Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft: Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943-1953 9783847098195, 9783899719116, 9783862349111


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German Pages [321] Year 2012

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Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft: Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943-1953
 9783847098195, 9783899719116, 9783862349111

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Formen der Erinnerung

Band 49

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Andrea Zemskov-Züge

Zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943 – 1953

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-911-6 ISBN 978-3-86234-911-1 (E-Book) Ó 2012, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Umschlagfoto Jessica Gorter Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Pavel und Anna

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ›Blokada‹ oder ›oborona‹? Überlegungen zum Forschungsfeld 2. Heldentum als Generalschlüssel? Forschungsstand und Forschungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Zentrale Themen der Blockadeforschung seit 2000 . . . . 2.3. Kriegsgedenken und stalinistische Ideologie als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theoretischer Rahmen und Forschungsgegenstand . . . . . . 4. Fragestellung und zeitlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . 5. Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . 5.1. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949: Strukturen, historischer Hintergrund und inhaltliche Einflüsse . . . . . . 1. Der sowjetische Staatsaufbau und politische Strukturen in Leningrad bei Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leningrad in der Nachkriegszeit: allgemeine Lage und ereignisgeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . 3. Inhaltliche Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. ›Petersburger Text‹ und Leningrad-Patriotismus . . . . 3.2. Die ›Meistererzählung‹: Stalin über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwei Institute – ein Thema: Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Propaganda und Forschung in einem: Erinnerungsveranstaltungen und Interviews des Instituts für Parteigeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Alte Texte, neue Ziele: Publikationen des Instituts für Parteigeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Neuauflage der Kriegspropaganda: »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« . . . . . . . . . . . 3.2. Erinnern für die Zukunft: »Leningrad dvazˇdyj ordenononsnyj« als Dokumentation der Gedenkpraktiken in Leningrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur . . . . . . . . . 1. Blockadeliteratur : Gedenken zwischen Sozialistischem Realismus und Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erinnern oder Mobilisieren: das ›Leningrader Thema‹ im Schriftstellerverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Geschichte und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Zeitschrift Leningrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Nikolaj Tichonov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Vera Inber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads . 1. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953 1. Das Museum als ›Baustelle der Erinnerung‹ . . . . . 2. Ausstellungen im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Ende des Museums . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sach- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Auf dem langen Weg von der Idee bis zum fertigen Buch haben mich eine Reihe großartiger Menschen begleitet und unterstützt. Ihnen allen möchte ich meine tiefe Dankbarkeit aussprechen: Meine Doktormutter Prof. Bianka Pietrow-Ennker ging das Wagnis ein, mich als Doktorandin anzunehmen, obwohl ich nicht in Konstanz studiert hatte und in Berlin wohnte. Mit ihren engagierten Gutachten verhalf sie meinen Anträgen auf Promotionsförderung zum Erfolg. Meine Arbeit an dem Projekt hat sie geduldig und wohlwollend begleitet und mir viel Freiheit gelassen, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Arbeit miteinander zu verbinden, was beiden Bereichen zugute kam. Die Forschungsergebnisse und inhaltlichen Anmerkungen meines Doktorvaters Prof. Andreas Langenohl haben diese Arbeit von Anbeginn in vielfältiger Weise beeinflusst und bereichert. Er selbst hat mich insbesondere während der Abschlussphase freundschaftlich beraten und konstruktiv unterstützt. Ulla Siebert, Liette Thill und die anderen Mitarbeiterinnen der Heinrich-Böll-Stiftung haben mein Projekt mit Interesse begleitet und mich umfassend und unbürokratisch als Stipendiatin betreut. Peter Meurer von Citavi hat meine Fragen zur Formatierung der Fußnoten geduldig beantwortet und meine Arbeit großzügig gefördert. Ruth Vachek von V& R unipress hat mich geduldig und konstruktiv bei der Veröffentlichung unterstützt und mir mit ihren Korrekturen die Endredaktion um ein Vielfaches erleichtert. Mein Mann Pavel Zemskov und unsere Tochter Anna haben während all der Jahre keine Sekunde die Geduld mit mir und den Glauben an mich verloren. Sie ließen nicht zu, dass ich über meiner Arbeit die schönen Seiten des Lebens aus den Augen verlor. Meine Eltern Ingrid und Eckhard Züge haben mich in allen Dingen vorbehaltlos unterstützt. Gemeinsam mit meiner Schwiegermutter Valentina Zemskova sorgten sie liebevoll und mit Hingabe dafür, dass Anna während vieler Forschungsreisen und Bibliotheksaufenthalte gut versorgt war und viel Spaß hatte. Mein Bruder Sven Züge stellte mir großzügig und geduldig sein graphisches Talent und gestalterisches Können für die Ausarbeitung der Graphiken zur Verfügung.

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Danksagung

Meine Freundin Eva-Maria Hinterhuber stand mir in ihrer klugen und besonnenen Art von den ersten Gedanken an eine Promotion bis zum letzten iTüpfelchen im druckfertigen Manuskript mit Rat und Tat zur Seite. Meine Tante Gunhild Friedrich hat mit Adleraugen auch die kleinsten Rechtschreibfehler ausfindig gemacht und mich in der Korrekturphase und bei der Disputation zum Durchhalten ermutigt. Die freundliche Aufnahme und allumfassende Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen an der Europa-Universität St. Petersburg machten diese Einrichtung für mich zu einem akademischen Zuhause. Mein besonderer Dank gilt Boris Ivanovicˇ Kolonickij, der mich ermutigte, mein ursprüngliches Projekt zu kürzen, und es damit machbar werden ließ. In vielen Gesprächen erzählte mir Aleksej Nikolaevicˇ Camutali vom Forschungsalltag sowjetischer Wissenschaftler und dem Leben als Kind im belagerten Leningrad. Tatjana Voronina hat mit mir an langen Abenden als Kollegin und Freundin über das Gedenken an die Blockade sowie alle anderen Fragen des Lebens gesprochen. Ilja Utekhin hat sich auf meine Gedanken eingelassen und mein Projekt immer wieder mit seinen Kommentaren und Ideen bereichert. Martin Lutz hat mich in den letzten Jahren beständig als pragmatischer und optimistischer Ratgeber und Freund unterstützt. Er und Dana Jirousˇ haben das Manuskript der Arbeit gelesen und wiedergelesen. Mit ihren konstruktiven Anmerkungen haben sie und Inga Luther mich dazu gebracht, gedanklich und inhaltlich über meine eigenen Grenzen zu gehen. Zusammen mit Tobias Ott, Friederike Plucinski, Benjamin Geissert und Felix Netzer haben sie den Alltag des Promovierens in der Staatsbibliothek Berlin auf weiten Strecken zum Vergnügen gemacht. Die reiche Erfahrung von Marina Grasse, ihre unermüdlichen, ernsthaften Fragen und Überlegungen haben mein Denken und Arbeiten entscheidend geprägt und an vielen Stellen Spuren in dieser Arbeit hinterlassen. Gemeinsam mit ihr konnte ich in vielen Ländern und Gegenden wertvolle Erfahrungen mit dem offiziellen und persönlichen Gedenken sammeln. Meine Freundin Beate Schlutt hat mir mit ihren konstruktiven und humorvollen Kommentaren über so manches Hindernis hinweggeholfen. Mit professionellem Rat und persönlichem Beistand hat Eva Maria Humpert mir geholfen, statt ›schwarz-weiß‹ das ›Sowohl-als-auch‹ zu sehen und damit einen großen Beitrag zum abschließenden Gelingen meiner Arbeit geleistet. Mariami Parsadanischwili und Michael Dobbins, Michele Elbe und Thorsten Berndt sowie Polly und Peter Kienle haben mich während meiner Aufenthalte in Konstanz bei sich aufgenommen und mir mit ihrer Freundschaft so viel mehr als Bett und Frühstück gegeben.

Danksagung

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Mein Deutschlehrer im Leistungskurs, Hannsjörg Bergmann, lehrte mich, wissenschaftlich zu arbeiten und zu denken. Er hat mir auch gezeigt, dass Bücher und Texte für alle Lesenden da sind und dass jede Frage, die uns bewegt, wert ist, gestellt zu werden.

Vorwort

Die vorliegende Studie entstand als Dissertationsprojekt am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Konstanz und wurde am 15. März 2011 verteidigt. Sie ist nicht nur von den verwendeten Quellen, Theorien und Methoden beeinflusst, sondern auch durch meine Lebens- und Arbeitserfahrungen im Prozess des Forschens. Während der vergangenen zehn Jahre habe ich in verschiedenen postsozialistischen Ländern und Nachfolgestaaten der Sowjetunion als zivilgesellschaftliche Trainerin in der Erwachsenenbildung zu Fragen von Gedenken und Erinnerung gearbeitet. Zwischen 2003 und 2005 war ich in St. Petersburg am OralHistory-Zentrum der Europa-Universität als methodische Beraterin und Lehrbeauftragte beschäftigt und habe dort den Alltag des institutionellen Gedenkens an die Blockade als Historikerin miterlebt und mitgestaltet. Diese Jahre waren geprägt von unzähligen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, mit Studierenden, mit Überlebenden der Blockade und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, die bis heute das Kriegsgedenken in Russland und den GUS-Staaten mitgestalten. Viele der in der Arbeit gezogenen Schlüsse, viele meiner Gedanken und Einsichten sind ihrem Vertrauen, ihrer Offenheit und Geduld mit mir geschuldet. Sie haben mir ermöglicht, eine Zwischenposition als Deutsche, westliche Forscherin und Mit-Akteurin vor Ort einzunehmen. Diese Mehrfachrolle spiegelt sich in dieser Arbeit insbesondere dort, wo ich persönlich Stellung beziehe. Während der intensivsten Arbeitsphase – zwischen 2006 und 2008 – wurden meine Forschungen großzügig und unbürokratisch von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung gefördert. In meiner Studie argumentiere ich, dass im Leningrad der Nachkriegszeit Geschichtsbilder geprägt wurden, die bestimmte inhaltliche und thematische Schwerpunkte setzten und gleichzeitig andere mögliche Inhalte und Chronologien aus dem offiziellen Kriegsgedenken ausschlossen. Diese Geschichtsbilder sind mit Schlüsselbegriffen verbunden, die den beschriebenen Geschehnissen eine bestimmte Deutung einschreiben. Während die Geschichte der Zivilbe-

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Vorwort

völkerung in der Belagerung mit dem Begriff ›Blockade‹ verbunden ist, wird das militärgeschichtliche Themenfeld zumeist mit dem Begriff der ›Verteidigung‹ Leningrads gefasst. Um Neutralität der Darstellung bemüht, verwende ich deshalb zumeist den Begriff der Belagerung. Einige der wiederholt verwendeten Begrifflichkeiten, wie die ›heldenhafte Verteidigung Leningrads‹ spiegeln ideologische Verbrämungen historischer Darstellungen. Um diese kenntlich zu machen, habe ich diese Begriffe in einfache Anführungsstriche gesetzt. Eine Ausnahme bildet die Bezeichnung Großer Vaterländischer Krieg, da sie in Russland bis heute zum gängigen Sprachgebrauch gehört. Im Text verwendete russische Wörter und Begriffe habe ich nach der wissenschaftlichen Transkriptionsweise übertragen, kursiv gesetzt und in einer Fußnote mit der deutschen Übersetzung versehen. Von mir ins Deutsche übersetzte Begriffe werden in Fußnoten auf Russisch in Transkription wiedergegeben, damit sie auch für das nicht russischsprachige Publikum lesbar bleiben. Bei im Deutschen gebräuchlichen Wörtern wie ›Sowjetunion‹ ziehe ich die deutsche Schreibweise vor. Alle Übersetzungen russischer Quellen und Literatur stammen von mir. Zitate, deren genauer Wortlaut mir besonders wichtig erschien, werden im russischen Original untranskribiert in der Fußnote wiedergegeben. Englischsprachige Zitate habe ich nur an Stellen übersetzt, in denen das Zitat in den deutschen Satz eingebaut ist. Bei allen Literaturangaben gebe ich Vor- und Vatersnamen der Autorinnen und Autoren stets abgekürzt wieder, da bei den russischen Titeln die vollständigen Namen oft nicht angegeben waren. Schreibweisen ein und desselben Autorennamens unterscheiden sich bisweilen, wenn Texte derselben Person in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden. Quellen aus russischen Archiven habe ich nach Bestand, Findbuch, Akte bzw. Aufbewahrungseinheit zitiert, die Angaben beziehen sich auf die russischen Bezeichnungen. Alle Abkürzungen geben die russische Schreibweise, nicht die jeweilige Übersetzung wieder. Sie werden im Abkürzungsverzeichnis im Anhang übersetzt und aufgeschlüsselt.

»Mich interessiert nur U n s i n n : nur das, was keinerlei praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinungsform. Heldentum, Pathos, Kühnheit, Moral, Hygiene, Sittlichkeit, Ergriffenheit und Eifer – sind mir verhasste Wörter und Gefühle. Aber ich verstehe und schätze durchaus: Begeisterung und Entzücken, Inspiration und Verzweiflung, Leidenschaft und Zurückhaltung, Ausschweifung und Keuschheit, Traurigkeit und Kummer, Freude und Lachen.« Daniil Charms, 1937

Der Schriftsteller Daniil Charms wurde im August 1941 verhaftet und verhungerte im Winter 1941 / 1942 in der psychiatrischen Abteilung auf der Krankenstation des Leningrader Gefängnisses Kresty.

I. Einleitung

1.

›Blokada‹ oder ›oborona‹? Überlegungen zum Forschungsfeld

Im Jahr 2002 wandte sich eine Journalistin der Zeitung Vestnik Veterana mit der Bitte an das philologische Institut der staatlichen Universität St. Petersburg, die Bedeutung und Anwendung der Begriffe ›blokadnyj‹ und ›blokadnik‹ zu untersuchen.1 Die Philologen, die sich daraufhin mit diesen Begriffen beschäftigten, kamen zu dem Ergebnis, dass beide Begriffe umgangssprachlich seien und nicht im offiziellen Sprachgebrauch und in Dokumenten verwendet werden sollten. In einer ausführlicheren Darstellung ihrer kleinen philologischen Studie argumentieren sie unter anderem, dass Zivilpersonen nicht mit dem der Militärsprache entlehnten Begriff ›blokadniki‹ bezeichnet werden sollten, da es doch »würdevoller« sei, »auf dem Schlachtfeld durch eine Kugel zu sterben, als in einer belagerten Stadt still am Hunger zu verenden, während man sich mit gewöhnlicher Hinterlandsarbeit beschäftigt«.2 Dieses Ergebnis ist bemerkenswert. Es wird deutlich, dass die fraglichen Begriffe in der russischen Gegenwartssprache von den Philologen als eindeutig positiv besetzte Begriffe identifiziert wurden, obwohl sie ja zunächst nur die Zugehörigkeit einer Person oder eines Gegenstandes zum belagerten Leningrad bezeichnen. Darüber hinaus verweisen die zitierten Fachleute jedoch auf eine andere, dieser Wertung entgegenstehende Opferhierarchie und fordern diese ein: Das Sterben im Krieg kann demnach nur dann als ehrenvoll betrachtet werden, wenn es durch Waffeneinwirkung im Kampf verursacht wurde. Andere Kriegstote, die »gewöhnliche Hinterlandsarbeit« verrichteten, verdienen keine ausdrückliche Ehrenbezeugung wie den ehrenhaften Namen ›blokadnik‹. Den 1 Demidov, D. G.: Blokirovannye goroda, ili my s prezidentom blokadniki, in: Bogdanova, N. V.; Burykina, A. A. (Hg.): Lingvisticˇeskie e˙tjudy. Pamjati professora A.I. Moiseeva. St. Peterburg, 2004, S. 220 – 238, hier 226. 2 Ebenda, S. 226.

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Einleitung

Ausführungen der Philologen zufolge beinhaltet diese Hierarchisierung auch einen Genderaspekt. Die Bezeichnung ›blokadnik‹ kann demnach insbesondere deshalb nicht ehrenhaft sein, weil sie sich auf Männer bezieht, deren eigentliche Pflicht es gewesen wäre, an der Front zu kämpfen. Für Frauen ginge demnach der Titel ›blokadnica‹ durchaus als Ehrenbezeugung durch: »Ungeachtet der größeren Umgangssprachlichkeit klingt das Wort ›blokadnica‹ ehrenhafter als ›blokadnik‹. Personen weiblichen Geschlechts wurden gewöhnlich nicht an die Front einberufen.«3

Die hier systematisch philologisch untersuchte und argumentativ gestützte Wertehierarchie ist in der Sache nicht neu.4 Vielmehr war es zwar in der Kriegsund Nachkriegszeit üblich, die Belagerung Leningrads in ihren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung der Stadt mit dem Begriff Blockade (blokada) zu bezeichnen, das Begriffsfeld stand jedoch von Anfang an in Konkurrenz zum eindeutig militärisch konnotierten Assoziationsfeld der Verteidigung der Stadt (oborona Leningrada). Dabei fungierte der militärische Bereich als Messlatte und Vorbild für den zivilen Bereich und war diesem damit hierarchisch übergeordnet: Die Menschen im Hinterland sollten – genauso wie an der Front – zum Sieg beitragen. Ende der Vierzigerjahre verschwand der Begriff ›Blockade‹ und fand erst wieder ab den Siebzigerjahren weitere Verbreitung. Befragt man verschiedene, zwischen 1953 und 1991 erschienene sowjetische Enzyklopädien zum Thema Blockade, zeigen sich erstaunliche Resultate: Das Stichwort ›Blockade Leningrads‹ findet sich zum ersten Mal in der Sovetskaja voennaja e˙nciklopedija von 1976. Der gesamte Eintrag lautet: »Blockade Leningrads, wurde von deutschen faschistischen Truppen durchgeführt und währte 900 Tage, mit dem Ziel, den heldenhaften Widerstand der Verteidiger der Stadt zu brechen, nachdem die Verbindung zum Hinterland durchbrochen war, und die Stadt auszuhungern. Die Pläne des Feindes waren jedoch zum Scheitern verurteilt. (siehe Stichwort: Schlacht um Leningrad 1941 – 44)«5

Weder in der zweiten Auflage der Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija6 von 1950 noch in der Malaja sovetskaja e˙nciklopedija7 von 1958 noch in der Sovetskaja 3 Ebenda, S. 226. 4 Während die Begriffe ›blokada‹ und ›blokadnyj‹ bereits während des Krieges verbreitet waren, wurde die Bezeichnung ›blokadnik‹ erst seit den 60er-Jahren gebräuchlich; vgl. Ebenda, S. 226. 5 Grecˇko, A. A.: Sovetskaja voennaja e˙nciklopedija. Moskva, 1976. Bei dieser und den folgenden Angaben von Nachschlagewerken wurde jeweils der Redaktionsvorsitzende als Herausgeber angegeben. Die Jahresangabe bezeichnet das Erscheinen des Bandes mit dem Buchstaben B. 6 Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija, 2. Aufl., Moskva, 1949 – 1958. 7 Malaja sovetskaja e˙nciklopedija, 3. Aufl., Moskva, 1949 – 1958.

›Blokada‹ oder ›oborona‹? Überlegungen zum Forschungsfeld

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istoricˇeskaja e˙nciklopedija8 von 1962 noch in der dritten Auflage der Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija9 von 1970 noch in der Enzyklopädie Velikaja Otecˇestvennaja vojna10 von 1985 oder im slovar’-spravocˇnik Velikaja Otecˇestvennaja vojna11 von 1988 findet sich das Stichwort ›Blockade Leningrads‹. Dagegen werden in allen genannten Werken unter den Stichworten ›Schlacht um Leningrad‹, ›Verteidigung Leningrads‹ oder ›Leningrad‹ seitenweise Beschreibungen der militärischen Vorgänge um Leningrad 1941 – 44, der Industrieproduktion oder der Rolle der Partei abgegeben. Die Zustände in der Stadt und das Massensterben der Zivilbevölkerung werden höchstens mit einzelnen Sätzen erwähnt. Eine ausführliche Beschreibung der Leningrader Blockade habe ich erstmals im ersten Band der Sovetskaja voennaja e˙nciklopedija12 von 1990 gefunden, der als einziger Band der Reihe noch das Attribut sovetskaja im Titel trägt. Hier findet man eine knappe Seite zum Stichwort ›Blockade‹, während die Schlacht um Leningrad fast fünf Seiten füllt. Der Verweis auf solcherart begriffliche Feinheiten kann keineswegs als Wortklauberei abgetan werden. Die Begriffe ›blokada‹ versus ›oborona Leningrada‹ verweisen vielmehr auf inhaltliche Schwerpunktsetzungen in der Behandlung der Leningrader Kriegsgeschichte und in der sowjetischen Darstellung der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges allgemein.13 Diese sind mit Konkurrenzen um die Vergangenheit und ihre Deutungen behaftet, die auch heute nicht an Aktualität verloren haben. Die Formelhaftigkeit sowjetischen und postsowjetischen Kriegsgedenkens wurde nicht nur von westlichen Autorinnen und Autoren sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für den allgemeingesellschaftlichen Kontext moniert. Auch die Perestrojka und das Ende der Sowjetunion konnten an dieser nicht grundsätzlich etwas ändern. 1990 konstatierte der Historiker Andrej Mercalov in der Zeitschrift Kommunist, es würde »noch immer« nicht selten versucht, »Gut und Böse in der Geschichte des Krieges unter den großen Worten ›Heroisches und Tragisches‹ zusammenzufassen«14. Seither ist eine Vielfalt Zˇukov, E. M.: Sovetskaja istoricˇeskaja e˙nciklopedija. Moskva, 1962. Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija, 3. Aufl., Moskva, 1970 – 1981. Kozlov, M. M.: Velikaja Otecˇestvennaja vojna 1941 – 1945. E˙nciklopedija. Moskva, 1985. Kir’jan, M. M.; Galician, A. S.: Velikaja Otecˇestvennaja vojna 1941 – 1945. Moskva, 1988. Moiseev, M. A.: Sovetskaja voennaja e˙nciklopedija. Moskva, 1990, S. 417 f. Zu den Einträgen in verschiedenen Ausgaben der Großen Sowjetenzyklopädie siehe auch Camutali, A. N.: Zametki po istoriografii blokady Leningrada, in: Nestor No.8 (2005), 2, S. 147 – 179, hier 155. 14 Mercalov, A. N.: Cena pobedy, in: Kommunist: Teoreticˇeskij i politicˇeskij zˇurnal KPSS (1990), 6, S. 56 – 63, hier 56. Der Autor kritisiert die sowjetische Geschichtsschreibung zum Krieg und entwickelt ein Forschungsprogramm für die weitere Forschung unter den Bedingungen von Glasnost’. Insbesondere mahnt er die Ermittlung und Veröffentlichung genauer Opferzahlen und die Erforschung der Gründe für diesen hohen »Preis des Sieges« an.

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22

Einleitung

verschiedener Aspekte und Fragestellungen bezüglich des Großen Vaterländischen Krieges und der Herrschaft Stalins neu erforscht und behandelt worden. Jahrzehntelang geheim gehaltene Dokumente wurden veröffentlicht und können heute in jeder Bibliothek eingesehen und von Fachleuten und Laien diskutiert werden.15 Es gibt einen internationalen Austausch von Forschenden, der vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen wäre. All diese durchaus wertvolle und fruchtbringende Arbeit hat jedoch in der Öffentlichkeit nicht dazu geführt, die Stereotypen zu überwinden, die mit den in der Sowjetunion entstanden Geschichtsbildern verbreitet wurden. Diese werden auch von Vertretern der jüngsten Generationen fortgetragen. Die Menschenrechtlerin und Historikerin Irina Sˇcˇerbakova sprach angesichts der Einsendungen zu einem Schülerwettbewerb zur Kriegsgeschichte im Jahr 2005 von einer »Sammlung von Klischees aus Brezˇnevs Zeiten«, die wie ein »obligatorisches Ritual jedem Sprechen über den Krieg vorausgehen«.16 Dies beurteilt sie als eine Folge des seiner Menschlichkeit beraubten Staatsgedenkens. In einem Aufruf zur Gründung eines internationalen Geschichtsforums aus dem Jahr 2008, das einen Dialog über »Nationale Geschichtsbilder« und Erinnerungskonflikte ermöglichen sollte, beklagt die Menschenrechtsgesellschaft Memorial »die Wiederauferstehung eines nur leicht veränderten sowjetischen, patriotisch begründeten Großmachtmythos, […] der die Geschichte unseres Landes als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen sieht. In diesem Mythos ist im Großen und Ganzen keinerlei Platz – weder für Schuld, noch für Verantwortung oder eine Wahrnehmung der Tragödie selbst. […] Viele Bürger Russlands sind daher schlichtweg nicht in der Lage, sich den Grad der historischen Verantwortung der Sowjetunion gegenüber den heutigen Nachbarländern Russlands oder aber die Ausmaße der Katastrophe, die Russland selbst ereilt hat, bewusst zu machen.«17

So existiert heute neben einer kleinen Gruppe versierter Fachleute eine breite Öffentlichkeit, deren Kriegsgedenken sich aus Begriffen und Bildern der Kriegsund Nachkriegszeit speist. Es ist somit mehr von stalinistischen Herrschafts15 Vgl. beispielsweise für die Kriegspropaganda Livsˇin, A. J.; Orlov, I. B.: Sovetskaja propaganda v gody Velikoj Otecˇestvennoj vojny. »Kommunikacija ubezˇdenija« i mobilizacionnye mechanizmy. Moskva, 2007. Für die Blockade Lomagin, N.: Neizvestnaja blokada. Dokumenty, prilozˇenija. Sankt-Peterburg – Moskva, 2004; Volkovskij, N. L.: Blokada Leningrada v dokumentach rassekrecˇennych archivov. Moskva; St. Peterburg, 2004. Für einen Überblick zum Forschungsstand bezüglich des Stalinismus siehe Chlevnjuk, O.: Die stalinistische Diktatur. Politik, Institutionen, Methoden, in: Osteuropa Jg. 59 (2009), 1, S. 45 – 50, hier 45. 16 Sˇcˇerbakova, I.: Mesta i oblasti pamjati, in: Mezˇdunarodnoe obsˇcˇestvo ›Memorial‹ (Hg.): Cena pobedy. Russkie sˇkolniki o vojne. Moskva, 2005, S. 7 – 15, hier 9 sowie Sˇcˇerbakova, I.: Landkarte der Erinnerung. Jugendliche über den Krieg, in: Osteuropa Jg. 55 (2005), 4 – 6, S. 419 – 432. 17 Internationale Gesellschaft Memorial: Nationale Geschichtsbilder. Das 20. Jahrhundert und der ›Krieg der Erinnerungen‹, in: russland-analysen (2008), 162, S. 18 – 23, hier 21.

›Blokada‹ oder ›oborona‹? Überlegungen zum Forschungsfeld

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praktiken, Kriegspropaganda und totalitärer Machtkonsolidierung bestimmt als von Erkenntnissen moderner geschichtswissenschaftlicher Forschung.18 Dabei hat der Große Vaterländische Krieg als sinnstiftendes Symbol und der Sieg als Gegenstand patriotischen Stolzes Hochkonjunktur.19 Die weitere Erforschung und Freigabe von Archivmaterialien wird heute in der Russischen Föderation von staatlicher Seite nicht nur nicht gefördert, sondern wurde per Gesetz ideologisch beschränkt, bevor überhaupt alles erhaltene dokumentarische Material öffentlich zugänglich gemacht wurde. Die neueste Blüte dieser staatlichen Geschichtspolitik ist die Einrichtung einer historischen Wahrheitskommission im Mai 2009. Sie soll sich mit der Analyse von »Falsifizierungen« nichtrussischer Historiker beschäftigen, die angeblich dem russischen Staat schaden, und Strategien erarbeiten, diese zu bekämpfen.20 Ein wichtiger Beitrag der historischen Zunft zur allmählichen Lösung von in der Sowjetunion geprägten Stereotypen der Kriegsgeschichtsschreibung sind zweifellos die auf früher unzugängliche Archivmaterialien gestützten neuen Arbeiten zur Erforschung des Krieges, seiner Folgen und der Funktionsweisen stalinistischer Herrschaft. Diese dokumentieren jedoch bestenfalls die Entstehung des Kriegsgedenkens21, ohne sich ausführlich mit der Analyse seiner Inhalte und Motive zu befassen und sich an die Orte ihrer Entstehung zu begeben. Es sind jedoch gerade diese Inhalte, die bis heute in der russischen Öffentlichkeit sehr präsent sind und wirksam bleiben. Über ihre Beschaffenheit, Herkunft und Entwicklung ist nur wenig bekannt. Dabei zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die sowjetischen Geschichtsbilder des Großen Vaterländischen Krieges in ihren Anfängen erstaunlich heterogen waren. Gerade hier manifestierten sich bei Kriegsende und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Sichtweisen auf den Krieg, die auch von lokalen Perspektiven und Erinnerungen der Zeitzeugen beeinflusst waren. In den Veröffentlichungen der späten Kriegs- und unmittel18 Zur Gespaltenheit von »politischer Massenkultur« und »politischer Elitenkultur« im Neuen Russland vgl. auch Langenohl, A.: Patrioten, Verräter, genetisches Gedächtnis. Der Große Vaterländische Krieg in der politischen Deutungskultur Rußlands, in: Ritter, M. (Hg.): Sprünge, Brüche, Brücken. Debatten zur politischen Kultur in Rußland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft. Berlin, 2002, S. 121 – 138. 19 Zur Bedeutung des Krieges als identitätsstiftendes Motiv in der russischen Öffentlichkeit vgl. Gudkov, L.: Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa Jg. 55 (2005), 4 – 6, S. 56 – 72. 20 Die Verordnung in vollem Umfang siehe unter : Prezident prosledit, cˇtoby istorija ne obidela Rossiju. Ukaz prezidenta o sozdanii Komissii po protivodejstviju popytkam fal’sifikacii istorii v usˇcˇerb interesam Rossii, polozˇenie i sostav Komissii. http://www.polit.ru/article/ 2009/05/19/komissia/, Stand: 24. 02. 2012 sowie ein Kommentar : Roginskij, A.: Sozdanie komissii po bor’be s fal’sifikacijami istorii – sˇag v storonu ot svobody. http://polit.ru/news/ 2009/05/19/roginsk/, Stand: 24. 02. 2012. 21 So bspw. in dem Quellenband Livsˇin / Orlov (2007): Sovetskaja propaganda (wie Anm. 15).

