichten bereichert und gerade auch den nachgeborenen Generationen wieder zugänglich gemacht“13. Andere kürzere Berichte aus der Perspektive der Verfolgten ergänzen die Quelle Max Krakauers, so etwa das 53-seitige Typoskript „Unsere Schicksale seit dem 30. Januar 1933“ von Hermann und Herta Pineas, datiert auf den 18. Mai 1945 in Memmingen, dem damaligen Aufenthaltsort des Ehepaares, der als zweitwichtigste Quelle gelten kann. Das Berliner jüdische Ehepaar Dr. med. Hermann und Herta Pineas erlebte vom 4. März 1943 an bis zum Kriegsende in Memmingen eine ähnliche Geschichte wie das Ehepaar Krakauer. Hermann und Herta Pineas flüchteten zunächst getrennt nach Wien bzw. Süddeutschland und ab Juli 1943 weitgehend gemeinsam durch Württemberg, wo sie teilweise dieselben Unterkünfte fanden wie das Ehepaar Krakauer. Im Unterschied zu Krakauers Bericht wurde der Bericht des Ehepaars Pineas in Auszügen allerdings erst 1982 veröffentlicht14. Etwas früher, nämlich bereits 1967/68, fand die autobiografische Erinnerung von Beate Steckhan, betitelt „Nacht über Deutschland“, den Weg in die Öffentlichkeit. Bereits Anfang Januar 1943 konnte Beate Steckhan aus Berlin im Wankheimer Pfarrhaus bei Richard und Hilde Gölz (1887–1975 bzw. 1893–1986) eine Zufluchtsstätte finden. Sie blieb dort zehn Wochen bis zum 21. März des Jahres. Wie Max Krakauer und Hermann Pineas so hat auch Beate Steckhan über ihre Fluchtbewegungen einen Bericht angefertigt, allerdings nicht so detailliert und präzise in den Abgaben von Orten, Zeiten und Namen ihrer Fluchthelfer. Steckhans Bericht erschien erstmals 1967 in einer wenig publikumswirksamen Veröffentlichung und wurde im Jahr darauf nachgedruckt, bezeichnenderweise jedoch in Berlin-Ost, was wohl ebenfalls auf die schwierige Rezeptionsgeschichte dieses Themas im damaligen Westdeutschland verweist. Offenbar war die bundesdeutsche Öffentlichkeit für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema der Hilfe für verfolgte Juden in den Sechziger Jahren noch nicht bereit. Teilweise haben auch die beteiligten Pfarrer die Ereignisse dokumentiert: so der Gerstetter Pfarrer Gerhard Holzapfel (1908–2000), in dessen Pfarrhaus das verfolgte Ehepaar Pineas im Sommer 1944 unterkam, in seinem Bericht „Die Rettung des jüdischen Ehepaars Pineas“15 oder der seinerzeit in Ebers13 Eberhard Röhm in seinem Vorwort zu Krakauer, Lichter (2007), 8. 14 Vgl. Richarz, Jüdisches Leben, 429–442. 15 Abgedruckt bei Sauer, Schicksale, 440–442.
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bach/Fils Dienst tuende Pfarrer Hermann Diem (1900–1975), Mitglied der „Kirchlich-theologischen Sozietät“, der in seinen Lebenserinnerungen über die Pfarrhauskette, über Fluchthilfeaktivitäten für verfolgte Juden sowie über die dramatischen Umstände der Berliner Jüdin Therese Neumann berichtet. Diese war mit ihren beiden Söhnen als Bombenflüchtling im Diemschen Pfarrhaus untergekommen. Ihre wahre Identität wurde jedoch aufgedeckt und die Gestapo ließ die Mutter und ihre beiden Jungen abholen und später nach Auschwitz deportieren. Ihr Mann, ein jüdischer Kantor aus Berlin, überlebte als einziger aus seiner Familie und konnte nach dem Krieg in die USA ausreisen. Diem übernahm 1949 den schweren Gang nach New York, um Herrn Neumann aufzusuchen und ihn über das Schicksal seiner Frau und seiner Söhne zu informieren16. Bis Ende der 1970er Jahre blieb es bei diesen eher spärlich gestreuten Publikationen17. Einen neuerlichen Aufschwung nahm das Interesse an den Vorgängen um die Rettung von Juden während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung dann durch eine Reihe heimatgeschichtlicher Studien in den 1980er und beginnenden 1990er Jahren, die zum Teil aus einer pädagogisch initiierten Geschichtswerkstattarbeit hervorgingen. Hierbei lässt sich, wohl einhergehend mit einem Generationenwechsel in der Autorenschaft, nun die kritische Phase der Aufarbeitungsgeschichte wahrnehmen. Zu nennen sind etwa die Veröffentlichungen von Ekkehard Hausen und Hartmut Danneck18 sowie von Joachim Scherrieble19. Hausen und Danneck widmen sich der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Orten Schwenningen und Villingen. Dabei kommen in einem vergleichsweise kleinen, aber gut dokumentierten Abschnitt die Geschehnisse in der Schwenninger Johannesgemeinde zur Sprache, in der unter anderem das Ehepaar Pineas Aufnahme fand. Die aus Österreich stammende Theologin Margarete Hoffer (1906–1991), die 1938/39 in der Jugendarbeit des Burckhardthauses Berlin-Dahlem und anschließend beim Landesverband für weibliche Gemeindejugend in Witten (Ruhr) tätig war, sollte eigentlich im Auftrag der Basler Mission in Südchina eine Bibelschule aufbauen. Nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schwanden jedoch die Perspektiven für diese Arbeit und Margarete Hoffer stellte sich auf Vermittlung des württembergischen Prälaten Hartenstein der Vertretung im Pfarrdienst zur Verfügung. Von 1941 bis 1945 vertrat sie das kriegsbedingt verwaiste Pfarramt der Johannesgemeinde und hatte sehr entschlossen Hilfsaktivitäten für verfolgte Juden initiiert20. 16 Vgl. Diem, Ja oder Nein, 131 ff. 17 Interessant wäre es in diesem Zusammenhang zu prüfen, welchen Niederschlag die Thematik in den ortsgeschichtlichen Heimatbüchern der 1960er und 1970er Jahre gefunden hat – eine Aufgabe, die ich im Vorfeld dieses Beitrags leider nicht leisten konnte. 18 Vgl. Hausen / Danneck, „Antifaschist“. 19 Vgl. Scherrieble, Du sollst dich nicht vorenthalten. 20 Vgl. Ludwig, Leuchtturm, 472.
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Joachim Scherrieble hat 1994 an der Universität Stuttgart mit einer Arbeit über Reichenbach an der Fils während der Zeit des Nationalsozialismus promoviert. Er rekonstruiert die Aktivitäten Pfarrer Theodor Dippers (1903–1969) zur Rettung verfolgter Juden. Dipper war zunächst Pfarrer in Würtingen, Dekanat Urach (1930–1934), danach stellvertretender Leiter des Evangelischen Gemeindedienstes, bevor er das Leitungsamt selbst in die Hand nahm; anschließend war er als Pfarrverweser in Neckartailfingen und dann, von 1938 bis 1945, als Pfarrer in Reichenbach/Fils tätig. Von 1934 an hatte er den Vorsitz des Landesbruderrats der Bekennenden Kirche sowie die Leitung der „Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft“ inne. Während seiner Reichenbacher Zeit wurde sein Pfarrhaus zu einem Dreh- und Angelpunkt der „Pfarrhauskette“. Bereits 1992 hatte der Kreisjugendring Esslingen die Umbenennung eines seiner Freizeitheime in „Otto-Mörike-Haus“ beschlossen und beauftragte in diesem Zusammenhang Joachim Scherrieble mit der Erstellung einer Broschüre zum Leben des früheren Kirchheimer Pfarrers (daselbst von 1935 bis 1939). Die im Juli 1995 erschienene Broschüre bietet eine umfangreiche Darstellung des Lebens von Otto Mörike und seiner Frau Gertrud (1904–1982), deren „klare und mutige Haltung […] teilweise über die ihres Mannes hinausging.“21 Wenngleich die Hilfe, die Otto und Gertrud Mörike verfolgten Juden angedeihen ließen, erst in deren Zeit in Flacht bei Weissach fällt, widmet sich Scherrieble doch auch diesen Geschehnissen in seiner Dokumentation ausführlich. Flankiert werden diese Publikationen durch zahlreiche kleinere Veröffentlichungen wie Artikel oder Artikelserien in der Lokalpresse oder in der württembergischen Kirchenzeitung, dem „Evangelischen Gemeindeblatt“. Als Beispiel sei die Broschüre „Mutige Christen im NS-Staat“ von Karl-Heinz Rueß und Marcus Zecha genannt.22 Sie geht auf eine Artikelserie in den „Göppinger Kreisnachrichten“ im Sommer 2000 zurück. Gemeinsam mit anderem Material wurde sie in der Schriftenreihe des Jüdischen Museums Göppingen publiziert, um die Artikel „anders als es der Tageszeitung möglich ist […] über den Tag hinaus einer interessierten Leserschaft zugänglich zu machen.“23 Unter den Porträtierten finden sich auch Theodor Dipper, Hermann Diem oder die Gemeindehelferin Elisabeth Braun (1910–2001), die während ihrer Zeit bei Pfarrer Holzapfel in Gerstetten das jüdische Ehepaar Pineas im Pfarrhaus beherbergte. In vielen dieser Publikationen zeigte sich sehr deutlich das teilweise durch Gedenkrhythmen – z. B. 50 Jahre Befreiung von Auschwitz oder 50 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs – motivierte Interesse, authentische Zeugnisse zu dokumentieren, so lange dies noch möglich war, (heimat)geschichtliche Tat21 Scherrieble, Du sollst dich nicht vorenthalten, 7. 22 Vgl. Ruess / Zecha, Christen. 23 So der Oberbürgermeister von Göppingen Reinhard Frank in seinem Vorwort. Ebd., 4.
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sachen dem Vergessen zu entreißen und erzählbare Zusammenhänge zu stiften. Letzteres gilt auch für ein Projekt an der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre machten sich dreizehn Studentinnen der Tübinger Projektgruppe „Frauen im Kirchenkampf“24 an die verdienstvolle Aufgabe, Zeitzeuginnen des Widerstands gegen den nationalsozialistischen Terror aufzusuchen und zu interviewen. Sie richteten ihr Augenmerk vor allem auf Frauen, die der „Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg“ angehörten und am „Kirchenkampf“ beteiligt waren. Dabei gerieten auch Frauen ins Blickfeld, die – ohne selbst Mitglieder der „Sozietät“ gewesen zu sein – Kontakte zu den dort Engagierten unterhielten und deren Arbeit aktiv unterstützten. Auf diese Weise entstanden zwölf Porträts unbequemer Frauen, die den insgesamt leider nur schwachen kirchlich-theologisch motivierten Widerstand gegen den Naziterror wesentlich mitgestalteten und trugen25. Zusätzlich sind für eine letzte Phase von den 1990er Jahren an bis zur Gegenwart umfassende Rekonstruktionen zu nennen, allen voran das auf sieben Bände angelegte Werk „Juden – Christen – Deutsche“ von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder.26 Der erste Band trägt den Titel „Ausgegrenzt“ und beschreibt die Zeit der Ausgrenzung jüdischen Lebens aus Politik und Gesellschaft in den Jahren 1933 bis1935. Die weiteren Bände sind jeweils in zwei Halbbände unterteilt. Im Band 2 („Entrechtet“) werden die antijüdischen Gesetze und Rechtsverordnungen und deren Folgen im NS-Staat dokumentiert. Der dritte Band mit dem Titel „Ausgestoßen“ widmet sich u. a. der Flüchtlingshilfe des Weltkirchenrats. Besonders interessant für das hier beschriebene Thema ist Band 4 („Vernichtet“) mit seinen beiden Halbbänden. In ihnen werden der Prozess der Verfolgung und Vernichtung der Juden von 1941 bis 1945 dargestellt sowie Hilfsmaßnahmen einzelner Personen und kirchlicher Hilfsstellen im In- und Ausland behandelt. Die württembergische Pfarrhauskette findet in einem gesonderten Kapitel im Anschluss an die Schilderung der Flucht Beate Steckhans Erwähnung. Die Autoren orientieren sich in ihrer Darstellung ebenfalls an der Geschichte der Ehepaare Krakauer und Pineas. Des Weiteren sei auf die Publikationen von Rainer Lächele und Jörg Thierfelder27 sowie Kurt Oesterle28 hingewiesen. Lächele und Thierfelder versammelten in dem von ihnen herausgegebenen Band 1998 „30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg“, darunter Otto Mörike, 24 Gudrun Bosch, Ruth Conrad, Ute Gebert, Regina Glaser, Jutta Hauser, Elisabeth Hege, Uta Joos, Dorothee Kommer, Esther Manz, Martje Mechels, Gerda Müller, Ursula Pelkner und Beate Schröder. 25 Vgl. Schrçder, Dunstkreis. 26 Publiziert 1990 ff., hier Band 4/1, Kap. 8–10. 27 Vgl. L-chele / Thierfelder, Wir konnten uns nicht entziehen. 28 Vgl. Oesterle, Gölz.
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Theodor Dipper sowie Hermann Diem und dessen Bruder Harald. Der Journalist und Schriftsteller Kurt Oesterle recherchierte in seinem ebenfalls 1998 erschienenen Buch „Richard Gölz – ein Wankheimer Licht im deutschen Dunkel“ ausführlich die Geschichte um den dortigen Pfarrer Richard Gölz und dessen Frau Hilde. Oesterles Titel spielt deutlich auf den Titel Krakauers an – ein Hinweis auf die hohe öffentliche Aufmerksamkeit, die dem nach achtzehn Auflagen weit verbreiteten Bericht von Max Krakauer zuteilwurde. Bei all diesen Publikationen handelt es sich um Versuche, aus einem gewissen historischen Abstand heraus, der freilich die Schwelle der Kopräsenz lebendiger Zeitzeugenschaft bereits überschritten hat, verfügbares Material publizistisch zu sichern, in einen Gesamtzusammenhang einzubetten und einem weiteren Publikumskreis zugänglich zu machen29. Es fällt auf, dass unter den genannten Publikationen kaum offizielle kirchliche Verlautbarungen, Stellungnahmen oder Dokumentationen zu finden sind, die sich der Aufarbeitung des Geschehens in vergleichbarer Weise widmen. Eine gewisse Ausnahme stellt hier die von dem württembergischen Kirchenhistoriker und langjährigen Leiter des landeskirchlichen Archivs Gerhard Schäfer besorgte sechsbändige Dokumentation zum Kirchenkampf dar30. Sie wird ergänzt durch den Band „Landesbischof D. Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940–1945“, den Schäfer auf der Grundlage einer im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats Stuttgart von Pfarrer i. R. Richard Fischer, Reutlingen, durchgeführten Forschungsarbeit über die Jahre 1933 bis 1945 herausgab31. In diesem Band finden sich einige wenige Schreiben und Verlautbarungen Wurms zur „Judenfrage“. Dass ansonsten die kirchenamtliche Publizistik weitgehend und lange Zeit durch das Schweigen über diese Geschehnisse charakterisiert ist, ist m. E. ein Zeichen eines nach wie vor von Verletzungen begleiteten innerkirchlichen Weges. Die Protagonisten des evangelischen Retterwiderstandes waren der damaligen württembergischen Kirchenleitung – auch theologisch – unbequem und ihre weiteren Berufsbiographien zeugen von den Zerwürfnissen mit der Landeskirche32. Zusammenfassend lassen sich drei Phasen in der Publikationsgeschichte zum Thema Pfarrhauskette unterscheiden, die allerdings ineinandergreifen und sich überlappen. Sie können umschrieben werden mit den Stichworten 1. „Dokumentation und Sammlung von Zeugnissen der beteiligten Retter oder der jüdischen Verfolgten“ (unmittelbar nach dem Krieg bis Mitte der Neunziger Jahre), 2. „kritische Aufarbeitung in der zweiten Generation“ (Mitte der Siebziger Jahre bis Ende der Neunziger Jahre) und 3. „systematische Rekonstruktion und Erschließung von Quellenmaterial und Gesamtzusammenhängen für spätere Generationen“ (ab Anfang der Neunziger Jahre). 29 30 31 32
Vgl. auch Widmann, Juden. Vgl. Sch-fer, Landeskirche. Vgl. Sch-fer, Landesbischof. Vgl. dazu Diem, Ja; Dipper, Bekenntnisgemeinschaft; Oesterle, Gölz; und Bizer, Kampf.
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3. Vorgeschichte, Entstehung und Rezeption des Buches „Sie halfen Juden“ als Beispiel der jüngeren Rezeption von innerkirchlichem Widerstand gegen den Nationalsozialismus Ich bin mit der Geschichte der württembergischen Pfarrhauskette durch einen konkreten Vorfall in derjenigen Kirchengemeinde bekannt geworden, in der ich als Pfarrer seit mehr als zehn Jahren Dienst tue. Im Jahr 2003 war an den Kirchengemeinderat der Kirchengemeinde Stetten im Remstal der Antrag herangetragen worden, am Pfarrhaus eine Gedenktafel zur Erinnerung an das jüdische Ehepaar Max und Ines Krakauer sowie an die damalige Stettener Pfarrfrau, Hildegard Spieth (1919–1999), die während ihr Mann im Krieg war, das Ehepaar Krakauer versteckte. Die Vorarbeiten zu dieser Gedenktafel, die im April 2004 realisiert werden konnte, ihre offizielle Enthüllung samt historischer Begleitveranstaltungen zur Thematik sowie das nachfolgende Publikationsbemühen, das ich hierzu in der württembergischen Landeskirche betrieb, haben mich veranlasst, das eigene Quellenstudium und meinen hierdurch gewonnenen Einblick in die Zusammenhänge einem größeren Lesepublikum zu erschließen. Es hatte sich gezeigt, dass die geschichtlichen Vorgänge, die mit derlei Rettungsinitiativen sowohl in Stetten im Remstal wie auch an anderen Orten verbunden sind, zwar nicht unbekannt waren, in der Regel jedoch wenig publizistische Würdigung erfuhren. Mein Interesse war es, ein gemeinverständliches, anhand der einschlägigen Quellen nacherzähltes und leicht und niederschwellig zu lesendes, also eher journalistisches Buch über die damaligen Ereignisse samt einer knappen Einbettung in den politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext zu verfassen. Darüber hinaus sollten die zu diesem Zeitpunkt nur noch antiquarisch zugänglichen Aufzeichnungen Max Krakauers einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zielgruppe waren interessierte Laien, Kirchengemeindeglieder, Kreise und Gruppen in der kirchlichen Erwachsenenbildung sowie Lehrerinnen und Lehrer an Schulen33. Zu den Erfahrungen, die ich mit dieser Publikationsgeschichte gemacht habe, gehören zunächst diejenigen, die jeder Laie macht, wenn er sich an historische Materie heranwagt: Es schleichen sich Fehler ein und man wird korrigiert. Doch dies trägt ja zum Erkenntnisfortschritt bei und hat mir persönlich interessante Begegnungen beschert. In den Jahren 2004 bis 2006 war es kaum noch möglich, mit lebenden Zeitzeugen zu sprechen, die zu den Aktiven der damaligen Rettungsgeschichten gehörten; meine Gesprächspartner waren in der Mehrzahl diejenigen, die die Protagonisten noch kannten, aber an den zu erzählenden Begebenheiten selbst keinen aktiven 33 Das Buch wurde Anfang 2007 veröffentlicht. Vgl. Haigis, Juden. Die Nachfrage nach Lesungen ist bis heute groß.
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Anteil hatten. So musste ich mich auf die bestehende gesicherte Quellenlage beziehen. Gleichzeitig hält das Interesse an der Geschichte der Pfarrhauskette unvermindert an. Beim Auditorium meiner Lesungen handelt es sich in der Regel um die Generation „Sechzig plus“, also eine Generation, die Krieg und Nationalsozialismus aus der Perspektive von Kindern oder Jugendlichen miterlebt hat. In allen Begegnungen erlebte ich Zustimmung, Wohlwollen, Betroffenheit und die Bereitschaft, sich für diese Geschichte, die bei den Älteren immer auch ein Stück Leid- und Schuldgeschichte aufrührt, zu öffnen; ich erlebte das Interesse an Aufklärung, niemals jedoch Ablehnung oder Protest und selten das freilich spannende Erlebnis konfligierender Konzepte zum Umgang mit der Vergangenheit.
4. Weitere Rezeptionsfelder Seit 2008 wird der 9. November in der württembergischen Landeskirche als landeskirchlicher Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938 begangen, so beschlossen von der württembergischen Landessynode im Herbst 2007. Die Gemeinden und Bezirke sind eingeladen und angehalten, an diesem Tag durch besondere Veranstaltungen – auch in ökumenischer Initiative – an die Geschichte des christlichen Antijudaismus mahnend zu erinnern. Da die Durchführung dieses Gedenktages dezentral organisiert wird, bleibt ein Resümee noch abzuwarten – ebenso, ob und inwieweit die Erinnerung an die württembergische Pfarrhauskette dabei eine Rolle spielt. In den letzten Jahren lassen sich neben Veranstaltungen der kirchlichen Erwachsenenbildung, etwa am 9. November oder am Buß- und Bettag, vor allem drei Rezeptionsfelder ausmachen: 1. Ehrungen durch Gedenktafeln oder Nennungen an Gedenkstätten. Hier sind zunächst zu erwähnen die Nennungen in Yad Vashem, Jerusalem, wo Retter verfolgter Juden weltweit geehrt werden. Etliche Beteiligte der württembergischen Pfarrhauskette haben inzwischen offiziell diese Auszeichnung erfahren34. Die früheste Ehrung findet sich bereits 1970 in Form der Yad Vashem-Medaille an Otto und Gertrud Mörike. 1975 wurde ihnen in der dortigen Gedenkstätte ein Baum in der „Allee der Gerechten“ gepflanzt. Auf zwei jüngere Beispiele der Ehrung in Yad Vashem sei an dieser Stelle verwiesen: zunächst die Auszeichnung für das Waiblinger Dekansehepaar 34 Darunter Elisabeth Braun, Gerstetten, Pfarrer Alfred Dilger gemeinsam mit seiner Frau Luise, Bad Cannstatt, Theodor und Hildegard Dipper, Reichenbach/Fils, Richard und Hilde Gölz, Wankheim, Elisabeth Goes, Gebersheim, Margarete Hoffer, Schwenningen, Otto und Gertrud Mörike, Flacht, Pfarrer Kurt Müller, Stuttgart, Pfarrer Eugen Stöffler mit seiner Frau Johanna und der Tochter Ruth, Köngen, Dekan Hermann Zeller mit seiner Frau Elsbeth, Waiblingen.
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Zeller. Dekan Hermann Zeller (1883–1953) verschaffte dem Ehepaar Krakauer gegen Ende ihrer Odyssee zunächst die Möglichkeit zu einem einwöchigen Aufenthalt im Pfarrhaus von Korb im Remstal. Nach Ablauf der Wochenfrist kamen die beiden zurück ins Waiblinger Dekanshaus, wo Zeller sie gemeinsam mit seiner Frau Elsbeth versorgte, bis er sie zu Pfarrfrau Spieth nach Stetten bringen konnte35. Die Ehrung in Yad Vashem für das Ehepaar Zeller erfolgte im Februar 2008. Suse Zeller, eine der drei Töchter, die gemeinsam mit ihren Schwestern Elisabeth und Magdalene die Medaille und die Urkunde für die Eltern aus der Hand des Gesandten der Botschaft in Berlin entgegennahm, äußerte bei der Feierstunde noch sehr deutliche Erinnerungen an die Wochen, in denen das Ehepaar Krakauer im Dekanatsgebäude gelebt hatte. Das Ehepaar Zeller sei von einem entfernten Verwandten namens Alfred Zeller zur Ehrung vorgeschlagen worden. Die entsprechende Mitteilung der Botschaft in Berlin würdigte das Ehepaar Zeller : „Sie standen nicht am Fenster und schauten zu, sondern handelten, stellten sich schützend vor die Verfolgten und versuchten, unter Einsatz des eigenen Lebens, diese zu retten.“36 Im November 2008 wurde in Waiblingen der frühere „Karolinger Schulhof“ in einen „Elsbeth-und-Hermann-Zeller-Platz“ umbenannt. Weiter wäre auf Theodor Dipper hinzuweisen, der 2003 mit dem nach ihm benannten Kirchplatz an seiner Wirkungsstätte Reichenbach/Fils gewürdigt wurde. Posthum ist er inzwischen aber auch – gemeinsam mit seiner Frau Hildegard – von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt worden. Die Auszeichnung wurde am 4. Februar 2010 in der Reichenbacher Mauritiuskirche seinem Bruder Karl und dessen Sohn Stefan übergeben. Über die Benennung des Reichenbacher Kirchplatzes nach Theodor Dipper hinaus sind in einer ganzen Reihe von Ortschaften in Württemberg Gedenktafeln im öffentlichen Raum angebracht, wie in Stetten im Remstal oder innerhalb von Gemeindehäusern. Die 2004 enthüllte Gedenktafel in Stetten gehört zu den frühen Initiativen. Ein anderes prominentes Beispiel ist der bereits im Juli 2003 durch Altbundespräsident Richard von Weizsäcker in Gebersheim bei Leonberg gestiftete Gedenkstein für Albrecht Goes (1908–2000) und seine Frau Elisabeth (1911–2007). Vom 22. August bis zum 20. September 1944 weilte das Ehepaar Krakauer bei Elisabeth Goes, geborene Schneider, Frau des Pfarrers und Schriftstellers Albrecht Goes in Gebersheim im Kreis Leonberg. Albrecht Goes war 1938 Pfarrer in Gebersheim geworden, wurde aber bald nach Kriegsbeginn zum Wehrdienst eingezogen. Die Begegnung mit der mutigen jungen Pfarrfrau, die, als ihr Mann im Kriegsdienst stand, allein das Risiko und die Verantwortung auf sich nahm, ein flüchtiges
35 Vgl. Krakauer, Lichter, 125 ff. 36 So Jürgen Veit in seinem Bericht in der Stuttgarter Zeitung vom 16. 2. 2008.
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jüdisches Ehepaar bei sich zu beherbergen, hat Max und Ines Krakauer besonders beeindruckt37. In die Reihe derlei Ehrungen fällt auch die im Oktober 2008 eröffnete Berliner Gedenkstätte „Stille Helden“, in der u. a. Elisabeth Goes, Pfarrer Kurt Müller (1902–1958) aus Stuttgart und Hildegard Spieth Erwähnung finden. Am 2. November 2011 schließlich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wurde auf dem Evangelischen Friedhof in Graz eine Gedenktafel für Margarete Hoffer enthüllt. 2. Das zweite Rezeptionsfeld ist die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen: Große Chancen für die Erarbeitung der Geschichte der Verfolgung der Juden und ihrer teilweisen Rettung bietet das inzwischen bereit gestellte Material für den Konfirmanden- und Religionsunterricht. Ich selbst habe mehrfach bei Fortbildungsveranstaltungen für Kolleginnen und Kollegen im Schuldienst in die Thematik eingeführt. 2008/09 entstand am Technischen Gymnasium Nagold im Rahmen des Religionsunterrichts eine Wettbewerbsarbeit zur Thematik, die 2009 beim 28. Landespreis für Heimatforschung den Schülerpreis erhielt und 2011 unter dem Titel „,Gerechte unter den Völkern‘. Die stillen Retter untergetauchter Juden im Nordschwarzwald und im Oberen Gäu“ in der Schriftenreihe des Vereins „KZ Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen“ veröffentlicht wurde38. Der Titel spielt an auf die als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrten Retter verfolgter Juden. 3. Ein drittes Rezeptionsfeld umfasst die mediale Erschließung und Dokumentation der Geschehnisse um die württembergische Pfarrhauskette. Bereits 1964 produzierte das ZDF den einstündigen Spielfilm „Geheimbund Nächstenliebe“ unter der Regie von Ralph Lothar über die württembergischen Hilfsaktionen für verfolgte Juden (Erstausstrahlung im deutschen Fernsehen: 14. 3. 1964). Die Spielhandlung lehnt sich an authentische Begebenheiten in Württemberg an. Kurz vor seinem Tod führte die Journalistin Sibylle Krause-Burger ein Gespräch mit Otto Mörike. Das 49-minütige Tondokument erschien 1978 unter dem Titel „Anstöße – Otto Mörike erzählt aus seinem Leben“ mit Anmerkungen von Gertrud Mörike versehen auf Schallplatte. Jüngstes mediales Produkt der Rezeptionsgeschichte der württembergischen Pfarrhauskette ist der im Jahr 2014 von Jürgen Enders produzierte Dokumentarfilm „Lichter im Dunkel – Widerstand und Fluchthilfe in württembergischen Pfarrhäusern (1933–1945)“.39 Enders erläutert den geschichtlichen Kontext und lässt letzte noch lebende Zeitzeugen zu Wort kommen. Überwiegend handelt es sich dabei um Frauen und Männer der „zweiten Generation“, die damals Kinder oder Jugendliche waren – mit einer Ausnahme: Karl Dipper, Bruder von Theodor Dipper und seiner Zeit selbst als 37 Vgl. Krakauer, Lichter, 110 f. 38 Vgl. „Gerechte unter den Vçlkern“. 39 63 Min. – Der Film ist auf DVD über den Calwer Verlag Stuttgart zu beziehen.
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Pfarrer in Würtingen auf der Alb tätig. Mit seinem Alter von 105 Jahren dürfte er der letzte Zeitzeuge gewesen sein40. Für künftige Generationen werden nun wohl die bereits dokumentierten schriftlichen und mündlichen Zeugnisse der Beteiligten sowie die historischen Rekonstruktionen sprechen müssen und die weitere Lesart der Geschichte der Pfarrhauskette bestimmen.
Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Benz, Wolfgang (Hg.): Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer. München 2003. Bizer, Eugen: Ein Kampf um die Kirche – Der „Fall Schempp“ nach den Akten erzählt. Tübingen 1965. Diem, Hermann: Ja oder Nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat. Stuttgart 1971. Dipper, Theodor : Die Evangelische Bekenntnisgemeinschaft in Württemberg 1933–1945. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfs im Dritten Reich (Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes 17). Göttingen 1966. „Gerechte unter den Vçlkern“. Die stillen Retter untergetauchter Juden im Nordschwarzwald und im Oberen Gäu (Schriftenreihe des Vereins KZ Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen e. V. Heft 1). Gäufelden 2011. Grebing, Helga / Wickert, Christel: Widerstandsarbeit von Frauen gegen den Nationalsozialismus. In: Frauen im Nationalsozialismus (Polis 7 – eine Schriftenreihe der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung) (hrsg. von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung). Wiesbaden (o. J.), 19–28. Haigis, Peter : Sie halfen Juden. Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand. Stuttgart. 2 2007. Hausen, Ekkehard / Danneck, Hartmut: „Antifaschist, verzage nicht…!“ Widerstand und Verfolgung in Schwenningen und Villingen 1933–1945. VillingenSchwenningen 1990. Hermle, Siegfried: Die antijüdische NS-Politik als Herausforderung des Protestantismus. In: Brechenmacher, Thomas / Oelke, Harry (Hg.): Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat (Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte 11). Göttingen 2011, 175–198. –: Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung in der Evangelischen Kirche nach 1945. In: Büttner, Ursula (Hg.): Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 29). Hamburg 1992, 321–337. –: Die Evangelische Kirche und das Judentum nach 1945. Eine Verhältnisbestimmung anhand von drei Beispielen: Hilfe für Judenchristen, theologische Aufarbeitung, offizielle Verlautbarungen. In: Bergmann, Werner / Erb, Rainer (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Opladen 1990, 197–217. 40 Karl Dipper verstarb 106-jährig am 3. März 2014.
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Kosmala, Beate / Schoppmann, Claudia (Hg.): Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941–1945 (Solidarität und Hilfe für Juden während der NSZeit 5). Berlin 2002. Krakauer, Max: Lichter im Dunkel. Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich. Neu herausgegeben von Gerda Riehm und Jörg Thierfelder unter Mitarbeit von Susanne Fetzer. Mit einem Vorwort von Eberhard Röhm. Stuttgart 2007. –: Lichter im Dunkel. Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich. Neu herausgegeben von Otto Mörike mit einem Geleitwort von Freya von Moltke. Stuttgart 1991. –: Lichter im Dunkel. Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich. Neu herausgegeben von Otto Mörike mit einem Geleitwort von Bischof i. R. D. Dr. Martin Haug. Stuttgart 1975. –: Lichter im Dunkel. Stuttgart 1947. L-chele, Rainer / Thierfelder, Jörg (Hg.): Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus. Stuttgart 1998. Ludwig, Hartmut: „Wie ein Leuchtturm auf dunkler See“. In: Junge Kirche 57 (1996), 470–476. Oesterle, Kurt: Richard Gölz – Ein Wankheimer Licht im deutschen Dunkel. Tübingen 1998. Richarz, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 3: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945. Stuttgart 1982, 429–442. Rçhm, Eberhard / Thierfelder, Jörg: Juden – Christen – Deutsche 1933–1945. Band 4/II: 1941–1945, Teil 2. Stuttgart 2007. – / –: Juden – Christen – Deutsche 1933–1945. Band 4/I: 1941–1945, Teil 1. Stuttgart 2004. Ruess, Karl-Heinz / Zecha, Marcus (Hg.): Mutige Christen im NS-Staat (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Göppingen). Göppingen 2002. Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der NS-Verfolgungszeit 1933–1945. Stuttgart 1969, 440–442. Sch-fer, Gerhard (Hg.): Landesbischof D. Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940–1945. Eine Dokumentation. In Verbindung mit Richard Fischer zusammengestellt von Gerhard Schäfer. Stuttgart 1968. –: Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf (6 Bände). Stuttgart 1971 ff. Scherrieble, Joachim: Du sollst dich nicht vorenthalten. Das Leben und der Widerstand von Gertrud und Otto Mörike in der Zeit des Nationalsozialismus. Herausgegeben vom Kreisjugendwerk Esslingen e. V. Stuttgart 1995. –: Reichenbach an der Fils unterm Hakenkreuz. Ein schwäbisches Industriedorf in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1994. Schrçder, Beate (Hg.): Im Dunstkreis der rauchenden Brüder (Prophezey-Schriften Nr. 5). Tübingen 1996. Steckhan, Beate: Nacht über Deutschland (hg. vom Friedjof-Nansen-Haus). Göttingen o. J. (1967); wieder abgedruckt unter dem Titel „Was ihr getan habt einem
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Phasen und Funktionen des Bonhoeffer-Gedenkens in Deutschland
Die Geschichte1 öffentlichen Gedenkens an Dietrich Bonhoeffers Widerstand ist rasch erzählt. Nur wenige Buchseiten würden genügen, wollte man sich auf seinen Freund und Biographen Eberhard Bethge als maßgebliche Deutungsautorität in dieser Sache festlegen2. Dann nämlich bräuchte hier nur noch einmal das bekannte und angenehm einfache Narrativ wiederholt zu werden, dass nach dem Kriege die evangelischen Kirchen, allen voran Bonhoeffers eigene, die Berlin-Brandenburgische, jede Würdigung dieses politischen Verschwörers in ihren Reihen eisig gemieden hätten, bevor ihn erst in den sechziger Jahren eine neue Generation zunehmend für sich entdeckt habe, stets gegen hartnäckige Widerstände von Traditionalisten3. Bethges monumentale Bonhoeffer-Biographie von 1967 wäre es dann, die aus dieser Perspektive erst den Durchbruch schaffte, so dass der einst Gemiedene verspätet zur prominenten Identifikationsgestalt des Protestantismus, zur Ikone evangelischer Frömmigkeit und zu einem international geachteten Deutschen wurde: Mit der Schlagzeile „Vom Hochverräter zum Heiligen“ ist zum 100. Geburtstag 2006 diese geradlinige Erinnerungskarriere einmal auf einen knappen und wirkungsvollen Ausdruck gebracht worden4. Vom Hochverräter zum Heiligen: damit wäre eigentlich alles gesagt. Das Ärgerliche an einer solchen Geschichte eines verzögerten Aufstiegs ist nur, dass die gedruckten und auch die archivalischen Quellen, wie sie uns übrigens besonders reich in Bethges Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek
1 Der Beitrag beruht auf Ergebnissen meiner Münchner Habilitationsschrift „Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt (1945–2006)“. Ihre Publikation ist in Vorbereitung. Zu Teilaspekten vgl. bereits Lorentzen, Geschenk; ders., Sors martyrum. — Ich nutze die Gelegenheit, der Deutschsprachigen Sektion der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft mit diesem Beitrag herzlich für die Verleihung ihres Forschungspreises 2015 zu danken. 2 Vgl. z. B. Bethge, Bonhoeffer, 1042; ders., Widerfahrnisse; und ders., Erbe, 195. 3 Noch in den Jahren um Bonhoeffers 100. Geburtstag folgten der von Bethge vorgezeichneten Linie, wenngleich stets mit Differenzierungen im Einzelnen, z. B. Ackermann, Bonhoeffer, 243–266; Gremmels, Bonhoeffer; Feil, Theologie, bes. iii–ix; Oelke, Bonhoeffer, 88 f.; Kabitz, Wirkungsgeschichte; und Klein, Märtyrer. Kritisch dazu Boeck, Bonhoeffer. 4 Kraft, Hochverräter. Inhaltlich allerdings hinterfragt der Beitrag die in der Schlagzeile so markant ausgedrückte Geradlinigkeit: „Dass Bonhoeffer in Bayern in den frühen Jahren nach seinem Tod ignoriert worden sei, wie oft behauptet wurde, entspricht so pauschal nicht den Tatsachen“ (ebd., 37).
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zugänglich sind5, ein völlig anderes Bild ergeben. Besonders dann, wenn man das Gedenken an Bonhoeffers Widerstand nicht einfach als Rezeptionsgeschichte beschreibt, die die Referentialität zur Vergangenheit betont, sondern als aktiven Teil der deutschen Kirchen- und Theologiegeschichte, so dass die Funktionalität der Memoria in ihrer je eigenen Gegenwart in den Blick rückt, stößt man auf vielfältige und äußerst lebhafte Wechselwirkungen mit den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, kirchenpolitischen, ethischen und kulturellen Rahmenbedingungen. Im Vordergrund steht dann also nicht mehr die Frage, ob man sich inhaltlich richtig oder falsch, moralisch gut oder schlecht an Bonhoeffers Widerstand zurückerinnert hat, sondern: warum und mit welchen Identifikationsinteressen sich bestimmte Memorantengemeinschaften in bestimmten Jahren unter bestimmten Bedingungen eben so und nicht anders an ihn erinnerten. Um solche Fragen nach der jeweiligen Funktion der Memoria zu beantworten, erscheint es mir wenig zielführend, allerlei Bonhoefferkirchen, Straßennamen und Sonderbriefmarken zu registrieren und auszuzählen6. Ich konzentriere mich auf Erinnerungsakte an Gedenkorten und Gedenktagen, also auf kulturell geformte und rituell geordnete Erinnerung, wo sich bekanntlich kollektive Identitätsstiftung durch Geschichte in geballter Weise ablesen lässt7. Nicht nur als Spiegel ihrer Zeit stellt sich die Bonhoeffer-Memoria uns dann dar, sondern als integraler Teil des Geschehens. Um dies zu verdeutlichen, spreche ich von „kirchlicher Geschichtspolitik“ und knüpfe damit an die Begriffsbildung des Heidelberger Historikers Edgar Wolfrum8 an. Der Politikbegriff kann dabei denkbar weit gefasst und auch auf sehr niedrigen Handlungsebenen angesiedelt sein, bei einem Kirchenvorstand zum Beispiel oder einer Jugendbewegung, er soll vor allem die Aktivität der Memoranten zum Ausdruck bringen, die mit ihrem Erinnerungshandeln einen konkreten Gestaltungsanspruch für ihre je eigene Gegenwart verbinden, statt nur historische Wissensbestände aus der Vergangenheit zu rezipieren9.
5 Vgl. SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge. 6 So etwa bei Gremmels, Bonhoeffer, 11–13, wo die wachsende Rezeption Dietrich Bonhoeffers an der steigenden Zahl von Straßennamen, Gedichtzitaten in Todesanzeigen und öffentlichen Bezugnahmen belegt werden soll. Auch im Rundbrief der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft werden in einer regelmäßigen Rubrik von Mitgliedern eingeschickte Zeitungsausschnitte, belletristische Lesefrüchte und gar das Vorkommen in Kreuzworträtseln und Hotelprospekten eifrig dokumentiert (vgl. Bonhoeffer-Rundbrief ab Nr. 53 [Juli 1997]). 7 Vgl. v. a. J. Assmann, Kollektives Gedächtnis; ders., Kulturelles Gedächtnis; A. Assmann, Erinnerungsräume; und dies., Schatten. 8 Vgl. v. a. Wolfrum, Geschichtspolitik; daneben ders., Erinnerungskultur. 9 Die jetzt nur in wenigen Strichen skizzierten Anforderungen an eine auf Gedenkorte und Gedenktage konzentrierte Erinnerungsforschung durch theoretische Überlegungen weiter zu unterfüttern, ist hier nicht der Ort. Vgl. grundsätzlich Lorentzen, Gedächtnis, und die dort reichlich angegebene Literatur. Einschlägig kirchengeschichtliche Reflexionen zur Erinnerungskultur (nicht zu ihrer Erforschung) bei Oelke, Bonhoeffer; Kuhlemann, Erinnerung; und Markschies / Wolf, Gedächtnis.
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1. Das Jahr 1945 Nicht erst in den „politischen“ sechziger, siebziger und achtziger Jahren, sondern gleich noch im Jahr 1945 ist Dietrich Bonhoeffer zu einem Gegenstand kirchlicher Erinnerungskultur geworden und zu einem Argument kirchlicher Geschichtspolitik. Die eilige Ermordung der Verschwörergruppe um Abwehrchef Wilhelm Canaris im abgelegenen Konzentrationslager Flossenbürg10 kurz vor Kriegsende, am 9. April 1945, blieb nicht lange geheim: Aus dem Kreis überlebender Mitgefangener gelangte die Nachricht von Bonhoeffers Tod noch im Mai zum entstehenden Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, von dort zur deutschen Gemeinde in London, zu Bischof George Bell von Chichester und zu Familienangehörigen, die nach Oxford emigriert waren11. In Genf und New York war die Todesnachricht sogleich mit ersten Würdigungen Bonhoeffers als Märtyrer verbunden12. Es war besonders der Bischof von Chichester, der durch einen frühen Londoner Gedenkakt, eine ausgefeilte geschichtspolitische Inszenierung, diese Deutung zur maßgeblichen machte: Am 27. Juli 1945 und damit genau während der Potsdamer Siegerkonferenz arrangierte Bell einen Gedenkgottesdienst der German-British Christian Fellowship in Wartime, um diesen Deutschen als neuen Märtyrer zu inaugurieren, als Gewährsmann für ein „anderes Deutschland“13. Mehr noch: In seiner Ansprache gab der Bischof Art und Inhalt der konspirativen Gespräche preis, mit denen Bonhoeffer 1942 bei einem Treffen in Schweden versucht hatte, durch ihn Kontakt zur britischen Regierung aufzubauen. Außenminister Anthony Eden hatte eine Antwort seinerzeit abgelehnt, zur größten Enttäuschung aller Beteiligten14. Zusätzlich zu seiner Enthüllung während des Gottesdienstes hatte Bell mit geschicktem Timing eine Pressekampagne lanciert und ließ wenig später eine Aufzeichnung der Feier über BBC senden, sodass man jetzt auch im besetzten Deutschland von Bonhoeffers glückloser Beteiligung an der Konspiration und von seinem Tod in Flossenbürg erfuhr – und, was nicht ganz belanglos war, von Bells bleibender Treue zu den Köpfen der Bekennenden Kirche15. 10 Vgl. Bethge, Bonhoeffer, 1025–1038; Schlingensiepen, Bonhoeffer, 381–390. 11 Vgl. Meller, Konsequenz, 260; Roggelin, Hildebrandt, 244; Bell / Leibholz, Schwelle, 200 f.; und Leibholz-Bonhoeffer, vergangen, 214–218. 12 Vgl. de Gruchy, Bethge, 102; Niebuhr, Death. 13 Vgl. Bethge, Gedenkheft, 5–17. Zur Planung vgl. Bell / Leibholz, Schwelle, 204. Zu Bells Rolle als Hoffnungsträger der Bekennenden Kirche vgl. Chandler, Patronage (Zitat dort, 47); Coupland, Bell, bes. 309 f. Zur Funktion der German-British Fellowship vgl. Roggelin, Hildebrandt, 199–218. 14 Vgl. v. a. Bonhoeffer, Werke, Bd. 16, 321–323, 330–337, 343, 347. 15 Neben eigenen Zeitungsbeiträgen des Bischofs erschienen auf Grundlage seiner Presseerklärung im ganzen Königreich Zeitungsmeldungen über den Gottesdienst, in denen besonders dieser überraschend frühe „Plot to kill Hitler“ hervorgehoben wurde, den Bell dabei offenbart hatte: Seine Rechnung war aufgegangen. Eine eindrucksvolle kleine Pressesammlung findet sich
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Als der Berliner Bischof Otto Dibelius in einem bis dahin beispiellosen, rhetorisch freilich missglückten Kanzelwort zum ersten Jahrestag des 20. Juli 1945 den christlich motivierten Widerstand gegen den Nationalsozialismus würdigte und hierbei die „Märtyrer im vollen Sinne dieses Wortes“ besonders heraushob, konnte er Bonhoeffer darum noch nicht nennen16. Nach der Londoner Radiosendung eine Woche später jedoch wurde dessen Autorität als Märtyrer sogleich auch von führenden Gestalten der Bekennenden Kirche als Argument aufgerufen (so bei den Konferenzen in Spandau, Frankfurt, Treysa), und umgekehrt konnten Vertreter der Ökumene bei der Stuttgarter EKDRatssitzung im Oktober mit Bonhoeffers Namen die Bereitschaft zum erwünschten Schuldbekenntnis ebnen17. Das setzte voraus, dass dieser Name auch bei den Angesprochenen bereits als moralische Autorität galt. Gerade der Berliner Bischof hat Bonhoeffers Publizität maßgeblich gefördert; für die Herausgabe der Ethik konnte sein Referent Bethge sich voll auf die personellen und organisatorischen Ressourcen im Konsistorium stützen18. Vor Jahresende erschien dann in Genf das Heft Zeugnis eines Boten, das den neuen Märtyrer mit einer geschickten Textauswahl zu einem Referenzautor der Ökumene machte19. In dieser kurzen Zeit also war Bonhoeffer eine feste Bezugsgröße kirchlicher Erinnerungskultur und Geschichtspolitik geworden. Zwei Faktoren sind dabei besonders wichtig: Zum einen die Rolle internationaler Massenmedien, die die Autorität dieses deutschen Märtyrers nach Deutschland hineintrugen – nicht umgekehrt. Von Anfang an hatte das Bonhoeffer-Gedenken mehrere
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im Nachlass von Eberhard Bethge (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Ordner Nr. 19 „Bell u. G. Leibholz“). Besier u. a., Kirche, Bd. 2, 158–160. Erinnerungsverweigerung gegenüber dem Verschwörer Bonhoeffer durch „die“ Berlin-Brandenburgische Kirche sah hier zunächst Bethge, Bonhoeffer, 1042; ihm folgten u. a. Feil, Theologie, iii–iv ; Klein, Märtyrer (2007), 421. – Erst später besann sich Bethge, Zitz, 227 auf eine mildere Deutung. Er selbst dürfte wohl als persönlicher Referent von Bischof Dibelius nicht ganz unbeteiligt an diesem Kanzelwort gewesen sein. Unmittelbare Reaktionen auf die Rundfunksendung: Besier u. a., Kirche, Bd. 2, 286 (Theophil Wurm); Sçhlmann, Treysa, 128 (Hans Böhm). – Zu Bonhoeffers Autorität als Märtyrer bei den entscheidenden kirchenpolitischen Konferenzen vgl. ebd., 10, 12 und 121; Ludwig / Besier / Thierfelder, Kompromiß, 155 f., 216, 244 u. 280. – Zur appellativen Wirkung der Namensnennung auf die „Stuttgarter Schulderklärung“ vgl. jetzt zusammenfassend Lorentzen, Geschenk, 320 f., mit weiteren Quellennachweisen. Vgl. Bell / Leibholz, Schwelle, 236. Bethge, Zitz, 252 f. spricht von einer im Konsistorium für die Ethik-Manuskripte beschäftigten Sekretärin, Elisabeth Pasewald, die zuvor bei seinem Schwager Rüdiger Schleicher gearbeitet und dort zuweilen schon Bonhoeffers Gefängnispost hatte entziffern müssen (vgl. Bonhoeffer, Werke, Bd. 8, 428, Anm. 1). Dass er darüber hinaus die anlaufende Öffentlichkeitsarbeit zu Bonhoeffer sofort in großem Stil über die Pressestelle des Bischofs dirigieren konnte, zeigen u. a. die Schreiben von Liselotte Bessert und ihm selbst an die Redaktion des „Aufbau“ vom 6. und 12. 11. 1945 (SB PK, Berlin, Nachlass 299/Bethge, Kasten o. Nr., Ordner 11 „Briefe zu Dietrich Bonhoeffer Buchstabe A–F Mappen 1–6“, Mappe 1, Bl. 55 f.). Vgl. Zeugnis.
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Zentren in Europa und sogar darüber hinaus20. Sowenig in seiner Heimat selbst der Ausgangspunkt gesucht werden kann – und dies ist der zweite Punkt –, so lebhaft war doch die Bereitschaft, gerade unter führenden Gestalten der Bekennenden Kirche, sich diese Autorität ihres neuen Blutzeugen zu eigen zu machen21. Dass seine Wirkungsgeschichte gerade bei ihnen „nicht mit Zustimmung, sondern mit Zurückhaltung, ja mit Verdächtigungen“22 begonnen habe, ist Legende.
2. Martyrisierung (1946–1961) Von nun an lassen sich drei Phasen unterscheiden, die ich Martyrisierung, Politisierung und Sanktifizierung genannt habe. Bis in die frühen 1960er Jahre beobachten wir, dass der Märtyrerbegriff konzeptionell ausgebaut und für eine Identifikationsstiftung des Protestantismus in Ost und West funktionalisiert wurde23. Die inhaltliche Akzentuierung konnte sehr unterschiedlich sein. Nicht immer war offen von Bonhoeffers politischem Widerstand die Rede, wenn an ihn als Blutzeugen der Bekennenden Kirche erinnert wurde. Aber es waren auch keine sich ausschließenden Alternativen. Ich gebrauche stattdessen für das Verhältnis von Märtyrergedenken und Erinnerung an den politisch-konspirativen Widerstand das Bild vom Container : Der alte Märtyrerbegriff und seine erinnerungskulturellen Möglichkeiten boten Raum genug, um darin auch das Gedenken an die Verschwörung bereits mitzutransportieren und dann von Bonhoeffers Gestalt aus sogar autoritativ mitzulegitimieren. Mit der Wiederentdeckung der Martyrologie stand ein bewährter Modus kirchlichen Redens über Vergangenheit bereit, der sogar dann, wenn Bonhoeffers Beteiligung an der Konspiration schamhaft verschwiegen wurde, die vergangenheitspolitischen Diskurse dieser Jahre im Protestantismus früh stimulierte. Der zum ersten Todestag am 9. April 1946 vom Berliner Bischof und vom Bruderrat der Bekennenden Kirche veranstaltete Gedenkgottesdienst in der Dahlemer St.-Annen-Kirche24, ein typischer Akt bekenntniskirchlicher Totenklage um eigenes Personal, stand noch unter dem Eindruck einer öffent20 Zu diesen „polyzentrischen Strukturen“ vgl. Lorentzen, Geschenk; zur europäischen Widerstandserinnerung vgl. ausführlicher den Beitrag von Kunter in diesem Band. 21 Auch für die Zeit vor Bonhoeffers Tod kann nicht davon gesprochen werden, dass die Bekennende Kirche wegen seiner Beteiligung an der Konspiration von ihm abgerückt wäre, erst recht nicht demonstrativ, etwa durch Verweigerung der Fürbitte; hierzu wussten auch zu Wenige zu Ungenaues über die Art seiner Tätigkeit (vgl. Lorentzen, Bekennende Kirche). 22 Gremmels, Bonhoeffer, 1. 23 Vgl. Mensing, Martyrien; Lorentzen, Sors Martyrum. 24 Vgl. Bethge, Gedenkheft, 18–35; Dress, Bonhoeffer; dazu die Einladungskarte und weitere Materialien (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Kasten 14 „Zeitungsausschnitte Gedenktage“).
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lichen „Kollektivschuld“-Debatte: Nur kurz zuvor war Martin Niemöller als „Verräter“ attackiert worden, nachdem er vor Erlanger Studenten, die weitgehend im Krieg gewesen waren, von deutscher Schuld und Buße gesprochen hatte25. Explizite Widerstandswürdigung konnte von solchen Hörern, die zur schweigenden und kämpfenden Mehrheit gezählt hatten, als impliziter Schuldvorwurf verstanden werden, umso mehr noch hätte die Ehrung der Konspirateure die militärischen Biographien der Weltkriegsgeneration empfindlich durchkreuzt. Eine Zeitlang übte das Bonhoeffer-Gedenken darum auffällige Zurückhaltung zum Thema des politischen Widerstands und konzentrierte sich auf die Trauer um den ermordeten Privatdozenten und Ausbilder. Doch wenn in der Besatzungszeit eine Beteiligung von Christen an der politischen Verschwörung nachdrücklich verteidigt wurde, so geschah dies nicht zuletzt unter Verweis auf Dietrich Bonhoeffer, dessen grundsätzliche Autorität als Märtyrer überhaupt nicht infrage stand26. Die Berliner Zeitschrift Unterwegs wurde hierfür zum Forum27. Theologische Angriffe dagegen, die in diesen Verteidigungsschriften implizit vorausgesetzt werden, sind in der kirchlichen Presse praktisch nicht zu finden. Zu erwarten wäre in diesem Sinne etwa, dass mit Paulus oder Luther eine protestantische Gehorsams- und Gefolgsamsethik hätte begründet und doktrinär gegen das Recht eines evangelischen Christenmenschen auf politischen Widerstand in Stellung gebracht worden wäre. Doch nichts davon: auf theologisch unterfütterte Kritik an der Konspiration gegen Hitler stoßen wir in den evangelischen Kirchen und im Kontext der konfessionellen Publizistik nur in Andeutungen28. Mehrheitlich muss von purer Zurückhaltung zu diesem Thema ausgegangen werden. Dass die Kirchen aber zu Bonhoeffer geschwiegen hätten, kann in dieser Phase nicht gesagt werden. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin wurde ein Sammelgrab, in dem auch Männer aus dem Widerstandskreis um Klaus Bonhoeffer bestattet waren, durch Bethges Initiative nachdrücklich zu einem Gedenkort für diese Verschwörer erhoben, denen gegenüber als ihren 25 26 27 28
Vgl. Wolbring, Stigma, 354–358. Vgl. Bethge, Entschluß; ders., Tat. Vgl. Altenburg, Draufgänger ; Pfeifer, Veröffentlichung. Auch einige prominent gewordene Ablehnungen des politisch-konspirativen Widerstands durch kirchliche Funktionsträger aus den Jahren nach 1945, die immer wieder als Beispiele typischer Ressentiments „des“ Nachkriegsprotestantismus zitiert worden sind, kommen nicht über wenige kritische Formulierungen hinaus und können in ihren Publikationszusammenhängen keinesfalls als theologische Angriffe auf Bonhoeffer und die Männer des 20. Juli gewertet werden; allzu deutlich ist ihre apologetische Funktion, mit der sich die Sprecher ,intakter‘ Landeskirchen im Kontext alliierter Entnazifizierungsmaßnahmen mühsam gegen den Vorwurf fehlenden Widerstands zu wehren versuchen. Das gilt insbesondere für den kurzen Abschnitt über den 20. Juli in der Schrift Die Haltung der Hannoverschen Landeskirche im Kirchenkampf und heute vom Oktober 1946 und für eine Bemerkung des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser, die im selben Jahr zu einer Art Aphorismus verkürzt am Rande eines Synodalberichts gedruckt worden war (vgl. Klegel, Dokumente, 215–226, hier 222; Meiser, Linie; längere Versionen bei Mensing, Schuldfrage, 192 f.; und Schjørring, Meiser, 279).
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eigenen Märtyrern „die Kirche eine Ehrenpflicht zu erfüllen hat“29, wie es im Konsistorium hieß. Auch Dietrich Bonhoeffer und andere Gefährten, die ohne Grab blieben, sind auf dem monumentalen Stein mitgenannt. Die Landeskirche machte sich den so definierten Gedenkort ab 1946 bereitwillig zu eigen, auch wenn dies praktisch auf Kosten der über 60 weiteren Toten ging, die dort bestattet sind30. Ein erster Gedenkakt der EKD-Synode unter Präses Gustav Heinemann fand hier 1951 statt31. Schon 1948 weihte Bischof Dibelius eine landeskirchliche Jugendeinrichtung in Berlin-Schmargendorf ein, die Bonhoeffers Namen trug32. Gleich darauf wurden in Bielefeld und Leipzig Straßen nach ihm umbenannt; Bethge vermischte den Bielefelder Fall später mit einem Protest ostdeutscher Pfarrer gegen das Monopol antifaschistischer Widerstandsdeutung, so dass auch diese Episode, die in seiner großen Biographie traditionskirchliche Ressentiments gegen Bonhoeffers politisch-konspirativen Widerstand illustrieren sollte, einer solchen Verwendung nicht standhält33. Bis zum Ende der vierziger Jahre wurden in der EKD erste amtliche Blutzeugenlisten der Bekennenden Kirche zusammengestellt. Dabei gab es keine Kontroversen über Bonhoeffer, wohl aber über andere Zweifelsfälle „politischen“ Widerstands34. In der Einleitung des so entstandenen Märtyrerbuchs und folget ihrem Glauben nach (1949) wandte sich Bernhard Heinrich Forck scharf gegen die entlastende Identifikation der Bekennenden Kirche als Wi29 Konsistorium Berlin-Brandenburg an Gemeindekirchenrat der Dorotheenstädtischen Kirchengemeinde, 10. September 1948, korr. Entwurf (ELAB Berlin 35/4249). 30 Vgl. entsprechende Schriftwechsel 1946–1949 (ebd., daneben auch 35/5470 u. 35/5558, passim). 31 Vgl. Kirchenkanzlei der EKD, Berlin-Weißensee, 108. 32 Vgl. Einladungskarte zum 17. Mai 1948 und Zeitungsausschnitt ohne Kennzeichnung (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Kasten 14 „Zeitungsausschnitte Gedenktage“). 33 In beiden genannten Städten wurden Straßen umbenannt, die zuvor an nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennte Grenzgebiete erinnert hatten: in Bielefeld 1948 die Eupen- in Schneiderstraße und die Malmedy- in Bonhoeffer-Straße, in Leipzig 1950 die Hultschiner Straße in Bonhoefferstraße und die Oberschlesische Straße in Paul-Schneider-Straße. Mit den Umbenennungsbeschlüssen sollte also der breite revisionistische Konsens missbilligt werden, der sich in der Weimarer Republik gegen die Versailler Beschlüsse gerichtet und damit den rechten Parteien, allen voran den Nationalsozialisten, beträchtlichen Zulauf gebracht hatte. Vgl. die Bielefelder Ratssitzung vom 21. Januar 1948 (Bielefeld StA, Bestand 140/Protokolle, Nr. 632; für mühevolle Auskünfte zum Aktenbestand mit Schreiben vom 16. 9. 2009 danke ich dort Herrn Bernd J. Wagner, M. A.); Andr8 Loh-Kliesch, Leipzig-Lexikon . – Einen Widerspruch von Pfarrern gegen die Nachbarschaft kommunistischer Namen in einem „Städtchen nördlich von Berlin“ überliefert zuerst 1960 Ordnung, Bonhoeffer, 10; nach ihm 1963 Bassarak, Bonhoeffer, 140. Dann wird der Fall schrittweise transloziert und mit neuen Quellen vermischt: Noch 1965 setzte Bethge voraus, dass der Pfarrerprotest in der sowjetischen Besatzungszone spielte, vgl. Bethge, Incognito. Ernst Wolf siedelte ihn zugleich mit eigenen Zutaten „in einer großen westdeutschen Stadt“ an (Wolf, Bonhoeffer), bis die 1967 bei Bethge literarisch konstruierte Fassung sich durchsetzte (Bethge, Bonhoeffer, 1042), die nun kirchliche Borniertheit gegenüber dem politischen Widerstand suggerierte. Nur zwei Jahre zuvor hatte es Bethge offenbar besser gewusst. 34 Vgl. Mensing, Martyrien, 140–143; Lorentzen, Sors martyrum, 52–54.