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Einleitung

baren Nachkriegszeit zeigen sich sich auch Erinnerungen und Wahrnehmungen außerhalb der zentralen Deutungsangebote, da zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch keine vereinheitlichte Form des ideologisch einwandfreien Erinnerns entworfen worden war. In vielen Veröffentlichungen der frühen Nachkriegszeit wurden Seiten des Krieges beim Namen genannt, die später nicht mehr als opportun galten. In der besten Gewissheit, der politischen Linie treu zu bleiben, erinnerten sich Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an ihre eigenen Erlebnisse, die nicht immer zum später entwickelten Bild des strahlenden, siegreichen Sowjetvolkes passen wollten. Sie taten dies auch öffentlich und hatten für eine Weile die Möglichkeit, ein breites Publikum zu erreichen. Der Historiker und Menschenrechtler Arsenij Roginskij hat darauf hingewiesen, dass die Aufarbeitung des Stalinismus im heutigen Russland gerade deshalb so schwierig ist, weil Einzelne in diesem System oft sowohl Täter als auch Opfer waren.22 Anhand der entstehenden Kriegsgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit zeigt sich diese Verstricktheit noch in anderer Hinsicht. Hier waren es häufig Verantwortliche in Partei- und Sowjetstrukturen, die selber wesentliche Grundlinien von Geschichtsbildern entwickelten. Sie implementierten Chronologien und Deutungen, die ihr eigenes Wirken zum Gegenstand hatten und die in heutigen Geschichtsbildern nachwirken: Die bis heute einzige Monographie, die die Lebensmittelversorgung im belagerten Leningrad zum zentralen Thema macht, stammt vom ehemaligen Bevollmächtigten des staatlichen Verteidigungkomitees (GKO) für die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln während der Blockade Pavlov.23 Während ein Weg der Erforschung der Leningrader Kriegsgeschichte sicherlich in ihrer weiteren Bearbeitung mithilfe neuer Archivbefunde besteht, führt ein anderer über die Analyse und Neubewertung öffentlich vertretener Geschichtsbilder. Diese wirken bis heute und reproduzieren dabei ›historische Fakten‹, die längst durch neuere Erkenntnisse überholt sein könnten. Dabei reicht es meiner Überzeugung nach nicht, den institutionellen Hintergrund ihrer Entstehung zu erfassen. Ebenso notwendig ist es, die Geschichtsbilder selber in Augenschein zu nehmen: Ziel ist nicht, zwischen ›Wahrheit‹ und ›Falsifizierung‹ der Geschichte zu unterscheiden oder die ›Wahrheit‹ über die Blockade herauszufinden. Die Konstruiertheit der untersuchten Konzeptionen muss vielmehr sichtbar gemacht werden, strukturelle und historische Umstände 22 Roginskij, A.: Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Rußland, in: Osteuropa Jg. 59 (2009), 1, S. 37 – 44, hier 39. 23 Pavlov, D. V.: Leningrad v blokade. Moskva, 1969. Das Buch erschien erstmals unter dem Titel: ›Leningrad v blokade‹ (1941). Wie Camutali ausführt, verfügte Pavlov zwar über ausführliche bisher unveröffentlichte statistische Daten und Informationen, war jedoch durch seine eigene Beteiligung befangen. Vgl. Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13), S. 156 f.

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müssen beleuchtet werden, die die Hervorhebung der einen Themen förderte und zur Tabuisierung anderer Themen führte. Thematische Facetten und Implikationen der historischen Darstellungen müssen gezeigt und in ihrer zeithistorischen Bedingtheit erklärt werden. Diese Vorgehensweise ist deswegen erforderlich, weil manche Motive der untersuchten Geschichtsbilder bis heute Geltung haben und weiter – mit neuer Unterstützung staatlicherseits – reproduziert werden. In der vorliegenden Arbeit geht es um die Leningrader Kriegsgeschichte als einen lokal und zeitlich begrenzten Bereich der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges. Im Zuge ihrer Entstehung am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kamen unterschiedliche Darstellungsweisen und Deutungen der historischen Ereignisse zur Veröffentlichung. Im Zusammenhang mit machtpolitischen Bewegungen an der Spitze des sowjetischen Staates und der sogenannten Leningrader Affäre wurde die Leningrader Kriegsgeschichte ab 1949 für ein Jahrzehnt zum Tabuthema. Der Kriegsschauplatz Leningrad ist ein besonders brisantes Fallbeispiel der Geschichtswerdung des Großen Vaterländischen Krieges: Leningrad war die alte Hauptstadt des Russischen Reiches, Symbol für Zarenherrschaft und Revolution. Die Leningrader Arbeiterschaft und Bevölkerung sollte die fortschrittlichste des jungen Sowjetstaates sein, die Leningrader Parteiorganisation mit ihren charismatischen und gut ausgebildeten Führungspersonen war sicherlich beides, Stütze der Parteizentrale und gleichzeitig eine Bedrohung für das Moskauer Machtzentrum. Dies macht Leningrad zu einem besonders dankbaren Forschungsfeld. Gerade hier lässt sich gut nachvollziehen, wie die Verstrickung von Macht- und Geschichtspolitik zur Ausbildung von Geschichtsbildern beitrug und gleichzeitig deren Entwicklung – bis hin zum völligen Verschweigen – verhinderte.

2.

Heldentum als Generalschlüssel? Forschungsstand und Forschungskritik

Die vorliegende Arbeit will die Geschichte einer Geschichte erzählen. Dabei stehen nicht die historischen Ereignisse selber, nicht was geschah, im Mittelpunkt, sondern die Erzählung über diese Ereignisse. Im Zentrum steht die Rede über gerade Vergangenes und die Umstände der Entstehung dieser Rede. Dies erschwert ihre Einordnung in den Forschungsstand. Zwar geht es in der Arbeit nicht um die Belagerung selbst, die Entwicklung von Geschichtsbildern zu diesem Zeitabschnitt ist jedoch ohne eine grundlegende Vorstellung der Ereignisse unverständlich. Gleichzeitig sind die Aussagen der zeitgenössischen und

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Einleitung

Nachkriegsliteratur zur Belagerung in ihrer Brisanz – dem Erwähnen und Verschweigen – nur dann ersichtlich, wenn die Resultate neuer Forschungsarbeiten diesen vorausgeschickt und wie ein Spiegel vorgehalten werden. Dabei sind sich russische und westliche Autorinnen und Autoren in vielen Aspekten nur bedingt einig. Neben neueren Forschungsergebnissen zur Belagerung sollen solche Arbeiten vorgestellt werden, die den wissenschaftlichen Kontext der vorliegenden Arbeit bilden. Dies sind zum einen Arbeiten, die sich mit Kriegserinnerung allgemein und im sowjetischen Kontext beschäftigen, zum anderen solche Studien, die die Produktion und Verbreitung von Geschichtsbildern und ideologischen Konzeptionen in der Sowjetunion unter Stalin zum Thema haben.

2.1.

Überblick

Die Historikerin Carmen Scheide charakterisiert die sowjetische Historiographie des Großen Vaterländischen Krieges als »eine Erfolgsgeschichte, die von Helden, Ruhm und einer weitsichtigen Führung erzählte, dabei jedoch zahlreiche Tabus beinhaltete«.24 Insgesamt trifft diese Einschätzung auch auf die Behandlung der Leningrader Blockade in der Sowjetunion zu. Allerdings erlebt die Belagerung Leningrads in der Historiographie seit dem Ende der Sowjetunion sowohl in Russland als auch in europäischen und nordamerikanischen Forschungskontexten eine Renaissance. In Deutschland gewann die Blockade erst seit Beginn der Neunzigerjahre im Zusammenhang mit der Neubewertung der deutschen Kriegsziele und der Rolle der Wehrmacht eher zögerlich an Präsenz.25 Ihre Behandlung in der russischen Geschichtswissenschaft ist insbesondere von einer Neubewertung aufgrund wichtiger Quellen geprägt, die erstmals zugänglich wurden. In den letzten Jahren kam die Auswertung des deutschen Quellenmaterials durch russische Forscher hinzu. Insgesamt bietet die russischsprachige Historiographie heute eine große Vielfalt an hoch spezialisierten Fachpublikationen, die mit quantitativen Methoden ein sehr exaktes Bild der Blockade zeichnen.26 24 Scheide, C.: »Ich habe gewusst, dass das Kriegsende für mich sehr schmerzhaft sein wird.« Individuelle Kriegserinnerungen in der Sowjetunion. http://www.zeitgeschichte-online.de/ zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/scheide.pdf, Stand: 24. 02. 2012, hier 1. 25 Zu den Anfängen dieser Neubewertung vgl.Friedrich, J.: Militärische Notwendigkeit und totaler Krieg. Deutsche Generäle in Nürnberg, in: Die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte Jg. 37 (1990), 2, S. 133 – 139. 26 Für qualifizierte Überblicke zur Blockadeforschung in der Sowjetzeit und den 90er-Jahren siehe Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13) sowie Chass (Hass), G.: Nemeckaja istoriografija blokady Leningrada (1941 – 1944), in: Nestor No.8 (2005), 2, S. 180 – 197 und

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Wissenschaftliches Zentrum der russischsprachigen Blockadeforschung ist bereits seit den Sechzigerjahren das Leningrader Historische Institut der Akademie der Wissenschaften. Historiker wie Valentin Koval’cˇuk, Andrej Dzeniskevicˇ und Aleksej Camutali, die bereits an der Verfassung und Zusammenstellung sowjetischer Standardwerke zur Blockade beteiligt waren wie an dem Quellenband »Devjatsot geroicˇeskich dnej«27 und dem 1967 erschienenen fünften Band der Leningrader Stadtgeschichte »Ocˇerki istorii Leningrada«28 zur Leningrader Kriegsgeschichte, sind zum Teil bis heute mit der Erforschung der Belagerung befasst. Sie verfügen unzweifelhaft über eine einzigartige Quellenkenntnis des veröffentlichten und unveröffentlichten Materials. Darüber hinaus sind sie Zeitzeugen, die den Krieg erlebt haben und während ihrer Forschungstätigkeit auch mit wichtigen Entscheidungsträgern der Blockadezeit in Kontakt standen.29 Zu den wichtigsten Veröffentlichungen des Instituts in der postsowjetischen Zeit gehört der 1995 erschienene Quellenband »Leningrad v osade«30. Einzelne Beiträge, die in neuerer Zeit aus dieser Forschergruppe hervorgegangen sind, erinnern allerdings in Duktus und auch in der Haltung gegenüber westlichen Arbeiten an sowjetische Publikationen.31 Dennoch sind gerade in den letzten Jahren mehrere Publikationen unter Einbeziehung nicht russischer Autoren entstanden. Insbesondere erwähnenswert ist der von Barber und Dzeniskevicˇ herausgegebene Sammelband »Life and death in besieged Leningrad«32, der nach einer internationalen Konferenz im Jahr 2001 entstand. Internationale Perspektiven bezieht auch der vom Institut für Geschichte 2005 veröffentlichte Band 8 der Zeitschrift Nestor ein. Die innovativsten russischsprachigen Arbeiten stammen von Nikita Lomagin, der in amerikanischen, deutschen und russischen Archiven forschte und auch besonders brisantes Material der russischen Geheimdienstarchive sichtete, auswertete und in russischer Sprache veröffent-

27 28 29 30 31 32

Hass, G.: Leben, Sterben und Überleben im belagerten Leningrad (1941 – 44), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Jg. 50 (2002), 12, S. 1080 – 1098. Koval’cˇuk, V. M.: Devjatcot geroicˇeskich dnej. Sbornik dokumentov i materialov o geroicˇeskoj borbe trudjasˇcˇichsja Leningrada v 1941 – 1945. Moskva; Leningrad, 1966. Akademija Nauk SSSR Institut istorii: Ocˇerki istorii Leningrada. Period Velikoj Otecˇestvennoj vojny Sovetskogo Sojuza 1941 – 1944. Leningrad, 1967. So war Admiral Tribuc Opponent bei der Verteidigung der Dissertation zur Erlangung des Doktortitels von Koval’cˇuk. Vgl. Koval’cˇuk, V. M.: 900 dnej blokady. Leningrad 1941 – 1944. St. Peterburg, 2005, S. 4. Dzeniskevicˇ, A.: Leningrad v osade. Sbornik dokumentov o geroicˇeskoj oborone Leningrada v gody velikoj otecˇestnennoj vojny 1941 – 1944. St. Peterburg, 1995. So bspw. Koval’cˇuk (2005): 900 dnej (wie Anm. 29), insbes. S. 211. Barber, J.; Dzeniskevich, A.: Life and death in besieged Leningrad, 1941 – 1944. Basingstoke, 2005. Russische Erstausgabe des Titels: Archivnoe upravlenie Sankt-Peterburga i Leningradskoj oblasti: Zˇizn’ i smert’ v osazˇdennom Leningrade. Istoriko- medicinskij aspekt. St. Peterburg, 2001.

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Einleitung

lichte.33 Auffällig ist allerdings Lomagins positive Bewertung der politischen Kontrolle als lebenswichtige Funktion des Staates, die in extremen Situationen auch mögliche Repressionen einschließe.34 Dieser Standpunkt muss meines Erachtens sowohl allgemein als auch im konkreten Fall der sowjetischen Kriegsgesellschaft kritisch diskutiert werden. In der westlichen Literatur galten lange Zeit die Arbeiten von Goure35 (1962) und Salisbury (1989, erstmals 1949)36 als Standardwerke zur Leningrader Kriegsgeschichte. Beide zeichnen sich durch ihre hohe Dichte an Fakten und ihren publizistischen Charakter aus. Neuere methodische und geschichtstheoretische Ansätze wie der »linguistic turn« schlugen sich auch in Westeuropa nur vereinzelt in der Bearbeitung des Themas nieder, so in der Arbeit von Aileen Rambow »Überleben mit Worten« (1995)37, die sich mit den Zusammenhängen zwischen Literatur und Ideologie während der Blockade befasst. Antje Leetz hat 1992 in ihrem Buch »Blockade. Leningrad 1941 – 44«38 Beiträge von deutschen und russischen Autorinnen und Autoren zusammengeführt. Hier finden sich auch Stimmen, die die kritische und kontroverse Diskussion in Russland widerspiegeln, welche sich nach dem Ende der Sowjetunion entwickelte. Doch erst mit den umfangreichen Studien von David Glantz zur Militärgeschichte der Belagerung39 und Jörg Ganzenmüller40 zu den Strategien der deutschen und sowjetischen Seite im Umgang mit der belagerten Stadt hat auch die westliche historische Forschung Studien vorzuweisen, die der heutigen Verfügbarkeit von Quellen und neueren Erkenntnissen Rechnung tragen. Nach

33 Zu nennen sind die Quellenbände Lomagin, N.: V tiskach goloda. Blokada Leningrada v dokumentach germanskich specsluzˇb. St. Peterburg, 2001 und Ohne Herausgeber: Blokadnye dnevniki i dokumenty. Sankt-Peterburg, 2004, an deren Zusammenstellung auch Lomagin beteiligt war. Weiterhin die Studie Lomagin, N.: Neizvestnaja blokada. St. Peterburg – Moskva, 2002, zu der ein eigenständiger Quellenband zählt, sowie Lomagin, N.: Leningrad v blokade. Moskva, 2005. 34 Ebenda, S. 6. Kritik an Lomagins Verständnis der Rolle des NKVD bei der Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle im belagerten Leningrad äußerte auch Camutali. Vgl. Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13), S. 178. 35 Goure, L.: The Siege of Leningrad. London, 1962. 36 Salisbury, H. E.: 900 Tage. Die Belagerung von Leningrad. Frankfurt am Main, 1970 (Erstauflage bereits 1949). 37 Rambow, A.: Überleben mit Worten. Literatur und Ideologie während der Blockade von Leningrad 1941 – 1944. Berlin, 1995. 38 Leetz, A.: Blockade Leningrad 1941 – 1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen. Reinbek b. Hamburg, 1992. 39 Glantz, D. M.: The Battle for Leningrad 1941 – 1944. Lawrence, Kansas, 2002 sowie zuerst erschienen und weniger umfangreich Glantz, D.: The Siege of Leningrad. 900 Days of Terror. London, 2001. 40 Ganzenmüller, J.: Das belagerte Leningrad 1941 – 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn, München, Wien, Zürich, 2005.

Heldentum als Generalschlüssel? Forschungsstand und Forschungskritik

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diesem kurzen Überblick soll im Folgenden eine tiefere, forschungskritische Betrachtung der neueren Blockadeforschung Raum finden.

2.2.

Zentrale Themen der Blockadeforschung seit 2000

Während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht 1941 – 44 war die Stadt zwischen September 1941 und Januar 1943 völlig vom Hinterland abgeschnitten. Eine auch nur annähernd ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Trinkwasser, Strom und Heizmaterial konnte nicht gewährleistet werden. Daher starben während der »Leningrader Blockade« zwischen 630.00041 und einer Million Zivilpersonen in der belagerten Stadt an Hunger, Kälte und Folgekrankheiten. Diese Katastrophe war keine bloße ›Kriegsfolge‹; die Belagerung wurde von Hitler und dem Oberkommando der Wehrmacht gezielt als Waffe gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Man sah im Aushungern der Stadt eine Möglichkeit, ohne große Verluste der eigenen Soldaten die Zivilbevölkerung zu vernichten.42 Organisatorische Probleme bei der Evakuation der Zivilbevölkerung durch die Leningrader Behörden sowie die Weigerung vieler Zivilpersonen, die Stadt zu verlassen, begünstigten den Massenmord an der Leningrader Zivilbevölkerung.43 Hinzu kamen die militärischen Opfer : Nach Angaben des amerikanischen Militärhistorikers David Glantz fielen von 28,2 Mio. im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischer Soldaten 12 Prozent bei Kämpfen um Leningrad.44 Die Belagerung und beständige Beschießung der Stadt hinterließ massive Zerstörungen an der Bausubstanz und im Leningrader Umland und forderte viele Opfer in der Bevölkerung. Die menschenverachtende nationalsozialistische Vernichtungspolitik beschränkte sich nicht auf die belagerte Stadt, sondern wurde auch im Leningrader Umland durch die 18. Armee angewandt. Die dortige Bevölkerung wurde dem Massensterben durch Hunger ausgeliefert, Insassen psychiatrischer Krankenhäuser fielen Massenmorden zum Opfer.45

41 Hildermeier, M.: Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München, 1998, S. 604. 42 Hitler hatte am 7. Oktober 1941 Anweisung gegeben, eine etwaige Kapitulation der Stadt nicht anzunehmen. Siehe dazu Schreiben Jodls an den Oberbefehlshaber des Heeres vom 7. 10. 1941, in: Wette, W.; Überschär, G. R. (Hg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941. Frankfurt am Main, 1991, S. 280 f. 43 Vgl. Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 220 ff. 44 Glantz (2002): The Battle (wie Anm. 39), S. 469. 45 Hürter, J.: Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941 / 42 vor Leningrad, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jg. 49 (2001), 3, S. 377 – 440, hier 436 ff.

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Die unfassbaren Leiden der Zivilbevölkerung und die militärischen Erfolge, die unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen von den Soldaten der Roten Armee erzielt wurden, werden auch in postsowjetischer Zeit in vielen, insbesondere russischsprachigen Publikationen unter dem Sammelbegriff des ›Massenheldentums‹ gefasst.46 So wird in einer Geschichte der Stadt St. Petersburg, die anlässlich der 300-Jahrfeier 2003 erschienen ist, die Anordnung des Leningrader Militärsowjets vom Herbst 1941, dass bei Aufgabe eines Frontabschnitts ohne schriftlichen Befehl »alle Kommandeure, politisches Personal und Soldaten sofort erschossen werden«, mit den Worten kommentiert: »Der Ernst der Lage machte diese Maßnahme nötig. Und die sowjetischen Krieger brachten die Faschisten durch ihren Massenheroismus zum Anhalten.«47 So bedeutend die Leistung der Soldaten vor Leningrad im Herbst 1941 auch gewesen sein mag, der Begriff des Massenheldentums ist in diesem Zusammenhang dennoch unangebracht. Er verschleiert die völlige Ausweglosigkeit, in der sich die Soldaten nach dieser Anordnung befunden haben müssen. Diese unreflektierte Darstellungsweise ist bis heute symptomatisch für einen nicht geringen Teil der russischsprachigen Literatur, nicht nur zur Leningrader Belagerung. Sabine Arnold verweist in ihrer detaillierten erinnerungsgeschichtlichen Arbeit zur Schlacht um Stalingrad, in der sie Erzählungen von Kriegsveteranen auswertet, auf die Unhaltbarkeit des sowjetischen Heldenkultes: »Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich die Heldentaten vielmehr als heftige Krisenreaktionen der Soldaten. Ein Soldat warf sich z. B. vor ein Maschinengewehrnest, weil seine Aufgabe nicht erfüllbar war und er nicht erfolglos in die Stellung zurückkehren konnte oder weil er einen »Kurzschluß« erlitt, weil Körper und Seele vom bewegungslosen Warten überfordert waren. Die heroische Tat an der Front war also eine Streßreaktion […] Die Helden waren Geiseln der Armeeführung, ihre Taten Ausdruck höchster Verzweiflung. […] Was bedeutet es für eine Kultur, wenn die Helden, an die mehrere Generationen glaubten, verzweifelte Selbstmörder waren?«48

Ähnliches gilt auch für die immer wieder reproduzierte Formel des Massenheldentums der Leningrader Zivilbevölkerung. So unterstreicht Koval’cˇuk im Resümee seiner 2005 erschienenen Arbeit »900 dnej blokady« die Erscheinung

46 Zur einseitigen historiographischen Betrachtung der Belagerung unter dem Gesichtspunkt des Heroismus siehe auch Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 4 ff. 47 Koval’cˇuk, V. M.: Velikaja Otecˇestvennaja vojna, in: Koval’cˇuk, V. M. (Hg.): Sankt-Peterburg. 300 let istorii. St. Peterburg, 2003, S. 532 – 600, hier 543. 48 Arnold, S.: Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat. Bochum, 1998, S. 396. Vgl. auch: Arnold, S.: Generationenfolge. Gedanken zum sowjetischen Kriegsgedenken und Geschichtsbild, in: Quinkert, B. (Hg.): »Wir sind die Herren dieses Landes«. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg, 2002, S. 188 – 206.

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des Massenheldentums als zentralen Faktor für die historiographische Behandlung der Belagerung: »Dabei muss besonders unterstrichen werden, dass das Massenheldentum der Leningrader nicht darin Ausdruck fand, dass, wie einige ausländische Autoren meinen, sie nur auf das Eintreten des Todes gewartet hätten. Sie haben, jeder auf seinem Posten, weiter gearbeitet und taten alles, um die Verteidigung der Stadt zu stärken.«49

Dabei wird ausgeblendet, dass nur solche Bewohnerinnen und Bewohner Leningrads Arbeit in kriegswichtigen Betrieben leisten konnten, deren Gesundheit, Qualifikation, Weltanschauung und familiäre Lebensumstände dies zuließen und die bei der weitverbreiteten Schließung und Evakuation von Betrieben ihre Arbeit nicht verloren hatten und somit nicht auf die geringsten Lebensmittelationen für ›Unterhaltsempfänger‹50 angewiesen und zu Passivität und Hilflosigkeit verurteilt waren. Die neuere Geschichtsschreibung zur Belagerung Leningrads, die mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht wurde, muss sich daher meines Erachtens die Frage gefallen lassen, inwieweit es gelungen ist, sich von den einengenden Interpretationsparadigmen der sowjetischen Kriegsgeschichtsschreibung zu befreien und neue Perspektiven einzunehmen. Unter diesem Gesichtspunkt sollen im folgenden exemplarische Arbeiten zu einzelnen Themenbereichen, die in neueren Forschungen besonders ausführlich behandelt wurden, betrachtet werden. Militärgeschichte Die Militärgeschichte der Belagerung Leningrads ist ein Bereich, in dem die Ideale des Heldenmythos besonders weite Verbreitung finden konnten. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Befund des amerikanischen Militärhistorikers David Glantz, der auf Einseitigkeiten in der Erforschung militärhistorischer Fragen hinweist. Dabei sind, Glantz zufolge, nur die Episoden der Kampfhandlungen bei Leningrad gut dokumentiert und erforscht worden, die erfolgreich verliefen, obwohl auch solche Operationen, die nicht den erwarteten Erfolg zeigten, insgesamt Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf hatten.51 Ähnlich wie Sabine Arnold in Bezug auf Stalingrad weist Glantz auf die ›spezifisch sowjetische‹ Haltung hin, mit der Mängel in der Planung und Durchführung militärischer Unternehmungen ausgeglichen wurden: »In these defeats and even in many other successful military operations, Red Army commanders often displayed ineptitude in reconnaissance, command and control, 49 Koval’cˇuk (2005): 900 dnej (wie Anm. 29), S. 211. 50 russ.: izˇdivency 51 Glantz (2002): The Battle (wie Anm. 39), S. 467.

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Einleitung

combined-arms coordination and support, and the intricacies of sound logistical support. When they overcame these deficiencies, they did so by a curiously Soviet combination of sheer force of will, callousness, and cold brutality.«52

Neuere deutsche Beiträge konzentrieren sich weniger auf die Nachvollziehung militärischer Operationen als auf Fragen, die mit der Art der Kriegsführung und der Besatzungspolitik der 18. Armee vor Leningrad in Zusammenhang stehen. Johannes Hürter kommt in seinem 2001 erschienenen Aufsatz »Die Wehrmacht vor Leningrad« zu dem Ergebnis, dass die Probleme, mit denen die Wehrmacht im Winter 1941 / 42 vor Leningrad konfrontiert war, nicht so groß waren, »dass dieser Grad der Rücksichtslosigkeit gegen die Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes notwendig gewesen wäre. Die Schwelle der ›Not‹, die kein ›Gebot‹ mehr kannte, wurde von der Wehrmacht an der Ostfront sehr niedrig gesetzt.«53 Mit der Vernichtungsstrategie gegenüber der Zivilbevölkerung in und um Leningrad eng verbunden ist die entscheidende Frage nach der Absicht Hitlers, die Stadt einnehmen zu lassen. An diesem Punkt zeichnet sich eine große Differenz in der Perspektive der deutschen und der russischen historischen Zunft ab, die das Potenzial einer wissenschaftlichen Kontroverse in sich trägt. Ganzenmüller kommt in seiner 2005 erschienenen – und der zu diesem Thema bisher umfangreichsten deutschsprachigen – Monographie zu dem eindeutigen Ergebnis, dass nach einigen Differenzen in der deutschen Führung sich letztendlich Hitlers Entscheidung durchsetzte, dass die Stadt nicht eingenommen werden sollte. Diese wurde mit der Abziehung der Panzergruppe 4 nach Moskau besiegelt.54 Damit war die Belagerung nicht Mittel zum Zweck der Einnahme Leningrads, sondern Ziel der militärischen Handlungen an diesem Frontabschnitt. Diese Entscheidung stand in engem Zusammenhang mit langfristigen strategischen Zielen der deutschen Seite und rückt die Belagerung der Stadt eindeutig in den Kontext des rassenideologischen Vernichtungskrieges55. Man verfolgte eine Strategie der systematischen Aushungerung der sowjetischen Bevölkerung zugunsten von Lebensmittellieferungen, die eine in Deutschland drohende Hungersnot abwenden sollten. Diese Politik bildete die Grundlage der 52 Ebenda, S. 464. 53 Hürter (2001): Die Wehrmacht (wie Anm. 45). Zur Deutschen Besatzung des Leningrader Umlands siehe auch Hass, G.: Deutsche Besatzungspolitik im Leningrader Gebiet 1941 – 1944, in: Quinkert, B. (Hg.): »Wir sind die Herren dieses Landes«. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg, 2002, S. 64 – 81. 54 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 31. 55 Damit bestätigt Ganzenmüller auch für den Leningrader Kriegsschauplatz, dass rassistische Gesinnung, Massenmord und Kriegführung nicht voneinander getrennt werden können. Diese Erkenntnis ist bereits seit den 1960er-Jahren in der deutschen Geschichtsforschung kaum umstritten. Vgl. Pietrow-Ennker, B.: Einleitung, in: Pietrow-Ennker, B. (Hg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt am Main, 2000, S. 7 – 15, hier 8.

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hier ansetzenden Pläne, Leningrad und das Leningrader Umland nach der Ausrottung der ortsansässigen Bevölkerung innerhalb weniger Jahre deutsch zu besiedeln. »Unabdingbare Voraussetzung für den Genozid an den Leningradern war, daß die Wehrmacht keinen konventionellen Krieg gegen die Sowjetunion führte, sondern den Rußlandfeldzug von Beginn an als einen Raub- und Vernichtungsfeldzug angelegt hatte. Von diesem Konzept rückte man während des ganzen Krieges auch nicht mehr ab.«56

Die sowjetische sowie die heutige russischsprachige Kriegsgeschichtsschreibung baut hingegen in ihrer Argumentation im Wesentlichen darauf auf, dass die besondere heroische Leistung der Roten Armee und der Leningrader Bevölkerung gerade in der Bewahrung der Stadt vor der Einnahme liegt. Wenn aber Leningrad gar nicht eingenommen werden sollte, würde dies in einer solchen Sichtweise die Verdienste der Roten Armee bei Leningrad nicht unwesentlich schmälern. Eine Stellungnahme von Frolov zur Frage »Wollte Hitler Leningrad einnehmen?«57 kommt daher zu dem eindeutigen Ergebnis, dass das Ziel der Belagerung zu jedem Zeitpunkt die Einnahme der Stadt war. Er resümiert: »In den Operationen zur Verteidigung Leningrads, die von Verbänden und Teilen der Nord-, Nord-West- und Leningrader Front und der baltischen Rotbannerflotte zwischen dem 10. Juli und dem 30. September 1941 ausgeführt wurden, verloren 214078 Menschen ihr Leben und wurden 130878 verletzt. Sie gaben ihr Leben, um den bösesten Feind der Menschheit – den deutschen Faschismus – zu besiegen. Im Gedächtnis der Generationen wird die ruhmreiche Heldentat der sowjetischen Krieger und Leningrader in den von ihnen geleisteten Kämpfen um Leningrad bleiben. Und keine Versuche, aus welchem Grund sie auch erfolgen mögen, können die Großartigkeit dieser Heldentat mindern.«58

Aus der Abhandlung wird ersichtlich, dass Frolov nur sehr eingeschränkt über deutsche Literatur verfügte – die Arbeit von Ganzenmüller wird gar nicht zitiert. Auch führt er keine Archivquellen an, um seine Argumentation zu stützen. So zeigt schließlich die zitierte Schlussbemerkung des Aufsatzes, dass es hier vorrangig um die Aufrechterhaltung der sowjetischen Lesart und nicht um neue militärhistorische Erkenntnisse ging. Gerade hier wird deutlich, wie das Konzept des Heroismus und seine Aufrechterhaltung um jeden Preis den Blick auf die Quellen trüben beziehungsweise überflüssig machen kann. Hier bestätigt sich auch der Befund, den der Soziologe Andreas Langenohl bezüglich des Kriegsgedenkens in der russischen Öffentlichkeit heute gestellt hat: 56 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 61. 57 Frolov, M. I.: Chotel li Gitler vzjat’ Leningrad?, in: Nestor No.8 (2005), 2, S. 68 – 79. 58 Ebenda, S. 79.

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»[…] eine bestimmte Deutung des Sieges muss anerkannt werden, sei es von den Kritikern im eigenen Lande oder von Relativierern des großen Sieges anderswo. Diese besteht in der Monumentalität und überzeitlichen Bedeutung derjenigen, die im Krieg gekämpft haben und getötet wurden, wobei diese Überzeitlichkeit unter Rekurs auf das schiere Leben der Nachgeborenen begründet wird.«59

Frolovs Resümee verdeutlicht, dass allein die Anzahl der Opfer in dieser Lesart jede weitere Argumentation überflüssig macht. Der Vollständigkeit halber soll hier kurz ein weiteres Feld der Leningrader Kriegsgeschichtsschreibung erwähnt werden, das einigen Sprengstoff für erinnerungspolitische Diskussionen bietet: die finnische Beteiligung an der Belagerung Leningrads. Diese wurde in der finnischen Öffentlichkeit nicht immer bereitwillig behandelt. Die 2002 erschienene Monographie des russischen Historikers Barysˇnikov60, die von finnischer Seite finanziert wurde, zeigt jedoch, dass Bewegung in den russisch-finnischen Dialog zu diesem Thema gekommen ist. Allerdings ist auch dieser, wie der deutsch-russische Dialog, auf die Übersetzung zentraler Arbeiten angewiesen, wenn er sich nicht auf einen oberflächlichen Schlagabtausch beschränken will.61 Staatsmacht und Bevölkerung Der Begriff vlast’ (Plural vlasti) wird im Russischen nicht selten in Opposition zu Volk (narod) gebraucht und kann nur unscharf ins Deutsche übersetzt werden. Er ist jedoch in der russischsprachigen historiographischen Literatur ein verbreiteter Schlüsselbegriff für eine Reihe von Fragen, die Forschungsfelder zur Geschichte der Belagerung abstecken. Vlast’ bedeutet an sich Macht und kann sowohl für die gesamte sowjetische Staatsmacht stehen (sovetskaja vlast’) als auch ihre Vertreter, die Machthaber, meinen. In einer sehr weit verbreiteten Bedeutung bezeichnet der Begriff die Manifestation der Staatsmacht in ihren 59 Langenohl, A.: Das nackte und das gute Leben. Eine sequenzanalytische Deutung der postsowjetischen Erinnerung der Opfer im Großen Vaterländischen Krieg, in: Faulenbach, B.; Jelich, F.-J. (Hg.): Transformationen der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Essen, 2006, S. 253 – 273, hier 272. Frolovs Argumentation spiegelt eine Haltung wieder, die nach Langenohl charakteristisch für eine spezifische Haltung gegenüber dem Großen Vaterländischen Krieg ist. Diese geht davon aus, »daß jedwede Modifizierung der Erinnerungssemantik des GVK den Umgekommenen Schaden antue, da dadurch die objektive Richtigkeit der Sozialordnung, die jene für subjektiv richtig hielten, in Zweifel gezogen würde, also letzten Endes einen Verrat an den Idealen der Toten darstelle. Damit wird letztendlich die UdSSR legitimiert, insofern in ihr das Gedenken der Toten in der einzig richtigen Weise stattgefunden habe« Langenohl, A.: Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Rußland. Göttingen, 2000, S. 306. 60 Barysˇnikov, N. I.: Blokada Leningrada i Finljandija 1941 – 1944. St. Peterburg-Helsinki, 2002. 61 Vgl. auch Barysˇnikov, N. I.: Finskie istoriki o politicˇeskich aspektach bitvy za Leningrad, in: Nestor No.8 (2005), 2, S. 198 – 212.

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Machtapparaten, den vor Ort zuständigen Behörden. Der auffällig unbestimmte und allumfassende Begriff vlast’ verdeutlicht gleichzeitig Stärke, Übergriffigkeit und Allumfassendheit, die nicht selten die Wahrnehmung der Staatsmacht und ihrer Behörden durch den Einzelnen wesentlich prägten. Im Leningrader Kontext können mit vlast’ sowohl die lokalen Machtstrukturen, also die Behörden der Stadtverwaltung und Leningrader Parteiführung, als auch die Strukturen der Moskauer Machtzentrale gemeint sein. In einer um ein differenziertes Verständnis der Machtstrukturen bemühten Herangehensweise kann dieser Begriff daher auch zu Unklarheiten führen. Eine Reihe neuerer Arbeiten beschäftigt sich mehr oder weniger direkt mit der Interaktion von Staatsmacht und Bevölkerung. Zentrale Fragen sind dabei: Welche Vorsorgemaßnahmen wurden zu Beginn des Krieges von den Behörden getroffen? Wie wurden sie umgesetzt? Wie verhielten sich die Behörden angesichts der immer schwieriger werdenden Versorgung der Bevölkerung? Wie begegneten Polizei und Geheimdienst Hungerfolgen, wie wachsender Kriminalität, Schwarzmarkthandel und Kannibalismus? Wie verhielt sich die Staatsmacht gegenüber mutmaßlichen Regimegegnern? Ein weiterer Fragenkomplex nimmt die Stimmungen in der Bevölkerung gegenüber Staatsmacht und Behörden in den Blick. Nicht zuletzt kann mit vlast’ auch das Moskauer Machtzentrum gemeint sein, sodass die Haltung Stalins gegenüber Leningrad ebenfalls in diesem Zusammenhang thematisiert werden muss. Im Folgenden sollen nun die genannten Felder jeweils kurz behandelt werden. Bezüglich der Vorsorgemaßnahmen der Behörden bei Kriegsbeginn rückte in den letzten Jahren insbesondere die Frage der Evakuierung der Zivilbevölkerung in den Vordergrund. Lomagin merkt an: »Die Frage der Evakuation ist eine der ernsthaftesten für die Beurteilung der Fähigkeit der Behörden, der Situation angemessene Entscheidungen zu treffen. Das Volk war – im Großen und Ganzen – sich selbst überlassen – außer den Unternehmen und Einrichtungen, die unbedingt evakuiert werden mussten, sowie politisch unzuverlässigen Personen beschäftigte man sich nicht ernsthaft mit der Evakuierung der Bürger.«62

Angesichts der hohen Sterblichkeit der Zivilbevölkerung und der extremen Versorgungsengpässe, in die die Behörden bereits nach wenigen Wochen der Belagerung gerieten, wäre diese Verfehlung der Behörden als fatal zu beurteilen. Im Kontext des sowjetischen Heldenmythos wurde die Evakuierung nicht selten mit mangelndem Patriotismus und die Weigerung, sich evakuieren zu

62 Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 220.

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lassen, mit patriotischem Heldenmut gleichgesetzt.63 Lomagin beschreibt differenziert die Gründe dafür, sich einer Evakuierung zu entziehen. Er erwähnt sowohl die Angst davor, den mit Mühe erreichten Status des Einwohners von Leningrad wieder zu verlieren, als auch die Angst vor Verlust von Eigentum und Wohnraum, Geldmangel und ähnliche Gründe.64 Wo Lomagin die Evakuierung politisch unzuverlässiger Personen65 erwähnt, verbirgt sich, wie Irina Reznikova zeigt, ein bisher noch weitgehend unerforschtes Feld: die Zwangsevakuation von Personen aus Leningrad und dem Leningrader Umland und ihre Folgen.66 Auch Ganzenmüller beschäftigt sich ausführlich mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung. Bezüglich der Effektivität der Maßnahmen kommt er insgesamt zu einem etwas positiveren Ergebnis als Lomagin. Er betont, dass die Durchführung der Evakuierung weitaus mehr von strategischen als von humanitären Gesichtspunkten bestimmt war. Die möglichst zügige Evakuierung der Zivilbevölkerung setzte daher erst Anfang 1942 ein, lange nach Beginn der Hungerkatastrophe. Dennoch kommt Ganzenmüller mit einer Gesamtzahl von 1287088 Personen, die zwischen dem 29. Juni 1941 und dem 15. April 1942 aus der Stadt evakuiert wurden, zu dem Ergebnis, dass »eine beeindruckende Leistung bei der Evakuierung der Leningrader Bevölkerung vollbracht wurde«67. Ein für das Kriegsgedenken und die gesellschaftliche Bearbeitung der Belagerung sehr wesentlicher Punkt ist der Umgang der Behörden und Vertreter von Partei und Staatsmacht mit den knapper werdenden Lebensmittelressourcen. Ganzenmüller kommt zu dem Ergebnis, dass sich die »Verwaltung des Mangels« im belagerten Leningrad von den Vorgehensweisen in den 30er-Jahren im Wesentlichen nur dadurch unterschied, dass der Mangel während der Belagerung bedeutend größer gewesen sei. Grundsätzlich seien die Lebensmittel nach Klassengesichtspunkten verteilt worden.68 Was dies im Einzelnen bedeuten konnte, wird in Geheimdienstdokumenten deutlich, die zeigen, dass sich Sekretäre der Bezirks-Parteikomitees in großen Mengen Schokolade, Kuchen und Kaviar in die belagerte Stadt liefern ließen, was nach Einschätzung Lomagins als Norm zu gelten hat.69 Lomagin gibt diesen Themen in seiner Arbeit »Neizvestnaja blokada« gesondert Raum, was die Studie besonders auszeichnet. Die Unmäßigkeit und Verschwendung wertvoller Lebensmittel während der Bela63 Vgl. bspw. der Angriff Vera Inbers auf Pasternak 1958, beschrieben in Gendlin, L.: Perebiraja starye bloknoty. Amsterdam, 1986, S. 191. 64 Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 221 ff. Vgl. auch Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 152. 65 Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 220. 66 Reznikova, I.: Repressionen während der Leningrader Blockade, in: 1999 Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Jg. 15 (2000), 1, S. 117 – 141, hier 133 – 136. 67 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 136. 68 Ebenda, S. 254. 69 Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 101 ff.

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gerung seitens Angehöriger der Parteieliten waren bereits Gegenstand gegenseitiger Bezichtigungen der Parteikader während der Leningrader Affäre70 und wurden von Zeitzeugen wiederholt zur Sprache gebracht.71 Ihre systematische und umfassende Behandlung sind von zentraler Bedeutung für die Historiographie der Blockade. Leider steht eine systematische Behandlung sowohl der Versorgungspolitik als auch des Machtmissbrauchs durch Vertreter von Sowjetund Parteistrukturen bis heute aus. Die Hungersnot im belagerten Leningrad führte zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate in der belagerten Stadt. Neue Formen der Kriminalität wie Kannibalismus und Mord mit dem Ziel, Lebensmittel zu beschaffen, traten auf. Brisant sind Fragen nach dem Umgang der Behörden mit neuen Formen der Kriminalität. Dieser Themenkomplex, der erst mit der beginnenden Perestrojka in der Sowjetunion behandelt werden konnte und lange Zeit nicht zum Kanon des offiziellen Blockadenarrativs gehörte, ist inzwischen auch von konservativeren Historikern aufgegriffen worden, so in der bereits zitierten Geschichte der Stadt Leningrad von 2003.72 In einem Aufsatz über diese von den zeitgenössischen Behörden so genannte »besondere Kategorie des Banditismus« behandelt Dzeniskevicˇ systematisch die dokumentarisch belegten Ausmaße des Kannibalismus.73 Bei der Behandlung dieses Themas muss unterschieden werden zwischen den Handlungen vor Hunger unzurechnungsfähiger Einzelpersonen und denen organisierter Banden, die mordeten, um mit dem Fleisch der Opfer Handel zu treiben.74 Dzeniskevicˇ weist darauf hin, dass diese Formen der Kriminalität im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung keine besonders weite Verbreitung fanden.75 Einblick in diesen schwierigen Themenbereich bieten Quellen, die 2004 in dem Quellenband von Volkovskij erschienen sind, der etwa einen Bericht des Kriegsprokurors an A. A. Kuznecov vom Februar 1942 enthält.76 Ein weiterer Quellenband, der eindrucksvoll sowohl die Lage in der Stadt als auch den Blick auf die Stadt von deutscher Seite reflektiert, ist der von Lomagin zusammengestellte und 2001 erschienene Band »V tiskach goloda«.77 70 Vgl. Peltzer, D.: Die Leningrader Affäre 1949 – 53. Ein Beispiel stalinistischer Säuberungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Berlin, 1993, S. 113. 71 Belege für solchen Missbrauch wurden nur gelegentlich veröffentlicht. Siehe bspw. Leetz (1992): Blockade Leningrad (wie Anm. 38), S. 197 ff. Bilder aus einer Leningrader Konditoreifabrik zeigen, wie im Dezember 1941 in Leningrad Süßwaren hergestellt wurden. 72 Koval’cˇuk (2003): Velikaja Otecˇestvennaja (wie Anm. 47), S. 559 f. 73 Dzeniskevicˇ, A.: Banditizm (osobaja kategorija) v blokirovannom Leningrade, in: Istorija Peterburga Jg. 1 (2001), 1, S. 47 – 51. 74 Vgl. auch Hass (2002): Leben, Sterben (wie Anm. 26), S. 1097 f. 75 Dzeniskevicˇ (2001): Banditizm (osobaja (wie Anm. 73), S. 51. 76 Volkovskij (2004): Blokada Leningrada (wie Anm. 15), S. 679 f. 77 Lomagin (2001): V tiskach (wie Anm. 33).

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Die politische Verfolgung in Leningrad während der Blockade wurde erstmals in einer Ausgabe der Zeitschrift Vestnik Memoriala78 thematisiert, die von der bekannten Gesellschaft für Menschenrechte und historische Aufklärung herausgegeben wird. Interessanterweise fand gerade in einer deutschen Fachzeitschrift eine kleine Kontroverse zu diesem Thema Raum.79 Dass das Thema der staatlichen Gewalt und der Repressionen im belagerten Leningrad noch lange nicht erschöpft ist, zeigt das entsprechende Kapitel in der Monographie Ganzenmüllers.80 Es wäre wünschenswert, von den russischen Kollegen mit Zugang zu Geheimdienstquellen mehr zu diesen Themen zu erfahren. Ein Bereich der Beziehungen zwischen vlast’ und Bevölkerung, der durch die Arbeiten Lomagins innovativ ausgeleuchtet wurde, sind die Stimmungen in der Zivilbevölkerung Leningrads während der Belagerung. Lomagin schreibt hier konsequent gegen eine historiographische Tradition an, die alle in der Stadt Verbliebenen als kommunistisch gesinnte Heldinnen und Helden darstellt: »Der Patriotismus und Heroismus der Leningrader wurde in mehr als 400 Büchern behandelt, die in der UdSSR zwischen 1945 und 1991 erschienen sind. Bei alledem konnten die unmenschlichen Leiden, die die Bürger während der Blockade trafen, nicht ohne Auswirkung auf ihre Stimmungen bleiben, die ernsthaften Schwankungen unterworfen waren. Es waren auch sogenannte ›negative‹ Stimmungen darunter. Sie wurden sorgfältig von den Organen der politischen Kontrolle erfasst, vor allem von der Leitung der Staatssicherheit (Gosbezopasnost’) und Partei sowie Informanten verschiedener Ebenen.«81

Besonders aufschlussreich ist der von Lomagin ausführlich beschriebene Zusammenhang zwischen der politischen Gesinnung vieler unbescholtener Bürgerinnen und Bürger und den Lebensbedingungen in der belagerten Stadt.82 So leuchtet ein, dass die dramatische Verschlechterung der Lebensumstände auch zu einem Anwachsen der Kritik an den Leningrader Behörden und allgemein an der sowjetischen Staatsmacht führte. Nicht zuletzt muss im Zusammenhang mit dem Themenbereich vlast’ die Haltung Stalins gegenüber Leningrad thematisiert werden. So sind Mutmaßungen weit verbreitet, Stalin habe aufgrund einer tiefen persönlichen Abneigung gegenüber Leningrad die Stadt und ihre Bewohner vernachlässigt. Sowohl 78 Reznikova, I.: Repressii v period blokady Leningrada, in: Vestnik Memoriala (1995), 4 / 5, S. 94 – 111. 79 Reznikova (2000): Repressionen während (wie Anm. 66) und Hass, G.: Replik zu Irina Reznikova, Repressionen während der Leningrader Blockade, in: 1999, 15 (2000) 1, S. 117 – 141, in: 1999 Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Jg. 15 (2000), 2, S. 157 – 162. 80 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 279 – 313. 81 Lomagin (2005): Leningrad v (wie Anm. 33), S. 5. 82 Ebenda, S. 441.

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Lomagin als auch Ganzenmüller entkräften solche Vorwürfe und weisen dezidiert auf die ausgeprägte Rationalität in den Entscheidungen Stalins hin. Lomagin schildert ausführlich die Schwierigkeiten, die es im Spätsommer 1941 praktisch unmöglich machten, Leningrad mehr militärische Unterstützung und Ausrüstung zukommen zu lassen. Er macht auch plausibel, dass Stalin, nachdem sich die militärische Lage in Leningrad ab Herbst 1941 sukzessive stabilisiert hatte, seine Aufmerksamkeit anderen Brennpunkten zuwandte.83 Ganzenmüller betont die Zweckrationalität der politischen und militärischen Führung, die klare Prioritäten setzte: »Dass die Leningrader Zivilbevölkerung in seinen strategischen Überlegungen offenbar keine Rolle spielte, mußte nicht speziell und schon gar nicht ausschließlich auf Stalins Antipathie gegen die Newametropole zurückgeführt werden. Vielmehr lag es generell in der Tradition stalinistischer Politik, den Einzelnen für das große Ganze bedenkenlos zu opfern.«84

Beide Autoren sehen eine Abneigung gegenüber der Stadt und ihrer Bevölkerung nicht als handlungsleitendes Motiv Stalins im Umgang mit Leningrad an. Medizingeschichtliche Aspekte Eine weitere Forschungsrichtung, die sich in der russischen Literatur zur Blockade in den letzten Jahren besonders intensiv entwickelte, konzentriert sich auf medizinhistorische Aspekte. Dzeniskevicˇ stellt in seiner 2002 erschienenen Monographie85 Gebiete der medizinischen Forschung in Leningrad während der Blockade und die damals erarbeiteten Ergebnisse vor. Hier werden insbesondere solche Forschungsbereiche thematisiert, die den Hunger und die Behandlung von Hungerfolgen in den Blick nahmen. Im Rahmen der Beiträge zu einer Konferenz im Jahr 2001 beschäftigten sich Fachleute unterschiedlicher Spezialgebiete mit im weitesten Sinne medizinhistorischen Fragestellungen zur Blockade. Die Beiträge erschienen erstmals im selben Jahr in dem Konferenzband »Zˇizn i smert’ v osazˇdennom Leningrade«86 und wurden später in überarbeiteter Form in dem Band »Life and Death in besieged Leningrad« auf Englisch veröffentlicht.87 Die Stärke dieses Sammelbandes liegt in der Interdisziplinarität der Beiträge. Der Sammelband wird eröffnet von dem amerikanischen Historiker Barber, der eine Einordnung der Blockade nach dem FAD-Konzept (food availability 83 Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 65 ff. 84 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 91. 85 Dzeniskevicˇ, A.: Na grani zˇizni i smerti. Rabota medikov issledovatelej v osazˇdennom Leningrade. St. Peterburg, 2002. 86 Archivnoe upravlenie Sankt-Peterburga i Leningradskoj oblasti (2001): Zˇizn’ i (wie Anm. 32). 87 Barber / Dzeniskevich (2005): Life and (wie Anm. 32).

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decline-Konzept) in die Kategorie FAD188 vornimmt. Dies bedeutet, dass die Leningrader Hungersnot nach seiner Einschätzung nicht zu den Hungersnöten gehört, an deren Folgen Handlungen einer Regierung maßgeblich etwas hätten ändern können. Unter Einbeziehung der Ergebnisse Ganzenmüllers muss dieser Position jedoch entschieden widersprochen werden. Wie Ganzenmüller zeigt, waren es politische Entscheidungen auf der Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie des Vernichtungskrieges, die die Hungerkatastrophe in Leningrad verursachten. Nach den von Lomagin veröffentlichten Quellen muss außerdem zumindest auf das Defizit in der Forschung zur Versorgung der Zivilbevölkerung und zum Fehlverhalten der Parteieliten hingewiesen werden. Möglicherweise würde eine angemessene Erforschung der »Verwaltung des Mangels« durch die Behörden sowie des Luxuslebens der Parteieliten auf Kosten der Bevölkerung durchaus zeigen, dass die extreme Not der breiten Bevölkerung effektiver hätte gemildert werden können. Barbers Einordnung birgt die Gefahr, die Hungersnot während der Blockade in die Nähe einer Naturkatastrophe zu rücken. Dies wäre ein Schritt zu einem Geschichtsbild, in dem nur Platz für Opfer und Helden ist, nicht aber für deutsche Täter und eventuell auch sowjetische Mit-Täter. Als besonders herausragender Beitrag des Bandes muss der Aufsatz der Ärztin Svetlana Magaeva genannt werden, die auf eindrucksvolle Weise die Hungerkrankheiten und ihre Wechselwirkung mit psychischem Stress beschreibt, die dazu führten, dass der Krankheitsverlauf in vielen Fällen völlig unberechenbar war.89 Zum besseren Verständnis von Zeitzeugenerzählungen und anderen Quellen sowie zur generellen Einschätzung der Situation der Bevölkerung in der belagerten Stadt ist diese medizinische Abhandlung unverzichtbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im vergangenen Jahrzehnt in einer Reihe von relevanten Fragestellungen bisherige Kenntnisse vertieft und neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Dabei fällt auf, dass es nur vereinzelt gelingt, alte Stereotypen gänzlich zu überwinden beziehungsweise eine bewusst neue Blickrichtung zu finden. Auch westliche Autoren meiden teilweise eine kritische Auseinandersetzung mit dem Heldenparadigma. Diese Vermeidungshaltung führt meines Erachtens auch dazu, dass wichtige Themen wie politische Verfolgung oder Lebensmittelunterschlagung durch Parteieliten bisher nicht systematisch untersucht wurden.

88 Ebenda, S. 6. 89 Magaeva, S.: Physiological and Psychsomatic Prerequisites for Survival and Recovery, in: Barber, J.; Dzeniskevich, A. (Hg.): Life and death in besieged Leningrad, 1941 – 1944. Basingstoke, 2005, S. 123 – 159.

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2.3.

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Kriegsgedenken und stalinistische Ideologie als Forschungsgegenstand

Für die Erforschung der Entstehung von Geschichtsbildern und ihrer Bedingtheit durch politische und gesellschaftliche Umstände in meiner Studie haben verschiedene Arbeiten zum Kriegsgedenken sowie zur stalinistischen Ideologie entscheidende Anregungen geliefert. Diese werden im Folgenden gesondert dargestellt. Dabei unterscheide ich diejenigen Arbeiten, die sich allgemein mit dem sowjetischen Kriegsgedenken befassen, und diejenigen, die sich speziell auf Leningrad beziehen. Kriegsgedenken im gesamtsowjetischen Kontext Die Erforschung russischen Kriegsgedenkens durch englischsprachige Autorinnen und Autoren begann bereits zu Zeiten von Glasnost’, also gegen Ende der 80er-Jahre. Eines der ersten Bücher, die den sowjetischen ›Kriegskult‹ zum Thema machen, ist die Arbeit »The Living and The Dead« der russisch-jüdischstämmigen amerikanischen Autorin Nina Tumarkin.90 Besonders bemerkenswert ist ihre Beschreibung der systematischen Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens durch die sowjetische Führung unter Brezˇnev, um die junge Generation zu solidarischem Verhalten zu motivieren und gleichzeitig umstrittene politische Maßnahmen wie Industrialisierung und Kollektivierung mit ihren verheerenden Folgen als gerechtfertigt darstellen zu können.91 Die junge Generation wird als in ihrem bloßen Leben der älteren Generation – und dem sowjetischen Parteistaat – verpflichtet dargestellt: Sie steht lebenslang in der Schuld der älteren Generation, die in dieser Lesart das Leben der Jungen durch ihr Sterben überhaupt erst ermöglicht hat. In diesem Paradigma wird jede Kritik und jedwedes Zuwiderhandeln gegen gesellschaftliche Normen zum Sakrileg, was dieser erinnerungspolitischen Konzeption ein gesellschaftlich zutiefst stabilisierendes Moment verleiht. Langenohl belegt überzeugend, dass diese »Domestizierung« der Nachkriegsgenerationen die Sowjetunion überlebt hat und bis heute wirkungsmächtig bleibt.92 Catherine Merridales umfangreiche Arbeit zum »Leiden und Sterben in Rußland«93 ist insgesamt thematisch weitaus breiter angelegt und basiert noch stärker auf Zeitzeugenberichten. Sie ist in der Darstellung jedoch nicht weniger 90 Tumarkin, N.: The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia. New York, NY, 1994. Das Buch erschien 1994, die Vorarbeiten hatten aber bereits 1987 begonnen. Für einen zusammenfassenden Überblick siehe auch Tumarkin, N.: The War of Remembrance, in: Stites, R. (Hg.): Culture and Entertainment in wartime Russia. Bloomington, 1995, S. 194 – 207. 91 Tumarkin (1994): The Living (wie Anm. 90), S. 132 – 135. 92 Langenohl (2006): Das nackte (wie Anm. 59), S. 257 f. 93 Merridale, C.: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München, 2001.

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persönlich, was auch hier eine sehr empathische Erzählweise ermöglicht, die den breit zitierten Erinnerungen von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen einen würdigen Rahmen verleiht. Beide Arbeiten erfüllen eher die Aufgabe der Bestandsaufnahme von Erinnerungskultur als die der stringenten wissenschaftlichen Analyse russischen Kriegsgedenkens oder kollektiver Erinnerungsprozesse. In ihrem Kapitel zum Krieg beschäftigt sich Merridale unter anderem mit der Blockade Leningrads.94 Beachtenswert ist ihre Beobachtung, dass die seelischen Leiden an der Belagerung und ihren Folgen95 bis in die Gegenwart auch von Fachleuten aus dem Erinnern verdrängt werden: »Die Erinnerung an das Trauma – Geist und Körper waren fast völlig erstarrt vor Angst und durch den Schrecken, den jeder mit ansehen musste – ist fast völlig verloren gegangen. Sogar manche Psychiater haben vergessen, dass manche Menschen nicht nur an ihrem Leib Narben davongetragen hatten. ›Ich hatte Albträume‹ versicherte mir eine dieser medizinischen Ordonnanzen. ›Aber was soll diese postdramatische [sic] Belastungsstörung sein?‹«96

Solche Kommentare zeigen auch, wie Einseitigkeiten in der historiographischen und literarischen Darstellung der Belagerung sich auf ihre Gesamtwahrnehmung auswirkten. Merridales Beobachtung steht im Kontrast zu der zunehmenden medizinhistorischen Bearbeitung der Blockade, die sich explizit mit den körperlichen Folgen des Hungers beschäftigt. Eine systematische wissenschaftliche Bestandsaufnahme der psychischen Folgen der Blockade fehlt bis heute. Andere Autoren näherten sich dem russischen beziehungsweise sowjetischen Kriegsgedenken in stärker analytisch geprägter Weise. Amir Weiner unterstreicht in seinem viel beachteten Aufsatz »The Making of a Dominant Myth« die widersprüchliche Wirkung, die das Kriegsgedenken in der Sowjetunion hatte, indem es einerseits Klassen und ethnische Gruppen gesellschaftlich integrierte, die sonst ausgeschlossen gewesen wären, und gleichzeitig Raum für partikularistische Visionen und Diskurse schuf.97 Weiner betont die stabilisierende Wirkung des Kriegsmythos, der dazu gedient habe, umstrittene Maßnahmen wie die Kollektivierung und Industrialisierung im Nachhinein zu rechtfertigen.98 94 Ebenda, S. 320 – 328. 95 Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden traumabedingte Erkrankungen zumeist ausschließlich im Zusammenhang mit körperlichen Verwundungen untersucht. Vgl. Krylova, A.: ›Healers of Wounded Souls‹: The Crisis of Private Life in Soviet Literature, 1944 – 1946, in: The Journal of Modern History Jg. 73 (2001), 2, S. 307 – 331, hier 317 f. 96 Merridale (2001): Steinerne Nächte (wie Anm. 93), S. 326. 97 Weiner, A.: The Making of a Dominant Myth: The Second World War and the Construction of Political Identities within the Soviet Polity, in: Russian Review Jg. 55 (1996), 4, S. 638 – 660, hier 660. Vgl. auch die Monographie Weiner, A.: Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton, 2001. 98 Vgl. auch Tumarkin (1995): The War (wie Anm. 90).