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derstandsbewegung, wie sie in Bayern betrieben worden war35. Diese Differenzierung ist ihm als Distanzierung vom politisch-konspirativen Widerstand ausgelegt worden. Auch hier folgte man stets Bethges Kritik36, ohne Forcks würdigendes Bonhoeffer-Kapitel genauer zu studieren. In Brandenburg nahm Albrecht Schönherr die Namen dieses Bandes zur Grundlage einer MärtyrerGedenkstätte in der Domkrypta37. Geplant war sie als gesamtdeutscher Ort feierlichen Gedächtnisses an die Blutzeugen der Bekennenden Kirche, und entsprechend hoch waren die Erwartungen an eine Beteiligung aus allen Landeskirchen. Doch die Einweihung zu Bonhoeffers Todestag 1953 war vom staatlichen Vorgehen gegen die Jungen Gemeinden überschattet, so dass der Akt sinnfällig im Kontext eines neuen „Kirchenkampfes“ verstanden werden konnte. Seitdem beschränkte sich kirchliches Widerstandsgedenken in der DDR meist auf betont „innerkirchliche“ Akte, die offizielle Geschichtsdoktrin wurde ostentativ gemieden. Fast zeitgleich mit Brandenburg wurde in der Dorfkirche Flossenbürg auf Initiative der bayerischen Pfarrerbruderschaft eine Bonhoeffer-Gedenktafel eingeweiht38. Dass sich Landesbischof Hans Meiser der Teilnahme verweigert habe, weil es sich beim Geehrten „nicht um einen christlichen, sondern nur um einen politischen Märtyrer“ gehandelt habe39, entpuppt sich erneut als Fehlüberlieferung40. Die Gemeinde nahm das Bonhoeffer-Gedenken nach anfänglichem Zögern gern auf, weil so die Präsenz des schamvoll beschwiegenen Konzentrationslagers am Dorfrand auf ein einziges Todesopfer umgeleitet werden konnte, dessen Bekanntheit seit Widerstand und Ergebung (1951) ein hohes Sympathiepotential bot41. Wie stark das kirchliche Märtyrergedenken und die hiermit verbundene Publizistik schon einer allgemeineren Akzeptanz des politisch-konspirativen Widerstands vorgearbeitet hatten, zeigte sich nach dem Remer-Prozess 1952, der die Verschwörer erstmals juristisch gegen Verunglimpfung schützte und hierbei auch die theologische Perspektive eingehend würdigte42. Seit dem 20. Juli 1954 und Bonhoeffers zehntem Todestag 1955 ist ein unbefangener 35 „Eine Gleichsetzung des Kampfes der Bekennenden Kirche mit der Widerstandsbewegung ist uns […] verwehrt“. Forck, Glauben, 7. 36 Vgl. Bethge, Märtyrertum, 143 f.; ders., Widerfahrnisse, 173 f.; Klein, Märtyrer, 422 f.; und Gremmels, Bonhoeffer, 2 f. 37 Vgl. Domarchiv Brandenburg, BDS 507–509; dazu Mensing, Martyrien, 143–145; Lorentzen, Sors Martyrum, 54–57. 38 Vgl. Pfarrarchiv Flossenberg, Nr. 18/80, 61/36 u. 120/4; LAELKB Nernberg, Vereine III/4 (Bayerische Pfarrerbruderschaft), Nr. 7 u. 12; dazu Skriebeleit, Flossenbürg, 253–259. 39 Erstmals Bethge, Märtyrertum, 143; vgl. jüngst noch Gremmels, Bonhoeffer, 3. 40 Die Landeskirche war beim Festakt durch den Regensburger Kreisdekan Wilhelm Koller offiziell vertreten, eine Einladung des Münchner Landesbischofs zu keiner Zeit erwogen worden; vgl. LAELKB Nürnberg, Vereine III/4 (Pfarrerbruderschaft), Nr. 12; zuletzt Sçrgel, Meiser. 41 Vgl. die wachsende Zahl der Anfragen von Besuchergruppen an die Kirchengemeinde (PA, Flossenberg 18/81); dazu Skriebeleit, Flossenbürg, 259; anders Lorentzen, Kirche, 204–207, 216. 42 Vgl. Kraus, Remerprozeß; Wojak, Bauer, 265–283.
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Umgang mit dem Widerstandsthema in seinem ganzen politischen Spektrum zu registrieren43. Der kirchliche Märtyrerbegriff hatte gegen den dominanten Verdrängungstrend einen belastbaren Deutungsrahmen bereitgestellt, in dem Bonhoeffer zu einer Art Fixpunkt geworden war : Mit Verweis auf ihn konnten inzwischen auch andere Gestalten und Formen von Widerstand mitlegitimiert werden.
3. Politisierung (1962–1989) Die Politisierung der Erinnerungskulturen in Ost und West gehört in die Phase zwischen Bau und Fall der Mauer, als das Gegenüber der Konkurrenzsysteme die geschichtspolitische Legitimierung der je eigenen Teilidentität und zugleich die Delegitimierung des gegnerischen Systems bedingte. In der Bundesrepublik wurde seit den frühen 1960er Jahren der 20. Juli zu einem Gründungsmythos der westlichen Demokratie ausgebaut, Bonhoeffers politischer Widerstand rückte immer selbstverständlicher in diesen Erinnerungszusammenhang hinein44. Man kann die gewachsene Aufgeschlossenheit der Kirchen zum politischen Widerstand an dessen feierlicher Aufnahme in den Sakralraum ablesen, namentlich in Berlin: In sinnfälliger Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee, wo nach dem 20. Juli 1944 rund 3000 Menschen ermordet worden waren, wurde im Mai 1963 die katholische Monumentalkirche Maria Regina Martyrum geweiht45. Diese Sakralisierung des politischen Opfertodes an Ort und Stelle schuf auf evangelischer Seite einigen Handlungsbedarf46. Ausgerechnet zum 20. Juli 1964 wurde in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eine durch Otto Dibelius stark geförderte Gedenkstätte den
43 Besonders wirkungsvoll war eine Sonderausgabe der Wochenzeitung Das Parlament zum 20. Juli 1952, die vollständig der politischen Widerstandsbewegung gewidmet war. Sie brachte neben den wichtigsten Texten des Remer-Prozesses (18–30) eine Zahl aktueller Würdigungen (u. a. von Robert Lehr, Jakob Kaiser und Theodor Heuß; dazu eine umfangreiche Ehrentafel) und lieferte seitenfüllende Berichte (u. a. von Otto John und George Bell). Auf der letzten Seite (32) waren Bonhoeffers Nächtliche Stimmen abgedruckt. Die zahlreichen Reden, Predigten und Pressebeiträge zu den beiden darauffolgenden Gedenktagen können an dieser Stelle nicht annähernd dokumentiert werden; verwiesen sei nur exemplarisch auf die von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand dokumentierten Reden zum 20. Juli 1954 unter und auf die umfangreiche und ausgesprochen breit gespannte Pressesammlung zu Bonhoeffers 10. Todestag, die Eberhard Bethge angelegt hat (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Kasten 14 „Zeitungsausschnitte Gedenktage“). 44 Vgl. die Reden zum 20. Juli 1964 in der Sammlung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand . 45 Vgl. zuletzt Pfeifer, Maria Regina Martyrum. 46 Vgl. Schreiben des Evangelischen Konsistoriums Berlin-Brandenburg an das Kuratorium der Stiftung „Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche“, 29. Oktober 1963 (GAKWGG Berlin, Ordner 5133).
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„evangelischen Märtyrern der Jahre 1933–1945“ gewidmet47, es folgten im selben Jahr die auf Plötzensee bezogene Sühne-Christi-Kirche48 und 1968–1970 das Gemeindezentrum Plötzensee in unmittelbarer Nachbarschaft zur katholischen Märtyrerkirche49. Der von Alfred Hrdlicka, einem bekennenden Kommunisten, für den Kirchenraum des Gemeindezentrums gestaltete Zyklus Plötzenseer Totentanz, der die Hinrichtungen von 1944 in eine Typologie des gequälten und erlösten Menschen einspannt, gehört zu den stärksten Bildprogrammen der jüngeren christlichen Ikonographie; Hrdlickas monumentale Bonhoeffer-Büste, die 1977 zusätzlich hier aufgestellt wurde, hat heute ihren Platz im Foyer der Berliner Staatsbibliothek. Im Arresthof der Gedenkstätte Flossenbürg wurde 1970 eine gemeinsame Gedenktafel für die dort im April 1945 hingerichtete Widerstandsgruppe aus dem Amt Abwehr eingeweiht, zu der Bonhoeffer gehört hatte. So verbanden sich Angehörige des militärischen Widerstands und Vertreter des Protestantismus zu einer neuen ökumenischen Erinnerungsgemeinschaft50. Sie zerbrach wieder 1985, als mit Manfred Wörner erstmals ein Bundesverteidigungsminister zur Ehrung der Ermordeten nach Flossenbürg kam: Das militärische Gedenkritual, eine Inszenierung im Sinne christdemokratischer Geschichtspolitik dieser Jahre, wurde lautstark von Friedensaktivisten gestört, die sich ebenfalls auf Bonhoeffer beriefen und die von einer Bundeswehrkapelle traditionsgemäß gespielten Stücke Ich hatt’ einen Kameraden und Ich bete an die Macht der Liebe durch den Kirchentagskanon Herr, gib uns deinen Frieden durchkreuzten – es kam zum Eklat51. Die nach dem NATO-Doppelbeschluss angewachsene Friedensbewegung52 war entscheidend durch die Idee globaler Verantwortung des Christentums vorbereitet worden, wie sie insbesondere durch Carl-Friedrich von Weizsäcker beim Genfer BonhoefferGedenken 1976 starkgemacht53 und dann in den Konziliaren Prozess mit seinen vielfachen Partizipationsmöglichkeiten in Ost und West übergeleitet worden war54. Das 1971 in Kaiserswerth gegründete Bonhoeffer-Komitee war zudem von Anfang an auf große internationale Resonanz gestoßen, so dass 47 Vgl. die entsprechenden Akten ebd.; daneben Lilje, Predigt [über Ps 73,16!]. Zum Kontext zusammenfassend Kappel, Kriegs- und Opfergedenken. 48 Vgl. Schçnemann, Straßen, 3; Puvogel, Gedenkstätten, Bd. 2, 43. 49 Vgl. hierzu und zum folgenden Mçssinger / Naumann, Plötzensee; Jammers, Bonhoeffer; zum ganzen Ensemble Goetz, Tod. – Das Gemeindezentrum realisierte einen Bautyp, der in diesen Jahren aus jungen Forderungen nach kirchlicher Präsenz in der säkularen Welt entstanden war, wie man sie im Gefolge amerikanischer Theologen aus Bonhoeffers Gefängnistheologie („Kirche für andere“) ableitete; vgl. Lorentzen, Zeichen, 40 und die dort angeführte Literatur. 50 Vgl. die Korrespondenz im PA Flossenberg, 18/81 und Skriebeleit, Flossenbürg, 275–281. 51 Vgl. ek, Leitfigur; ka, Frieden; NN, Zeuge; Bissinger, Glaubenlernen; dazu Skriebeleit, Flossenbürg, 317–320. 52 Vgl. Greschat, Protestantismus, 170–179; Wolfrum, Demokratie, 382–390. 53 Vgl. Pfeifer, Genf; Lorentzen, Geschenk, 322–327. 54 Vgl. Falcke, Konzilsgedanke; Kunter, Hoffnungen.
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hier ethisch drängende Fragen der Weltpolitik sofort auf die Tagesordnung von Gedenkveranstaltungen gekommen waren, etwa durch das Selbstverständnis südafrikanischer Apartheid-Gegner als Confessional Church55. Doch politischer Protest konnte mit Bonhoeffers Autorität nicht nur motiviert, sondern auch beschwichtigt und domestiziert werden: In Hamburg war die Petrikirche nach der dortigen Selbstverbrennung des Umweltschützers Hartmut Gründler und langwierigen Kirchenbesetzungen zu einem Erinnerungsort christlicher Atomkraftgegner geworden. Genau zwei Jahre nach Gründlers Tod wurde am Chor 1979 ein Bonhoeffer-Denkmal errichtet, das der Zeitungsverleger Axel Springer bezahlt hatte, offensichtlich, um den Platz durch Verweis auf einen edleren Widerstand angenehm zu überschreiben. Dieses Denkmal ist zum Glück nie von Bonhoeffer-Verehrern aktiviert worden56. Politisierung des Bonhoeffer-Gedenkens ist also vielfältig und in verschiedene Wirkungsrichtungen zu verstehen. Entsprechendes gilt für den ostdeutschen Protestantismus. Dort konkurrierten eine loyalistische Deutung Bonhoeffers, die dessen Prognose einer „religionslosen“ Existenz von Kirche in einer „mündigen Welt“ direkt auf eine theologische Autorisation des Bestehenden anwandte57, und anderseits ein auf Mitsprache und Mitwirkung bedachtes Programm der Landeskirchen. Als der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR sich 1969 organisatorisch von der EKD trennte und im Begriff war, sich ganz im sozialistischen Teilstaat einzurichten, wurde dort die zweite Deutungsvariante beträchtlich ausgebaut: Als „Kirche im Sozialismus“ (nach Albrecht Schönherr), allerdings einem „verbesserlichen Sozialismus“ (Heino Falcke), meinte man den christlichen Gestaltunganspruch auf die atheistische Gesellschaft vernehmlich in Bonhoeffers Sinne manifestiert zu haben58. Beim Sekretariat des Bundes wurde ein eigenes Bonhoeffer-Komitee angesiedelt, das diese Konzeption ekklesiologisch absicherte59. Die Deutungskonkurrenz führte schon früh zur ge55 Zur Konstituierung des Komitees, der heutigen Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, und seinem ersten Kongress 1971 vgl. jetzt Schlingensiepen, Gründung. Bemerkenswert zur politischen Resonanz ist beispielsweise, dass gleich diese erste Versammlung von Frederick Beyers Naud8 besucht worden war, dem weißen Gründungsdirektor des analog zur Bekennenden Kirche gegen die Apartheid vorgehenden Christian Institute of Southern Africa (vgl. ebd, 56; Lorentzen, Geschenk, 325 f. und die dort angegebene Literatur). 56 Vgl. Hefler / Westermayer, Gründler; Brockmann u. a., Äußerungen; how, St. Petri. Zu den politischen Hintergründen des Hamburger Bonhoeffer-Denkmals habe ich im September 2013 bei der Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft referiert (vgl. Sauber, Bericht, 70 f.). Entscheidende Hinweise hierzu verdankte ich Dr. Stephan Linck im Nordelbischen Kirchenarchiv Kiel. 57 Vgl. Meller, Kirche; Weissenseer Bl-tter 1 (1982) – 8 (1989); dazu Krçtke, Bonhoeffer, 163–168. 58 Schçnherr, Bericht (1971), 14; Falcke, Christus, 28; und Krçtke, Bonhoeffer, 168–173. 59 Vgl. Beschluß des Vorstandes [der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR] über die Bildung und Arbeit des Bonhoeffer-Komitees beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, 26. Juli 1978 (EZA Berlin 101/2914); Kuske, Bonhoeffer-Komitee; Lçhr, Splitter. Hanfried Müller und andere Vertreter der loyalistischen Richtung mussten freilich aus politi-
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schichtspolitischen Besetzung je eigener Gedenkorte: Jede Berührung mit den Parteien und der Nationalen Front, die für ihr öffentliches Bonhoeffer-Gedenken die Berliner Zionskirche mit ihrer Gedenktafel für den „Widerstandskämpfer“ Bonhoeffer bevorzugten, wurde von den Kirchenleitungen demonstrativ gemieden, die sich ihrerseits für rein „innerkirchliche“ Gedächtnisfeiern regelmäßig auf den Dorotheenstädtischen Friedhof zurückzogen60. Eine andere Strategie wählte der neugegründete Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR im Umfeld von Bonhoeffers 25. Todestag 1970, als eine Reihe kostenloser Seminarveranstaltungen selbstbewusst dessen volle Funktionstüchtigkeit vorführen sollte61. Beide Verfahren zielten auf Unabhängigkeit kirchlichen Redens. Erst im Rahmen des Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung62 und in einzelnen Kirchengemeinden, die sich mit Bonhoeffer als „Kirche für andere“ verstanden63, wirkten in den 1980er Jahren zunehmend auch sozialismuskritische
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schen Gründen ebenfalls ihren Platz im Komitee haben, so dass es rasch zu internen Konflikten kam (ebd., 63). Anderseits entwickelte es sich weiter als von Albrecht Schönherr bei der Gründung vorgesehen, denn es „verstand […] sich nicht nur als Basis, Hintergrund und Umfeld für die vom Kirchenbund vertretene Rezeptionslinie […, sondern] bot […] einen Raum für sehr offene, von sehr verschiedenen Sichtweisen und Überzeugungen geprägte Gespräche, die die kirchliche Situation in der DDR zuweilen auch kritisch begleiteten“ (ebd., 66). Vgl. z. B. den konfliktreichen Vorgang um Bonhoeffers 20. Todestag 1965 (ELAB Berlin, 35/ 206). Vgl. die Akten im EZA Berlin 102/59, passim; Pabst, Kirche. Vgl. Kunter, Hoffnungen, 173–192; Garstecki, Selbstorganisationspotentiale. Aus einem gegenüber früheren Konzeptionen erheblich zugespitzten Selbstverständnis als „Kirche für andere“ hat jüngst Heino Falcke die Offene Arbeit einzelner Gemeinden für Punks und andere jugendliche Randgruppen abgeleitet: „Nun […] standen ganz anders andere vor der Tür der Kirche. Auf ihre Andersheit war die Kirche in ihrer mehrheitlich konservativen Grundhaltung vielleicht noch weniger gefasst als auf die Kommunisten“ (Falcke, Offene Arbeit, 52). Die Aufnahme „ganz anders anderer“ in Kirchenräume konnte freilich auch auf weiteren Gebieten aus Bonhoeffers Forderung einer „Kirche für andere“ abgeleitet werden: In der Berliner Zionsgemeinde knüpfte Pfarrer Hans Simon nach eigenem Bekunden an sie an, als er 1986 Kellerräume für die regimekritische Umweltbibliothek zur Verfügung stellte (vgl. Simon, Umweltbibliothek; briefliche Mitteilungen von Hans Simon an Eva-Maria Menard, 10. 1. 2012, und an Tim Lorentzen, 4. 6. 2012). Ihre Auflösung durch die Staatssicherheit im November 1987 und die darauffolgenden Proteste bilden nicht zuletzt den Hintergrund für jahrelange Verzögerungen bei der Realisierung von Karl Biedermanns großer Bonhoeffer-Plastik auf dem Zionskirchplatz, die von der regimetreuen CDU initiiert worden war, sich in dieser Lage jedoch kaum in die alten staats- und parteiloyalen Deutungen einfügen ließ und darum wie ein politischer Affront hätte wirken müssen. Sie wurde erst lange nach Ende der DDR ihrer Bestimmung übergeben; vgl. Pressematerial zur Übergabe des Mals für Dietrich Bonhoeffer auf dem Zionskirchplatz in Berlin-Mitte am 9. April 1997 (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, o.Nr. „Gedenken, Verunglimpfung, Rehabilitierung“) und die entsprechende Sammlung im Gemeindearchiv Zion (GAZ Berlin, o. Nr. „Bonhoeffer“). Herrn Pfarrer i. R. Hans Simon und Frau Pfarrerin Eva-Maria Menard danke ich an dieser Stelle herzlich für ihre Informationsbereitschaft.
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und dezidiert oppositionelle Gruppen unter dem Dach der Kirche und bereiteten so die Friedliche Revolution von 1989 mit vor64.
4. Sanktifizierung (1990–2006) Mit dem Zusammenbruch des politischen Systems in den Warschauer-PaktStaaten vor 25 Jahren zerstob auch das militärische Bedrohungspotential zwischen den Machtblöcken. Nun verloren die großen ethischen und politischen Bewegungen im Protestantismus ebenso plötzlich ihre Bezugsgrößen wie die „Kirche im Sozialismus“, die ohne den legitimierenden Rahmen des Systems, in dem sie sich mit Bonhoeffers Theologie eingerichtet hatte, heimatlos geworden war65. In religiöser Hinsicht korrespondierte mit diesem Druckabfall ein zunehmender Individualismus, weniger interessiert an ethischen als an persönlichen Wirkungen. Unübersehbare Folgen für das Bonhoeffer-Gedenken waren seine Entpolitisierung und Entproblematisierung, seine Verlagerung hin zu individuellen Erbauungserlebnissen, die sich auf Bonhoeffers Person als autonomen Wert richteten, eine Person von irgendwie heiligmäßiger Güte und Integrität. Es war die Stunde neuer Bonhoeffer-Stätten. Hatte die Kennzeichnung und Musealisierung biographischer Bonhoeffer-Orte in den „politischen“ achtziger Jahren noch deutlich aufklärerisch-agitatorische Ziele66, so rückte seit den „hedonistischen“ neunziger Jahren das individuelle Glaubensvorbild in den Vordergrund, eine Art Pilgerschaft zu authentischen Stätten konnte der
64 Vgl. Haspel, DDR-Protestantismus. 65 Vgl. Kunter, Kirche im Sozialismus. 66 Typische Beispiele sind in Berlin das Bonhoeffer-Haus in der Marienburger Allee und die Topographie des Terrors auf dem ehemaligen Prinz-Albrecht-Gelände, die beide 1987 ihre erste Ausstellung zeigten: Im ersten Fall wurde das inzwischen als Studentenwohnheim genutzte Elternhaus Bonhoeffers in eine Begegnungs-, Gedenk- und Forschungsstätte mit historischem Ambiente zurückverwandelt, die Leitung dem evangelischen Studentenpfarrer übergeben. Mit Seminaren, Gästeführungen und thematischen Stadtrundfahrten wurde das Haus bald zu einem Zentrum topographischer Aufarbeitung des Nationalsozialismus in West-Berlin (vgl. Scheffler, Bonhoeffer-Haus; Brezger, Konzeption; Pçpping, Normen, 360 f.; und Evangelische Studentinnen- und Studentengemeinde, Stadtrundfahrt). Der Ort des früheren Reichssicherheitshauptamtes, wo Bonhoeffer ab Herbst 1944 inhaftiert war, wurde fast zeitgleich von Ausgrabungs- und Dokumentationsinitiativen erschlossen, die das Gelände aus zweifelhaften Zwischennutzungen wieder ins kritische Gedächtnis der Bürger zurückholen wollten (vgl. Steinbach, Topographie des Terrors; Zifonun, Gedenken, 58–81). Beide Adressen stehen für eine entschieden ortsbezogene, an den lesbaren Gegebenheiten der historischen Topographie interessierte Erinnerungsarbeit, wie es sie zuvor allenfalls in den KZ-Gedenkstätten gegeben hatte: „Grabe, wo du stehst“, war die Parole der neuen Geschichtsbewegung, die in Bürgerinitiativen und Stadtteilwerkstätten auf breite Teilhabe an historischen Diskursen zielte (Lindquist, Grabe; vgl. NN, Schub).
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frommen Verehrung Ausdruck verleihen67. Das ging an manchen der neu mit Bonhoeffers Namen dekorierten Orte bedenklich auf Kosten der kirchenhistorischen Kontexte, bisweilen lässt sich geradezu beobachten, dass durch seine Dominanz gar unmittelbar beteiligte Zeitgenossen und nahestehende Familienangehörige an den Rand der lokalen Erinnerungskultur abgedrängt wurden68. Dieser fast kanonischen Monopolstellung des eindeutig Guten entsprach spiegelbildlich die Dekanonisierung umstrittener und unerwünscht gewordener Persönlichkeiten aus lokalen Erinnerungskulturen69 – auch dies ein Indikator für Sanktifizierungstendenzen. Dennoch finden sich in dieser Phase auch neugestaltete Bonhoeffer-Stätten, die sich in kurzer Zeit zu echten Lernorten entwickelt haben. So ist in Friedrichsbrunn am Harz rings um das einstige Ferienhaus der Professorenfamilie eine Art dörflicher Gedenktopographie entstanden, die mit Ausstellungen, Vortrags- und Seminarveranstaltungen, Gottesdiensten und Sommerfesten schwerpunktmäßig die tiefen heimischen und verwandtschaftlichen Bindungen thematisiert, aus denen sich
67 Vgl. die an katholische Itinerare erinnernden Reiseberichte von Pejsa, Pomerania; dies., Mission; Clements, Last Days; dazu Haynes, Bonhoeffer Phenomenon, 149–151. Der authentische Ort, „ubi steterunt pedes eius“ (Ps 131,7), als Auslöser persönlicher Frömmigkeitserlebnisse bekam im Laufe der neunziger Jahre einen eigenen spirituellen Wert für Bonhoeffer-Verehrer, abgelöst von einem möglichen Erinnerungs- oder Aufklärungseffekt. 68 Beispiele: Auf der dänischen Nordseeinsel Fanø erinnert auf Initiative eines deutschen Urlaubers ein Gedenkstein mit dem Namen Dietrich Bonhoeffers an „die“ ökumenische Konferenz vom August 1934; die beiden Tagungen, hier zu einer einzigen verschmolzen, sind mithin allein auf das Gedächtnis an den toten Bonhoeffer („in memoriam“) reduziert, während Kontexte und Akteure, die zu diesem Zeitpunkt durchaus prominenter waren als der Jugendsekretär, völlig ausgeblendet sind (vgl. Eisenberg, Fanø). Eine Göttinger Gedenktafel am langjährigen Wohnhaus des Juristen Gerhard Leibholz erinnert nicht an den bedeutenden Verfassungsrichter und seine Verdienste, sondern an seinen Schwager Dietrich Bonhoeffer, der im Herbst 1938 zusammen mit Eberhard Bethge in der Wohnung einhütete, am „Gemeinsamen Leben“ schrieb und in der Nähe Tennis spielte (vgl. Bethge, Nachwort, 108 f.; Leibholz-Bonhoeffer, vergangen, 92–94; Vogel, Jesus; und Mehlenberg, Bonhoeffer). 69 Beispiele: In München fand am Vorabend von Bonhoeffers 50. Todestag 1995 ein „Werkstattgottesdienst“ statt, in dessen Verlauf eine Büste des früheren Dekans Theodor Heckel, 1934–1945 Leiter des Kirchlichen Außenamtes, zunächst verhüllt, dabei vom Sockel gestoßen und schließlich aus dem Evangelischen Forum verbannt wurde, was zu langen Debatten über die angemessene Erinnerung an die antagonistischen Rollen beider Theologen im Nationalsozialismus führte (vgl. Verantwortung, Mai 2001, bes. 39–54). Im Umfeld von Bonhoeffers Geburtstagen 1996 und 2006 brandeten in Bayern analoge Debatten um die Rolle von Landesbischof Hans Meiser im Nationalsozialismus auf, die nach jahrelangem Streit in mehrfachen Umund Rückbenennungen von Straßen und kirchlichen Einrichtungen mündeten (vgl. den Beitrag von Schulze im vorliegenden Band); auch hier diente Bonhoeffer bisweilen als Kontrastideal. Und in Greifswald wurde der innerstädtische Ernst-Thälmann-Platz auf Initiative des pommerschen Bischofs im Sommer 2008 in Dietrich-Bonhoeffer-Platz umbenannt, so dass hier der Name eines kommunistischen Todesopfers der Nationalsozialisten, nach immerhin elf Jahren Haft im KZ Buchenwald ermordet, durch den eines christlichen triumphal überschrieben wurde (vgl. rn/epd, Straßenbenennung).
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Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher für den Widerstand gegen Hitlers Staat entschieden hatten70. Auch bei anderen Formen der Erinnerungskultur wuchsen die hagiographischen Interessen an Bonhoeffer zwar schubartig an, doch registrieren wir zugleich auch weiterhin Beispiele dafür, wie mit seiner moralischen Autorität politische Debatten geführt und gesellschaftliche Erregung stimuliert werden konnten. Im Umfeld seines 90. Geburtstags traten 1996 fast zeitgleich drei Rehabilitierungskampagnen an die Öffentlichkeit, die mit verschiedenen Zielsetzungen die Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile forderten. Gemeinsam war ihnen die Annahme, dass die Todesurteile gegen Bonhoeffer, Dohnanyi und weitere Verschwörer bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgehoben, ja als Ergebnis der skandalösen Selbstamnestierungspraxis ehemaliger NS-Richter in der Adenauerzeit gar noch bestätigt worden seien71. Eine rheinische Initiative erblickte darin eine Analogie zur Fortgeltung nationalsozialistischer Urteilssprüche über Deserteure und Saboteure gegen den Vernichtungskrieg, so dass ihr Einsatz für Bonhoeffers Rehabilitierung sich hier als zugkräftiges Argument für die eigentliche Forderung erwies, endlich alle noch lebenden Regime- und Kriegsgegner anzuerkennen und ihre Vorstrafen aufzuheben72. Das war heftig umstritten, bevor sich der Bundestag erst 2002 zu einer generellen Rehabilitierung durchringen konnte73. In Berlin formierte sich eine zweite Kampagne um Bärbel Bohley und andere ehemalige DDR-Bürgerrechtler, die davor warnten, einstige DDR-Juristen mit ähnlicher Milde zu behandeln wie es in den fünfziger Jahren mit den Richtern Bonhoeffers und seiner Gefährten geschehen war74. Hier nutzte man dessen 90. Geburtstag zu öffentlichkeitswirksamen Aktionen am Bundesgerichtshof, wo eine umkämpfte Gedenktafel auf den Justizskandal der Adenauerzeit aufmerksam machen und die konsequente Bestrafung von DDR-Richtern einfordern sollte. Die dritte Rehabilitierungsinitiative ging von einem Seminar des Hannoveraner Juristen Karl-Heinz Lehmann aus75. Hier dominierte offensichtlich das Interesse, die moralische Integrität der Widerstandskämpfer wieder mit ihrer juristisch erst gültig zu erklärenden Unschuld in Deckung zu bringen: Heiligkeit und Schuld schienen sich in dieser Wahrnehmung von selbst auszuschließen. Die Familien sahen eine solche Korrektur skeptisch76. 70 Vgl. Zehnpfund, Bonhoeffer ; Ebbrecht, Bonhoeffer-Haus; als neueren Bericht etwa ders., Ferienhaus. 71 Vgl. hierzu Perels, Rechtfertigung; ders., Amnestien; ders., Entlegitimierung; Ponnath, Urteil; und Schminck-Gustavus, Prozeß. 72 Vgl. de Kleine / Schoenborn, Aufruf. 73 Vgl. Messerschmidt, Diskussion; Wette, Deserteure. 74 Vgl. die Dokumentationsmappe „Bonhoeffer-Freundeskreis Region Mitte, Leiterkreis, zusammengestellt von Wilfried Schulz […]“ (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Ordner o. Nr. „Materialsammlung Gedenken“). 75 Vgl. ebd.; Kohl, Rehabilitierung. 76 „Dietrich Bonhoeffer und seine Kameraden im Widerstand gegen die Nazis bedürfen heute keiner sogenannten ,Rehabilitation‘ durch einen Amtsstempel“, erklärte Klaus von Dohnanyi
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Umso größer war die Ernüchterung, als das Berliner Landgericht erklärte, die Unrechtsurteile seien bereits seit 1946 vollgültig aufgehoben, die Fälle könnten daher nicht, wie Lehmanns Seminar es verlangt hatte, erneut aufgerollt werden77. Am Beispiel der Rehabilitierungsbemühungen im Umfeld von Bonhoeffers 90. Geburtstag lässt sich mithin ablesen, dass man durchaus von einem Trend zur moralischen Vereindeutigung des Gefeierten sprechen kann, diesen Befund aber im Hinblick auf die Funktionen des Erinnerns auch nicht generalisieren darf. Diese Differenzierung vorausgesetzt, können wir auch in Gedenkreden und Zeitungsbeiträgen dieser Jahre beobachten, dass theologische Härten und Verstehenshindernisse, die die angenehme Eindeutigkeit des Guten noch behindert hätten, zunehmend ausgeglättet wurden; Bonhoeffer konnte auf diese Weise zu jenem Mann des guten Gewissens bagatellisiert werden, dem er selber im notvollen Dilemma bekanntlich nicht allzu viel Entscheidungsmut zutraute78. Seine Ethik der verantwortlichen Schuldübernahme79 war für das öffentliche Gedenken zu sperrig geworden. Als der EKDRatsvorsitzende Wolfgang Huber in einer berühmtgewordenen Formulierung zu Bonhoeffers 100. Geburtstag 2006 von einem „evangelischen Heiligen“ sprach80, konnte dies geradezu als abschließende Kanonisierung von höchster Stelle missverstanden werden81. Huber freilich hatte in dieser Breslauer Rede die unübersehbaren Trends nicht einfach sanktioniert, sondern ihnen vom Augsburger Bekenntnis aus (CA 21) auch eine Grenze gezeigt, über die evangelische Heiligenverehrung nun einmal nicht hinausdarf82. Die Breslauer Gedenkfeier führte die jahrelangen Annäherungen zwischen deutschen und polnischen Bonhoeffer-Lesern zu einem glücklichen Höhepunkt83. Die ökumenische Versöhnungsarbeit zwischen Christen beider Länder, die sich heute neben polnischen Bonhoeffer-Stätten v. a. an den Ort
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im Radio: „Die Idee, die Standgerichtsurteile von damals zum Beispiel heute wegen eines Formfehlers aufzuheben […], ist der Haltung Bonhoeffers und meines Vaters unwürdig. Um Mord, Kriegsgreuel, Holocaust und die Zerstörung Deutschlands aufzuhalten, begingen die Widerstandskämpfer Landes- und Hochverrat. […] Es war ja gerade der Bruch aller Normen des formalen Rechts, der den Widerstand auszeichnete“ (Rundfunkmanuskript Klaus von Dohnanyi: „Rehabilitierung“ Dietrich Bonhoeffers? Zur Initiative der Aufhebung von NSStandgerichtsurteilen. DLR-Sendung am Sonntag, den 21. Juli 1996 (Fassung vom 18. Juli 1996), hier Bl. 4; SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Mappe o. Nr. „Materialsammlung Gedenken“); vgl. in ähnlicher Weise den Leserbrief von Eberhard und Renate Bethge, Freispruch. Vgl. Beschluß des Landgerichts Berlin, 1. August 1996, Geschäftsnummer 517 AR 4/96 (2 P Aufh. 1/96) (SB PK Berlin, Nachlass 299/Bethge, Ordner o. Nr. „Materialsammlung Gedenken“) . Vgl. Bonhoeffer, Werke, Bd. 8, 21 f. Vgl. v. a. ebd., Bd. 6, 256–289; Schliesser, Schuld; und Rasmusssen, Ethics. Huber, Bonhoeffer. So etwa Esch, Heiliger. Vgl. auch Huber, Geleitwort. Vgl. ausführlicher Lorentzen, Geschenk, 327–330 und die dort reichlich genannte Literatur.
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Kreisau heftet, gehört zu den überraschendsten und überzeugendsten Momenten der jüngsten christlichen Erinnerungskultur. Vor dem Hintergrund neuer Spannungen, die das Verhältnis beider Länder in diesen Jahren schwer belasteten, setzte die Jahrhundertfeier in Bonhoeffers Geburtsstadt unmissverständliche geschichtspolitische Signale: „Gemeinsam sind wir nach Breslau gekommen“, sagte der evangelische Bischof Janusz Jagucki beim Festakt am dortigen Bonhoeffer-Denkmal, „Polen, Deutsche, Christen verschiedener Konfessionen. Wir stehen nebeneinander und reichen einander die Hände. Das, was vor Jahren unmöglich war, gehört heute zur Normalität, auf die wir unseren gemeinsamen Alltag bauen können. […] Möge uns das Wort Gottes von Gnade und Liebe auch weiterhin inspirieren, gemeinsam ein neues Europa zu bauen – ein Europa der Liebe, Solidarität und Freiheit. Dietrich Bonhoeffer hat von einem solchen Europa geträumt. Gott sei Dank, dass sich diese Vision […] vor unseren Augen verwirklicht.“84
Europa ist heute noch weit entfernt von einem gemeinsamen Gedächtnis, das nicht unentwegt die eigenen Helden und die fremden Schurken zum Thema haben dürfte85. Für künftige Beiträge des Christentums zu einer europäischen Erinnerungskultur ist gerade dort das stärkste Potential zu sehen, wo sie das Aussprechen von Schuld, die Begegnung von Feinden, die Möglichkeit von Versöhnung und Vergebung fördern werden.
I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Landeskirchliches Archiv, Berlin (ELAB) Bestand 35 Nr. 206 Nr. 4249 Nr. 5470 Nr. 5558 Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) Bestand 101 Nr. 2914 Bestand 102 Nr. 59
84 Jagucki, Słowo, 14, 106. 85 Vgl. A. Assmann, Gedächtnis; FranÅois, Suche.
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Gemeindearchiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisgemeinde, Berlin (GAKWGG) Ordner 5133 Gemeindearchiv der Zionskirche, Berlin (GAZ) Ordner o. Nr. „Bonhoeffer“ Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (SB PK) Nachlass 299/Bethge86 Kasten 14 „Zeitungsausschnitte Gedenktage“ Nr. 19 „Bell u. G. Leibholz“ Kasten o. Nr., Ordner 11 „Briefe zu Dietrich Bonhoeffer Buchstabe A–F Mappen 1–6“ Ordner o. Nr. „Materialsammlung Gedenken“ Stadtarchiv Bielefeld (StA) Bestand 140: Protokolle Nr. 632 Domarchiv Brandenburg (DA) BDS: Domstiftsarchiv Nr. 507–509 Pfarrarchiv Flossenbürg (PA) Nr. 18/80 Nr. 18/81 Nr. 61/36 Nr. 120/4 Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Nürnberg (LAELKB) Vereine III/4 (Bayerische Pfarrerbruderschaft): Nr. 7 Nr. 12
86 Der Nachlass von Eberhard Bethge (1909–2000) ist mit demjenigen von Dietrich Bonhoeffer unter derselben Nummer 299 vereint, bislang jedoch nicht neu verpackt und verzeichnet worden, so dass hier vorläufig die archivalischen Einheiten unter der Bezeichnung „Nachlass 299/Bethge“ und mit ihren ursprünglichen Beschriftungen geführt werden. Ich danke an dieser Stelle der stets hilfsbereiten Leiterin der Abteilung für Nachlässe in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Dr. Jutta Weber, ohne deren lebhaftes Entgegenkommen zentrale Quellen unentdeckt geblieben wären.
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Verklärung – Vereinnahmung – Verdammung Zur Rezeptionsgeschichte Pfarrer Paul Schneiders1
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Widerstandskämpfer stilisiert und zur Legitimierung des Staates und seiner Ideologie, einschließlich des vorgeblich auch Christen umfassenden Gedankens der „Nationalen Front“ unter der Führung der SED, vereinnahmt und missbraucht. Nachdem der Kommunist Hasso Grabner, ein ehemaliger Mithäftling Schneiders, bereits 1945 den dann immer wieder zitierten Satz geprägt hatte: „Dein [sc. Paul Schneiders] Tod legt unsere Hände ineinander.“9, versuchten Regierungsvertreter und Vertreter der DDR-Blockparteien bis zum Ende der DDR immer wieder in plumper demagogischer und penetrant stereotyper Weise Paul Schneider als Bundesgenossen der – den politischen Kampf für Fortschritt und Humanität anführenden – Kommunisten und als Kronzeugen „gegen Faschismus und Militarismus in Westdeutschland“10 zu instrumentalisieren. Auch staatstreue Theologen wie der Dresdner Gemeindepfarrer Walter Feurich11 beteiligten sich an dieser durchsichtigen interessegeleiteten Geschichtsdeutung bzw. -klitterung. In seinem im Verlag der DDR-CDU erschienenen Heft zu Paul Schneider aus dem Jahre 1967 führte Feurich u. a. aus: „[…] die politisch-moralische Einheit von Christen und Nichtchristen im Kampf gegen den Nazismus […] ist es, die Christen und Marxisten in Buchenwald heute Ernst Thälmann und Paul Schneider in gleicher Weise ehren lässt. Und sie ist es schließlich, die uns veranlasst, angesichts der Bedrohung des Friedens heute rechtzeitig Partei zu ergreifen und nicht nur, wie Schneider, im Leiden, sondern im Kampf gegen die Feinde des Friedens zu siegen. So ist es nur folgerichtig, wenn Paul Schneider als ein Mann, der vom Martyrium des Konzentrationslagers ,ungebrochen‘ blieb, in der ,Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‘ eine ergreifende Würdigung gefunden hat und wenn sein Opfer zusammen mit dem der heldenhaft kämpfenden Kommunisten genannt wird.“12
Wie fragwürdig und willkürlich diese Schneider-Vereinnahmung war, zeigt ein Aufsatz des Lüneburger Kirchenhistorikers Gerhard Ringshausen, der in plausibler Weise die Persönlichkeitsmerkmale Schneiders mit denen des Zeitzer Pfarrers Oskar Brüsewitz verglich, der sich 1976 aus Protest gegen die DDR-Diktatur, insbesondere die Diskriminierung von Christen und die Behinderung der freien Evangeliumsverkündigung, selbst verbrannte13. Hier steht Schneider also nicht nur nicht in einer Reihe mit den geistigen Vätern der DDR, sondern ganz im Gegenteil in einer Reihe mit den DDR-Regimegegnern. In dem 2013 von Margot Käßmann für ein breiteres Publikum herausgegebenen Lesebuch „Gott will Taten sehen“ über christlichen Widerstand gegen 9 Grabner, Schneider, zitiert nach Geiger, Pfarrer, 59. 10 Drobisch, Widerstand, zitiert nach Geiger, Pfarrer, 61. 11 Feurich war u. a. Vorsitzender der Kirchlichen Bruderschaft in Sachsen, die den real existierenden Sozialismus in der DDR unkritisch bejahte. Vgl. Seidel, Feurich. Als „IM Klemm“ arbeitete Feurich auch mit der Stasi zusammen. Vgl. Beier, Gemeinde, 172 f. 12 Feurich, Schneider, zitiert nach Geiger, Pfarrer, 64. 13 Vgl. Ringshausen, Schneider.
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Hitler ist ein Kapitel auch Paul Schneider gewidmet. Insgesamt wird der u. a. durch Paul Schneider repräsentierte christliche Widerstand im Nationalsozialismus in der allgemeinen Einleitung des Buches zum „Vorbild“ für die Aktivitäten des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) ab 1968 und insbesondere für den „konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ ab 1983 erklärt, bzw. ÖRK und „konziliarer Prozess“ werden bezeichnet als die „legitimen Erben der Widerstandskräfte der Nazizeit“, zu denen Paul Schneider gehörte14. Auch wertet Käßmann den christlichen Widerstand im Nationalsozialismus als „Zeichen dafür, dass dogmatisch-konfessionelle Grenzen zurücktreten, wo grundsätzliche Glaubensfragen berührt sind“15. Die kontrafaktische Fragestellung, wie Paul Schneider sich 1968 oder 1983 positioniert hätte, wenn er noch gelebt hätte, ist natürlich nicht zu beantworten. Die Quellen zu dem historischen Paul Schneider lassen jedoch kaum Anknüpfungspunkte etwa für pazifistische oder antirassistische Einstellungen erkennen. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass er als Leutnant der Reserve und ehemaliger Freikorpskämpfer – beides wird in Käßmanns Buch erwähnt16 – politisch ganz anders dachte. Dass man zwischen „dogmatischkonfessionellen“ Positionen und „grundsätzlichen Glaubensfragen“ einen Unterschied machen könnte, das hätte Schneider vermutlich überhaupt gar nicht verstanden. Mindestens missverständlich ist in Käßmanns Buch der Satz „Nach der Machtübernahme Ende 1933 kam er [sc. Paul Schneider] zu der Erkenntnis, dass die Bibel nicht mit der nationalsozialistischen Ideologie zu vereinbaren war“17, denn Paul Schneider stand dem Nationalsozialisten tatsächlich anfänglich aufgeschlossen gegenüber und trat noch im Juli 1933 für kurze Zeit den „Deutschen Christen“ bei, was in dem Buch leider unerwähnt bleibt. Vor dem Hintergrund des spezifisch römisch-katholischen Heiligen- und Märtyrerverständnisses ist es schließlich wohl ebenfalls eine Art von Idealisierung und womöglich auch eine gewisse Vereinnahmung, wenn in der römisch-katholischen Kirche neuerdings Paul Schneider ausdrücklich als Blutzeuge Christi gewürdigt wird und gleichsam „zur Ehre der Altäre“ erhoben worden ist. Papst Johannes Paul II. erwähnte ihn im Rahmen des Märtyrergedenkens am 7. Mai 2000 im Kolosseum in Rom exemplarisch und verwies auf das Auferstehungszeugnis des „Predigers von Buchenwald“ aus der Arrestzelle heraus. Am 12. Oktober 2002 wurde in der römischen Basilika San Bartolomeo eine Ikone eingeweiht, die, auf die Worte des Papstes Bezug nehmend, im Zentrum, unmittelbar unterhalb der Osterkerze, den KZ-Häftling Paul Schneider hinter Gittern zeigt. Bei einer ökumenischen Gedächt14 15 16 17
Vgl. K-ssmann, Gott, 19. Vgl. ebd., 29. Vgl. ebd., 167. Ebd., 168.
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nisfeier am 1. Februar 2003 wurde in Anwesenheit des designierten rheinischen Präses Nikolaus Schneider ein handgeschriebener Brief Schneiders überreicht – sozusagen als Berührungsreliquie, d. h. als ein zu verehrender Gegenstand, den der zur Ehre der Altäre Erhobene selbst noch angefasst hat18. Neben dem Vorsitzenden des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, leitete der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Ishmael Noko, den Gebetsgottesdienst. Das ist insofern bemerkenswert, als Paul Schneider, der ja Pfarrer in einer Provinzialkirche der Altpreußischen Union war, verschiedentlich als dezidiert reformierter Theologe charakterisiert worden ist; er war auch Mitglied im „Coetus reformierter Prediger“19. Tatsächlich finden sich allerdings neben reformierten durchaus lutherische Elemente in seinem Denken, so konnte er etwa auch schon mal in einer Predigt eine längere Passage aus Luthers Hauspostille zitieren20. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Paul Schneider begann eigentlich erst mit Aichelins einschlägiger Dissertation von 199421. Sie basiert auf einer gründlichen Quellenanalyse und ist bis heute die maßgebliche und grundlegende wissenschaftliche Biographie. Aichelin ist freilich, wie er selbst erklärte, auf „das spezifisch theologische Denken Schneiders“ kaum eingegangen22. Er hat zwar grundsätzlich das zentrale Bekenntnisanliegen Schneiders gewürdigt, aber dann vor allem auch die „politische Dimension“ von Schneiders Denken und Handeln betont, die Schneider voll bewusst gewesen sei. Schneider sei, so Aichelin, „zum fundamentalen Gegner des Regimes“ geworden, der verschiedentlich „ganz bewußt mit politischen Mitteln dem Regime trotzte“23. Dieser These Aichelins, dass Schneider auch als politischer Widerständler anzusprechen sei, wurde von Martin Greschat bereits 1995 in einer kurzen Rezension und 2004 dann auch von Rickers heftig widersprochen24. Rickers hat zudem grundsätzliche Kritik am Ansatz des Heidelberger Forschungsprojektes geübt, in dessen Rahmen Aichelins Arbeit entstand. Der Arbeitstitel 18 Vgl. Geiger, Pfarrer, 122–131. Eine Abbildung der Ikone findet sich unten, 187). Der frühere rheinische Präses Manfred Kock hatte zunächst die Herausgabe eines handgeschriebenen Briefes unter Berufung auf das kirchliche Archivgesetz für nicht möglich erklärt, schließlich war die rheinische Kirche dann aber doch einer Bitte eines Sohnes von Paul Schneider, der den Wunsch aus Rom unterstützte, nachgekommen. Auch Familienangehörige Paul Schneiders bezeichneten den auf einem Samtkissen feierlich durch die Kirche getragenen und dann auf dem Altar deponierten Brief (es handelt sich um ein Schreiben aus dem KZ an die Ehefrau vom 4. April 1938) offenbar ganz unbefangen als „Reliquie“ (ebd., 124 f., 127, 130). 19 Vgl. insbesondere Goerlich, Schneider; Busch, Tradition. Zu Schneiders Mitgliedschaft im „Coetus reformierter Prediger“ vgl. Lekebusch, Pfarrer, 50–52. 20 Vgl. Schneider / Schmidt, Dokumente, 349 f. mit Anm. 25 u. 358. Vgl. zur Theologie Paul Schneiders auch unten im Text. 21 Aichelin, Schneider (1994); vgl. auch Aichelin, Schneider (2000). 22 Aichelin, Schneider (1994), XXVII. 23 Ebd., 325–327. 24 Vgl. Greschat, Rezension; Rickers, Weltbild, 142–144.
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Märtyrer-Altarbild in der Kirche San Bartolomeo Rom. Gemeinschaft Sant’Egidio, Rom (Foto: Robin Rueth, gemeinfrei).
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des Projektes lautete: „Der radikale Flügel der Bekennenden Kirche im Widerstand – Vergleichende Untersuchungen zu Varianten der Resistenz bei Gustav Heinemann, Paul Schneider und Martin Albertz“. Rickers meint, hier sei von vornherein unterstellt worden, „dass diese drei Männer (politischen!) Widerstand geleistet bzw. sich gegen den Nationalsozialismus resistent verhalten“ hätten, und Aichelin habe dementsprechend „– getrieben von dem Erkenntnisinteresse des Forschungsprojekts – Aussagen politisch hochrechnen“ müssen, „die die Tragfähigkeit eines politisch resistenten Widerstandsverhaltens bei Schneider durchaus nicht begründen können.“ Nach Rickers sei der Eindruck erweckt worden, „als diktierte die Intention des Projekts das historische Material und nicht umgekehrt.“25 Rickers hat sich mit dieser fundamentalen Kritik an Aichelin freilich auch selbst korrigiert. In seinem 1997 veröffentlichten Arbeitsbuch für den Religionsunterricht zu Paul Schneider hielt er Greschats Kritik an Aichelin zwar teilweise für berechtigt, jedoch auch für überzogen. Bei Greschat sei, so Rickers 1997, „die politische Dimension des Falles Schneider unterbewertet.“ Zur Begründung führte Rickers aus: „Denn das Vorgehen Schneiders läßt sich durchaus in die Widerstandsdiskussion einordnen. Natürlich hat er keinen Widerstand im Sinne des 20. Juli geleistet oder im Sinne seiner sozialistischen und kommunistischen Mitgefangenen agiert. Aber ein Widerstehen, hier zunächst auf weltanschaulicher Ebene und dann ein Stück darüber hinausgehend in den gesellschaftlichen Raum, war es schon.“26
In seinem Aufsatz in den Monatsheften für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes von 2004 hat Rickers dagegen nicht nur bestritten, dass Schneider eine profilierte politische Position hatte, sondern auch, dass er eine profilierte theologische Position hatte. Ansatzweise findet sich das schon in dem Buch von 199727. 2004 aber wurde Rickers sehr viel deutlicher. Schneider verfügte, so Rickers jetzt, weder über politische noch über theologische Reife: „[Schneider] vollzog […] die Abkehr von der Aufklärung und reihte sich ein in die breite konservative Abwehrfront gegen jedweden Liberalismus, Rationalismus, Parlamentarismus, durch die die Weimarer Republik schließlich zu Fall gebracht wurde. […] [Es] fehlten ihm wohl auch politische Reife und politisches Reflexionsniveau. […] Es ist nicht ein spezifisch theologisches Anliegen, das Schneider treibt; man kann auch […] keine signifikante theologische Entwicklung bei ihm erkennen. […] Es kann kein Zweifel sein, dass Schneider […] ein nur mäßig gebildeter Theologe ist, ohne erkennbares Profil. […] Schneider ist nicht wegen seines Glaubens und Bekenntnisses von den Nationalsozialisten inhaftiert und schließlich zu Tode gebracht worden, sondern wegen der Art und Weise, wie er […] seine Widersacher in gewollter Provokation herausgefordert hat. … Das 25 Rickers, Interesse, 261. 26 Rickers, Widerstehen, 28 f. 27 Vgl. ebd., 74 f.
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Weltbild Paul Schneiders […] ist […] ein Weltbild von beklemmender Enge. […] Der geografischen Enge entsprach die geistige, kulturelle und politische […] seine unpolitisch-politische Option […] vertrug sich ohne Weiteres mit der Diktatur Hitlers […]“28
Dagegen lassen sich folgende Argumente geltend machen29 : Schneider hatte sehr wohl eine – durchaus eigenartige – theologische Position, die sich im Wesentlichen wohl umschreiben lässt mit folgenden Stichworten: Elemente der dialektischen Theologie, der neupietistisch-biblizistischen Theologie und der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers30, Leidensnachfolge Christi und reformierte Kirchenzucht. Auch wer heute theologisch anders als Schneider denkt, sollte konzedieren, dass Schneider eine Theologie hatte. Rickers ist sicher zuzustimmen, dass diese nicht das wissenschaftliche Reflexionsniveau etwa eines Dietrich Bonhoeffer erreichte, aber der von Rickers immer wieder vorgenommene Vergleich Schneider – Bonhoeffer ist wegen der unterschiedlichen Viten, sozialen Milieus und Berufsfelder nicht angemessen. In seinen Konflikten in der NS-Zeit begegnet Paul Schneider uns als überzeugter und äußerst engagierter antimodernistischer Streiter gegen liberale Moralvorstellungen, gegen die Gemeinschaftsschule sowie gegen liberale Theologie und Religionspädagogik – und umgekehrt als konservativer Verteidiger einer sittenstrengen Moral, der Bekenntnisschule einschließlich einer zumindest teilweisen geistlichen Schulaufsicht, einer erwecklich-konfessionellen Theologie sowie einer traditionell-katechetischen Religionspädagogik einschließlich herkömmlicher Unterrichtsmethoden wie Auswendiglernen; Paul Schneiders nationalsozialistische Gegner vor Ort vertraten spiegelbildlich umgekehrte Positionen31. Schneiders Theologie, Ethik und Pädagogik waren wie sein gesamtes Weltbild in der Tat antiliberal bzw. antimodern. Doch die von Rickers aufgemachte Gleichung: „Modernismus = NS-Gegnerschaft“ stimmt so nicht, denn sie verkennt die modernen Züge des Nationalsozialismus. Hans-Ulrich Thamer etwa sprach sogar von einem „außerordentlichen Modernisierungsschub“, den das NS-Regime – neben dem gleichzeitigen Rückgriff „auf traditionelle Muster“ – gebracht habe32. Schneiders Moralauffassungen, etwa im Bereich der Sexualethik, sind aus heutiger Sicht ohne Zweifel schwer nachvollziehbar. Ähnliches gilt für seine theologischen und pädagogischen Vorstellungen. Womöglich hat er aber dennoch auch etwas Richtiges gesehen, wenn er – zugegebenermaßen in recht einseitiger, verkürzter und übertriebener Weise – den Nationalsozialismus 28 Rickers, Weltbild, 175–184. 29 Vgl. Schneider, Idealisierung. 30 Vgl. Schneider / Schmidt, Dokumente, 358; gegen Aichelin, Schneider (1994), 325, der meint, Schneider habe im Unterschied zur „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers im Sinne der Barthschen Lehre von der „Königsherrschaft Christi“ ein Wächteramt der Kirche gegenüber dem Staat reklamiert. 31 Vgl. Schneider, Gegner. 32 Thamer, Verführung, 374.
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angriff, indem er exemplarisch dessen moderne Züge in Frage stellte. Die Theologie war der das Weltbild Schneiders absolut dominierende Faktor. Schneider hat der totalitären Ideologie der Nazis gewissermaßen eine totalitäre Theologie entgegengesetzt. Das mussten die Nazis – entgegen der eigentlichen Intention Schneiders – als politische Herausforderung ansehen. Schneider starb so als politischer KZ-Häftling mit rotem Winkel. Durch und durch konservativ und gewiss kein Verfechter unserer heutigen freiheitlichdemokratischen Grundordnung oder unserer heutigen Moralvorstellungen33, war er zwar nicht politisch motiviert, aber sein Reden und Handeln war deshalb durchaus nicht unpolitisch. Wie sonst könnte man erklären, dass der angeblich so unpolitische bzw. politisch so naive und unbedarfte Dorfpfarrer ein politischer Gefangener war? In dem im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahre 2006 herausgegebenen Gedenkbuch „,Ihr Ende schaut an …‘ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts“ hat Rickers Zweifel angemeldet, ob Schneider „so ungebrochen als Märtyrer bezeichnet werden“ könne, denn er sei „auch ein religiöser und moralischer Eiferer“ gewesen, „der das Leiden um Christi willen als Erweis der Standhaftigkeit im Glauben vor der Öffentlichkeit ansah.“34 In den Monatsheften für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes von 2007 hat Rickers diese These noch einmal ausführlich dargelegt und begründet. Er betonte das gesetzliche Denken Schneiders, seine geringe Flexibilität und sein Unvermögen, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden: „[Schneider] bot sich […] in seinem selbst gewählten Martyrium Gott als Opfer an, nicht bedenkend, dass er sich mit Bezug auf Hebr 7,27 hätte davon entlasten können und müssen: Ein für alle Mal […] hat Gott sich selbst in Jesus Christus dahingegeben, sodass mit diesem Ereignis alle weiteren, von Menschen inszenierten Opfer obsolet sind.“35
Rickers hat Schneider sozusagen Stück für Stück demontiert, sein politisches Denken, sein theologisches Denken, sein gesamtes „Weltbild“, sein Märtyrertum. Gleichzeitig hat er sich deutlich von seinem Buch von 1997 entfernt, dessen Titel noch lautete „Widerstehen in schwerer Zeit“ und dessen Intention es war, die „Erinnerung an Paul Schneider“ (so der Untertitel) wach zu halten als an einen der „wenige[n] Christen“, die dem „christliche[n] Gebot der Stunde“ entsprochen hätten, nämlich: „Widerstand/Widerstehen gegen den Nationalsozialismus (in welcher Form auch immer) und Eintreten für die vom
33 Vgl. das sogenannte EKD-Familienpapier: Autonomie. Dort finden sich vergleichsweise liberale Moralvorstellungen. So werden etwa nichteheliche und gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen akzeptiert. 34 Rickers, Schneider, 426. 35 Rickers, Interesse, 270.