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Beachtenswert ist auch der Hinweis Weiners, dass der Kriegsmythos in seiner Wirksamkeit nicht nur durch politische Manipulation verankert wurde: »The hegemonic status of the Myth of the War can be traced not only to the Soviet state and its propaganda machine but equally, if not more so, to the identities of the articulators of the Myth in the localities, the peasant-soldiers, for whom the war turned into an autobiographical point of reference and a point of departure.«99

Abstrahiert vom Forschungsgegenstand Weiners lässt sich dieser Gedanke auch auf Überlebende der Blockade übertragen. Für sie war das Erleben dieser Zeit nicht selten traumatischer Wendepunkt, das Überleben erschien als Neubeginn, mit dem der Zugewinn einer neuen Identität etwa als ›blokadnica‹ oder ›ucˇastnik oborony Leningrada‹ verbunden war. Weiners Aufsatz zeigt, dass die Rolle des Kriegsgedenkens in der sowjetischen und auch postsowjetischen Gesellschaft sich nicht auf leere Phrasen und hohle Rituale beschränkte, sondern vitale gesellschaftliche Funktionen erfüllte, die noch viele Fragen für weitere Untersuchungen offen ließen. Andreas Langenohl liefert mit der Studie »Erinnerung und Modernisierung«100 eine fundierte soziologische Analyse von Erinnerungsdiskursen im Neuen Russland. Als wichtigste Stränge identifiziert er dabei die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, die Revolution und den Stalinismus. Diese weisen Verknüpfungen untereinander auf, wobei die Kriegserinnerung eine dominante Rolle einnimmt.101 Die Diskurse zur Kriegserinnerung102 bewegen sich nach Langenohl zwischen zwei »Erinnerungspolen«, wobei nach der einen Deutungsart der Sieg nur zur Stärkung und Glorifizierung des stalinistischen Systems beigetragen hätte, während der andere Strang unbeirrbar an den in der Sowjetunion üblichen Gedenkpraktiken und Formeln festhält. Diese Zweiteilung macht den Krieg in Langenohls Deutung für das postsowjetische Russland zu einer »gespaltenen Zivilreligion«. »Offenbar besteht also kein kausaler Zusammenhang zwischen der bloßen Deregulierung und Pluralisierung von Vergangenheitsrepräsentationen und dem Aufkommen reflexiver Erinnerungspraktiken. Die Pluralisierung der Erinnerungssemantiken sorgt für sich genommen noch nicht für Diskursstrukturen, die auf der Grundlage rationaler Geltungsansprüche die allmähliche Reflexivierung von Erinnerungspraktiken ermöglichen würden.«103

Die Entwicklung solcher reflexiver Erinnerungspraktiken, die die Argumentationen der jeweiligen Seite aufgreifen und kontrovers verhandeln könnten, um 99 100 101 102 103

Weiner (1996): The Making (wie Anm. 97), S. 640. Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59). Ebenda, S. 310. Ebenda, S. 306 f. Ebenda, S. 312.

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so längerfristig Verständnis für gegnerische Positionen und eine mögliche Annäherung zu erreichen, wird behindert, da die Erinnerungs-Parteien einander von vorneherein diskreditieren und Vertreter abweichender Vergangenheitskonzepte aus dem eigenen Erinnerungskollektiv ausschließen.104 Die Beobachtungen Langenohls sind für eine Betrachtung der Leningrader Kriegsgeschichte besonders aufschlussreich. Wie bereits im Forschungsstand gezeigt, findet sich in der gegenwärtigen russischsprachigen Historiographie zur Belagerung beides: Zum einen ein unreflektiertes Festhalten an traditionellen sowjetischen Darstellungsweisen, das die Verbreitung neuerer Forschungsergebnisse einschränkt. Zum anderen zeigt sich insbesondere in den Arbeiten Lomagins der Ansatz dazu, aufgrund heute zugänglicher Quellen neue Themen und Sichtweisen zu etablieren. Was jedoch bisher fehlt, ist eine Betrachtung der sich fortschreibenden sowjetisch geprägten Interpretationsmuster auf ihren Gehalt und ihre Entstehungszusammenhänge hin, die diese selber reflektiert und zum Untersuchungsgegenstand macht. Sabine Arnold beschreitet diesen Weg im Hinblick auf Stalingrad in ihrer Monographie »Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis«105, indem sie die Kriegsmythen in den Erzählungen Überlebender kenntlich macht und kritisch diskutiert. Für andere Kriegsschauplätze stehen solcherart Untersuchungen aus, obwohl in dieser Frage gerade einzelne, lokal fixierte Erinnerungsstränge des sowjetischen Kriegsgedenkens besonders aufschlussreiche Untersuchungen versprechen. Im Jubiläumsjahr des Kriegsendes – oder des Sieges – 2005 erhielt das Thema Kriegsgedenken in Deutschland und Russland besondere Aufmerksamkeit. Zur wissenschaftlichen Diskussion des Kriegsgedenkens trug maßgeblich ein gemeinsamer Band der Zeitschriften Neprikosnovennyj zapas und Osteuropa bei, der auf Deutsch und Russisch erschien. Er beleuchtet unterschiedliche Seiten des Kriegsgedenkens in beiden Ländern. Speziell zur Blockade Leningrads enthält der Band einen Aufsatz von Jörg Ganzenmüller, der drastisch zeigt, dass die Blockade in Deutschland keineswegs zum Bestand des allgemein gängigen Kriegsgedenkens gehört und viele Darstellungen in Schulbüchern schlicht falsche Informationen vermitteln.106

104 Langenohl, A.: Krieg und Geschichte im Russland der Transformation: Neuinstitutionalisierung und öffentliche Reformulierung. http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/russerinn_langenohl.pdf, Stand: 24. 02. 2012, hier 421. Vgl. auch Langenohl (2002): Patrioten, Verräter (wie Anm. 18). 105 Arnold (1998): Stalingrad im (wie Anm. 48). 106 Ganzenmüller, J.: Nebenkriegsschauplatz der Erinnerung. Die Blockade Leningrads im Gedächtnis der Deutschen, in: Osteuropa Jg. 55 (2005), 4 – 6, S. 135 – 147.

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In Konzeption und Idee hat schließlich die ideologiegeschichtliche Studie »National Bolshevism«107 von David Brandenberger wichtige Anregungen für meine Studie gegeben. Brandenberger untersucht den Russozentrismus und seine Entwicklung zwischen 1931 und 1956. Dabei vollzieht er anhand vieler veröffentlichter und Archivquellen nach, wie in der Sowjetunion die russische Nation als führende Nation etabliert wurde. Dies schlug sich auch in der Nachkriegszeit im Kriegsgedenken nieder : »Nominally a ›Soviet‹ experience, authoritative treatments of the war scripted it more often than not as ›Russian‹. True, postwar ideologists took great pains to write the story of the war as a ›modern‹ myth, connecting it to industrialization and collectivization rather than to available metaphors from the Russian national past. But in need of a recognizable, legendary dramatis persona to animate the myth of the war, ideologists during this period followed Stalin’s May 1945 example and described the war as a fundamentally Russian experience.«108

Ein zentrales Anliegen der Studie Brandenbergers ist zu zeigen, wie unter wechselnden Vorzeichen in der stalinistischen Sowjetunion unter Heranziehung von Geschichtsbildern politisch wirksame Mythen konstruiert wurden. Gedenken an die Blockade Neben den erwähnten Untersuchungen zum sowjetischen Kriegsgedenken richtete sich der Blick einiger Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Leningrader Kriegsgeschichte befassten, speziell auf das Gedenken an die Belagerung. Im Epilog seiner oben ausführlich behandelten Monographie widmet sich beispielsweise Jörg Ganzenmüller dem Gedenken an die Blockade. Dabei werden mehrere Epochen als Stadien dieses Gedenkens angesprochen. Dies führt leider zu einer etwas pauschalen Sichtweise, die viele Fragen für weitere Untersuchungen offen lässt. Insbesondere die Auffassung des »Staates« als einzigem »geschichtspolitischem Akteur«, der der sogenannten »Erlebnisgeneration« keine Partizipationsmöglichkeiten ließ109, muss kritisch hinterfragt werden. Gerade für die Erinnerung an die Blockade waren Tagebücher und Augenzeugenberichte ein weitverbreitetes und staatlich gefördertes Erinnerungsmedium. Hier kamen Zeitzeugen zu Wort. Es waren ihre Äußerungen und Erinnerungen, auf deren Grundlage staatliches Gedenken aufbaute, auch wenn diese von der Zensur verfälscht und an geschichtspolitische Ziele angepasst wurden. Dabei wurden Zeitzeugen-Narrative zu einer zentralen Form, die politische Inhalte transportierte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, Sinn und Funktion dieses autobiogra107 Brandenberger, D.: National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity 1931 – 1956. Cambridge, Massachusetts, 2002. 108 Ebenda, S. 196. 109 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 317.

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phischen Paradigmas zu hinterfragen. Dabei lohnt es sich, Jochen Hellbecks Prämissen für seine Arbeiten mit Tagebüchern der Stalinzeit hinzuzuziehen. Demnach war es erklärtes Ziel stalinistischer ideologischer Manipulation, die Individuen zu Selbstreflexionen anzuregen, die sie zu bewussten historischen Subjekten machten.110 Die Publikationen dieser – zensierten – Ego-Dokumente gab »Schablonen« vor, die eine politisch einwandfreie Interpretation von Ereignissen und vorbildliches Verhalten Einzelner transportieren konnte.111 Dabei war es für die Wirkung dieser Vorgaben unerheblich, ob die Protagonisten der Erinnerung die beschriebenen Vorgänge tatsächlich so erlebt hatten oder wirklich so gehandelt hatten, wie im publizierten »Augenzeugenbericht« dargestellt. Wichtig war vielmehr, dass die veröffentlichen Texte dies durch den Gebrauch realer Namen und die Abhandlung tatsächlicher Ereignisse glaubhaft machten. Deshalb kommt gerade autobiographischen Formen – und damit ausgewählten Augenzeugenberichten und ›idealtypischen‹ biographischen Formen – in der sowjetischen Kriegsliteratur besondere Bedeutung zu. Mit ihrer Monographie »The legacy of the siege of Leningrad«112 hat Lisa Kirschenbaum sich einer bereits seit Langem bestehenden Forschungslücke angenommen, nämlich der ideologischen Bearbeitung und Instrumentalisierung der Blockade in der sowjetischen Öffentlichkeit nach 1945. Mit der Zielstellung, dem »Erbe« der Blockade für den Zeitraum von 1941 – 1995 nachzugehen, erschließt die Autorin ein äußerst umfangreiches Forschungsfeld mit einem kaum überschaubaren Quellenfundus. Dies hat zur Folge, dass viele der verwendeten Quellen zwar erwähnt oder kurz vorgestellt werden, jedoch eine tiefer gehende Analyse vielfach nicht geleistet werden kann. So werden auch Feinheiten in der zensorischen Bearbeitung einzelner Texte nicht thematisiert, die auf Wandlungen in zulässigen Darstellungsschemata hinweisen können. Ein wesentlicher Verdienst der Monographie ist, dass die Autorin sich des Verhältnisses von individueller Erinnerung und Mythenbildung im offiziellen Diskursraum annimmt. Bereits in der Einleitung betont sie die Wechselwirkung zwischen individueller und offizieller Erinnerung: »Myth structured memory, but it also relied on memory to lend it moral and emotional authenticity.«113 Um allerdings einen wirklich fundierten Einblick in die Beziehungen zwischen individuellem Erinnern und staatlich verordnetem Gedenken zu gewinnen, müssen in weiteren Studien auch die Funktionen und Ziele der verschieden110 Hellbeck, J.: Working, Struggling, Becoming: Stalin-Era autobiographical Texts, in: Hoffmann, D. L. (Hg.): Stalinism. The essential readings. Malden M.A., 2003, S. 184 – 209, hier 185. 111 Vgl. auch Kirschenbaum, L. A.: The Legacy of the Siege of Leningrad, 1941 – 1995. Myth, Memories, and Monuments. New York, NY, 2006, S. 46. 112 Ebenda. 113 Ebenda, S. 17.

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artigen staatlichen Institutionen, die an der Ausbildung des Gedenkens zu verschiedenen Zeiten beteiligt waren, in mikrohistorischen Studien untersucht werden. Das sechste Kapitel bildet das Herzstück und den ausführlichsten Teil der Monographie. Die beiden wichtigsten Denkmalanlagen werden in ihrem Entstehungskontext beleuchtet. Besonders interessant ist die ausführliche Dokumentation der öffentlichen Diskussionen um die Errichtung des Denkmalkomplexes für die ›Heldenhaften Verteidiger Leningrads‹ in den 1970er-Jahren. Sie bietet tiefen Einblick in konkrete Aushandlungsprozesse zwischen individuellen und politischen Bedürfnissen, die auch in der Sowjetunion im offiziellen Kriegsgedenken berücksichtigt werden mussten. Mit seiner Dissertation »Healing the Wounds: Commemorations, Myths and the Restoration of Leningrads Imperial Heritage, 1941 – 1950«114 liefert Steven Maddox den bisher aktuellsten Beitrag zu einer Diskussion des Leningrader Kriegsgedenkens. Auf einer außerordentlich breiten Basis von Materialien aus St. Petersburger und Moskauer Archiven untersucht Maddox den Zusammenhang zwischen dem Wiederaufbau der Stadt, der Aktivierung imperialen Denkens und imperialer Symbolik sowie dem Entstehen einer Gedenkkultur. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf architekturgeschichtlichen Fragestellungen. Inhaltlich stützt sich Maddox stark auf Vorarbeiten von David Brandenberger und Amir Weiner. Er stellt die entstehende Erinnerung an die Blockade in den Kontext des Wiederaufbaus der Stadt, für den auch die zahlreichen neu zugezogenen Einwohner gewonnen werden sollten. Diese ›Dienstverpflichtung‹ vollzog sich nach Maddox im Paradigma der Wiederherstellung des imperialen Erbes der Stadt, nicht etwa unter den Vorzeichen des Aufbaus einer neuen Metropole. Dieser Rückbezug auf die vorsowjetische Vergangenheit wird mit Brandenberger auf die ideologischen Entwicklungen der 30er-Jahre zurückgeführt. »In the postwar period, as the Soviet state began to redefine its image based on the myth of war and the country’s tsarist heritage, this patriotism was further promoted, resulting in a flurry of work throughout the Soviet Union to restore the vessels of the country’s past. Like many other modernizing states, the Soviet Union looked to its past to create a united and patriotic citizenry.«115

Nachdem der Blockademythos seine Funktion der Mobilisierung der Bevölkerung zum Wiederaufbau verloren hatte, wurde er unliebsam und sollte aus der Kriegserinnerung getilgt werden. Hier sieht Maddox eine Parallele zur Ver114 Maddox, S.: Healing the Wounds: Commemorations, Myths and the Restoration of Leningrads Imperial Heritage, 1941 – 1950. https://tspace.library.utoronto.ca/bitstream/1807/ 16769/1/Maddox_Steven_200811_PhD_thesis.pdf, Stand: 28. 3. 2012. 115 Ebenda, hier III.

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bannung der Erinnerung der sowjetischen Juden an den Holocaust, wie sie Amir Weiner beschreibt.116 Die Arbeit von Steven Maddox liefert einen fundierten Einblick in die Verbindung zwischen dem Wiederaufbau des zerstörten Leningrads und der Entstehung eines spezifischen Leningrader Kriegsgedenkens in der Nachkriegszeit. Leider fehlt der Arbeit sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit gängigen Gedächtnistheorien117 als auch die analytische Arbeit mit den Texten, also den Gedächtnisinhalten selber. Dies führt bisweilen zu begrifflichen Unschärfen. Auch Maddox wiederholt die Formel vom Staat als größtem Produzenten des Gedenkens, ohne zwischen den daran beteiligten Strukturen zu differenzieren, und bleibt dabei äußerst vage: »In more cases than not, commemorations are selective, and encourage forgetting as much as remembering in their attempts to shape memories, identities and actions. In this process, the state is often the ›major producer and choreographer of commemoration‹.«118

Stereotype Formeln des Gedenkens, wie die 900 Tagen der Belagerung, die Unvergleichlichkeit der Leningrader Kriegsgeschichte oder der »Partikularismus« der Leningrader Kriegsgeschichtsschreibung, die offensichtlich den Quellen entstammen, werden reproduziert, statt sie analytisch zu dekonstruieren. Unter den russischsprachigen Veröffentlichungen zur Belagerung Leningrads ist das Kriegsgedenken als Untersuchungsgegenstand bisher nur am Rande berücksichtigt worden. Die historischen Bedingungen unterschiedlicher Wahrnehmungen oder Interpretationen sowie die Thematisierung oder Tabuisierung einzelner Themengebiete spielen eine äußerst geringe Rolle. Es wird hingegen häufig bemängelt, dass die ›ganze Wahrheit‹ noch immer nicht ans Licht gekommen sei oder in der politischen Konjunktur »falsifiziert« werde. Dies gilt auch für die einzige Arbeit, die sich ausführlich mit der politischen Instrumentalisierung der Blockade beschäftigt: »Blokada i politika« von Andrej Dzeniskevicˇ : »Die Verteidigung und Blockade Leningrads besitzt besondere Anziehungskraft für alle möglichen Konjunktur-Diener und Falsifikatoren. Die große Anzahl der Opfer, die unglaublichen Leiden der friedlichen Bevölkerung, die fehlenden genauen Daten über die Hungertoten, die Geheimhaltung vieler Dokumente über einen langen Zeitraum

116 Ebenda, hier 241 f. 117 Ein kleiner theoretischer Exkurs findet sich in Kapitel 5: Ebenda, hier 187 f. 118 Ebenda, hier 187.

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hinweg, die unzureichende Erforschtheit des Themas schaffen gute Bedingungen für Demagogie und tendenziöse Konstrukte.«119

Dzeniskevicˇ erkennt die ideologische Beeinflussung des Themas Blockade. Mit dem Begriff der Falsifizierung bewegt er sich jedoch im sowjetischen Paradigma120 : Durch Verschleierung, ideologische Beeinflussung, mangelnden Zugang zu Archiven etc. seien falsche, unvollständige Geschichtsbilder entstanden und von nicht genau bezeichneten ideologischen Gegnern bewusst verbreitet worden. Anhand traditioneller Streitfragen der Blockadeforschung versucht der Autor, diese Fehler zu berichtigen, um der historischen Wahrheit den Weg zu ebnen, sie ›ans Licht‹ zu bringen. Bisher einzigartig ist der russischsprachige Sammelband »Gedenken an die Blockade«121, der während eines Oral History-Projektes an der Europa Universität St. Petersburg entstand und neben Zeitzeugeninterviews Aufsätze junger Historikerinnen und Historiker enthält, die sich sowohl mit Fragen der Erinnerungskultur in der Sowjetunion als auch mit der Rekonstruktion der Kriegsvergangenheit im Rahmen autobiographischer Selbstbeschreibungen auseinandersetzen. Durch das Konzept, Quellen und analytische Arbeiten in einem Band zusammenzufassen, wird es möglich, neben den Analysen auch Einblicke in das erhobene Quellenmaterial zu nehmen. Gleichzeitig sind die Texte so aufbereitet und kommentiert, dass sie als Lehrmaterial oder für weitere Untersuchungen verwendet werden können. Bedauerlich ist allerdings, dass durch die Kürze und Vielfalt der präsentierten Ergebnisse viele Fragen nicht erschöpfend behandelt werden konnten. Seit dem Ende der 1980er Jahre gibt es vorwiegend in westlichen Forschungsarbeiten eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kriegsgedenken zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Erinnerungsmedien. Die Verankerung dieser Untersuchungen in theoretischen Diskursen zur gesellschaftlichen Rolle von Gedenken ist in den verschiedenen 119 Dzeniskevicˇ, A.: Blokada i politika. Oborona Leningrada v politicˇeskoj kon’junkture. SanktPeterburg, 1998, S. 5. 120 Der Begriff der Falsifikation taucht verschiedentlich in der sowjetischen Auseinandersetzung mit westlichen Ansätzen oder abweichenden Ansichten im eigenen Lager auf. Vgl. Akademija Nauk Uzbekskoj SSR: Fal’sifikatory istorii. (Kritika burzˇuaznoj istoriografii sredneij azii i stran zarubezˇnogo vostoka). Taschkent, 1985; ebenso Zˇilin, P. A.: Burzˇuaznye fal’sifikatory istorii Vtoroj Mirovoj vojny. Moskva, 1959 und Andreev, A. G.: Vnesˇnaja politika KPSS i sovetskogo gosudarstva v 1917 – 1921 gg. i ee burzˇuaznye fal’sifikatory. Leningrad, 1984. Langenohl weist darauf hin, dass die Praxis, durch ideologiekritische Argumentationen den jeweiligen Kontrahenten aus der Diskussion auszuschließen, in der Sowjetunion weit verbreitet war. Vgl. Langenohl (2005): Krieg und (wie Anm. 104), hier 421. 121 Loskutova, M.: Pamjat’ o blokade: Svidetel’stva ocˇevidcev i istoricˇeskoe soznanie obsˇcˇestva. Materialy i issledovanija. Moskva, 2006.

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Untersuchungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Generell lässt sich sagen, dass der utilitaristische Gebrauch des Kriegsgedenkens in der Sowjetunion mit dem Ziel der Mobilisierung der Bevölkerung ein zentraler Befund ist, der sich für verschiedene Zeiten und Gedenkkontexte der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte nachweisen lässt. Das Kriegsgedenken wurde dazu genutzt, Teile der Bevölkerung unmittelbar zu Wiederaufbauarbeiten zu motivieren und heranzuziehen.122 In einer langfristigen Perspektive gründete sich auf der Erinnerung an den Krieg und unter Bezugnahme auf die zahlreichen Opfer eine ideologische Einvernahme der Nachkriegsgenerationen, die dadurch dem sowjetischen Staat und der Kriegsgeneration zur Solidarität verpflichtet wurden.123 In den genannten historischen Untersuchungen werden zwar staatliche und Parteiorganisationen als wichtige Akteure der Erinnerung benannt, jedoch bisher kaum als solche zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht. Ein weiteres Forschungsdesiderat ist in der systematischen Betrachtung der Inhalte des sowjetischen Kriegsgedenkens zu sehen. So ist beispielsweise zwar angemerkt worden, dass Stalin sich selber als ›Historiker‹ zu Wort meldete, es gibt jedoch keine strukturierte Untersuchung, die sich mit der Beschaffenheit der von ihm generierten (oder ihm zugeschriebenen) historiographischen Konzeptionen beschäftigt hätte. Auch die ideologisch geprägten Abhandlungen zur Leningrader Blockade wurden bisher nicht selber zum Gegenstand systematischer textkritischer Untersuchungen. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass bei der intensiven Beschäftigung mit vormals unzugänglichen Archivquellen oder, im Fall von Kirschenbaum, in dem Versuch, einen breiten Überblick zu schaffen, eine tiefer gehende Beschäftigung mit bereits publizierten Quellen bisher keinen Raum finden konnte.

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Wissen – Gedächtnis – Erinnerung Im Spannungsfeld zwischen »Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit«124 hat sich in der historischen Forschung der letzten 20 Jahre das Bewusstsein für die Konstruiertheit historischer Konzeptionen deutlich geschärft. 122 Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 214. 123 Vgl. Tumarkin (1994): The Living (wie Anm. 90) sowie Langenohl (2006): Das nackte (wie Anm. 59). 124 Assmann, A.; Frevert, U.: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit: vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart, 1999. Die Formulierung entstammt einem Band zum Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Sie scheint mir jedoch auch auf den Kontext der Blockadeforschung anwendbar zu sein, der ebenfalls sowohl von intensiver Beschäftigung als auch von zahlreichen Ausblendungen geprägt ist.

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Wie im Abschnitt zum Forschungsstand gezeigt, haben sich die Debatten um Gedächtnis und Erinnerung auch in der Erforschung des Großen Vaterländischen Krieges – insbesondere durch westliche Forscherinnen und Forscher – niedergeschlagen. Nicht immer sind diese jedoch in ihren theoretischen Aspekten erschöpfend diskutiert worden. Dabei gibt es ein großes Angebot an Deutungen und Begriffen, die sich in diesen Forschungszweigen ausgebildet haben. Dies erschwert die Entscheidung für oder gegen einzelne Ansätze. Gleichzeitig ist diese Entscheidung von zentraler Bedeutung sowohl für die Bestimmung des Forschungsgegenstandes als auch für Auswahl von Quellen und Methoden. Grundlegend für die Zielsetzung und Vorgehensweise bei der Erforschung der Konzeptionen, die sich in den späten Vierzigerjahren in der Sowjetunion zum Großen Vaterländischen Krieg und zur Belagerung Leningrads herausbildeten, ist die Idee, dass ›Wirklichkeit‹ mithilfe von Wissen gesellschaftlich konstruiert wird.125 Wie Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrer wissenssoziologischen Theorie der »Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« eindrucksvoll zeigen, verdichtet sich alle »gesellschaftlich objektivierte und subjektiv wirkliche Sinnhaftigkeit«126 zur »symbolischen Sinnwelt«127. Durch Sozialisation und die Übernahme gesellschaftlicher Rollen haben einzelne Mitglieder von Gesellschaften an dieser teil. Symbolische Sinnwelten dienen dazu, die Wirklichkeit der Alltagswelt zu begrenzen, ihre »Sinnprovinzen«128 hierarchisch zu ordnen, allen Phänomenen ihren Rang zuzuweisen und so die institutionale Ordnung zu legitimieren. Dabei verleiht die symbolische Sinnwelt der Vergangenheit und der Zukunft Sinn. In historischen Forschungszusammenhängen können schriftliche und mündliche Quellen als Träger symbolischer Sinnwelten verstanden werden. Auf der Ebene der Sinnwelten findet ein Austausch zwischen Gesellschaft und Individuum statt. Gerade für die Betrachtung der Wahrnehmung und Reflexion des Krieges und der damit verbundenen Erfahrungen in der Sowjetunion erscheint diese Sichtweise durchaus passend. Sie bietet Raum für die intentionale Konstruktion von Motiven der Propaganda, wie dem furchtlosen Kriegshelden 125 Berger, P.; Luckmann, T.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 16. Aufl., Frankfurt am Main, 1999. Im Bereich der Geschichtswissenschaft wurden die Ansätze von Berger und Luckmann insbesondere von Rudolf Vierhaus aufgegriffen, der sich allerdings mehr auf Möglichkeiten der Rekonstruktion von Lebenswelten konzentrierte: Vierhaus, R.: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Lehmann, H. (Hg.): Wege zu einer neuen Kuturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier. Göttingen, 1995, S. 7 – 28. 126 Berger / Luckmann (1999): Die gesellschaftliche (wie Anm. 125), S. 103. 127 Ebenda, S. 103. 128 Ebenda, S. 105.

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oder der zupackenden Sowjetfrau, die Einzelne dazu animieren sollten, gesellschaftliche Funktionen zu übernehmen, welche mit Gefahren für das eigene Leben verbunden waren und auch übermenschliche Anforderungen als gerechtfertigt erscheinen ließen. Es ist dieses Verständnis, dass die ›Wirklichkeit‹ sich für Einzelne in der Gesellschaft durch ihr Wissen über diese Gesellschaft und deren Geschichte konstituiert, das die Brisanz der Diskussionen über Gedenken und Erinnerung in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausmacht.129 Diese Sichtweise führt zur Trennung der historischen Forschung von ihrem Gegenstand: Was vergangen ist, kann nicht rekonstruiert werden. Es kann nicht, wie in einem naturwissenschaftlichen Versuch, erneut hergestellt werden. Es ist einzig möglich, die Abbildung des Vergangenen – seine Manifestation in der Sinnwelt – zu analysieren. Diese Analysen werden mit Informationen und Motiven ergänzt, die aus irgendeinem Grunde außerhalb der allgemeinen Verfügbarkeit liegen oder lagen, wie ehemals geheime Archivmaterialien in postsowjetischen Gesellschaften. Gegenstand dieser Richtung der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist damit nicht mehr das Vergangene selbst, sondern das Wissen über Vergangenes. Um dies zu erforschen, werden Konzepte benötigt, die den Zugriff auf Bestände an Wissen über die Vergangenheit ermöglichen, die in einem untersuchten Bereich oder einer Gesellschaft wirksam werden und von bestimmten Gruppen geteilt werden. Prägend für die heutige Diskussion des Gedächtnisbegriffes bleiben bisher die Theorien des französischen Soziologen Maurice Halbwachs.130 Sein zentraler Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« bildet einen Grundstein der gegenwärtigen Diskussion um gesellschaftliche Aspekte des Erinnerns. Im Verständnis Halbwachs’ ist das individuelle Gedächtnis immer kollektiv geprägt. Jedes kollektive Gedächtnis hat eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger. Im Mittelpunkt steht die Perspektive des Einzelnen auf Vergangenes und auf die Gruppe, der er angehört. Das individuelle Gedächtnis erlangt nach Halbwachs erst als soziales Bedeutung. Das Modell des kollektiven Gedächtnisses bietet daher Aufschluss im Bezug auf die Frage, warum bestimmte Elemente im Gedächtnis eines Kollektivs besondere Wichtigkeit erlangen und welche Bedeutung diese für die Gruppe haben. Die Konzeption berücksichtigt nicht die Bedeutung, die die individuelle Erinnerung im Handeln und Denken einzelner Gruppenmitglieder haben kann. Für einen Forschungskontext, der sich mit der Ausbildung historischer Kon129 Vgl. dazu Baberowski, J.: Die Entdeckung des Unbekannten. Russland und das Ende Osteuropas, in: Baberowski, J.; Conze, E.; Gassert, P.; Sabrow, M. (Hg.): Geschichte ist immer Gegenwart. München, 2001, S. 9 – 42, hier 11. 130 Halbwachs, M.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main, 1985.

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zeptionen durch die Akteurinnen und Akteure der Geschichte selbst beschäftigt, fehlt in der Konzeption Halbwachs’ die Perspektive, die die Ausprägung der Sichtweisen Einzelner oder Strukturen – wie eine lokale Parteiorganisation und ihre Vertreter – in das kollektive Gedächtnis einbringt. Zu den bedeutendsten Rezipienten und konstruktivsten Kritikern der Arbeit Halbwachs’ gehören Jan und Aleida Assmann, die ergänzend zum kollektiven Gedächtnis weitere Gedächtniskategorien anbieten. Eine Nutzung ihrer Theorien zur Erforschung von Teilaspekten der sowjetischen und russischen Geschichte scheint sich auf den ersten Blick anzubieten. Wie sonst kann beispielsweise das scheinbar unbeirrte Fortleben des sowjetischen Heldenkultes erklärt werden, wenn nicht dadurch, dass diese Vorstellungen einem allen zugänglichen, sich immer wieder erneuernden Fonds von kollektiven Erinnerungen und Glaubenssätzen entstammen? Die älteren Assmann’schen Modelle haben im Wesentlichen gemein, dass bei der Betrachtung des Kollektiven Gedächtnisses zwischen zwei weiteren Gedächtniskategorien unterschieden wird, von denen jeweils eine solches Wissen über die Vergangenheit beinhaltet, das von den Mitlebenden erinnert und untereinander weitergegeben wird. Die andere, institutionelle Kategorie bewahrt Inhalte langfristig, ohne direkten Bezug der Gedächtnisträger zu den erinnerten Ereignissen auf. Aleida Assmann unterscheidet beispielsweise zwischen dem »Funktions«- oder »bewohnten Gedächtnis« und dem »Speicher«- oder »unbewohnten Gedächtnis«.131 Die Historikerin Sabine Arnold bezieht sich in ihrer Arbeit zu »Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis«132 auf diese Konzeption. Sie macht dabei jedoch einen Mangel aus, den sie mit einer Erweiterung des Konzeptes von Aleida Assmann zu beheben sucht: Für den sowjetischen Gedenkkontext fehlt ein Hinweis auf die systematische Konstruktion des Gedenkens vonseiten staatlicher und Parteistrukturen. Arnold versucht, diesen Mangel zu beheben, indem sie den beschriebenen Kategorien eine weitere hinzufügt: die Kategorie des »okkupierten Gedächtnisses«. Diese soll darauf verweisen, dass in der totalitären Sowjetunion das Geschichtsbild offiziell staatlich kontrolliert wurde, indem manche Inhalte des kollektiven Gedächtnisses zugelassen, andere hingegen mit Tabus belegt und aus dem offiziellen Gedenken ausgeschlossen und verdrängt wurden.133 Die Konzeption eines dritten Gedächtnistyps, der nach Arnolds Darstellung auf einer Ebene mit den beiden anderen steht, kann jedoch die beschriebene Problematik nicht auflösen. Während die Begriffe von Aleida Assmann das Ver131 Assmann, A.: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung, in: Platt, K.; Dabag, M. (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten. Opladen, 1995, S. 169 – 185, hier 182. 132 Arnold (1998): Stalingrad im (wie Anm. 48). 133 Ebenda, S. 18 f.

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hältnis zwischen der gespeicherten Information und dem Kollektiv in den Blick nehmen, das die Erinnerung trägt, beschreibt die Kategorie des okkupierten Gedächtnisses die Manipulation von Gedächtnisinhalten durch eine dem Kollektiv quasi-übergeordnete Instanz. Sie eignet sich daher eher als übergeordnete denn als beigeordnete Kategorie. Die zielgerichtete Manipulation von Gedächtnisinhalten betrifft gleichermaßen Inhalte, die unter Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihren direkten Nachfahren als relevant empfunden und deshalb direkt kommuniziert werden, als auch Inhalte, die von Fachleuten bearbeitet und nicht von einem breiten Publikum rezipiert werden. Weiterhin ist festzuhalten, dass die Manipulation gesellschaftlichen Gedenkens kein exklusives Merkmal totalitärer Gesellschaften ist, wie Andreas Langenohl anmerkt: »Die Existenz von Vergangenheitsmanipulationen, die immer auf eine gesellschaftliche Machtasymmetrie verweist, ist prinzipiell nicht auf bestimmte politische Systeme beschränkt. Allerdings äußert sie sich, zumal im 20. Jahrhundert, besonders drastisch in den zentralisierten, politischen Erinnerungspraktiken autoritär und totalitär beherrschter Gesellschaften.«134

Der Oberbegriff ›kollektives Gedächtnis‹ ist in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen zum weitverbreiteten Schlagwort avanciert. In seiner Aussage erfasst er letztendlich lediglich einen Wissensbestand bezüglich der Vergangenheit, der von einer wie auch immer gearteten Gruppe mehr oder weniger geteilt wird. Seine universelle Verwendung führt zu einer gravierenden Unschärfe. Diese zeigt sich in den immer neuen Versuchen, ihn in Unterkategorien zu spezifizieren. Besonders problematisch ist die Anwendung der Gedächtnisbegriffe in geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen: Jedes wie auch immer geartete Quellensample beinhaltet eine Vielzahl an Inhalten und Motiven, deren Entstehungszusammenhang in Betracht gezogen werden muss. Wenn das Handeln konkreter Personen in konkreten Strukturen über einen bestimmten Zeitraum betrachtet werden soll, ist eine scharfe Trennung zwischen offiziellen und inoffiziellen Bereichen des Gedenkens oft nicht möglich. Diese kann vielmehr nur hinsichtlich der einzelnen Gedenk-Praktiken vollzogen werden. Es bleibt festzuhalten, dass, mit einer Verfeinerung der Fragestellungen und Methoden, der Gedächtnisbegriff sich in den letzten Jahren gewissermaßen überholt hat. Wenn es der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, wie Markus Sandl postuliert, darum geht, »Sinnbildung in ihrer Prozesshaftigkeit und Dynamik zum Thema zu machen«135, liegt es nahe, nach Begrifflichkeiten zu

134 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 34. 135 Sandl, M.: Historizität der Erinnerung / Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung,

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suchen, die weniger die Wissensbestände als das Handeln von Personen in den Blick nehmen. In seiner Arbeit zu »Erinnerung und Modernisierung« im Neuen Russland distanziert sich Andreas Langenohl kritisch von den herkömmlichen Gedächtnisbegriffen. Er wendet sich alternativ dem Erinnerungsbegriff zu.136 Mit dem Begriff ›Erinnern‹ wird der nachträgliche Rückgriff auf Erlebtes aus der Perspektive der Gegenwart bezeichnet. Dabei ist hervorzuheben, dass der Prozess des Erinnerns sich keinesfalls auf das Hervorholen einzelner Elemente aus einem Speicher, dem Gedächtnis, beschränken lässt. Kettner merkt an: »Das nachträgliche Umschreiben einer vergangenen Episode subjektiver Geschichte unter dem Eindruck einer späteren Episode verändert auch wieder die Interpretation der späteren Episode, die gleichsam vermittels der Vergangenheit auf sich selbst einwirkt.«137

Erinnern ist demnach vielmehr ein Vorgang, in den das rekapitulierte Ereignis sowie das individuelle Erleben ebenso einbezogen sind wie die Situation, in der das Erinnern stattfindet, und Informationen und Erlebnisse, die chronologisch nach dem zu erinnernden Ereignis liegen. Die konzeptionelle Entscheidung, sich dem Erinnerungsbegriff zuzuwenden, statt mit Gedächtnisbegriffen zu operieren, richtet das Augenmerk von der Vorstellung eines ›Behältnisses‹ des Gedächtnisses auf die Praktiken des Gedenkens. Langenohl plädiert dafür, »Vergangenheitsrepräsentationen zunächst ausschließlich hinsichtlich des sozialen Kontextes zu beschreiben«138, dem sie entstammen. Dabei wird zwischen Subjekt-Erinnerung, interaktionaler und institutioneller Erinnerung unterschieden. Diese Unterscheidung soll im Folgenden übernommen werden. In einem »Schalenmodell« ordnet er die verschiedenen Bereiche der Erinnerung ineinander an. Im Inneren des Modells ist die Subjekt–Erinnerung angesiedelt. Diese ist eingebettet in die zweite Schale der interaktionalen Erinnerung, die den Bereich der Direktkommunikation beinhaltet. Als dritte Ebene umschließt die institutionelle Erinnerung die beiden inneren Bereiche des Modells. In einem zweiten Modell wird ein weiterer Rahmen, der »kulturelle

in: Oesterle, G. (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen, 2005, S. 89 – 119, hier 93. 136 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 22. 137 Kettner, M.: Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie, in: Rüsen, J.; Straub, J. (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Frankfurt am Main, 1998, S. 33 – 69, hier 57. 138 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 25. Auch Gudkov verweist, spezifisch für den Kontext des russischen Kriegsgedenkens, auf die Kontextbedingtheit der Gedächtnisinhalte. Vgl. Gudkov (2005): Die Fesseln (wie Anm. 19), S. 59.

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Gedächtnishintergrund«, hinzugefügt, der »der unmittelbaren Beobachtung nicht direkt zugänglich ist«139. Das von Langenohl entwickelte Modell ist insbesondere durch seine Praxisbezogenheit von großem Wert. Konkrete Konstellationen, in denen historisches Wissen und Geschichtsbilder hergestellt oder reproduziert wurden, können beispielhaft betrachtet werden. Dafür ist der Begriff der Erinnerung passend gewählt, da er den Forschenden ermöglicht, sich auf die Praxis der Weitergabe von Wissen zu konzentrieren. Die Inhalte der Erinnerung werden in direkten Zusammenhang mit den ihnen jeweils eigenen Übermittlungspraktiken und Entstehungsorten gestellt.140 Eine Tendenz zur Bevorzugung des Erinnerungsbegriffs vor den Gedächtnismodellen lässt sich in unterschiedlichen Forschungskontexten ausmachen. So beispielsweise im Gießener Sonderforschungsbereich »Erinnerungskulturen«, der mit dieser Begriffswahl der »Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und […] Pluralität der kulturellen Erinnerung«141 Rechnung trägt. In neueren Texten wendet sich auch Aleida Assmann dem Erinnerungsbegriff zu. In ihrem »Konzept des dialogischen Erinnerns« betont sie die Wichtigkeit des Austausches über unterschiedliche Erinnerungen an Gewalterfahrungen im zusammenwachsenden Europa.142 Wie auch in Langenohls Konzeption wird deutlich, dass, sobald der Erinnerungsbegriff genutzt wird, das Handeln und somit die Akteure in den Fokus der Betrachtung geraten. Geschichtsbild revisited Die Reflexion der Anwendung des Gedächtnisbegriffes im Kontext des sowjetischen Kriegsgedenkens durch Sabine Arnold macht deutlich: Einerseits besteht ein großer Bedarf daran, die weite Verbreitung und gesellschaftliche Wirkung sowie die Einförmigkeit mancher Vergangenheitskonzeptionen zu fassen. Andererseits erlaubt es die Unschärfe gängiger Gedächtniskonzeptionen nicht, Wissen, das aus unterschiedlichen Quellentypen gezogen werden kann, systematisch dem jeweiligen Entstehungszusammenhang zuzuordnen. Sabine Arnold entgeht diesem Dilemma, indem sie sich auf einen scheinbar allgemein gebräuchlichen Begriff zurückzieht, den sie nicht näher erläutert: das Ge-

139 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 50. 140 Ebenda, S. 48 f. 141 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, 2005, S. 34. 142 Assmann, A.: Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns, in: Rill, B. (Hg.): Nationales Gedächtnis in Deutschland uns Polen. München, 2011, S. 17 – 25.

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schichtsbild.143 Dieser Schritt ermöglicht es, die in ihrer Arbeit behandelten Konzeptionen vergangener Ereignisse in ihrer Bildhaftigkeit zu erfassen. So gängig der Begriff ›Geschichtsbild‹ auf den ersten Blick auch scheinen mag – er ist längst nicht in allen einschlägigen Nachschlagewerken zu historischen Grundbegriffen vertreten. Im Kröner »Wörterbuch zur Geschichte« von 1995 wird man fündig. Ein Geschichtsbild ist demnach die »Summe der Ansichten einer Person, Gruppe, Schicht, Gesellschaft oder Nation über Inhalt und Bedeutung der Geschichte und ihrer einzelnen Erscheinungen. Das Geschichtsbild wird von Anlage, Mentalität, Bildung und Lebenswelt seines Trägers geprägt, ist also keine qualitative, sondern eine politisch-ideologische Kategorie […]. Als wichtige Basis des politi. Identitätsgefühls gilt ihm in allen entwickelten Staaten hohe öffentliche Aufmerksamkeit.«144 (Abkürzung im Original)

Gemeint ist hier also ein vergleichsweise holistisches Verständnis des Begriffs: es geht um Inhalt und Bedeutung »der Geschichte« an sich, weniger um das Verständnis ihrer einzelnen Episoden. Ausführlicher beschäftigt sich Karl-Ernst Jeismann mit Geschichtsbildern, die er als »Metapher für gefestigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont« versteht, »denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt«.145 Jeismanns Hinweis auf die Tiefe des zeitlichen Horizonts, den die Geschichtsbilder erfassen, zeigt, dass auch hier Konzeptionen gemeint sind, die sich auf einen großen zeitlichen Rahmen beziehen.146 Er fährt in seiner Definition fort: »Solche selbstbezogenen Deutungen stiften im Chaos der unendlichen Vorgänge der Vergangenheit Sinn, bieten Orientierungshilfe und Handlungssicherheit. So werden Gefühl und Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, wird kollektive Identität beglaubigt, der Daseinssinn einer Gemeinschaft gestiftet. Als gedeutete Vergangenheit beeinflussen sie Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung. Sie sind Elemente der ›gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹. Geschichtsbilder sind nicht Ab-

143 So kommt der Begriff ›Geschichtsbild‹ sowohl im Titel von Sabine Arnolds Monographie als auch im Titel eines 2002 von ihr veröffentlichten Aufsatzes vor, ohne von der Autorin näher erläutert zu werden. Vgl. Arnold (1998): Stalingrad im (wie Anm. 48) sowie Arnold (2002): Generationenfolge (wie Anm. 48). 144 Geschichtsbild, in: Bayer, E.; Wende, F. (Hg.): Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke. Stuttgart, 1995, S. 193, hier 193. 145 Jeismann, K.-E.: Geschichtsbilder : Zeitdeutungen und Zukunftsperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2002), 51 – 52, S. 13 – 22, hier 13. 146 Hier soll angemerkt werden, dass auch die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges in der Sowjetunion Teil eines umfassenden – marxistischen – Geschichtsverständnisses war, das den Krieg als einen Abschnitt auf dem Weg zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft sieht. In diesem Verständnis wurde der sowjetische Sieg als weiterer Beweis für die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung verstanden.

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bildungen des Vergangenen, sondern Ein-Bildungen der Vorstellungs- und Urteilskraft.«147

Wichtige Wesensmerkmale von Geschichtsbildern sind gemäß dieser Definition also ihre Konstruiertheit, ihre weite Verbreitung und ihre sinnstiftende Bedeutung für das Selbstbild eines Kollektives. Noch weiter fasste Peter Funke bei seiner Eröffnungsrede zum 46. Deutschen Historikertag den Begriff des Geschichtsbildes. Er bezog sowohl bildliche Darstellungen historischer Vorgänge als auch »Bilder in den Köpfen« ein, die die Weltanschauung von Einzelnen und Kollektiven prägen und ihre Identität bedingen: »Man kann dieses komplexe und vielschichtige Spannungsgefüge durchaus als eine Art anthropologische Grundkonstante sozialer Gruppenbildungen bezeichnen, deren historische Analyse einen grundlegenden Beitrag zum besseren Verständnis gegenwärtiger Konflikte zu leisten vermag.«148

Alle drei hier angeführten Definitionen von Geschichtsbildern enthalten Elemente, die für den in meiner Studie vertretenen Begriff von Geschichtsbildern gelten sollen. Keine von ihnen erfasst jedoch alle meines Erachtens wesentlichen Punkte zugleich. Darüber hinaus wird zwar viel über Geltungsbereiche, Bedeutung und Funktionen von Geschichtsbildern, nichts jedoch über ihre Beschaffenheit und Strukturiertheit ausgesagt. Hier soll daher der Begriff des Geschichtsbildes leicht modifiziert und schärfer abgegrenzt werden. Die Eigenschaften der Konstruiertheit und der identitätsbildenden Funktion von Geschichtsbildern als zentrale Kategorien werden beibehalten. Gleichzeitig soll der Begriff auch für konkrete – einzelne – historische Episoden nutzbar werden, wie bei Sabine Arnold, die von Geschichtsbildern im Zusammenhang mit der Schlacht von Stalingrad spricht. Auch Memorial fordert in seinem Aufruf149 zu einem internationalen Dialog über gegensätzliche Interpretationen der Vergangenheit dazu auf, Geschichtsbilder150 zu diskutieren. Damit sind auch und vorwiegend Geschichtsbilder bezüglich einzelner Ereignisse oder Ereignisfolgen gemeint. Vorrangig soll der Begriff dazu dienen, die Beschaffenheit und die Genese des in Geschichtsbildern tradierten Wissens greifbar zu machen. Ein Geschichtsbild ist in der hier vertretenen Definition eine selektive, von ideologischen Gesichtspunkten bestimmte Abbildung historischen Geschehens 147 Ebenda, S. 13. 148 Funke, P.: Eröffnung durch den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, in: Wischermann, C.; Müller, A.; Schlögl, R.; Leipold, J. (Hg.): GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Konstanz, 2007, S. 14 – 19, hier 16. 149 Internationale Gesellschaft Memorial (2008): Nationale Geschichtsbilder (wie Anm. 17). 150 Im Originaltext russ.: nacional’nye obrazy prosˇlogo

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im Rahmen einer direkt auf ein geschichtliches Ereignis (oder eine Reihe von Ereignissen) bezogenen Darstellung. Geschichtsbilder beinhalten folgende Elemente: eine Vorstellung von Ablauf, Bedeutung, wichtigen Akteuren und thematischem Gehalt eines vergangenen Ereignisses oder einer Ereignisabfolge sowie eine bestimmte Chronologie und Interpretation des Geschehenen. Geschichtsbilder manifestieren sich häufig in Narrativen, die sequenziell strukturiert sind und damit einen Zusammenhang des thematisierten Geschehens in Kausalketten vermitteln. (›Zuerst ist … geschehen und dann …‹; oder ›weil … geschehen ist, konnte danach nur … geschehen‹). Wichtig für die Analyse ist, dass zwischen dem Ereignis und dem jeweiligen Geschichtsbild unterschieden wird. Jeder im Geschichtsbild erfasste Zeitabschnitt, jedes Ereignis wird mit bestimmten Themenbereichen verknüpft. Diese Verknüpfungen geben einer bloßen Aufzählung der Ereignisse Bedeutung. Manche Themenbereiche werden ausschließlich einem Zeitabschnitt oder einem Ereignis zugeordnet, andere sind mit mehreren Ereignissen oder Zeitabschnitten verknüpft. Auch Verbindungen der Themenbereiche untereinander werden im Geschichtsbild hergestellt.

Der Begriff des Geschichtsbildes geht über das bloße Narrativ hinaus: Wie Funke hervorhebt, sind Geschichtsbilder durch »Bilder in den Köpfen« maßgeblich mitbestimmt. Das Motiv der Hungersnot kann so beispielsweise zum einen mit Bildern von auf der Straße liegenden Hungeropfern verknüpft sein, andererseits kann man sich auch Bilder von fürsorglichen Angestellten einer medizinischen Einrichtung vorstellen, die hungernde Kinder versorgen. Beide Erscheinungen hat es im belagerten Leningrad gegeben. Ob nun der Aspekt des einsamen Verhungerns auf der Straße oder der Aspekt der staatlichen medizi-

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nischen Versorgung der Bevölkerung im Zentrum einer Darstellung steht, macht für den Gesamteindruck, den die Rezipierenden von der Belagerung gewinnen, einen entscheidenden Unterschied aus. In einem Geschichtsbild werden Akzente gesetzt, indem Ereignisse oder Ereignisfolgen mit Themen und Bildern verknüpft werden. Diese Motive und Bilder können dem Geschehen oder dem kulturellen Hintergrund entstammen oder auch frei erfunden sein. Ein Geschichtsbild zu einer begrenzten Epoche oder einem Ereignis ist darüber hinaus wesentlich dadurch bestimmt, wann Anfangs- und Endpunkt des Geschehens gesetzt werden und welche Ereignisse als Wendepunkte identifiziert werden. Ein Beispiel: Das in Deutschland allgemein gebräuchliche Geschichtsbild des Zweiten Weltkriegs unterscheidet sich von dem in Russland üblichen des Großen Vaterländischen Kriegs unter anderem dadurch, wie der Beginn des Krieges definiert wird. Der Zweite Weltkrieg begann mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Der Große Vaterländische Krieg nahm mit dem Einfall der Wehrmacht in Russland 1941 seinen Anfang. Zum Zweiten Weltkrieg werden Kriegshandlungen an einer Vielzahl von Schauplätzen gezählt. Der Große Vaterländische Krieg wird primär als eine Auseinandersetzung zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht angesehen. Obwohl beide Kriege als Teile eines großen Kriegsgeschehens gesehen werden können, kennzeichnet die sprachliche Konvention hier verschiedene Geschichtsbilder, mit denen unterschiedliche Wahrnehmungen sich teilweise überschneidender Ereignisse verbunden sind. Schwieriger noch als den Begriff der Geschichtsbilder selber zu bestimmen, ist es, in der Forschungsliteratur begriffliche Vorlagen für den Prozess der Herausbildung von Geschichtsbildern zu finden. Zumeist ist einfach von der Entstehung oder Herkunft von Geschichtsbildern die Rede. Diese sprachliche Konvention verschleiert jedoch den meines Erachtens zentralen Aspekt, dass sich Geschichtsbilder nicht in einem quasi-natürlichen Vorgang von selbst herausbilden. Sie werden durch intellektuelles Handeln hergestellt. Kollektives Erinnern hat soziale Funktionen, wie die Konsolidierung der erinnernden Gruppe. Gleichzeitig dient es auch immer einem oder mehreren Zielen.151 In der Sowjetunion der Nachkriegszeit war ein Ziel des Kriegsgedenkens beispielsweise die Motivierung breiter Bevölkerungsschichten, sich intensiv am Wiederaufbau zu beteiligen. Ein anderes war, die Überlegenheit des sowjetischen Gesellschaftssystems zu proklamieren, die in diesem Verständnis zum Sieg geführt hatte. Beide genannten Ziele wirkten sich inhaltlich in den verschiedenen Erinnerungsmedien und Erinnerungspraktiken aus, die in der Nachkriegszeit in 151 Der Psychologe Harald Welzer hat sich ausführlich mit der Funktionalität des Erinnerns beschäftigt. Vgl. Welzer, H.: Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte als Arena der Politik, in: Osteuropa Jg. 55 (2005), 4 – 6, S. 9 – 18, hier 12 sowie Welzer, H.; Moller, S.; Tschuggnall, K.: ›Opa war kein Nazi‹. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main, 2002.

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der Sowjetunion entwickelt wurden. Die Entwicklung von Geschichtsbildern ist von Akteuren und ihrem Handeln abhängig – es wird also etwas zur Herstellung von Geschichtsbildern getan. Um dieses Tun zu fassen, soll hier der Begriff der Historisierung eingeführt werden. Historisierung Unter dem Schlagwort ›Historisierung‹ versteht man im Allgemeinen die Verortung einer bestimmten Konzeption oder Idee im historischen Kontext ihrer Entstehung aus Sicht der gegenwärtigen Betrachter.152 Der hier vorgeschlagene Gebrauch verschiebt den Fokus des Begriffes, um seine Bedeutung zu erweitern. Im Zentrum steht dabei nicht die Betrachtung des Vergangenen aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus, sondern die Herstellung historischer Konzeptionen. Historisierung ist, in diesem Verständnis, ein selektiver Prozess: Aus einer Fülle von Material (historischen Daten, Interpretationen und persönlichen Erinnerungen von Zeitgenossen, ideologischen Vorgaben, statistischen Daten etc.) werden einzelne Bausteine ausgewählt, andere weggelassen und in einer spezifischen, meist chronologischen Reihenfolge angeordnet. Die Zuweisung von Sinn erfolgt dabei nicht ›von selbst‹ durch das Geschehen an sich, sondern in der Zuwendung der Person oder Instanz, die das Geschichtsbild entwirft. Unterschiedliche Personen und Instanzen werden also aus ein und demselben Sample von Informationen völlig unterschiedliche Geschichtsbilder konstruieren, je nach dem eigenen Blickwinkel, ihren unterschiedlichen Motivationen und spezifischen Handlungslogiken. Durch die Verknüpfung von Daten, Ereignissen oder Zeitperioden mit Themen, Motiven und Bildern erhalten diese eine neue Qualität. Dieser Sachverhalt wird im Schaubild durch die unterschiedliche Form der einzelnen Elemente ausgedrückt. Sie werden durch die jeweils mit ihnen in Verbindung gebrachten Motive und Themenbereiche geformt und durch die Akteure, die sie aufgreifen und tradieren mit deren eigenen Einschätzungen und Wertungen versehen – also ›eingefärbt‹ – und miteinander verbunden. Die ›Geformtheit‹ und ›Färbung‹ der einzelnen Elemente macht das Geschehen fassbar und vorstellbar. Zugleich werden manche Aspekte besonders hervorgehoben, andere verschwinden oder werden explizit als nachrangig eingestuft. Hinzu kommt die chronologische oder thematische Anordnung der einzelnen Elemente von Geschichtsbildern. Manche Ereignisse oder Episoden werden von unterschiedlichen Akteuren 152 In diesem Sinne wird der Begriff beispielsweise gebraucht bei Sandl (2005): Historizität der (wie Anm. 135), S. 99 sowie Bergenthum, H.: Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zu einer neueren Theoriedebatte, in: Oesterle, G. (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen, 2005, S. 121 – 162, hier 126.

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aufgegriffen und unterschiedlich ›eingefärbt‹ weitergegeben. Im Schaubild sind deshalb Akteure und die von ihnen hergestellten Geschichtsbilder in der gleichen Rasterung dargestellt. Viele Themen oder Motive gehören zum Allgemeingut der Überlebenden. Sie werden weiter erzählt oder erinnert, ohne jemals in ein feststehendes, publiziertes Geschichtsbild einbezogen zu werden. Dennoch bilden sie einen Hintergrund, der die Wahrnehmung Einzelner mitbestimmt, sei es auch nur durch die vage Vermutung, dass vieles über die Geschichte der Leningrader Belagerung unausgesprochen oder unpubliziert bleibt.

Im Prozess der Historisierung wird die sequenzielle Struktur von Geschichtsbildern geschaffen: Einzelne Ereignisse oder Ereignisketten bilden im Zusammenhang mit thematischen Schwerpunktsetzungen Sequenzen und werden schrittweise aneinander gereiht oder inhaltlich voneinander abgegrenzt. Die Beschaffenheit der so entstandenen Kausalreihungen, die Aufeinanderfolge ihrer einzelnen Bestandteile und ihre inhaltliche Bewertung und Gewichtung sind Gegenstand der Analysen von Geschichtsbildern, die im Folgenden vorgenommen werden. Bei den in der Sowjetunion publizierten Quellentexten kamen zudem institutionelle Wirkungsfaktoren hinzu, die auf der politischen

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Ebene über Zensurmaßnahmen ideologische oder praktische Entscheidungen implementierten.153 Nicht generell zu beantworten ist im Kontext der vorliegenden Arbeit die Frage, für welche Personen oder Personengruppen das jeweils betrachtete Geschichtsbild Geltung hatte. Dabei muss zwischen der erwünschten und der tatsächlichen Geltung der jeweiligen Konzeptionen differenziert werden. Als die Geschichtsbilder entstanden, lagen die Ereignisse, die sie behandeln, noch nicht lange zurück und und ein Teil der intendierten Rezipienten waren Überlebende dieser Ereignisse. In ihrer Erinnerung und demzufolge ihren individuellen Geschichtsbildern mischten sich eigenes Erleben, propagandistische Motive, erzählte und erfundene Begebenheiten.154 Möglicherweise wurde ein Geschichtsbild von einem kleinen Kollektiv oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe geteilt. Dabei konnte es durchaus identitätsstiftend sein. Andere Geschichtsbilder wie die Darstellungen von Leningrader Parteifunktionären oder die in Stalins Kriegsgeschichte vertretenen Konzeptionen waren dazu angelegt, von der Bevölkerung möglichst breitflächig als Deutung der von ihnen erlebten Realität angenommen zu werden. Sie konkurrierten aber nicht selten mit den Erinnerungen Überlebender. Die Frage nach der Verbreitung und Gültigkeit eines Geschichtsbildes muss daher kontextbezogen betrachtet werden. Felder und Akteure der Historisierung Die bisher ausgeführten theoretischen Prämissen lassen sich auf unterschiedliche Kontexte, Akteurskonstellationen und Themen der Erinnerung in verschiedenen Gesellschaften übertragen. Um im Rahmen einer historischen Studie gezielt zu argumentieren, ist darüber hinaus eine theoretische Verortung im konkreten zeithistorischen Kontext nötig. Dies gilt zum einen für die Bereiche, in denen die Geschichtsbilder hergestellt wurden, zum anderen für Personen, die an deren Produktion beteiligt waren. Eine zentrale Grundannahme meiner Arbeit stützt sich auf eine Grundaussage des Langenohl’schen Erinnerungsmodells. Mit meinen Worten lautet diese: Die Inhalte von Geschichtsbildern sind immer durch die Strukturen und Per153 Der Historiker Arlen Bljum beschreibt ein fünfschichtiges Zensursystem, in dem als unterste Instanz die Autoren und Autorinnen selber, als oberste Instanzen die AgitpropAbteilung der Partei und der NKVD fungierten. Er schreibt: »Each line was scrupulously examined and the text was subjected not only to the excision of ›inconvenient parts‹, but also to substancial changes, and, not infrequently, to censors’ additions. For this reason, none (or practically none) of the texts published in Soviet conditions can be considered authentic or in full accord with the will and original idea of the author. Every text is a collective product with the state as one of its collective authors« Blyum (Bljum), A. V.; Foote, I. P.: A self-administered poison. The system and functions of Soviet censorship. Oxford, 2003, S. 6. 154 Welzer (2005): Die Gegenwart (wie Anm. 151), S. 12.