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Nationalsozialismus Verfolgten“36. Wenige Jahre später hätte Rickers solche Lernziele wohl kaum noch formulieren können. Indem Rickers bestritt, dass Schneider ein Märtyrer gewesen sei, widersprach er der gesamten ökumenisch-kirchlichen Tradition, die unmittelbar nach Schneiders gewaltsamem Tod begann, und wohl auch der allgemeinen Rezeption Schneiders in der Gesellschaft. Es sei hier nur daran erinnert, dass der auch von Rickers sehr geschätzte Dietrich Bonhoeffer bereits unmittelbar nach Schneiders Tod überhaupt gar keinen Zweifel daran hatte, dass Schneider ein Märtyrer sei, oder dass der Lordbischof von Chichester, George Kennedy Allen Bell, in einem in der „Times“ abgedruckten Brief, verfasst nur wenige Tage nach Schneiders Tod, Schneider als „martyr“ bezeichnete. Die große Fülle der Reaktionen auf Schneiders Tod sind im Hinblick auf sein Märtyrertum ganz eindeutig37. Der berlin-brandenburgischen Kirchenleitung mit ihrem Bischof Otto Dibelius galt Paul Schneider sogar als exemplarischer „Märtyrer im vollen Sinne dieses Wortes“38, und diese Einschätzung scheint bis heute allgemein üblich zu sein. Davon zeugen nicht zuletzt die zahlreichen Straßen, Kirchen, Gemeindehäuser und Schulen, die nach ihm benannt wurden39. Gerade weil die evangelische Kirche anders als die römisch-katholische keine eindeutige, verbindliche Definition von Märtyrern, etwa mit klar geregeltem Kanonisierungsverfahren, kennt40, sollte zunächst einmal – auch und gerade für Historiker – gelten: Märtyrer ist, wer als solcher rezipiert wird. Darüber hinaus seien abschließend aber auch noch einige Gedanken zur inhaltlichen Diskussion des Märtyrerbegriffs im Anschluss an den Münsteraner Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild vorgetragen. Hauschild hat theologische Kriterien für ein evangelisches Märtyrerverständnis herausgearbeitet. Dabei kam er zu dem Ergebnis, „dass die biblisch-altkirchliche und die evangelisch-reformatorische Sicht in den Grundzügen übereinstimmen.“ Den ersten wesentlichen Aspekt fasste er wie folgt zusammen: „Märtyrer / Märtyrerinnen als getötete ,Christen / Christinnen‘ stehen in einem fundamentalen Bezug zum gekreuzigten Jesus, dem ,Christus‘. Sie leben und sterben in dessen Nachfolge, aber dabei gibt es eine kategoriale Differenz in soteriologischer Hinsicht […]“41 Zweifellos entsprach Paul Schneider diesem Kriterium in besonderer Weise. Selbst wenn man mit der Auffassung konform geht, dass Schneider vielleicht eine etwas zu starke Martyriumssehnsucht hatte – auch bei Bonhoeffer ist so etwas zu finden42, ganz zu schweigen von altkirchlichen Märtyrern wie 36 37 38 39 40 41 42
Rickers, Widerstehen, 44. Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, Christuszeuge, 127–144. Zitiert nach Huber, Bekenntnis, V. Vgl. Geiger, Pfarrer, 197–201. Vgl. Hauschild, Märtyrer, 50–52. Ebd., 69. Vgl. u. a. Bethge, Bonhoeffer, 386.
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Ignatius von Antiochien43 u. v. a. –, bleibt der Vorwurf von Rickers überzogen, Schneider habe das Opfer Jesu Christi oder die „kategoriale Differenz in soteriologischer Hinsicht“ ignoriert. Paul Schneider konnte den Weg des Leidens nur gehen in der festen Gewissheit des Glaubens an das allein heilbringende Opfer Jesu Christi; er begriff seinen Leidensweg ausschließlich als einen Hinweis auf Jesus Christus. Etwas anderes geben die Quellen nicht her. Hauschild hat gezeigt, dass der Märtyrerbegriff in der kirchlichen Rezeption seit den 1960er Jahren eine Ausweitung erfuhr, indem nicht nur „die Wortzeugen in der Bezeugung des Christusbekenntnisses bzw. der Wahrheit Gottes“, sondern auch „die Tatzeugen der göttlichen Gerechtigkeit bzw. der Gebote Gottes“ darunter zu fassen sind44. Der Sozialethiker und Berliner Bischof Wolfgang Huber hat darauf aufmerksam gemacht, dass es erst diese Ausweitung des Märtyrerbegriffs ermöglichte, Bonhoeffer überhaupt als Märtyrer zu begreifen45. Hier lag nun offensichtlich deutlich das Interesse von Rickers: Ihm ging es vor allem, wenn nicht gar ausschließlich, um die politisch-ethische Dimension des Märtyrerbegriffs. Da Rickers diese politischethische Dimension bei Paul Schneider vermisste, war dieser für ihn kein Märtyrer. Dies bedeutet aber nicht nur eine erneute Verkürzung des von Hauschild beschriebenen Märtyrerbegriffs mit seinen zwei Dimensionen, nämlich der theologischen und der politisch-ethischen Dimension – diesmal nach der anderen, der politisch-ethischen Seite hin –, sondern zudem auch eine bedenkliche Entkoppelung von den nach Hauschilds Verständnis eigentlichen, d. h. den theologischen Wurzeln. Rickers war die Enttäuschung deutlich anzumerken, dass Paul Schneider seinem nach eigenem Bekunden stark vom „Geist von 1968“ geprägten Weltbild und seinem einseitigen politischen Märtyrerverständnis nicht entsprach. Das schließt nicht aus, dass Rickers’ Entmythologisierungsbestrebungen in Teilen durchaus ihr Recht hatten und noch haben. Paul Schneider passt wohl so recht in keine Schublade46. Er lässt sich insbesondere für bestimmte aktuelle politische Anliegen oder Einsichten kaum vereinnahmen, was man ihm freilich nicht postum zum Vorwurf machen sollte. Aus seiner Lebensgeschichte ist längst die Geschichte seiner unterschiedlichen Rezeption geworden – zumindest in diesem Punkte seinem großen Vorbild Jesus von Nazareth wohl nicht ganz unähnlich.
43 Vgl. Ignatius von Antiochien (gest. um 115), An die Römer, 4, 1: „Ich […] schärfe es allen ein, daß ich freiwillig für Gott sterbe, wenn anders ihr es nicht verhindert. So bitte ich euch, daß ihr mir [euer] Wohlwollen nicht zur Unzeit erzeigt! Laßt mich den Bestien zum Fraß werden […]“ (zitiert nach Alte Kirche, 19). 44 Hauschild, Märtyrer, 69. 45 Vgl. Huber, Bekenntnis, V. 46 Vgl. Schmidt, Schneider, 163.
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Nora Andrea Schulze
Hans Meiser Vom Widerstandskämpfer zur persona non grata
Nicht ohne eine gewisse Berechtigung kann die Frage gestellt werden, warum Hans Meiser, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern von 1933 bis 1955, in einem Tagungsband zur Rezeption des evangelischen Widerstands Berücksichtigung finden soll. Von Ausnahmen abgesehen, wird Hans Meiser heute nicht mehr als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus beurteilt. Unabhängig davon aber, wie man sein partiell durchaus widerständiges Verhalten im Einzelnen auch bewerten mag, lässt sich an der Rezeption Hans Meisers paradigmatisch der Wandel der Beurteilung eines zentralen Akteurs aus der Zeit des sogenannten Kirchenkampfes nachvollziehen ; eines Akteurs, der während der NS-Herrschaft zunächst als Führer der Bekenntnisfront galt und von den braunen Machthabern als Staatsfeind betrachtet wurde, eines Akteurs, der nach 1945 in Bayern beispiellos verehrt und dabei partiell auch zum Widerstandskämpfer stilisiert wurde, eines Akteurs, dem zahlreiche öffentliche Ehrungen zuteil wurden – eines Akteurs jedoch, dessen Bild ab den 1970er Jahren zu bröckeln begann und der heute an bestimmten Orten nicht mehr für würdig befunden wird, Gegenstand der Erinnerung im öffentlichen Raum zu sein. Dieser radikale Wandel ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass Erinnerungskultur zwar der Ergebnisse historischer Forschung bedarf, vor allem aber der Selbstvergewisserung von aktuellen Werthaltungen der Erinnernden dient.
1. Historischer Ausgangspunkt Hans Meiser selbst verstand sich während der NS-Herrschaft und auch danach nicht als politischer Widerstandskämpfer. Von einer neulutherischen Obrigkeitslehre geprägt, sah er es nicht als Aufgabe der Kirche an, den Staat öffentlich zu kritisieren oder gar aktiv zu bekämpfen. Dass er dennoch schon während der NS-Zeit und auch nach 1945 als NS-Gegner wahrgenommen wurde, hat seine historische Ursache vor allem im bayerischen Kirchenkampf vom Herbst 1934, der sich gegen die Gleichschaltung der bayerischen Lan-
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deskirche mit der NS-hörigen Reichskirche richtete1. Der Kampf um Bekenntnis und Selbstständigkeit der Landeskirche, der im Oktober 1934 in der Absetzung Hans Meisers und seiner Arretierung kulminierte, zeichnete sich durch zwei Besonderheiten aus: Zum einen war der bayerische Kirchenkampf ein Kampf um den Landesbischof selbst und ganz auf die Person Hans Meisers fokussiert; zum anderen wurde dieser Kampf nicht nur von Kirchenleitung und Pfarrern ausgefochten, sondern auch von Gemeindegliedern, die sich massenweise zum öffentlichen Protest für ihren Landesbischof mobilisieren ließen. Die Bekenntnisgottesdienste und demonstrationsähnlichen Versammlungen, das wagemutige Vorsprechen von Gemeindegliedern bei politischen Stellen und das Einknicken des NS-Regimes wurden zu einem Schlüsselerlebnis, das sich tief in die kollektive Erinnerung der Landeskirche eingrub, für Jahrzehnte identitätsstiftende Wirkung entfaltete und Hans Meiser in Bayern zur Symbolfigur für Mut und Standhaftigkeit werden ließ. Der „fromme Volksaufstand“2 bewirkte eine Identifikation von Bischof, Pfarrern und Kirchenvolk, wie sie in dieser Form in keiner anderen Landeskirche zu finden war, und wurde in der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik zum historischen Ausgangspunkt einer beispiellosen Verehrung. Dabei wurde Hans Meiser auch zum politischen Widerstandskämpfer stilisiert, obwohl er selbst politische Implikationen stets kategorisch ausgeschlossen hatte3 und die frommen Demonstranten überwiegend treue Wähler und Anhänger Hitlers waren4.
2. Stilisierung zum Widerstandskämpfer Die Verehrung, die Hans Meiser in den 1950er Jahren bei Pfarrern und Kirchenvolk genoss, war neben dem Kirchenkampf vom Herbst 1934 wesentlich seiner Wirksamkeit in der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik geschuldet. Dazu gehörten vor allem seine Leistungen bei der Integration von
1 Vgl. dazu und zum Folgenden Kremmel, Pfarrer, 337–405; Nicolaisen, Bischof, 33–37; und ders., Herrschaft, 310–313; vgl. auch die zeitgenössischen Berichte bei Schieder, Meiser, 21–39. 2 So deutete der Kirchenhistoriker Carsten Nicolaisen die Vorgänge in der bayerischen Landeskirche vom Herbst 1934 in einem Interview mit dem bayerischen Sonntagsblatt (Nr. 41 vom 10. 5. 2004, 7). 3 Vgl. z. B. das Wort des Landesbischofs vom 16. 10. 1934, in dem Hans Meiser die Pfarrer dazu aufforderte, „alles [zu] unterbinden, was auch nur den Anschein erwecken könnte, als ginge es in diesem Kampf ausser um rein kirchliche auch um politische Ziele“ (EVAKIZ Menchen, A 30.5). 4 So waren die meisten der 15 Bauern, die gemeinsam mit drei Pfarrern am 22./23. 10. 1934 bei politischen Stellen in München gegen die Absetzung Hans Meisers protestierten, Parteimitglieder. Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp legten sie eine Erklärung vor, in der es hieß, sie seien „ebenso fanatische Vorkämpfer für ihren Glauben wie sie es gewesen sind für das dritte Reich“ (zit. nach Kremmel, Pfarrer, 393).
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Flüchtlingen und Vertriebenen5, seine Haltung zur Entnazifizierung6, sein Engagement beim Wiederaufbau und schließlich die Gründung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands7. Die Verehrung durch die Mehrheit kirchlicher Amtsträger und vor allem der protestantischen Bevölkerung wurde auch von politischer Seite aufgegriffen und weit über Bayern hinaus geteilt. Hans Meisers hohes Ansehen führte bereits zu seinen Lebzeiten zu zahlreichen öffentlichen Ehrungen wie der Verleihung von Ehrenbürgerschaften8 und des Bundesverdienstkreuzes9. Diese Ehrungen machen sichtbar, dass der Kampf für die Kirche und der Einsatz für Angehörige des „eigenen Volkes“ damals noch als Werte galten, die keiner weiteren Vermittlung bedurften. Im Rahmen dieser Verehrung kam es partiell auch zu Deutungen von Hans Meisers Verhalten als politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In seltener Eindeutigkeit geschah dies von politischer Seite aus: Der Münchner SPD-Oberbürgermeister Thomas Wimmer, zur NS-Zeit politisch verfolgt und ehemaliger KZ-Häftling, urteilte 1951, Hans Meiser habe in der „Zeit diktatorischer Willkür“ „unerschrocken Widerstand“ geleistet10. Angesichts der Verehrung in der protestantischen Bevölkerung sahen sich Kommunalpolitiker in mehreren bayerischen Städten nach Hans Meisers Tod 1956 umgehend zu erinnerungskulturellen Entscheidungen veranlasst und ehrten ihn mit der Benennung von prominent gelegenen Straßen11. Auch jetzt wurde Hans Meisers Verhalten als politischer Widerstand, ja geradezu als Fundamentalopposition gedeutet: So hieß es in der Begründung der Stadt München für die Straßenbenennung, Hans Meiser sei ein „furchtloser Gegner des Nationalsozialismus“12 gewesen. Zu einer kritischen Analyse von Hans Meisers Verhalten oder gar zu Debatten über seine Erinnerungswürdigkeit kam es praktisch nicht. So berichtete ein ehemaliger SPD-Stadtrat, bei der Beschlussfassung über die Nürnberger Meiserstraße 1957 habe es keine Diskussion gegeben, man sei vielmehr 5 6 7 8 9
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Vgl. dazu Renner, Nachkriegsprotestantismus, 307–345; Baier, Flüchtling. Vgl. dazu Renner, Nachkriegsprotestantismus, 117–147; Mensing, Schuldfrage, 143 f. Vgl. dazu Schneider, Zeitgeist, 211–263. Z. B. 1951 in Ansbach (vgl. die „Niederschrift über die außerordentliche Stadtratssitzung am Donnerstag, den 29. November 1951 um 17 Uhr im Sitzungssaal des Stadthauses“: Privatarchiv Familie Meiser). 1952 erhielt Hans Meiser das „Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“; 1955 folgte das „Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ (Verleihungsurkunden vom 9. 1. 1952 und 30. 4. 1955 im Privatarchiv der Familie Meiser). Gratulationsschreiben des Münchner Stadtrates an Landesbischof Hans Meiser zum 70. Geburtstag am 16. 2. 1951 (Privatarchiv Familie Meiser). In Ansbach, Bayreuth, München, Nürnberg, Weiden, Pfaffenhofen/Ilm, Pullach bei München und Schwabach. Schreiben des Stadtbaurates Fischer an das Münchener Stadtarchiv vom 18. 1. 1957, zit. nach Schobel, Benennung, 8.
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einfach davon ausgegangen, „dass Meiser ein Widerstandskämpfer war, weil sein Name immer im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf 1934 gefallen war“13. Mit verantwortlich für diese Gleichsetzung von Kirchenkampf und Widerstand war die Geschichtspolitik, die die unter Hans Meisers Führung stehende Kirchenleitung während der Besatzungszeit betrieben hatte. Um die Pfarrer vor der Entnazifizierung zu schützen, hatte die Kirchenleitung schon 1945 Belege für die Verfolgung von Pfarrern gesammelt14, sich 1946 dann gerichtlich bestätigen lassen, dass die Bekennende Kirche eine Widerstandsbewegung gewesen sei15 und kurz darauf ein Flugblatt herausgegeben, in dem es explizit hieß, „wer der Bekennenden Kirche als Mitglied angehörte“, sei „damit in einer Kampf- und Widerstandsorganisation tätig“ gewesen16. Die nahezu kritiklose Verehrung Hans Meisers und seine unreflektierte Stilisierung zum Widerstandskämpfer wurden in einem Konsens von Pfarrern, Bevölkerung, Medien und Politik getragen. Negative Aspekte, die dem widerständigen Bild Hans Meisers widersprochen hätten, wurden dabei ausgeblendet. Der Kirchenhistoriker Harry Oelke stellt die positive Erinnerung der 1950er Jahre an Hans Meiser deshalb in den Kontext der „Schlussstrichmentalität“ als zeittypische „Disposition der deutschen Gesellschaft“, die „die Vergangenheit hinter sich […] lassen und vergessen […] machen“17 wollte. Dagegen gründete sich „Meisers Ansehen“ nach dem Historiker und Politologen Gotthard Jasper gerade auf das Wissen, „dass auch er Hoffnungen auf Hitler gesetzt hatte und doch genügend Distanz entwickelte, um die Kirche intakt zu halten“18. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass sich diejenigen Protestanten, die 1934 für ihren Bischof gekämpft hatten, mit der Verehrung Hans Meisers vergewissern konnten, während der NS-Zeit gleichsam auf der „richtigen“ Seite gestanden und selbst einen Anteil am Widerstand gehabt zu haben.
13 Zit. nach Stegemann, Schwierigkeiten, 123. Zu den Umständen, unter denen der Nürnberger Stadtrat 1957 entschied, einen Teil der Spitalgasse in „Bischof-Meiser-Straße“ umzubenennen, vgl. auch das Votum des Nürnberger Oberbürgermeisters Ulrich Maly auf der Stadtratssitzung am 24. 1. 2007: „Wir wissen […], dass eine umfassende Diskussion […] dem damaligen Beschluss von 1957 nicht zugrunde lag. Er ist in nichtöffentlicher Sitzung ohne auf der Tagesordnung gewesen zu sein, sozusagen auf Zuruf zustande gekommen, ohne dass es vorher eine ausführliche Diskussion darüber gegeben hat“ (Stadt Nernberg / Ev.-Luth. Dekanat Nernberg, Umbenennung, 94). 14 Vgl. dazu Mensing, Sieger, 285 f.; Mensing, Pfarrer, 216. 15 Vgl. Mensing, Sieger, 288. 16 Flugblatt des Landeskirchenrats vom 10. 12. 1946 (LAELKB Nernberg, LKR 180). 17 Oelke, Erinnerungskultur, 218. 18 Jasper, Gutachten, 82.
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3. Kritische Aufarbeitung Die positive Sicht auf Hans Meiser blieb schon in den 1940er und 1950er Jahren nicht völlig unwidersprochen. Elementare Kritik an der Stilisierung der Landeskirche zur Widerstandsbewegung übten allerdings nur Einzelne: Pfarrer Wolfgang Niederstraßer, der selbst KZ-Haft erlitten hatte, protestierte Anfang 1946 gegen den Versuch der Kirchenleitung, durch die Erhebung von Verfolgungsmaßnahmen die eigene Widerständigkeit nachzuweisen, weil politische Konflikte für die Landeskirche eben nicht charakteristisch gewesen seien19. Der lutherische Hardliner Friedrich Wilhelm Hopf brachte schon bei Kriegsende die Opfer des Nationalsozialismus in den Blick und prangerte das öffentliche Schweigen der Kirche zu Judenverfolgung, Euthanasie und zum Unrecht an anderen Völkern an20. Solche Einzelstimmen wurden von der Kirchenleitung jedoch marginalisiert oder wie im Fall Karl Steinbauers sogar zur Ordnung gerufen21 und hatten auf das Bild Hans Meisers in der Öffentlichkeit keinen Einfluss. Wegen seines oft zögerlichen und polarisierenden Verhaltens während der NS-Zeit sahen nach Hans Meisers Tod auch enge Mitarbeiter Rechtfertigungsbedarf. Diese Rechtfertigungen bewegten sich inhaltlich allerdings nur im Horizont der Konflikte, die innerhalb der Bekennenden Kirche bestanden hatten, und sollten Hans Meisers Verhalten theologisch legitimieren. So erklärte Oberkirchenrat Julius Schieder 1956, Hans Meiser habe zwar die Aufgabe gehabt, „den Schild zu decken über das Bekenntnis, daß es von der politischen Leidenschaft nicht verfälscht werde“22, wesentlich sei für ihn jedoch gewesen, „daß durch den Kirchenkampf nicht die Ordnung des Staates zerstört werde“23. Vorwürfe aus der Bekennenden Kirche, Hans Meisers „Glaubensbekenntnis habe eigentlich geheißen: ,Ich glaube an eine intakte Kirche‘“, er habe „lediglich den äußeren Bestand seiner bayerischen Landeskirche“ retten wollen und „sei nicht wirklich in die Front gegangen“24, konterte der Erlanger Dekan Eduard Putz mit dem Verweis auf Römer 13, woraus er schloss, dass die Heilige Schrift der Kirche zwar die Aufgabe zuweise, „dem Staat [zu] helfen“, keineswegs aber „auf die Barrikaden zu gehen“25. Ab Ende der 1950er Jahre ging das öffentliche Interesse an der Person Hans 19 Vgl. Schreiben Wolfgang Niederstraßers an den Landeskirchenrat vom 7. 1. 1946 (Pfarramtsarchiv Warmensteinach 6). 20 Vgl. Hopf, Rogate. 21 Vgl. Mensing, Sieger, 289–292. 22 Trauerpredigt Julius Schieders: Nürnberger Evangelisches Gemeindeblatt. Nr. 25 vom 17.6. 1956, 2. 23 Ebd. 24 Schieder, Meiser, 51. 25 Putz, Not, 53.
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Meisers zurück. Das Bild vom heldenhaft widerstehenden Bischof hielt sich jedoch noch deutlich länger im identitätsstiftenden Traditionsbestand der Landeskirche. Von der Öffentlichkeit anfangs kaum beachtet, änderte sich dieses Bild ab Ende der 1960er Jahre fundamental. Waren die Memorialliteratur und die frühen Kirchenkampfdarstellungen noch von den Beteiligten selbst geprägt, begannen Angehörige späterer Generationen im Kontext der gesellschaftspolitischen Debatten um „Vergangenheitsbewältigung“ und Schuldfrage in den 1960er Jahren eine ergebnisoffene wissenschaftliche Forschung26. 1971 machte Friedrich-Wilhelm Kantzenbach die vergeblichen Versuche Wilhelm von Pechmanns bekannt, Hans Meiser zu einem öffentlichen Protest gegen die Judenverfolgung zu bewegen27. 1977 urteilte er, dass es in der Landeskirche „nur wenige Einzelne waren, die für die entscheidenden Probleme einen klaren Blick hatten“28. Damit war zugleich gesagt, dass Hans Meiser nicht zu diesen „Einzelnen“ gehörte. 1976 analysierte Siegfried Münchenbach die antisemitischen Stereotype in Hans Meisers Artikel zur sogenannten Judenfrage von 192629. Björn Mensing wies 1991 die Verstrickungen der Landeskirche in den Nationalsozialismus nach30 und Michael Renner stellte kritisch Hans Meisers Verhalten nach 1945 dar31. Am Ende der Forschungen stand eine differenzierte, ambivalente Bewertung Hans Meisers, die auf Carsten Nicolaisen zurückging und im Wesentlichen bis heute Gültigkeit hat. 1996, als Hans Meiser in der Kirche längst umstritten war, benannte Nicolaisen die Defizite des Bischofs ebenso klar wie seine Verdienste und urteilte, dass sein Verhalten nach der neueren Widerstandsforschung nicht als politischer Widerstand gedeutet werden könne, sondern als „Resistenz“ im Sinne einer „Herrschaftsbegrenzung des Nationalsozialismus“. Dabei gestand er auch zu, dass Hans Meiser wie die gesamte Bekennende Kirche durch das „faktische Arrangement mit dem Nationalsozialismus“ dazu beigetragen habe, „das Hitler-Regime aufzuwerten und zu stabilisieren“32. In der kirchlichen Presse brachte Hannelore Braun diese ambivalente Bewertung unter der Überschrift „Widerstanden für die Kirche, geschwiegen zum Unrecht“ auf den Punkt33.
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Vgl. dazu und zum Folgenden Oelke, Erinnerungskultur, 219–223. Vgl. Kantzenbach, Widerstand. Kantzenbach, Der Einzelne, 107. Vgl. Menchenbach, Meiser, 134–149. Mensings Dissertation von 1991 wurde allerdings erst 1998 publiziert (vgl. Mensing, Pfarrer). Vgl. Renner, Nachkriegsprotestantismus. Nicolaisen, Bischof, 58. Braun, Widerstanden für die Kirche.
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4. Erinnerungskulturelle Konsequenzen 1998 drang der bisher nur in Wissenschaft und Kirche brodelnde Streit um Hans Meiser auch in die außerkirchliche Öffentlichkeit. Als die Landessynode die Mitschuld der Landeskirche an der Verfolgung und Vernichtung der Juden bekannte34, stellte die Presse den Zusammenhang zu Hans Meiser her, bezichtigte ihn „entsetzliche[r] antisemitische[r] Ausfälle“35 und warf die Frage auf, ob die Kirche den Namen Hans Meisers, der ihr „keine Ehre gemacht“ habe, „dessen Bild“ aber nichtsdestotrotz „das Zimmer des Bischofs an seinem Amtssitz in der nach Meiser benannten Straße in München“ schmücke, „heute noch wie ein Markenzeichen vor sich her tragen“ dürfe36. Daraufhin beantragte die Münchner Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen/Rosa Liste die Umbenennung der Meiserstraße, warf Hans Meiser pauschal Antisemitismus, Kriegsverherrlichung sowie mangelnde Einsicht in sein Fehlverhalten vor und schloss daraus, dass er nicht als Gegner des Nationalsozialismus betrachtet werden könne37. 1998/99 verhinderte die Kirchenleitung auf Grundlage der bisherigen wissenschaftlich-differenzierten Bewertung Hans Meisers die Umbenennung der Meiserstraße zwar noch38 ; als sie jedoch 2006 anlässlich des Meiser-Jubiläums ein Gedenkjahr plante, setzte ein Boulevardblatt mit dem diffamierenden Aufmacher „Skandal in Nürnberg – Kirche feiert Nazi-Bischof“39 eine moralisch und emotional hoch aufgeladene Debatte in Gang, in der Hans Meiser von Opferseite und einzelnen Theologen zum NS-Täter gestempelt wurde. So bezeichnete der Nürnberger Stadtrat und 1. Vorsitzende der Nürnberger Israelitischen Kultusgemeinde Arno S. Hamburger, der selbst noch unter der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der Ermordung naher Verwandter in den Vernichtungslagern gelitten hatte, Hans Meiser als „Mitverursacher millionenfachen Mordes“, der wie Julius Streicher „den Grundstein […] für den Genozid an den Juden gelegt habe40. Am 11. Mai 2006 äußerte der Neuendettelsauer Neutestamentler Wolfgang Stegemann in einem Schreiben an Landesbischof Johannes Friedrich, „mit dem Gedenken an Hans Meiser“ sei „ein Schandfleck auf der Geschichte un34 Vgl. die Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Thema Christen und Juden vom 24. 11. 1998, abgedruckt in: Kraus, Weg, 177–185. 35 Holzhaider, Herbstsynode. 36 Holzhaider, Meilenstein. 37 Vgl. dazu Oelke, Erinnerungskultur, 227 f. 38 Vgl. dazu die „Stellungnahme der Evang.-Luth. Kirche in Bayern zum Antrag auf Umbenennung der Meiserstraße“, übersandt mit Schreiben des Ständigen Vertreters des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Kreisdekan Dr. Martin Bogdahn an die Landeshauptstadt München – Kommunalreferat – Vermessungsamt Herrn Stadtdirektor Prof. Dürr vom 9. 2. 1999 (Privatarchiv Familie Meiser). 39 Abendzeitung Nürnberg Nr. 53/9 vom 4./5. 3. 2006. 40 Zit. nach Przybilla, Gemeinde, 39.
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serer Kirche verbunden.“41 Der Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm warf Hans Meiser vor, er habe „mit dem Gewicht seines Wortes und Amtes“ die „destruktivsten und verheerendsten Kräfte der deutschen Geschichte unterstützt“, insbesondere durch „seine Förderung des Antisemitismus, eines homogenisierenden und ausgrenzenden Volksgemeinschaftsideals, eines antidemokratischen, autoritären Führerstaats, eines geschichtstheologisch aufgeladenen Militarismus, der Verdrängung der Schuldfrage nach 1945 und eines Verhaltens, das prinzipiell die ehemaligen Anhänger des NS-Regimes begünstigte und dessen Gegner benachteiligte“. Hamm kam deshalb zu dem Schluss, dass Hans Meiser als „öffentlicher Sprecher und aktiver Mitgestalter dieser Verirrungen in Deutschland mit ihren furchtbaren Folgen“ zu beurteilen sei42. An der stark polarisierten Debatte beteiligten sich Presse, NS-Opfer, Politiker, Kirchenleitung, Wissenschaftler, Mitglieder der Familie Meiser und eine breite inner- und außerkirchliche Öffentlichkeit. Die redlichen Bemühungen der Kirchenleitung um ein differenziertes Gedenken, zu dem eine Ausstellung des Landeskirchlichen Archivs, eine Vortragsreihe, ein biographischer Sammelband43 und ein schließlich abgesagter Gedenkgottesdienst gehörten, gingen im Strudel der öffentlichen Erregung nahezu unter44. Von der Dynamik der Auseinandersetzungen überrollt, agierte die Kirchenleitung hilflos und unentschieden im Spannungsfeld von Meiser-Gegnern und -Befürwortern und wurde selbst überrascht, als die kircheneigene Hochschule in Neuendettelsau mit der Entnennung des dortigen Meiser-Hauses von sich aus ein richtungweisendes Signal setzte und diesen Schritt mit dem pauschalen Hinweis auf „Hans Meisers schwerwiegende, explizit nicht revidierte antisemitische Äußerungen von 1926“45 begründete. In mehreren Städten, vor allem in Nürnberg und München, kam es zu Anträgen der Grünen auf Umbenennung der Meiserstraßen46. Daraufhin forderten Politiker und Kirchenleitung Wissenschaftler dazu auf, kurzfristig 41 Zit. nach Stegemann, Schwierigkeiten, 129. 42 Offener Brief an Gotthard Jasper vom 24. 7. 2006: http://www.sonntagsblatt.de/download/mei ser_brief_hamm_24-07-06.pdf [zuletzt aufgerufen am 9. 5. 2016]. 43 Vgl. Herold / Nicolaisen, Meiser. 44 Zum Scheitern des Gedenkjahrs vgl. Greif, Schweigen. 45 Zitat aus der „Erklärung des Rektors der Augustana Hochschule zum Beschluss des Hochschulsenats vom 14. Juli 2006“ vom 17. 7. 2006: Erträge. Sommersemester 2006 in Neuendettelsau, 58 f. http://augustana.de/fileadmin/user_upload/dokumente/ertraege/ertraege_neu/ SS%202006.pdf [zuletzt aufgerufen am 9. 5. 2016]. 46 In Nürnberg beantragte die Stadtratsfraktion der Grünen schon am 10. 5. 2006, das Stadtarchiv zu beauftragen, „die Verdienste und das Versagen von Bischof Meiser abzuwägen und zu beantworten, ob es gerechtfertigt ist, dass Straßen und Plätze nach ihm benannt sind“ (Antrag: Privatarchiv Familie Meiser); wenige Tage nach dem Beschluss des Nürnberger Stadtrats über die Umbenennung der Bischof-Meiser-Straße vom 24. 1. 2007 beantragte auch die Münchner Stadtratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen/Rosa Liste die Umbenennung der Münchner Meiserstraße (Antrag vom 30. 1. 2007: ebd.).
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die historischen Grundlagen für die erforderlichen erinnerungskulturellen Entscheidungen zu liefern. So kündigte Landesbischof Johannes Friedrich schon im April das Gutachten eines „unabhängigen Historiker[s]“ über Hans Meiser an, das dann der Nürnberger Stadtrat in Auftrag gab47. Dieses Gutachten wurde im Juli 2006 von Gotthard Jasper erstellt48. Im Januar 2007 veranstalteten die Stadt Nürnberg und das Nürnberger Dekanat eine Fachtagung „Bischof Meiser aus der Sicht der heutigen Gedenkkultur“, auf der namhafte Wissenschaftler referierten49. Zugleich begannen sich die Gegner der Straßenumbenennungen zu formieren und Belege zu sammeln, die Hans Meiser entlasten und seine Erinnerungswürdigkeit wieder herstellen sollten. Dabei profilierten sich besonders der Enkel Hans Meisers, Hans Christian Meiser, der Pfarrer und Studienrat Armin-Rudi Kitzmann und der Erlanger Neutestamentler Lukas Bormann50. Insgesamt fiel das Ergebnis der Fachdebatten jedoch zwiespältig aus: Zwar wurden dabei einige neue Aspekte behandelt; ein wirklich neues Gesamtbild der historischen Person Hans Meisers aber, das wesentlich über die bereits vorliegenden Erkenntnisse hinausgegangen wäre und den erinnerungskulturellen Akteuren die erhoffte Eindeutigkeit verschafft hätte, konnte die Wissenschaft ebenso wenig liefern wie die Gegner und Befürworter der Straßenumbenennungen. Eine Kirchenzeitung brachte das erinnerungskulturelle Dilemma schon zu einem frühen Zeitpunkt der Debatten auf den Punkt: „Die Forschungsergebnisse liegen auf dem Tisch, es ist nur die Frage, wie man sie bewertet. Aber das kann der Gesellschaft auch ein weiterer Historiker, der sich mit Hans Meiser auseinandersetzt, nicht abnehmen.“51 Am Ende entschieden die Stadträte in Nürnberg und München auf Umbenennung der Straßen52. Die Umbenennung gerade in diesen beiden Städten war auch deren Vergangenheit als ehemalige „Stadt der Reichsparteitage“ und „Hauptstadt der Bewegung“ geschuldet. So forderte eine Nürnberger Stadträtin auf der Stadtratssitzung am 24. Januar 2007, „vor allen Dingen auch die Geschichte der Stadt Nürnberg als Stadt der Verkündung der Rassegesetze und der Reichsparteitage“ bei der Entscheidung über die Bischof-Meiser-Straße zu berücksichtigen53. In München wies im Vorfeld der Entscheidung des Stadtrates über die Meiserstraße z. B. die Stadtbibliothek auf die „besondere his47 Vgl. Przybilla, Gemeinde, 39. 48 Vgl. Jasper, Gutachten. 49 Abdruck der Vorträge: Stadt Nernberg / Ev.-Luth. Dekanat Nernberg, Umbenennung, 6–49. 50 Vgl. dazu z. B. Meiser, Bischof; Kitzmann, Landesbischof; und Bormann, Stürmer. 51 Greif, Ohne Zorn. 52 In Nürnberg fiel die Entscheidung auf Umbenennung mit großer Stadtratsmehrheit am 24. 1. 2007 (vgl. M. Maier-Albang, Weder gut noch böse), in München mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen/Rosa Liste, Die Linke.PDS auf der Sitzung am 18. 7. 2007 (Protokoll: Privatarchiv Familie Meiser). 53 Zit. nach Stadt Nernberg / Ev.-Luth. Dekanat Nernberg, Umbenennung, 97.
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torische Verantwortung“ hin, die sich aus der Vergangenheit Münchens „als einstiger ,Hauptstadt der Bewegung‘“ ergebe54. Auf der entscheidenden Sitzung des Stadtrates führte Oberbürgermeister Christian Ude dazu aus: „Wer sagt, dass die Stadt der Reichsparteitage aus historischen Gründen eine klare Grenze ziehen müsse, der kann das doch nicht im Ernst der Hauptstadt der Bewegung, was München leider gewesen ist, versagen.“55 Wesentlich für die Umbenennung der Straßen waren aber vor allem zwei Werte, die heute zu Recht unumstrittener gesellschaftlicher Konsens sind: Dass Antisemitismus in keiner Form geduldet und dass auf menschenverachtende Ideologien wie den Nationalsozialismus nur mit entschiedener Opposition reagiert werden kann. Die Werte aber, für die Hans Meiser in den 1950er Jahren geehrt wurde, der Einsatz für die Kirche, für Angehörige der eigenen Institution und des „eigenen Volkes“ sowie die Gründung einer Konfessionskirche sind heute gesellschaftlich und sogar in der Kirche selbst nur noch schwer vermittelbar. Zwischen den erinnerungskulturellen Entscheidungen von damals und heute besteht jedoch eine Parallele: In ihrer Eindeutigkeit werden beide der Komplexität des historischen Befundes nicht gerecht, weil sie wesentliche Aspekte der historischen Person ausblenden. Damit zeigt die Rezeptionsgeschichte Hans Meisers in seltener Deutlichkeit, dass Erinnerungskultur weniger über ihre historischen Gegenstände, dafür aber umso mehr über die Werte ihrer jeweiligen Zeit aussagt.
I. Unveröffentlichte Quellen Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München (EvAG) A 30 Sammlung von Hektographien und Flugblättern. Bayern Nr. 5: Kommissare 1934; Absetzung Meisers Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg (LAELKB) Bestand Landeskirchenrat (LKR) Nr. 180
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Baier, Helmut: Vom Flüchtling zum Neubürger. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. In: Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern. 54 Schreiben der Stadtbibliothek an das Kommunalreferat vom 11. 6. 2007: Privatarchiv Familie Meiser. 55 Protokoll der Stadtratssitzung vom 18. 7. 2007: Privatarchiv Familie Meiser.
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Bd. 2: 1800–2000. Hg. von Gerhard Müller, Horst Weigelt und Wolfgang Zorn. St. Ottilien 2000, 363–375. Bormann, Lukas: Der „Stürmer“ und das evangelische Nürnberg (1924–1927). Zur Entstehung von Hans Meisers Artikel aus dem Jahr 1926 „Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage“. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 78 (2009), 186–212. Braun, Hannelore: Widerstanden für die Kirche, geschwiegen zum Unrecht. In: Sonntagsblatt. Evangelische Wochenzeitung für Bayern. Nr. 16 vom 21. 4. 1996. Wiederabdruck in: Haberer, Johanna (Hg.): Er liebte seine Kirche. Bischof Hans Meiser und die bayerische Landeskirche im Nationalsozialismus. München 1996, 65–68. Greif, Thomas: Ratloses Schweigen. Mit dem ,Gedenkjahr‘ für Hans Meiser hat die evangelische Kirche in Nürnberg Schiffbruch erlitten. In: Sonntagsblatt Nr. 17 vom 23. 4. 2006. –: Ohne Zorn und Eifer. Die Diskussion um Hans Meiser und ihre seltsamen Blüten. In: Sonntagsblatt Nr. 17 vom 23. 4. 2006. Herold, Gerhart / Nicolaisen, Carsten (Hg.): Hans Meiser (1881–1956). Ein lutherischer Bischof im Wandel der politischen Systeme. München 2006, 22008. Holzhaider, Hans: Herbstsynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Auseinandersetzung mit einer unrühmlichen Vergangenheit. Auf Initiative des Nürnberger Dekans Johannes Friedrich wird über eine Erklärung zum Thema ,Christen und Juden‘ beraten. In: Süddeutsche Zeitung vom 21./22. 11. 1998. –: Ein Meilenstein für die Kirche. Spät, aber doch – die Erklärung „Christen und Juden“. In: Süddeutsche Zeitung vom 26. 11. 1998. Hopf, Friedrich Wilhelm: Rogate 1945. Predigt über Psalm 119, 96 am Sonntag Rogate, 6. Mai 1945 gehalten in der Evangelisch-Lutherischen Pfarrkirche zu Mühlhausen (Oberfranken). [Mühlhausen 1945]. Jasper, Gotthard: Gutachten zu Landesbischof D. Hans Meiser. In: Stadt Nürnberg / Ev.-Luth. Dekanat Nürnberg (Hg.): Die Umbenennung der Bischof-Meiser-Straße in Nürnberg – Eine Dokumentation. Redaktionelle Bearbeitung: Dr. Eckart Dietzfelbinger, Willi Stöhr, Knut Engelbrecht. Nürnberg 2009, 50–87. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Widerstand und Solidarität der Christen Deutschlands 1933–1945. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf aus den Papieren des D. Wilhelm Freiherrn von Pechmann (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 51). Neustadt an der Aisch 1971. Korrigierter Nachdruck Neustadt an der Aisch 2000. –: Der Einzelne und das Ganze. Pfarrerschaft und Kirchenleitung in Bayern in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 47 (1978), 107–202. Kitzmann, Armin Rudi: Unbekannter Landesbischof D. Hans Meiser. In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 78 (2009), 213–230. Kraus, Wolfgang (Hg.): Auf dem Weg zu einem Neuanfang. Dokumentation zur Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Thema Christen und Juden. München 1999.
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Schobel, Marie-Catherine: Die Benennung der Meiserstraße 1957 in München. Chronologie und Darstellung der Hintergründe der Straßenbenennung 1956–1957 und das öffentliche Bild von Altlandesbischof Hans Meiser zu dieser Zeit (masch. Seminararbeit zum Hauptseminar „Kirchen und Nationalsozialismus in München“ [1933–1945], Ludwig-Maximilians-Universität München, Evangelisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Kirchengeschichte II Prof. Dr. Harry Oelke). München 2008. Stadt Nernberg / Ev.-Luth. Dekanat Nernberg (Hg.): Die Umbenennung der Bischof-Meiser-Straße in Nürnberg – Eine Dokumentation. Redaktionelle Bearbeitung: Dr. Eckart Dietzfelbinger, Willi Stöhr, Knut Engelbrecht. Nürnberg 2009. Stegemann, Wolfgang: Schwierigkeiten mit der Erinnerungskultur. Gedenkjahr für Landesbischof Meiser gerät zur kritischen Auseinandersetzung. In: Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift 21 (2006), 120–144.
III. Internetquellen http://www.sonntagsblatt.de/download/meiser_brief_hamm_24-07-06.pdf [zuletzt aufgerufen am 9. 5. 2016]. http://augustana.de/fileadmin/user_upload/dokumente/ertraege/ertraege_neu/ SS%202006.pdf [zuletzt aufgerufen am 9. 5. 2016].
Ereignis der Erinnerung
Axel Töllner
Erinnern an die Barbarei Die Novemberpogrome im Gedenken der evangelischen Kirchen in Deutschland seit 1945
Am 8. November 2013 veröffentlichte die Pressestelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Erklärung des damaligen Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider zum 9. November. Sein Wort „anlässlich des Gedenkens an die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland vor 75 Jahren am 9./10. November 1938“1 fügt sich ein in eine Entwicklung des Gedenkens in den evangelischen Kirchen, das nach 1945 langsam begann und sich im Lauf der Zeit etablierte. In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bildete sich eine Grundstruktur aus drei Elementen heraus, die auch Schneiders Erklärung charakterisiert: Sie ruft erstens die historischen Ereignisse in Erinnerung, bekennt zweitens eine (Mit-)Schuld bzw. Scham und formuliert drittens einen aktualisierenden ethischen Appell an die heutigen Zeitgenossen. Diese Grundstruktur ermöglicht gleichwohl unterschiedliche inhaltliche Akzente. So setzen Schneiders Wort und die am 20. September 2013 verabschiedete Erklärung der Landessynode der Nordkirche „zum 75. Jahrestag des ,Novemberpogroms‘ 1938“ im zweiten Punkt verschiedene Schwerpunkte. Schneider hebt beim Gedenken der Evangelischen Kirche in Deutschland in „Trauer und Scham“ die schuldhafte Tatsache hervor, dass im November 1938 „nur wenige evangelische Christinnen und Christen den Mut hatten, ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu schützen und ihnen beizustehen“2. Die Synode der Nordkirche erklärt nicht nur ihre Scham über die Mitschuld durch Schweigen, Billigung und „eigene[r] rassistische[r] Rechtssetzung“3 in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie bekennt darüber hinaus angesichts der Tradition antijüdischer Bibelauslegung und Verkündigung zugleich eine kirchliche Mitschuld „an der jahrhundertelangen Geschichte der Feindseligkeit gegen Juden im Abendland“ und ihrer Kulmi-
1 „Hass und Extremismus widerstehen“. EKD gedenkt der Novemberpogrome vor 75 Jahren [8. 11. 2013]. In: http://www.ekd.de/presse/pm200_2013_novemberpogrome.html [zuletzt aufgerufen am 30. 3. 2015]. 2 Ebd. 3 Den Hinweis auf diese Erklärung verdanke ich Prof. Dr. Ursula Büttner, Hamburg. Sie stellte mir freundlicherweise auch den Text zur Verfügung. Vgl. jetzt auch: http://www.nordkirche.de/filead min/user_upload/nordkirche/Synode/Synode_201309_Stellungnahme_Reichspogromnacht.pdf [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015].
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nation in der nationalsozialistischen Verfolgung und „fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums“4. Nach wie vor sind diese Prozesse nicht abgeschlossen. So deutet der Verweis auf „die jüdische Bevölkerung“5 im Titel von Schneiders Erklärung einen Wandel in der Perspektive an: Standen anfänglich mit den Synagogen vor allem Objekte im Zentrum des Gedenkens, rücken mittlerweile zunehmend die Menschen in die Mitte des Gedenkens. Die folgenden Ausführungen zeichnen Trends und Entwicklungslinien beim evangelisch-kirchlichen Gedenken nach. Sie beschränken sich weitgehend auf Worte von kirchenleitenden Organen, die stets auf einem gewissen Konsens beruhten und eine gewisse autoritative Qualität hatten.
1. Aktuelle Brisanz ohne öffentliches Gedenken (1945–1948) Bekanntlich hatten die Verfolgungen und Gewaltexzesse gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1938 nicht zu öffentlichen Protesten vonseiten der Kirchenleitungen geführt. Meist folgte erschrecktes Schweigen. Es blieb einzelnen mutigen Predigern vorbehalten, von den Kanzeln die Ereignisse öffentlich zu kritisieren6. Bekannt geworden sind die Bußpredigten von Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem oder Julius von Jan im württembergischen Oberlenningen. Beide arbeiteten mit stark biblischen Bezügen den Kontrast zwischen den Pogromen und prophetischer Sozialkritik bzw. göttlichen Forderungen nach Nächstenliebe und Solidarität heraus. Von Jan bezahlte seine offenen Worte mit Misshandlungen, einer 16-monatigen Gefängnishaft und einem Landesverweis7. Weniger bekannt ist das Beispiel des bayerischen Pfarrers Johannes Zwanzger, der in seiner unterfränkischen Gemeinde Thüngen 1938 drei Mal mit Pogromen an der örtlichen jüdischen Bevölkerung konfrontiert war und diese jedes Mal von der Kanzel kritisierte8. Andererseits deutete etwa der deutsch-christliche Thüringer Landesbischof Martin Sasse die November4 Ebd. Die grundsätzlichere Perspektive der Synodalerklärung zeigt sich auch analog bei den Appellen. 5 „Hass und Extremismus widerstehen“. EKD gedenkt der Novemberpogrome vor 75 Jahren [8. 11. 2013]. URL: http://www.ekd.de/presse/pm200_2013_novemberpogrome.html [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015]. 6 Vgl. dazu Rçhm / Thierfelder, Juden III/1, 42–61. 7 Vgl. ausführlich dazu Rçhm / Thierfelder, Juden III/1, 62–92. Die beiden Bußtagspredigten sind online zugänglich über Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus [Online-Ausstellung]. URL: http://de.evangelischer-widerstand.de/#/menschen/ Gollwitzer/D7114 und http://de.evangelischer-widerstand.de/#/menschen/Jan/D5581 [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015]. 8 Vgl. dazu jetzt ausführlich Tçllner, Schande. Vgl. Zwanzger, Manuskript „Sechs Jahre in Thüngen 1933–1939“ (LAELKB Nürnberg, KKE 138); Zwanzger, Jahre, 2–5; und Tçllner, Frage, 352 f.
Die Novemberpogrome im Gedenken der evangelischen Kirchen seit 1945 215
pogrome triumphalistisch als unmittelbare Umsetzung der Ratschläge zur „scharfen Barmherzigkeit“ gegenüber Juden, die Martin Luther in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 propagiert hatte9. Die Ausschreitungen des November 1938 waren nach Kriegsende in der Öffentlichkeit gegenwärtig: In rund 2.500 Verfahren mussten sich Männer und Frauen wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung an den Novemberpogromen vor deutschen Gerichten verantworten10. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Beweisaufnahmen vor Gericht gestalteten sich dabei meist extrem schwierig. Zu tatsächlichen oder offenkundig vorgeschobenen Erinnerungslücken, Angst vor sozialer Deklassierung bei Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden bei Beschuldigten und Zeugen traten mitunter wenig konsequent durchgeführte Ermittlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft oder nachsichtige Gerichte, deren Angehörige teilweise auf eine Karriere im nationalsozialistischen Staat zurückblicken konnten11. Auch Enthüllungen von Denkmälern oder der auflodernde Antisemitismus der späten 1940er Jahre riefen die Ereignisse des November 1938 ins Gedächtnis12. Viele Zeitgenossen hatten eigene Erinnerungen an die Novemberpogrome, die sich im Unterschied zur fabrikmäßigen Vernichtung jüdischer Menschen im Osten vor aller Augen und daheim ereignet hatten. Trotz ihrer Präsenz hatten die Ereignisse des November 1938 ebenso wie die Schoah eine geringe Bedeutung im Gedenken der Nachkriegszeit13. Anfänglich gab es weder einheitliche Gedenktage noch zentral gesteuerte Anlässe – häufig regten Personen aus dem politischen Widerstand Gedenkakte an die „Opfer des Faschismus“ an. Juden und ihre Verfolgungserfahrungen spielten dabei kaum eine Rolle. Die Kirchen und ihre Vertreter wirkten bei den Gedenkveranstaltungen auf der lokalen und regionalen Ebene mit, traten aber nicht als Initiatoren des Gedenkens auf14. Dabei trafen Appelle zur Buße auf die weiterhin vorhandenen judenfeindlichen Einstellungen, wie ein Beispiel aus der Bremischen Evangelischen Kirche zum siebten Jahrestag der Novemberpogrome 1945 zeigt. So meinte der bremische Pfarrer und Bruderratsmitglied Friedrich Denkhaus, die Kirche habe der Judenheit das Heil in Jesus Christus anzubieten, nachdem der Kirchenausschuss einen Gedenkgottesdienst am 11. November und eine Kollekte zugunsten des Wiederaufbaus der Synagoge 9 Vgl. dazu Rçhm / Thierfelder, Juden III/1, 42 f.; Arnhold, „Entjudung“, 414. Zur LutherRezeption bei den Deutschen Christen jetzt Arnhold, Luther. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Raim, Ahnung, 146–151. Für Bayern, wo allein 1.854 Angeklagte in 262 Prozessen vor Gericht standen (Zahlen nach Raim, Ahndung, 150) vgl. Kraus / Hamm / Schwarz, Steine I, II; Kraus / Dittscheid / Schneider-Ludorff / Schwarz, Steine III/1. 11 Vgl. dazu Raim, Ahndung. 12 Vgl. Schmid, Erinnern, 89. 13 Vgl. Benz, Gedenken, 908. 14 Vgl. Schmid, Erinnern, 89–93. 1947 wurde erstmals in allen vier Besatzungszonen am 14. September der „Tag der Opfer des Faschismus“ begangen. Dieser setzte sich in der DDR am zweiten Sonntag im September als der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus schlechthin durch. Vgl. Schmid, Antifaschismus, 20 f.
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in Bremen empfohlen hatte. Für Denkhaus verunehrte die Hilfe zum Wiederaufbau der Synagoge Christus „durch Aufrichtung von Stätten, da man ihn bekämpft und leugnet“. Folglich sei „dem jüdischen Mitbürger nicht zur Seligkeit, sondern zur Verdammnis“ geholfen15. Die Stuttgarter Schulderklärung des Rates der EKD vom 18./19. Oktober 1945 enthält bekanntlich keine expliziten Verweise auf Novemberpogrome oder Schoah16. Dafür machten maßgebliche evangelische Kirchenführer 1945 den nationalsozialistischen Staat verantwortlich. Die Kirchen sahen sich zwar in einer Schuldgemeinschaft mit dem Volk, jedoch vorrangig als Opfer der NSPolitik und deren Folgen17. Die eigene Verstrickung in die Diskriminierung und Verfolgung der Judenheit trat kaum in den Blick18. Wenn auch weitgehend in der Latenz waren die Novemberpogrome in Gestalt der zerstörten Synagogen dennoch in der kirchlichen Schulddebatte präsent, wie folgendes Beispiel illustriert: Als Menetekel interpretierte 1946 der bayerische Landesbischof Hans Meiser die brennenden Synagogen, als er am 24. Juli im schwedischen Uppsala vor den Vertretern des nichtdeutschen Luthertums für die deutschen Lutheraner ein Schuldbekenntnis ablegte. Das geschah charakteristischerweise vor einer begrenzten Öffentlichkeit und nicht in Deutschland: „Wir nehmen alles als ein Gericht Gottes hin, weil unser Volk die Juden so schlecht behandelt hat. Als unsere eigenen Kirchen brannten und zerstört wurden, erin15 Vgl. dazu insgesamt Hermle, Kirche, 291–296, hier zitiert nach 293. 16 Vgl. dazu z. B. Vollnhals, Schatten, hier v. a. 394–398; Hermle, Kirche, 267–269. Zur Bedeutung der Stuttgarter Schulderklärung als erstes kirchliches Dokument, das trotz seiner Mängel erstmals die Verbrechen eines Kollektivs und die daraus resultierende Schuld benennt, vgl. Schellong, Eigentümlichkeiten, 103. 17 So etwa der württembergische Landesbischof Theophil Wurm im „Wort an die Christenheit im Ausland“, das mit dem „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ und dem „Wort an die Gemeinden“ veröffentlicht wurde: „Wir verurteilen […] insbesondere den Massenmord an den deutschen und polnischen Juden. Wir Christen in Deutschland haben sehr darunter gelitten, daß solche Dinge den deutschen Namen schändeten und die deutsche Ehre befleckten.“ (Zitiert nach Hermle, Kirche, 264 f., Hervorhebung dort) Der Rat der EKD beschäftigte sich am 22. März 1946 mit einem „Wort an die Gemeinden“ zur Judenvernichtung, das allerdings in der folgenden Sitzung nicht mehr beraten wurde (vgl. Hermle, Kirche, 270 f.). 18 Eine Ausnahme blieb die „Erklärung über die Gemeinschaft am Leibe Jesu Christi“ vom 9. April 1946. Veröffentlicht hatte sie die Kirchlich-Theologische Sozietät in Württemberg, die dem entschiedenen bzw. dahlemitischen Flügel der Bekennenden Kirche zuzurechnen ist. Eine Reihe von Mitgliedern hatte bereits unter nationalsozialistischer Herrschaft nicht nur kirchlichen Protest gefordert, sondern sich auch am Widerstand etwa der „Pfarrhauskette“ beteiligt und untergetauchte Jüdinnen und Jüdinnen versteckt. Vgl. dazu Rçhm / Thierfelder, Juden IV/1, 67–72, 182–21; daneben Rçhm / Thierfelder, Juden IV/2, 283–296. Die Kirchlich-Theologische Sozietät beschränkte die Selbstanklage nicht auf die kirchliche Passivität und das weitgehende Schweigen angesichts der Judenverfolgung, sondern bezog sich ausdrücklich auch auf die aktive kirchliche Mitwirkung, etwa durch die kirchliche Amtshilfe durch Ausstellung der „Ariernachweise“ (vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 530–535, hier: 531. Vgl. daneben Hermle, Kirche, 278–282).
Die Novemberpogrome im Gedenken der evangelischen Kirchen seit 1945 217 nerten wir uns daran, daß das deutsche Volk die jüdischen Synagogen einriß und mit Feuer verbrannte. […] Nun müssen wir zu einer tiefen Verwirklichung unserer Reue und dahin kommen, daß wir Gott um Vergebung bitten.“19
1948 jährten sich die Novemberpogrome zum zehnten Mal – im Schatten der auseinanderdriftenden politischen Blöcke und der Gründung des Staates Israel. Insbesondere jüdische Organisationen hatten den 9. November als jüdischen Gedenktag proklamiert und dabei bei einigen Zeitungen und Rundfunkanstalten in den Westzonen Gehör gefunden20. Für offizielle Kundgebungen aus den Reihen der EKD oder einzelner Landeskirchen war der zehnte Jahrestag kein Thema. Nicht in erkennbarem Zusammenhang mit dem Jahrestag standen verschiedene kirchliche Äußerungen des Jahres, die auch eine Mitschuld an der Schoah mehr oder weniger deutlich zur Sprache brachten21.
2. Vorsichtige Aufnahme in die Erinnerungskultur (1958–1963) Zwischen dem 20. und 25. Jahrestag vollzog sich in der Bundesrepublik ein geschichtskultureller Umbruch22. Die Massenverbrechen der Deutschen an den Juden drängten sich auf verschiedenen Ebenen und in neuer Intensität ins Bewusstsein: Die Kölner Synagoge wurde 1959 mit Hakenkreuzen beschmiert, weitere antisemitische Umtriebe folgten und provozierten Reaktionen; der Eichmann-Prozess 1961 und vor allem der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess zwischen 1963 und 1965 rückten die Judenvernichtung in die Öffentlichkeit23. In der evangelischen Kirche traten in den späten 1950er Jahren neue Gruppierungen und Organisationen als Akteure des Gedenkens an die Öffentlichkeit: 1958 wurde die „Aktion Versöhnungszeichen“ – später „Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste“ – gegründet24. Im Januar 1960 bekannte sich die „Evangelische Studentengemeinde“ angesichts der zurückliegenden antisemitischen Übergriffe zur Auseinandersetzung mit der „schuldhaften Ver19 LAELKB Nernberg, Nachlass Meiser, Hans 101/36–187. 20 Vgl. Schmid, Erinnern, 115, 128–133. 21 Vgl. z. B. die „Erklärung zur Schuld am jüdischen Volk“ der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens vom 17./18. 4. 1948 (Rendtorff / Henrix, Kirchen, 544 f.); „Wort zur Judenfrage“ des Bruderrats der EKD vom 8. April 1948 (ebd., Kirchen, 540–544; „Wort an die Gemeinde“ der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 1. Februar 1948 (epd Dokumentation 44/1978, 122–124). 22 Vgl. Schmid, Erinnern, 227. 23 Dazu gab es sogar ein „Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den NSVerbrecherprozessen“ sowie eine Handreichung für die Seelsorge an den Angeklagten und ihren Familien (epd Dokumentation 44/1978, 100–104). 24 Vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 550 f.
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gangenheit unseres Volkes“ und solidarisierte sich mit „unseren jüdischen Mitbürgern“25. Die neu gegründete Arbeitsgruppe „Juden und Christen“ inszenierte kurz vor dem Mauerbau im Juli 1961 beim letzten gesamtdeutschen Kirchentag in Berlin ihre Veranstaltungen vor einem symbolträchtigen Podiumshintergrund: Links oben sah das Publikum einen großen Davidstern, rechts unten das Jerusalemkreuz als Signet des Kirchentags. Hinter dem gitterförmigen Kreuz befand sich jedoch ein großes Foto der brennenden Synagoge BerlinFasanenstraße26. Die brennende Synagoge war nicht nur das Symbol für die Judenvernichtung, sondern sie bildete in der Verbindung mit dem Jerusalemkreuz ein Bekenntnis zur christlichen Mitschuld an der Schoah ab. Die Wahl des Bildmotivs folgte einem bald nach dem Kriegsende entstandenen Narrativ, das die nationalsozialistische Judenverfolgung auf die symbolträchtigen und einprägsamen Fotografien brennender Synagogen verkürzte27. In diese Phase des Umbruchs fiel der 25. Jahrestag der Novemberpogrome. Stellvertretend für den zwölfköpfigen Rat der EKD verlas der Berliner Präses Kurt Scharf als Ratsvorsitzender am 9. November 1963 einen „Aufruf an alle evangelischen Christen in Deutschland und den benachbarten Ländern“28. Dieses erste offizielle Wort eines Organs der evangelischen Kirchen zu den Novemberpogromen wurde an geschichtsträchtigem Ort – dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau – vorgetragen29. Die in dem „Aufruf“ vergegenwärtigten historischen Ereignisse vom November 1938 wurden nur im Passiv geschildert und blieben auf diese Weise gleichsam täterlos. Die brennenden Synagogen galten als „Signal zur Vernichtung unserer jüdischen Mitmenschen“, d. h. als Auftakt für die Schoah30. Jedoch hatte der „Aufruf“ die Juden nicht als besondere Opfergruppe im Blick, sondern reihte sie unterschiedslos in andere Gruppen ein, gegen die „Haß
25 Zitiert nach Goldschmidt / Kraus, Bund, 260 f. Zur Welle antisemitischer Übergriffe vgl. z. B. Michael Brenner : 1959: Hakenkreuze an der Kölner Synagoge. URL: http://www.juedische-all gemeine.de/article/view/id/15018 [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015]. Die Provinzialsynode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg rief am 26. Februar in Berlin-Spandau angesichts der neuerlichen Welle antisemitischer Übergriffe mahnend den Wortlaut der Erklärung der EKD-Synode von Berlin Weißensee aus dem Jahr 1950 in Erinnerung und forderte eine Ursachenforschung für die tiefliegende Judenfeindschaft sowie Solidarität mit den angegriffenen „jüdischen Mitmenschen“ ein (Goldschmidt / Kraus, Bund, 261 f.; teilweise abgedruckt bei Rendtorff / Henrix, Kirchen, 551 f.). 26 Vgl. Kammerer, Haare, 22. 27 Vgl. Schmid, Synagogen, 898 f. 28 epd Dokumentation 44/1978, 99; Rendtorff / Henrix, Kirchen, 554 f. 29 Die Verlesung des „Aufrufs“ war eingebettet in einen Gottesdienst, in dem der Bielefelder Präses Ernst Wilm die Predigt hielt. Wilm war Mitglied des Rats der EKD und Häftling im KZ Dachau gewesen. Vgl. Schmid, Erinnern, 241 f. 30 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 554 f.
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gesät worden“ sei und „die einer anderen Partei, Rasse oder Nation angehörten.“31 Die historische Erinnerung mündete in die Bitte an Gott um Vergebung und Versöhnung. Das Ziel der Buße und Umkehr fand seinen sinnfälligen Ausdruck in der Ankündigung, eine evangelische „Sühne-Christi-Kirche“ auf dem ehemaligen KZ-Gelände in Dachau zu bauen, die am 30. April 1967 als Versöhnungskirche eingeweiht wurde32. Noch kein Bestandteil des Gedenkens waren die Massendeportationen von Juden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen bei den Novemberpogromen, obwohl sich aus heutiger Sicht diese historischen Orte für ein solches Gedenken nahegelegt hätten. Das Schuldbekenntnis war zwar allgemein und vage, gleichwohl schlug sich in diesem „Aufruf“ der erinnerungskulturelle Wandel um 1960 nieder. Das signalisiert allein schon die Tatsache, dass der Rat der EKD diesen Tag ausgewählt hatte, um in Dachau öffentlich der Opfer der NS-Herrschaft zu gedenken33. In der DDR war die nationalsozialistische Gewalt vor allem in Gestalt des „antifaschistischen Martyriums“ präsent. Neben dem „Tag der Opfer des Faschismus“ am zweiten Sonntag im September etablierten sich hier in den 1960er Jahren noch weitere Gedenktage34. Im offiziellen, staatlich gelenkten Gedenken spielte der 9. November jedoch eine untergeordnete Rolle und war nur punktuell präsent35. Evangelische Kirchengemeinden traten als Akteure des Gedenkens zunächst bei einzelnen lokalen Veranstaltungen auf. Zum 25. Jahrestag der Novemberpogrome 1963 hatte die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen zu Gedenkstunden und zur Buße aufgerufen. Teilweise wurde bei diesen Gelegenheiten auch der „Aufruf“ des Rates der EKD verlesen36.
31 Explizit nennt sie noch „Christen“, „Widerstandskämpfer“, „politische Gegner“ der Nationalsozialisten innerhalb und außerhalb Deutschlands sowie „Fremdarbeiter“ und „Kranke[.]“ (Rendtorff / Henrix, Kirchen, 554). 32 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 555. Zu Bauprogramm und Bedeutung der Dachauer Versöhnungskirche sowie der dortigen kirchlichen Arbeit vgl. Striffler, Versöhnungskirche; Mensing, Bedeutung. Zur erinnerungskulturellen Konkurrenz mit der römisch-katholischen Kirche, die bereits seit 1960 über eine Kapelle auf dem ehemaligen KZ-Gelände verfügte und 1963 den Grundstein für eine Kirche und Kloster gelegt hatte vgl. Schmid, Erinnern, 241. 33 Das signalisiert auch die Pointe, dass der Rat der EKD vor der Klage über die eigene Not das Reden über die eigene Schuld forderte, damit die historischen Kausalitäten klarstellte und sich zugleich einer Aufrechnung von Schuld und Unrecht widersetzte (vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 554 f.). 34 Schmid, Antifaschismus, 49. 35 Vgl. ebd., 49, 58 f. 36 Vgl. ebd., 61, 67.
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3. Auf dem Weg zu einem Datum der Erinnerungskultur (40. Jahrestag 1978) Die in der Nachkriegszeit sozialisierte Generation bestimmte in den 1960er und 1970er Jahren mit ihren Fragen zunehmend die gesellschaftlichen, politischen und auch kirchlichen Erinnerungsdiskurse37. Unter dem Schlagwort „Gerechtigkeit“ rückte in den 1970er Jahren die Frage nach dem ethisch gebotenen Verhalten ins Zentrum. Sie verdrängte die rein rückwärtsgewandte Erinnerungsperspektive zugunsten der Frage, welche Relevanz das Vergangene für das aktuelle Handeln habe38. Das Thema „Christen und Juden“ stand auf der Tagesordnung, das hatten nicht nur die Kirchentage der 1960er Jahre deutlich gemacht. Die Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahr 1965 hatte im Punkt 4 eine epochale Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden vorgenommen, die auch jenseits der römisch-katholischen Kirche Impulse für die Beschäftigung mit dieser Frage gab39. Mit der EKD-Studie „Juden und Christen“ legte die 1967 gegründete EKD Studienkommission „Kirche und Judentum“ 1975 den Grundstein zu einer erneuerten Bestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses im Bereich der EKD vor. Sie bildete die Grundlage für eine Reihe kirchlich-theologischer Veränderungsprozesse40. Vor diesem Hintergrund vollzog sich das Gedenken des Jahres 1978. Bei den eingeführten Formen wie Kranzniederlegung, Gottesdienst oder Gedenkrede standen einzelne Akteure einem rezipierenden Publikum gegenüber. Nun etablierten sich mit Schweigemärschen, Verabschiedung von Resolutionen oder Appellen, Ausstellungen und pädagogischen Angeboten Formen, die auf die Aktivierung und Beteiligung vieler abzielten41. 37 Zu den Prozessen der Transformation des Gedenkens vgl. Gailus, Protestantismus, 24 f.; Oelke, Erinnerungskultur, 221–223; und Reichel / Schmid / Steinbach, Nationalsozialismus [Einführung], 18 f. In den Debatten um Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft, die 1973 in die Leuenberger Konkordie mündeten, zeigten sich Bereitschaft zur Öffnung und Abschiede von alten Frontstellungen. Vgl. dazu Hauschild, Kirche, 55 f. Zum Wandel im politischen Denken in den Evangelischen Kirchen zwischen 1965 und 1985 vgl. Huber, Protestantismus, v. a. 389–396. Die vor allem durch die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition nötige Suche nach neuen Legitimationstraditionen für die Bundesrepublik polarisierte und politisierte die Gesellschaft. Vgl. dazu Wolfrum, Geschichtspolitik, 258–296. 38 Vgl. Oelke, Erinnerungskultur, 223. 39 Vgl. Kirchenamt, Juden und Christen II, 57. 40 Vgl. auch Kirchenamt, Christen und Juden, 12. Eine Vertiefung erfuhr die Studie I in dem 1979 erstmals erschienenen „Arbeitsbuch Christen und Juden“, das bis 1989 insgesamt fünf Auflagen erlebt hat. Mit Helmut Gollwitzer, Martin Stöhr und anderen gehörten der „Studienkommission“ zentrale evangelische Akteure der Kirchentags-AG „Juden und Christen“ an. Vgl. Kirchenamt, Juden und Christen I, 52; Biermann-Rau, Geburtstag, 259. 41 Vgl. dazu insgesamt Schmid, Erinnern, 325–336, hier v. a. 331–336.
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Die Wendung des öffentlichen Gedenkens hin zum Performativen katapultierte den 9. November geradezu ins Zentrum der Gedenkkultur der Bundesrepublik Deutschland und machte ihn „zum wichtigsten Opfergedenktag der Bundesrepublik“ und sogar „zum informellen Völkermord-Gedenktag“42, bei dem verschiedene Kirchenleitungen in Ost und West mit Erklärungen als Akteure des Gedenkens auftraten. Im Umfeld des 40. Jahrestages der Novemberpogrome ist auch erstmals eine Konjunktur an öffentlichen Erklärungen von Kirchen, Verbänden, Parteien und Repräsentanten des Staates zu beobachten, die seitdem – zumindest in den „runden“ Jahren – selbstverständlich geworden sind. 1978 wurde der 9. November auch Gegenstand eines eigenen, sorgfältig vorbereiteten offiziellen kirchlichen Gedenkens, bei dem43. Während im Westen Assistenzreferent Holger Maiwald aus der Kirchenkanzlei der EKD eine umfangreiche Ausarbeitung für den Rat vornahm, hatte sich im Osten ein „Arbeitskreis Kristallnacht“ gebildet, der zwei Arbeitshilfen veröffentlichte, die sich direkt an die Gemeinden wandten44. Die Sammlungen bieten jeweils einen umfangreichen historischen und dokumentarischen Teil, der ein großes Informationsbedürfnis anzeigt. Daneben stechen die sehr detaillierten und konkreten Gestaltungsvorschläge zum Gedenken in der Arbeitshilfe des ostdeutschen „Arbeitskreis Kristallnacht“ heraus. Aus den West-Kirchen wären mit den ostdeutschen Arbeitshilfen allenfalls die kurz gefassten Anregungen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg zu vergleichen45. Der badische Oberkirchenrat reichte diese an seine Pfarrerinnen und Pfarrer weiter. Eine Besonderheit war, dass er sie mit einem Verzeichnis der Synagogen im Bereich der Landeskirche und einem Grußwort des Oberrats der Israelitischen Gemeinden in Württemberg und Baden ergänzt hatte. Sein Verfasser war Landesrabbiner Dr. Peter Nathan Levinson, einer der jüdischen Protagonisten in der Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und im christlich-jüdischen Gespräch in Deutschland überhaupt46. Charakteristisch für die westdeutschen Kirchen ist das „Wort zum 40. Jahrestag des Judenpogroms am 9./10. November 1938“, das der Rat der EKD 42 Schmid, Deutungsmacht, 187–189. 43 Die Art und Weise dieses kirchlichen Gedenkens spiegelt Gesamttrends im westdeutschen Gedenken rund um den 40. Jahrestag: Am 40. Jahrestag begannen die großen, zentralen Gedenkveranstaltungen, die bis heute die mediale Aufmerksamkeit bestimmen. Daneben differenzierten sich 1978 die Formen des Gedenkens aus und zu den Gedenkakten traten oft selbstkritische Appelle. Etliche Publikationen erschienen, die neben den historischen Informationen auch das Gedenken selbst zum Thema machten. Vgl. Schmid, 328–336; ders., Deutungsmacht, 195–199; und ders., Synagogen, 901–904. 44 epd Dokumentation 44/1978 und 45–46/1978. 45 Vgl. epd Dokumentation 44/1978, 108–111: Das Schreiben des Oberkirchenrats ist auf den 20. Juli 1978 datiert. 46 Vgl. epd Dokumentation 44/1978, 115. Eine Passage daraus nahm auch der Rat der EKD in sein offizielles Wort zum 40. Jahrestag auf.
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am 23. Oktober 1978 veröffentlichte47. Aus dem Bereich der ostdeutschen Kirchenleitungen existieren zwei Erklärungen, die dem Wort des Rats der EKD zeitlich vorangingen und von ihm auch rezipiert wurden: Das „Wort an die Gemeinden zur 40. Wiederkehr der ,Kristallnacht‘ (9. November 1938)“ aus der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen vom 1. September 1978 und das „Wort an die Gemeinden anläßlich des 40. Jahrestages der sogenannten Kristallnacht“ der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR vom 24. September48. Beide Kundgebungen sind weitgehend identisch. Alle drei Erklärungen knüpften an die erinnerungskulturelle Engführung der Übergriffe auf die Synagogen und Geschäfte ohne Täterinnen und Täter an. Weiterhin rückten sie die Novemberpogrome in einen teleologischen Zusammenhang mit der Vernichtung der europäischen Judenheit bzw. sahen in den Ausschreitungen Signalwirkung für die kommenden Vernichtungsabsichten. Die Verantwortung für die Schoah schrieb das EKD-Wort in den traditionellen Bahnen des Erinnerns „Hitler und seine[n] Gefolgsleute[n]“ zu49. Alle drei Erklärungen sahen die Schuld von Bevölkerung und Kirchen darin, tatenlos zugesehen zu haben – „teils in bedrücktem Schweigen, teils in erschreckender Gleichgültigkeit, mitunter sogar in offener Billigung.“50 Als Bekenntnis zur Mitschuld an der Schoah deutete das EKD-Wort die Selbstanklage aus der Stuttgarter Schulderklärung, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt“ zu haben51. Aber auch neue Elemente in der historischen Erinnerung traten hinzu: Während die EKD die massenhaften Inhaftierungen nach den Ausschreitungen ins Gedächtnis rief, betonten die ostdeutschen Erklärungen die systematische Beraubung der jüdischen Bevölkerung nach den Ausschreitungen52. Aktuelle Konflikte spiegelten sich in den Erklärungen der ostdeutschen 47 Vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 591 f. Das Wort des Rats dokumentiert, was in den Kirchenleitungen der verschiedenen Mitgliedskirchen zu diesem Zeitpunkt konsensfähig gewesen ist. Es hatte auch die größte öffentliche Reichweite. 48 Dem „Wort“ vom 24. 9. 1978 war noch ein „Vorschlag für eine Einfügung in das Allgemeine Kirchengebet“ beigefügt (epd Dokumentation 44/1987, 133–136; Rendtorff / Henrix, Kirchen, 587–590). 49 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 591. 50 Ebd. Im „Wort“ aus der Kirchenprovinz Sachsen lautet das Zitat: „Die Vorgänge am 9. November 1938 stießen damals in weitesten Kreisen auf bedrückendes Schweigen, erschreckende Interessenlosigkeit oder offene Billigung.“ (epd Dokumentation 44/1987, 133; Rendtorff / Henrix, Kirchen, 587) Das „Wort“ der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen der DDR hatte formuliert: „Die Vorgänge am 9. November 1938 stießen damals in weitesten Kreisen auf bedrückendes Schweigen, erschreckende Gleichgültigkeit oder offene Billigung.“ (epd Dokumentation 44/1987, 135; Rendtorff / Henrix, Kirchen, 589). 51 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 591. 52 Vgl. ebd., 587, 589, 591.
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Kirchen wesentlich deutlicher wider als im EKD-Wort53 : Die evangelischen Kirchen in der DDR begaben sich mit ihren Erklärungen zum 40. Jahrestag in eine Konfrontation mit der offiziellen Geschichtspolitik des Staates, wenn sie ausdrücklich vor der Illusion warnten, die Schuld erledige sich „dadurch, daß wir sie verdrängen, verschweigen oder unsere Mitverantwortung bestreiten“54. Die DDR inszenierte sich als postfaschistischer Staat, der von der These lebte, den Antisemitismus und Rassismus „an der Wurzel ausgerottet“ zu haben, während in der kapitalistischen Bundesrepublik weiterhin „Rassismus und Neofaschismus“ herrschten55. Auch die in den Erklärungen enthaltene Solidarisierung mit dem Staat Israel56 widersprach der DDR-Politik. Die ostdeutschen Kirchen knüpften damit an ihre scharfe Kritik aus dem Jahr 1975 an, als die DDR-Staatsführung am 10. November den Beschluss der UN-Vollversammlung unterzeichnet hatte, der Zionismus mit Rassismus gleichsetzte57. Angesichts dieser abweichenden Positionen ist zu fragen, ob die Kritik am Konformismus unter dem NS-Regime auch als versteckte Warnung vor zu viel Anpassung in der Gegenwart interpretiert werden sollte: „Viele Christen verhielten sich so, wie es von den Machthabern erwartet wurde. Die Kirchen brachten nicht den Mut zum deutlichen Protest auf.“58 Neu war in allen drei Erklärungen das Bemühen, das Gedenken durch Appelle zu geschichtsbewusstem, verantwortlichem Verhalten auf die Gegenwart zu beziehen. Das vergleichsweise zurückhaltende Wort des Rates der EKD spiegelte einen Kompromiss wider. Offenbar nicht mehrheitsfähig unter den Ratsmitgliedern waren konkretere Formulierungen, die Maiwald gefordert hatte und die auch einzelne Landeskirchen bereits gefunden hatten: So hatte beispielsweise die Synode der EKU in ihrer Erklärung vom 14.–16. April 1978 neben dem Schweigen auch die Mitwirkung von Christen an den Novemberpogromen sowie den Zusammenhang mit der christlichen Judenfeindschaft benannt59.
53 In der westdeutschen Erklärung ließe sich allenfalls die allgemeine Absage an Judenfeindschaft sowie Vorurteile und Abneigungen gegenüber Fremden mit dem Appell zur Wachsamkeit gegenüber Intoleranz als Reaktion auf die wachsenden neonazistischen Umtriebe der späten 1970er Jahre interpretieren. 54 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 587, 589. 55 Schmid, Antifaschismus, 84–87, v. a. 86. 56 Vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 588, 589 f. 57 Vgl. dazu Schmid, Antifaschismus, 95. Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR: Erklärung der leitenden Geistlichen zur Zionismus-Resolution der Vereinten Nationen vom 27. 11. 1975 (Rendtorff / Henrix, Kirchen, 580). 58 Rendtorff / Henrix, Kirchen, 587, 589. 59 Vgl. epd Dokumentation 44/1978, 105.
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4. Die Etablierung des Gedenktags „9. November“ (1980–1988) In der bundesdeutschen Gesellschaft erhielt die nationalsozialistische Judenvernichtung ein immer stärkeres Gewicht in der öffentlichen Debatte, nicht zuletzt gefördert durch das unerwartet hohe Publikumsinteresse an der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, die im Januar 1979 erstmals in Deutschland ausgestrahlt wurde60. Parallel dazu hatte die Erinnerung angesichts zahlreicher Gedenkanlässe der frühen 1980er Jahre eine regelrechte Hochkonjunktur61. Mit wachsender historischer Distanz lösten nun auch die Formen des Gedenkens und die Geschichtsschreibung selbst Diskussionen aus. Beispielhaft sind dabei die Debatten um Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985, um das am 5. Mai 1985 vollzogene gemeinsame Gedenken von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS-Angehörige beerdigt waren, oder der „Historikerstreit“ 1986/ 8762. Das Erregungspotenzial aller Debatten der 1980er Jahre kulminierte in der Diskussion um die rhetorisch missglückte Gedenkrede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger am 9. November 1988 und seinen Rücktritt tags darauf63. Beginnend mit der evangelischen Kirche im Rheinland im Jahr 1980 verabschiedeten etliche Landeskirchen, kirchliche Zusammenschlüsse und Vereinigungen in den 1980er Jahren Erklärungen, in denen sie ein neues Verständnis zum christlich-jüdischen Verhältnis dokumentierten64. In ihnen ist die Schoah als Umkehrruf an die Kirchen präsent; die Novemberpogrome spielen zunächst nur eine marginale Rolle65. Der 45. Jahrestag der Novemberpogrome stand im Schatten des 500. Geburtstags Martin Luthers, der 1983 das Gedenken in den evangelischen Kirchen dominierte. Der bekannte Ratschlag des Wittenbergers, die Synagogen anzuzünden, hätte eine konkrete Verbindung beider Gedenkanlässe schaffen können. Zwar hatte der Lutherische Weltbund 1982 den Anspruch formuliert, im folgenden Jahr Luthers Judenfeindschaft zu thematisieren66. Im offiziellen 60 Vgl. dazu z. B. Wolfrum, Demokratie, 398. Zur tatsächlichen und konkreten Integration der den Novemberpogromen folgenden Judenvernichtung in das Gedenken seit den 1970er Jahren vgl. Schmid, Deutungsmacht, 188. 61 Vgl. Wolfrum, Demokratie, 396 f. Auf regionaler und lokaler Ebene begannen sich in den 1980er Jahren Arbeitskreise zu bilden, die wie auch einige Lokal- und Regionalhistoriker die jüdische Geschichte vor Ort in den Blick nahmen. Auch knüpften engagierte Heimatforscherinnen und Heimatforscher sowie einige Kommunen Kontakte mit emigrierten Überlebenden oder deren Nachfahren. 62 Vgl. dazu z. B. Steinbach, Kontroversen, 162–171. 63 Vgl. dazu Schmid, Erinnern, 429–448; Benz, Gedenken; und Steinweis, Kristallnacht, 164 f. 64 Vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 596–621; Henrix / Kraus, Kirchen II, 550–562. 65 Vgl. Rendtorff / Henrix, Kirchen, 593–596. 66 „Die Bedeutung des Judentums für Leben und Mission der Kirche“, August 1982 (Rendtorff / Henrix, Kirchen, 427). Vgl. dazu jetzt Kraus, Luther, 293.
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Programm und in den Verlautbarungen zum Lutherjahr spielte das Thema jedoch keine Rolle. Ein besonderes Signal zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome im Jahr 1988 war, dass die EKD und der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) am 26. Mai ein gemeinsames „Wort zum 50. Jahrestag des Pogroms im November 1938“67 verabschiedeten, das in gewisser Weise das Gedenken der vergangenen 25 Jahre und die theologischen Aufbrüche im christlich-jüdischen Dialog bündelte. Verschiedene Landeskirchen griffen seine Impulse auf, und es fand breite Aufnahme in der Öffentlichkeit68. Die zahlreichen kirchlichen Erklärungen des Jahres 1988 nahmen deutlicher als zuvor die aktive Rolle von Kirche und Theologie durch die Jahrhunderte lange Förderung und Tradierung antijüdischer Ressentiments in den Blick. Die Schuldbekenntnisse erschöpften sich daher nicht mehr im Hinweis auf das Schweigen und die Passivität der allermeisten Christen und Kirchenleute. Exemplarisch dafür ist, wie das gemeinsame Wort von EKD und BEK explizit auf den Beitrag von „Theologie und Kirche an der langen Geschichte der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden“ verwies und eine Revision des kirchlichen Denkens, Redens und Handelns forderte, die „nie wieder“ Judenfeindschaft fördern oder Juden verletzen dürften69. Gerade dieser Appell macht deutlich, wie angesichts der wachsenden historischen Distanz zunehmend die Relevanz des Gedenkens und der unmittelbare Gegenwartsbezug der Vergangenheit selbst begründet werden mussten. In diese Tendenz fügt sich der Befund ein, dass die württembergische und die sächsische Landeskirche den 50. Jahrestag zum Anlass für grundsätzliche Erklärungen zum christlichjüdischen Verhältnis70 nahmen. Die Tendenz zur Pädagogisierung und Ethisierung des Gedenkens setzte sich ebenfalls fort, wie etwa die Forderung der Landessynode der evangelischen Kirche im Rheinland vom 15. Januar 1988 beispielhaft zeigt. Danach 67 Vgl. Henrix / Kraus, Kirchen II, 562–564. 68 Vgl. ebd., 562–564, hier: 562. Vgl. dazu auch Schmid, Erinnern, 413. Auf die lange Vorbereitungszeit des Gedenkens in der DDR verweist Schmid, Antifaschismus, 111. 69 Henrix / Kraus, Kirchen II, 563 f. Die Notwendigkeit zur Aktualisierung des Gedenkens schlug sich insofern nieder, als der Gedenkanlass als Anstoß diente, theologische Selbstprüfungen und Revisionen antijüdischer Denkmuster zu fordern. Anders als 1983 kam auch Luthers Judenfeindschaft zur Sprache, und sein Rat von 1543, „daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke“, wurde explizit mit den Synagogenbränden von 1938 in Beziehung gesetzt (Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland am 15. 1. 1988, Henrix / Kraus, Kirchen 2, 558 f.). Die Kirchenleitung der VELKD hatte in ihrer „Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden“ am 3. Juni 1983 die Novemberpogrome unerwähnt gelassen, aber ebenfalls den fehlenden „eindeutigen Widerstand“ gegen die Judenverfolgung mit historischen Formen der Judenfeindschaft in Beziehung gesetzt (Rendtorff / Henrix, Kirchen, 607–609). 70 Oberkirchenrat und Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens nahmen zu diesem Datum erstmals eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung vor. Und 1998 am 60. Jahrestag folgte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern diesem Beispiel (vgl. ebd., 571–579, 805–812).
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sollten zukünftig alle kirchlichen Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome die Absicht der Landeskirchen zur Umkehr und Erneuerung dokumentieren, die Absage an den Antisemitismus formulieren und den Willen deutlich machen, sich für die Versöhnung von Christen und Juden zu engagieren71. Weiterhin fungierte 1988 die Erinnerung an die Novemberpogrome als Platzhalter für die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Judenheit insgesamt. Noch nicht Bestandteil des Gedenkens waren 1988 genauere Kenntnisse über die systematische Vernichtung der Juden hinter der Ostfront oder die massenhafte Beteiligung der nichtjüdischen Bevölkerung an den Novemberpogromen72. Das gemeinsame Wort von EKD und BEK tradierte die Narrative der Nachkriegszeit ebenso wie die seit den 1970er Jahren geführten Debatten. Danach waren nur wenige Nazis für die Judenvernichtung verantwortlich, wobei man einräumte, dass die eingeschüchterte Bevölkerungsmehrheit sich durch Unterlassung und Passivität mitschuldig gemacht habe. Zugleich grenzte sich das gemeinsame Wort gegen eine verharmlosende Deutung der Pogrome als „Reichskristallnacht“ ab und betonte, „der Tag der Zerstörung der Synagogen“ sei tatsächlich „ein weiterer Schritt auf dem Unheilsweg […] zum millionenfachen Morden in Auschwitz und an anderen Orten der Vernichtung“ gewesen73. Wiederum klang in der Deutung der „brennenden Synagogen“ als „ein Fanal“ für die wenig später brennenden „deutsche[n] Städte mit ihren Kirchen“74 ein Narrativ der Nachkriegszeit an, das die Vernichtung der europäischen Judenheit in eine Analogie zum Leid der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung im Bombenkrieg setzte.Andererseits weitete sich der Kanon der vergegenwärtigten Verbrechen langsam aus, neben zerstörten Gebäuden rückten zunehmend auch die Menschen und ihre Schicksale ins Gedächtnis. Das gemeinsame Wort von EKD und BEK oszillierte wie eine Kompromissformel zwischen unterschiedlichen Absichten: Erkennbar ist sowohl das Drängen auf eine Abkehr von judenfeindlichen Traditionen als auch die Sorgen vor konkreteren und umfassenderen Schuldaussagen.
71 Vgl. ebd., 557. 72 Vgl. Gross, November, 116. Zwar ging an vielen Orten die Initiative von SA, SS oder HJ aus, doch wiesen bereits die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften unmittelbar nach 1945 auf eine breite Mitwirkung und eine große Bandbreite an Beteiligungsformen der ganz normalen Bevölkerung hin. Neuere Forschungen bestätigen dieses Bild. Vgl. dazu z. B. Steinweis, Kristallnacht; Gross, November. 73 Henrix / Kraus, Kirchen II, 563. Ähnlich hatte sich der damalige bayerische Landesbischof Hans Meiser gegenüber der Lutherischen Ökumene im Jahr 1946 in Uppsala geäußert (s. o.). 74 Ebd., 563.
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5. Der 9. November als kirchlicher Gedenktag der Novemberpogrome (seit 1989) Nach 1989 rückte das Gedenken der Novemberpogrome zunächst in den Hintergrund. Der Fall der Mauer fügte dem ohnehin schon mehrfach mit historischer Bedeutung aufgeladenen 9. November eine weitere Dimension hinzu75. In den letzten rund 25 Jahren differenzierte sich das Gedenken weiter aus76 ; immer mehr Kirchengemeinden beteiligten sich beim Gedenken, und auch die Fülle von Handreichungen – für Gottesdienst und Unterricht – vor allem zu „runden“ Gedenktagen nahm zu. Zur Ausdifferenzierung des Gedenkens zählt auch die Ausweitung von Gedenktagen, seit Bundespräsident Roman Herzog im Jahr 1995 den staatlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eingeführt hat. Die Veränderungen seit 1989 zeichneten sich auch in den EKD-Studien „Juden und Christen“ II und III ab, die 1991 bzw. 2000 erschienen. Die Studie I von 1975 hatte die notwendige Erinnerung an die „Verbrechen im Namen des deutschen Volkes an den Juden“ und das weitgehende Schweigen der christlichen Kirchen dazu unter anderem noch mit dem Verhalten bei den Novemberpogromen illustriert77. In der Studie III aus dem Jahr 2000 fungierte der 9. November dagegen nicht mehr als Begründung, sondern als Anlass des Gedenkens: Hätte bis 1945 im kirchlichen Gedenken die Monumentalisierung bestimmter kriegerischer Ereignisse und heldischer Gestalten dominiert, habe sich seitdem „[e]ine neue Kultur des Gedenkens“ durchgesetzt, „die die Opfer und die Schuld in den Mittelpunkt stellt“78. Ausdrücklich stellt Studie III den 9. November als „Gedenktag des Novemberpogroms“79 neben den 10. Sonntag nach Trinitatis und den Tag der Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar als Datum für ein solches erneuertes gottesdienstliches Gedenken. Vor rund 25 Jahren setzte mit den Bemühungen um eine Gottesdienstreform auch eine Entwicklung ein, die immer selbstverständlicher der liturgischen Bedeutung des 9. November Rechnung trug. Das 1999 eingeführte 75 In den Debatten um einen deutschen Nationalfeiertag wurde der 9. November zwar auch ins Spiel gebracht. Die im kulturellen Gedächtnis in erster Linie mit dem 9. November 1938 verknüpften Novemberpogrome verhinderten dies allerdings, da sie eine Feier des so ambivalent besetzen Tages auszuschließen schienen (vgl. dazu Schmid, Erinnern, 450–453). 76 Seitdem der Kölner Künstler Gunter Demnig im Jahr 2000 begonnen hat, mit behördlicher Genehmigung im öffentlichen Raum „Stolpersteine“ für Opfer des Nationalsozialismus zu setzen, ist dem Gedenken an vielen Orten ein neues Element zugewachsen. Zum Hintergrund der „Stolpersteine“ vgl. Demnigs Internetpräsenz: URL: http://www.stolpersteine.eu [zuletzt aufgerufen am 15. 12. 2015]. 77 Kirchenamt, Juden und Christen I, 41. 78 Kirchenamt, Juden und Christen III, 185. Diese Tendenz entspricht der „Neuformatierung“ des gesellschaftlichen Gedenkens in Deutschland seit 1945 insgesamt (Sabrow, Erinnerung, 94). 79 Kirchenamt, Juden und Christen III, 185.
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Evangelische Gottesdienstbuch der EKU und der VELKD verankerte das Thema „Christen und Juden“ als Anlass im liturgischen Kalender. Dieser war allerdings auf kein festes Datum im Kirchenjahr festgelegt und bewegte sich thematisch zwischen den Polen Schuld und Umkehr einerseits und dem Bekenntnis zur Treue Gottes gegenüber dem jüdischen Volk und zur Verbundenheit von Christen und Juden andererseits80. Der 9. November galt darin als ein mögliches Datum für diesen gottesdienstlichen Anlass81. Mit Beschluss vom 25. Oktober 2007 bat die Evangelische Landessynode in Württemberg den Oberkirchenrat, sich für die Einführung des „9. November als Tag der Erinnerung und Umkehr“ im liturgischen Kalender einzusetzen82. Allerdings fand das Anliegen in der EKD keine Mehrheit83. Der im September 2014 vorgestellte Entwurf für eine Perikopenrevision bietet unter den unbeweglichen kirchlichen Gedenktagen ein konkretes und umfassendes liturgisches Programm für den 9. November als kirchlichen Gedenktag der Novemberpogrome. Die Herausgeber begründen ihren Vorschlag mit der Feststellung, dass sich der 9. November „neu als Gedenktag“ etabliert habe, als kirchliches „Gedenken der Novemberpogrome“ erhebe er jedoch „nicht den Anspruch, die Fülle historischer Ereignisse, die in Deutschland mit dem 9. November verbunden sind, in den Blick zu nehmen“84. Die biblischen Texte für Gottesdienste an diesem Gedenktag thematisieren menschliche Verführbarkeit, Schuld und Versagen, aber auch Zivilcourage und die Verantwortung gegenüber verfolgten Mitmenschen und Gott85.
6. Zusammenfassung Thematische Konstanten des kirchlichen Gedenkens seit 1963 sind die Synagogen, die meist täterlos verbrannt wurden. Ebenfalls konstant ist die symbolische Platzhalterfunktion der Novemberpogrome für die Schoah. Die anfänglich teleologische Verknüpfung beider Ereigniskomplexe aus einer PostSchoah-Perspektive hat sich erst in den letzten etwa 15 Jahren langsam gelockert. Während anfänglich eher die Ikonen zerstörter Gebäude das Gedächtnis dominierten, rückten seit den späten 1970er Jahren zunehmend die jüdischen Menschen als Opfer der Novemberpogrome ins Zentrum der Erinnerung. Mit dem Zurücktreten der Erlebnisgeneration als den Hauptakteuren des Gedenkens und der wachsenden zeitlichen Distanz zum Jahr 1938 verstärkten 80 81 82 83 84 85
Vgl. Gottesdienstbuch, 450 f. Vgl. ebd., 710 f.; Kirchenamt, Juden und Christen III, 201. Volkmann, Erinnerung, 18. Vgl. daneben Raupach-Rudnick, November, 12. Vgl. Volkmann, Erinnerung, 18. Neuordnung, 473. Vgl. ebd., 520–523.
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sich aktualisierende Bezüge, pädagogisierende Impulse und ethisierende Appelle, die wie auch das Bekenntnis zur Schuld als weitere Elemente des Gedenkens an die Novemberpogrome hinzutraten. Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand und den wechselnden Akteuren der Erinnerung musste sich notwendigerweise auch das Schuldbekenntnis verändern. Verbunden mit dem Appell zur Abkehr von judenfeindlichen Denkfiguren trat seit den 1980er Jahren die Erkenntnis von Zusammenhängen zwischen christlicher Judenfeindschaft und nationalsozialistischer Judenverfolgung zum Bekenntnis schuldhafter Passivität hinzu. Die Ausdifferenzierung des Gedenkens durch Einführung des 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus sowie der Bedeutungsgewinn des 9. November durch die Öffnung der Berliner Mauer führte seit 1989 einerseits zu einem Bedeutungsverlust des 9. November als Gedenktag der Novemberpogrome. Andererseits wurden kirchliche Akteure seither so selbstverständlich Träger lokalen Pogromgedenkens, dass jedenfalls in dieser Hinsicht die Rede vom 9. November als kirchlichem Gedenktag angemessen ist. Als Datum, das das kirchliche Umdenken im Verhältnis zum Judentum und die Abkehr von judenfeindlichen Traditionen liturgisch und breitenwirksam repräsentiert und inszeniert, muss dieser Gedenktag sich noch durchsetzen.
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Orte der Erinnerung
Dagmar Pöpping
Zwischen Forschung und Erinnerungskultur Ein Katalog über Gedenkorte des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus
1. Ziele und Grenzen Die Mehrheit der deutschen Protestanten hat 1933 den Nationalsozialismus euphorisch begrüßt. Das konservativ-protestantische Sozialmilieu gilt als „Haupteinbruchstelle des Nationalsozialismus in die deutsche Gesellschaft“1. Hier fanden sich nicht nur die tragenden Wählerschichten, denen die NSDAP ihren Aufstieg verdankte2, sondern auch Geistliche, die Hitler mit religiöser Inbrunst als den Mann der Stunde feierten3. Die Pläne der Deutschen Christen und des NS-Regimes zur Gleichschaltung und Nazifizierung der Evangelischen Kirche führten jedoch schon bald zu innerkirchlichen Widerständen und Zerwürfnissen, in deren Folge sich die oppositionelle Bekennende Kirche etablierte. Sie wehrte sich vor allem gegen die Eingriffe der Nationalsozialisten in das kirchliche Leben, ohne jedoch das NS-Regime selbst anzugreifen. Protestantischer Widerstand, der sich über die Verteidigung der eigenen kirchlichen Institution hinaus gegen die inhumane und verbrecherische Politik der Nationalsozialisten richtete, wurzelte zwar im bekenntniskirchlichen Milieu, blieb aber auch dort die Ausnahme4. Nach 1945 bestimmten die Protagonisten der Bekennenden Kirche den kirchlichen Neuaufbau und sorgten zugleich für die Etablierung einer „protestantischen Erinnerungskultur“, in der die Bekennende Kirche mit großer Selbstverständlichkeit als „Widerstandsorganisation“ verortet wurde. Dieselben Kreise prägten auch die Kirchengeschichtsschreibung. 1955 formierte sich die „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“, in der man sich ausschließlich mit der Verfolgung und dem Widerstand der Bekennenden Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte5. Vor diesem Hintergrund zeigt der Beschluss der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte vom November 20116, die 1971 aus 1 2 3 4 5 6
Gailus, 1933, 481. Vgl. Falter, Hitlers Wähler, 169–193, 177, 287. Vgl. Gailus, 1933, 484–492. Vgl. Grettner, Brandstifter, 401; Besier, Kirche, 30; und Fandel, Protestantische Pfarrer, 513. Vgl. Evangelische Arbeitsgemeinschaft, 7. Vgl. Kommissionssitzung der EvAKiZ am 25./26. 11. 2011, TOP 9.
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der Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes hervorging, eine Bilanz der protestantischen Erinnerungskultur nach 1945 zu ziehen, den Willen, das über Jahrzehnte gültige eigene Selbstverständnis zu historisieren und damit kritisch zu hinterfragen. In das Feld einer solchen Erinnerungsgeschichte gehört auch die Initiative der Arbeitsgemeinschaft für einen Katalog über „Gedenkorte des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus“. Der Katalog hat die Aufgabe, die Monumente und Orte des Gedenkens an den evangelischen Widerstand vorzustellen. Insofern leistet er in erster Linie einen Beitrag zur Historisierung des „kulturellen Gedächtnisses“, das nach Aleida Assmann die generationenübergreifenden, materiellen Ausprägungen von Erinnerungskultur umschreibt7. Gleichzeitig sollen die moralischen und pädagogischen Ziele der Initiatoren von Gedenkorten dargestellt werden. Den im Folgenden zur Sprache gebrachten methodischen Überlegungen und Beispielen soll eine Klärung des Begriffs „Gedenkort“ vorangehen. Gedenkorte sind Teil der Erinnerungskultur, also jener Erinnerung, in der es nicht um einen wissenschaftlichen Umgang mit der Geschichte, d. h. um Nachprüfbarkeit der Quellen oder rationale Argumentation geht, sondern um eine politische oder moralische Botschaft der jeweiligen Gegenwart8. Die Person oder das Ereignis der Erinnerung sollen die Werte symbolisieren, die aktuell als erinnerungswürdig empfunden werden9. Sie gehören zum „kollektiven“ Gedächtnis einer Gesellschaft, das immer im Dienst der Gegenwart steht, wie der französische Soziologe Maurice Halbwachs schon in den 1920er Jahren gezeigt hat10. Die Ziele und Werthaltungen, die hinter der Etablierung von Gedenkorten stehen, unterliegen dem Wandel der Zeit und verändern sich mit ihr. Vor diesem Hintergrund kann ein Katalog, der die Ziele von Erinnerungsgruppen thematisiert, einen wichtigen Beitrag zur Periodisierung und Charakterisierung von Phasen der Erinnerungskultur liefern. „Gedenkorte“ sind zu unterscheiden von „Erinnerungsorten“; ein Begriff, der sich im Deutschen durch die vierbändige Reihe „Deutsche Erinnerungsorte“ etabliert hat, aber paradoxerweise keineswegs Orte im geographischen Sinn des Wortes meint, sondern „Orte in allen Bedeutungen des Wortes“, wie die Herausgeber, Hagen Schulze und Ptienne FranÅois, in Anlehnung an das Werk „Les lieux de m8moire“ des französischen Historikers Pierre Nora erläutern11. „Erinnerungsorte“ meinen letztlich alles, was zum aktuellen identitätsstiftenden Narrativ, d. h. zum geschichtlichen und kulturellen Selbstverständnis einer Nation gehört12. Das können Gedenkstätten sein ebenso wie 7 8 9 10 11 12
Assmann, Schatten, 54. Vgl. Hockerts, Zugänge, 60–63. Vgl. insbesondere die Fallstudien von Buss, Lepp, Schilling und Schulze in diesem Band. Assmann, Schatten, 54; vgl. Halbwachs, Gedächtnis. FranÅois / Schulze, Einleitung, 15. Nora, Geschichte, 7.
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Romane, Automarken, Sprichworte, Fernsehbilder oder bekannte Persönlichkeiten13. In dem von Martin Sabrow herausgegebenen Werk „Erinnerungsorte der DDR“ fungieren Bautzen, Jugendweihe, Kinderkrippe, Mauer und Montagsdemonstration gleichermaßen als Erinnerungsorte14. Auch für den deutschen Protestantismus sind bereits „Erinnerungsorte“ benannt worden. Der Historiker Frank-Michael Kuhlemann nennt etwa Martin Luther, Johannes Calvin, Philipp Melanchthon und Adolf Stoecker, oder die reformatorischen Bekenntnisse, den evangelischen Gottesdienst und die Stuttgarter Schulderklärung. Ein Erinnerungsort, so ließe sich sagen, kann eigentlich alles sein, was einem gebildeten Menschen einfällt, wenn er etwas beschreiben soll, das für ihn historische Relevanz besitzt.15 Gedenkorte dagegen sind weniger beliebig definiert. Sie bezeichnen einen realen Ort, an dem in künstlerischer Form mit einem Mahn- oder Denkmal auf eine Person oder ein historisches Ereignis verwiesen wird. Oftmals ist der Gedenkort Teil einer Gedenkstätte, die den besonderen Ort, an dem sie errichtet wurde, durch eine Ausstellung oder Dokumentensammlung erläutert16. Im Komplex um das ehemalige Dresdener Landgericht, die heutige „Gedenkstätte Münchner Platz Dresden“, das sowohl dem NS-Staat als auch der sowjetischen Besatzung und der SED als Justiz- und Hinrichtungsstätte diente, befinden sich Gedenkorte aus der DDR-Zeit, die an den kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime erinnern17. Aus der Nachwendezeit stammt eine Skulptur von Wieland Förster, die an die „zu Unrecht Verfolgten“ nach 1945 erinnert18. Gedenkorte sind zum einen – anders als Erinnerungsorte – mit konkreten Örtlichkeiten verbunden, zum anderen werden sie bewusst, unter der Vorgabe ethischer, religiöser, künstlerischer oder pädagogischer Entwürfe, konzipiert. Eine ähnliche Unterscheidung lässt sich in Bezug auf Gedenktafeln und Erinnerungstafeln treffen. Während sich Gedenktafeln am jeweiligen Ort des Geschehens oder Wirkens einer Person befinden, werden Erinnerungstafeln unabhängig von „authentischen Orten“ eingesetzt und stehen meist in Verbindung mit Benennungen von Schulen, Straßen oder Plätzen19. Im Folgenden sollen drei Fragen diskutiert werden, die sich bei den Re13 14 15 16 17
Vgl. das Inhaltsverzeichnis bei FranÅois / Schulze, Erinnerungsorte. Vgl. Sabrow, Erinnerungsorte. Vgl. Kuhlemann, Erinnerung, 36. Vgl. Garbe / Klingel, Gedenkstätten, 4. Darunter eine Gedenkplatte von 1959, die an den in der NS-Zeit hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer Georg Schumann erinnert und eine 1962 entstandene Plastik des Bildhauers Arnd Wittig. 1986 wurde der Gedenkort ergänzt durch das „Museum des antifaschistischen Widerstandskampfes“, das in seinem Eingangsbereich eine Stele für Georg Schumann und eine fünfsprachige Gedenkwand beherbergte. Vgl. Sack, Münchner Platz, 25 f. 18 Ebd., 26. 19 Vgl. Reichel, Politik, 224.
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cherchen für den Katalog ergeben haben: 1. Inwiefern gehören Benennungen von Straßen, Plätzen, Häusern oder Briefmarken in einen Katalog über Gedenkorte des evangelischen Widerstandes? 2. Welche Rolle spielen Gedenkkonflikte bei der Initiierung von Gedenkorten? 3. Unter welchen Voraussetzungen werden Gedenkorte ins Leben gerufen?
2. Benennungen „Benennungen“ im oben definierten Sinn können kaum als Gedenkorte gelten. Vielmehr unterscheiden sie sich von institutionalisierten Erinnerungsformen wie dem Denk- oder Mahnmal20, weil sie nicht mit besonderen Orten verbunden sind. Auch erfüllen sie eine doppelte Funktion: einerseits sollen sie die Erinnerung an eine bestimmte Persönlichkeit wachhalten, andererseits sind sie Zwecken untergeordnet, die ganz unabhängig vom Gegenstand der Erinnerung sind. So dienen Straßen immer auch der räumlichen Orientierung im Alltag und Briefmarken erfüllen neben ihrer Funktion als Gedenkmarken den Zweck eines profanen Zahlungsmittels. Hinzu kommt, dass ein Katalog, der die Motive der Erinnerungsgruppen berücksichtigen soll, Benennungen von Häusern, Straßen oder Plätzen kaum repräsentativ darstellen kann, da nur sporadisch überliefert ist, welche Erinnerungsgruppen hinter den Benennungen standen und welche Ziele sie mit der Benennung verfolgten21. Allenfalls lassen sich stichprobenartige Recherchen durchführen. Sie können zwar keine statistisch belastbaren Aufschlüsse, aber schlaglichtartige Einblicke in die Motive geben, die hinter den Benennungen standen. So zeigen Archivrecherchen über Straßen, die nach Hans Konrad Leipelt benannt wurden, der aus protestantischer Sicht dem evangelischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zugeordnet wird, dass Leipelt keineswegs zwingend als protestantischer Widerstandskämpfer eingeordnet werden musste22, sondern mit ebenso guten Gründen als Marxist oder als eine durch ihre jüdische Herkunft definierte Persönlichkeit, die im hohen Maße vom Antisemitismus ihrer Umgebung verletzt worden war23. Als 1963 in München nach neuen Straßennamen für ein Neubaugebiet gesucht wurde, schlug ein Angehöriger aus dem Umfeld der Weißen Rose Hans Leipelt und Harald Dohrn vor. Indes suchte man vergebens nach belastbaren historischen Dokumenten, aus denen sich der Widerstand der bei20 Vgl. Pçppinghege, Geschichtspolitik, 33 f. 21 E-mail von Jörg Olaf Thießen – Staatsarchiv Hamburg – vom 25. 6. 2012. Vgl. auch die Ergebnisse des Sammelbandes: Frese, Fragwürdige Ehrungen!?, 18. 22 Vgl. den Beitrag von Friederich in diesem Band. 23 1940 wurde Hans Leipelt, der im Frankreichfeldzug mehrere militärische Auszeichnungen erhalten hatte, der jedoch aus Sicht des NS-Regimes als „jüdischer Mischling 1. Grades“ galt, „unehrenhaft“ aus der Wehrmacht entlassen. Hering, Leipelt, 367.
Ein Katalog über Gedenkorte des evangelischen Widerstandes
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den Kandidaten zweifelsfrei ergeben hätte. Die einzige schriftliche Grundlage, auf die man sich stützen konnte, war ein Vierzeiler über Hans Leipelt in der Süddeutschen Zeitung von 1946, in dem Leipelt als Kommunist und Christ charakterisiert worden war24. Weder das Stadtarchiv noch das Institut für Zeitgeschichte konnten zu diesem Zeitpunkt Material über Leipelt beisteuern. Schließlich gab sich die Kommune mit folgender Begründung für eine Straßenbenennung nach Hans Leipelt zufrieden: „Der deutsche Widerstand gegen Hitler rehabilitiert die Bundesrepublik und schützt vor einseitiger, nicht enden wollender Diffamierung des überwiegend guten deutschen Namens.“25 1964 wurde in Hamburg eine Straße nach Hans Leipelt benannt. Die evangelische Religionszugehörigkeit Leipelts spielte jedoch auch hier keine Rolle, denn bis heute wird die Hans-Leipelt-Straße unter der Motivgruppe: „Als Gegner des Nationalsozialismus hingerichtete Hamburger Katholiken“ verzeichnet26. Der Versuch, Benennungen von Häusern, Straßen und Plätzen nach Personen des evangelischen Widerstandes möglichst vollständig in den Katalog aufzunehmen, würde außerdem an der hohen Quantität von Benennungen scheitern. Allein in Deutschland werden laut onlinestreet.de 96 GeschwisterScholl-Straßen verzeichnet27. Eine ähnlich hohe Zahl erreichen Straßennamen nach Dietrich Bonhoeffer28. Im Bereich der westfälischen Landeskirche kommt man auf ca. 40 Benennungen kirchlicher Einrichtungen nach Bonhoeffer, Ludwig Steil, Paul Schneider, Martin Niemöller und Jochen Klepper. Geht man von einer ähnlichen Zahl von Benennungen in den anderen Landeskirchen aus, käme man auf eine Zahl von 800 bis 900 Benennungen nach Personen des christlichen Widerstandes. Andererseits erlaubt die schiere Menge der Benennungen quantitative Aussagen über „Benennungskonjunkturen“29, d. h. darüber, wann und in welchen Regionen vermehrt Straßen nach Personen des evangelischen Widerstandes um- oder neubenannt wurden. Zur Orientierung bieten sich historische Zäsuren an, die zu einer auffällig hohen Zahl von Neu- und Umbenennungen geführt haben, so etwa das Ende der NSZeit, die kommunale Gebietsreform in der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1975, die durch Eingemeindungen und Zusammenlegungen von Kommunen zu zahllosen Namensdopplungen führte, und die Wende von 1989/9030. 24 Vgl. Der Todesweg. 25 Interner Vermerk des Bauamtes der Stadt München 1963 (Stadtarchiv München, Kommunalreferat Abgabe 80/3). 26 Auskunft von Jörg-Olaf Thießen vom Staatsarchiv Hamburg vom 21. Juni 2012. 27 Kronawitter, 25 Jahre, 8. 28 http://onlinestreet.de/strassen/suche.php?cx=partner-pub1229119852267723 %3 A6215314712&cof=FORID%3 A11&ie=ISO-8859–1&q=Dietrich-Bon hoeffer-Stra%C3 %9Fe&x=0&y=0 [zuletzt aufgerufen am 9. 10. 2016]. 29 Ich danke Dr. Ulrich Althoefer vom Baureferat des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche von Westfalen für die hier zugrunde liegende Aufstellung. 30 Vgl. Frese, Straßennamen, 11; Pçppinghege, Wege, 20.
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Andere Beispiele zeigen, dass Benennungen zu Impulsgebern für die Errichtung von Gedenkorten werden können, die sich als „sekundäre Gedenkorte“ bezeichnen ließen. Schulbenennungen gehen zuweilen mit der Installation neuer Gedenkorte einher, die das Gedenken an den Namensgeber im Bewusstsein von Schülern und Schülerinnen sowie Lehrern und Lehrerinnen wachhalten sollen. Ein Beispiel dafür ist die Staatliche Fach- und Berufsoberschule in Donauwörth, die sich seit dem 10. März 1995 anlässlich ihres 25jährigen Jubiläums in „Hans-Leipelt-Schule Donauwörth“ umbenannte. Die Verbindung von Hans Leipelt und Donauwörth ergab sich aus dem „Prozess gegen Leipelt und andere“ vor dem Volksgerichtshof, der am 13. Oktober 1944 in Donauwörth stattfand und mit dem Todesurteil „wegen Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“ endete31. Bereits 1994 führte das Engagement von Lehrern, Schülern, Zeitzeugen sowie des Donauwörther Stadtarchivars zur Anbringung einer Gedenktafel für Hans Leipelt und seine Mitangeklagten im Gerichtssaal der Stadt. Seit 1995 sorgten Initiatoren aus Schule und Stadtarchiv dafür, dass sich die Berufsoberschule von Donauwörth gleichsam nachträglich zum Lern- und Gedenkort für Hans Leipelt entwickelte. Die Grundlagen dieser Entwicklung bildeten Ausstellungen, Dokumentationen, jährlich wiederkehrende Gedenkveranstaltungen mit der Zeitzeugin, Freundin und Mitkämpferin Hans Leipelts, Marie-Luise Schulze-Jahn, die Aufnahme der Aktivitäten Leipelts und der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ in den Geschichtsunterricht, die künstlerische Gestaltung der Schule durch ein Porträt Hans Leipelts im Schuleingangsbereich sowie die Einführung eines Schulemblems mit dem Zeichen der Weißen Rose und den Initialen Hans Leipelts32. Anknüpfend an diese Aktivitäten schlossen sich weitere Initiativen an, die eine erinnerungskulturelle Verbindung der Stadt Donauwörth mit Hans Leipelt festigten. Kurz nach der Schulbenennung beschloss der Bau- und Grundstücksausschuss der Stadt am 12. Juni 1995 u. a. die Neubenennung einer Straße nach Hans Leipelt33. Ebenso dürfte eine Schule wie das evangelische Paul-Schneider-Gymnasium in Meisenheim sich nicht nur als „Lernort“, sondern auch als „Gedenkort“ für Paul Schneider etabliert haben. Paul Schneider ist im Religionsunterricht der 5. Klasse ebenso Thema wie im Geschichtsunterricht der 9. und 10. Klasse, in denen die Schüler sich mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus auseinandersetzen müssen. Gleichzeitig werden Fahrten in die ehemalige Gemeinde Paul Schneiders, Dickenschied, unternommen, wo es zu einer Begegnung mit seinem Sohn Ernst August Schneider kommt. In der 31 Hering, Leipelt, 368. 32 Telefonat mit dem Lehrer der Hans-Leipelt-Schule, Stefan Schupfner, vom 12. 7. 2012; E-mail des Stadtarchivars von Donauwörth, Dr. Ottmar Seuffert, vom 25. 7. 2012. Dr. Ottmar Seuffert spielte eine Schlüsselrolle bei der Benennung der FOS Donauwörth in Hans-Leipelt-Schule. 33 E-mail des Leiters des Stadtarchivs von Donauwörth, Dr. Ottmar Seuffert, vom 27. 6. 2012.
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Schulemblem der Hans-Leipelt-Schule Donauwörth (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Irmgard und Konrad Maurer).
Oberstufe bietet die Schule jährlich Fahrten nach Weimar an, die verbunden werden mit dem Besuch der Paul-Schneider-Gesellschaft und der Gedenkstätte Buchenwald, wo es seit 1954 einen Gedenkraum für Paul Schneider im ehemaligen Arrestzellenbau gibt34. Die Schule organisiert außerdem einmal im Jahr einen Paul-Schneider-Tag, der mit einem Gottesdienst eröffnet wird35. Es lässt sich festhalten, dass Benennungen keine „Gedenkorte“ bezeichnen, da sie nicht primär durch die Verbindung des Ortes mit der geehrten Persönlichkeit oder durch bewusste künstlerische Ausgestaltung charakterisiert werden können. Benennungen können aber als Konsequenz und Folge der Errichtung von Gedenkorten auftreten, da neue Gedenkorte nicht selten zu einem ganzen Bündel weiterer erinnerungskultureller Aktivitäten führen. Darüber hinaus können Benennungen von Schulen und anderen Einrichtungen auch selbst den entscheidenden Impuls für die Errichtung „sekundärer Gedenkorte“ geben. Insofern sollten Benennungen in einem Katalog über Gedenkorte nicht ganz wegfallen und zumindest dort Erwähnung finden, wo sie in einer offenkundig kausalen Verbindung zur Errichtung von Gedenkorten stehen.
3. Gedenkkonflikte Ein Katalog über „Gedenkorte des evangelischen Widerstandes“ sollte auch auf Konflikte und Gedenkkonkurrenzen hinweisen, denn Veränderungen in der Erinnerungskultur werden immer dann sichtbar, wenn Konflikte zwischen 34 Vgl. E-mail von Janina Fischer, Presseabteilung Buchenwald, vom 29. 1. 2016. 35 Vgl. E-mail von Caroline Wendel vom 10. 9. 2015.