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sonen bestimmt und geprägt, die sie hervorgebracht haben. Die untersuchten Geschichtsbilder sind diskursive Praktiken. Sie sind, wie bei Foucault beschrieben, sequenziell strukturiert und werden »zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert«.155 Die verschiedenen Bereiche der Kulturproduktion waren in der spätstalinistischen Sowjetunion untereinander und mit dem Bereich der Staatsmacht eng verknüpft. Diese Verknüpfung wurde über personelle Verbindungen, das heißt über die Häufung von Ämtern unterschiedlicher Machtbereiche auf einzelne Akteurinnen und Akteure der Historisierung erreicht. Die Produkte solcher Akteurinnen und Akteure wurden unter ihrem Namen veröffentlicht. Sie verfügten dementsprechend über mehr oder weniger Autorität und politische Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig unterlagen sie der Zensur und politischen Korrektur durch Vertreterinnen und Vertreter staatlicher Organe. So wurde eine Verkörperung politischer Inhalte durch Einzelpersonen erreicht. Die spezifischen Bedingungen wirkten sich also in zweifacher Hinsicht auf Formen und Inhalte der Geschichtsbilder aus: Sie wurden zum einen personalisiert und zum anderen politisiert. Nicht alle Entscheidungen zu kulturpolitischen Fragen, geschweige denn zu konkreten Zensurmaßnahmen, wurden in den zuständigen Parteibehörden schriftlich fixiert. In der Praxis wurden sie nicht selten mündlich und vertraulich ausgesprochen. Für die Beteiligten hatte dies den Vorteil, dass sie im Fall eines politischen Klimawandels oder einer Änderung der politischen Linie nicht mit der jeweiligen Richtlinie in Verbindung gebracht werden konnten. Selbst wenn es schriftliche Festlegungen zu ideologischen Beschränkungen und konkrete politische Richtlinien gegeben hat, so sind diese Dokumente in den Archiven bis heute schwer zu finden und zur Einsicht zu erhalten. Änderungen der zensoriellen Praxis beziehungsweise des politischen Klimas können daher häufig nur durch Vergleiche verschiedener Auflagen eines Textes nachgewiesen werden. Die erläuterten Besonderheiten haben nicht nur methodische, sondern auch theoretische Auswirkungen. Zwar weisen die Geschichtsbilder, wie erläutert, einige wichtige Merkmale von Diskursen auf. Sie jedoch nur diskursanalytisch zu behandeln, würde zu kurz greifen, da sie auf akteurielle Konfigurationen verweisen. Vielmehr haben wir es im Leningrad der Nachkriegszeit mit Akteurinnen und Akteuren zu tun, deren Geschichtsbilder von drei Wirkungsfaktoren beeinflusst sind: 1. von der Regelhaftigkeit der Diskurse selber 2. von kulturpolitischen und zensoriellen Vorgaben 3. von der eigenen Erinnerung und Erfahrung 155 Foucault, M.: Die Ordnung des Diskurses, Erw. Ausg., 9. Aufl., Frankfurt am Main, 2003, S. 11.

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Die Betrachtung diskursiver Praktiken der Akteurinnen und Akteure vor dem Hintergrund der Bereiche, die sie besetzen, und der Rollen, die sie in diesen spielen, legt die Verwendung des von Bourdieu geprägten Feldbegriffs nahe. Jeder soziale Raum, in dem sich Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern in ihrem Handeln aufeinander beziehen156, bildet nach Bourdieu »[…] ein Feld von Kräften, die sich auf all jene [ausüben], die in es eintreten«. Diese Kräfte wirken auf verschiedene Akteure in unterschiedlicher Weise, »gemäß der von ihnen besetzten Stellung«. Gleichzeitig handelt es sich um »ein Feld der Konkurrenzkämpfe, die nach Veränderung oder Bewahrung jenes Kräftefeldes streben«.157 Auf welche Weise ein Akteur in einem Feld agiert und welchen Raum er darin einnimmt, hängt von dem ihm eigenen Habitus ab. Im Habitus manifestiert sich »ein dauerhaft wirksames System von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata«, das das Handeln sozialer Akteure und ihre Wahrnehmungsweise prägt.158 Bei ihrer Praxis im jeweiligen Feld setzen die Akteure verschiedene Sorten von Kapital ein, das sie gewinnen oder auch verlieren können und das letztendlich über ihre Stellung im Feld entscheidet. Die Theorie des literarischen Feldes führt Bourdieu am Beispiel des französischen Literaturbetriebs im 19. Jahrhundert anschaulich aus.159 Bei einer unmittelbaren Anwendung auf die sowjetische Literatur ist allerdings Vorsicht geboten.160 Eine klare Trennung der Felder ist in der Sowjetunion der späten Stalinzeit nur bedingt vollziehbar : Das Machtinstrument der Ämterhäufung führte dazu, dass viele Akteurinnen und Akteure gleichzeitig in mehreren Feldern verortet waren. Insbesondere galt dies für Personen, die einerseits dem ›Feld der Macht‹ und andererseits einem kulturellen Feld wie dem Literaturbetrieb angehörten. In solchen personellen Überschneidungen manifestierte sich eine faktische Durchdringung der Felder der kulturellen Produktion durch das Feld der Macht. Die Befolgung politischer Direktiven, die vom Feld der Macht ausgingen, wurde von manchen Akteurinnen und Akteuren als Kapital eingesetzt. Dies gilt insbesondere für Personen, die im Sinne des Systems mit politischen Makeln behaftet waren. Im Unterschied zu Bourdieus Ausführungen galten dabei jedoch 156 Vgl. Fischer, L.; Jarchow, K.: Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur. Einleitende Bemerkungen zum kultur- und literaturtheoretischen Ansatz Pierre Bourdieus, in: Sprache im technischen Zeitaltter Jg. 25 (1987), 102, S. 164 – 170, hier 166. 157 Bourdieu, P.: Das literarische Feld, in: Pinto, L.; Schultheis, F. (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu, Christophe Charle, Mouloud Mammeri, JeanMichel P¦ru, Michael Pollak, Anne-Marie Thiesse. Konstanz, 1997, S. 33 – 147, hier 34. 158 Schwingel, M.: Pierre Bourdieu zur Einführung, 6. ergänzte Aufl., Hamburg, 2009, S. 73. 159 Bourdieu, P.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, 1. Aufl., Frankfurt am Main, 2001. 160 Bourdieu (1997): Das literarische (wie Anm. 157). Vgl. Mey, A.: Russische Schriftsteller und Nationalismus 1986 – 1995. Vladimir Solouchin, Valentin Rasputin, Aleksandr Prochanov, E˙duard Limonov. Bochum, 2004, S. 21.

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nicht die Regeln des Feldes, in dem die Akteure Erfolg haben wollten, sondern die des politischen Feldes der Macht, das alle anderen Felder durchdrungen hatte. Die von Bourdieu beschriebenen Kapitalsorten lassen sich auf den sowjetischen Kontext nur mit Einschränkungen übertragen:161 Das untersuchte Quellenmaterial gibt nur vereinzelt Einblicke in den Habitus und das jeweilige Kapital einzelner Akteurinnen und Akteure. Auf den Feldbegriff soll im Rahmen dieser geschichtswissenschaftlichen Studie dennoch nicht verzichtet werden. Die Bereiche, anhand derer das Gedenken an die Belagerung im Leningrad der Nachkriegszeit untersucht wird, werden als Erinnerungsfelder verstanden. Aufgrund des Quellenmaterials wurden drei Erinnerungsfelder ausgewählt: der Bereich der Geschichtsschreibung mit dem Institut für Parteigeschichte, der literarische Bereich mit der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes und der Bereich der Musealisierung mit dem Museum der Verteidigung Leningrads. In jedem dieser Bereiche spielte jeweils eine Parteiorganisation eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Texte, die aus den jeweiligen Erinnerungsfeldern hervorgegangen sind. Diese können häufig, aber nicht immer auf konkrete Akteurinnen und Akteure zurückgeführt werden. Meine theoretischen Überlegungen lassen sich abschließend wie folgt zusammenfassen: Die vorliegende Arbeit ist in der historischen Gedächtnisforschung angesiedelt. Allerdings eignen sich die gängigen Gedächtniskonzepte nicht optimal, um die Prozesse der Historisierung der Belagerung Leningrads angemessen abzubilden. In Anlehnung an die Arbeiten Andreas Langenohls wurde der Begriff der Erinnerung vorgezogen, da er es ermöglicht, in den Blick zu nehmen, wie die zentralen Akteure sowie Strukturen sich dem Vergangenen zuwenden. Um einen tragfähigen begrifflichen Rahmen für den Untersuchungsgegenstand zu schaffen, wurde der Begriff des Geschichtsbildes aufgegriffen und in seiner Bedeutung spezifiziert. Er lässt sich so auf einzelne Ereignisse und zeitlich begrenzte Ereignisfolgen anwenden. Dabei wurden bestimmte Eigenschaften von Geschichtsbildern herausgearbeitet: ihre sequenzielle, kausale Strukturiertheit und ihre Selektivität. Für die intentionale Schaffung von Geschichtsbildern soll im Folgenden der Begriff der Historisierung gelten. Diese fand in verschiedenen Bereichen des Leningrader Kultursektors statt, die hier als Erinnerungsfelder betrachtet werden. Jedem untersuchten diskursiven Feld ist eine spezielle Institution zugeordnet. Felder, Akteurinnen und Akteure der Historisierung werden in meiner Arbeit vorwiegend anhand der aus ihnen hervorgegangenen oder von ihnen produzierten Texte untersucht. 161 Vgl. Alexandra Meys Ausführungen zu den Instanzen, die in der Sowjetunion zur Reputation von Schriftstellern beitragen konnten: Ebenda, S. 21 f.

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4.

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Fragestellung und zeitlicher Rahmen

Fragestellung Wie im Abschnitt zum Forschungsstand gezeigt, fällt in neueren westlichen und russischsprachigen Publikationen eine spezifische Mischung aus einerseits kritischer Herablassung und Misstrauen, andererseits unreflektierter Reproduktion der in der Sowjetunion geprägten Geschichtsbilder auf. Bisher fehlt eine ernsthafte und detaillierte Auseinandersetzung mit gerade diesen Konzeptionen. Die Einförmigkeit des »Staatsgedenkens« wird dabei besonders häufig in westlichen Arbeiten moniert: »Da in der Sowjetunion der Staat das alleinige Deutungsmonopol über die Vergangenheit hatte, war er der einzige geschichtspolitische Akteur. Er formte das kulturelle Gedächtnis, indem er die Blockadevergangenheit mittels Verschriftlichung und Verräumlichung in symbolische Formen goß. Die Erlebnisgeneration besaß hingegen lange Zeit kein Forum, in dem sie ihre Erinnerung im öffentlichen Raum hätte inszenieren können. Das änderte sich abrupt im Zuge der Perestrojka. Die kollektive Erinnerung, die bis dahin vom Kanon der sowjetischen Geschichtssschreibung und Gedenkkultur dominiert gewesen war, hatte ihre einstige Uniformität verloren und war pluralistisch geworden.«162

Diese Einschätzung, zu der Jörg Ganzenmüller bezüglich des Gedenkens an die Leningrader Belagerung kommt, gibt ein allgemeines Bild des Leningrader Kriegsgedenkens wieder, das sich schwer bestreiten lässt: Staatliche Organisationen (darunter Parteiorgane) waren in der Produktion und Reproduktion des sowjetischen Kriegsgedenkens163 allgemein und insbesondere im Fall Leningrads dominant. Vieles, was Überlebende als zivile Bewohner der Stadt oder auch als Soldaten erlebt hatten, blieb über lange Zeiträume unausgesprochen. Erst seit den 1980er-Jahren wurden manche Themen, wie die Ausmaße und Folgen des Hungers, öffentlich verhandelbar und zum Gegenstand ernsthafter Forschungen. Anderes, wie die politische Verfolgung von Minderheiten und Andersdenkenden oder Amtsmissbräuche hoher Parteifunktionäre zur Verbesserung ihrer eigenen Versorgung, wird heute zwar öffentlich diskutiert, ist aber weitgehend unerforscht geblieben, wie der Überblick zu aktuellen russischsprachigen Forschungen gezeigt hat. Dennoch enthält die Einschätzung Jörg Ganzenmüllers bei näherem Hinsehen eine Reihe von Verallgemeinerungen, die auf bisher unbearbeitete Forschungsräume zu Themen der Historisierung der Belagerung Leningrads hin162 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 317. 163 Für einen Überblick zum sowjetischen Kriegsgedenken siehe Bonwetsch, B.: Der ›Große Vaterländische Krieg‹: Vom öffentlichen Schweigen unter Stalin zum Heldenkult unter Breschnew, in: Quinkert, B. (Hg.):»Wir sind die Herren dieses Landes«. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg, 2002, S. 166 – 187.

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weisen und an der Eindeutigkeit seiner Annahmen zweifeln lassen. Dies sind: die Rolle des Staates als »einziger geschichtspolitischer Akteur« und daran anknüpfend die Frage nach der Rolle der Subjekterinnerung der »Erlebnisgeneration« sowie die »symbolischen Formen« der Staatserinnerung, ihrer Inhalte und »Uniformität«. Diese sollen als Ausgangspunkte für die im folgenden behandelten Fragestellungen dienen. Der Staat als »einziger geschichtspolitischer Akteur«? Die Feststellung, dass viele der Organisationen, die sich am Sammeln und Aufbereiten von Informationen und Erinnerungen zur Belagerung beteiligten, staatlich waren, ist nicht zu bestreiten. Sie findet sich auch in der Einschätzung von Lisa Kischenbaum: »In the case of Leningrad, the state ultimately aimed not merely to manage memory, but to obliterate it.«164 Wenn jedoch vom allein staatlichen Gedenken die Rede ist, legt dies die Vorstellung nahe, dass es eine zentrale staatliche Organisation war, die von Anfang an das Gedenken an die Blockade organisiert und in von vorneherein festgelegte Schablonen gepresst hätte. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass während der Belagerung und nach Kriegsende unterschiedliche Strukturen der Leningrader Parteiorganisation mit der Bearbeitung historischer Materialien und der eigentlichen Historisierung des Leningrader Kriegsgedenkens beschäftigt waren. Zwar sind diese Parteistrukturen in der spätstalinistischen Sowjetunion durchaus als staatliche Organisationen zu verstehen, jede einzelne hatte jedoch ihren spezifischen Tätigkeitsbereich und die entstehenden Geschichtsbilder waren von Akteurinnen und Akteuren geprägt. In der vorliegenden Arbeit sollen daher Arbeitsweisen und historiographische Konstruktionen einzelner Strukturen und Personen differenziert betrachtet werden. Diese Betrachtungsweise lenkt das Augenmerk weg von einem postulierten einheitlichen Staatsgedenken. Der Fokus liegt vielmehr auf differenzierten Prozessen der Herausbildung von Geschichtsbildern im Zusammenspiel verschiedener Organisationen und Überlebender. Inszenierung der Erinnerung durch »die Erlebnisgeneration«? Die Frage nach der Beteiligung der »Erlebnisgeneration« an der Historisierung der Belagerung stellt sich bei näherer Betrachtung auf zwei Ebenen: Dies ist zum einen die Ebene der Beteiligung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen an den Prozessen der Historisierung, zum anderen die Ebene der spezifische Wirkung der sehr verbreiteten Verwendung von autobiographischen Formen und EgoDokumenten in den Publikationen und der Literatur der Nachkriegszeit. Beide Bereiche sind eng miteinander verknüpft. 164 Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111), S. 116.

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Die subtile Wirkungsweise autobiographischer oder scheinbar autobiographischer Texte schließt ein, dass es für die Rezipienten unmöglich ist, die wirklichen Erlebnisse von ihrer propagandistischen Verbrämung im Text zu unterscheiden. Auch Nachträge, die durch Redakteurinnen und Redakteure oder Zensurbehörden in einem publizierten Tagebuch gemacht wurden, werden von den Lesenden als Aussagen des Autors oder der Autorin verstanden. Vielfach können ›ideologisierende‹ Deutungsmuster nahtlos auf eigenes Erleben übertragen werden. Auf der individuellen Ebene führt dies nicht selten dazu, dass sich im Erinnern die Grenzen zwischen eigenen und fremden – gelesenen oder gehörten – Erlebnissen verwischen.165 Welche Rolle Zeitzeugenerinnerungen für die Historisierung der Belagerung spielten, ob und wie sie im Kontext des offiziellen Gedenkens einbezogen wurden, soll im Folgenden anhand einzelner Beispiele untersucht werden. Kriegsgedenken in uniformen »symbolischen Formen«? Der dritte Themenbereich bezieht sich auf den Gehalt und die Bedeutung der untersuchten Geschichtsbilder. Dabei geht es zunächst darum, einen fundierten Eindruck von den Inhalten zu gewinnen, die diese in den letzten Kriegsjahren und den ersten Nachkriegsjahren bestimmten. Was deren Einförmigkeit angeht, muss festgehalten werden, dass es zumindest zwei klar abgegrenzte Themenfelder gab, die im Zusammenhang mit der Belagerung standen und die mit den Oberbegriffen ›Blockade Leningrads‹ und ›Verteidigung Leningrads‹ verbunden waren und die in sich zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen in und nahe der Stadt fassten: Zum einen das Erleben der Zivilbevölkerung in der Blockade, zum anderen das Erleben von Soldaten, die mit der Verteidigung der Stadt beschäftigt waren. Welche Themen und Ereignisse zu den jeweiligen Gebieten gehörten und wie diese in sich thematisch und chronologisch strukturiert wurden, gehört ebenso zur Untersuchung der Geschichtsbilder wie Fragen nach thematischen und symbolischen Hierarchien. Aus den ausgeführten Überlegungen leite ich drei thematische Bereiche für meine Untersuchung ab: 1. Wo und wer : Der erste Bereich der Fragestellung betrifft die Felder, in denen die Historisierung der Belagerung stattfand, und die Akteurinnen und Akteure, die mit ihr befasst waren. Handelnde Personen und Strukturen können 165 Pichoja resümiert beispielsweise zum historischen Empfinden der sowjetischen Bevölkerung der Nachkriegszeit: »Man muss anmerken, dass dies nicht nur die politische Direktive ›von oben‹ war, sondern auch die soziale Vorstellung durchaus breiter Bevölkerungsschichten, die sich als Sieger dieses Krieges fühlten« Pichoja, R. G.: Sovetskij Sojuz. Istorija vlasti; 1945 – 1991. Novosibirsk, 2000, S. 11.

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dabei nicht getrennt betrachtet werden, da die jeweiligen Personen als Teile der Struktur handelten, also als Parteimitglieder, Militärvertreter oder Museumsangestellte. Es soll untersucht werden, wie die Felder der Historisierung in der Herstellung historischer Konzeptionen zusammenwirkten und welche Personen hier beteiligt waren. 2. Wie: Der zweite Bereich der Fragestellung wurde für die konkrete Arbeit leicht modifiziert und erweitert. Er bezieht sich auf die Vorgehensweisen der Akteurinnen und Akteure bei der Ausarbeitung der Geschichtsbilder. Hier soll gefragt werden, ob sich einzelne Geschichtsbilder einfach ›ergaben‹ oder ob sie durch strategisches Handeln entwickelt wurden. Auch ist zu fragen, wie die Beschaffenheit der beteiligten Strukturen und ihre Arbeitsteilung untereinander sich auf die Entstehung der historiographischen Konstruktionen auswirkten. In welchem Maße und wie wurden dabei persönliche Erinnerungen Überlebender einbezogen? Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung und dessen öffentlicher Aufarbeitung nach dem Krieg von Bedeutung. 3. Was: Der dritte Bereich der Fragestellung bezieht sich auf die entstehenden Geschichtsbilder selber. Hier sollen ihre Inhalte und Formen untersucht, ihr Aufbau und ihre Struktur nachvollzogen werden. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf der chronologischen Strukturierung der Geschichtsbilder und der thematischen Selektion und Zuordnung ihrer einzelnen narrativen Elemente. Im Rückbezug auf den ersten Bereich der Fragestellung soll hier auch einbezogen werden, welche Personen welche Geschichtsbilder entwickelten. Die erläuterten Forschungsfragen erhalten besondere Brisanz durch die symbolische und politische Rolle des Schauplatzes Leningrad. Die Stadt hatte als Kriegsschauplatz besondere symbolische und strategische Bedeutung. Leningrad wurde als alte Hauptstadt sowohl mit der imperialen Macht des Zarenreiches als auch mit der Revolution assoziiert. Die Leningrader Parteiorganisation spielte eine besondere Rolle für die Geschichte des sowjetischen Staates, und Leningrader Parteimitglieder waren, zumindest vor dem Krieg, zahlenmäßig besonders stark in der Partei vertreten gewesen. Leningrader wie Andrej Zˇdanov, Aleksej Kuznecov und andere nahmen hohe Positionen im Parteivorsitz und im Führungskreis um Stalin ein. Durch diese Sonderstellung befand sich Leningrad einerseits in der Rolle der Vorzeigestadt, der eine besonders ›heldenhafte‹ Kriegsgeschichte anstand. Im zentralisierten Staatsaufbau der stalinistischen Sowjetunion und unter den misstrauischen Blicken Stalins und anderer Vertreter der Moskauer Machtzentrale konnte ein allzu enthusiastisches Erinnern an die Belagerung andererseits schnell als Bedrohung interpretiert

Fragestellung und zeitlicher Rahmen

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werden.166 Dieses Spannungsfeld bildet den Hintergrund der Historisierung der Belagerung. Zeitlicher Rahmen Eine Abhandlung über Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads in der unmittelbaren Nachkriegszeit zeitlich einzugrenzen, birgt einige Schwierigkeiten. Zunächst scheint es naheliegend, die beiden herausragenden Ereignisse dieser Epoche als Eckpfeiler des zeitlichen Rahmens anzunehmen: Das Ende des Großen Vaterländischen Krieges 1945 und Stalins Tod 1953. Diesen Zeitraum benennt auch Bonwetsch als erste Entwicklungsphase des öffentlichen Kriegsgedenkens in der Sowjetunion.167 Die Beschäftigung mit den Quellen zeigt jedoch, dass die Jahre 1943 / 44, 1946 und 1948 / 49 für zukünftige Interpretationen der Blockade besonders prägend waren. Da eine große, bisher in der Forschung kaum bearbeitete, Materialfülle aus diesem Zeitraum vorliegt, soll der Beginn des behandelten Zeitraums bereits vor Kriegsende angesetzt werden: Bereits 1943 und verstärkt ab Anfang 1944 wurden in Leningrad Texte produziert, die aus einer Retrospektive einzelne Ereignisse und Zeitspannen der Leningrader Kriegsgeschichte gewichteten und erste Chronologisierungen vornahmen. Diese Quellen sollen im Rahmen der Arbeit ausführlich behandelt werden, da sie Grundsteine für die weitere Behandlung dieses Themenkomplexes bildeten. Aus diesem Grund soll hier der Beginn der Historisierung der Belagerung mit dem Jahr 1943 angesetzt werden. Den Übergang vom Krieg zur Nachkriegszeit in den bearbeiteten Zeitraum mit einzubeziehen, hat auch einen inhaltlichen Vorteil: Sowohl die »Atempause«168 des Krieges, die von den Kulturschaffenden erlebt wurde, als auch die Rückkehr zur stalinistischen Tagesordnung kommen in diesem Zeitraum zum Tragen. Nach der endgültigen Befreiung der Stadt von der Belagerung im Januar 1944 war die ›ruhmreiche Verteidigung‹ Leningrads abgeschlossen. Die Tatsache, dass der Krieg noch nicht beendet war, verstärkte das Bestreben, bisherige Erfolge zu historisieren und möglichst intensiv propagandistisch hervorzuheben, um die Siegesstimmung, die sich ausbreitete, zu fördern. Die Texte über Belagerung und Blockade, die in dieser Zeit entstanden, beschäftigen sich mit der Belagerung bereits als einem abgeschlossenen Zeitabschnitt. In den kulturpolitischen Auseinandersetzungen des Jahres 1946, die mit der Diffamierung von Anna Achmatova und Michail Zosˇcˇenko einhergingen und in das Verbot der Zeit166 Vgl. auch Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111), S. 116. 167 Bonwetsch (2002): Der Große (wie Anm. 163), S. 169. 168 Zum Krieg als Atempause für die sowjetischen Intellektuellen vgl. Bonwetsch, B.: War as a ›Breathing Space‹. Soviet Intellectuals and the ›Great Patriotic War‹, in: Bonwetsch, B.; Thurston, R. (Hg.): The People’s War. Responses to World War II in the Soviet Union. Urbana, Chicago, 2000, S. 137 – 153.

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Einleitung

schrift Leningrad sowie die Gängelung der Zeitschrift Zvezda mündete, zeigten sich erste Risse im Verhältnis der Moskauer Parteizentrale zur Leningrader Parteiorganisation. Obwohl das Kriegsgedenken von der sogenannten Zeitschriftenverordnung nur am Rande berührt wurde, blieb diese nicht ohne Auswirkung auf die Historisierung der Blockade. Wesentlicher Wendepunkt für die Historisierung der Belagerung ist eine umfangreiche Parteisäuberung – die Leningrader Affäre. Sie begann 1949 und betraf den gesamten Leningrader Parteiapparat sowie viele aus Leningrad stammende Parteifunktionäre in anderen Landesteilen. Von Stalin geschürt, entluden sich dabei Vormachtkonkurrenzen im inneren Kreis der Parteizentrale. Diese Vorgänge prägen bis heute die Erinnerung an Krieg und Blockade in Leningrad. Im Einzelnen geht der zeitliche Rahmen der Studie auf die jeweils vorhandenen Quellen zurück. Anfänge der Historisierung lassen sich bereits 1943 in Reden von A. A. Kuznecov nachweisen. Die endgültige Auflösung des seit 1949 geschlossenen Museums der Verteidigung Leningrads erfolgte erst am 5. März 1953 nach zähen inhaltlichen Modifizierungen und immer wieder neuen Ansätzen für weitere Ausstellungen. Aus diesem Grund wurde der zeitliche Rahmen der Untersuchung auf die Zeitspanne zwischen 1943 und 1953 festgelegt.

5.

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

Die untersuchten Quellen und Untersuchungsmethoden leiten sich aus den Untersuchungsschwerpunkten ab. Dies sind zum einen die Institutionen, Praktiken sowie Akteurinnen und Akteure der Historisierung, zum anderen die neu entstandenen Geschichtsbilder selber. Diese doppelte Schwerpunktsetzung erfordert die Bearbeitung unterschiedlicher Quellentypen, die sich grob nach dem jeweiligen Forschungsschwerpunkt in zwei Gruppen fassen lassen: Die eine Quellengruppe beinhaltet vorwiegend Überrestquellen, die die Arbeitsweise der jeweiligen Institutionen und Personen widerspiegeln und zeigen, welche inhaltlichen Diskussionen und programmatischen Wegweiser es im Prozess der Historisierung zu unterschiedlichen Zeiten gab und wer sich wie daran beteiligte. Die andere Gruppe besteht überwiegend aus Traditionsquellen wie Vorträgen, literarischen Arbeiten und historischen Abhandlungen, also den historiographischen Produkten selber. Bei deren Untersuchung stehen Inhalte, Aufbau und die Entwicklung der dokumentierten Geschichtsbilder im Mittelpunkt. Bei der Auswertung der Quellen kommen sowohl traditionelle geschichtswissenschaftliche Methoden als auch solche Analyseverfahren zur Anwendung, die von sozialwissenschaftlichen Methoden beeinflusst sind. Da die spezifischen Methoden von den jeweiligen Quellen und Erkenntnisinteressen abgeleitet sind,

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

73

werden die angewandten Methoden zunächst im Zusammenhang mit dem jeweiligen Quellentypus vorgestellt. In einem zweiten Schritt gehe ich gesondert auf die verwendeten Quellen und ihre Herkunft ein.

5.1.

Methoden

Analyse der Institutionen und ihrer Interaktionen Die Analyse der Gedenkpraktiken und Praktiken der Historisierung in den einzelnen Institutionen bildet den Hintergrund zum besseren Verständnis der Geschichtsbilder. Voraussetzung dafür ist, sich von jeder der behandelten Institutionen zunächst auf der Grundlage von Sekundärliteratur ein Bild zu machen. Hier besteht die spezifische Schwierigkeit darin, dass kleinere Institutionen, wie die Institute für Parteigeschichte, häufig ausschließlich in sowjetischen Publikationen behandelt werden und bisher noch nicht systematisch in ihren Funktionen und Aufgaben untersucht wurden. Unregelmäßigkeiten in Entscheidungsprozessen und asymmetrische Machtstrukturen werden in sowjetischen Texten in der Regel nicht thematisiert oder nur verschleiert dargestellt. Hinweise auf tatsächliche Interaktionen, konkrete Vorgänge und Arbeitspraktiken sind aus solchen Abhandlungen kaum zu gewinnen. Archivquellen, die beispielsweise die Korrespondenz zwischen Partei- und Sowjetstrukturen, ihre Zusammenarbeit, Arbeitsteilung und Beschlusspraktiken abbilden, geben hier tieferen Einblick. Dabei habe ich mich auf einzelne Vorgänge beschränkt. Bei der Analyse dieser Überrestquellen stütze ich mich im Wesentlichen auf die üblichen geschichtswissenschaftlichen Verfahrensweisen der äußeren und inneren Quellenkritik. Dabei werden jeweils Verfasser, Adressaten, Entstehenszeitpunkt und die in den Quellen festgehaltenen Informationen und Argumentationen in die Betrachtung einbezogen. Dieses Vorgehen ermöglicht schließlich die Abbildung einzelner Vorgänge und Verfahren, die die Historisierung der Belagerung bedingten. Ein Beispiel sind Korrespondenzen, die Annahme oder Ablehnung einzelner Ausstellungsprojekte zur Leningrader Kriegsgeschichte durch die Abteilung für Agitation und Propaganda der Leningrader Parteiorganisation dokumentieren. Hier zeigt sich, welche inhaltlichen und pragmatischen Schwerpunkte durch welche Institutionen und Personen in der Historisierung gesetzt wurden. Aufschlussreich ist auch zu sehen, mit welchen Institutionen und Organisationen beispielsweise das Verteidigungsmuseum zusammenarbeitete, woher Informationen und Materialien für Ausstellungen gewonnen wurden und wo das Museum selber beratend tätig wurde. Der Vergleich der Quellen untereinander ermöglicht es, ein Bild davon zu gewinnen, welche Strukturen wie an der Historisierung beteiligt waren.