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unterschiedlichen Erinnerungsgruppen um die Erinnerungswürdigkeit einer Persönlichkeit aufbrechen. Ein Beispiel dafür findet sich auf dem Feld der Briefmarkengestaltung in der Bundesrepublik. Zwar fehlt im Fall der Briefmarkenmotive die räumliche Dimension des Gedenkortes nahezu vollständig. Dennoch kann das auf der Briefmarke abgebildete Konterfei einer historischen Persönlichkeit eine erinnerungspolitische Aussage haben, die Aufschlüsse gibt über das sich ändernde Selbstverständnis einer Nation36. Bei der Entscheidung über Briefmarkenmotive aus dem protestantischen Widerstand spielten protestantische Interessenvertreter eine sichtbare Rolle. So war den Bevollmächtigten der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland das Recht eingeräumt worden, im Auftrag ihrer Kirchen dem Bundespostminister jedes Jahr ein Motiv ihrer Wahl vorzuschlagen37. Konflikte mit den Katholiken ergaben sich immer dann, wenn es diesen gelang, mehr katholische Briefmarkenmotive durchzusetzen als ihnen aus evangelischer Sicht zustand. Hinzu kam, dass die katholische Seite weitaus mehr Vorschläge anzubieten hatte als die evangelische. In einem Schreiben des Bevollmächtigten der evangelischen Kirche am Sitz der Bundesregierung in Bonn, Hermann Kunst, an den Vizepräsidenten der Kirchenkanzlei im Mai 1970 hieß es: „Durch unsere biblische Lehre vom Menschen und von der Erbsünde ist unser evangelischer Heiligenkalender nicht so umfassend, daß wir wie der Heilige Vater souverän rudelweise Heilige zu den Akten schreiben können.“38 Erst 1966 hat der Rat der EKD den Evangelischen Namenkalender mit 400 Namen von Persönlichkeiten freigegeben, darunter europäische Glaubenszeugen und „Märtyrer“ aus vorreformatorischer Zeit ebenso wie Katholiken und Freikirchler, die allerdings als nicht kanonisiert und jederzeit revidierbar gelten39. Neben den Partizipationskonflikten mit den Katholiken kam es zu internen Diskussionen über die Zuordnung evangelischer Persönlichkeiten zum Widerstand, die das bislang unhinterfragte Selbstverständnis evangelischer Führungsfiguren erschütterten. Ein Beispiel dafür ist der im Folgenden beschriebene Konflikt zwischen Hermann Kunst und dem Bremer Bürgermeister Hans Koschnick um das Briefmarkenmotiv zum hundertsten Geburtstag von August Winnig, dessen Name sich bereits im Evangelischen Namenkalender befand. Im November 1976 legte Hermann Kunst dem Rat der EKD nahe, dem Postminister eine Briefmarke anlässlich des 100. Geburtstages des evangeli36 37 38 39
Vgl. J-ger, Staatenwelt, N3. Schreiben Kalinnas an W. Günther vom 4. 8. 1975 (EZA Berlin, 87/2396). EZA Berlin, 87/798. Schulz, Kirchen, 669. Der Evangelische Namenkalender basiert weitgehend auf dem vierbändigen Werk Jörg Erbs mit dem Titel „Wolke der Zeugen. Lesebuch zu einem evangelischen Namenkalender“ aus den Jahren 1951–1963. Vçlker, Communio Sanctorum, 18.
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schen Schriftstellers August Winnig 1978 vorzuschlagen40. Insbesondere dessen 1937 erschienenes Buch „Europa. Gedanken eines Deutschen“ – so hieß es in der Begründung – habe sich mit Problemen der Überwindung des Nationalismus befasst. Die Schrift habe nicht nur bei ihrem Erscheinen 1937 einen wichtigen Beitrag in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geleistet, sie sei sogar so belangvoll, dass man sie 1952 erneut aufgelegt habe41. Tatsächlich hatte das 1937 in einer Auflage von 80.000 Exemplaren verlegte Werk Winnigs eine einzigartige Bedeutung, denn es konnte auf der einen Seite ungehindert in hoher Auflage verkauft werden, galt aber auf der anderen Seite als eine aus dem Kirchenkampf erwachsene politische Oppositionsschrift gegen den Nationalsozialismus42. Im Mittelpunkt des Buches steht die Selbstbehauptung des christlichen Europas gegen die Angriffe der antichristlichen Sowjetunion. Wenn Europa überleben wolle – so hieß es unverändert in der Neuauflage von 1952 – müsse es seinem göttlichen Auftrag nachkommen und das „Kreuz“ gegen diese Bedrohung verteidigen43. Für Europa gebe es nur die Alternativen: entweder „kulturzerstörender Bolschewismus oder kulturbejahende autoritäre Regierung!“44 Auch in der Neuauflage nahm Winnig Bezug auf die Kreuzzüge und die germanisch-christliche Welteroberung und ging damit weit über den Gedanken der christlichen Selbstverteidigung gegen eine atheistische Weltmacht hinaus45. Zudem hatte der evangelische Autor in einem Kapitel über „Juden“, das in der Neuauflage allerdings kommentarlos gestrichen worden war, das Feindbild des jüdischen Bolschewismus propagiert. Der Bolschewismus – so Winnig – stehe unter der „Fremdherrschaft des Juden“. Als solcher bedeute er eine grundsätzliche Auflehnung des „entarteten Menschen“ gegen Gott46. In diesem Zusammenhang sprach Winnig vom „Untermenschen“ und ließ keinen Zweifel daran, wen er damit meinte. In Russland habe das Volk unter dem Einfluss „des Juden“ seine Seele verloren, werde zur Masse erniedrigt und vegetiere nur noch auf einer „zoologischen Ebene“47. Es sei der Jude, der sich in Russland als „bolschewistischer Brandstifter“ erwiesen habe. Grund dafür sei der jüdische
40 Vgl. Tischvorlage für die 51. Sitzung des Rates der EKD im November 1976 (EZA Berlin 87/2395, Bl. 21 f.). 41 Vgl. ebd., Bl. 22. 42 Vgl. Ribhegge, Winnig, 278 f., 283. In seiner Winnig-Biographie von 1973 deutete Ribhegge die Europa-Schrift Winnigs nicht als antisowjetisches Pamphlet, sondern als verschlüsselte Anklage gegen den Nationalsozialismus, wofür sich im Text allerdings keinerlei Hinweise finden. Winnig vertrat vielmehr die Idee eines christlich geläuterten Faschismus, der sich gegen die Sowjetunion zur Wehr setzen musste. Ebd., 280. 43 Winnig, Europa, 88 f. 44 Vgl. ebd., 73. 45 Vgl. ebd., 19 f. 46 Ebd., 82. 47 Ebd., 81.
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Ursprung des Bolschewismus, der sich aus dem kommunistischen Manifest des Juden Karl Marx entwickelt habe48. Dass der Rat der EKD sich schließlich gegen eine Gedenkbriefmarke für August Winnig entschied49, verdankte sich dem Einspruch des Bremer Bürgermeisters Hans Koschnick, dessen Eltern während der NS-Zeit als Kommunisten verfolgt worden waren. In einem Schreiben an Hermann Kunst kritisierte Koschnick zum einen, dass die Darlegungen Winnigs über das Judentum eine „Deklassierung des jüdischen Menschen und seines Glaubens“ seien, zum anderen wies er darauf hin, dass Winnigs Entwurf des „beutegierigen und bluttriefenden Europäers“, der im Namen Gottes die Welt erobere, einen Menschentyp propagiere, der nach allen Verbrechen, die während des Nationalsozialismus im deutschen Namen geschehen seien, nicht mehr als Wegweiser für christliche Verantwortung akzeptiert werden könne50. Dagegen argumentierte Kunst, Winnigs Vision eines christlichen Europas habe den inhaltlichen Kern des christlichen Widerstandes in den Jahren des Nationalsozialismus ausgemacht51. Auf den Antisemitismusvorwurf Koschnicks antwortete Kunst verharmlosend: Man müsse sich fragen, ob es sich hier wirklich um einen „Charakterfehler Winnigs“ handele oder ob Winnig nicht nur ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Dabei verwies er auf sein eigenes herzliches Verhältnis zu seinen jüdischen Mitschülern und zur Synagogengemeinde während der Weimarer Republik. Abschließend bemerkte er : „Aber eben – man heiratete sich nicht gegenseitig.“52 An dem Konflikt um die Gedenkbriefmarke für August Winnig lässt sich zeigen, dass noch Mitte der 1970er Jahre führende Kirchenfunktionäre der EKD über den aggressiven Antisemitismus eines evangelischen Schriftstellers während der NS-Zeit problemlos hinwegsehen konnten, weil dieser der Bekennenden Kirche nahe gestanden hatte. Gleichzeitig aber zeigte sich auch, dass die Verharmlosung des Antisemitismus nicht mehr unwidersprochen hingenommen wurde und dass die Führung der EKD auf den Einspruch des SPD-Politikers reagierte, indem sie vom Plan der Gedenkbriefmarke für Winnig abrückte.
4. Spurensuche Die Suche nach Gedenkorten, ihren Erinnerungsakteuren und Zielen kann ausgehen von Porträtsammlungen und biografisch ausgerichteten Sammel48 Ebd., 49. 49 Vgl. Protokoll der 53. Sitzung des Rates der EKD vom 3. und 4. 12. 1976, TOP XIII (EZA Berlin, 87/2395). 50 Schreiben Koschnicks an Kunst vom 10. 11. 1976 (ebd.); vgl. Winnig, Europa, 19. 51 Vgl. Ribhegge, Winnig, 278, 283. 52 Schreiben Kunsts an Koschnick vom 3. 1. 1977 (EZA Berlin, 87/2395).
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bänden53, Begleitbroschüren zu Ausstellungen54, Namenslisten von Gedenkstätten oder Online-Ausstellungen55, Katalogen56 und Gedenkbüchern57, Apps der Bundeszentrale für Politische Bildung58, Internetportalen von Städten59, Landschaftsverbänden60, überregionalen Arbeitskreisen61 oder internen Listen von Erinnerungsgruppen. Mit den daraus gewonnenen Hinweisen auf Persönlichkeiten des evangelischen Widerstandes lassen sich zielgerichtet Fragen an kommunale Behörden oder Kirchengemeinden stellen, in denen diese Persönlichkeiten gewirkt haben. Auskünfte erteilen auch Gedenkstätten, in denen u. a. christlicher Widerstand vorgestellt wird. Ein Beispiel ist die seit 2009 im Bau befindliche Gedenkstätte Sophienkirche-Busmannkapelle in Dresden, die ähnlich wie die Gedenkstätte Münchner Platz ein multifunktionaler Erinnerungsort für verschiedene Epochen, Menschen und Ereignisse ist. Dort soll an die vom SEDRegime abgerissene Brandruine der Sophienkirche erinnert werden, aber auch an die Opfer der Bombardierungen durch die westlichen Alliierten vom 13. Februar 1945 sowie an den Widerstand aus der evangelischen Bevölkerung Dresdens in der Zeit zweier Diktaturen von 1933 bis 198962. Solche modernen Gedenkorte unterscheiden sich erheblich von Gedenkorten der ersten Nachkriegsjahrzehnte in der DDR und der Bundesrepublik, in denen wissenschaftlich untermauerte Kontextualisierungen nahezu vollständig fehlten. Dem lag die Annahme zugrunde, dass es einen gesellschaftlichen Konsens über erinnerungswürdige Ereignisse und Biografien gab, den man 53 Vgl. Gailus /Vollnhals, Herz; Kleinw-chter, Frauen und Männer. 54 Vgl. Christliche Frauen. 55 Vgl. die Biographien auf der Website der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, http://www.gdwberlin.de/de/vertiefung/biographien/personenverzeichnis/ [zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]; vgl. auch die Namen der Online-Ausstellung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/karte/19331934 [Zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]; Listen der „Gerechten unter den Völkern“ der Gedenkstätte Yad Vashem „The Holocaust Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Authority“, http://www.yadvashem.org/yv/en/righteous/statistics/germany.pdf [zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]. 56 Vgl. Garbe / Klingel, Gedenkstätten; Kçhr / Petersen / Pohl, Gedenkstätten; Puvogel / Stankowski, Gedenkstätten; und Weber / Steinbach / Wehling, Erinnerungsorte. 57 Vgl. Forck, Glauben; Oehme, Märtyrer ; und Schultze / Kurschat, Ende. 58 Vgl. die App der Bundeszentrale für Politische Bildung: Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus, http://www.bpb.de/shop/multimedia/mobil/146941/app-erinnerungsorte [zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]. 59 Vgl. das Gedenktafelprojekt „Erinnerungsorte“, das auf der Website der Stadt Gelsenkirchen zu finden ist: https://www.gelsenkirchen.de/de/Stadtprofil/Stadtgeschichten/Erinnerungsorte/in dex.aspx [zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]. 60 http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/Widerstandsliste.aspx [zuletzt aufgerufen am 2. 2. 2016]. 61 Vgl. das Internetangebot des Arbeitskreises I der Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg und der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkstätten im Berliner Raum, http://www.orteder-erinnerung.de/ [zuletzt aufgerufen am 3. 2. 2016]. 62 Vgl. Dr. Peter W. Schumann, Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft zur Förderung einer Gedenkstätte für die Sophienkirche Dresden e.V. in einer E-mail an die Autorin vom 31. 10. 2014.
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nicht eigens benennen musste63. Wer oder was sich hinter Sätzen wie „Den Opfern von 1933–1945“ oder „Zum Höchsten der Menschheit emporgestrebt“64, verbarg, ist aber oftmals schon für die nächste Generation nicht mehr erkennbar. Auch ein Ort wie das Münchener Gefängnis Stadelheim, das eine hohe erinnerungskulturelle Bedeutung hat, weil dort die Mitglieder der Weißen Rose Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Kurt Huber, Willi Graf und Alexander Schmorell – nach einem Urteil des Volksgerichtshofes 1943 – enthauptet wurden, fällt durch einen kaum mit Inhalt gefüllten Gedenkort auf. Dem Kreuz im Vorraum der katholischen Gefängniskirche, vor dem Hans und Sophie Scholl unmittelbar vor ihrer Hinrichtung am 22. März 1943 beteten, wurde die Inschrift „Den Opfern der Gewaltherrschaft von 1933–1945 zum Gedenken“ zur Seite gestellt. Die Münchner Publizistin Karin Friedrich, die das Gefängnis 1956 besuchte, beklagte die Anonymität der Gedenkecke in der Anstaltskirche: „Keine Namen. Kein Datum. Kein Hinwies auf die Ermordeten. ,Das kann doch nicht alles sein‘, sage ich.“65
Inschrift im Vorraum der Gefängniskirche „Maria, Trösterin der Betrübten“, JVA München Stadelheim (Foto Dagmar Pöpping).
Vor diesem Hintergrund gehen erinnerungskulturell engagierte Gruppen seit den 1990er Jahren dazu über, Gedenkorten kontextualisierende Erklärungen beizufügen, etwa in Form von erläuternden Tafeln. Gedenkorte sollen immer auch „Auseinandersetzungs- und Lernorte“ sein, wie Gedenkstättenpädagogen oder auch Stadtverwaltungen betonen66. So stieß sich die Stadt Gelsenkirchen 2005 am unzulänglichen Informationsgehalt der bereits verlegten Stolpersteine für verfolgte und ermordete Juden. Um den Missstand zu beheben, erweiterte sie – unter Beteiligung lokaler Träger, d. h. von Schulen, Polizei und Geschichtsvereinen – ihre erinnerungspolitischen Aktivitäten, indem sie ein Gedenktafel-Projekt zur Kontextualisierung der Stolpersteine und anderer historischer Orte der Stadt initiierte67. Darüberhinaus wurden 63 64 65 66 67
Vgl. Ulbricht, Gedenken, 46. Zu lesen auf einer Mauer des städtischen Heidefriedhofs in Dresden. Ulbricht, Gedenken, 45. Friedrich, Zeitfunken, 295. Sack, Münchner Platz, 29. Vgl. öffentliche Beschlussvorlage des Oberbürgermeisters von Gelsenkirchen vom 7. 5. 2005, Drucksache 04–09/1765. Grundlage für die Ausdehnung der erinnerungskulturellen Aktivitäten
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neue Gedenkorte geschaffen, die nicht nur die Zeit der NS-Herrschaft, sondern die gesamte Stadtgeschichte einbezogen. Grundlage dafür waren die vorangehenden lokalhistorischen Studien des Instituts für Stadtgeschichte68. Auch die jüngeren Gedenkorte des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus stützen sich auf wissenschaftliche Vorarbeiten. Im Fall der Kirchengemeinde von Albertshausen, an der die evangelische Theologin Katharina Staritz 1946 bis 1949 als Vikarin tätig war, ging die Initiative für das Gedenken an Staritz vom örtlichen Pfarrer Gotthelf Eisenberg aus, der zuvor selbst die Impulse für lokalhistorische Forschungen gesetzt hatte und der im Anschluss daran erinnerungskulturell aktiv geworden war. 1993 lud der Pfarrer die Biografin, Freundin und Nachfolgerin von Katharina Staritz im Pfarramt, Gerlind Schwöbel, zu einem Vortrag in seine Gemeinde ein. 1994 organisierte derselbe Pfarrer eine Sonderausstellung über Staritz im Foyer der Lukaskirche und 1996 sorgte er für das Zustandekommen eines Sonderheftes des „Lukasboten“69, das sich ausschließlich mit dem Leben und Wirken von Staritz beschäftigte. Kurze Zeit darauf begann der Pfarrer eine Korrespondenz mit dem Kasseler Künstler Stephan von Borstel. 1997 schließlich beschloss die Gemeinde von Albertshausen, diesen Künstler mit der Realisierung eines Gedenkortes für Katharina Staritz in Form einer Gedenktafel zu beauftragen. Am 15. November 1998 wurde die Gedenktafel im Rahmen eines Erinnerungsgottesdienstes mit Rednern aus Kirche und Politik im Vorraum der Dorfkirche von Albertshausen eingeweiht – ein sinnfälliger Abschluss der jahrelangen Bildungsarbeit des örtlichen Pfarrers. Der neue Gedenkort zog die Benennung eines Weges in Bad Wildungen nach Katharina Staritz im Jahr 2003 nach sich. Vermutlich geht sie auf einen Vorschlag des Bürgermeisters zurück, der bei der Einweihung der Gedenktafel am 15. November 1998 das Grußwort gesprochen hatte70. Dieses und andere Beispiele zeigen: In jüngerer Zeit folgt die Errichtung von Gedenkorten mit zeitlicher Verzögerung der wissenschaftlichen Forschung. Eine entscheidende Rolle für das Zustandekommen von Gedenkorten spielt das Engagement von Vermittlern an der Schnittstelle von Wissenschaft und Erinnerungskultur, etwa von Pädagogen, Archivaren oder Pfarrern. Wie schnell der Weg von der Wissenschaft zur Errichtung eines Gedenkortes führen kann, wenn Forscher und Erinnerungsakteure eng zusammenarbeiten, zeigt das Beispiel des Rettungswiderstandes, dessen der Stadt war zum einen die Kritik am Informationswert der Stolpersteine, zum anderen die 1998 erschienene Publikation des Instituts für Stadtgeschichte Historische Spuren vor Ort. Vgl. auch die heute auf der Website der Stadt Gelsenkirchen abrufbare Rubrik „Erinnerungsorte“: https://www.gelsenkirchen.de/de/Stadtprofil/Stadtgeschichten/Erinnerungsorte/ [zuletzt aufgerufen am 5. 2. 2016]. 68 Vgl. die Publikation des Instituts für Stadtgeschichte Historische Spuren vor Ort. 69 Vgl. Brendow, Staritz. 70 Vgl. Schreiben Gotthelf Eisenbergs an die Autorin vom 22. 12. 2015. Zu Katharina Staritz vgl. Lindemann, Staritz; Schwçbel, Staritz.
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Gedenktafel für Katharina Staritz im Vorraum der Lukaskirche von Albertshausen (Foto Albrecht Härlin).
wissenschaftliche Aufarbeitung seit dem Ende der 1990er Jahre einen erheblichen Aufschwung nahm71. Die wissenschaftliche Initiative übernahm das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung mit seiner von 1996 bis 2004 publizierten siebenbändigen Reihe von Regionalstudien unter dem Titel „Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit“72. Die im Zusammenhang dieser Forschungen gesammelten Daten wurden zur Grundlage für den Aufbau der Gedenkstätte Stille Helden, die im Oktober 2008 in Berlin Mitte eröffnet wurde. Die Studien über den Rettungswiderstand für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus beeinflussten auch die Website des Rheinischen Geschichtsportals, die seit 2012 eine Online-Widerstandskarte (1933–1945) für das Rheinland und das Saarland anbietet. Hier verstehen sich die Verantwortlichen gleichzeitig als Erinnerungsakteure und Forscher. Ihr Ziel ist es, belastbares Material zur Verfügung zu stellen, mit dem sich die Errichtung neuer Gedenkorte für Persönlichkeiten des Widerstandes begründen lassen. Zugleich soll die Online-Widerstands-
71 Vgl. Benz, Erinnerung, 590. 72 Zur Charakterisierung der Bände vgl. Leichsenring, Rezension, 1, 6. Vgl. den Beitrag von Haigis in diesem Band.
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karte für sich stehen : als virtueller Gedenkort für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus73. Anfragen in Gemeinden und Kommunen, die sich auf die hier verzeichnete Übersicht zum Rettungswiderstand stützen, laufen jedoch häufig ins Leere, denn vielfach sind die jüngsten Forschungen bei den Erinnerungsakteuren in den Gemeinden noch nicht bekannt. Impulse vermag die Widerstandskarte des Rheinischen Geschichtsportals dennoch zu setzen. So wurde eine Frage an die Gemeinde Solingen-Dorp nach einem Gedenkort für den dortigen Pfarrer der Bekennenden Kirche, Johannes Lutze, der – laut Auskunft der OnlineWiderstandskarte – die Kinderärztin Dr. Erna Rüppel, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurde, 1942 im Keller seines Solinger Pfarrhauses versteckt hielt, dem Solinger Historiker Horst Sassin zugeleitet. Nicht zuletzt waren es Sassins eigene Publikationen, die Lutze einen Platz auf der OnlineWiderstandskarte in der Rubrik „Retter, Evangelisch“ gesichert hatten74. Motiviert durch die Anfrage wurde der Historiker selbst zum Erinnerungsakteur75. Auf seinen Vorschlag beschloss die Kirchengemeinde von SolingenDorp, eine Gedenkstele für Pfarrer Lutze an dessen Grab auf dem Evangelischen Friedhof neben der Dorper Kirche in Auftrag zu geben76. Der Text auf der Gedenktafel ist ein Auszug aus Lutzes Bußtagspredigt vom 17. November 1938, in der dieser in verschlüsselter Form, aber dennoch unmissverständlich, die Novemberpogrome kritisiert hatte. Im Kontext dazu steht die vom 8. Mai bis zum 29. Juni 2016 gezeigte Ausstellung zum 25. Todestag Lutzes in der Dorper Kirche mit dem Titel „Gott richtet ernste Flammenzeichen auf.“77
5. Fazit Der Katalog über Gedenkorte des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus versteht sich als Teil einer selbstkritischen Aufarbeitung kirchlicher Erinnerungsgeschichte nach 1945. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollen nicht nur vorhandene Gedenkorte, sondern auch die Ziele der jeweiligen Initiatoren von Gedenkorten für evangelischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus Eingang in den Katalog finden.
73 Vgl. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/Widerstandsliste.aspx [zuletzt aufgerufen am 2. 2. 2016]; vgl. den Beitrag von Rönz in diesem Band. 74 Vgl. Sassin, Überleben, 22. 75 Vgl. den Beitrag von Haigis in diesem Band, der den umgekehrten Fall schildert: Eine Gedenktafel an die Pfarrfrau Hildegard Spieth veranlasste ihn u. a. zu einem Buch über die württembergische Pfarrhauskette. 76 Vgl. die E-mail Horst Sassins an die Autorin vom 1. 12. 2014; Tewes, Dorper Gemeinde. 77 Evangelische Kirche in Solingen, 10.
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Gedenktafel für Johannes Lutze (Foto Horst Sassin). Inschrift: „Johannes Lutze * 8. Mai 1897 † 8. Mai 1991, Pfarrer an der Dorper Kirche 1932 bis 1968, Leiter der Bekennenden Kirche im Kirchenkreis Solingen seit 1934. Die Brüchigkeit der Welt, in der wir leben, wird offenbar. Gott geht mit seinem Gericht über die Lande hin. Gott richtet ernste Flammenzeichen auf. Gott ruft selbst: Tut Buße! Kehre um du Christenheit! So wir uns der Welt und ihren Ideen gleichschalten, so wir nicht mehr Unrecht Unrecht nennen und Lüge Lüge, so wir nicht mehr bereit sind, in der Nachfolge Jesu zu stehen bis hin zum Kreuz, dann sind wir wie schlecht gewordenes Salz und Gott wirft uns weg. Darum tut Buße! Buß- und Bettagspredigt am 17. November 1938 nach der Reichsprogromnacht“
Benennungen von Häusern, Straßen oder Plätzen werden zwar grundsätzlich nicht in den Katalog aufgenommen, sollen aber auch nicht unerwähnt bleiben, denn sie stehen häufig in kausalem Zusammenhang mit der Errichtung von Gedenkorten. Erwähnung sollen auch Gedenkkonflikte finden. Das Beispiel des Konflikts um die Gedenkbriefmarke für den protestantischen Autor August Winnig zeigt, dass es in den 1970er Jahren in führenden evangelischen Kreisen nicht mehr ohne weiteres möglich war, den Antisemitismus eines angesehenen evangelischen Autors wegen dessen vermeintlicher Opposition zum Nationalsozialismus zu bagatellisieren. Die bisherige Suche nach Gedenkorten des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus hat gezeigt, dass seit den 1990er Jahren Erinnerungskultur und historische Forschung eine zunehmend engere Verbindung eingehen. Gedenkorte werden ergänzt mit wissenschaftlich gesicherten Erläuterungen. Moralische Mahnung oder emotionale Überwältigung, auf die Gedenkstätten noch bis Ende der 1980er Jahre setzten, treten in den Hinter-
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grund zugunsten von „Auseinandersetzungs- und Lernorten“78. Die Erinnerungskultur verwissenschaftlicht sich. Ein Grund dafür ist das Sterben der Zeitzeugen, mit dem die familiäre oder milieubasierte Erinnerung zunehmend in den Hintergrund tritt. Zugleich unterliegt die Zeitgeschichtsforschung, insbesondere die Forschung zum Nationalsozialismus, selbst mächtigen erinnerungskulturellen Konjunkturen79. In Bezug auf den Nationalsozialismus werden Historiker deshalb nicht selten zu Erinnerungsakteuren mit einer moralischen Botschaft. Dies zeigen zentrale historische Projekte wie die wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Aufarbeitung des Rettungswiderstandes, aber auch die große Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“, in der die Herausgeber sich zwar explizit gegen einen politisch-pädagogischen Ansatz aussprechen und auf die eigene „neutrale“ und „nur chronologische“ Folge von Dokumenten hinweisen, gleichzeitig aber ihren Anspruch deutlich machen, nicht nur Quellen bereitstellen zu wollen, sondern darüber hinaus ein „Schriftdenkmal“ für die ermordeten Juden zu schaffen80.
I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) 2/2665 87/796 87/2395 87/2396 742/6 Stadtarchiv München Kommunalreferat Abgabe 80/3
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Behrens, Heidi: Welchen Beitrag gegen den Rechtsextremismus können Gedenkstätten für NS-Opfer heute leisten? In: GedenkstättenRundbrief 100 (2004), 56–62. 78 Vgl. Behrens, Beitrag, 59 f. 79 Vgl. Sabrow, Erinnerung, 10. 80 Vgl. Vorwort, 8.
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Helmut Rönz
Historiker und Gedenkakteure Das LVR-Projekt „Widerstand im Rheinland 1933–1945“ und der christliche Widerstand
1. Das Rheinland Das Rheinland war bis 1933 hinsichtlich Wahlen und Mitgliederentwicklung kein genuines Kerngebiet der nationalsozialistischen Bewegung. Die katholische Teilgesellschaft im Rheinland war bis 1933 – und auch danach – in weiten Teilen im Verbandskatholizismus verankert, oder diesem zumindest traditionell, zuweilen auch folkloristisch verbunden1. Die Wahlergebnisse der NSDAP waren im Vergleich zu anderen Regionen des Reiches auch bei der letzten vergleichsweise freien Wahl am 5. März 1933 relativ schwach2. Teilweise lagen sie um die 15 Prozent unter dem durchschnittlichen Niveau in protestantischen Gegenden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass dies an einer verspäteten Take-off-Phase der NS-Bewegung im Rheinland aufgrund der französischen Besatzung lag, wie Horst Wallraff in seiner Mikrostudie „Nationalsozialismus in den Kreisen Düren und Jülich“ konstatierte3. Zahlen aus anderen linksrheinischen Gebieten, etwa aus Koblenz4 und Trier5, sprechen gegen diese These. Über 1933 hinaus entsprach das Stimmverhalten im Rheinland, vor allem im katholischen und Arbeitermilieu, nicht den nationalsozialistischen Wünschen6. So etwa in Sonsbeck am Niederrhein, wo ein Kreisleiter 1934 nach der Volksabstimmung zur Nachfolge Hindenburgs durch Hitler beim Bürgermeister einer Gemeinde anfragte, warum dort nur 83 % für Hitler gestimmt hätten und ob es die Arbeiter gewesen seien, die sich der Zustimmung verweigert hatten. Der Bürgermeister meinte dann: „keine marxistische Wahlpropaganda, die allg. Lage ist ruhig. Trotz der größten Wahlpropaganda… sind hier 408 Nein-Stimmen abgegeben worden. Diese setzen sich haupt1 Zur außerordentlichen Stabilität der Wahlergebnisse der Zentrumspartei in katholisch geprägten Gegenden vgl. Falter, Wähler, 171 f. Falter versäumt dabei allerdings, das Rheinland bei seinen Aufzählungen der eher katholisch geprägten Gebiete mit aufzulisten. 2 Vgl. für die Wahlergebnisse der Reichstagswahl vom 6. November 1932, also unmittelbar vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, Weiss, Wahlen, 16 f., 31–34, 64–70. 3 Vgl. Wallraff, Nationalsozialismus, 26 f. 4 Vgl. Denzer, Stadt, 253–274. Zur demographischen Genese und für die faktischen Verhältnisse während der NS-Zeit, 274–276. 5 Vgl. Clemens, Trier, 157. 6 Vgl. insbesondere das Beispiel des Siegkreises Klein, Aufstieg, 152 f., 160.
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sächlich aus den Zentrumsbonzen zusammen. […] Jedenfalls kann mit Bestimmtheit gesagt werden, daß die 408 Lumpen nicht in den Kreisen der Arbeiterschaft zu suchen sind“7. Auch wenn das Wahlverhalten von Milieus nicht zwangsläufig Aussagen über widerständiges und oppositionelles Verhalten trifft, zeigt es doch, wie Milieustrukturen über das Jahr 1933 hinaus fortwirkten bzw. Milieus sich dem Gleichschaltungszwang teilweise entzogen und zumindest ansatzweise oppositionelles Verhalten provozierten8. Es zeigt, dass Milieu oder Wertebindung keinen Widerstand geschaffen haben, aber trotzdem wichtige Hintergründe für widerständiges Handeln sein konnten. Agierten Arbeiterschaft, Gewerkschaften und Kirche auch nach 1933 im Rheinland teilweise geschlossen, teilweise „zwischen pragmatischer Befürwortung, Anpassung und Widersetzlichkeit“9 gegenüber der NS-Diktatur, so gab es auch Organisationen und Gruppierungen, Milieus und Teilgesellschaften, die aufgrund ihrer Geschichte und Struktur anfälliger für nationalsozialistische Einbrüche waren. Dennoch bildeten sich schon bald nach der Machtergreifung vielerorts „nonkonforme Bünde“, die sich aus unterschiedlichen Motiven und Motivationen speisten. Betrachtet man die Erscheinungsformen des Widerstandes im Rheinland eingehender, offenbaren sich dessen zahlreiche Facetten. Diese erforscht das Projekt „Widerstand im Rheinland 1933–1945“ seit 2011 qualitativ und quantitativ.
2. Methode und Darstellung 2.1 Raum Die Aufarbeitung von Opposition und Widerstand am Rhein erfolgt im Portal Rheinische Geschichte10. Im Zentrum steht eine „Widerstandskarte“11. Die Karte wurde nach folgenden Gesichtspunkten erstellt: Unter „Herkunft/Ort des Widerstands“ wird der örtliche Schwerpunkt der widerständigen Aktivitäten erfasst. Es kann ein Ort oder eine Stadt sein, aber auch eine Region, ein Landkreis oder nur ein Stadtbezirk. Den Nutzerinnen und Nutzern wird die Suche in der vom Projekt zur Verfügung gestellten Datenbank erleichtert, indem man dort sowohl nach dem Bundesland, dem Landkreis (bzw. der 7 Gemeindearchiv Sonsbeck, B89, p. 123–125. 8 Vgl. Falter, Wähler, 186 f. 9 http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/home.aspx [zuletzt aufgerufen am 15. 3. 2016]. 10 Das Portal Rheinische Geschichte ist ein autorenbasiertes wissenschaftliches Medium, das dem Nutzer ein thematisch und chronologisch umfassendes Informationssystem zur rheinischen Geschichte bietet. 11 http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Widerstandskarte/Seiten/Widerstandskarte.aspx [zuletzt aufgerufen am 15. 3. 2016].
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kreisfreien Stadt) als auch nach der Gemeinde, sogar nach dem Stadtteil suchen kann12. Für die Bearbeiter ist die Erstellung einer solchen Karte immer dann problematisch, wenn Widerstandsaktionen, vor allem der Retterwiderstand, nicht nur auf das Rheinland begrenzt waren, sondern reichsweit stattfanden. Ein Beispiel dafür ist die Rettungsaktion der Familie Bernauer durch Katharina (Käthe) Overath13, geborene Meier, deren Geschichte zu den prominenteren Fällen des Retterwiderstandes gehört. Das Ehepaar Bernauer, Freunde und Nachbarn der Meiers, wurde 1944 in das KZ-Durchgangslager Köln-Müngersdorf gebracht, um als Mischehepaar von dort nach Polen deportiert zu werden. Katharina ging daraufhin zum Tor des Lagers, wovor einige SS-Wachmänner Posten bezogen hatten. Die SSLeute flirteten mit ihr und luden sie ein, abends mit ihnen auszugehen. Sie sagte zu, meinte jedoch, dass sie nun keine Zeit mehr habe, da ihre Eltern in der Küche des Durchgangslagers arbeiteten und sie zu ihnen müsse. Die SSLeute ließen sie daraufhin tatsächlich durch. Sie griff sich die beiden Bernauers, ging mit ihnen ans Tor und behauptete gegenüber den SS-Leuten, dies seien ihre Eltern. Die SS-Männer dachten sich nichts dabei und ließen Katharina mitsamt dem Ehepaar Bernauer passieren. Die beiden wurden anschließend bei verschiedenen Familien in Köln und Umgebung bis Kriegsende versteckt, zuletzt auf einem einsamen Bauernhof in Wahlscheid. Katharina Meier war damals 18 Jahre alt. Ihr Vater war ein bekannter Zentrumsmann und als solcher stand er unter Beobachtung, wenn er Heimaturlaub von der Front hatte. Daher mussten ständig neue Verstecke gefunden werden, um die Bernauers vor einer Entdeckung zu bewahren. Insofern ist bei diesem Fall eben nicht nur Müngersdorf und dann das Wohnhaus der Meiers aufgeführt, sondern auch das Bauernhaus und die anderen Verstecke14. 2.2 Positionierungen Ein weiterer wichtiger Aspekt, der bei dem vorgenannten Fall eine Rolle spielte, ist die historische Zuordnung von Widerstand. Folgende Kategorien haben sich bisher bewährt: Alltag, Arbeiterwiderstand, Bibelforscher, Bürgerlich, Evangelisch, Freikirchlich, Gewerkschaftlich, Jüdisch, Jugend, Katholisch, Kommunistisch, Liberal, Militärisch, Retter, Sonstiges, Sozialdemokratisch und Verwaltung. Dabei sind auch Mehrfachzuweisungen möglich. So wird beispielsweise ein christlicher Gewerkschafter sowohl dem gewerkschaftlichen als auch dem christlichen Widerstand zugerechnet. Dieses Einteilungssystem wird der Le12 Ebd. 13 Vgl. Weeg / Hirzel, Lichtblicke. 14 Vgl. Fraenkel / Borut, Lexikon, 193 f.
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benswirklichkeit der Menschen eher gerecht, als starre voneinander isolierte Kategorien. Dies wird anhand eines Beispiels aus dem akademischen Raum deutlich: Benedikt Schmittmann, einer der wenigen Gegner des Nationalsozialismus an der früh gleichgeschalteten Universität zu Köln, sah sich nach eigenen Aussagen als Christ verpflichtet, gegen das NS-Regime Widerstand zu leisten15. In seinen Gestapoakten in Berlin steht als Verhaftungsgrund lediglich: Separatist. Übernähme man diese Reduktion aus den Gestapoakten, würde man Schmittmann und seinen Motiven nicht gerecht. Wie verworren und vielfältig Vorstellungen und Beweggründe von widerständigem Verhalten oder Widerstand sein konnten, zeigt auch eine andere Geschichte: Eine kommunistische Widerstandsgruppe in Düsseldorf wurde zeitweise von einem Kaplan geleitet. Wie es dazu kam, dass sich eigentlich voneinander separierte Milieus derart untypisch kreuzten, verdeutlicht der Bericht eines Auschwitzüberlebenden: Der jüdische Gemeindevorsteher von Koblenz, Dr. Heinz Kahn, war von bürgerlicher Herkunft und schloss sich in Auschwitz dem kommunistischen Widerstand an. Auf die Frage, ob er damals etwa Kommunist gewesen sei, antwortete er : „Nein, aber die Kommunisten waren am besten organisiert. Und der Feind meines Feindes ist mein Freund.“16 Solche Beispiele zeigen, dass es vermutlich mehr Mischformen der Opposition als genuin attribuierten Widerstand gegeben hat. Zudem erlauben die amtlich dokumentierten Fälle von widerständigem Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus kaum Rückschlüsse auf die persönlichen Motive des Einzelnen. Daher sind Opferquellen, also Selbstzeugnisse wie rückblickende Zeitzeugenberichte oder Tagebücher, die den Vorteil haben, nicht von nachträglichen Werthaltungen und Erkenntnissen verfälscht worden zu sein, von hohem Interesse. Doch zumeist liegen lediglich die Täterquellen vor17, was dazu zwingt, vor allem die Sicht der Täter auf die Opposition der Menschen anzunehmen. 2.3 Chronologie Zwischen 1933 und 1938 wurden zahlreiche Vergehen anders bewertet und beurteilt als während des Krieges. Manche Formen der Verweigerung, etwa im Retterwiderstand, wurden erst dann virulent, als der NS-Staat von verdeckter zu offener Kriminalität überging18. Auch waren einige Gruppen kontinuierlich 15 Vgl. Stehk-mper, Schmittmann, 199 f. 16 Zeitzeugengespräch vom 23. 3. 2011. 17 Vornehmlich in Form von Prozess-, Straf-, Ermittlungs- und sonstigen Akten, die von den Strafund Verfolgungsbehörden der Nationalsozialisten während der NS-Herrschaft angelegt wurden. 18 Vgl. Kershaw, Hitler, 486 f.; hier ist insbesondere die Reichspogromnacht hervorzuheben, als
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aktiv und andere, vor allem Einzelpersonen, traten nur in bestimmten Situationen in Erscheinung. Dieses Phänomen findet man oft beim Retterwiderstand; aber auch der konfessionelle Widerstand zeigt vermehrt dieses Muster. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Fälle des Mitleids und des Mitleidens mit den Opfern der Gestapo und Polizei. Es sind aber auch solche Fälle der Renitenz und des Kampfes um Selbstbehauptung, die häufig weniger prononciert als „Konfliktfälle“ bezeichnet werden. Es sind Fälle wie jener um den Zentrumsmann Mohr aus Leutesdorf, der vermutlich von SA-Schergen des Landrates von Neuwied in einem Wald bei Leutesdorf umgebracht wurde. Auf dem Totenschein stand Suizid. Das glaubte niemand im Dorf, und der dortige Pfarrer setzte ein klassisches Konfliktzeichen: Er beerdigte den toten Zentrumsmann mit allen liturgischen Ehren und geleitete den Leichnam psalmodierend an sein Ehrengrab auf dem kirchlichen Friedhof, nahe der Priestergräber, obgleich Selbstmörder nicht nach katholischem Ritual beerdigt werden durften. Genuin jüdischen Widerstand hat es im Rheinland wohl nicht gegeben. Dies hat auch und vor allem damit zu tun hat, dass viele jüdischgläubige Deutsche bis zur Flucht oder der Deportation die Hoffnung hegten, dass es so schlimm schon nicht werden würde19 – oder dass sich die massiv verschlechterte Situation durch Geduld aussitzen ließe20. Diejenigen Juden, die sich doch anderorts widerständig verhielten, schlossen sich meistens kommunistischen Gruppierungen an. Der bereits erwähnte Tierarzt Heinz Kahn, der sich in Auschwitz den Kommunisten anschloss und in Buchenwald die Gruppe um Eugen Kogon unterstützte, ist das wohl berühmteste Beispiel dafür21.
3. Arbeitsweise und -schwerpunkte Die Arbeit im Rahmen des Projektes „Widerstand im Rheinland 1933–1945“ lebt von der empirischen Breite und der Grundlagenarbeit in den Archiven. Bisher wurden insgesamt 22.000 Wiedergutmachungs- und Entschädigungsakten und die üblichen Quellen und Bestände für diese Region eingesehen22. Bei der Bearbeitung der Akten fällt immer wieder auf, wie stark die Wiedergutmachungskommissionen, die sich zum Beispiel an der Saar aus Christund Sozialdemokraten sowie Kommunisten zusammensetzten, aufeinander Rücksicht nahmen. Auf den feindsenderhörenden Kaplan wird ebenso ein
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„Deutschland in einer Orgie elementarer Gewalttätigkeit gegen die jüdische Minderheit entflammte.“ (Ebd.). Vgl. Clemens, Trier, 158. Vgl. Friedl-nder, Juden, 24, 75 f. Vgl. Anm. 16; Kahn, Erlebnisse, 641. Beispielhaft genannt seien: Landeshauptarchiv Koblenz, 403/475; Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, RW 58/Rep. 112.
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Hymnus verfasst wie auf den Bergmann, der sich gegen den Anschluss ausgesprochen hatte. Der Individualist, der Einzelkämpfer an der politischen, später gar militärischen Front ohne politische Rückendeckung, wie auch der Retter, hatten es da schwerer. Eine geschlechtergeschichtliche Untersuchung dieser Quellen ist bislang ein Desiderat, wäre jedoch eine lohnenswerte Aufgabe. Die Ungleichbehandlung der Geschlechter bei der Bemessung der Wiedergutmachung ist offensichtlich, wie der Fall einer Frau aus dem Saarland veranschaulicht: Die Bahnschaffnerin in Lothringen legte sich mit der SS an, kam ins KZ und verstarb in Ravensbrück. Der Antrag der Hinterbliebenen wurde mit der Begründung, sie hätte sich der SS gegenüber auch anders verhalten können und sei hysterisch gewesen, abgelehnt. Gerade in diesen Fällen folgt das Widerstandsprojekt der Einschätzung der Kommissionen nicht. Insofern leistet das Internetprojekt „Widerstand im Rheinland 1933–1945“, wenn auch nur auf dem Papier und im virtuellen Raum, ein Stück Rehabilitationsarbeit. Wie eingangs schon erwähnt, war der Widerstand im Rheinland breit gefächert. Bisher ist die Forschung in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier, an der Saar und im Regierungsbezirk Aachen weitgehend abgeschlossen. Zudem besteht eine Zusammenarbeit mit der Stiftung „Gegen das Vergessen“ sowie mit dem Sonderprojekt „Gestapo Trier und Luxemburg“ des Trierer Historikers Thomas Grotum. Es gibt Schwerpunktgebiete für die unterschiedlichen Arten und Formen des Widerstands wie auch zeitliche Unterschiede und Schwankungen. Während die Rettung eines Menschen erst zu einem späteren Zeitpunkt wirklich virulent wurde, verlagerte sich die Untergrundarbeit der Kommunisten meist auf die ersten Jahre nach der Machtübernahme.
4. Konfessioneller Widerstand Das Rheinland war eine mehrheitlich durch die katholische Teilgesellschaft geprägte Region. Allerdings gab es auch Gegenden, die überwiegend von evangelischen Christen, vor allem unierter Provenienz, geprägt waren – wie etwa das Bergische Land, Teile des Saarlandes und des Hunsrücks, der Ruhrregion und des wiedischen Raumes. Vor allem dort findet man evangelisch motivierten Widerstand vor. Allerdings gab es auch in diesen mehrheitlich evangelisch geprägten Räumen sowie in den Mischgebieten mit katholischen und evangelischen Bevölkerungsanteilen durchaus Schwerpunkte protestantischer Resistenz, die nicht alle strukturell erklärbar sind, sondern vom Engagement einzelner protestantischer Persönlichkeiten abhingen. So lag ein Schwerpunkt des Kirchenkampfs im wiedischen Raum sowie an Ruhr und Wupper, während die Saar, welche allerdings erst 1935 an das Reich kam, nur wenige Fälle von Widerstand evangelischer Provenienz anzubieten
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hatte – wenn auch dafür durchaus prominente23. Genannt werden müssen in diesem Zusammenhang etwa Philipp Bleek und Otto Wehr, die als führende Köpfe der Bekennenden Kirche an der Saar mehrfach gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik protestierten. Im Folgenden sollen Beispiele aus dem evangelischen Widerstand erörtert werden, die erst durch die Archivrecherche für das Internetprojekt „Widerstand im Rheinland 1933–1945“ bekannt geworden sind. Sie lassen Konturen widerständigen Handelns deutlich werden, die erst in jüngster Zeit größere Beachtung in der historischen Forschung fanden24. Pfarrer Heinrich Held gehörte mit seinem Freund, Pfarrer Johannes Böttcher, zu den führenden Personen der Bekennenden Kirche in Essen. Als Pfarrer Hans Joachim Iwand aus Dortmund ihn im September 1944 bat, den nach den Nürnberger Gesetzen als Jude geltenden Landgerichtsrat Hans Werner Perls aufzunehmen, zögerte Held nicht. Bislang war Perls dank seiner Ehe mit einer Nichtjüdin von den Deportationen verschont geblieben, sollte aber im September 1944 letztlich doch noch deportiert werden. Die Familie Held versteckte ihn drei Monate in ihrem Keller, bevor sie ihn wegen der immer häufigeren Luftangriffe Ende Dezember in ein Versteck auf dem Land brachte25. Am 9. Juli 2003 erkannte die Gedenkstätte Yad Vashem Heinrich Held als „Gerechten unter den Völkern“ an26. Doch Held trat nicht nur als Retter in Erscheinung, sondern auch als Prediger, der im Gegensatz zum Regime und vor allem zu den Deutschen Christen stand27. Die Rettung von Juden vollzog sich zuweilen auch außerhalb geistlicher Anleitung, wie das Beispiel des Godesheims zeigt: Als Ernst Horn, dem eine Nähe zu nationalkonservativem Gedankengut nachgesagt wurde, das evangelische Kinderheim Godesheim übernahm, versuchte er, die Distanz zum NSRegime zu wahren. Die eigene HJ-Gruppe im Heim enthob die Kinder von der Pflicht, zur HJ nach Bad Godesberg zu gehen. Die Führung der HJ-Gruppe übernahm Horns Sohn. Unterrichtet wurden die Kinder in der heimeigenen Volksschule. Diese Isolation begünstigte die Aufnahme jüdischer Kinder in das Kinderheim. Zwischen sechs und zwölf Kinder wurden so ständig vor dem Zugriff der NS-Behörden geschützt28. Solche Fälle kamen in konfessionellen Kreisen offenbar häufiger vor als etwa in Kreisen des politischen Widerstandes. Kommunisten betätigten sich z. B. nur selten im Retterbereich, da sie im Falle der Enttarnung zu fürchten hatten, ihre Schützlinge ebenfalls preisgeben zu müssen. Widerständiges Verhalten von evangelischen Pfarrern war auch innerhalb 23 Vgl. Menster, Widerstand; Osenberg, „Staatsfeind“; Conrad, Otto Wehr. 24 Vgl. die Berliner „Gedenkstätte Stille Helden. Widerstand gegen die Judenverfolgung 1933–1945“. 25 Vgl. Lekebusch, Not, 179–194. 26 Vgl. Fraenkel / Borut, Lexikon, 143 f. 27 Vgl. Held, Geduld, 40. 28 Vgl. Lekebusch, Not, 152–154.
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der kirchlichen Öffentlichkeit zu finden. So verweigerte der evangelische Pfarrer Johann Wilhelm Gräber aus Anhausen im Kreis Neuwied am 7. April 1935, entgegen der Anweisung der Landeskirche, seine Kirchenglocken vor dem Gottesdienst erklingen zu lassen. Im überwachten Gottesdienst sagte er dann, er habe das Läuten anlässlich der Trauer um die gemaßregelten Pfarrer aus Hessen-Nassau unterlassen29. In der Landeskirche Hessen-Nassau waren zuvor insgesamt sechs evangelische Pfarrer im Zuge des Kirchenkampfs festgenommen und nach Dachau gebracht worden. Dies – so erläuterte er in seiner Predigt – sei als Zeichen der Trauer für die übrigen in Dachau eingesperrten Brüder zu verstehen. Gräber war mit dieser Aktion nicht allein. Im Kreis Neuwied taten es ihm mindestens vier Geistliche gleich30. Kritiker beurteilen dieses Verhalten vor allem als „Milieuegoismus“31. Dabei kann es ebenso als Konfliktzeichen gedeutet werden, das sich die gegebenen Möglichkeiten eines Pfarrers zunutze machte. Der Fall des evangelischen Pfarrers Gräber zeigt aber auch, dass der Einsatz für die eigenen Leute durchaus auch in grundsätzliche Kritik am Regime münden konnte. Am 22. September 1935 breitete Pfarrer Gräber während der Predigt die zum Reichsparteitag erschienene Sondernummer des „Stürmers“ vom 3. September 1935 aus und verlas die Überschrift „Menschenmörder von Anfang an“. In der anlässlich der Nürnberger Gesetzte veröffentlichten Sondernummer geißelte Julius Streicher die „jüdischen Revolutionen vom Altertum bis zur Jetztzeit“. Die Überschrift, fuhr Gräber fort, sei auch ein Angriff gegen das Christentum, weil Moses der Diener Gottes gewesen sei und von diesem die heiligen Zehn Gebote empfangen habe. Er müsse daher davon abraten, diese Sondernummer zu kaufen oder zu verkaufen. Am Nachmittag des gleichen Tages hielt Pfarrer Gräber einen Vortrag in der Kirche über das Thema „Der Kampf gegen den christlichen Glauben und unsere Antwort.“ Bei seinen Ausführungen erhob Gräber schwere Vorwürfe gegen die Reichsleiter Alfred Rosenberg und Dr. Robert Ley. Über Rosenberg hieß es, dieser schreibe nachgewiesenermaßen oberflächlich und leichtfertig, zitiere die Bibel falsch und lehne die Gestalt Christi mit schmählichen Ausdrücken ab. Dr. Ley dagegen stelle Christentum und Marxismus gleich. Die Gestapo ermittelte daraufhin gegen Gräber32. Dieser Fall ist exemplarisch für eine ganze Reihe ähnlicher Fälle in beiden großen Konfessionen, in denen von den Kanzeln der Kirchen Kritik am NSRegime, vor allem an dessen Antisemitismus, geübt wurde. Dies schließt nicht aus, dass die grundsätzliche Kritik an den Machthabern auch angetrieben sein
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Vgl. Landeshauptarchiv Koblenz 475, Nr. 1620. Vgl. Dietz, Neuwied, 336. Vgl. z. B. Blaschke, Dämon, 45. Vgl. Landeshauptarchiv Koblenz 475, Nr. 1639; ebd. 441, Nr. 28239, p. 165.
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konnte vom Kampf um den Erhalt und die gesellschaftliche Selbstbehauptung der Kirchen im Nationalsozialismus. Es lässt sich, entgegen früherer Mutmaßungen, durchaus sagen, dass der christliche Widerstand überkonfessionell ähnliche Stoßrichtungen aufwies, die sich insbesondere in den Protesten gegen die Aktion T4 widerspiegelten33. Der Unterschied zwischen den Konfessionen war lediglich, dass die Protestanten mit den Deutschen Christen den Feind im eigenen Haus hatten. Es finden sich auch Fälle von ökumenischer Zusammenarbeit in der Opposition gegen das NS-Regime, wie einige Beispiele vom Niederrhein zeigen – so etwa die Geschichte über den Sonsbecker Pfarrer Paulus Schröder, die später zu einem Narrativ der Gemeinsamkeit im Glauben und Feiern in dieser Gemeinde werden sollte. Schröder war bereits seit 1934 einer der fünf Bekennenden Pfarrer der Klevischen Synode. Häufig bezog er Stellung gegenüber dem NS-Regime; beispielsweise als er sich weigerte, konfessionslose NSDAP-Mitglieder auf dem evangelischen Friedhof beizusetzen. Doch die Angst um seinen behinderten Sohn, den Schröder durch die Euthanasiegesetze bedroht sah, bremste seine Bereitschaft zum öffentlichen Protest. Hier „half“ zuweilen der katholische Pfarrer Wilhelm Bültjes aus34. Andererseits lässt sich festhalten, dass es sich um eine verschwindend geringe Minderheit handelte, die sich bestimmten Maßnahmen und Erwartungen des NS-Regimes verweigerten. Es waren vor allem die Aktiven vor Ort – je höher eine Ebene in der kirchlichen Hierarchie war, desto mehr nahm die Bereitschaft zur Opposition ab und machte Platz für die Kirchendiplomatie.
5. Gedenkkultur Im Internet und den Sozialen Medien ist es inzwischen üblich, den Schicksalen von Toten, Opfern und Helden zu gedenken; die Art und Weise, wie dies umgesetzt wird, ist nicht zuletzt auch eine Frage des Geschmacks. Der Übergang vom Nach- und Andenken zum ritualisierten Gedenken ist dabei fließend. Bei der Errichtung eines virtuellen, interaktiven Gedenkortes für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus wirkten die Projektmitarbeiter auch als „Erinnerungsakteure“35. Insofern zeigt und zeigte die Rezeption des LVR-Projektes „Widerstand im Rheinland 1933–1945“, dass die empirische Grundlagenforschung oftmals auch zugleich Gedenkarbeit ist. Der erste Zweck, den das Projekt verfolgt, ist neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse – immerhin entstanden auf Grundlage des Projektes 33 Vgl. ebd., 584,1, Nr. 304; Becker, Christen, 485. 34 Vgl. Rçnz, Kirchengemeinde, 99; Rçnz, Kirchen, 271. 35 Bedeutung der Wissenschaft bei der Errichtung eines Gedenkortes vgl. den Beitrag von Pöpping in diesem Band.
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schon zahlreiche MA- und BA-Arbeiten – eine Grundlage für das regionale Andenken zu bieten. Die Widerstandskarte und die Datenbank mögen zwar auch als virtueller Gedenkort gelten, aber vielmehr sollen sie Hilfen zur Verfügung stellen, die es möglich machen, Orte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus überhaupt erst zu entdecken, um sie in anschließenden Schritten zu Gedenkorten auszubauen. An Schulen kommt die Widerstandskarte schon zum Einsatz, und häufig stellen Lehrer Anfragen, ob die Projektleitung auch didaktische Handreichungen bereitstellen könne. Weiterhin zeigt sich ein kontinuierliches öffentliches Interesse in etwa einhundert rheinauf-rheinab von Projektmitarbeitern gehaltenen Vorträgen in Gedenkstätten, Museen, Geschichtsvereinen, bei Tagungen sowie in den Kommunen, die das Widerstandsprojekt als Möglichkeit erkannt haben, ihre eigene Gedenkkultur neu zu justieren.
I. Unveröffentlichte Quellen Gemeindearchiv Sonsbeck B89 Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) Bestand 441 Nr. 28239 Bestand 475 Nr. 1620 Nr. 1639
II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Becker, Winfried: Christen und der Widerstand. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Hummel / Kösters, Kirchen im Krieg, 473–492. Blaschke, Olaf (Hg.): Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002. –: Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen. In: ders., Konfessionen, 13–70. Boberach, Heinz: Nationalsozialistische Diktatur, Nachkriegszeit und Gegenwart. In: Geschichte der Stadt Koblenz. Bd. 2. Stuttgart 1993. 170–223. Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. Köln 1993. Clemens, Gabriele / Clemens, Lukas: Geschichte der Stadt Trier. München 2007.
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Helmut Rönz
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Hans-Walter Schmuhl
Heroisierung, Skandalisierung, Historisierung Die NS-„Euthanasie“ in der Erinnerungskultur diakonischer Einrichtungen
Seit fast siebzig Jahren ist der Massenmord an psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft Gegenstand der Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik in Deutschland – man kann wohl mit Recht sagen, dass der Umgang mit der NS-„Euthanasie“ selbst schon ein Stück deutscher Zeitgeschichte geworden ist und allmählich auch als Thema zeitgeschichtlicher Forschung entdeckt wird. Versucht man, diese sieben Jahrzehnte der Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik in Phasen einzuteilen und so zu einer Periodisierung zu gelangen, wird rasch eine eigentümliche Wellenbewegung sichtbar1. Ein erster Wellenkamm ist bereits in den Jahren von 1945 bis 1949 zu erkennen – zu dieser Zeit wurde, getragen vor allem von Außenseitern aus den Psychowissenschaften – ein erster ernsthafter Versuch unternommen, das Geschehen im „Dritten Reich“ zu dokumentieren, zu interpretieren und zu bewerten. Dann folgte in den 1950er Jahren ein tiefes Wellental. In diesem Jahrzehnt der gesellschaftlichen „Stille“2 geriet die NS-„Euthanasie“ fast völlig in Vergessenheit, fiel auch das Reflexionsniveau der wenigen noch im Druck erscheinenden Beiträge weit hinter den Ende der 1940er Jahre bereits erreichten Stand zurück. Erst seit Beginn der 1960er Jahre baute sich allmählich ein neuer Wellenberg auf. Hier zeichnete sich bereits der gesellschaftliche Aufbruch und Umbruch von 1968 ab, der dann auf dem Feld der Psychiatrie in den 1970er Jahren in einen langfristigen Reformprozess einmündete, in dessen Gefolge seit den 1980er Jahren eine regelrechte Flut neuer, kritischer Forschungen zur NS-„Euthanasie“ erschien. Erst seit Mitte der 1980er Jahre ist das historische Faktum des Massenmordes an psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen im Nationalsozialismus im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit präsent. Im Folgenden möchte ich diesen Gezeitenwechsel mit groben Strichen nachzeichnen, wobei der Fokus auf der Erinnerungskultur der Diakonie liegen soll – denn die Beschäftigung mit der NS-„Euthanasie“ warf natürlich von Anfang an auch die Frage auf, was die evangelische und katholische Kirche, Diakonie und Caritas, getan hatten, um die ihnen anvertrauten kranken und behinderten Menschen zu schützen.