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Einleitung

Analyse von Erinnerungspraktiken Interessant im Hinblick auf die praktischen Aspekte der Historisierung waren Quellen, die Einblicke in die unmittelbaren Arbeits- und Gedenkpraktiken ermöglichten. Dafür kamen sowohl Überrest- als auch Traditionsquellen infrage: Zum einen beispielsweise Pläne für die Durchführung von Gedenkfeiern oder Protokolle interner inhaltlicher Besprechungen im Verteidigungsmuseum, zum anderen publizierte Beschreibungen von Gedenkpraktiken, wie beispielsweise das Buch »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj«, in dem die Verleihung des Leninordens an Leningrad ausführlich dokumentiert ist. Auch für diese Quellentypen bot sich zusätzlich zur Quellenkritik die vergleichende analytische Arbeit an: Dabei werden Veränderungen der Gedenkpraktiken zu verschiedenen Anlässen und Zeitpunkten festgehalten. Unterschiede in Formulierungen sowie zwischen der Durchführung und der Darstellung von Gedenkpraktiken werden gesondert betrachtet. Durch eine Verortung der Quellen im zeitgeschichtlichen Hintergrund können die Auswirkungen kultur- und geschichtspolitischer Maßnahmen, wie der Zeitschriftenverordnung, punktuell nachvollzogen werden. Vor dem Hintergrund der spätstalinistischen Parteisäuberungen ist beispielsweise ein wesentlicher Aspekt für die Analyse, welche Parteivertreter wie an einer Gedenkveranstaltung beteiligt waren und wie sie in Ansprachen und Grußadressen angesprochen oder erwähnt werden. In diesen Details zeigen sich hierarchische Verhältnisse zwischen Moskauer und Leningrader Parteistrukturen. Analyse der Geschichtsbilder Im Mittelpunkt meiner Studie steht die Analyse der Geschichtsbilder anhand publizierter Traditionsquellen und nicht publizierter Entwürfe, beispielsweise Ausstellungsplänen des Verteidigungsmuseums. Dabei wurde eine spezielle Zugangsweise gewählt, die von soziologischen Arbeiten zur Strukturiertheit autobiographischer Selbstpräsentationen beeinflusst ist.169 Maßgeblich für diese theoretische Orientierung waren die Arbeiten von Fritz Schütze und Gabriele Rosenthal.170 Beide weisen auf die sequenzielle Strukturiertheit autobiographischer Selbstpräsentationen hin. Bei der Analyse solcher 169 Diese methodische Schwerpunktsetzung steht im Zusammenhang mit meiner Arbeit auf dem Gebiet der Oral History. Vgl. Zemskov-Cjuge (Zemskov-Züge), A.: Vospominanie, ˇ to my mozˇem uznat’ iz ustnych istocˇnikov?: Mir posle rasskaz i ›istoricˇeskaja pravda‹. C gulaga: reabilitacija i kul’tura pamjati. Syktyvkar 10 – 11 sentjabrja sbornik dokladov. Sankt-Peterburg, 2004, S. 123 – 131 sowie Loskutova (2006): Pamjat’ o (wie Anm. 121). 170 Insbesondere Schütze, F.: Prozeßstrukturen des Lebensablaufs, in: Matthes, J. (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg, 1981; Rosenthal, G.: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main, 1995.

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

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Narrative erschließt sich die Bedeutung der präsentierten Erinnerungen und Informationen nicht nur durch den Inhalt des Gesagten, sondern kann erst verstanden werden, wenn die Position der einzelnen Sequenzen im Gesamtkontext der autobiographischen Präsentation berücksichtigt wird.171 Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Präsentationsform einer Sequenz und ihrer Bedeutung im Sinnzusammenhang der Erzählung. Ähnlich wie bei autobiographischen Selbstbeschreibungen sind auch narrative Präsentationen von Geschichtsbildern maßgeblich von Anordnung und Gehalt ihrer einzelnen Sequenzen bestimmt. Anfang und Ende des Geschehens werden darin erfasst, wesentliche Etappen der Handlung festgelegt und als solche definiert. Das Geschehen wird in einzelne Phasen gegliedert, die durch Wendepunkte voneinander abgegrenzt sind.172 Allerdings bedeutet dies auch, dass Ereignisse, Themen oder Episoden weggelassen werden, die dem Geschehen einen anderen Sinn hätten geben können. Dieser Zusammenhang zwischen Anordnung und Inhalten der im Geschichtsbild präsentierten Ereignisse und Zusammenhänge ist Gegenstand der sequenziellen Textanalyse. Um die Strukturiertheit der einzelnen Geschichtsbilder zu erfassen und die Verortung einzelner thematischer Felder im Gesamten sichtbar zu machen, werden bei diesem Vorgehen die einzelnen Texte in Sequenzen gegliedert und jede Sequenz einzeln paraphrasiert. Als einzelne Sequenz kann beispielsweise bei der Analyse eines Ausstellungsführers die Beschreibung eines Saales im Museumsführer aufgefasst werden. Bei der Analyse einer historiographischen Konzeption gilt ein festgelegter Zeitabschnitt, etwa die Periode des Hungerwinters, als Sequenz. Bei den Ausstellungsanalysen unterscheide ich jeweils noch zwischen den Exponaten und deren Beschreibung im Text des Führers. Besonders aussagekräftige Zitate werden im vollen Wortlaut in die Analyse einbezogen. Besondere Beachtung gilt chronologischen Gliederungen des jeweils im Geschichtsbild behandelten Geschehens. Dabei wird darauf geachtet, welchen Ereignissen besondere Bedeutung zugeschrieben wurde, wo jeweils Wendepunkte gesetzt und in welchen Sinn-Verknüpfungen welche Themen eingeführt und behandelt wurden. Die Textabschnitte zu den einzelnen Sequenzen werden paraphrasiert und in eine Tabelle eingetragen. Das bietet den Vorteil, dass ihre Struktur leichter erfassbar wird. Geschichtsbilder unterschiedlicher Herkunft können in eine Tabelle in Spalten nebeneinander eingetragen und miteinander verglichen werden. 171 Dabei wird ihr Sinn maßgeblich durch die jeweils vorausgehenden beziehungsweise nachfolgenden Sequenzen bestimmt. Umgekehrt hat jede Sequenz einer solchen Erzählung eine »funktionale Bedeutsamkeit« für das Gesamtbild der Erzählung und steht in demselben »thematischen Feld«. Vgl. Ebenda, S. 131. 172 Ebenda, S. 134 – 140.

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Ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist, die Entwicklung einzelner historiographischer Konstruktionen vor ihrem ereignisgeschichtlichen Hintergrund sichtbar zu machen. Für dieses Analyseziel war ebenfalls die Sequenzierung der Texte in Tabellenform hilfreich. Sie ermöglicht es, einzelne historische Konzeptionen ein und derselben Person (bzw. Institution) einander unmittelbar gegenüberzustellen und damit die Entwicklung einzelner Texte im Abstand von einem oder mehreren Jahren nachzuvollziehen. Beide Versionen des jeweiligen Textes werden, derart paraphrasiert, in einer Tabelle einander gegenübergestellt. Die abweichenden Textversionen werden Sequenz für Sequenz miteinander verglichen. Auf diese Weise können inhaltliche und sprachliche Unterschiede entdeckt und interpretiert werden. Die Gegenüberstellung mehrerer veröffentlichter Versionen des Tagebuches von Vera Inber ermöglicht beispielsweise, Einblicke in die redaktionellen und zensurbedingten Änderungen des Textes zu nehmen. Der Vergleich unterschiedlicher chronologischer Konzeptionen von Aleksej Kuznecov aus den Jahren 1943 und 1945 zeigt, wie sich der weitere Kriegsverlauf sowie der Kontext, in dem die Chronologien präsentiert wurden, auf die darin vertretenen Geschichtsbilder auswirkt. Eine gesonderte Gruppe unter den Texten, die als Träger von Geschichtsbildern analysiert wurden, sind die im engeren Sinne literarischen Texte. Diese eignen sich nicht für eine sequenzanalytische Auswertung, da sie sich im Aufbau mehr am Handlungsbogen der jeweiligen Geschichte als an Chronologien der Belagerung orientieren. Daher sind sie nicht unmittelbar auf struktureller Ebene mit den chronologisch strukturierten Texten vergleichbar. Sie sind jedoch, was die Darstellung der Atmosphäre im belagerten Leningrad, die Thematisierung von Not und Hunger und vor allem die dargestellten Figuren und ihre Haltung angeht, besonders aussagekräftige Quellen. Mit ihrer Hilfe können auch Freiräume der künstlerischen Darstellung ausgelotet werden, die die Literatur der Geschichtsschreibung voraushatte. Der Schwerpunkt bei der Analyse dieser Texte liegt auf den handelnden Figuren. Dabei wird insbesondere davon ausgegangen, dass sie – in der Logik des Sozialistischen Realismus – als positive Heldenfiguren und Vorbilder für die Rezipierenden wirken sollten. Welche Eigenschaften und Haltungen diesen eingeschrieben werden und ob diese Ideale durchgehalten oder auch gebrochen werden, ist Gegenstand der Literaturanalysen. Vor dem Hintergrund, dass die Kriegspropaganda die katastrophale Versorgungslage in Leningrad häufig verschwieg oder geschönt darstellte, steht bei der Betrachtung der literarischen Texte zusätzlich die Darstellung und thematische Einbindung von Motiven im Fokus, die Hunger und Not im belagerten Leningrad erahnen lassen.

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

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Analyse programmatischer Schriften und Verordnungen Ergänzend zu Trägern der untersuchten Geschichtsbilder werden Texte herangezogen, die sich in unterschiedlicher Weise programmatisch mit verschiedenen Vorgängen der Historisierung befassen. Dies können zum einen geschichtspolitische Dokumente wie die Zeitschriftenverordnung vom August 1946 und die Rede Zˇdanovs vor den Leningrader Schriftstellern zu diesem Anlass sein. Zum anderen werden, beispielsweise zu den historiographischen Konzeptionen Stalins, zeitgenössische Lesehilfen herangezogen, die den Lesenden dazu dienten, die jeweiligen Texte ›richtig‹ zu verstehen, politisch einzuordnen und die erwünschten Botschaften weiterzuvermitteln. Literaturkritische Beiträge, die sich mit dem Werk Vera Inbers oder der Zeitschrift Leningrad befassen, geben Einblick in zeitgenössische Diskussionen und Bewertungskriterien, die auf die untersuchten Texte angewandt wurden. In der analytischen Betrachtung dieser Texte liegt das Augenmerk insbesondere auf der Bewertung der untersuchten Texte und Autoren sowie auf den verwendeten Argumentationen und Bewertungsmustern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass grundsätzlich zwischen solchen Quellen unterschieden wird, die den organisatorischen und diskursiven Hintergrund der Historisierung beleuchten, und solchen, die als Träger von Geschichtsbildern untersucht werden. Während die Quellen zur Historisierung unter quellenkritischen Gesichtspunkten zur Rekonstruktion von Vorgängen der Historisierung genutzt werden, werden die Träger der Geschichtsbilder vorwiegend sequenzanalytischen Verfahren unterzogen. Die in der Arbeit angewendeten Analysemethoden bewegen sich auf zwei Vergleichsebenen: Zum einen auf der synchronen Vergleichsebene, die die Tätigkeit unterschiedlicher Einrichtungen in ihrer Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit erfasst, zum anderen auf der diachronen Ebene, auf der verschiedene Versionen ein und derselben Textes bzw. ähnliche Texte in verschiedenen Überarbeitungsstufen (Neuauflagen) miteinander verglichen werden.

5.2.

Quellen

Nachdem bisher die in der Arbeit verwendeten Quellen allgemein und im Zusammenhang mit den angewandten Methoden behandelt wurden, kommen im folgenden Teil die ausgewählten Quellen konkret zur Sprache. Dabei trenne ich zwischen publizierten und Archivquellen. Abschließend werden auch die von mir besuchten Archive jeweils kurz vorgestellt, um den Prozess der Materialgewinnung in seinen Möglichkeiten und Einschränkungen transparent zu machen.

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Publizierte Quellen Für jede Phase der Geschichtsschreibung sowie der literarischen und künstlerischen Bearbeitung der Leningrader Kriegsgeschichte gibt es große Mengen von publiziertem Material. Die lange Reihe publizistischer und literarischer Werke zur Belagerung Leningrads, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit erschienen sind, schließt sogar eigene literarische Untergattungen ein, wie die der Blockadetagebücher und der »Blockadelyrik«173. Nicht zu vergessen sind auch Visualisierungen wie Plakate und Fotografien sowie die Blockadedenkmäler, die bis heute fester Bestandteil des Bilderkanons des Großen Vaterländischen Krieges sind174 und zu den Wahrzeichen der Stadt St. Petersburg zählen175. Die in der Nachkriegszeit veröffentlichten Texte zur Belagerung lassen sich nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben nicht als fundierte und vor allem nicht als ideologisch neutrale Sekundärliteratur gebrauchen. Umso interessanter sind sie jedoch als Quellen zum Thema der Geschichtsbilder. Selbst für den eingeschränkten Zeitraum zwischen 1943 und 1953 gibt es eine Fülle publizierter Quellen, die bisher nicht systematisch untersucht worden sind. Gründe dafür liegen darin, dass ein Großteil der jüngeren sowohl russischsprachigen als auch westlichen Autoren besonders mit der Auswertung von Archivmaterialien beschäftigt ist, die bis zum Beginn der 90er-Jahre nicht zugänglich waren, und das publizierte Material der 40er-Jahre häufig als unzuverlässig und ideologisch verbrämt eingeschätzt wird. Daher wurde bisher nicht versucht, ein systematisches Bild der Motive und Stereotypen zu erstellen, die die Bearbeitung des Themas der Belagerung prägen. Lisa Kirschenbaum hat zwar ein allgemeines Bild der wichtigsten Arbeiten zur Belagerung über einen großen Erscheinungszeitraum gezeichnet, durch die Breite der herangezogenen Arbeiten und den weiten Zeitrahmen fand jedoch keine tiefere Analyse einzelner Texte in der Studie Raum und auch ihr institutioneller Entstehungskontext wurde nicht berücksichtigt.176 173 Vgl. bspw. Tschöpl, K.: Die sowjetische Lyrik-Diskussion. Ol’ga Berggol’c’ Leningrader Blockadedichtung als Paradigma. München, 1988; Makogonenko, G.: Leningradskaja tema, in: Znamja (1945), 1, S. 206 – 211. 174 Scherrer, J.: Sowjetunion / Rußland. Siegermythos versus Vergangenheitsaufarbeitung, in: Flacke, M. (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 Arena der Erinnerungen. Berlin, 2004, S. 619 – 670 sowie Nikitin, B. A.: Neizvestnaja blokada. Leningrad 1941 – 1944. Sankt-Peterburg, 2002. 175 So beispielsweise der ›Siegesplatz‹, der mit seinen eindrucksvollen, überlebensgroßen Statuen das Tor zur Stadt bildet: An ihm fahren alle vorbei, die St. Petersburg mit dem Flugzeug erreichen. Zu den Denkmälern und ihrer Geschichte siehe Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111); Rusinova, O.: Dolgovecˇnee kamnja i bronzy. Obrazy blokady v monumental’nych ansambljach Leningrada, in: Loskutova, M. (Hg.): Pamjat’ o blokade: Svidetel’stva ocˇevidcev i istoricˇeskoe soznanie obsˇcˇestva. Materialy i issledovanija. Moskva, 2006, S. 335 – 364. 176 Ich beziehe mich auf Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111).

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

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Wie bereits erläutert, spielen publizierte Quellen im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit die zentrale Rolle. Es handelt sich damit im Wesentlichen um Traditionsquellen, die dazu angelegt waren, bestimmte Interpretationen der Leningrader Kriegsgeschichte zu etablieren. Quellensammlungen sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil die ersten Arbeiten mit zumindest nominell geschichtswissenschaftlichem Anspruch bei Kriegsende Quellensammlungen waren. So erfolgte zunächst eine Bestandsaufnahme vorhandenen Materials, das nach seiner Bedeutung ausgewählt und thematisch sortiert wurde. Hierbei wurde auch eine erste Chronologisierung der Belagerung vorgenommen, die sich für die ersten Nachkriegsjahre als durchaus sehr beständig erwies. Die hier untersuchten Textsammlungen wurden vom Institut für Parteigeschichte herausgegeben. Ein zentrales Werk, das in Kapitel III ausführlich behandelt wird, war die zweibändige Quellensammlung »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«, deren erster Band im Frühjahr 1944 – nur wenige Monate nach der Befreiung der Stadt – erschien und deren zweiter Band 1947 folgte.177 Als weiteres untersuchtes Sammelwerk ist die Ausgabe »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj« zu nennen, die von derselben Institution veröffentlicht wurde, aber nicht zum Ziel hat, die Belagerung selber zu dokumentieren. Vielmehr stellt sie eine Momentaufnahme des lokalen Kriegsgedenkens 1945 dar, da der Band die Verleihung des Leninordens an Leningrad im Januar 1945 dokumentiert.178 Beide Sammelwerke sind auf zwei Ebenen für den Kontext der Arbeit relevant: Zum einen lässt ihre Strukturierung und die Auswahl des publizierten Materials auf die Prioritäten schließen, die das Institut für die Historisierung der Belagerung bei Kriegsende setzte. Zum anderen spiegeln sich in den Texten die als wichtig erachteten Ereignisse und Interpretationen des Geschehens in und um Leningrad. Es wird deutlich, dass die eigentliche inhaltliche Bearbeitung des Themas Blockade und Verteidigung der Stadt nicht durch die Mitarbeiter des Institutes erfolgte, sondern den politischen Akteuren überlassen wurde, deren Beiträge in den Bänden veröffentlicht wurden. Diese Konzeptionen werden ausführlich und vergleichend untersucht, was lohnend erscheint, da manche Reden in verschiedenen Versionen in den Sammelband eingegangen sind. Ähnliches gilt in noch stärkerem Maße für eine Textsammlung, die im Hinblick auf die Leningrader Kriegsgeschichte gesondert betrachtet wurde: die

177 Leningradskij institut istorii VKP (b): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1944; Leningradskij institut istorii VKP (b): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947. 178 Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V.: Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945.

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Einleitung

Sammlung ausgewählter Reden und Befehle Stalins »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«.179 Ergänzend sind hier neue Quellensammlungen zu nennen, die zur Beleuchtung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes an verschiedenen Stellen in die Arbeit eingegangen sind. Für die Leningrader Kriegsgeschichte sind dies insbesondere die von Lomagin180 und Volkovskij181 herausgegeben Bände. Für den allgemeinen Hintergrund und zum Handeln der Parteiführung beziehungsweise zur Kommunikation zwischen Leningrad und Moskau ziehe ich die Rosspe˙nAusgaben zur Kommunikation von Politbüro und Ministerrat182 sowie zur sowjetischen Kriegspropaganda183 heran. Zur sowjetischen Literatur- und Kulturgeschichte wurde insbesondere der neue kommentierte Quellenband von Katerina Clark184 verwendet. Literarische Texte spielten für die Historisierung der Belagerung Leningrads eine besondere Rolle. Insgesamt lässt sich festhalten, dass durch die mangelhafte wissenschaftliche Bearbeitung der Leningrader Kriegsgeschichte einer publizistischen Prosa Vorschub geleistet wurde, die in den Veröffentlichungen der unmittelbaren Nachkriegszeit vorherrscht und in gewisser Weise die propagandistische Publizistik der Nachkriegszeit fortführt. Die Literatur ist insbesondere deswegen für die entstehenden Geschichtsbilder von besonderer Bedeutung, weil die Literaturschaffenden durch den Primat des Sozialistischen Realismus in besonderer Weise in den Dienst von Politik und Propaganda genommen wurden. Als Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit wurden die Zeitschriften des Leningrader Schriftstellerverbandes Zvezda und Leningrad betrachtet. Dabei handelt es sich um ein spezifisches Genre russischsprachiger Zeitschriftenkultur, die sogenannten dicken Zeitschriften (tolstye zˇurnaly), in denen vorwiegend aktuelle literarische Kurztexte oder Ausschnitte aus Romanen sowie Beiträge zu aktuellen kulturellen Ereignissen publiziert wurden. Beim Durcharbeiten der entsprechenden Jahrgänge stellte sich heraus, dass Leningrad für die Kriegserzählungen mit lokalem Fokus auf die Stadt ergiebiger ist und auch program179 Stalin, I. V.: O Velikoj otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza., 5. Aufl., Moskva, 1945. 180 Lomagin (2001): V tiskach (wie Anm. 33); Lomagin (2004): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 15) sowie die Monographie Lomagin (2005): Leningrad v (wie Anm. 33). Diese zitiert vielfach ausführlich Originalquellen. Unter Mitarbeit von Lomagin entstanden auch Jahn, P.: Blockade Leningrads 1941 – 1944. Dossiers. Berlin, 2004; Ohne Herausgeber (2004): Blokadnye dnevniki (wie Anm. 33). 181 Volkovskij (2004): Blokada Leningrada (wie Anm. 15). 182 Chlevnjuk, O.; Gorlickij, J.; et.al.: Politbjuro CK VKP (b) i Sovet Ministrov SSSR 1945 – 1953. Moskva, 2002. 183 Livsˇin / Orlov (2007): Sovetskaja propaganda (wie Anm. 15). 184 Clark, K.; Dobrenko, E.: Soviet Culture and Power. A History in Documents, 1917 – 1953. New Haven, 2007.

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matische Diskussionen im Schriftstellerverband widerspiegelt. Was die Zeitschrift zusätzlich besonders interessant macht, ist ihr Verbot im Zuge der Zeitschriftenverordnung vom August 1946. Hier stellt sich die Frage, ob die Gründe dafür in den vom allgemeinen Duktus abweichenden Darstellungen insbesondere zu Leningrad im Krieg zu suchen sind. Einzelne Beiträge, die im belagerten Leningrad spielen, wurden gesondert auf ihren thematischen und symbolischen Gehalt sowie auf die darin vertretenen Geschichtsbilder analysiert. Auffällig war in den in der Zeitschrift abgedruckten Diskussionen zum ›Leningrader Thema‹ die häufige lobende bzw. tadelnde Behandlung der Arbeiten insbesondere zweier Autoren: Nikolaj Tichonov und Vera Inber. Bei der Durcharbeit der »knizˇnaja letopis’«185 zu den fraglichen Jahrgängen stellte sich heraus, dass diese beiden Autoren besonders häufig und auflagenstark veröffentlicht wurden, sodass eine spezielle Fokussierung auf ausgewählte Arbeiten dieser beiden Vertreter der Leningrad-Literatur vorgenommen wurde. Im Fall von Vera Inber bedeutet dies auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit veröffentlichten Varianten ihres Tagebuchs, das 1945 mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde. Auf die Einbeziehung von Lyrik wurde verzichtet, da die Blockadelyrik von den literarischen Texten zur Belagerung bereits eingehend behandelt wird.186 Programmatische Quellen zur Literatur- und Kulturpolitik: In diese Kategorie fallen die in der Zeitschrift Leningrad, aber auch die in anderen zeitgenössischen literarischen Zeitschriften (insbesondere Znamja) erschienenen Texte zum sogenannten Leningrader Thema. Hinzu kommen Literaturkritiken187, die sich auf in der Arbeit analysierte Werke beziehen. Gleichzeitig sind hier Veröffentlichungen kulturpolitischer Verordnungen188 gemeint und Texte, die solche kommentieren189, sowie zeitgenössische ›Lesehilfen‹ zu Stalins kriegstheoretischen Lehren190. Diese Quellen wurden heran185 Dies ist das Verzeichnis aller in der Sowjetunion erschienener Bücher. 186 Tschöpl (1988): Die sowjetische (wie Anm. 173); Rambow (1995): Überleben mit (wie Anm. 37). 187 Zelinskij, K.: Vera Inber. K tridcatiletiju literaturnoj dejatel’nosti, in: Oktjabr’ (1946), 5, S. 182 – 190. 188 Ohne Herausgeber : O zˇurnalach ›Zvezda‹ i ›Leningrad‹. Iz postanovlenija ZK VKP (b) ot 14 avgusta 1946 g. Moskva, 1952. 189 So beispielsweise Egolin, A. M.: Za vysokuju idejnost’ sovetskoj literatury : Protiv bezidejnosti v literature. Sbornik statej zˇurnala Zvezda. Moskva, 1947, S. 5 – 32. Siehe auch Ohne Herausgeber : Za bol’sˇevistskuju idejnost’. Zbornik osnovnych postanovlenij CK VKP (b) i vystuplenij tov. A. A. Zˇdanova po ideologicˇeskim voprosam. Riga, 1951; Aleksandrov, G.: O nekotorych zadacˇach obsˇcˇestvennych nauk v sovremennych uslovijach, in: Bol’sˇevik Jg. 22 (1945), 14, S. 17 – 29. 190 Talenskij, N.: O knige I.V. Stalin o velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Moskva, ˇ asˇnikov, I. P.: O knige I.V. Stalina ›O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza‹. 1952; C Moskva, 1953.

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Einleitung

gezogen, um die öffentliche Diskussion zu verfolgen, die sich um die politisch einwandfreie Darstellbarkeit des Kriegserlebens und ihre propagandistische Nutzbarkeit entwickelte. Die Museumsführer beziehungsweise Ausstellungsführer der Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads«, die später in das »Museum der Verteidigung Leningrads« umgewandelt wurde, sind die wichtigsten publizierten Quellen zur Musealisierung der Belagerung. Interessant war hier, genauen Einblick in die Umsetzung und den Wandel der Ausstellungskonzepte zu bekommen. Hier zeigt sich eine Entwicklungsperspektive: Der Ausstellungsführer erschien 1945, während der Museumsführer erst kurz vor Beginn der Leningrader Affäre Ende 1948 zum Druck freigegeben wurde. Bei der vergleichenden Sequenzanalyse der beiden Texte wurde sowohl die Ebene der Ausstellung und Anordnung der Exponate als auch die Ebene ihrer Beschreibung und Erklärung betrachtet. Archivquellen Zu den in der Arbeit behandelten Institutionen habe ich Materialien in einer Reihe von St. Petersburger Archiven bearbeitet. Mein besonderes Augenmerk lag dabei auf Quellen, die das kulturelle Leben der Stadt und insbesondere das offizielle Kriegsgedenken beleuchten und die Zusammenarbeit verschiedener, mit der Historisierung der Blockade befasster Institutionen zeigen. Darüber hinaus wurde Einblick in die Arbeitspraxis einzelner Parteieinrichtungen genommen. Die Archivquellen dienten insgesamt dazu, den Entstehungskontext der behandelten Geschichtsbilder auszuleuchten. Allgemein muss angemerkt werden, dass in den im Folgenden behandelten staatlichen Archiven der russischen Föderation die Praxis der Ausgabe von Materialien bis heute intransparent ist. Zum einen sind es die Archivangestellten, die auf Beschreiben des Themas hin die ihrem Ermessen nach passenden Findbücher auswählen und zur Verfügung stellen. Zum anderen kommt es immer wieder vor, dass bestellte Akten ohne Angabe von Gründen nicht herausgegeben werden. Darüber hinaus wurden in ausgegebenen Akten nicht selten einzelne Seiten zugeheftet und somit unlesbar gemacht. Im Einzelfall habe ich dies bei der Behandlung des jeweiligen Dokumentes angemerkt. Nach welchen Kriterien diese Beschränkungen vorgenommen wurden, war für mich nicht ersichtlich, zumal auch Quellen betroffen waren, die angeblich längst ungekürzt veröffentlich worden waren.191 Ein Sample von Quellen zu einer bestimmten Organisation beleuchtet daher in der Regel Ausschnitte der behandelten Vorgänge. Weitere möglicherweise vorhandene Quellen können mir durch die unvollständige Ausgabe von Findbüchern, Fehleinschätzungen der Archivange191 So beispielsweise das Tagebuch von Pol’zikova-Rubets: f. 4000; op. 11; ed.chran. 94, CGAIPD: Blockadetagebuch.

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

83

stellten und absichtsvolle Zurückhaltung von Akten verborgen geblieben sein. Insgesamt bleibt anzumerken, dass, wie in anderen Bereichen der historischen Forschung auch, die vollständige Öffnung der Archive eine Grundvoraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten bleibt, die in Russland bisher nicht selbstverständlich ist.192 Trotz dieser Einschränkungen ist es gelungen, eine breite Auswahl an Quellen zu den behandelten Institutionen einzusehen, die jeweils ein facettenreiches Bild der Einrichtung zeigen. Besonders hilfreich war es, ergänzend in nicht-staatlichen Archiven, insbesondere dem Archiv des Museums der Verteidigung Leningrads, zu arbeiten. Zur Tätigkeit des Instituts für Parteigeschichte war insbesondere das ehemalige Parteiarchiv, heute »Zentrales Staatliches Archiv für historisch-politische Dokumente« (CGAIPD) hilfreich, das die Fonds zur Arbeit der Abteilung für Agitation und Propaganda sowie des Instituts für Parteigeschichte (Istpart) bewahrt. Besonders aufschlussreich sind hier die vom Istpart seit 1942 erhobenen Interviews und Zeitzeugengespräche (Fond 4000), denen ein eigenes Unterkapitel gewidmet ist. Über die Zusammenarbeit und das Funktionieren unterschiedlicher kultureller Einrichtungen der Stadt gibt der Fonds der Agitpropabteilung (Fond 25) Auskunft. Hier wurden insbesondere solche Akten eingesehen, die sich mit Gedenkveranstaltungen befassen, oder Arbeitsberichte der jeweiligen kulturellen Einrichtungen, unter anderem auch inoffizielle Ausstellungsentwürfe des Verteidigungsmuseums, Grußadressen der Leningrader Parteivertreter an Stalin anlässlich von Gedenkfeiern und weitere Materialien, die die Praktiken öffentlichen Kriegsgedenkens der ersten Nachkriegsjahre widerspiegeln. Im »Zentralen Staatlichen Archiv der Stadt St. Petersburg« (CGA Spb) werden im Unterschied zum CGAIPD die Unterlagen der Regierungsorganisationen, also des Sowjetsystems, aufbewahrt. In vielen dort bewahrten Materialien geht es hauptsächlich um Vorgänge, die die Instandhaltung und den Betrieb von Kultureinrichtungen betreffen. Hier wurde der Schwerpunkt auf Materialien gelegt, die die Arbeit des Ausführenden Parteikomitees des Leningrader Stadtsowjets (Ispolkom) dokumentieren (Fond 7832) und die Arbeit des Verteidigungsmuseums betreffen. Interessant waren auch Rechenschaftsberichte verschiedener Kultureinrichtungen der Stadt über ihre Arbeit. Im »Zentralen Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst« (CGALI) wurden gezielt Quellen zur Arbeit der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes (LO SSP) in den Nachkriegsjahren eingesehen (Fond 371). Diese zeigen, welche Themen bei Veranstaltungen des Schriftstellerverbandes zu welcher Zeit behandelt wurden. Darüber hinaus wurden Materialien zum Museum der Verteidigung Leningrads (Fond 277) ausgewertet, insbesondere solche 192 Vgl. Pietrow-Ennker (2000): Einleitung (wie Anm. 55), S. 10.