1 Vgl. Schmuhl, Mord; Kaminsky, NS-„Euthanasie“; und Roelcke, Trauma. 2 Lebbe, Nationalsozialismus, 334; vgl. auch: Schildt, Durchsetzung.
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Hans-Walter Schmuhl
1. 1945–1949 Die Publikationen, die in den ersten Jahren nach Kriegsende erschienen, vor allem die Veröffentlichungen im Umfeld des Nürnberger Ärzteprozesses 1946/ 47, sind Ausdruck einer intensiven Auseinandersetzung mit dem ungeheuerlichen Staatsverbrechen der „Euthanasie“ und des Willens zu einem grundlegenden Neuanfang. Das Schicksal dieser Veröffentlichungen zeigt aber auch, dass der Versuch einer kritischen Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ auf große Widerstände vor allem in der Medizin stieß. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern die Leitung der Deutschen Ärztekommission übernommen hatte, die den Nürnberger Ärzteprozess beobachten sollte, gab noch während des Prozesses gemeinsam mit seinem Mitarbeiter, dem Medizinstudenten Fred Mielke, eine Broschüre mit dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung“ heraus, in der Schlüsseldokumente zu den in Nürnberg verhandelten Medizinverbrechen präsentiert wurden. Obwohl diese Schrift in der Ärzteschaft als Nestbeschmutzung heftig angefeindet wurde, beauftragte der 51. Deutsche Ärztetag im Oktober 1948 die Verfasser, einen ausführlichen Abschlussbericht vorzulegen. Dieser erschien unter dem Titel „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ im Jahre 1949 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren, die für den Gebrauch der Ärztekammern bestimmt waren. Im Gegensatz zur ersten Fassung wurde diese Veröffentlichung in der Ärzteschaft totgeschwiegen – das Buch verschwand ganz einfach in der Versenkung. Erst die Neuausgabe im Jahre 1960 – nunmehr unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ – fand in der Öffentlichkeit weitere Verbreitung3. Ganz ähnlich erging es der Ärztin Alice Platen-Hallermund, die ebenfalls Mitglied der Deutschen Ärztekommission beim Nürnberger Ärzteprozess gewesen war und 1948 mit dem Buch „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ die erste, über zwei Jahrzehnte hinweg einzige und auch danach noch einige Zeit unübertroffene Gesamtdarstellung im deutschen Sprachraum vorlegte. Über Jahrzehnte war das Buch aus den Regalen der deutschen Bibliotheken nahezu verschwunden und für Interessierte kaum greifbar. Erst durch den Reprint im Jahre 1993 wurde es für breitere Leserschichten erreichbar4. Noch bezeichnender ist das Schicksal eines dritten Textes, der in diesem Zeitraum entstand. Der Psychiater Gerhard Schmidt wurde im Juni 1945 von der amerikanischen Besatzungsbehörde zum Kommissarischen Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar bei München berufen. Er verfasste einen Bericht mit dem Titel „Selektion in der Heilanstalt 1939–1945“, der einerseits bereits quantifizierende Daten, etwa zu den Selektionskriterien, bot, andererseits – besonders wertvoll – in Form von 3 Vgl. Mitscherlich / Mielke, Diktat; dies., Wissenschaft; und dies., Medizin. Dazu ausführlich: Peter, Ärzteprozess. 4 Vgl. Platen-Hallermund, Tötung; Schleter, Leben.
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Interviews mit überlebenden Patienten Einblicke in die Erlebniswelten der Gequälten und Gedemütigten gab. Obwohl diese Studie bereits 1946 fertig gestellt wurde, fand sich erst 1965 ein Verleger zur Veröffentlichung bereit, da führende Psychiater, selbst solche, die der Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus völlig unverdächtig waren, sich gegen die Veröffentlichung aussprachen5. Erst 1983 wurde die Studie von Schmidt als Taschenbuch neu herausgegeben und fand endlich die verdiente Beachtung. 2012 folgte dann, jetzt initiiert und finanziert von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, eine Neuausgabe6. In der unmittelbaren Nachkriegszeit meldeten sich auch schon Stimmen aus der Diakonie zu Wort. So brachte die Zeitschrift „Die Innere Mission“ im Jahre 1947 einen Schwerpunkt zur NS-„Euthanasie“. Dabei stand ein Text von Paul Gerhard Braune mit dem Titel „Der Kampf der Inneren Mission gegen die Euthanasie“ am Anfang. Darin schilderte der Leiter der Hoffnungstaler Anstalten und Vizepräsident des Central-Ausschusses für Innere Mission – unter Einbeziehung von Originaldokumenten – die Verhandlungen, die er gemeinsam mit Friedrich v. Bodelschwingh d. J., dem Leiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, im Sommer 1940 mit der Reichskanzlei, dem Reichsinnen- und dem Reichsjustizministerium sowie dem Oberkommando der Wehrmacht geführt hatte7. Es schloss sich ein Abdruck der inzwischen berühmt gewordenen Denkschrift für Adolf Hitler an, die Paul Gerhard Braune im Juli 1940 der Reichskanzlei hatte zukommen lassen – und die zur Inhaftierung Braunes durch die Gestapo von August bis Oktober 1940 geführt hatte8. Ferner brachte „Die Innere Mission“ an dieser Stelle das Protestschreiben des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm an Reichsinnenminister Wilhelm Frick vom 19. Juli 1940 sowie das Protestschreiben des – in der Bekennenden Kirche aktiven – Amtsrichters Lothar Kreyssig an den Reichsjustizminister Franz Gürtner vom 8. Juli 1940 zum Abdruck9. Liest man die Texte des Themenschwerpunktes für sich, ergibt sich ein Bild entschiedenen Widerstandes. Danach legten die verantwortlichen Persönlichkeiten in evangelischer Kirche und Diakonie, sobald sie von den Verlegungen im Rahmen der „Aktion T4“ Kenntnis erhielten, als Anwälte der ihnen anvertrauten kranken und behinderten Menschen energisch Protest gegen diese Überschreitung des Fünften Gebots ein, unter Inkaufnahme eines hohen persönlichen Risikos, ausgehend von einer festen theologischen Basis. Über den Erfolg dieser Proteste erfährt der Leser an dieser Stelle nur, dass aus Bethel 5 6 7 8 9
Vgl. Blasius, Mord, 54. Vgl. Schmidt, Selektion. Vgl. zusammenfassend: Benad, Einsatz. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. Cantow, Krankenmorde. Vgl. Die Innere Mission 37 (1947), 12–23 (Braune, Kampf), 23–34 (Denkschrift Braunes), 35–39 (Brief Theophil Wurms), 40–43 (Brief Lothar Kreyssigs). Wiederabdruck bei v. Hase, Dokumente.
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und Lobetal keine Verlegungen erfolgt seien (die jüdischen Opfer hatte man damals noch nicht im Blick) – verfügte man über keine zusätzlichen Informationen, so konnte sogar der Eindruck entstehen, als seien die Einrichtungen der Inneren Mission aufgrund des geschilderten Widerstandes von der „Euthanasie“ gänzlich verschont geblieben. Dagegen machte Pastor Ludwig Schlaich, der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Stetten in Württemberg, in seiner kurz darauf, im September 1947, veröffentlichten Schrift „Lebensunwert?“ aus der Verschleppung einer großen Zahl von Patientinnen und Patienten aus Stetten, den übrigen Einrichtungen der Inneren Mission in Württemberg und auch in anderen Teilen des Deutschen Reiches kein Hehl. Aber auch er stellte es so dar, dass Leitungen der württembergischen Anstalten, der Landesverband der Inneren Mission und der Evangelische Oberkirchenrat Württembergs eine geschlossene Abwehrfront gebildet hätten, die letztlich aber der Gewalt habe weichen müssen – wobei Schlaich hervorhob, dass die württembergischen Landesbehörden mit besonderer Radikalität vorgingen, so dass man hier – anders als etwa in Westfalen – nur wenige „Pfleglinge“ habe retten können10. Aus heutiger Sicht ist unschwer zu erkennen, wo die „blinden Flecken“ dieses Narrativs liegen. Die Begeisterung, mit der große Teile der Inneren Mission die nationalsozialistische Machtübernahme begrüßt hatten, die weitgehende Übereinstimmung mit der Politik der neuen Regierung und die Verortung der Inneren Mission in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen in den ersten Jahren des NS-Staates im neutralen Lager werden ebenso ausgeblendet wie die Umsetzung der so genannten „differenzierten Fürsorge“ – konkret: die freiwillige Absenkung der ohnehin schon niedrigen Pflegesätze für psychisch erkrankte, epilepsiekranke oder geistig behinderte Bewohnerinnen und Bewohner 1933/34 zugunsten einer „aufbauenden Volkspflege“ und die bereitwillige Umsetzung der NS-Erbgesundheitspolitik, vor allem die Durchführung von Zwangssterilisationen in großem Stil nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“11. Mehr noch: Die Darstellung lenkt mit ihrer Fokussierung auf einzelne Persönlichkeiten von der Frage ab, wie sich die evangelischen Kirchen und die Innere Mission als Institutionen positionierten, sie übergeht Differenzen innerhalb des protestantischen Milieus über die Formen des Protests und verzichtet auf eine vergleichende Analyse der Wirksamkeit verschiedener Protestformen. Vor allem aber verschleiert sie den Umstand, dass die von den Anstalten der Inneren Mission verfolgte verantwortungsethische Strategie des hinhaltenden Widerstandes im Rahmen der Legalität notwendig mit einer partiellen Kollaboration, einer Teilnahme an der Selektion der Opfer, einer Mitwirkung an der Organisation der Deportationen in die Tötungszentren verbunden war. In dieser perspektivischen Verengung galt der Protest gegen die „Euthanasie“ als das Paradebeispiel für den Wi10 Vgl. Schlaich, Lebensunwert? 11 Exemplarisch Schmuhl / Winkler, „Schreien“, 312–334.
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derstand der evangelischen Kirche und Diakonie im „Dritten Reich“ – man stellte sich sozusagen auf eine Stufe mit dem Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, dessen offener Protest in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg breit dokumentiert wurde. Man könnte ferner sagen, die Legende vom entschiedenen Widerstand gegen die „Euthanasie“ verdeckte den Umstand, dass Kirche und Diakonie – abseits der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen – weitgehend mit dem nationalsozialistischen Regime übereinstimmten.
2. 1950–1983 Unter dem Eindruck des Kalten Krieges kam zunächst die strafrechtliche Verfolgung der NS-„Euthanasie“, nunmehr den deutschen Gerichten übertragen, weitgehend zum Erliegen – und mit ihr der gesellschaftliche Diskurs. Die Verdrängung des Geschehenen ging so weit, dass der bereits erreichte Wissensstand wieder in Vergessenheit geriet. Erst zu Beginn der 1960er Jahre kam der Diskurs wieder in Gang. Anlass war die Enttarnung des unter einem Falschnamen in der Bundesrepublik praktizierenden ersten ärztlichen Leiters der „Euthanasie“-Zentrale, Werner Heyde, im Jahr 1959. Heyde beging kurz vor der Eröffnung der Hauptverhandlung gegen ihn im Jahre 1964 unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft Suizid12. Hinzu kamen die apologetischen Traktate eines der Hauptbeteiligten an der Kinder-„Euthanasie“, des Pädiaters Werner Catel, zu Beginn der 1960er Jahre13, um die eine heftige öffentliche Debatte entbrannte, ebenso wie um das so genannte „Lütticher Urteil“ im Jahre 1962 gegen eine Mutter, die ihr contergangeschädigtes Kind getötet hatte und vom Gericht freigesprochen wurde. Vor diesem Hintergrund meldete sich auch die Diakonie wieder zu Wort. 1964 gab Hans Christoph von Hase, der Theologische Direktor der „Inneren Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland“, einen schmalen Band „Evangelische Dokumente zur Ermordung der ,unheilbar Kranken‘ unter der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren 1939–1945“ heraus14. Diese Publikation versammelte noch einmal die 1947 erstmals veröffentlichten Dokumente und Schriften von Paul Gerhard Braune, Theophil Wurm, Lothar Kreyssig und Ludwig Schlaich. Als einziges neues Dokument präsentierte das Büchlein – eingeleitet von Wilhelm Niemöller – die Notizen zu einem Referat, das Ernst Wilm, damals Pfarrer im westfälischen Mennighüffen, später Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, 1940 auf der Vertrauensmänner-Versammlung der westfälischen Bekennenden Kirche
12 Vgl. Godau-Schettke, Heyde/Sawade-Affäre. 13 Vgl. Petersen / Zankel, Werner Catel. 14 Vgl. v. Hase, Dokumente.
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gehalten hatte15. Wilm hatte sich in diesem Referat dafür ausgesprochen, die Gemeinden von dem laufenden Massenmord zu unterrichten, den Protest also öffentlich zu machen – eine Linie, die damals auf den Widerstand Friedrich von Bodelschwinghs gestoßen war und sich nicht allgemein durchgesetzt hatte. Mit Wilm, der wegen seines öffentlichen Protests drei Jahre lang im KZ Dachau inhaftiert gewesen war, konnten evangelische Kirche und Diakonie einen weiteren „Märtyrer“ präsentieren, der – ähnlich wie Bischof von Galen – den Weg in die Öffentlichkeit gesucht hatte. Immerhin wurde nicht verschwiegen, dass Wilm innerhalb des evangelischen Lagers eine Außenseiterposition vertreten hatte, und so kam der Herausgeber Hans Christoph von Hase zu dem Fazit: „In der Geschichte der christlichen Kirchen kann gewiss kein Heldenepos darüber geschrieben werden, wie sie sich in dieser Stunde der Schwachen annahmen und wie die christlichen Pflegenden diesem Angriff entgegentraten. Da war Überrumpelung, Ratlosigkeit, ja Mutlosigkeit und Schuld“.
Hase beeilte sich aber, sogleich hinzuzufügen: „aber da war auch sehr viel tapferer Widerstand bis zum Einsatz des Lebens, viele Wagnisse aus Glauben und Barmherzigkeit, da war Gehorsam gegen das Wort: ,Tue deinen Mund auf für die Stummen!’“16 Mit anderen Worten: Jetzt, Mitte der 1960er Jahre, gab es erste vorsichtige Korrekturen an der nach dem Krieg in die Welt gesetzten „weißen Legende“, aber noch keine wirklich kritische Revision. Bezeichnend für die Situation war auch, dass in dem 1964 herausgegebenen Dokumentenband auch eine längere Abhandlung mit dem Titel „Von der Utopie bis zur Vernichtung ,lebensunwerten‘ Lebens“ aus der Feder von Jochen Fischer zum Abdruck gelangte, in der die Ideengeschichte der „Euthanasie“ von Thomas Morus bis Werner Catel durchaus kenntnisreich abgehandelt und auch nicht verschwiegen wurde, dass es im evangelischen Lager vereinzelt Stimmen gegeben hatte, die sich für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ausgesprochen hatten17. Weitgehend ausgeklammert blieben hingegen die Bezüge des „Euthanasie“-Diskurses zu Eugenik und Rassenhygiene – was kein Zufall war, war Jochen Fischer doch im „Dritten Reich“ als entschiedener Verfechter einer eugenisch ausgerichteten Schule der Sozialhygiene in Erscheinung getreten, hatte als Amtsarzt die NSErbgesundheitspolitik mitgetragen und sich nach 1945 öffentlich gegen die Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze auf dem Feld der Eugenik ausgesprochen. Seit 1957 war er als „beratender Sozialhygieniker“ des Diakonischen Werkes – Innere Mission und Hilfswerk der EKD tätig und übernahm auch den Co–Vorsitz des 1951 wiedergegründeten „Eugenischen Arbeitskreises“, der
15 Ebd., 23–27. Vgl. Schmuhl / Winkler, „Schreien“, 365 f. 16 v. Hase, Dokumente, 6 f. 17 Vgl. Fischer, Utopie.
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über Möglichkeiten der Re-Etablierung von Maßnahmen zur negativen Eugenik diskutierte18. Am Ende des Dokumentenbandes ist ein Vortragsskript von Pastor Friedrich von Bodelschwingh III19 vom Oktober 1963 abgedruckt20. In diesem Text geht der Leiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten nochmals auf die Frage ein, warum „Bethel nie einen authentischen Bericht“21 über die Geschehnisse im Zusammenhang mit der „Euthanasie“ veröffentlicht hatte – ein solcher wurde nämlich nun von verschiedenen Seiten, etwa von Präses Ernst Wilm, angemahnt. Die Lesart, die 1947 von Paul Gerhard Braune in Umlauf gebracht worden war, war in verschiedenen kleineren Beiträgen, etwa im „Boten von Bethel“ kolportiert worden. 1953 war dann die Schrift des Journalisten Kurt Pergande „Der Einsame von Bethel“ erschienen22, die tatsächliche und fiktive Ereignisse in einer frei erfundenen Chronologie miteinander verknüpft und stark an „mittelalterliche Heiligenlegenden“23 erinnert. Bodelschwingh III sprach 1963 abschätzig von einer „journalistisch aufgemachten Story“. Wenn man es bis dahin unterlassen habe, eine wissenschaftlich fundierte Darstellung auf den Weg zu bringen, so habe das einerseits am Mangel an Quellen gelegen – „verfängliche Dokumente wurden vermieden, Verhandlungsniederschriften nicht gemacht oder alsbald vernichtet“ –, andererseits würde durch eine solche Darstellung „eine trübe Geschichte des Versagens vieler christlicher Kreise deutlich“24, was man vermeiden wolle. Stattdessen wurde jetzt ein kurzer Text des Leiters der Bethelkanzlei, Pastor Eduard Wörmann, veröffentlicht, der auf einer 1946/47 zusammengestellten Aktensammlung basierte25. Kurz nach dem hundertjährigen Jubiläum Bethels im Jahre 1967 erschien ferner das Bethel-Arbeitsheft 1, eine Dokumentation zur Konfrontation Bethels mit der „Euthanasie“ auf dem damaligen Wissensstand26. Es stammte aus der Feder von Anneliese Hochmuth, einer Mitarbeiterin des Dankorts, der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der v. Bodelschwinghschen Anstalten. Im Auftrag der Anstaltsleitung begann Hochmuth zugleich mit umfangreichen Recherchen, deren Ergebnisse sie in einem langen Manuskript niederlegte, das dann für viele Jahre im Giftschrank verschwand, bis Matthias Benad es 1997 endlich veröffentlichte27. Hochmuth 18 Vgl. Schmuhl, Krankenhäuser, 129–131. 19 Friedrich von Bodelschwingh III (1902–1977) war Sohn Wilhelm von Bodelschwinghs und somit ein Enkel Friedrich von Bodelschwinghs d. Ä. („Vater Bodelschwingh“) und Neffe Friedrich von Bodelschwinghs d. J. („Pastor Fritz“). Seit 1946 stand er an der Spitze der Anstalt Bethel, seit 1959 der gesamten von Bodelschwinghschen Anstalten. 20 Bodelschwingh, Frage. 21 Ebd., 122. 22 Pergande, Einsame. 23 Benad, Einleitung, XVI. 24 Bodelschwingh, Frage, 122 f. 25 Ebd., 125–127. 26 Hochmuth, Bethel. 27 Hochmuth, Spurensuche.
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hatte auch schon die Vorgänge rund um den Besuch der T4-Ärztekommission in Bethel im Januar 1941 aufgeklärt – insbesondere die „Vorbegutachtung“ der Betheler Patientinnen und Patienten durch die Bethel-Ärzte, mit anderen Worten: die aktive Zuarbeit der Anstalt zur Selektion der Opfer. Auch war nach Hochmuths internen Recherchen klar, dass mit der Ärztekommission der Abtransport von 446 Bewohnerinnen und Bewohnern vereinbart worden war – was dann nur wegen des Abbruchs der „Aktion T4“ unterblieb28. Diese neuen Erkenntnisse blieben aber vorerst unter Verschluss, in die Neuauflagen des Bethel-Arbeitshefts 1 wurden sie nicht aufgenommen – lediglich der Abtransport von acht jüdischen Patientinnen und Patienten wurde nachgetragen. Eine ähnliche Strategie des Verschweigens und Beschönigens findet man in den 1960er und 1970er Jahren in anderen Einrichtungen der Diakonie. Daran änderte sich auch kaum etwas, als der Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak mit seiner im Jahre 1971 angenommenen, 1978 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht publizierten theologischen Dissertation „,Euthanasie‘ und Sterilisierung im ,Dritten Reich‘“ neue Maßstäbe setzte29. Seine Darstellung eröffnete eine vergleichende Perspektive zwischen evangelischer und katholischer Kirche, Diakonie und Caritas, und bettete diese zudem in weitere Kontexte ein – etwa den Zusammenhang zwischen der „Euthanasie“ und der NS-Erbgesundheitspolitik. Ihr abwägendes Urteil hat im Kern bis heute Bestand. Nowaks kritische Sicht auf die pro-domo-Politik Bethels und der gesamten Inneren Mission30 fand jedoch kaum öffentliche Resonanz – was vielleicht auch darauf zurückzuführen war, dass die Arbeit in der DDR entstanden war. In den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel wurde sie jedenfalls – soweit die Quellen dies erkennen lassen – nicht zur Kenntnis genommen.
3. 1983 bis heute Eine Zäsur im Umgang der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel mit der eigenen Vergangenheit im „Dritten Reich“ markierte erst das Buch „Euthanasie im NS-Staat“ des Jounalisten Ernst Klee, das 1983 in erster Auflage erschien31. Nachdem die Verantwortlichen in Bethel über Jahre hinweg alle Anfragen von Historikern negativ beschieden hatten32, glaubten sie, in Ernst Klee einen Autor mit „Stallgeruch“ gefunden zu haben – und waren schockiert, als dieser in seinem Buch nicht nur alle bis dahin unter Verschluss 28 29 30 31 32
Vgl. ebd., 106–110, 111 f. , 327 f. Nowak, „Euthanasie“. Ebd., 131–158. Klee, „Euthanasie“. Vgl. Benad, Einleitung, XIX.
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gehaltenen Quellen ausbreitete, sondern sie in eine Darstellung voller polemischer Wertungen einbettete. Klee begründete damit – in bewusster Abgrenzung zu der bis dahin vorherrschenden „weißen Geschichtslegende“ gleichsam eine „schwarze Geschichtslegende“: Die Kirchen, die Diakonie und Caritas hätten – sozusagen in augenzwinkernder Komplizenschaft mit den braunen Machthabern – den Massenmord geduldet, die ihr anvertrauten Menschen preisgegeben und auf diese Weise ihre eigenen Pfründe gesichert. Diese „schwarzen Legenden“ treffen die historische Realität ebenso wenig wie die „weißen Legenden“. Mit dem Gestus des Staatsanwalts auftretend, blenden sie jeden historischen Kontext aus und stellen die damaligen Akteure aus Kirche, Diakonie und Caritas – mit wenigen Ausnahmen – in billiger moralischer Entrüstung an den Pranger. Unausgesprochen schwingt hier ein aus dem linken Milieu stammendes christentumskeptisches und kirchenfeindliches Ressentiment mit. Diese Sichtweise prägte bis in die 1990er Jahre hinein zahlreiche Darstellungen zu diakonischen Einrichtungen. In vielen Fällen krankten diese Darstellungen daran, dass sie sich in dem Bemühen, Kooperations- und Kollaborationsverhältnisse zwischen Trägern der Diakonie und dem nationalsozialistischen Staat aufzudecken, ganz auf den Themenbereich Eugenik, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ konzentrierten, die Vorgänge in diesem Bereich minutiös rekonstruierten, aber nicht in die Gesamtgeschichte der Einrichtungen einordneten. Diakonische Einrichtungen sahen sich indes im „Dritten Reich“ mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert: mit Versuchen einer „feindlichen Übernahme“ durch Unterwanderung der Vorstände und Aufsichtsgremien, mit Angriffen der Partei und ihrer Gliederungen auf lokaler Ebene, mit der Bildung von Parteizellen innerhalb der Belegschaften, der Neuordnung der Arbeitsverhältnisse nach dem neu geschaffenen nationalsozialistischen Arbeitsrecht, mit der Konkurrenz der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, harten Verhandlungen mit den „gleichgeschalteten“ Landes- und Provinzialbehörden um Pflegesätze, mit der Verschärfung des Steuer- und Spendenrechts, mit der „Entkonfessionalisierung“ ganzer Arbeitsfelder oder einzelner Stationen, mit den Auswirkungen des „Kirchenkampfes“. Strategie und Taktik diakonischer Einrichtungen, die 1940/41 mit den Meldebögen der „Aktion T4“ konfrontiert wurden, müssen auf der Hintergrundfolie all dieser Entwicklungen gedeutet und gewertet werden, sonst sitzt man einer verzerrten Wahrnehmung auf33. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das – an sich sehr verdienstvolle – Buch von Christine-Ruth Müller und Hans-Ludwig Siemen „Warum sie sterben mussten“, das 1991 in erster Auflage veröffentlicht34, den Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau markiert – und zu einem recht kritischen Urteil über die Verantwortlichen, vor allem 33 Exemplarisch vgl. Schmuhl / Winkler, „Schreien“, 261–377. 34 Meller / Siemen, Warum.
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Rektor Hans Lauerer und Chefarzt Dr. Rudolf Boeckh gelangt – blendet vollkommen aus, dass die Behindertenarbeit bis in den Zweiten Weltkrieg hinein gar nicht das wichtigste Arbeitsfeld der Diakonissenanstalt Neuendettelsau war – das war vielmehr die „Schulstadt“, ein Geflecht allgemeinbildender und fachlich spezialisierter Schulen in Neuendettelsau und Nürnberg. Als Neuendettelsau mit der „Euthanasie“ konfrontiert wurde, mussten gerade die letzten Reste dieser „Schulstadt“ abgewickelt werden – in den Jahren zuvor hatten die meisten Schulen unter massivem politischen Druck schließen müssen. Es ist klar, dass dieser Umstand das Verhalten der Akteure an der Spitze der Einrichtung in der Auseinandersetzung mit der „Euthanasie“ beeinflussen musste35. In den letzten Jahren mehren sich die Arbeiten, die versuchen, die Geschichte diakonischer Einrichtungen zur Zeit des Nationalsozialismus in ihrer Gesamtheit aufzuarbeiten36. Dabei wird auch der Umgang mit der „Euthanasie“ differenzierter und nuancierter dargestellt – damit hat der Prozess der Historisierung des Nationalsozialismus auf diesem Themenfeld ein neues Stadium erreicht. Dies ist uneingeschränkt zu begrüßen. Man sollte das Thema nicht den „schrecklichen Vereinfachern“ überlassen – es taugt nicht zur Schwarz-Weiß-Malerei. Wie stets in der Geschichtswissenschaft gilt hier ganz besonders, dass es darauf ankommt, die Grautöne im Gesamtbild herauszuarbeiten.
Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Benad, Matthias: Einleitung. In: Hochmuth, Spurensuche, XV–XXXVI. – u. a.: „… unter Einsatz aller unserer Kräfte Anwälte unserer Kranken sein“. Bethel und die nationalsozialistischen Krankenmorde – ein Überblick über den Stand der Forschung. In: Benad, Matthias / Schmuhl, Hans-Walter / Stockhecke, Kerstin (Hg.): Bethels Mission (4). Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform. Bielefeld 2016, 17–28. Blasius, Dirk: Psychiatrischer Mord in der Zeit des Nationalsozialismus. Perspektiven und Befunde. In: Vanja, Christiana / Vogt, Martin (Bearb.): Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Kassel 1991, 51–58. Bodelschwingh, Friedrich von: Die Frage des „lebensunwerten Lebens“ und das Erste Gebot. In: von Hase, Evangelische Dokumente, 117–127. Braune, Paul Gerhard: Der Kampf der Inneren Mission gegen die Euthanasie. In: Die Innere Mission 37 (1947), 12–23. 35 Vgl. Schmuhl / Winkler, Zeitalter, 230–335. 36 Jetzt zu einem markanten Beispiel aus dem „eingegliederten“ Österreich: Schmuhl / Winkler, Diakonie, 241–306.
Die NS-„Euthanasie“ in der Erinnerungskultur diakonischer Einrichtungen 281 Cantow, Jan: Gegen die Krankenmorde – das Wirken Paul Gerhard Braunes in Lobetal. In: Benad / Schmuhl / Stockhecke, Bethels Mission, 29–44. Fischer, Jochen: Von der Utopie bis zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In: von Hase, Dokumente, 35–65. Godau-Schettke, Klaus-Detlev : Die Heyde/Sawade-Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NS–Euthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben. Baden-Baden 1998. Hase, Hans Christoph von (Hg.): Evangelische Dokumente zur Ermordung der „unheilbar Kranken“ unter der nationalsozialistischen Herrschaft in den Jahren 1939–1945. Stuttgart 1964. Hochmuth, Anneliese: Bethel in den Jahren 1939–1943. Eine Dokumentation zur Vernichtung lebensunwerten Lebens (= Bethel-Arbeitsheft 1). Bethel 1967 / 41979. –: Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929–1945. Hg. von Matthias Benad in Verbindung mit Wolf Kätzner und Eberhard Warns. Bielefeld 1997. Kaminsky, Uwe: Die NS-„Euthanasie“. Ein Forschungsüberblick. In: Henke, KlausDietmar (Hg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord. Köln / Weimar / Wien 2008, 269–290. Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Frankfurt 1983. Vollständig überarbeitete Neuausgabe 2010 . Lebbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Gegenwart. In: Broszat, Martin u. a. (Hg.): Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Berlin 1983, 329–349. Mitscherlich, Alexander / Mielke, Fred: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a. M. 1960. –: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg. Heidelberg 1949. –: Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Quellen. Heidelberg 1947. Meller, Christine-Ruth / Siemen, Hans-Ludwig: Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im „Dritten Reich“. Neustadt a. d. Aisch 21992. Nowak, Kurt: „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“-Aktion. Göttingen 31984. Pergande, Kurt: Der Einsame von Bethel. Stuttgart 1953. Peter, Jürgen: Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke. Münster / Hamburg 32013.
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Texte der Erinnerung
Claudia Lepp
Marga Meusel und Elisabeth Schmitz Zwei Frauen, zwei Denkschriften und ihr Weg in die Erinnerungskultur
„Erinnerungskultur“ ist zu einem Leitbegriff der neuen Kulturgeschichtsforschung avanciert1. Bei einem weiten Begriffsverständnis, wie es Christoph Cornelißen vorschlägt, umfasst er „alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“ Der Begriff umschließt sämtliche Repräsentationsformen von Geschichte. Getragen wird die Erinnerungskultur von einzelnen Personen, sozialen Gruppen oder ganzen Nationen, zum Teil in Konsens miteinander, zum Teil in einem konfliktualen Gegeneinander. Auf der Grundlage dieses weiten Begriffsverständnisses soll im Folgenden gezeigt werden, wie die beiden Protestantinnen Margarete (Marga) Meusel und Elisabeth Schmitz in die öffentliche Erinnerungskultur der Bundesrepublik Eingang gefunden haben. Einführend werden zunächst einige Informationen zu den Biografien der beiden und den von ihnen verfassten Denkschriften gegeben. Am Ende sollen allgemeine Beobachtungen über die Aufnahme von Personen in die Erinnerungskultur formuliert werden.
1. Zwei Frauen Marga Meusel wuchs in Falkenberg in Oberschlesien in einem frommen Elternhaus auf2. Nachdem sie lange im elterlichen Haushalt, als Bürohilfe am Amtsgericht Wöhlau und in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet hatte, qualifizierte sie sich von der Krankenpflegerin über die Kreisfürsorgerin zur Wohlfahrtspflegerin. 1927 und 1928 besuchte sie in Berlin die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“, im Anschluss daran die „Soziale Frauenschule“. 1932 übernahm Meusel die Leitung des Evangelischen Bezirkswohlfahrtsamtes der Inneren Mission in Berlin-Zehlendorf. Die nationalsozialistische Rassenideologie sowie ihre Auswirkungen auf „Nichtarier“ und „Erbkranke“ lehnte sie von Anfang an entschieden ab. Bei ihrer Arbeit sowie im Familien- und Freundeskreis hatte sie die Not der 1 Vgl. zum Folgenden Cornelissen, Erinnerungskulturen, 1 f. 2 Zur Biografie vgl. Ludwig, Entrechteten; http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/menschen/ Meusel [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015].
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Menschen vor Augen, die unter den nationalsozialistischen Repressionen zu leiden hatten. Wiederholt forderte Marga Meusel die Innere Mission bzw. die Bekennende Kirche dazu auf, eine zentrale kirchliche „Hilfsstelle für christliche Nichtarier“ einzurichten. Nach dem Beginn der Deportationen 1941 brachte sie Frauen, die sich dem Zugriff der Gestapo entzogen hatten und gezwungen waren, ein illegales Leben zu führen, in Heimen und Pfarrhäusern unter, besorgte für sie Lebensmittel und Ausweispapiere. 1943 wurde Meusel wegen antinazistischer Äußerungen angezeigt, doch die Denunziantin widerrief. Elisabeth Schmitz wurde 1893 als Tochter eines reformierten Hanauer Gymnasialprofessors und seiner Ehefrau geboren3. 1914 legte sie das Abitur ab und studierte anschließend in Bonn und Berlin Geschichte, Theologie und Germanistik. Zu ihren prägendsten Universitätslehrern wurden der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und ihr Doktorvater, der Historiker Friedrich Meinecke. Schmitz’ Wertekosmos während der Studienjahre wurde bestimmt von liberalem Protestantismus und aufgeklärtem Humanismus. Nach Referendariat und befristeten Verträgen erhielt sie 1929 eine Anstellung als Studienrätin am Luisengymnasium in Berlin-Mitte. In der verfassten Kirche fühlte sich die liberale Protestantin fremd: Dort sah sie nur Platz für politisch konservative bzw. deutschnational gesinnte Christen und Christinnen; die Sozialdemokratie werde in ihr verteufelt und der Antisemitismus entschuldigt. Erst als Religionslehrerin näherte sich Schmitz der Kirche wieder an, suchte sich aber ihre Gemeinden selbst aus. Ab Sommer 1933 war sie Mitglied des Kirchenvorstands der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Im September 1934 schloss sie sich der Bekennenden Kirche an und gehörte zur Bekenntnisgruppe um Pfarrer Gerhard Jacobi. Engen Kontakt hielt sie zu den Dahlemer Bekenntnispfarrern Franz Hildebrandt und Helmut Gollwitzer. In den Jahren 1940 bis 1942 nahm Schmitz am Leben der Friedenauer Bekenntnisgemeinde um Pfarrer Wilhelm Jannasch teil und gab im kirchlichen Auftrag taufwilligen Juden Unterricht in den Grundlagen der christlichen Glaubenslehre. Schmitz’ Verhältnis zur Bekennenden Kirche war ein kritisches, blieben doch dort ihre Appelle zur Solidarität mit den verfolgten Juden unerhört. Auch ihren Korrespondenzpartner Karl Barth konnte sie nicht zum Handeln in der „Judenfrage“ bewegen. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis erlebte Schmitz unmittelbar die Not der rassisch Verfolgten und versuchte ihnen aus christlicher Nächstenliebe heraus mit Wort und Tat zu helfen. Durch ihre kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus geriet sie in Konflikt mit ihrem Schulleiter und ließ sich 1935 an die Auguste-Sprengel-Schule in Berlin-Lankwitz versetzen. Nach der Reichspogromnacht befürchtete Schmitz für die Zukunft das 3 Zur Biografie von Schmitz vgl. Gailus, Herz; http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/men schen/Schmitz [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015].
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Schlimmste: Der Vernichtung des Eigentums der jüdischen Mitbürger werde die Vernichtung der Menschen folgen. Und mit dem letzten Juden werde auch das Christentum aus Deutschland verschwinden, so ihre Prognose. Sie wollte nicht länger Beamtin einer Regierung sein, die Synagogen anstecken ließ. Am 31. Dezember 1938 reichte die 45-Jährige ein Pensionierungsgesuch mit der Begründung ein, der dauernde Gewissenskonflikt sei für sie untragbar geworden. Dank des Einsatzes ihr wohl gesonnener Beamter wurde ihrem Gesuch stattgegeben. Seit Beginn der Deportationen beteiligte sich Elisabeth Schmitz an der Hilfe für illegal in Berlin lebende Juden. Mehrmals nahm sie Verfolgte in ihrer Wohnung und in ihrem Wochenendhäuschen auf. Auch half sie ihnen mit Geld und Lebensmittelmarken. 1943 kehrte Schmitz zu ihrer Familie nach Hanau zurück.
2. Zwei Denkschriften Die Denkschrift vom 10. Mai 1935 Da innerhalb der Inneren Mission nichts geschah, bat der Spandauer Superintendent Martin Albertz Marga Meusel in einer Denkschrift auf die Situation der rassisch verfolgten Christen aufmerksam zu machen4. Die Schrift sollte der Dritten Reichsbekenntnissynode in Augsburg Anfang Juni 1935 vorgelegt werden. In ihrem Text über „Die Aufgaben der Bekennenden Kirche an den evangelischen Nichtariern“ schilderte Meusel die seelische und praktische Not evangelischer Christen jüdischer Herkunft und betonte die Gleichstellung aller Getauften in der Kirche. Sie forderte die Bekennende Kirche dazu auf, trotz der damit verbundenen Risiken eine Hilfsstelle einzurichten und ein öffentliches Wort an ihre nichtarischen Glieder zu richten. Meusel wollte explizit nicht zum Widerstand gegen den NS-Staat aufrufen, forderte aber, dass die Bekennende Kirche den Weg des Gehorsams und des Glaubens gehen müsse, auch wenn sie dadurch äußere Sicherungen verliere. Meusels Denkschrift wurde in Augsburg nicht beraten. Mittelfristig mündeten ihre Anstöße aber 1938 in die Gründung des „Büro Pfarrer Grüber“. Die Denkschrift vom September 1935 und Mai 1936 Elisabeth Schmitz wollte ihre Kirche mit den alltäglichen Folgen der nationalsozialistischen Rassenpolitik konfrontieren. Daher verfasste sie im Sommer 1935 eine Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ und ergänzte 4 Zur Entstehung der Denkschrift vgl. Rçhm / Thierfelder, Juden, Bd. 1, 337–347.
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sie bis Mai 1936 um einen Nachtrag5. Von diesem 23-seitigen Text zog sie 200 Exemplare ab und gab sie an verschiedene Einrichtungen und Vertreter der Bekennenden Kirche. Der namentlich nicht gekennzeichnete Text war der klarste Protest gegen die Judenverfolgung im Raum der Bekennenden Kirche. Im Unterschied zur Denkschrift von Marga Meusel ging es Schmitz um die Situation aller „nichtarischen“ Deutschen und nicht nur der „nichtarischen“ Christen. Eindringlich forderte Schmitz die Bekennende Kirche dazu auf, mit einer öffentlichen Erklärung gegen die Judenverfolgung die Gewissen wachzurütteln. Sie führte zahlreiche Beispiele für die Not der Verfolgten an und benannte auch Täter und Profiteure der alltäglichen Verfolgung. In einem Nachtrag skizzierte Schmitz im Mai 1936 die Folgen der Nürnberger Rassengesetze und machte deutlich, um was es moralisch wie theologisch ging: um die Schuld des Volkes und die Sünde der Kirche. Doch ihr dringlicher Appell an die Bekennende Kirche verhallte wirkungslos.
3. Phasen der Rezeption der Denkschriften und der Erinnerung an ihre Autorinnen Die Nachkriegszeit Marga Meusel setzte nach Kriegsende ihre Arbeit in der Bezirksstelle fort. Der kirchliche Kurs der Zeit enttäuschte sie jedoch zutiefst. Physisch und psychisch erschöpft, versuchte sie vergeblich eine andere Arbeit zu finden. Meusel starb bereits am 16. Mai 1953 in Berlin. Elisabeth Schmitz ging 1946 in den Schuldienst zurück, 1948 wurde sie erneut ins Beamtenverhältnis übernommen. Um die dienstrechtliche Anerkennung ihrer verlorenen Berufsjahre und den Ausgleich finanzieller Einbußen musste sie gerichtlich kämpfen. Schmitz verstarb mit 84 Jahren in Hanau. Beide Frauen sprachen nicht öffentlich über ihr Verhalten während der NSZeit. Ob dies allein an ihrer zurückhaltenden Art lag, oder ob sie vielmehr fürchteten, in der politischen und kirchlichen Atmosphäre der Nachkriegszeit für ihr Handeln keine positive Resonanz zu finden, ist nicht bekannt. Indes schwiegen die meisten der sogenannten stillen Helden und Heldinnen nach 1945 über ihre geheime Nothilfe, die vielen auch selbstverständlich erschien6. In der kirchlichen Erinnerungskultur der frühen Nachkriegsjahre hatte Meusel einen bescheidenen Platz als Gehilfin von Martin Albertz7, Schmitz kam in ihr gar nicht vor. Ihre Denkschrift aber wurde bereits 1948 von Wilhelm Niemöller in seinem Buch „Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kir5 Zur Denkschrift vgl. Erhart / Meseberg-Haubold / Meyer, Staritz, 187–269. 6 Vgl. Stille Helden. 7 Vgl. Niemçller, Kampf, 455.
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che“ als ein Beleg für die Haltung der Bekennenden Kirche gegenüber der Judenverfolgung angeführt. Die „mahnenden und warnenden Worte“ seien damals „nicht überhört“ worden, so Niemöller8. Er ordnete den anonymen Text Meusel zu. Bei dieser Zuschreibung, die durch keinerlei Belege gestützt war, blieb es viele Jahre lang. Wieso aber wies niemand auf die wahre Autorin hin? Warum wurden beide Frauen nicht geehrt? Aus welchem Grund überging z. B. Heinrich Grüber Meusel in seinen Erinnerungen9 ? Und warum wurde Schmitz völlig totgeschwiegen, auch von Karl Barth und Helmut Gollwitzer? Man kann nur mutmaßen. Marga Meusel und Elisabeth Schmitz waren Frauen, sie waren keine Theologinnen und sie hatten keine einflussreichen kirchlichen Ämter innegehabt. Die Bekennende Kirche aber war während der NS-Zeit ihrem Selbstverständnis nach eine Männerkirche gewesen10 und blieb es in der Erinnerungskultur der frühen Nachkriegszeit, die gleichfalls nur „große Männer“ kannte. Da konnte es nicht sein, dass eine Frau 1935 in Blick auf die Judenverfolgung moralisch und theologisch klarer gesehen und mutiger gehandelt hatte als bekannte Theologen und Kirchenführer. Noch dazu eine liberale Protestantin11. Galt doch der liberale Protestantismus als theologische Fehlentwicklung, der die deutschchristliche Bewegung ermöglicht hatte. Schon Karl Barth und Elisabeth Schmitz hatten sich darüber brieflich auseinandergesetzt12. Nach 1945 wurde von der am dahlemitischen Flügel der Bekennenden Kirche orientierten Geschichtsschreibung die Kontinuität von offenbarungstheologischer Neuorientierung der Theologie im Gefolge Barths und politischem Widerstand betont. Die Proteste gegen die Verfolgung der Juden und die Zerstörung des Rechtsstaates, die im protestantisch-liberalen Milieu formuliert worden waren, wurden hingegen unterbewertet13. Das änderte sich erst, als Friedrich Wilhelm Kantzenbach 1976 die Kirchenkampflegende beseitigte, die liberalen Protestanten hätten sich 1933/34 einhellig auf die Seite der Deutschen Christen geschlagen14. Doch auch danach musste die liberale Protestantin Elisabeth Schmitz noch lange auf ihre Aufnahme in die evangelische Erinnerungskultur warten.
8 9 10 11
Ebd. Greber, Erinnerungen. Vgl. hierzu Gailus, Frauen, 146. Auch Reinhard Staats vermutet, dass das lange Vergessen mit Schmitz’ liberaler Position zu tun haben könnte. Vgl. Staats, Schmitz, 60. 12 Vgl. http://de.evangelischer-widerstand.de/?#/menschen/Schmitz/D7134 [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015]. 13 Vgl. Strohm, Kirchen, 117. 14 Vgl. Kantzenbach, Liberalismus.
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Die Rezeption der achtziger und neunziger Jahre Die falsche Zuschreibung der Schmitzschen Denkschrift hielt sich bis 1999. Wiederholt wurde sie u. a. von Eberhard Bethge, Wolfgang Gerlach, JochenChristoph Kaiser, Eberhard Röhm, Jörg Thierfelder, Hartmut Ludwig und Martin Greschat15. Mit der Erforschung der Schicksale der rassisch verfolgten Christen und der beginnenden Kritik an dem Verhalten der Bekennenden Kirche gegenüber der Judenverfolgung wurde die Singularität der Denkschrift von 1935/36 betont. 1987 hieß es in der theologischen Dissertation von Wolfgang Gerlach: „Keine Denkschrift zuvor, kein Protest in Wort oder Schrift, geschweige irgendeine Synodalerklärung hatte sich in solchen Akkorden des Aufschreis und der Anklage vernehmen lassen.“16 Und der kirchenkritische Journalist Ernst Klee erklärte: „Die Verfasserin mahnt ihre Kirche in verzweifelt deutlichen Worten, wie sie keiner der BK-Männer jemals finden wird“17. Klee würdigte die vermeintliche Autorin Marga Meusel 1989 durch ihre Erwähnung in einem Dokumentarfilm18, einem ZEIT-Artikel19 sowie in einem Buch20. Er überlieferte auch das aussagekräftige Bonmot, dass ihm bei der Suche nach einem Foto von Meusel ein Kirchenhistoriker erklärt habe: „die Frau habe sich nicht photographieren lassen, weil sie grundhäßlich gewesen sei. Ihr häßliches Aussehen habe sie mit sozialem Engagement kompensiert.“21 In den neunziger Jahren setzte allmählich eine breitere Ehrung von Marga Meusel ein. Ende 1991 wurde am Gemeindehaus am Teltower Damm eine Berliner Gedenktafel angebracht, auf der an sie als frühe Mahnerin ihrer Kirche erinnert wird22. Ein Jahr später würdigte sie der Berliner Senat mit einem Ehrengrab auf dem Zehlendorfer Friedhof23. Auf dem Grabstein wird ihr mutiger Einsatz für „rassisch Verfolgte und Entrechtete“ betont. 1993 fand Meusel Eingang ins Biographisch-Bibliographische Lexikon24. Im Folgejahr wurde sie für den Schulunterricht entdeckt und Lehrmaterial über sie mit dem
15 Vgl. Bethge, Bonhoeffer, 557 f.; Gerlach, Zeugen, 143–145, 153, 157 f.; Kaiser, Protestantismus, 684 f., 711; Rçhm / Thierfelder, Juden, Bd. 1, 337, 341, 345; Ludwig, Entrechteten, 669 f.; und Greschat, Gott, 76. 16 Gerlach, Zeugen, 145. 17 Klee, SA, 122. 18 Judenrein – Protestanten und die Judenverfolgung. Dokumentarfilm von Ernst Klee und Gunnar Petrich für den Hessischen Rundfunk; gesendet am 15. 9. 1989, 21.55 Uhr in der ARD-Reihe „Gott und die Welt“. 19 Vgl. Klee, Verfolgung. 20 Vgl. Klee, SA, 121 f. 21 Vgl. Klee, Verfolgung. 22 Vgl. Buss, Einsatz, 145. 23 Ebd. 24 Vgl. Kçhler, Meusel.
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Untertitel „Verweigerte Hilfe in der Bekennenden Kirche“ publiziert25. Zu ihrem hundertsten Geburtstag würdigte der Berliner Kirchenhistoriker Hartmut Ludwig sie in der Zeitschrift „Evangelische Kommentare“ im Rahmen der Reihe „Galerie der Glaubensfrauen“ als theologisch und menschlich weitsichtige Protestantin26. Die bis dahin ausführlichste wissenschaftliche Würdigung erhielt Meusel 1998 von dem Gießener Kirchenhistoriker Martin Greschat in einem Band über den kirchlichen Umgang mit rassisch verfolgten Christen während der NS-Herrschaft. Die Unterschiede zwischen den beiden Denkschriften erklärte er sich durch eine Verschiebung von Meusels theologischer Position27. Zu diesem Zeitpunkt vermutete Hartmut Ludwig bereits, dass die zwei Denkschriften nicht von ein und derselben Verfasserin sein konnten28. Die Rezeption seit 1999: Erinnerungsmilieus und Erinnerungskonkurrenz Die wahre Autorinnenschaft wurde erst 1999 aufgedeckt. Im Zuge der kirchenhistorischen Frauenforschung erschien ein Band über die Theologin und NS-Gegnerin Katharina Staritz. Darin wies die kurhessische Pfarrerin Dietgard Meyer in einem „Exkurs“ anhand von Quellen aus dem Nachlass von Elisabeth Schmitz nach, dass die Denkschrift vom September 1935 von ihrer früheren Lehrerin stammte29. Nun konnte Schmitz’ Weg in die evangelische Erinnerungskultur beginnen. Am 20. Juli 2000 druckte die Frankfurter Rundschau Teile von Schmitz’ Denkschrift ab30. Im Folgejahr fand Schmitz erstmals Eingang in eine Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte während der NS-Herrschaft. Der Heidelberger Kirchenhistoriker Gerhard Besier nutzte sie darin für seine eigene Kirchenkritik: Der Umstand, dass das Anliegen der Laiin kein Gehör gefunden habe, werfe „schwerwiegende Fragen nach der Einlösung des evangelischen Kirchenverständnisses in der Institution ,Volkskirche‘ auf“, so Besier31. 2002 erschienen gleich drei Aufsätze und Artikel über Schmitz32. Erstmals betrat auch der Berliner Historiker Manfred Gailus die erinnerungspolitische Bühne. Im Jahr zuvor war seine Habilitationsschrift über die nationalsozialistische Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin erschienen. In Unkenntnis des Denkschriftentextes und der Publikation von Dietgard Meyer erwähnt er dort die Schmitzsche Denkschrift als eine 25 26 27 28 29 30 31 32
Breuer, Meusel. Ludwig, Entrechteten, 670. Vgl. Greschat, Gott, 77. Vgl. Brief an Gerlach vom 28. 1. 1998 (Gerlach, Erwiderung, 45). Vgl. Erhart / Meseberg-Haubold / Meyer, Staritz, 187–269. Frankfurter Rundschau Nr. 166 vom 20. 7. 2000, 7. Besier, Kirchen, 846. Pangritz, Bekennende Kirche; Zilch, Elisabeth Schmitz.
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erweiterte Fassung der Denkschrift von Marga Meusel33. Im November 2002 forderte Gailus nun in der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel, dass die „klarste Stimme der Bekennenden Kirche Berlins“ in die protestantische Erinnerungskultur Eingang finden müsse34. Inspiriert durch Gailus fand Schmitz tags darauf in der Bußtagspredigt von Bischof Wolfgang Huber in der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf Erwähnung35. Im Folgejahr setzte Gailus seinen erinnerungskulturellen Vorstoß mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung36 und einem Buchbeitrag37 fort. 2004 erklärten sich sowohl der Kirchenhistoriker Reinhart Staats38 als auch der systematische Theologe Andreas Pangritz den Ausschluss von Elisabeth Schmitz aus dem kollektiven Gedächtnis mit den Deutungskämpfen um den sogenannten Kirchenkampf nach 1945 und dem bis heute schwierigen Eingeständnis, dass Elisabeth Schmitz Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer „an Geistesgegenwart voraus gewesen sein könnte.“39 2005 kam sie gleich in vier wissenschaftlichen Publikationen vor40. Das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon nahm im Jahr 2007 einen Artikel von Dietgard Meyer über Schmitz auf41. Einen ersten Höhepunkt erreichte das Gedenken an Elisabeth Schmitz im siebzigsten Gedenkjahr der Novemberpogrome. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte in ihrer Rede auf der gemeinsamen Gedenkveranstaltung der Bundesregierung und des Zentralrats der Juden in Deutschland Schmitz „eine Ausnahme von der Regel des Schweigens“42. Damit stand Schmitz an der Pforte zum kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Ebenfalls 2008 brachte der amerikanische Theologe Steve D. Martin einen Dokumentarfilm über „Elisabeth von Hanau“ heraus43. Der Titel war in Analogie zur katholischen Heiligen Elisabeth von Thüringen gebildet worden, die im Jahr zuvor ihren 800. Geburtstag hatte. Im Laufe des Jahres 2008 erschienen auch sechs Aufsätze und Artikel44 sowie ein Tagungsband über Schmitz45. Letzterer war von Manfred Gailus herausgegeben und stellte die bis dahin umfassendste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wirken von Elisabeth Schmitz
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Vgl. Gailus, Protestantismus, 366. Gailus, Fleck, 24. Vgl. Huber, Gedenken, 2. Gailus, Unmöglich. Gailus, Frauen. Staats, Schmitz, 61. Pangritz, Entdeckung, 149. Meyer, Katastrophe; Hermle, Bischöfe, 292; Herbrecht, Frauen, 348–351; und Noss, Leuchttürme, 318, 323, 328, 340. Meyer, Schmitz. Merkel, Rede, 2. Vgl. Kurz, Widerstand. Kurz, Widerstand; Hensel, Schule; Schmid-Rathjen, Pusto; Meise, Schmitz; Nagel, Begraben; und Gailus, Anders. Gailus, Schmitz.
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dar. Der Band enthielt auch einen biografischen Beitrag von Dietgard Meyer46, die im Jahr darauf noch einen Aufsatz über den Briefwechsel zwischen Elisabeth Schmitz und Karl Barth veröffentlichte47. Parallel zu der Entdeckung von Elisabeth Schmitz in der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit Berlins sowie bundesweit in kirchenhistorischen Kreisen, entwickelte sich Hanau zu einem zweiten lokalen Zentrum der Schmitz-Erinnerung. Auslöser hierfür war ein Fund: Im Jahr 2004 wurde in einem Kirchenkeller Schmitz’ handschriftliches Original der Denkschrift entdeckt48. Ein Jahr später erhielt die „mutige Hanauerin“ von ihrer Geburtsstadt und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck ein Ehrengrab auf dem Hanauer Hauptfriedhof49. 2008 erschienen im Neuen Magazin für Hanauische Geschichte zwei Artikel über die ehemalige Mitbürgerin. Der eine geht den sozialen Bedingungen ihres Hilfeverhaltens nach und warnt vor der Gefahr einer Verklärung50. Der andere wehrt sich gegen die Aussage, Schmitz habe sich in Hanau nicht wohl gefühlt und betont ihr Engagement im Hanauer Geschichtsverein51. Im Folgejahr stellten der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky und Martin Hoppe vom Hanauer Geschichtsverein bei der Yad-Vashem-Gedenkstätte den Antrag, Elisabeth Schmitz zur „Gerechten unter den Völkern“ zu ernennen52. Im gleichen Jahr wurde auf dem Areal der ehemaligen Milchzentrale in Hanau eine Straße nach Elisabeth Schmitz benannt53. 2010 veröffentlichte die Lehrerin Julia Scheuermann im Neuen Magazin für Hanauische Geschichte einen umfangreichen Aufsatz über Elisabeth Schmitz als Widerstandskämpferin54. Scheuermann gewann auch gemeinsam mit der Klasse 8d der Karl-Rehbein-Schule, wo Schmitz von 1946 bis 1958 gelehrt hatte, den Förderpreis beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit ihrem Beitrag „Elisabeth Schmitz – Eine Heldin der Neuzeit“. In Hanau erreichte das Schmitz-Gedenken 2011 seinen Höhepunkt: Im Sommer erhielt das Förderzentrum im Hanauer Stadtteil Wolfgang den Namen „Elisabeth-Schmitz-Schule“55 ; in der Karl-Rehbein-Schule fand eine Ausstellung über sie statt, und die neue Schulbibliothek wurde nach ihr be-
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Meyer, Mutter. Meyer, Zeit. Vgl. Ledecke, Fund. Scheuermann, Schmitz, 150 f. Eine Fotografie der Tafel findet sich in: http://de.evangelischerwiderstand.de/?#/menschen/Schmitz/D7144 [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015]. Vgl. Schmid-Rathjen, Pusto, 256. Vgl. Meise, Schmitz. Elisabeth Schmitz. – 2009 erschien auch ein Aufsatz von Gerhard Ledecke über das theologische Denken von Elisabeth Schmitz und Gerhard Kittel im Vergleich. Vgl. Scheuermann, Schmitz, 152. Vgl. ebd., Schmitz. Hoppe, Schmitz.
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nannt56. Im Oktober wurde Schmitz schließlich unter die „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen57. Damit ging sie auch in das internationale kulturelle Gedächtnis ein. Medaille und Urkunde wurden am 17. April 2013 in einem Festakt an den Hanauer Oberbürgermeister überreicht58. Als dann 2013 an Schmitz’ Wohnhaus auch noch eine Gedenktafel angebracht wurde59, hatte Hanau nahezu das gesamte erinnerungskulturelle Instrumentarium ausgeschöpft. In Berlin arbeitete derweil Manfred Gailus an der Ikonisierung von Elisabeth Schmitz. In einem Vortrag forderte er am 15. November 2009 in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Schmitz in die „inoffizielle protestantische Heiligen- und Heldengalerie“ aufzunehmen60. Im Folgejahr erschien seine Schmitz-Biografie61. Im Oktober 2011 wurde auf seine Initiative hin eine Gedenktafel an der Lankwitzer Beethoven-Schule angebracht, wo Schmitz von 1935 bis 1939 lehrte. Gewürdigt wird sie dort in dreifacher Funktion: als Pädagogin, Theologin und Christin62. In einem weiteren Aufsatz forderte Gailus 2013 für die „Denkschriftenautorin eine herausgehobene, nahezu singuläre Stellung in der protestantischen Gedenkkultur der Gegenwart und Zukunft.“63 Offizielle Aufnahme in das kulturelle Stadtgedächtnis erhielt sie Ende 2013: Im Roten Rathaus fand aus Anlass ihres 120. Geburtstages ihr zu Ehren eine Gedenkveranstaltung des Landes Berlin und der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz statt64. Initiiert hatten sie Manfred Gailus und der Berliner Kulturstaatssekretär Andr8 Schmitz. Die Gedenkrede hielt Margot Käßmann65. Die Theologin hatte im selben Jahr ein Lesebuch zum christlichen Widerstand herausgebracht, in dem auch Schmitz vertreten war66. Wenige Tage vor der Gedenkfeier gab Käßmann im Deutschlandradio Kultur ein ausführliches Interview zu Schmitz67. Ein paar Tage nach der Feier erschien in der Wochenzeitung Die Zeit von ihr ein Gastbeitrag über die „protestantische Widerständlerin“68. Am 20. Juli 2014 ging Käßmann auch in ihrer Bild-Zeitungs56 Vgl. http://www.karl-rehbein-gymnasium.de/pages/einrichtungen/bibliothek.php [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015]. 57 Yad Vashem, Righteous. 58 Vgl. Grosse Ehre fer die Karl-Rehbein-Schule. – Das von Schmitz’ Patensohn Peter B. Loewenberg gehaltene Grusswort bei der Verleihung erschien 2014 im Neuen Magazin für Hanauische Geschichte. 59 Vgl. Gedenktafel fer Dr. Elisabeth Schmitz enthellt. 60 Gailus, Schmitz (2009). 61 Gailus, Herz. 62 Vgl. Feierliche Enthellung Berliner Gedenktafel. 63 Gailus, Schmitz (2013), 99. 64 An ihr nahmen auch die Hanauer Gerhard Lüdecke, Heinz Daume und Martin Hoppe teil. Vgl. K-ssmann, Gedenkrede, 207. 65 K-ssmann, Gedenkrede. 66 Gott will Taten sehen, 92–100. 67 Gedenken. 68 K-ssmann, Kirche.
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Kolumne ausführlich auf Schmitz ein69. Über die prominenteste deutsche Kirchenfrau fand Schmitz somit auch Eingang in die massenmediale Erinnerungskultur. Marga Meusel brachte es bislang nicht zur „protestantischen Ikone“. In der kirchengeschichtlichen Literatur wird sie zwar als Helferin rassisch verfolgter Christen häufig erwähnt70 und in frauen- und geschlechtergeschichtlichen Studien hat sie inzwischen einen festen Platz71, eine Biografie aber liegt bis heute nicht vor. In der Erinnerungskultur fiel Meusel hinter Schmitz zurück, auch wenn sie bereits im November 2005 von Yad Vashem ausgezeichnet wurde72 und seit August 2011 eine Grünanlage in Zehlendorf den Namen Marga-Meusel-Platz trägt73. In der überregionalen Erinnerungskultur ist sie jedoch weniger präsent als Schmitz, welche mit ihrem Hilfeappell zugunsten aller Juden breiter anschlussfähig ist. So kommen in der virtuellen Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“ der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte zwar beide vor, Schmitz aber an prominenterer Stelle bereits im Intro74. Und in dem Internet-Portal „500 Jahre Reformation: Von Frauen gestaltet“ wird nur Schmitz portraitiert75. Der Titel des Portraits „Solidarisch mit den Juden, kritisch gegenüber ihrer Bekennenden Kirche“ umreißt mit den beiden Verhaltensformen „Solidarität mit den Schwachen“ und „Institutionenkritik“ treffend die aktuellen Leitbilder der Schmitz-Rezeption. Welche Bedingungen waren für die erinnerungskulturellen Konjunkturen in Bezug auf Elisabeth Schmitz und Marga Meusel entscheidend, so lässt sich resümierend fragen. Zunächst ist hier der jeweilige zeitgenössische kirchliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Kontext zu nennen: die innerprotestantischen Deutungskämpfe um den sogenannten Kirchenkampf während der Nachkriegszeit; die späte Aufarbeitung des Verhaltens der evangelischen Kirche gegenüber der Judenverfolgung; die aufkommende Kritik am Verhalten der Bekennenden Kirche in der sogenannten Judenfrage und die damit verbundene allgemeine Kirchenkritik; die verspätete kirchlich-theologische Frauen- und Genderforschung und die Suche nach weiblichen Vorbildern; die erinnerungskulturelle Entdeckung der „Stillen Helden“ und „Heldinnen“ seit 69 K-ssmann, 20. Juli. 70 Vgl. z. B. Noss, Albertz, 312–318; ders., Leuchttürme, 340; Greschat, Haltung, 328 f.; Hermle, Bischöfe, 292; ders., NS-Politik, 181, 192; Ludwig, Gerechte; ders., Meusel; ders., Entrechteten; Strohm, Kirchen, 102; Fix, Landesbischof, 220; Reinicke, Meusel; und Gott, 87–91. 71 Vgl. Gailus, Frauen; Rieske, Meusel; Wilhelm, Berlinerinnen, 92–95; und Buss, Einsatz. 72 Yad Vashem, Meusel. 73 Marga-Meusel-Platz. 74 http://de.evangelischer-widerstand.de/? [zuletzt aufgerufen am 24. 9. 2015]. 75 Vgl. Biermann-Rau, Schmitz. Verantwortet wird das Portal von: Evangelische Frauen in Deutschland e. V., Konvent Evangelischer Theologinnen in der BRD e. V., Luther 2017, Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie der EKD.
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den 1990er Jahren sowie die aktuelle politisch-pädagogische Forderung nach Zivilcourage. Entscheidend sind aber auch erinnerungskulturelle Promotoren: Hier hatte Elisabeth Schmitz zweifelsohne die agileren Akteure, allen voran Manfred Gailus. Für das Berliner Erinnerungsmilieu spielten auch Wolfgang Huber und Andr8 Schmitz eine Rolle. Im Hanauer-Erinnerungsmilieu agierten vor allem der Bürgermeister Claus Kaminsky, die Lehrerin Julia Scheuermann und der Hanauer Geschichtsverein. Der nicht offen erklärte und freundlich geführte Wettstreit zwischen Metropole und Provinz erwies sich für das Schmitz-Gedenken als eher förderlich. Erinnerungskonkurrenzen können die Erinnerungskultur beleben. Eine Konkurrenz entstand auch zwischen Manfred Gailus und Dietgard Meyer, die sie oder ihre Anhängerinnen in Einleitungen, Fußnoten oder Rezensionen ausfochten76. Gemessen an der öffentlichen Aufmerksamkeit liegt Gailus in diesem Wettstreit vorne. Gravierende Erinnerungskonflikte, im Sinne von Deutungskonflikten, gab es über Elisabeth Schmitz jedoch nie. Auch bestand in Bezug auf sie kein Gegensatz zwischen Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft. Für die Zukunft bleibt abzuwarten, ob Elisabeth Schmitz im kollektiven Gedächtnis der Protestanten und im kulturellen Gedächtnis der Deutschen längerfristig etabliert werden kann.
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Manuel Schilling
Verdrängung, Instrumentalisierung, Auslegung Zur Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung nach 1945 in Deutschland
1. Der Pfarrer mit dem Holzbein Zu Beginn eine Beobachtung aus der pastoralen Praxis. Ich besuche eine alte Dame zum 90. Geburtstag. Sie ist also 10 Jahre älter als die Barmer Theologische Erklärung. Sie erinnert sich an die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. „Wir waren hier ja noch auf dem Dorf. Das Wohnzimmer, wo wir jetzt sitzen, war Schweinestall. Vor der Tür stand der Misthaufen.“ Als die Dame Konfirmandin war, entlud sich auch in Minden der sogenannte Kirchenkampf. Über ihren Konfirmator sagt sie: „Der Pfarrer Lohmann trug ein Holzbein. Das echte hatten die Franzosen im Krieg abgeschossen. Pfarrer Lohmann war lustig. Den Jungen hat er gerne mit dem Gesangbuch auf den Kopf gehauen, wenn sie die Verse nicht auswendig aufsagen konnten.“ Pfarrer Lohmann war ein engagierter Pfarrer der Bekennenden Kirche in Minden. Drei Dinge finde ich bemerkenswert. Zum einen der rasante technische und lebensweltliche Wandel, den die deutsche Gesellschaft in den Jahren von 1934 bis heute vollzogen hat. Die Barmer Theologische Erklärung ist ein Dokument aus einer versunkenen Zeit. Zum zweiten erscheint im liebenswerten Pfarrer Lohmann das Bild einer autoritären Kirche mit obrigkeitlichen Zügen und unhinterfragtem Züchtigungsrecht gegenüber der Jugend. Schließlich gibt das Holzbein zu denken. In vielerlei Hinsicht war die Bekennende Kirche „fußlahm“, versehrt durch die jüngere Vergangenheit des verlorenen Ersten Weltkrieges und der widerwillig vollzogenen Demokratisierung Deutschlands. Theologen dieser Kirche haben die Barmer Theologische Erklärung formuliert. Diese kleine pastorale Beobachtung wird untermauert durch die umfassende Studie des Kieler Professors für Kirchengeschichte Andreas Müller über den Kirchenkreis Minden in der Zeit des Nationalsozialismus1. Darin zeigt Müller unter anderem, dass die überwältigende Mehrheit der Handlungsträger in der Bekennenden Kirche entweder national-konservativ oder aber pietistisch-konservativ eingestellt war2. Dagegen fand sich theologisch liberales Gedankengut allenfalls bei Vertretern der Deutschen Christen. Allen Gruppen gemeinsam war die Ablehnung des „Liberalismus“ oder des „Sä1 Vgl. Meller, „Kirchenkampf“. 2 Vgl. ebd. , 85–90; 102–105.
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kularismus“. Zu theologischen Vätern oder Müttern für uns heute taugt wohl keiner der damaligen kirchlichen Protagonisten. Auffälligerweise gibt es keine Belege für eine Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung in Minden. Das wird für viele andere Bereiche der Bekennenden Kirche gelten. Aber ganz abgesehen von dem Bekanntheitsgrad der Barmer Theologischen Erklärung: die „Väter von Barmen“ waren in der Regel Fleisch vom Fleische des konservativen antiliberalen Protestantismus, eines Geistes mit den Pfarrern vom Mindener Land. Die Barmer Theologische Erklärung, Lebensäußerung einer uns zutiefst fremd gewordenen Kirche, ist in den vergangenen 80 Jahren nicht vergessen worden. Eine direkte Anknüpfung an sie war bis heute nicht möglich. Die Barmer Theologische Erklärung musste gewissermaßen mit ihrer Zeit wachsen, ihre Auslegung ganz neue und zum Teil völlig andere Räume erschließen, als es den Autoren der Erklärung 1934 je in den Sinn gekommen wäre. Deshalb ist die historische Spurensuche so spannend. Was ist mit der Barmer Theologischen Erklärung nach dem „Kirchenkampf“ passiert? Oder anders gefragt: Welche Rolle hat die Barmer Theologische Erklärung gespielt, als die evangelische Kirche in Deutschland zur kulturellen Moderne aufschloss? Nach einem kurzen Verweis auf die Voraussetzungen im Nationalsozialismus wird der Beitrag fünf Bereiche beleuchten: Nachkriegszeit und Gründung der EKD, frühe Bundesrepublik und Kalter Krieg, die „wilden“ 1970er Jahre, die Friedensbewegung sowie Barmen in der DDR.
2. Die Barmer Theologische Erklärung im Nationalsozialismus Die Barmer Theologische Erklärung gilt gemeinhin als das Gründungsdokument der „Bekennenden Kirche“ im Nationalsozialismus. Sie wurde auf der ersten „Reichsbekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ vom 29. bis 31. Mai 1934 in Barmen-Gemarke zusammen mit einer „Kundgebung an die evangelischen Gemeinden“ und einer „Erklärung zur Rechtslage“ verabschiedet. Mit ihrem fundamentalen Ansatz, nicht tagespolitisch, sondern zunächst bewusst theologisch zu reden und den Standpunkt der Kirche von den grundsätzlichsten Wahrheiten des Glaubens zu entfalten, wurde sie weit über den damaligen Anlass hinaus für den Weg der evangelischen Kirche in Deutschland bedeutsam. Die Barmer Theologische Erklärung besteht im Kern aus 6 Thesen, die abgekürzt „Barmen I“, „Barmen II“ und entsprechend weiter genannt werden. Barmen I benennt Jesus Christus als „das eine Wort Gottes“, dem keine anderen „Erkenntnisse und Wahrheiten, Gestalten und Mächte“ zur Seite gestellt werden dürfen. Barmen II bestimmt Jesus Christus als Modell und Vorbild allen christlichen Tuns und leitet somit die Ethik von der Christologie ab. Barmen III zielt auf die äußere Organisation der Kirche. Auch die Ordnung der Kirche hat, wie die Verkündigung durch das Wort, teil
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an der Botschaft der Gnade Gottes in Christus. Barmen IV verwirft vor diesem Hintergrund das Führerprinzip in der Kirche. Barmen Ventfaltet einen Ansatz politischer Ethik, in der Kirche und Staat voneinander getrennt und zugleich aufeinander bezogen werden. Dem totalen Staat wird eine Absage erteilt. Vielmehr wird er von seiner Funktion her bestimmt, „Recht und Frieden“ aufzurichten. Die Kirche hat in der Freiheit von politischer Instrumentalisierung die Aufgabe, ethische Maßstäbe öffentlich zu benennen. Barmen VI beschließt die Thesenreihe mit dem Auftrag der Kirche, unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Umständen „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“3. Bei der Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung standen zwei unterschiedliche theologische Systeme Pate, die „Lutherrenaissance“ mit ihrer Theologie der Schöpfungsordnungen um die Erlanger Systematikprofessoren Paul Althaus und Werner Elert, sowie die „Dialektische Theologie“ des damaligen Bonner Systematikers Karl Barth. Jene stellte dem Individuum, das man für alle vorgeblichen Dekadenzerscheinungen der Moderne wie Werteverfall, Relativismus, Pluralismus, Demokratie und vieles mehr verantwortlich machte, die korporatistisch und autoritär strukturierten Kollektivgrößen von Volk und Obrigkeitsstaat entgegen. Barths Modernekritik hingegen unterstellte das Subjekt genauso wie die vormodernen Gesellschaftsordnungen der Kritik des Wortes Gottes. Er erblickte in den autoritären Utopien der Lutherrenaissance eine regressive Flucht aus der Moderne4. Insofern konnte Barths Theologie durchaus den liberalen Utopien der Aufklärung verbunden bleiben. Im Moment der ersten Auseinandersetzung mit dem NS-Staat verzichtete Barth auf die Formulierung aller gesellschaftspolitischen Konsequenzen seiner Theologie. Allein dadurch war das Zusammengehen mit dem konfessionellen Luthertum möglich. Die Barmer Theologische Erklärung zeigt diesen Kompromiss darin, dass die zweite und die fünfte These mit ihren unterschiedlichen Akzenten nebeneinander zu stehen kommen: auf der einen Seite der freie und unbedingte Christusgehorsam in allen Bereichen des Lebens, auf der anderen Seite die strikte Trennung von Staat und Kirche. In der Folgezeit aber zerbrach die Allianz beider Flügel der Bekennenden Kirche. Althaus kritisierte, in Barmen V, jener These, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche befasst, mache sich „der liberale Begriff des 3 Zum ersten Mal wurde die Barmer Theologische Erklärung abgedruckt in einem Band, den der damalige Theologiestudent Karl Immer, Sohn des Barmer Pfarrers Karl Immanuel Immer, unmittelbar nach der Barmer Synode im Auftrag der Bekennenden Kirche herausgab. Ein kommentierter Neuabdruck erfolgte zum 50-jährigen Jubiläum durch: Burgsmeller, Die Barmer Theologische Erklärung, 39–40. Mittlerweile findet sich die Barmer Theologische Erklärung fast in allen Gesangbüchern der Evangelischen Kirche in Deutschland. 4 In einem der Gründungsdokumente der Bekennenden Kirche, dem Aufruf „Theologische Existenz heute“ von 1933 bezeichnet Karl Barth die geistige Haltung der Jungreformatorischen Bewegung durchaus kritisch als „dröhnenden Antiliberalismus“, vgl. Barth, Theologische Existenz heute, 33.
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bloßen Rechtsstaates geltend“5. Außerdem wurde am Maßstab der lutherischen Bekenntnisschriften die Barmer Theologische Erklärung als defizitär bezeichnet. Diese lutherisch-konfessionalistische Theologie war nicht an einem offenen Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft interessiert, sondern vielmehr an einer hierarchisch organisierten Volkskirche als privilegierter Ordnungsmacht im Gefüge eines autoritären Staates. Sie sollte noch die ersten zwei Jahrzehnte der frühen Bundesrepublik überdauern. Es ist nicht verwunderlich, dass sie aber auf lange Sicht keine Plausibilität entwickelte. Einige Theologen in der BK der Altpreußischen Union aus dem Umfeld um Barth verstanden die zunehmenden Konflikte mit dem NS-Staat als Herausforderung. Sie unternahmen es von der Offenbarung in Jesus Christus her konkret Übergriffe und Rechtsbeugung des Regimes zu benennen und zu kritisieren. Gerhard Gloege, Edmund Schlink, Martin Niemöller, Herrmann Diem und Ernst Wolf und teilweise auch Hans Asmussen6, die von ihrer Mentalität und kulturellen Herkunft nicht demokratisch geprägt waren, formulierten in ihren Auslegungen von „Barmen“ Anliegen der neuzeitlichen Aufklärung in theologischer Systematik neu. Gerhard Gloege betonte die Vorstellung einer „funktionalen Staatsbegründung“ in Barmen V: der Staat sei theologisch weder durch seine Entstehung noch durch seine Gestalt legitimiert, sondern allein dadurch, ob er „Recht und Frieden“ garantiere. Von daher unterzogen Asmussen und Wolf in ihrer beeindruckenden BarmenAuslegung vor der Altpreußischen Synode in Halle 1937 die Unrechtsmaßnahmen des NS einer entschiedenen Kritik7. Von dieser Theologie lässt sich sagen, dass sie – wenn auch minimalen – Freiraum für eine offene Gesellschaft geschaffen hat. Daran ließ sich später produktiv anknüpfen.
5 Althaus, Bedenken, 120 f.; vgl. auch Elert, Confessio Barmensis; und ders., Der „Ansbacher Ratschlag“. 6 Gerhard Gloege war damals Studienleiter des Predigerseminars in Naumburg (Schlesien), später Professor für Systematische Theologie in Jena und Bonn. Edmund Schlink, lehrte als Dozent an der Kirchlichen Hochschule in Bethel. Martin Niemöller, Pfarrer in Berlin-Dahlem, gründete 1933 den Pfarrernotbund, wurde ab 1937 bis zum Kriegsende in den KZ Sachsenhausen und Dachau interniert. Hermann Diem gründete als Pfarrer in Württemberg die Württemberger Kirchlich-Theologische Sozietät, ein Zentrum kirchlichen Widerstandes in Südwestdeutschland. Ernst Wolf lehrte als Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie in Halle. Hans Asmussen wurde 1934 als Pfarrer in Hamburg von seiner deutsch-christlichen Kirchenleitung suspendiert, organisierte den Redaktionsprozess der Barmer Theologischen Erklärung und wurde führendes Mitglied im Reichsbruderrat. Alle diese Theologen waren dezidiert lutherisch geprägt, wandten sich aber gegen eine konfessionelle Verengung lutherischer Theologie. 7 Vgl. Iwand, These; Gloege, Staat; Schlink, Verborgenheit; Diem, 3. Barmer These; ders., 4. Barmer These; und Soden, Artikel 1.
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3. Die Barmer Theologische Erklärung in der Nachkriegszeit In der Nachkriegszeit brachen die während der Zeit des Nationalsozialismus noch halbwegs verdeckten Konflikte zwischen den beiden Flügeln der Bekennenden Kirche aus. Die konfessionellen Lutheraner sahen sich kurz vor dem Ziel einer einheitlichen lutherischen Kirche in einer ständisch geprägten Republik. Diese Gruppe wollte sozusagen den „Betriebsunfall“ der Barmer Theologischen Erklärung möglichst rasch vergessen. Die Auslegungen des Münchner Kirchenrates Christian Stoll aus dem Umfeld des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser oder des Berliner Konsistorialrates Heinz Brunotte zogen Barmen über den Leisten der lutherischen Bekenntnisschriften und wiesen entweder nach, dass Barmen nichts Neues über die Tradition hinaus gesagt habe, oder dass Barmen von der Tradition abweiche, oder aber dass Barmen den lutherischen Standpunkt unscharf nachzeichne8. „Barmen“ war mithin entweder unnötig oder aber häretisch oder defizitär. Die Befürworter von „Barmen“ hingegen – Barth, Diem und der spätere rheinische Präses Joachim Beckmann – hofften, von Barmen III aus die evangelische Kirche in Deutschland nach kongregationalistischem Muster als Basisbewegung neu zu bauen9. Diese zukünftige Kirche sollte in einem weltanschaulich neutralen Staat auf die althergebrachte Sonderstellung verzichten und allein durch die freie Verkündung des Wortes Gottes ihren Dienst zum Aufbau der jungen Demokratie leisten.10 In seinen Vorträgen „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ und „Die lebendige Gemeinde und die freie Gnade“, ausdrücklich als Auslegungen der Barmer Theologischen Erklärung bezeichnet, brach Barth eine Lanze für die junge Demokratie und für den Bruch mit einer herrschaftlich verfassten Kirche. Diese Auseinandersetzung mündete bei der EKD-Gründung 1948 in einen Kompromiss. Der Streit zwischen den unterschiedlichen Lagern vollzog sich vorwiegend in Form einer kirchenrechtlichen Debatte über den Bekenntnisstand und den Charakter der EKD als Kirche11. Die tieferliegende Meinungsverschiedenheit über die Stellung zur kulturellen Moderne blieb verdeckt.
8 Vgl. Brunotte, Theologische Erklärung; Stoll, Theologische Erklärung. 9 Vgl. Barth, Christengemeinde, 95–97; ders., Gemeinde; ders.: Brief; ders., Gemeinde; Beckmann, Wort; und Iwand, Neuordnung. 10 Vgl. Barth, Christengemeinde, 148 f. 11 Vgl. Smith-von Osten, Von Treysa, 279–281.
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4. Die Barmer Theologische Erklärung in der frühen Bundesrepublik In den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik warf der Kalte Krieg seine Schatten auf den deutschen Protestantismus. Die Barmen-Interpretationen jener Zeit geben davon beredtes Zeugnis. Im Zentrum der Debatte stand die Frage, welche Stellung die Kirche in der ideologischen und machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Hegemonialmächten USA und UdSSR beziehen sollte. Der konservative Flügel des deutschen Protestantismus sah die Kirche fest an der Seite des – mittlerweile akzeptierten – deutschen Rechtsstaates, eingegliedert in das westliche Verteidigungsbündnis. Aufgabe der Kirche sollte es sein, aus antitotalitären Beweggründen heraus dem atheistischen Kommunismus entschieden entgegen zu treten. Erhofft wurde, die aufstrebende Republik mit einer „christlichen Weltanschauung“ zu durchdringen und die evangelische Kirche als ideologische Leitinstitution zu etablieren12. Die Barmer Theologische Erklärung bot für eine solche Argumentation keinen Anhaltspunkt und wurde fallengelassen. Dazu trug auch der linksprotestantische Flügel unter der Federführung von Martin Niemöller, Ernst Wolf und Herrmann Diem bei. Diese Theologen legten mit Barmen VI „Der Auftrag der Kirche, in dem ihre Freiheit gründet“ alles Gewicht auf die in Barmen beschworene Freiheit der Kirche von jeder politischen Ideologie – auch einer westlichen – und interpretierten diese als Aufforderung, jenseits allen Blockdenkens zwischen Ost und West Brücken zu bauen. Der Richtungsstreit in der evangelischen Kirche eskalierte Ende der 50er Jahre bei der Frage der Atombewaffnung der Bundeswehr. 1958 verabschiedeten die linksprotestantischen Bruderschaften eine Erklärung im Stile von Barmen, die „Frankfurter Theologische Erklärung“. Darin verwarfen sie die Herstellung und den Gebrauch von Atomwaffen als Häresie13. Diese Erklärung fand nur wenig Echo, und der Streit versandete in den Folgejahren aufgrund des politischen Klimawechsels. Es leuchtete der Öffentlichkeit offensichtlich nicht ein, in dem Streit um die Atombewaffnung eine Bekenntnissituation wie in „Barmen 1934“ zu sehen. Das politische Anliegen der Bruderschaften verband sich mit einer fehlgehenden „konfliktiven Kontextualisierung“. Wir mögen heute politisch das Anliegen der Bruderschaften inhaltlich nachvollziehen. Die holzschnitzartige Stilisierung des Konfliktes zum Bekenntnisfall aber war einer vergangenen Zeit verhaftet. Die Demokratie erforderte andere Formen der Meinungsbildung. Auf jeden Fall wurde in der Folgezeit im Luthertum die Barmer Theologische Erklärung für lange Jahre als theologischer Basistext abgelehnt. 12 Vgl. Fleisch, Barmen; Reinhardt, 10 Thesen, 155; und Sauer, Kronberger Kreis. 13 Vgl. Wolf: Christusbekenntnis.
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5. Die Barmer Theologische Erklärung in den 1970er Jahren Der gesellschaftliche Neuaufbruch Ende der 1960er Jahre stellte die Barmer Theologische Erklärung unter ein ganz neues Licht und ihre Auslegung vor neue Herausforderungen. Die Bundesrepublik befand sich im Prozess der „Westernisierung“ und schloss zu den anderen modernen Demokratien auf14. Gleichzeitig aber gerieten auch die sozialen, weltwirtschaftlichen und ökologischen Risiken einer ungebremsten Modernisierung in den Blick. Die Kirche und die Theologie vollzogen den Aufbruch in die Moderne unter dem Stichwort der „Missio“, der „Hermeneutischen Theologie“ und schließlich der „Politischen Theologie“. Relativ schnell begriff die Kirche die Notwendigkeit, Partei für die Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung zu ergreifen. Auch die Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung war von diesen Veränderungen betroffen. Einige Vertreter des Luthertums, das sich mittlerweile von dem Erbe der autoritären Ordnungstheologie getrennt hatte, entdeckten Barmen neu. Der Tübinger Kirchengeschichtler Klaus Scholder und der Bonner Sozialethiker Martin Honecker korrigierten mithilfe der Barmer Theologischen Erklärung Fehlentwicklungen der lutherischen ZweiReiche-Lehre und grenzten sich zugleich von den linksprotestantischen Barmen-Interpretationen ab. Eine so verstandene Barmer Theologische Erklärung wurde für sie eine Orientierungshilfe bei der Entwicklung einer politischen Ethik in der parlamentarischen Demokratie15. Der enge Barth-Vertraute und Berliner Systematik-Professor Helmut Gollwitzer und sein jüngerer Kollege Friedrich-Wilhelm Marquardt verstanden darüber hinausgehend „Barmen I“ und „Barmen II“ als eine Aufforderung, in den offenen Diskurs der modernen Gesellschaft die christliche Botschaft als einen Deutungsvorschlag einzubringen, dessen Relevanz sich darin erweisen sollte, dass er die Menschen von einer nur formalen Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Konsumprodukten zur umfassenden Freiheit selbstbestimmter Individuen verhelfe16. Auch das neue Bild einer Kirche, die sich zur Welt hin öffnete, wurde in der Barmer Theologischen Erklärung teilweise wiedergefunden. Dazu diente vor allem die zweite Barmer These und der darin proklamierte umfassende Christusgehorsam. Die Christologie erfuhr gleichfalls eine tiefgreifende Wandlung. Wohl hielten in den Barmen-Auslegungen alle Theologen an der steilen Wort-Gottes-Theologie fest („Jesus Christus … ist das eine Wort Gottes“). Sie stellten diese aber nicht mehr plakativ dem modernen Wahrheitsbewusstsein gegenüber, sondern unternahmen es, sie von ihrem Erfahrungsgrund her plausibel zu machen. Durch exegetische Spurensuche sollte die „hohe Christologie“ Barmens in den Kontext der „Niedrigen“ einwan14 Vgl. Doering-Manteuffel, Westernisierung. 15 Vgl. Honecker, Weltliches Handeln, 89–91; Scholder, Bedeutung, 442. 16 Vgl. Gollwitzer, Gottes Wirklichkeit; Marquardt, Entbindung, 24.
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dern17. Gollwitzer und Marquardt sahen von daher eine direkte Verbindung zwischen Barmen, der Israeltheologie und der sogenannten Schwarzen Theologie. Somit vollzog diese Ansätze von Gollwitzer und Marquardt eine umfassende und reflektierte Kontextualisierung des Christusbekenntnisses, in der sich konfliktive wie konsensuelle Elemente die Waage hielten. Ernst Lange, Vertreter eines neuen hermeneutischen Aufbruches im Gegensatz zur schroffen Hermeneutik der Dialektischen Theologie, verstand von daher die Barmer Theologische Erklärung als ein „Dokument der Anpassung“ im besten Sinne des Wortes, einer Anpassung, die von Christus her die Situation zur Sprache bringe18. Der Bonhoeffer-Schüler Eberhard Bethge zeigte die Notwendigkeit auf, das Anliegen von Barmen anders auszudrücken als zum Zeitpunkt des Entstehens. Die christologische Konzentration, die einstmals einer angefochtenen Kirche in der Verfolgung durch den NS einen Raum der Freiheit eröffnet habe, habe bei der etablierten Kirche der Nachkriegszeit triumphalistische Züge erhalten19. Alles das, was heutige theologische Debatten prägt, findet sich in diesen Barmen-Auslegungen wieder : Interreligiöser Dialog, israelfreundliche Theologie, die Weltverantwortung der Christen und die kontextuelle Theologie. Wie in einem Brennglas geben diese Auslegungen Hinweise auf Bearbeitung dieser Themen aus dem Blickwinkel einer barthianisch geprägten WortGottes-Theologie.
6. Das Barmen-Jubiläum 1984 Das 50-jährige Barmen-Jubiläum von 1984 fand einen überwältigenden Widerhall und fiel aus dem bis dahin üblichen Rahmen der Barmen-Erinnerung auffällig heraus20. Der Grund für die Hinwendung zur Barmer Theologischen Erklärung lag nicht in ihr selbst begründet, sondern hatte vor allem außertheologische Ursachen. Das Barmen-Jubiläum von 1984 war der „Schwanengesang“ der westdeutschen Friedensbewegung, die ihren Höhepunkt ein Jahr vorher erreicht hatte und nach dem Bundestagsbeschluss zur Stationierung der amerikanischen Atomraketen im Herbst 1983 in sich zusammenfiel. Das Problem, das damals verhandelt wurde, ging über die Aufrüstung hinaus und kreiste um eine radikale Kritik einer Moderne, in der sich nach Ansicht der Friedensbewegung die technische Vernunft mit zerstörerischen Folgen für die Weltwirtschaft, die Ökologie und die Gesellschaft verselbständigt hatte21. Vor allem die extremen kirchenpolitischen Gruppen instrumentalisierten 17 18 19 20 21
Lochmann, Barmer Bekenntnis, 320. Lange, „Anpassung“, 172. Vgl. Bethge, Erbe, 115. Vgl. Amberg, Barmen und Mehlhausen, Bekenntnissynode. Vgl. Barmen 1984. Dieser Band vereinigt in beeindruckender Weise unzählige Voten, die diese radikale Moderne-Kritik vortragen.
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Barmen zur Legitimation der eigenen Position. Der radikale Rechtsprotestantismus verstand Barmen als das Dokument einer reinen Christusverkündigung unabhängig von Zeit und gesellschaftlicher Situation und ohne politische Relevanz, mithin als Beleg für eine strikte Zwei-Reiche-Lehre22. Der stark ethische Impuls der Erklärung, ihre zweite These, sowie die paradoxe Verschränkung von konfliktiven und konsensuellen Elementen in der Kontextualisierung der Erklärung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wurden übersehen23. Die Friedensbewegung legte die Barmer Theologische Erklärung von ihrer politischen Wirkung her aus und verstand sie als Ausdruck eines nur halbherzigen politischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus aus theologischen Gründen. Barmen stellte für sie eine Verpflichtung zum erneuten Widerstand gegen das derzeitige „System“ des entfesselten Kapitalismus dar. In doppelter Hinsicht wollte man aber über Barmen hinausgehen: Zum einen sollte der eigene politisch-theologische Widerstand radikal werden, zum anderen verwarf man die patriarchale „Christologie von oben“ und ersetzte sie durch eine „Christologie von unten“, die Jesus als den gerechten Leidenden an der Seite der Armen sah. Alles, was nicht in das Schema der apokalyptisch aufgeladenen Zeitansage passte, wurde rücksichtslos uminterpretiert oder abgelehnt24. Weder bei der Friedensbewegung noch bei ihren Gegnern vermochte es die Theologie, die moderne Gesellschaft in ihrer Ambivalenz in den Blick zu nehmen und noch weniger, das Verhältnis von Religion und Politik ausgeglichen zu bestimmen. Zwischen der Skylla der Gegner und der Charybdis der Anhänger der Friedensbewegung steuerte ein gemäßigter Rechts- wie Linksprotestantismus das Schiff der verunsicherten Volkskirche. Beide bezogen zwar in politischer Hinsicht verschiedene Positionen zur Nato-Nachrüstung. In theologischer Hinsicht jedoch hatten sie viel gemein. Sie erkannten die historische und theologische Distanz zwischen der Situation der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus und der eigenen geschichtlichen Lage. Beide suchten bei der Barmer Theologischen Erklärung Hilfe für die eigene Wahrnehmung des politisch-theologischen Konfliktes, ohne sie gänzlich für sich zu vereinnahmen. Der Rechtsprotestantismus betonte von „Barmen V“ aus die Notwendigkeit, mit theologischen Gründen für einen demokratischen Rechtsstaat einzutreten, ohne einzelne politische Entscheidungen zu ideologisieren. Den ethischen Impuls der Erklärung sahen sie vor allem in der Stärkung des Einzelnen zu verantwortlichen Entscheidungen im Raume der politischen Vernunft25. Der gemäßigte Linksprotestantismus blickte hingegen wie die Friedensbewegung auf die globalen Folgekosten der Moderne, ohne jedoch in das apokalyptische Geschichtsbild der Friedensbewegung zu ver22 23 24 25
Vgl. B-umer, Weg. Vgl. Bayer, Barmen, 29; Campenhausen, Theologische Erklärung. Vgl. Barmen 1984; Hinkelammert, Politik, 69; und Sçlle, Widerstand, 73. Vgl. Herzog, Barmen heute, 30; Jengel, Frieden, 69.
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fallen. Wohl nahm diese Theologie wahr, dass eine umfassende Korrektur der gesellschaftlichen Entwicklung nötig erschien. Diese Korrektur aber sollte unter Respektierung der gesellschaftlichen Umstände erfolgen, mit dem Ziel einer Veränderung des Weltwirtschaftssystems, einer nachhaltigen ökologischen Entwicklung und einem Ausstieg aus der Rüstungsspirale. Den theologischen Grund fand diese Theologie in einer Verschränkung von „WortGottes-Theologie“ mit den Anliegen einer „Theologie von unten“26. Wo die „Wort-Gottes-Theologie“ streng zwischen dem absoluten göttlichen und dem relativen menschlichen Wort unterschieden hatte, um die Freiheit Gottes von aller menschlichen Instrumentalisierung zu bewahren, legte die „Theologie von unten“ wert auf die sensible Wahrnehmung der Menschen, die „unten“, als Verlierer der Moderne lebten, da Gott in Jesus Christus sich mit diesen solidarisiert hatte.
7. Die Barmer Theologische Erklärung in der DDR Die Christen in der DDR befanden sich von Beginn an in einer weitaus komplizierteren Situation als ihre westdeutschen Geschwister. Der Staat, in dem sie leben mussten, strebte eine radikale Abkehr von der herkömmlichen, bürgerlichen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft an. Eine solche Gesellschaft und die ihr entsprechende Ideologie wurden als Maßstab der „wahren Moderne“ ausgegeben und allen Bürgern nötigenfalls gewaltsam aufgedrungen27. Die Kirchen hatten nach dem verlorenen Konflikt mit dem Staat in den 1950er Jahren nur dann eine Chance zu überleben, wenn sie die ungünstigen Umstände annehmen und dieses dem Staat glaubwürdig versichern konnten. Deshalb unternahmen es die führenden Theologen, unter ihnen und sie alle überragend der Berlin-Brandenburgische Bischof Albrecht Schönherr28, ab 26 Vgl. Dembowski, Barmen, 318 f.; Huber, Folgen; und Tçdt, Dokument, „Wort-GottesTheologie“. 27 Die Beziehungen zwischen DDR-Staat und der Evangelischen Kirche sind in den letzten Jahrzehnten intensiv debattiert worden. Aus der unübersehbaren Fülle einer Diskussion, die lange noch nicht abgeschlossen ist, seien hier nur die folgenden Beiträge genannt, die für die Verfolgung der verhandelten Frage bedeutsam waren: vgl. D-hn, Konfrontation; ders., Kirchen; Henkys, Kirchen; Kaiser / Frie, Christen; Klessmann, Staaten; Lepp, „Klammer“; Lepp / Nowak, Kirche; Rendtorff, Revolution?; Schrçter / Zeddies, Nach-Denken; Staritz, Geschichte; und Winter, Union. 28 Albrecht Schönherr war Vikar bei Dietrich Bonhoeffer im Predigerseminar Finkenwalde. In der DDR wurde er unter Weiterentwicklung von Gedanken Bonhoeffers zu einem Verfechter einer „Kirche im Sozialismus“ als „Kirche für andere“. Von 1969 bis 1981 war er als Bischof des östlichen Teils der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg auch Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR.
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Mitte der 1960er Jahre, den Staat bei seinem Wort zu nehmen, eine bessere Gesellschaftsordnung aufzubauen. Sie erklärten sich bereit, sich in dieses Projekt einzubringen, zugleich aber auch die innere und äußere Freiheit zu behalten, den Staat an seine eigenen Versprechungen zu erinnern. Die theologische Legitimation für diesen Kurs bezogen die Kirchen aus der späten Christologie Bonhoeffers, der zufolge Gott mit dem gekreuzigten Jesus Christus die Welt in die Mündigkeit entlässt und zugleich inmitten der Profanität zur Nachfolge beruft. Kirche wurde in diesem Konzept als „Kirche für andere“ begriffen, die sich einbringt in die Gesellschaft und durch den selbstlosen Dienst im Vertrauen auf Christus von diesem gehalten wird29. Neben Bonhoeffer wurde die Barmer Theologische Erklärung als die zweite allseits akzeptierte theologische Grundlage angesehen. Stellte sie doch ein Dokument des „antifaschistischen Widerstandes“ dar, war mithin vor dem sozialistischen Staat unverdächtig, und erschloss doch auch die Barmer Erklärung die Welt als den Raum der Christusverkündigung unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese Deutung von Bonhoeffer und der Barmer Theologischen Erklärung bildete spätestens seit der Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR 1969 die offizielle Theologie der DDR-Kirchen, die zwar immer neu aktualisiert und entfaltet, aber nicht mehr ernsthaft infrage gestellt wurde. Innerhalb dieses Rahmens eröffnete sich jedoch ein erheblicher Spielraum. Das lässt sich an den Auslegungen der Barmer Theologischen Erklärung durch die verschiedenen Strömungen gut zeigen. Die Theologen an der Ostberliner Humboldt-Universität um den evangelischen Systematiker Hanfried Müller verschärften die christologische Konzentration von „Barmen I“ zu einer kompromisslosen Religions- und Kirchenkritik, die schließlich in ihrem Ergebnis mit der marxistischen Religionskritik in eins fiel30. Zugleich lehnten sie die auf „Barmen II“ aufruhende christologische Rechtsbegründung ab. Somit wurde dem Christen und der Kirche jede Möglichkeit abgesprochen, selbständig die Welt zu gestalten. Es blieb der Kirche nur noch, sich vorbehaltlos in den sozialistischen Staat einzugliedern und alle äußeren Bestandsgarantien seinem Wohlwollen zu überlassen. Sorgen musste sich die Kirche jener Theologie zufolge nicht. Befand sie sich doch im modernsten, gerechtesten und freiheitlichsten Staate, der nur denkbar war. Diese Theologie stellte eine akrobatische Gedankenkonstruktion dar, die auf die Selbstenthauptung der Theologie hinauslief. Die kirchlichen Bruderschaften in der DDR steuerten einen Weg zwischen den Kirchen und dem Staat. Sie wollten von beiden unabhängig sein und zugleich in beiden stehen und als Teil der Kirche am Aufbau des Sozialismus 29 Das in jeder Hinsicht herausragende und über den gesellschaftlichen und historischen Kontext hinaus bis heute faszinierende Grunddokument stellt die Rede Heino Falckes im Jahr 1972 dar. Vgl. Falcke, Christus. 30 Vgl. Bertinetti, Vierzig Jahre; Meller, Christ, 6; ders., Beitrag; ders., Dogmatik, 256 f; Meller-Streisand, Vierzig Jahre, 4; und dies., Weg.
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mitwirken. Sie legten Barmen auf eine einfache Weise aus. Barmen war – recht verstanden – eine Hinwendung zur Wort-Gottes-Christologie und zum Sozialismus zugleich gewesen. Für Barmen sein bedeutete, für den Sozialismus zu sein. Die Wirklichkeit in der DDR war jedoch nicht so einfach, standen doch Kirche und Staat miteinander in unaufhörlicher Spannung. In diesem Konflikt strebten die Kirchlichen Bruderschaften zwar keinesfalls eine Eingliederung der Kirche in den Staat an. Aber für die Konflikte machten sie immer die Kirchen verantwortlich, die sich ihrer Ansicht nach noch nicht hinreichend mit Barmen auf den Sozialismus eingelassen hatten. Da sie auf eine Analyse der Modernisierungsdefizite des Staates verzichteten, endete auch ihre schlichte Barmen-Auslegung mit einer Eingliederung der Kirchen ins System31. Die offizielle Theologie des Kirchenbundes um Albrecht Schönherr trug weitaus ambitioniertere Züge32. Sie war geprägt von dem Willen, die offensichtlichen Spannungen zwischen Staat und Kirche nicht theologisch zu verschleiern, sondern in das eigene Handeln produktiv einzubeziehen. Schönherr untermauerte theoretisch den Weg der Kirche zwischen Anpassung und Verweigerung mit seiner Bonhoeffer-Interpretation und einer globalen Beobachtung zur Moderne. Bonhoeffer und Barmen zufolge war die DDR kein weißer Fleck auf der Landkarte des lieben Gottes. Soziologisch gesehen stellte die DDR eine moderne Industriegesellschaft dar mit all den Chancen und Risiken, die solche Gesellschaften mit sich bringen. Da mithin soziologisch gesehen zwischen der DDR und der Bundesrepublik zwar ein erheblicher, aber eben nur ein gradueller und kein prinzipieller Unterschied bestand, und da nach „Barmen V“ nicht die Form des Staates, sondern seine Funktionserfüllung, „für Recht und Frieden zu sorgen“, von Bedeutung war, konnte sich der Christ freimütig im Sozialismus engagieren. Die ganze Theorie erhielt bei Schönherr legitimatorische Züge, da er eine konkrete Analyse der DDR aus theologischer Sicht unterließ und den „freimütigen Einspruch“, den er prinzipiell befürwortete, aus kirchenpolitischen Gründen eher dämpfte33. Man darf Schönherr nicht nachsagen, er habe sich angepasst, wohl aber, er habe die Chancen seines eigenen Entwurfes nicht voll genutzt. Eine Gruppe von eher staatskritischen Theologen stimmte generell dem Ansatz von Schönherr zu, unternahm es darüber hinaus jedoch, die Defizite des Staates aus theologischen Gründen anzusprechen. Ihre Kritik entsprang nicht dem Wunsch nach einer westlichen Gesellschaft, oder dem Ziel, eine kirchlich privilegierte Stellung zu erlangen, sondern dem Wunsch nach einer 31 Beispielhaft dafür steht der Tagungsband der Kirchlichen Bruderschaften aus dem Jahre 1984 Die Barmer Theologische Erkl-rung von 1934 und unser Christusbekenntnis von 1984. Vgl. darin Langner, Bekennen. 32 Vgl. Schçnherr, Diskussion; ders., Kirche in der Welt; ders., Barmen, 15 f.; und ders., Selbstverständnis. 33 Vgl. Schçnherr, Barmen. Dieser Text ist ein präzises Beispiel für die Abschwächung der realen gesellschaftlichen Konflikte.
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gerechten und versöhnten Gesellschaft, in der die freie Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus einen Beitrag zum Aufbau eines wahrhaft humanistischen Sozialismus leisten könne. Mehr als Hinweise konnten sie jedoch nicht geben, ansonsten hätte der allgegenwärtige Staat sofort seine Macht gezeigt. Ihre Hinweise waren jedoch schon beredte Zeugen und schlugen Breschen in das äußerlich und innerlich geschlossene System. Den Barmen-Auslegungen des Görlitzer Bischofs Hans-Joachim Fränkel, des Erfurter Probstes Heino Falcke, des späteren Berliner Professors für Systematische Theologie Wolf Krötke und dem Theologischen Ausschuss der Evangelischen Kirche der Union in der DDR gebührt die Ehre, solche mutigen und theologisch beeindruckenden Hinweise gegeben zu haben34. Ihre konfliktbereite Auslegung Barmens führte zu theologischen Einsichten, die auch über den Zusammenbruch der DDR hinaus Bestand haben sollten.
8. Fazit Dieser weitgespannte Überblick hat gezeigt, dass die Barmer Theologische Erklärung „eingewandert“ ist in unterschiedliche Kontexte – von Diktatur bis zur westlichen Demokratie. Entsprechend der unterschiedlichen gesellschaftlichen Situation haben sich die Auslegungen gewandelt. Sie sind zum Teil erheblich abgewichen von den Ursprungsintentionen vieler Synodaler von 1934. Festzuhalten ist: Der gesellschaftliche Kontext und die konkrete zeitgeschichtliche Situation haben die Auslegungen erheblich geprägt. Es machte einen Unterschied, ob man in einer Diktatur „Barmen“ auslegte oder aber in der parlamentarischen Demokratie. Genauso entscheidend war die politische Haltung im Rahmen des umfassenden geopolitischen Konfliktes der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen den Hegemonialmächten USA und UdSSR. Schließlich spielte auch die Frage der kulturellen Mentalität eine Rolle. Jeder, der Barmen auslegte, legte sein eigenes Vorverständnis und seine politische Haltung in die Interpretation hinein. So ging zum Beispiel ein konservativer Ordnungspolitiker, der Deutschland „rechristianisieren“ wollte, mit Barmen anders um als jemand aus der Szene der Friedensbewegung oder als ein radikaler Marxist. In diesem gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Rahmen hat die Barmer Theologische Erklärung immer neue Auslegungen angestoßen. Friedrich Schleiermacher hat bekanntermaßen den hermeneutischen Grundsatz aufgestellt, Aufgabe einer Textauslegung solle sein, den Text immer besser zu verstehen als sein Autor. Diese Forderung gilt auch für die Auslegung 34 Vgl. Fr-nkel, Dreissig Jahre 198; Krçtke, Ansatz; ders., Anspruch, 175; ders: Gemeinde; ders., Barmer Theologische Erklärung; und Burgsmeller, Auftrag, 35 f.
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der Barmer Theologischen Erklärung. Die Barmer Theologische Erklärung fordert immer neue Interpretationen heraus, die nicht im Vorstellungsfeld ihrer damaligen Autoren lagen. Solche Auslegungen müssen sich gleichwohl immer am Ursprungstext prüfen lassen. Und ein guter theologischer Text – genauso wie ein gutes Gedicht – wird niemals ganz in seiner Zeit aufgehen. Das Unangepasste und Widerständige, das was sich heute der Auslegung entzieht, wird der Ansatzpunkt für die nächste Interpretation morgen. Die Barmer Theologische Erklärung hat genug widerständiges Potential in sich, um weitere Auslegungen zu provozieren.
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Kommentare
Ursula Büttner
Betrachtungen zum Schluss
Die Aufgabe, die mir gestellt wurde, in zwanzig Minuten die Bilanz einer zweitägigen Konferenz zu ziehen, ist kaum lösbar. Zwangsläufig werde ich einzelnen Vorträgen nicht gerecht werden. Insgesamt bot die Tagung eine beeindruckende Leistungsschau über Breite und Vielschichtigkeit der Forschung zur Rezeption des kirchlichen Widerstandes nach 1945. Dabei fanden die beiden Hauptformen der Rezeption Beachtung: das kollektive Gedenken, das, was wir als Erinnerungskultur bezeichnen, wie auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Seit der Wende der Geschichtswissenschaft zur Kulturgeschichte hat sich die Untersuchung der Erinnerungskulturen zu einem großen Forschungsfeld mit speziellen Fragestellungen und Methoden entwickelt. Nicht mehr die historischen Ereignisse, sondern ihre Wahrnehmung und Deutung stehen im Mittelpunkt, die Sinn und Identität stiftende Auswahl und Interpretation der Ereignisse im historischen Gedenken. Bei diesem Thema verfügen die Kirchen und Religionsgemeinschaften über einen uneinholbaren Vorsprung an Erfahrung und Übung. Seit eh und je gedenken Juden an Pessach an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten; Christen vergegenwärtigen sich bei ihren großen Festen und beim Abendmahl Leben und Leiden Jesu und die Anfänge der Kirche. Kirchenleute sind Fachleute für historisches Gedenken. Aber in dieser besonderen Kompetenz steckt auch ein Problem: Es ist nicht immer leicht, die Grenze zwischen ritualisiertem Gedenken und analytischintellektuellem Umgang mit der Geschichte zu beachten. Bei Studien über das „Dritte Reich“ ist, wie Martin Broszat schon 1985 in einem Aufsatz darlegte, die Gefahr besonders groß, die wissenschaftliche Analyse mit moralischwertenden Betrachtungen zu verquicken. Bei seinem Plädoyer für eine „Historisierung“ des Nationalsozialismus trat er im Kern dafür ein, die nüchterne intellektuelle Untersuchung und das moralisch wertende „mythische Gedenken“ auseinanderzuhalten1. Nur so können das Gedenken und auch der Gang der Forschung zum Gegenstand der Analyse werden, wie es bei dieser Tagung in eindrucksvoller Breite an zahlreichen Themen vorgeführt wurde. Das Gedenken wird zum historischen Geschehen, dessen Wandlungen etwas über politische und mentale Einstellungen und gesellschaftliche Interessen der Zeitgenossen aussagen. Dies hier zu betonen, heißt nun freilich Eulen nach 1 Vgl. Broszat, Plädoyer.
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Ursula Büttner
Athen tragen. Aber es scheint mir im Blick auf eine kirchlich verantwortete Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christen und Christinnen im Nationalsozialismus“2, in deren Kontext ich die Tagung verorte, doch wichtig zu unterstreichen, dass die „Historisierung“ und damit der Anschluss an den geschichtswissenschaftlichen Diskurs erstrebt und erreicht wurde. Das ist nicht selbstverständlich, wie die Geschichte der „Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte“ zeigt, die selbst ein Untersuchungsthema bei dieser Konferenz hätte sein können. Sie wurde bekanntlich als „Kommission zur Geschichte des Kirchenkampfes“ gegründet, wie Harry Oelke in seiner Begrüßung in Erinnerung gerufen hat. Damit waren das Ergebnis und die Sinndeutung der Arbeit im Namen schon vorgegeben. Als ich 1988, kurz nach dem Amtsantritt des damaligen Vorsitzenden Joachim Mehlhausen zur Arbeitsgemeinschaft stieß, trug sie schon ihren heutigen Namen; das Forschungsprogramm hatte sich deutlich zur ergebnisoffenen Untersuchung der evangelischen Kirchengeschichte im „Dritten Reich“ erweitert. Allerdings erlebten wir nach der Vereinigung Deutschlands noch einmal, dass die Kollegen aus den neuen Ländern ihren Konflikt mit dem DDR-Regime als „Kampf“ empfanden und gewürdigt sehen wollten. Außerdem wurden noch heiße Debatten geführt, ob „Profanhistoriker“ in der Arbeitsgemeinschaft mitarbeiten könnten, und wie viele es sein dürften, ob sie mit denselben Methoden und Zielsetzungen ihre Forschungen betreiben solle wie die allgemeine Geschichtswissenschaft, ob es nicht doch ein „Proprium“ der kirchlichen Zeitgeschichte gebe, das es unabdingbar mache, sie den Theologen vorzubehalten. Wenn man diese Tagung hier Revue passieren lässt, erscheint das wie eine unglaubliche Geschichte aus einer fernen Vergangenheit. Ganz selbstverständlich standen am Anfang zwei Grundsatzreferate eines theologisch geschulten Kirchenhistorikers und eines Allgemeinhistorikers. Siegfried Hermle führte in seinem systematischen Überblick die Größe des Themas: „Evangelischer Widerstand in der historischen Erinnerung“ vor Augen. Er skizzierte den Gang der Forschung und beschrieb Anlässe, Akteure und Formen des öffentlichen Gedenkens. Michael Kißener ließ einen Überblick über die Phasen der allgemeinen Widerstandsforschung folgen. Er schilderte ihr Ringen um die angemessenen Begriffe für die verschiedenen Abstufungen widerständigen Verhaltens und stellte am Ende den interessanten Vorschlag zur Diskussion, im Anschluss an das zur Zeit in der Geschichtswissenschaft debattierte Konzept der „Volksgemeinschaft“ einen neuen Untersuchungsansatz zu finden. Ob „Inklusion“ und „Exklusion“ wirklich operationable Kategorien sind, erscheint mir allerdings ein wenig zweifelhaft: Erzwungene Exklusion ist doch eher Verfolgung, und freiwillige Exklusion in Gestalt der „inneren Emigration“ ist kein Widerstand. Als Martin Greschat 2006 mit einer ähnlichen differenzierten Begrifflichkeit wie Kißener und seine Gewährsleute das 2 Widerstand!?
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breite Spektrum „sperrigen Verhaltens“ von evangelischen Christen darstellte, schlug ihm von Günter van Norden heftiger Widerspruch entgegen3 ; er betreibe apologetische Legendenbildung. Wenn es um Kirche geht, wird der Versuch, auf moralische Werturteile zu verzichten und stattdessen nüchternsachlich zu analysieren, schwer ertragen. Die Planer unserer Tagung ließen sich dadurch oder durch die Sorge um das Proprium der Kirchengeschichte nicht anfechten. So baten sie den Protagonisten der Widerstandsforschung, Peter Steinbach, einen Politologen und Historiker, um den öffentlichen Abendvortrag. Und auch als „Beobachterinnen“ wählten sie zwei Historikerinnen. Alle Referenten/innen gingen unbefangen mit den in der Geschichtswissenschaft etablierten Begriffen um. Am Anfang des Widerstandsprojekts war das noch anders. Der Rat der EKD hatte – auch als Antwort auf ein voluminöses katholisches Martyrologium4 – ein Verzeichnis evangelischer Märtyrer im 20. Jahrhundert erbeten. Als Ergebnis erschien 2006 der Band: „Ihr Ende schaut an…“5. In der Auseinandersetzung mit dieser als heikel empfundenen Anfrage setzte sich Wolf-Dieter Hauschild in einem grundsätzlichen Artikel mit dem evangelischen Verständnis des Märtyrertums auseinander, während ich die Brauchbarkeit des Begriffs für die distanziert-historische Untersuchung in Frage stellte6. Ich äußerte die Sorge, „dass schon bei der Ermittlung der Personen, Daten und Fakten ausschließende Werturteile ins Spiel kommen“; außerdem werde es erschwert, „an die polithistorische Forschung anzuknüpfen, insbesondere die dort in einem langen, empirisch fundierten Diskurs erreichte Differenzierung des Widerstandsbegriffs zu nutzen“7. Umso mehr freut es mich, dass bei der Ausstellung und bei dieser Tagung mit der differenzierten Begrifflichkeit der Geschichtswissenschaft und Politologie gearbeitet wurde. Vielleicht – dies sei nur am Rande angemerkt – wäre bei konsequenter Verwendung des schwerfälligen Terminus „Widerständigkeit“ anstelle von „Widerstand im weiten Sinn“ leichter dem Verdacht zu entgehen, mit begrifflicher Ausweitung apologetische Absichten zu verfolgen. In den vielen Vorträgen, die wir gehört haben, zeichnen sich mit bemerkenswerter Deutlichkeit übereinstimmende Entwicklungslinien ab: im Großen und Ganzen gleiche Phasen des Gedenkens von 1946 bis 1961, von 1962 bis 1989 und von 1990 bis heute. Dies kann natürlich nicht anders sein, wenn die These zutrifft, dass die Deutung der historischen Ereignisse vom aktuellen politischen und soziokulturell-mentalen Kontext bestimmt wird. Nur beim Gedenken der evangelischen Kirchen an das Judenpogrom um den 9. No3 Vgl. Greschat, Motivation; Van Norden, Widerstehen. In der Rubrik „Vermischtes“ konnte sich Greschat im nächsten Band wehren: vgl. Greschat, Martin: „Apologetische Legendenstabilisierung“. 4 Vgl. Moll, Zeugen. 5 Vgl. Schultze / Kurschat, Ende. 6 Vgl. Hauschild, Märtyrer; Bettner, Opfer. 7 Bettner, Opfer, 51, 54.
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vember 1938 gab es mit dem Höhepunkt im Jahr 1978 eine Abweichung, wie Axel Töllner in seinem kenntnisreichen Vortrag zeigte. Diese Abweichung bedarf der Erklärung. Möglicherweise wirkte die große Bedeutung, die der Zeitspanne von vierzig Jahren in der Bibel zukommt, beim kirchlichen Gedenken in spezifischer Weise modifizierend. Zur Verdeutlichung der vielen übereinstimmenden Erkenntnisse in den verschiedenen Vorträgen nenne ich nur einige Punkte, die mir besonders auffielen: In einer ersten Phase des Gedenkens wurden die Erfahrungen von evangelischen Christen im „Dritten Reich“ weitgehend unter dem Aspekt des „Martyriums“ gesehen, ausgewählt und gedeutet. Das zeigten besonders eindrucksvoll die Vorträge von Christine Friederich über Hans und Sophie Scholl und von Thomas Martin Schneider über Pfarrer Paul Schneider. Auch Dietrich Bonhoeffer wurde unter diesem Vorzeichen von Anfang an geehrt, wie Tim Lorentzen im Widerspruch gegen falsche Darstellungen in der Literatur betonte. Das war möglich, weil auf diese Weise seine Beteiligung am politischen Widerstand nicht thematisiert werden musste. Durch die Deutung als „Martyrium“, bewusstes Opfer zum Zeugnis für ein „anderes Deutschland“, konnte die Geschichte der „Weißen Rose“ und anderer einzelner Gegner des Nationalsozialismus zu einer „positiven Gegenerzählung“ ohne implizierten Vorwurf an die schweigende Mehrheit werden und deshalb breite gesellschaftliche Akzeptanz finden, wie Christine Friederich überzeugend argumentiert. Auch das Gedenken an das Novemberpogrom im Passiv ohne Täter, wie es Axel Töllner herausgearbeitet hat, passt zu dem Muster dieser ersten Phase. Einzelne wurden „Märtyrer“, die Bekennende Kirche als Institution stand im „Kampf“ gegen das NS-Regime. Diese Interpretation ihrer Geschichte als „Kirchenkampf“ trug ihren Protagonisten wie Bischof Hans Meiser zunächst große Verehrung ein. Ebenso stand die Diakonie bei ihrer Abwehr des Krankenmords nach ihrer Selbstdeutung generell „im Kampf“, wie Hans-Walter Schmuhl dargestellt hat; einige kritische Arbeiten, die es schon gab, fanden keine Verleger. In Etappen, die sich teilweise durch generationellen Wechsel, teilweise durch den Wandel der allgemeinen politischen Rahmenbedingungen erklären lassen, entwickelten sich beim Blick auf die evangelische Kirche im „Dritten Reich“ mehr Offenheit und kritische Distanz. Am Ende stand die Erkenntnis der verschiedenen vielfältig abgestuften Möglichkeiten nonkonformen Verhaltens. Kirchenleute, die als Männer des „Widerstands“ gefeiert worden waren, wurden aus dem Kanon der verehrungswürdigen Personen gestrichen. Diesen Prozess konnte Nora Andrea Schulze am Beispiel von Hans Meiser vorzüglich nachzeichnen. Auch Paul Schneider wird inzwischen weit kritischer gesehen, nicht mehr als Vorbild und von manchen nicht einmal mehr als „Märtyrer“ betrachtet. Ebenso spannend, wenn auch eigentlich nicht überraschend, war es für mich, durch den Vortrag von Manuel Schilling zu erfahren, wie auch ein zentrales
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Dokument, die Barmer Theologische Erklärung, je nach politischem Interesse von verschiedenen kirchlichen Gruppen und zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich gedeutet, hochgelobt oder totgeschwiegen wurde. Gerade mit diesem Text gingen die Kirchenleute, Theologen wie Laien, ganz unhistorisch um. Sie behandelten ihn als ein überzeitliches Dokument, das sich, wie die Bibel, durch Exegese dem richtigen Verständnis erschließen musste. Der Wandel in der Beurteilung herausragender Persönlichkeiten des Protestantismus hatte mit einer veränderten Einstellung zum Antisemitismus zu tun. In der ersten Phase nach dem Krieg taten antisemitische Äußerungen der Wertschätzung für eine verehrte Person keinen Abbruch. Seit dem Beginn der 60er Jahre änderte sich das. Dieser Befund ist für mich ein wichtiges Nebenergebnis der Tagung. Nora Andrea Schulze konnte die veränderte Gewichtung antisemitischer Äußerungen beim Urteil über Hans Meiser nachweisen; Dagmar Pöpping fand diese Veränderung auch beim Blick auf August Winnig. Bei dem schleswig-holsteinischen Bischof Wilhelm Halfmann, einem BKMann, der 1936 eine antijüdische Schrift „Die Kirche und der Jude“ veröffentlichte, wäre Gleiches zu beobachten. Dazu passt es, dass auch bei der Aktion Sühnezeichen zunächst hauptsächlich an die Opfer politischer Verfolgung im besetzten Holland und erst in einer späteren Phase verstärkt an die Schoah erinnert wurde, wie Christine Gundermann in ihrem schriftlich eingereichten Vortrag festgestellt hat. Indem diese Organisation sich weder auf „Märtyrer“ berief, noch bis in die 1970er Jahre auf den deutschen „Widerstand“ Bezug nahm, sondern Schuld und Sühne betonte, machte sie es sich schwer, Unterstützung bei der deutschen Bevölkerung zu finden. Aus dem Rahmen fällt allerdings der Lübecker Pastor Karl Friedrich Stellbrink, über den Hansjörg Buss berichtete. Bei ihm verhinderten sein Antisemitismus und theologische Verirrungen lange Zeit die öffentliche Verehrung als „Märtyrer“, während sie in jüngster Zeit mit um so größerem Nachdruck nachgeholt wird. Maßgebend waren dabei die Impulse aus der katholischen Kirche, die es im Zeichen katholisch-evangelischer Ökumene für falsch hielt, nur an ihre drei zusammen mit Stellbrink hingerichteten Kapläne zu erinnern. Die starke Bedeutung treibender Akteure wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Sie trat auch sonst während der Tagung in den Vorträgen und vor allem in der Diskussion immer wieder zutage. Als einen bemerkenswerten Ertrag der Tagung möchte ich schließlich hervorheben, dass in vielen Beiträgen, nämlich in der generellen Übersicht über die Entwicklung der Widerstandsforschung (Kißener) und in den Vorträgen über Dietrich Bonhoeffer (Lorentzen), Paul Schneider (Schneider) und die Barmer Theologische Erklärung (Schilling), die Rezeptionsgeschichte in Westdeutschland und in der DDR behandelt wurden. Dadurch ist es an einigen Beispielen möglich gewesen zu klären, wie sich die Wahrnehmung und Deutung im Kontext grundverschiedener politischer Systeme veränderten, inwieweit sie aber auch ähnlich blieben, weil religiöse Überzeugungen als Teil der Mentalität sich nur in sehr langen Wellen wandeln.
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Katharina Kunter erweiterte die Perspektive sogar noch weiter und richtete den Blick auf Europa und die USA. Obwohl sie auf nahezu keine Vorarbeiten zurückgreifen konnte, gelang es ihr, so viele spannende Fragen und Aspekte aufzuzeigen, dass sich der Wunsch nach weiterer Forschung aufdrängt. Sie betonte die Bedeutung binationaler Beziehungen und vor allem die Rolle der organisierten Ökumene bei der internationalen Wahrnehmung des kirchlichen Widerstands. Der Hinweis auf die Ökumene kehrte in vielen Vorträgen (u. a. von Buss, Schneider und Lorentzen) und Diskussionsbeiträgen wieder ; hier gibt es dringenden Forschungsbedarf. Natürlich bleiben bei allen Forschungsbemühungen immer auch Fragen offen. Ich möchte zum Schluss einige Punkte nennen, bei denen mir weitere Anstrengungen nötig oder lohnend zu sein scheinen: Bei der Darstellung der allgemeinen zeitgeschichtlichen Situation in den Nachkriegsjahren sollte auch die Debatte um eine „Kollektivschuld“ des deutschen Volkes, um „Kollektivscham“ und „Kollektivhaftung“, die damals mit großer Heftigkeit in der Öffentlichkeit geführt wurde, Beachtung finden. In Abwehr der während des Krieges und danach besonders in England und den USA immer stärker vertretenen Meinung, das ganze deutsche Volk sei für die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verantwortlich, entwickelte sich in Deutschland die weitverbreitete Neigung, jedes Mitwissen und jede Mitverantwortung abzustreiten und den Widerstand als Gegenbeweis gegen die „Kollektivschuldthese“ in besonderer Weise zu betonen. Vor diesem Hintergrund wurden alle möglichen Formen unangepassten Verhaltens zum „Widerstand“ erklärt. Die Annäherung an die Geschichts- und Politikwissenschaft ist inzwischen so weit gediehen, dass ich mich als Historikerin berufen fühle, eine Lanze für die Theologie zu brechen. Vor allem scheint es mir ein dringendes Desiderat zu sein, die Haltung liberaler Theologen im „Dritten Reich“ genauer zu untersuchen. Das Verdikt von Vertretern der dialektischen Theologie, die nach dem Krieg nicht nur die Deutung der Kirchengeschichte als „Kirchenkampf“, sondern auch das Urteil über andere theologische Richtungen bestimmten, muss endlich kritisch-wissenschaftlich überprüft werden. Elisabeth Schmitz, über deren engagiertes Eintreten für die verfolgten Juden Claudia Lepp hier berichtet hat, war theologisch sehr gebildet, wie ihre Briefe an Karl Barth zeigen; als Schülerin von Friedrich Harnack bekannte sie sich ausdrücklich zur liberalen Theologie. Auch Martin Rade und Hermann Mulert erhoben in der Zeitschrift „Christliche Welt“ schon seit 1933 ihre Stimme gegen die Judenverfolgung, weit früher und eindeutiger als die meisten Mitglieder der Bekennenden Kirche. Es ist zu begrüßen, dass durch den Beitrag von Claudia Lepp wenigstens einmal Frauen und ihr widerständiges Verhalten in den Blick kommen. Bei der Hilfe für verfolgte Juden spielten sie generell eine besondere Rolle, nicht nur die beiden hier behandelten, zweifellos herausragenden Exponentinnen Marga Meusel und Elisabeth Schmitz, sondern auch die Pfarrfrauen in der
Betrachtungen zum Schluss
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sogenannten „Pfarrhauskette“, über die Peter Haigis in seinem schriftlich eingereichten Vortrag berichtet. Die Beteiligung am „Rettungswiderstand“, dessen Bedeutung in dem Vortrag von Helmut Rönz als wichtiges Nebenergebnis gut zu erkennen war, scheint eine bei Frauen besonders häufige Form riskanter Nonkonformität gewesen zu sein. In diesem Zusammenhang ist auch an eine weniger gefährliche, aber dennoch sehr belastende Art der Verweigerung zu denken, die ich einmal als einen „unbekannten Fall von Widerstand“ bezeichnet habe: Ich meine das Festhalten an einer „Mischehe“ mit einem Juden oder einer Jüdin, durch das die nichtjüdischen Eheleute in den Sog der Verfolgung gerieten. Trotz stärksten Drucks von Partei und Staat hielten die meisten an ihrer Ehe fest und retteten dadurch den Partner oder die Partnerin vor der Deportation und Ermordung. Sogar zerrüttete Ehen wurden zum Schutz des jüdischen Mannes bzw. der jüdischen Frau fortgesetzt8. Schließlich wirft der Titel der Tagung ein ganz schwieriges Problem auf: Was ist „evangelischer Widerstand“? Reicht es, dass die Träger und Trägerinnen des Widerstands evangelisch waren? Wenn man die Formulierung „evangelischer Widerstand“ ernst nimmt, wäre nach dem religiösen Handlungsantrieb zum Widerstand zu fragen. Aber wie lässt sich dieses Motiv von anderen Beweggründen trennen? Helmut Rönz hat dieses Problem stark hervorgehoben. Auch mir scheint es gravierend zu sein. Schon 2001 habe ich bei einer anderen Tagung in einem Vortrag über „Judenretter aus christlicher Motivation“ am Ende gefragt: Warum ließen diese Menschen „sich zu rettendem Handeln bewegen, die meisten nicht weniger gläubigen Christen und Christinnen dagegen nicht? […] Gab es Unterschiede zwischen den Konfessionen, zwischen theologischen Richtungen oder spezifischen Glaubenstraditionen?“9 Welche Rolle spielten allgemein-menschliche oder akzidentielle Motive? Die Fragen sind, soweit ich sehe, noch immer unbeantwortet. Die Aufgaben für die Forschung – und das ist die gute Nachricht zum Schluss – hören nicht auf, nicht einmal nach einer so erfolgreichen Tagung wie dieser.
Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Broszat, Martin: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus. In: Graml, Hermann / Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat. München 1986, 159–173. Bettner, Ursula: An Unknown Case of Resistance: The Rescue of Jews in Christian Jewish Mixed Marriages. In: Chandler, Andrew (Hg.): The Moral Imperative. New 8 Vgl. Bettner, Resistance. 9 Bettner, Christen, 150.
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Essays on the Ethics of Resistance in National Socialist Germany 1933–1945. Colorado / Oxford 1998, 105–117. –: Opfer politischer Verfolgung als Märtyrer? Einleitende Bemerkungen aus der Sicht einer Historikerin. In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 20 (2002), 49–55. –: Die anderen Christen. Ihr Einsatz für verfolgte Juden und „Nichtarier“ im nationalsozialistischen Deutschland. In: Kosmala, Beate / Schoppmann, Claudia (Hg.): Überleben im Untergrund. Hilfe für Juden in Deutschland 1941–1945. Berlin 2002, 127–150. Greschat, Martin: Aus christlicher Motivation dem Nationalsozialismus widerstehen. Versuch eines Überblicks. In: Kunze, Rolf-Ulrich (Hg.): Distanz zum Unrecht, 1933–1945. Methoden und Probleme der deutschen Widerstandsforschung. Konstanz 2006, 31–54. –: „Apologetische Legendenstabilisierung“? Antwort an Günther van Norden. In: Kirchliche Zeitgeschichte 21 (2008), 128–132. Hauschild, Wolf-Dieter : Märtyrer und Märtyrerinnen nach evangelischem Verständnis. In: Schultze / Kurschat, Ende, 49–69. –: Der Märtyrergedanke in der Evangelischen Kirche. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 120 (2009), 323–339. Moll, Helmut (Hg.): Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. 1 und 2. Paderborn 42006. Norden, Günther van: Widerstehen aus christlicher Motivation – ein heuristisches Problem. In: Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2007), 181–187. Schultze, Harald / Kurschat, Andreas (Hg.): „Ihr Ende schaut an…“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 22008. Widerstand!? Evangelische Christen und Christinnen im Nationalsozialismus. Online-Dokumentation. Erarbeitet von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte (http://de.evangelischer-widerstand.de/? [zuletzt aufgerufen am 26. 11. 2015]).
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Evangelischer Widerstand in der Erinnerungskultur nach 1945
Die Erinnerungskultur bezieht sich auf Ereignisse der Vergangenheit, aber sie ist zugleich auch ein Produkt der jeweiligen Gegenwart. Erinnerung stiftet Identität, und entsprechend orientiert sich das, was erinnert wird, und die Art und Weise, wie dies geschieht, nicht nur an historischen Referenzpunkten aus der Vergangenheit, sondern auch an den gegenwärtigen Bedürfnissen der Erinnerungsgemeinschaften, die sich ständig verändern. Angetrieben wird die Veränderung der Erinnerungskultur zudem durch den Wandel bzw. Zuwachs der historischen Wissensbestände und die Veränderungen von Bewertungskategorien. Bei manchen Personen des evangelischen Widerstands, wie etwa dem Pfarrer der Bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffer, hat sich die Erinnerung über viele Jahrzehnte als enorm wandlungs- und anpassungsfähig erwiesen, bei anderen hingegen sind erhebliche Erinnerungskonflikte aufgetreten, wie das Beispiel des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser zeigt. Wie sich solche Unterschiede in der erinnerungskulturellen Entwicklung erklären, ist vielfach ungeklärt. An diese Gedanken knüpften die Leitfragen der Tagung an: Wer waren die Akteure der Erinnerung an evangelischen Widerstand, und was waren die politischen, ethischen oder religiösen Intentionen, mit denen Erinnerungsgruppen über das Erinnern an christlichen Widerstand in die Gesellschaft hineinwirkten? Welche Auswirkungen hatten die politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse seit 1945 auf die Inhalte und Formen der Erinnerung? Gab es Konflikte zwischen Erinnerungsgruppen, die sich an dieselben Personen und Ereignisse erinnerten, aber deren Widerstand unterschiedlich interpretierten: konform zum eigenen Selbstverständnis und in Abgrenzung zum konkurrierenden Widerpart? Die Forschung zur Geschichte der Erinnerungskultur – seit den 1990er Jahren ein wichtiger eigenständiger Zweig der zeithistorischen Forschung1 – verzeichnet seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Reihe tief greifender Veränderungen, die auch die Erinnerung an evangelischen Widerstand betreffen. Die Beiträge der Tagung haben als erinnerungskulturelle Zäsuren vor allem den Generationswechsel der 1960er Jahre sowie die 1980er Jahre, in denen die rassistische Verfolgung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte 1 Zum Terminus „Erinnerungskultur“ vgl. Hockerts, Zugänge; Cornelissen, Erinnerungskulturen; und ders., Erinnerungskultur?
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und der Widerstandsbegriff neu profiliert wurde, markiert. Hinzu kommt in jüngerer Zeit ein weiterer gravierender Generationswechsel, weil die letzten Zeitzeugen, die die NS-Zeit noch selbst erlebt haben, sterben2. Die Zäsuren, die die Beiträge im Hinblick auf evangelischen Widerstand markieren, korrespondieren in etwa mit den allgemein in der Forschung genannten Zäsuren der Erinnerungskultur, sind allerdings etwas anders akzentuiert, da sich die allgemeinen Zäsuren in der Regel vor allem auf die Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen beziehen. So markierte in der Bundesrepublik eine Reihe antisemitischer Skandale Ende der 1950er Jahre eine Zäsur, nach der u. a. die „Zentrale Stelle zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg eingerichtet wurde, die die strafrechtliche Verfolgung von NSTätern vorantrieb. Die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ 1979, die eine sehr hohe Sehbeteiligung hatte, gilt als Teil einer tief greifenden Zäsur, die die rassistische Verfolgung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte3. Als treibende Faktoren des Wandels wurden auf der Tagung sehr unterschiedliche Punkte genannt, die ebenfalls vielfach Bezüge zu allgemeinen Mechanismen der Erinnerungskultur haben: Der Blick auf Gedenktermine zu runden Jubiläen etwa verdeutlicht, wie die jeweiligen Interessen und Machtverhältnisse für die Inszenierungen der regelmäßigen Erinnerungsereignisse immer wieder neu ausgehandelt wurden4. So wurde beispielsweise die Barmer Erklärung vor allem zu Jubiläen erinnert, wobei sich die Erinnerungsinhalte schubweise veränderten. Eine wichtige Rolle spielten auch die wechselnden politischen und gesellschaftlichen Instrumentalisierungen in der Bundesrepublik und in der DDR etwa durch Erinnerungsgruppen wie die Friedensbewegung. Mit dem Wandel der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen veränderten sich dabei jeweils auch die Erinnerungsinhalte und -formen. Auch Erinnerungskonkurrenzen haben der Widerstandserinnerung teilweise erhebliche Aufmerksamkeit verschafft, wie die Beispiele Elisabeth Schmitz und Karl Friedrich Stellbrink verdeutlichen. Im Folgenden sollen (a) mit dem Wandel vom Helden- zum Opfergedenken, (b) dem Bedeutungszuwachs der Erinnerung an rassistische Verfolgung sowie (c) der Erweiterung des Widerstandsbegriffs drei markante erinnerungskulturelle Wandlungsprozesse sowie deren Folgen und Auswirkungen für die Erinnerung an evangelischen Widerstand beleuchtet werden. (a) Angesichts einer traumatischen Vergangenheit, so hat Aleida Assmann zugespitzt formuliert, gäbe es nur drei Rollen, die die Erinnerungskultur akzeptieren kann: die des Siegers, der das Böse überwunden hat, die des Wi2 Zur Rolle und Bedeutung von Zeitzeugen vgl. Frei / Sabrow, Zeitzeugen. 3 Vgl. Wolfrum, Deutschland. In der DDR war die Erinnerung an die NS-Verbrechen staatlich kontrolliert und quasi still gestellt. 4 Zur spezifischen Dynamik von Jubiläums-Erinnerungen vgl. Meller, Jubiläum.
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derstandskämpfers und Märtyrers, der gegen das Böse gekämpft hat, und die des Opfers, das das Böse passiv erlitten hat. Was jenseits dieser Positionen liegt, könne nicht zum Gegenstand der Erinnerung werden und werde vergessen5. Diese Beobachtung bestätigt sich im Hinblick auf die Erinnerung an evangelischen Widerstand nach 1945, die zunächst vor allem ein Gedenken an Helden und Märtyrer war. Einer der einflussreichsten erinnerungspolitischen Akteure im diesem Sinne war Wilhelm Niemöller (1898–1983)6. Der Bielefelder Pfarrer und jüngere Bruder des Bekenntnispfarrers Martin Niemöller (1892–1984) trug unter anderem durch Editionen und Publikationen wesentlich zur Etablierung einer Widerstandsidentität im zeithistorischen Selbstverständnis der Evangelischen Kirche bei. Seine Sichtweise setzte sich im Laufe der 1950er Jahre als dominante Erzählung über die Geschichte der Evangelischen Kirche im „Dritten Reich“ insgesamt durch und prägte auch wesentlich das Bild vom Widerstand der Kirchen im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegszeit7. Dieses Erinnerungsnarrativ, das auf den radikalen Flügel der Bekennenden Kirche fokussierte, diente zeitgenössisch nicht zuletzt einem pädagogischen Zweck: dem Beleg der Existenz eines „anderen“ Deutschlands während der NS-Zeit und der daraus abgeleiteten Legitimation einer Führungsrolle der Evangelischen Kirche im Nachkriegsdeutschland. Das Widerstands-Narrativ passte sehr gut in die Rahmenbedingungen des kollektiven Gedächtnisses nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft bestand ein moralischer Orientierungsbedarf, den die Kirchen auf diese Weise bedienen konnten und wollten8. Evangelische Widerstandkämpfer waren moralische Vorbildfiguren. Diese Form des Heldengedenkens weicht seit einigen Jahren zunehmend einer spezifischen Form des Opfergedenkens9. Im Mittelpunkt steht dabei das Leiden von Menschen, und der Fokus richtet sich vor allem auf Betroffene, die ohne eigenes Zutun in die Situation von Not und Verfolgung geraten sind. Mit dieser Perspektivenverschiebung sind signifikante Veränderungen in der Erinnerungskultur verbunden: Zum einen verlieren die Motive des Widerstands an Bedeutung. Es geht vorwiegend um „unschuldige“ Opfer. Dies korrespondiert mit einem allgemeinen Trend zur Entpolitisierung der Erinnerung. Zum anderen verblasst auch die Bedeutung des Handelns der Widerstandskämpfer. Das Opfergedenken ist dominiert vom Bild des passiven Opfers, das keinen aktiven Widerstand geleistet und auf diese Weise auch keinen „Anlass“ zur Verfolgung gegeben hat. 5 Vgl. Assmann, Vergangenheit, 384. 6 Wilhelm Niemöller war seit 1923 NSDAP-Mitglied gewesen (und hatte seinen Ausschluss aus der Partei 1933 erfolgreich angefochten). Vgl. Ericksen, Niemöller. 7 Vgl. Kuller / Mittmann, „Kirchenkampf“. 8 Vgl. Kaiser, Forschungsaufgaben, 29–33. 9 Vgl. Sabrow, Held und Opfer.
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Wie die Beiträge der Tagung gezeigt haben, war die Erinnerung an evangelischen Widerstand mit dem Trend zur opferzentrierten Erinnerung nur schwer in Einklang bringen. Denn die religiösen Motive spielen hier eine zentrale Rolle und bilden ein entscheidendes Merkmal der Erinnerung. Evangelische Widerstandskämpfer sind auch nicht „ohne eigenes Zutun“ in Not und Bedrängnis geraten. Vielmehr ist ihr Handeln Kernbestandteil des Erinnerungsnarrativs. Die christliche Motivation, die in der frühen Nachkriegszeit noch ein funktionierendes Identifikationsangebot war, das christliche Widerstandskämpfer zu gesellschaftlichen Vorbildern machte, hat heute diese Funktion vielfach verloren. Auch die appellative Berufung auf die Existenz eines „anderen Deutschland“ im Dritten Reich, die das Heldengedenken wesentlich stützte, spielt heute keine große Rolle mehr. Andere Identitätsfaktoren sind an die Stelle dieses Erinnerungsbildes getreten. So erklärt sich beispielsweise der Aufmerksamkeitsgewinn für eine Person wie Elisabeth Schmitz nicht zuletzt daraus, dass sie – als Frau – die Institution Kirche kritisierte und individuell Widerstand leistete. Man kann diese Entwicklung durchaus so deuten, dass hier eine historische Institutionenkritikerin zur aktuellen Institutionenkritik eingesetzt wird. (b) Die zunehmende Aufmerksamkeit für rassistische Verfolgung seit den 1980er Jahren war, wie erwähnt, ein weiterer wichtiger erinnerungskultureller Wandlungsprozess. Von Bedeutung für die Erinnerung an evangelischen Widerstand war dies nicht nur, weil dadurch die rassistische Verfolgung neben der religiösen und politischen Verfolgung an Bedeutung gewann. Hinzu kommt, dass der neue Aufmerksamkeitsfokus auch Ambivalenzen im Denken und Handeln der christlichen Widerstandskämpfer ans Licht brachte, die zuvor wenig beachtet worden waren. Am Beispiel der Erinnerung an den bayerischen Landesbischof Hans Meiser etwa zeigt sich deutlich, dass die religiösen Werte, die Meiser vertrat, an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren haben, während seine Haltung gegenüber dem rassistischen Antisemitismus und der Judenverfolgung zur zentralen Bewertungskategorie wurde. Der Widerstand von Personen wie Hans Meiser wird auch immer weniger danach bewertet, gegen was er sich wandte, sondern vor allem danach, wo Konsenszonen mit der NS-Ideologie bestanden. (c) Eine weitere Perspektivenverschiebung in der Widerstandserinnerung ergab sich daraus, dass seit den 1980er Jahren der Widerstandsbegriff erheblich ausgeweitet und differenziert wurde. Initiiert wurde die Debatte darüber, was unter Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur zu verstehen sei, zunächst durch die wissenschaftliche Forschung, die mit Begriffen wie „Nonkonformität“, „Verweigerung“, „Resistenz“ und „Dissens“ betonte, dass es im „Dritten Reich“ neben dem intendierten politischen Widerstand ein breites Spektrum an abweichenden Handlungen gab, die ebenfalls den Herrschaftsanspruch der nationalsozialistischen Diktatur in Frage
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stellten und einschränkten10. Widerstand war demnach nicht nur der versuchte Sturz der nationalsozialistischen Herrschaft, also ein Handeln, das auf die vollständige Beseitigung der Hitler-Diktatur zielte. Auch das Erzählen von Witzen oder das Schwarzschlachten, die Verweigerung von Zahlungen an das Winterhilfswerk oder Bummelei am Arbeitsplatz können zu den Handlungen gerechnet werden, mit denen sich Menschen den Erwartungen, die die Diktatur an sie richtete, widersetzten und ein – mehr oder weniger sichtbares – Zeichen zur Begrenzung der Machtansprüche der Nationalsozialisten setzten. Mit dieser Definitionserweiterung wurde auch die Bandbreite dessen, was man unter evangelischem Widerstand verstehen konnte, erheblich erweitert, und ganz neue Personengruppen kamen in den Blick. Die Erinnerung fokussierte nun nicht mehr nur auf einige wenige herausragende Persönlichkeiten, sondern schloss viel mehr Menschen ein. Hier kommt eine weitere Funktion der Erinnerungskultur in den Blick. Denn das Bild der Widerstandskämpfer war nicht nur politisches und moralisches Leit- und Vorbild, es hatte zugleich eine Bedeutung für den Blick auf die Restgesellschaft, die nicht Widerstand geleistete hatte. Solange sich die Erinnerung auf einzelne Personen konzentrierte, waren die Nicht-Widerständigen auch ein Stück weit entlastet, weil Widerstand offensichtlich nur von sehr wenigen, besonderen Persönlichkeiten geleistet worden war. Je breiter das Bild der Widerständigen wurde, umso nachdrücklicher musste auch die kritische Rückfrage an diejenigen ausfallen, die keinen Widerstand geleistet hatten. Es scheint lohnend, diese Überlegung auch in anderer Hinsicht anzuwenden: Inwiefern, so könnte man fragen, sind bei den Widerstandserinnerungen ehemalige Täter mit im Blick, werden gegen diese Schuldvorwürfe erhoben? Und inwiefern sind weitere Opfer mit im Blick, für die sich die Widerstandskämpfer beispielsweise einsetzen (Meusel, Schmitz)? Die Definitionserweiterung trug dazu bei, dass der Vorbildcharakter von Widerstandskämpfern zunehmend verblasste. Denn die Handlungen der „Widerständigen“ waren teilweise gar nicht von Motiven geprägt, die einer politischen und moralischen Orientierung dienen konnten und sollten. Widerstand in diesem erweiterten Sinne konnte durchaus auch von eigennützigen Motiven, etwa von Profitgier, angetrieben sein, wichtig war nach den neuen Definitionen vor allem der herrschaftsbegrenzende Charakter der Widerstandshandlungen. Aber auch bei den evangelischen Widerstandskämpfern im ursprünglichen, engen Sinne zeigen sich in der aktuellen Debatte erhebliche Irritationen im Hinblick auf ihre Motive. So zeigten die Vorträge vielfach, wie schwierig es ist, einen „christlichen“ Anteil oder gar einen „evangelischen“ Anteil in den Motiven zu identifizieren. Widerstand von evangelischen Christen ist genau betrachtet noch nicht unbedingt „evangelischer“ Widerstand, sondern konnte 10 Vgl. als Überblick über die Forschungsentwicklung Kenkmann, Nonkonformität.
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auch von ganz anderen politischen und allgemein-moralischen Motiven getragen sein, die die evangelischen Widerstandskämpfer durchaus mit Mitgliedern anderer sozialer Gruppen teilten. Eine identitätsstiftende Erinnerung bezieht sich aber meist gerade auf eine vermeintlich spezifisch evangelische Motivation, die nicht selten erst in der Rückschau projiziert wurde und wird. Ein kritischer Blick auf diesen Aspekt kann die Erinnerungsnarrative tief erschüttern. Das Erinnerungsnarrativ an Dietrich Bonhoeffer integrierte ab Mitte der 1950er Jahre politische und evangelische Intentionen. Es war – so ein Ergebnis von Tim Lorentzen – nicht zuletzt deshalb über viele Jahrzehnte erfolgreich, weil es auf diese Weise Konflikte über die Zuordnung der Motive überbrücken konnte. Erinnerungskulturell hochgradig problematisch ist es, wenn die Ziele der Widerstandskämpfer nicht mit den zeitgenössischen Werten der Erinnerungsgemeinschaft übereinstimmen, etwa wenn es sich um eine antidemokratische, antimoderne und antiliberale Haltung handelte wie bei dem Pfarrer Paul Schneider. Was geschieht, wenn jemand gegen das NS-Regime Widerstand leistete, das vielleicht sogar mit dem Leben bezahlte, aber aus den „falschen“ Gründen bzw. aus Gründen, die nach 1945 nicht als vorbildhaft angesehen wurden? Wie konnte eine solche Person erinnert werden, ohne ein Identifikationsangebot zu bieten? Für Paul Schneider hat die Tagungsdiskussion das auf den Punkt gebracht: „Für was er gekämpft hat, gilt heute nicht mehr, aber es zählt, dass er gekämpft hat“. Am Ende dieser Überlegungen über erinnerungskulturelle Wandlungsprozesse und Perspektivverschiebungen möchte ich noch einmal auf den Eingangsgedanken zurückkommen: Erinnerungskultur bezieht sich auf Ereignisse der Vergangenheit, aber sie ist zugleich auch ein Produkt der jeweiligen Gegenwart. Die vorangehenden Überlegungen beschäftigten sich vor allem mit den jeweiligen zeitgenössischen Kontexten des Erinnerungsereignisses. Viel ist auf der Tagung von selektiver Wahrnehmung, von Verbiegung historischer Realitäten und von instrumentellem Gebrauch der Vergangenheit die Rede gewesen. Dabei soll aber nicht aus dem Blick geraten: Das Erinnerungsereignis hat seinen zentralen Referenzpunkt in der Vergangenheit. Womit wir uns bei der Erinnerung an evangelischen Widerstand beschäftigen, ist keine „invention of tradition“. Die Erinnerung bezieht sich auf das Handeln von Menschen, die 1933 bis 1945 nicht bereit waren, der menschenverachtenden Diktatur vollständig zu folgen.
Veröffentliche Quellen und Darstellungen Assmann, Aleida: Die Last der Vergangenheit. In: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History 4 (2007), H. 3, 375–385.
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Cornelissen, Christoph: Erinnerungskulturen, Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 10. 2012 (https://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2. 0_Christoph_Cornelißen [zuletzt aufgerufen am 21. 4. 2016]). –: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 548–563. Ericksen, Robert P.: Wilhelm Niemöller and the Historiography of the Kirchenkampf. In: Gailus, Manfred / Lehmann, Hartmut (Hg.): Umbrüche eines Weltbildes. Göttingen 2005, 433–451. Frei, Norbert / Sabrow, Martin (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012. Hockerts, Hans-Günter : Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft. In: Jarausch, Konrad H. / Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt a. M. 2002, 39–73. Kaiser, Joachim-Christoph: Forschungsaufgaben im Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte nach 1945. In: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2002), 27–42. Kenkmann, Alfons: Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Abweichendes Verhalten unter nationalsozialistischer Herrschaft. In: Süß, Dietmar / Süß, Winfried (Hg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung. München 2008, 143–164. Kuller, Christiane / Mittmann, Thomas: „Kirchenkampf“ und „Societas perfecta“. Die christlichen Kirchen und ihre NS-Vergangenheit. In: Zeitgeschichteonline, Dezember 2014 (http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/kirchen kampf-und-societas-perfecta [zuletzt aufgerufen am 21. 4. 2016]). Meller, Winfried: Das historische Jubiläum. Zur Geschichtlichkeit einer Zeitkonstruktion. In: ders. u. a. (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Münster 2004, 1–75. Sabrow, Martin: Held und Opfer. Zum Subjektwandel deutscher Vergangenheitsverständigung im 20. Jahrhundert. In: Frölich, Margit / Jureit, Ulrike / Schneider, Christian (Hg.): Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust. Frankfurt a. M. 2012, 37–54. Wolfrum, Edgar : Die beiden Deutschland. In: Frei, Norbert / Knigge, Volkhard (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München 2002, 133–149.
Abkürzungen
AKiZ A/B Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. A: Quellen/B: Darstellungen AS Aktion Sühnezeichen ASF Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste BA Bachelor of Arts BBC British Broadcasting Corporation BEK Bund der Evangelischen Kirchen BK Bekennende Kirche BRD Bundesrepublik Deutschland CA Confessio Augustana CDU Christlich Demokratische Union C. F. Christliche Friedenskonferenz DBCL Dietrich Bonhoeffer Centre London DDR Deutsche Demokratische Republik d. Ä. der Ältere d. J. der Jüngere EKD/EKiD Evangelische Kirche in Deutschland EKU Evangelische Kirche der Union e. V. eingetragener Verein EvAKiZ Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte Gestapo Geheime Staatspolizei H. Heft Hebr Hebräer HJ Hitler Jugend i. D. Im Druck i. R. im Ruhestand JVA Justizvollzugsanstalt KZ Konzentrationslager LVR Landschaftsverband Rheinland MA/M. A. Magister/Magistra Artium MA/M. A. Master of Arts NATO North Atlantic Treaty Organization NF Neue Folge NL Nachlass NS Nationalsozialismus/Nationalsozialistisch
340 NSDAP ÖRK P. RM SA SBZ SED SMAD SPD SS SU TV UN USA UdSSR VELKD VVN VVN/BdA ZDF
Abkürzungen
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Ökumenischer Rat der Kirchen Pastor Reichsmark Sturmabteilung Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschland Schutzstaffel Sowjetunion Television United Nations United States of America Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund deutscher Antifaschisten Zweites Deutsches Fernsehen
Autorinnen und Autoren
Hansjörg Buss Jg. 1971, Dr. phil., freier Historiker auf dem Gebiet der Kirchlichen Zeitgeschichte. Publikationen u. a.: „,Entjudete Kirche‘. (2011); aktuell: Forschungsauftrag „Die Theologische Fakultät Göttingen im Nationalsozialismus“ (https://www. uni-goettingen.de/de/dr-hansj%C3%B6rg-buss/200459.html). Ursula Büttner Jg. 1946, Dr. phil., Historikerin, von 1975 bis 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, apl. Professorin an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen zur deutschen und hamburgischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Weimarer Republik, Judenverfolgung, Exil und Remigration, Bombenkrieg, politischer Wiederaufbau nach 1945, Protestantismus. Christine Friederich (geb. Hikel) Dr. phil., nach dem Studium der Geschichtswissenschaft tätig am Institut für Zeitgeschichte (München), der Universität Bielefeld sowie der Universität der Bundeswehr München. Danach Referendariat beim Hessischen Staatsarchiv Marburg, heute Archivarin. Publikationen u. a.: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose (2013). Christine Gundermann Jg. 1978, Dr. phil., Juniorprofessorin für Public History an der Universität zu Köln. Zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre u. a. populäre Formen von Geschichtskulturen, Geschichtstheorie, transnationale Geschichte, Erinnerungsdiskurse und die deutsch-niederländische Zeitgeschichte.
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Autorinnen und Autoren
Peter Haigis Jg. 1958, Dr. habil., PD für Systematische Theologie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, Gemeindepfarrer in Stetten im Remstal, Schriftleiter des „Deutschen Pfarrerblatts“. Publikationen u. a.: Im Horizont der Zeit – Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur (1998), Sie halfen Juden. Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand (2007, 2011). Siegfried Hermle Jg. 1955, Dr. theol. habil., Pfr., seit 2001 Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik/Historische Theologie am Institut für Ev. Theologie an der Universität zu Köln; 2. Vorsitzender der EvAKiZ und 2. Vorsitzender des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte. Publikationen u. a: Evangelische Kirche und Judentum (1990); (mit Jörg Thierfelder) Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus (2008). Michael Kißener Jg. 1960, Prof. Dr. phil., 1992–2002 Geschäftsführer der Forschungsstelle „Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten“ an der Universität Karlsruhe, seit 2002 Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikationen u. a.: Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus (2015), Das Dritte Reich (2005), Zwischen Diktatur und Demokratie. Badische Richter 1919–1952 (2003). Christiane Kuller 1999–2011 Assistentin und Projektleiterin am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der LMU München, Promotion über Famlienpolitik in der Bundesrepublik, Habilitation über die fiskalische Ausplünderung von Juden im „Dritten Reich“. Seit 2013 Professorin für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdikaktik an der Universität Erfurt. Publikationen u. a.: Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? (Hg. mit Monika Fenn). Katharina Kunter Dr. phil. habil., nach dem Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte Spezialisierung in der Kirchlichen Zeitgeschichte und der transnationalen und globalen Christentumsgeschichte.
Autorinnen und Autoren
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Publikationen u. a.: Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume. Evangelische Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus 1980–1993 (2006), Die Kirchen im KSZE-Prozess 1968–1978 (2000). Claudia Lepp Jg. 1965, Prof. Dr. phil., 1994 Promotion an der Universität Freiburg, 2004 Habilitation Universität Karlsruhe, seit 2000 Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte der EKD, seit 2014 apl. Professorin an der LMU München. Publikationen u. a.: Protestantisch-liberaler Aufbruch in die Moderne (1996), Tabu der Einheit? (2005), Wege in die DDR (2015). Tim Lorentzen Studium der Theologie und Germanistik in Kiel und Greifswald, Promotion mit einer Arbeit über Johannes Bugenhagen, Habilitation zu „Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt (1945–2006)“, PD für Kirchengeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Aktueller Forschungsschwerpunkt: christliche Erinnerungskultur. Dagmar Pöpping Dr. phil., M. A., bis 2012 selbständige Historikerin, Journalistin und Lektorin, Lehrbeauftragte an der TU Berlin, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte in München. Publikationen u. a.: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne (2002), Normen und Aufbrüche (2011), Kriegspfarrer an der Ostront (2017). Helmut Rönz Jg. 1972, Dr. phil., 1994–1999 Studium der Geschichte und kath. Theologie in Bonn, Promotion 2005, seit 2002 am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte und Lehrbeauftragter an der Uni Bonn. Laufende Projekte: Portal Rheinische Geschichte, Widerstand im Rheinland 1933–45, Rheinischer Städteatlas. Manuel Schilling Jg. 1967, Dr. theol., Gemeindepfarrer in der Ev.-Luth. St.-Marien-Kirchengemeinde in Minden, Mitarbeiter bei den Homiletischen Monatsheften und den Göttinger Predigtmeditationen. Publikationen u. a.: Das eine Wort Gottes zwischen den Zeiten. Die Wirkungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung vom Kirchenkampf bis zum Fall der Mauer (2005).
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Autorinnen und Autoren
Hans-Walter Schmuhl Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld, stellvertretender Leiter des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel, selbstständiger Historiker. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Diakoniegeschichte, Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung. Literaturliste unter : www.schmuhl-winkler.de Thomas Martin Schneider Apl. Prof. Dr. theol. habil., Akademischer Direktor und Geschäftsführender Leiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Publikationen u. a.: zu Reichsbischof Müller (1993), zur Vorgeschichte der VELKD (2008/2009) und zur Evangelischen Kirchengeschichte im Rheinland (Herausgeber von Bd. 4, 2013). Nora Andrea Schulze bayerische Theologin, seit 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte in München. Publikationen u. a.: (mit C. Nicolaisen) Die Protokolle des Rates der EKD 1945/ 46 (1995) und 1947/48 (1997), Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen, Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933–1955 Bd. 3: 1937 (2010). Axel Töllner Jg. 1968, Dr. phil., Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern beim Institut für christlich-jüdische Studien und Beziehungen an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Publikationen u. a.: Eine Frage der Rasse? (2007), Mauern überwinden (Mitherausgeber 2010), Martin Luthers „Judenschriften“ (Mitherausgeber 2016).
Personenregister
Aichelin, Albrecht 183, 186, 188 Aicher, Otl 108 f., 188, 287 f. Albertz, Martin 187, 288 Alt, Karl 110, 111 Althaus, Paul 305 Andersch, Alfred 23 Andersen, Friedrich 77, 90 Asmussen, Hans 21, 306 Assmann, Aleida 238, 332 Astor, David 59 Balzer, Erwin 78, 86 Bank, Jan 53 Barth, Karl 62, 65–67, 120, 286, 289, 292 f., 305–307, 328 Bauer, Fritz 36 Beckmann, Joachim 307 Behnen, Bernhard 81 Behrendt, Treuherz 19 Bell, George 56–59, 61–64, 157, 163, 191 Benad, Matthias 277 Benedikt XVI. 92 Benjamin, Metropolit von St. Peterburg 65 Bentley, James 64 Bernauer, Erwin und Nanny 261 Besier, Gerhard 291 Bethge, Eberhard 20, 37, 57, 65–67, 155, 158, 160–163, 168, 172, 290, 310 Beyers Naud8, Christiaan Frederick 67, 165 Biedermann, Karl 166 Bleek, Philipp 265 Bodelschwingh III, Friedrich von 277
Bodelschwingh d. Ä., Friedrich von 277 Bodelschwingh d. J., Friedrich von 273, 276 f. Bodelschwingh, Wilhelm von 277 Bodelschwingh d. Ä., Friedrich 277 Boeckh, Rudolf 280 Böhmcker, Hans 77 Böttcher, Johannes 265 Bogdahn, Martin 203 Bohley, Bärbel 169 Bonhoeffer, Dietrich 14 f., 17, 19, 21–23, 33 f., 45, 54–61, 64–69, 125, 155–172, 189, 191 f., 241, 292, 310, 312–314, 326 f., 331, 336 Bonhoeffer, Klaus 17, 160, 169 Bonhoeffer, Sabine 56 Bormann, Lukas 205 Borstel, Stephan von 249 Bouhler, Pilipp 122 Braun, Elisabeth 144, 148 Braun, Hannelore 202 Braune, Paul Gerhard 273, 275, 277 Broszat, Martin 39, 41 f., 323 Brüsewitz, Oskar 184 Brunotte, Heinz 307 Bültjes, Wilhelm 267 Bultjer, Theobald 87 Bultmann, Rudolf 66 Buren, Paul van 66 Burgstaller, Ulrich 78 Calvin, Johannes 239 Canaris, Wilhelm 157 Cartwright, Justin 60 Catel, Werner 275 f.
346 Colberg, Martin 97 Cornelißen, Christoph Cox, Harvey 66 Cripps, Stafford 59
Personenregister
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Danneck, Hartmut 143 Demnig, Gunter 227 Denkhaus, Friedrich 215 f. Denker, Paul 79 Dibelius, Otto 15, 62, 158, 161, 163, 191 Diem, Harald 146 Diem, Herrmann 143 f., 146, 306–308 Dilger, Alfred 148 Dilger, Luise 148 Dipper, Christoph 41 Dipper, Hildegard 148 Dipper, Karl 150 f. Dipper, Theodor 17, 144, 146, 148 f., 150 Dohnanyi, Hans von 17, 169 Dohrn, Harald 240 Dutschke, Rudi 130 Ebell, Paul 86 Eden, Anthony 157 Ehrtmann, Adolf 77 Eickemeyer, Manfred 107 Eisenberg, Gotthelf 249 Elert, Werner 305 Elser, Georg 18, 22, 23, 25 Enders, Jürgen 150 Engholm, Björn 93 Epp, Franz Ritter von 198 Erb, Jörg 183 Erdmann, Karl Dietrich 37 Falcke, Heino 165 f., 313, 315 Fehrs, Kirsten 97 Feurich, Walter 184 Finker, Kurt 41 Fischer, Fritz 85 Fischer, Hans 123, 126 Fischer, Jochen 276
Fischer, Richard 146 Flath, Otto 95 Fölsch, Gerhard 79, 80 Förster, Wieland 239 Forck, Bernhard Heinrich 15, 161 f. Forell, Birger 62, 63 Foster, Claude R. 183 Fraas, Karl M. 140 Fränkel, Hans-Joachim 315 Francois, Etienne 238 Frank, Anne 129 Frank, Reinhard 24, 144 Frick, Wilhelm 273 Friedrich, Johannes 203, 205 Friedrich, Karin 248 Fritze, Georg 21 Gablentz, Otto Heinrich von der 122 Gailus, Manfred 291 f., 294, 296 Galen, Clemens August Graf von 35, 92, 96, 275 f. Gauger, Martin 17 Gerlach, Christian 44 Gerlach, Wolfgang 290 Gerstein, Kurt 21, 25 Gerstenmaier, Eugen 19 Glenthøj, Jørgen 66 Gloege, Gerhard 306 Goebbels, Joseph 34 Gölz, Hilde 142, 146, 148 Gölz, Richard 142, 146, 148 Goerdeler, Carl Friedrich 35, 41 Goes, Albrecht 149 Goes, Elisabeth 21 f., 148–150 Goethe, Johann Wolfgang von 114 Gollwitzer, Helmut 120, 214, 220, 286, 289, 309 f. Gorski, Horst 91 Gotto, Klaus 37 Grabner, Hasso 184 Gräber, Johannes Wilhelm 266 Graf, Willi 105, 111, 248 Graml, Hermann 19 Green, Clifford 59
Personenregister Greschat, Martin 17, 20, 186, 188, 290 f., 324 f. Grotum, Thomas 264 Gruchy, John de 67 Grüber, Heinrich 22, 289 Gründler, Hartmut 165 Gschlössl, Ina 22 Guardini, Romano 111 f. Gülzow, Gerhard 81 f., 84 Gürtner, Franz 122, 273 Haecker, Theodor 107 f. Haeften, Jan von 61 Hahn, Udo 20 Halbwachs, Maurice 238 Halfmann, Wilhelm 327 Hamburger, Arno S. 203 Hamm, Berndt 204 Hammerstein, Franz von 124–126 Harnack, Adolf von 286 Harnack, Friedrich 328 Hartenstein, Karl 143 Hase, Hans Christoph von 275 f. Hasselmann, Niels 87 f. Haug, Martin 140 f. Hauschild, Wolf-Dieter 86 f., 90, 191 f., 325 Hausen, Ekkehard 143 Hausmann, Reinhard 84 Havel, V#clav 45 Heckel, Theodor 168 Heinemann, Bernd 93 Heinemann, Gustav 13, 19, 36, 80, 121, 161, 188 Hejd#nek, Ladislav 65 Held, Heinrich 21 f., 265 Herzog, Roman 227 Hesse, Helmut 19 Heuss, Theodor 36 Heyde, Werner 275 Hildebrandt, Franz 57, 286 Hindenburg, Paul von 259 Hirt, Simon 113 Hirzel, Hans 111
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Hitler, Adolf 20, 22, 41, 43, 63, 114 f., 157, 160, 169, 185, 189, 198, 200, 222, 237, 241, 259, 273 Hochhuth, Rolf 23 Hochmuth, Anneliese 277 f. Hockerts, Hans-Günther 37 Hofer, Walther 40 Hoffer, Margarete 143, 148, 150 Holzapfel, Gerhard 142, 144 Honecker, Martin 309 Hopf, Friedrich Wilhelm 201 Hoppe, Martin 293 f. Horn, Ernst 265 Hrdlicka, Alfred 164 Hrom#dka, Josef 62, 65 f. Huber, Kurt 105, 107, 110 f., 248 Huber, Wolfgang 25, 170, 192, 292, 296 Hürter, Johannes 44 Hüttenberger, Peter 38 f., 42 Hummel, Karl-Josef 15 Immer, Karl 305 Immer, Karl Immanuel 305 Iwand, Hans Joachim 265 Jacobi, Gerhard 286 Jagucki, Janusz 171 Jan, Julius von 214 Jannasch, Wilhelm 96, 286 Jansen, Ernst 85 Jasper, Gotthard 200, 204 f. Jenninger, Philipp 224 Johannes Paul II. 15, 64, 185 Johnsen, Helmuth 87 Käßmann, Margot 184 f., 294 Kahn, Heinz 262 f. Kaiser, Jochen-Christoph 25, 290 Kallies, Petra 93 Kaminsky, Claus 293, 296 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 202, 289 Karnetzki, Manfred 121 Kasenzer, Ernst 19
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Personenregister
Kasper, Walter 186 Kienitz, Waltraut 81, 95 King, Martin Luther 59, 69 Kitzmann, Armin-Rudi 205 Klahn, Erich 95 Klatt, Ingaburgh 89, 93, 95 Klee, Ernst 278 f., 290 Klepper, Jochen 241 Kleßmann, Christoph 42 Kock, Manfred 186 Körner, Theodor 114 Kogon, Eugen 263 Kohl, Helmut 224 Kohlbrugge, Hebe 62 f. Kohlwage, Karl Ludwig 89 Koller, Wilhelm 162 Korczac, Janusz 83 Koschnick, Hans 244, 246 Krakauer, Ines 140–142, 145, 147, 149 f. Krakauer, Inge 142 Krakauer, Max 19, 25, 140–142, 145–147, 149 f. Krause-Burger, Sibylle 150 Kreyssig, Lothar 119–126, 273, 275 Krötke, Wolf 315 Kuhlemann, Frank-Michael 239 Kunst, Hermann 244, 246 Kurschat, Andreas 13 f. Kutzner, Gotthard 122 Lächele, Rainer 145 Lange, Ernst 310 Lange, Hermann 77 Lauerer, Hans 280 Laumeyer, Anke 95 Lautz, Ernst 82 Leber, Annedore 34 Legerer, Anton 121–123 Lehmann, Karl-Heinz 169, 170 Lehmann, Wolfgang 80 Leibholz, Gerhard 56, 59, 168 Leikam, Alfred 22 Leipelt, Hans Konrad 111, 240–243
Lepsius, Mario R. 42 Levinson, Peter Nathan 221 Ley, Robert 266 Lilje, Hanns 21 Linck, Stephan 86, 89, 95, 165 Lindt, Andreas 25 Lohmann 303 Loscher, Klaus 20 Lothar, Ralph 150 Löwenthal, Richard 37 Ludwig, Hartmut 290 f. Luther, Martin 91, 160, 186, 189, 215, 224 f., 239 Lutze, Johannes 251 f. Maas, Hermann 22 Machovecs, Milan 66 Maiwald, Holger 221, 223 Mallmann, Klaus-Michael 41 f. Mally, Werner 95 Mann, Thomas 106 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 309 f. Martin Steve D. 292 Marx, Karl 246 Marxsen, Wilhelm 78 Maus, Georg 20, 22 Maier, Hans 26 Maly, Ulrich 200 Mazowiecki, Tadeusz 68 Mehlhausen, Joachim 13, 15, 25 f., 43, 324 Mehlhorn, Ludwig 68 Meinecke, Friedrich 286 Meiser, Hans 9, 16, 22, 24, 160, 162, 168, 197–206, 216, 226, 307, 326 f., 331, 334 Meiser, Hans Christian 205 Melanchthon, Philipp 239 Menard, Eva-Maria 166 Mensing, Björn 15, 202 Merkel, Angela 292 Meusel, Marga 285–292, 295, 328, 335 Meyer, Dietgard 17, 291–293, 296 Meyer, Gerhard 78, 83
Personenregister Meyer, Heinrich 82 f., 86 Meyer-Rebentisch, Karen 94, 97 Meyers, Milton 64 Mielke, Fred 272 Mildenstein, Wilhelm 80 Miller, Basil William 63 Mitscherlich, Alexander 272 Möckel, Gerhard 125 f. Mörike, Gertrud 17, 22, 144, 148, 150 Mörike, Otto 17, 21 f., 140 f., 144 f., 148, 150 Mohr 263 Moltke, Freya Gräfin von 25, 68, 123, 141 Moltke, Helmuth James Graf von 23, 27, 59, 68, 129 Moltke, Ulrike von 123 Morawaska, Anna 68 Morus, Thomas 276 Müller, Andreas 303 Müller, Christine-Ruth 279 Müller, Eduard 77 Müller, Hanfried 66, 165, 313 Müller, Kurt 148, 150, 328 Müller-Gangloff, Erich 122, 124 f. Münchenbach, Siegfried 202 Mulert, Hermann 328 Neumann, Therese 143 Nicolaisen, Carsten 17, 198, 202 Niederstraßer, Wolfgang 201 Niemöller, Martin 19, 21, 23, 54, 62–64, 121, 129, 160, 241, 306, 308, 333 Niemöller, Wilhelm 275, 288 f., 333 Niemoeller-von Sell, Sibylle 64 Niesel, Wilhelm 121 Noko, Ishmael 186 Nora, Pierre 238 Norden, Günter van 325 Nowak, Kurt 17, 278 Oehme, Werner 15 Oelke, Harry 24, 200, 324
Oesterle, Kurt 145 f. Overath, Katharina (geb. Meier)
349 261
Pangritz, Andreas 292 Pasewald, Elisabeth 158 Passarge, Otto 81 Paul, Gerhard 41 f. Pautke, Johannes 78–82 Pechel, Rudolf 34 Pechmann, Wilhelm von 202 Pelke, Else 82 f., 91 Perels, Justus 19 Pergande, Kurt 277 Perls, Werner 265 Petrich, Gunnar 290 Peukert, Detlev 37 Pineas, Hermann 142–145 Pineas, Herta 142–145 Platen-Hallermund, Alice 272 Poelchau, Harald 122 Prassek, Johannes 77 Prenter, Regin 66 Probst, Angelika 112 f. Probst, Christoph 105 f., 110, 113, 248 Putz, Eduard 201 Radbruch, Wolfgang 83 Rade, Martin 328 Raiser, Konrad 61 Rathke, Heinrich 15 Reagan, Ronald 224 Reimers, Karl Friedrich 85 f. Remer, Ernst 36 Renner, Michael 202 Repgen, Konrad 37 f. Reuß, Jürgen 88 Richter, Paul 19 Rickers, Folkert 16, 24, 183, 186, 188–192 Ringshausen, Gerhard 184 Ritter, Gerhard 35 Röhm, Eberhard 17, 20, 142, 145, 290 Roon, Ger van 132 Rosenberg, Alfred 266
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Personenregister
Rosenstock-Huessy, Eugen 123 Rothberg, Michael 120 Rothfels, Hans 35, 37, 115 Ruder, Walter 83 Rüppel, Erna 251 Rueß, Karl-Heinz 144 Sabrow, Martin 239 Sasse, Martin 214 Sassin, Horst 251 f. Schäfer, Gerhard 146 Schäfer, Jürgen 17 Schaft, Hanni 129 f. Scharf, Kurt 124, 218 Scherrieble, Joachim 17, 143 f. Scheuermann, Julia 293, 296 Schieder, Julius 201 Schildt, Axel 43 Schiller, Friedrich 114 Schlaich, Ludwig 274 f. Schleicher, Rüdiger 158, 169 Schleiermacher, Friedrich 315 Schlie, Klaus 93 Schlink, Edmund 306 Schmidt, Gerhard 272 f. Schmittmann, Benedikt 262 Schmitz, Andr8 294, 296 Schmitz, Elisabeth 9, 17, 21, 285–296, 328, 332, 334 f. Schmorell, Alexander 105, 111, 248 Schnabel, Thomas 42 Schneider, Ernst August 242 Schneider, Margarete 16, 183, Schneider, Nikolaus 23, 186, 213, 214 Schneider, Paul 16, 18, 19, 21, 23, 64 f., 183–192, 241–243, 326 f., 336 Schönherr, Albrecht 15, 162, 165 f., 312, 314 Schöningh, Franz Josef 114 Scholder, Klaus 16, 309 Scholl, Elisabeth 106 Scholl, Hans 23, 105–110, 112 f., 241, 248, 326 Scholl, Inge 16, 105–113, 115–117
Scholl, Robert 107 Scholl, Sophie 22, 23, 105–110, 112 f., 241, 248, 326 Scholl, Werner 106, 108 Schopenhauer, Gabriele 93 Schorer, Otto 86 Schreiber, Matthias 17 Schröder, Paulus 267 Schümer, Wilhelm 17 Schultze, Harald 13, 26 Schulze, Hagen 238 Schulze-Jahn, Marie-Luise 242 Schumann, Georg 239 Schwöbel, Gerlind 249 Seuffert, Ottmar 242 Siemen, Hans-Ludwig 279 Siepenkort, Helmut 88 Sievers, Johannes 81 Siezen, Johannes 123 Simon, Hans 166 Skriver, Ansgar 124 Skydsgaard, Kirsten Ejner 66 Sölle, Dorothee 140 Solmitz, Fritz 87 Spieth, Hildegard 147, 149, 150 Spolovjnak-Pridat, Isabella 84, 88 Springer, Axel 156 Staats, Reinhart 292 Stahn, Julius 86 Staritz, Katharina 17, 249, 291 Start Davidson, Clarissa 64 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 23, 34, 41 Steckhan, Beate 142, 145 Stegemann, Wolfgang 203 Steil, Ludwig 19, 21, 241 Stein, Leo 64 Steinbach, Peter 19, 39, 46, 325 Steinbauer, Karl 201 Stellbrink, Gerhard 82, 84, 95 Stellbrink, Gisela 81 Stellbrink, Hildegard 79 Stellbrink, Irmgard 95 f.
Personenregister Stellbrink, Karl Friedrich 9, 77–97, 327, 332 Stellbrink-Kesy, Barbara 95 Stoecker, Adolf 239 Stöffler, Eugen 22, 148 Stöffler, Johanna 22, 148 Stöffler, Ruth 22, 148 Stöhr, Hermann 18, 20 Stöhr, Martin 220 Stoldt, Jürgen, 79, 81 Stoll, Christian 307 Streicher, Julius 203, 266 Strohm, Christoph 15 Sylten, Werner 19, 21 Sylvanus, Ernst 83 Templin, Brigitte 95 Thadden, Elisabeth von 21 Thälmann, Ernst 184 Thamer, Hans-Ulrich 189 Thierfelder, Jörg 17, 141 f., 145, 290 Thissen, Werner 92 Törne, Volker von 123 f. Trojan, Jakub 65 Trotha, Margarethe von 123 Trott zu Solz, Adam von 20, 37, 56, 59, 60 Trott zu Solz, Clarita von 61 Trott zu Solz, Levin von 61 Ude, Christian 206 Ullmann, Wolfgang 68 Ulrich, Gerhard 92 Umfrid, Hermann 23
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Visser ’t Hooft, Willem 56, 59, 61, 126–128 Vries, Theun de 129 f. Wallraff, Horst 259 Wartenberg-Potter, Barbara 92 Wehr, Otto 265 Weisenborn, Günter 35 Weißler, Friedrich 19, 21 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 164 Weizsäcker, Richard von 16, 26, 149, 224 Wentorf, Rudolf 183 Wilcken, Friedrich 86 Wilm, Ernst 218, 275–277 Wimmer, Thomas 199 Winnig, August 244–246, 252, 327 Wittig, Arnd 239 Wölber, Hans-Otto 85 Wörmann, Eduard 277 Wörner, Manfred 164 Wolf, Ernst 306, 308 Wolfrum, Edgar 156 Wurm, Theophil 21 f., 146, 216, 273, 275 Zecha, Marcus 144 Zeller, Alfred 149 Zeller, Elsbeth 148 f. Zeller, Hermann 148 f. Zeller, Magdalene 149 Zeller, Suse 149 Zwanzger, Johannes 214