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Einleitung

Dokumente, die im Archiv des Museums nur unvollständig kopiert vorliegen. Von besonderem Interesse waren Prüfberichte (beispielsweise an das Stadtparteikomitee), die die Arbeit des Museums und seiner Mitarbeiter bewerten.193 Anhand von Sitzungsprotokollen ließen sich auch Aushandlungsprozesse nachvollziehen, in denen die Museumsmitarbeiter versuchten, durch immer neue Ausstellungskonzepte eine Wiedereröffnung des Museums zu erreichen.194 Das »Archiv des Museums der Verteidigung und der Blockade Leningrads« verfügt über eine konzentrierte Zusammenstellung verschiedenster Dokumente zur Geschichte des Verteidigungsmuseums. Hier ist die gesamte Geschichte des Museums von der ersten Ausstellung 1944 über die Eröffnung des neuen Museums und verschiedene Ausstellungskonzeptionen bis zu den Abnahmeprotokollen des Museums und zur Schließung und Liquidierung des Museums 1953 dokumentiert. Die Materialien wurden von den Mitarbeitern staatlicher Archive auf Anfrage des Museums zusammengestellt. Sie können in aller Regel den Herkunftsarchiven mit den Originalsignaturen zugeordnet werden (CGAIPD, CGALI, CGASpb) und sind deshalb unter diesen aufgeführt. Generell ist die Zusammenstellung der Materialien, was die Darstellung von Vorgängen um das Museum angeht, sehr dicht. Dokumente, die inhaltliche Diskussionen oder ideologische Einflussnahmen dokumentieren, fielen jedoch offensichtlich nicht in das Interessengebiet des Museums oder des mit der Zusammenstellung beschäftigten Archivpersonals, sodass sie entweder gar nicht oder nur teilweise kopiert im Museum vorliegen.

5.3.

Aufbau

Bisher wurden die inhaltlichen, theoretischen und begrifflichen Grundlagen der Arbeit erläutert. Darauf aufbauend rückten die Fragestellung und die verwendeten Quellen und Methoden in den Mittelpunkt der Darstellung. Bevor nun der empirische Teil der Arbeit beginnen kann, soll zur besseren Orientierung ein kurzer Überblick über den Aufbau der Arbeit gegeben werden. Ziel meiner Arbeit ist es, den Entstehungskontext und die Inhalte sowie die Entwicklung der Geschichtsbilder zu beleuchten, die sich am Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren zur Belagerung Leningrads entwickelten. Im Aufbau und in der Fragestellung der Arbeit spiegelt sich der von Andreas Langenohl vertretene Ansatz, »Vergangenheitsrepräsentationen zunächst aus193 So bspw. f. 277; op. 1; d. 691, CGALI: Berichtsnotiz über die Arbeit des Verteidigungsmuseums 14. 10. 1948. 194 f. 277; op. 1; d. 980 (Seitenzählung nach Originaldokument), CGALI: Besprechung der Ausstellung des Verteidigungsmuseums 05. 07. 1949.

Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit

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schließlich hinsichtlich des sozialen Kontextes zu beschreiben«195, dem sie entstammen. Die Inhalte der Erinnerung werden damit in direkten Zusammenhang mit den ihnen jeweils eigenen Übermittlungspraktiken und Strukturen, die sie hervorbrachten, gestellt.196 Daher wurden zunächst Bereiche des Leningrader Kultursektors ausgewählt, in denen an der Produktion und Reproduktion von Geschichtsbildern gearbeitet wurde. Diese habe ich als Erinnerungsfelder bezeichnet. Es sind: – die Geschichtsschreibung zur Belagerung – die Blockadeliteratur – die Musealisierung der Belagerung In einem einführenden Kapitel (Kap. II) werden historische, institutionelle und diskursive Hintergründe beleuchtet, die sich auf die Historisierung der Belagerung und die Inhalte der entstehenden Geschichtsbilder ausgewirkt haben. Die folgenden Kapitel sind jeweils einem der ausgewählten Bereiche gewidmet. Dabei wird zu jedem Erinnerungsbereich eine Leningrader Institution in den Blick genommen, die für diesen Bereich zuständig war: Für den Bereich der Geschichtsschreibung das Leningrader Institut für Parteigeschichte (Kap. III), für die Literatur der Sowjetische Schriftstellerverband und seine Leningrader Abteilung (Kap. IV) und schließlich das Museum der Verteidigung Leningrads (Kap. V). Unter dem Gesichtspunkt der interaktionalen Erinnerung werden punktuell die Forschungspraktiken der jeweiligen Institution betrachtet, so etwa die Durchführung von Befragungen durch Angestellte des Instituts für Parteigeschichte. Für die Ebene der institutionellen Erinnerung werden Publikationen der jeweiligen Einrichtung analysiert. Die Ebene der Subjekt-Erinnerung spielt, beispielsweise bei den Darstellungen einzelner Parteivertreter, bei öffentlichen Erinnerungsveranstaltungen oder als institutionell vereinnahmtes Paradigma bei der Betrachtung des Tagebuchs von Vera Inber, eine Rolle. Jedem Erinnerungsfeld ist jeweils ein Kapitel gewidmet. Darin wird zunächst die Geschichte der jeweiligen Institution betrachtet und ein Überblick über ihre Tätigkeiten im untersuchten Zeitraum gegeben. In einem zweiten Schritt wird beispielhaft die Arbeit der jeweiligen Institution näher beleuchtet und Produkte, wie Texte, Vorträge oder Ähnliches, die aus ihrer Arbeit hervorgegangen sind, werden analysiert. Die Analyseergebnisse einzelner Texte werden einander vergleichend gegenübergestellt. Ziel ist dabei, einen fundierten Einblick in die produzierten Geschichtsbilder vor dem Hintergrund ihres Entstehungskontextes zu geben und zu verstehen, worin sich die einzelnen Konzeptionen gleichen oder voneinander abweichen. Im Schlusskapitel (Kap. VI) werden die Ergeb195 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 25. 196 Ebenda, S. 48 f.

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Einleitung

nisse der Untersuchung entsprechend den drei in der Fragestellung herausgearbeiteten thematischen Bereichen zusammenfassend dargestellt. Ein Ausblick stellt abschließend einige der Befunde in den Kontext der gegenwärtigen russischen Geschichtspolitik.

II. Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949: Strukturen, historischer Hintergrund und inhaltliche Einflüsse

1.

Der sowjetische Staatsaufbau und politische Strukturen in Leningrad bei Kriegsende »Bald nach Kriegsende beginnen die Umstellungen in der Führungsgarde der Sowjetmacht. Die Logik der Kaderverschiebungen ist nicht immer verständlich. Die Parteiführung, die bei ihrem zehnten Parteitag das Vorhandensein einer Fraktionsideologie verurteilt hatte, indem sie die Gruppenbildungen zu den schwersten Verbrechen gegen die Partei erklärte, war nichts desto weniger in Fraktionen aufgeteilt. Aber diese Gruppen innerhalb der Nomenklatura maskierten sich sorgfältig. Die Gründe, die die Gruppenmitglieder einten, sind nicht immer offensichtlich.«197

Zentrale Machtstrukturen Das sowjetische Herrschaftssystem war im Prinzip auf zwei analog organisierten Säulen begründet: dem Regierungsapparat und dem Parteiapparat. Die Regierung war auf allen Ebenen in den sogenannten Räten, den Sowjets, organisiert, die Partei in den sogenannten Parteikomitees. Oberstes Regierungsorgan war der Oberste Sowjet, der aus zwei Kammern, dem Nationalitätensowjet und dem Unionssowjet, bestand und die sowjetische Regierung, den Ministerrat, einberief. In den Ministerrat konnten auch Personen berufen werden, die nicht im Obersten Sowjet saßen.198 Für die Partei stellten nominal die Parteikonferenzen, die alle zwei Jahre tagten, die höchste Autorität dar. Faktisch lag jedoch die Macht bei den Parteikomitees.199 Die Parteispitze bestand aus dem Zentralkomitee (CK) und seinem Sekretariat, dem Politbüro, dem Orgbüro und der sogenannten Kontrollkommission. In ihren Zuständigkeitsbereichen und Kompetenzen waren diese Gremien nicht klar voneinander abgegrenzt. Diese Unklarheit in der Arbeitsteilung ließ Stalin einen großen Spielraum für willkürliche Entscheidungen und Kursänderungen. 197 Pichoja (2000): Sovetskij Sojuz (wie Anm. 165), S. 44. 198 Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija, 2. Aufl., 1949 – 1958, S. 34 f. 199 Siehe dazu Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 24.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

Bei Parteisäuberungen konnten daher ›Kompetenzüberschreitungen‹ instrumentalisiert und gegen einzelne Führungspersonen vorgebracht werden, die dem Betreffenden nicht bewusst waren und bis dato zum normalen politischen Procedere gehört hatten. Faktisch wurden alle politischen Entscheidungen in Parteigremien gefällt und dann von den Regierungsorganen übernommen. Die Parteilinie war maßgeblich für alle politischen Entscheidungen. Wie sie aussah, hing zum einen von Stalin selber ab. Zum anderen nahmen die Gruppierungen von Parteispitzenfunktionären Einfluss, die gerade in seiner Gunst standen. Indikativ für die reale Macht einzelner politischer Funktionäre war in der spätstalinistischen Sowjetunion ihre Zugehörigkeit zu möglichst vielen Gremien der Parteispitze. Stalin entschied nach eigenem Gutdünken, wer wann welchem Gremium angehören sollte. Die Zusammensetzung des Politbüros und die Anzahl von Politbüromitgliedern fluktuierte in den Jahren 1945 – 1949 so sehr, dass Gorlizki von mehreren Politbüros spricht, die gleichzeitig Macht ausübten.200 Bereits seit dem Bürgerkrieg gelangten ausschließlich Funktionäre der VKP (b) in Regierungsämter.201 Ein zentrales Herrschaftsinstrument war also die Vereinigung von Partei- und Staatsämtern in einer Person. Umgekehrt mussten Parteispitzenfunktionäre keine Regierungsämter bekleiden, um in der Parteispitze an politischen Entscheidungen maßgeblich beteiligt zu sein. Dies bedeutete, dass die Volksvertreter nicht durch die Bevölkerung gewählt, sondern innerhalb der Parteihierarchie bestimmt wurden. Die faktische Überschneidung von Partei und Regierung wird von Rigby als distinktives Merkmal des sowjetischen Regierungssystems bestimmt. Dafür prägte er den Begriff der »mono-organisationalen Gesellschaft«. »It is a society, in which most activities, despite significant traditional and market survivals are directly managed by innumerable organisations or bureaucracies, all of which are linked up in a single organisational system.«202

Wie eigentlich Staatsmacht und Parteimacht zusammenwirkten, erklärt der 1948 erschienene Sonderband der Großen Sowjetenzyklopädie mit einem Stalinzitat: »›Die Kommunistische Partei ist die grundlegende, führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats‹ (Stalin, Fragen des Leninismus, 11. Ausgabe, S. 120), die die Tätigkeit aller gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen lenkt. Die Parteiführung sorgt für die Richtigkeit von Inhalt und Richtung der Arbeit der Sowjets. Die kommunistische Partei ist die regierende Partei, aber sie ersetzt nicht die Räte. Sie führt 200 Gorlizki, Y.: The Politburo and Decision Making in the Post War Years, in: Europe-AsiaStudies Jg. 53 (2001), 2, S. 291 – 312. 201 Vgl. Torke, H. J.: Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 302. 202 Rigby, T. H.: The Changing Soviet System. Mono-Organisational Socialism from its Origins to Gorbachevs Restructuring. Aldershot, 1990, S. 91.

Der sowjetische Staatsaufbau und politische Strukturen in Leningrad bei Kriegsende

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den Staat durch ihre Mitglieder in den Arbeiterdeputiertenräten, indem sie sich auf das grenzenlose Vertrauen stützt, das das Volk zur Parteileitung hegt […].«203

Wie hier deutlich wird, war das eigentlich zentrale Mittel der Machtausübung die Vereinigung von Partei- und Regierungsämtern auf Einzelpersonen. Die Wahl der politischen Machthaber durch eine breitere Bevölkerung wird in dieser Argumentation durch das angeblich »grenzenlose Vertrauen« der Bevölkerung in die Parteileitung ersetzt. Lokale Machtstrukturen Auf lokaler Ebene finden sich analoge Organisationsstrukturen von Partei- und Regierungsorganen. Den Unterbau der Partei bildeten die örtlichen Parteiorganisationen der Kreise (kraj), Bezirke (okrug), Städte (gorod) und Gebiete (oblast’). Leningrad hatte für das Stadtgebiet und die Leningradskaja oblast’ jeweils eigene Partei-Abteilungen: das Gorkom (gorodskoj komitet, also Stadtkomitee) und das Obkom (oblastnoj komitet, also Gebietskomitee). Peltzer fasst ihr Zusammenwirken wie folgt zusammen: »Die theoretisch höchste Autorität stellte die alle zwei Jahre zusammentretende Parteikonferenz dar. Wirkliche Macht hatten allerdings nur die Parteikomitees. Sie können als eine Art Zentralkomitee auf regionaler Ebene bezeichnet werden. Das Leningrader Obkom bestand aus 98 Mitgliedern und 47 Kandidaten, das Gorkom Leningrads aus 87 Kandidaten und 35 Mitgliedern. Das Plenum von Gorkom und Obkom trat in monatlichen Abständen zusammen, die gesamte Gebietsparteiorganisation jährlich. Dagegen traf sich das Gorkom-Büro – eine Art Politbüro Leningrads – wöchentlich; es bestand aus elf Mitgliedern und zwei Kandidaten.«204

In den Zuständigkeitsbereich des Gorkom-Büros fielen alle parteiinternen Angelegenheiten, alle Fragen des öffentlichen und politischen Lebens, auch Parteiausschlüsse und Einträge in Kaderakten, Verweise oder Tadel. An der Spitze des Büros stand der Erste Sekretär : »Der mächtigste Mann Leningrads samt Oblast’ war zugleich Erster Sekretär von Gorkom und Obkom. Diese Stellung war mit umfangreichen Machtkompetenzen 203 Sojuz Sovetskich Socialisticˇeskich Respublik. Sonderband zur 1. Auflage der Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija, 1948, S. 27. Partei und Regierung werden in unterschiedlichen Kapiteln dargestellt: Die Regierungsorgane werden systematisch im zweiten Kapitel behandelt. Kapitel 18 beinhaltet einen historischen Abriss über die Geschichte der Partei, ohne das Zusammenwirken von Partei- und Regierungsorganen zu thematisieren. Die Autoren sind bestrebt, die »demokratische Ausrichtung« des gesamten Systems möglichst zu unterstreichen und Sachverhalte, die zur postulierten »Demokratie« in Widerspruch standen, zu verschleiern. 204 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 24. Peltzer bezieht sich hier auf Angaben von Cattell. Vgl. Cattell, D. T.: Leningrad: a case study of Soviet Urban Government. New York, 1968, S. 45 f.

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ausgestattet: Als Vorsitzender des Büros oblag ihm die Oberaufsicht über alle 16 Leningrader Stadtbezirke (rajon) und deren 16 Parteikomitees (rajkom); dazu kamen die ›Grundorganisationen‹ (pervicˇnye partijnye organizacij), die das Parteifundament bildeten. Der Erste Sekretär war allerdings in seiner durch ihre Machtfülle exponierten Position auch immer gefährdet, für Verfehlungen verantwortlich gemacht oder Opfer von Kurswechseln zu werden.«205

Auf der Bezirksebene war die Leningrader Parteiorganisation in den sogenannten Rajkom (rajonnye komitety, also Bezirkskomitees) organisiert. Diese waren analog zum Gorkom aufgebaut und in den jeweiligen Stadtbezirken für kulturelle, politische und wirtschaftliche Einrichtungen verantwortlich. Dem Ersten Sekretär des Rajkom standen (wie im Gorkom und Obkom) vier bis fünf Sekretäre zur Seite: der Zweite Sekretär, ein Sekretär für Kaderangelegenheiten, ein Sekretär für Propaganda, ein Sekretär für Sowjet- Gewerkschafts- und Komsomolangelegenheiten. Nominell zuständig für die Verwaltung der Stadt war der staatliche Verwaltungsapparat. Er agierte über Exekutivkomitees der Gebiets- und Stadtverwaltung (oblastnoj ispolnitel’nyj komitet, also Oblispolkom und gorodskoj ispolnitel’nyj komitet, also Gorispolkom). Peltzer bezeichnet sie aber als »bloße Transmissionsriemen« der Parteientscheidungen.206 Verwaltungs- und Parteiapparat waren eng verzahnt, in vielen Fällen wurden von einer Person mehrere Ämter ausgeführt. Dies garantierte, dass in den Sowjets die Parteientscheidungen auch umgesetzt wurden. Ideologische Einflussnahme Da alle hier untersuchten Felder der Historisierung institutionell von Parteistrukturen vertreten wurden, soll hier daran erinnert werden, welche Rolle die politische Indoktrinierung mit den Mitteln von Agitation und Propaganda in der Sowjetunion der späten 40er-Jahre spielte. Beide Begriffe werden in der Großen Sowjetenzyklopädie von 1949 gemäß einer Definition von Lenin erklärt.207 Demnach war es Aufgabe der Propaganda, viele Ideen zu verbreiten, die in ihrer Komplexität nicht von allen sofort erfasst werden konnten. Im Unterschied dazu sollte die Agitation ein zentrales Element eines Sachverhaltes hervorheben und emotional aufbereiten, um es auch den breiten Massen verständlich nahezubringen und diese gleichzeitig zu emotionalisieren. Dabei war es die Aufgabe der Parteiorganisationen vor Ort, Agitatoren auszuwählen und auszubilden: »Zur besseren Organisation der politischen Arbeit in den Massen schließen sich die 205 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 25. 206 Ebenda, S. 26. 207 Agitacija: Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija. 2 Aufl.1949 – 1958, S. 295 – 302 (Spaltenzählung), hier 295.

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Agitatoren in Agitkollektiven zusammen, die in den Grundorganisationen der Partei gebildet werden.«208 Die strukturellen Voraussetzungen waren für die gesellschaftliche Bearbeitung der Kriegserinnerung in Leningrad von entscheidender Bedeutung. Die Agitpropabteilung der Leningrader Parteiorganisation kontrollierte alle Vorgänge, die mit der Erinnerung an die Leningrader Blockade im öffentlichen Raum verbunden waren. Hier wurden Drehbücher für Filme, Erzählungen und Romane gelesen, bewertet, ihre Publikation befürwortet oder abgelehnt und ideologische Korrekturen vorgenommen. Es war auch die Partei, die entschied, welche Organisationen sich mit der Historisierung der Blockade beschäftigen sollten. Partei und Staat wirkten gesellschaftsweit zusammen und leiteten nicht nur die Produktion und Verteilung aller Güter, sondern versuchten auch Sozialisation und moralische Führung der Gesellschaftsmitglieder zu steuern und waren sowohl für das Militär als auch für die innere Ordnung zuständig. Dabei spielte die Ideologie eine wichtige, verbindende Rolle. Rigby betont: »What is peculiar to the mono-organisational society is that all three of these phenomena – the organisational culture, the political legitimation and the socialisation of individuals – come together in a single, purportedly comprehensive ideology.«209

Alle Änderungen politischer Strategien mussten also ideologische Wandlungen bewirken und umgekehrt. Dabei wurden Wechsel in der ideologischen Parteilinie nicht selten vertuscht, indem man Vertreter der ›alten Linie‹ als Abweichler deklarierte, wenn ihre Positionen nicht mehr zur aktuellen Realpolitik passten oder von neuen Emporkömmlingen in der Parteihierarchie abgelehnt wurden. Solche Prozesse kamen in der Leningrader Affäre zum Tragen und wirkten sich maßgeblich auf die historiographische und politische Auslegung der Blockade in den folgenden Jahrzehnten aus. In der Praxis der Machtausübung und in der konkreten Geschichtspolitik wirkten jedoch, zusammen mit der Verstrickung der Partei- und Sowjetstrukturen, auch andere Faktoren. Die von oben vorgegebene politische Linie konnte immer nur als allgemeiner Leitfaden für die Arbeit vor Ort dienen, der von Einzelpersonen angewandt und interpretiert wurde. Die Entscheidungen, die von einzelnen Zensoren oder einzelnen Funktionären getroffen wurden, lassen sich daher nicht immer als direkte Umsetzung der ›politischen Linie‹ verstehen. Das Schaubild210 zeigt schematisch die ideologische Einflussnahme innerhalb der politischen Strukturen und auf die Bevölkerung. Der schwarze Pfeil, der die 208 Ebenda, S. 297. 209 Rigby (1990): The Changing (wie Anm. 202), S. 87. 210 In der Darstellung orientiert sich das Schaubild an Bütow, H. v.: Länderbericht Sowjetunion. München, 1986, S. 160.

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Weitergabe einer ideologischen Grundlinie von den oberen Parteigremien an die darunterliegenden Strukturen symbolisieren soll, ändert seine Farbe von schwarz zu grau. Dies soll zeigen, dass sich die Inhalte dieser ideologischen Grundprinzipien auf ihrem Weg durch die Institutionen durchaus ändern oder abschwächen konnten. Die von oben nach unten schwächer werdende Färbung des Sowjetapparates deutet an, dass in den niedrigeren Gremien, wie dem Stadtsowjet, auch Parteilose beschäftigt waren. Die Bevölkerung ist in Form verschieden schattierter Figuren dargestellt, um zu zeigen, dass sich Einzelne in ihrer Gesinnung unterschieden. Ihre jeweilige Größe soll Unterschiede im sozialen Status darstellen. Auch die strukturelle Einbindung Einzelner in verschiedene gesellschaftliche Institutionen variiert. Schwarz gefärbte Figuren stehen für Parteimitglieder, die in allen gesellschaftlichen Strukturen tätig waren und auf ihr Umfeld ideologisch Einfluss nahmen. Dabei konnten ihre Vorstellungen durchaus voneinander abweichen. Das Schema zeigt die Gesamtsituation der ideologischen Beeinflussung in der Sowjetunion. Leningrad nahm jedoch als ›zweite Hauptstadt‹ in diesem Gefüge eine Sonderstellung ein. So waren viele der Leningrader Parteistrukturen direkt einer analogen Moskauer Struktur untergeordnet. Die enge Verknüpfung von Partei- und Sowjetstrukturen führte zu unmittelbaren Wechselwirkungen unter den verschiedenen Politikfeldern. Dies hatte zur Folge, dass sich Machtkämpfe in der sowjetischen Führungsspitze unmittelbar auf die Literaturpolitik, die Geschichtspolitik und letztendlich auf das Schicksal der Kulturschaffenden auswirkten. Rigby resümiert: »Since the ›production‹ and ›distribution‹ of artistic values is directed by the same organisational system that is responsible for, inter alia, material production, the civic training of youth, and national defense, the systems manager will naturally be concerned that the impact of their artists on, say, work motivation, acceptance of existing authority patterns, or attitudes to military service should be entirely positive.«211

Die Ursachen für die Zensur in der Sowjetunion lagen also in Form und Aufbau des Systems. Hinzu kam, dass die Zensoren durch ihre Arbeit ihre eigene Legitimität rechtfertigten. Trotz der Selbstzensur der Autoren mussten sie die ihnen vorliegenden Texte zensieren und auch zensurwürdige Inhalte finden. Dies unterstreicht Bljum in seiner Analyse der Funktionen des sowjetischen Zensursystems: »Each line was scrupulously examined and the text was subjected not only to the excison of ›inconvenient parts‹, but also to substancial changes, and, not infrequently, to censors’ additions. For this reason, none (or practically none) of the texts published in Soviet conditions can be considered authentic or in full accord with the will and 211 Rigby (1990): The Changing (wie Anm. 202), S. 87.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

original idea of the author. Every text is a collective product, with the state as one of its collective authors.«212

Dabei sind nicht immer inhaltliche Gründe dafür zu finden, dass die einen Arbeiten der Zensur zum Opfer fielen, während andere unbehelligt blieben oder sogar intensiv verbreitet wurden. Subjektive Vorlieben einzelner Zensoren oder Stalins selber, der Auftrag, zensurwürdige Inhalte zu finden, interne Anweisungen und andere Faktoren konnten sich in unterschiedlicher Weise für oder gegen das Erscheinen eines Werkes auswirken. Wie Yurchak betont, ist die pauschale, wertende Trennung der sowjetischen Kulturproduktion in zensiert und unzensiert allerdings nicht hilfreich: »[…] it still reduces Soviet reality to a binary division between the state (censored) and the society beyond it (uncensored), failing to account for the fact that many of the common cultural phenomena in socialism that were allowed, tolerated or even promoted within the realm of the officially censored were nevertheless quite distinct from the ideological texts of the party.«213

Dies bedeutet auch, dass es, trotz Zensur, für die Autorinnen und Autoren in der Regel Spielräume gab, ideologische Vorgaben in unterschiedlicher Weise umzusetzen.

2.

Leningrad in der Nachkriegszeit: allgemeine Lage und ereignisgeschichtlicher Hintergrund

Am 27. Januar 1944 wurde Leningrad nach 827 Tagen von der Belagerung durch die Wehrmacht befreit.214 Dieser Erfolg der Roten Armee wurde von Stalin am 23. Februar 1944 als »Großer Sieg vor Leningrad«215 bezeichnet, eine Formulierung, die sowohl für die publizistische als auch für die historiographische Bearbeitung der Leningrader Kriegsgeschichte prägend werden sollte. Die Zerstörungen in der Stadt waren massiv. Bubis und Ruble geben an, dass 16 Prozent des Wohnraums in Leningrad zerstört gewesen seien.216 Die Stim212 Blyum (Bljum) / Foote (2003): A self-administered (wie Anm. 153), S. 6. 213 Yurchak, A.: Everything was forever, until it was no more. The last Soviet generation. Princeton, NJ [u.a.], 2006, S. 6. 214 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 170. 215 Kalendarova, V.: Formiruja pamjat’. Blokada v Leningradskich gazetach i dokumental’nom kino v poslevoennoe desjatiletie, in: Loskutova, M. (Hg.): Pamjat’ o blokade: Svidetel’stva ocˇevidcev i istoricˇeskoe soznanie obsˇcˇestva. Materialy i issledovanija. Moskva, 2006, S. 201 – 229, hier 278. 216 Bubis, E.; Ruble, B.: The Impact of World War II on Leningrad, in: Linz, S. (Hg.): The Impact of World War II on the Soviet Union. Totowa, 1985, S. 189 – 206, hier 189. Weitere Angaben zu den verheerenden Zerstörungen finden sich bei Koval’cˇuk: Koval’cˇuk (2005): 900 dnej

Leningrad in der Nachkriegszeit

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mung in Leningrad stand im Zeichen des Wiederaufbaus und wird für die erste Zeit nach dem Krieg als außerordentlich positiv beschrieben. In der Zeitschrift Leningrad erschienen Bilder von Frauen beim Wiederaufbau der Stadt217, vom Entfernen des Bretterverschlages vom ›Ehernen Reiter‹, einem Wahrzeichen der Stadt,218 und einem von der Front heimgekehrten Familienvater, der sich beim Sonntagsspaziergang in der Begeisterung seiner Frau und Kinder sonnt219. In den Jahren 1945 und 1946 wurden »mehr als 700 Millionen Rubel in den Wiederaufbau der Stadt gesteckt und 1,6 Millionen Quadratmeter Wohnraum im traditionellen Stadtzentrum geschaffen«220. Ebenso schwerwiegend wie die Zerstörung der Bausubstanz waren die Auswirkungen der Belagerung auf die Zusammensetzung der Leningrader Bevölkerung. Ruble beschreibt eine »große soziale und demographische Transformation« Leningrads, die sich unmittelbar nach dem Ende des Krieges vollzog: »By September 1945, Leningrads wartime population had doubled with the arrival of rural in-migrants […] and demobilized soldiers […]. In other words, a large number, perhaps even a majority, of the city’s residents had not lived in the city before the outbreak of hostilities, had only limited personal or familial ties to the city, and, as a rule, had fewer work skills at the beginning of this migratory process than did the city’s prior inhabitants.«221

Trotz oder gerade wegen der vielen neu zugewanderten Einwohnerinnen und Einwohner waren bei großen Teilen der alteingesessenen Leningrader Bevölkerung Stolz und ein spezieller Leningrad-Patriotismus zu spüren. Dieser äußerte sich auch in einer besonders hochachtungsvollen Haltung gegenüber den örtlichen Parteiführern, die während des Krieges in Leningrad gewirkt hatten. In der Kriegspropaganda war gerade dieser Lokalpatriotismus geschürt worden, um die Bevölkerung zum Einsatz für ihre Stadt zu motivieren. Die große Neuzuwanderung nach Leningrad führte auch dazu, dass es einen nicht geringen Bevölkerungsanteil gab, der über die Leningrader Kriegsgeschichte nicht aus eigenem Erleben informiert war, der aber für den Wiederaufbau mobilisiert werden musste.222

217 218 219 220 221 222

(wie Anm. 29), S. 212 f sowie Glantz: Glantz (2002): The Battle (wie Anm. 39), S. 469 f. Zu bleibenden Spuren siehe Panagiotidis, J.: Die Spuren der Blockade, in: Schlögel, K.; Schenk, F. B.; Ackeret, M. (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte2007, S. 243 – 256. Pachomov, A.: Leningradki. Zeichnung, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. 1. Entfernung des Bretterverschlages um den ehernen Reiter. Titelbild, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. Titel. Pachomov, A.: Snova doma. Litographie, in: Leningrad (1946), 9, S. Titelinnenseite. Ruble, B. A.: Leningrad: Shaping a Soviet City. Oxford, 1990, S. 50. Für eine ausführliche Behandlung des Wiederaufbaus der Stadt siehe Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 89 – 131. Ruble (1990): Leningrad: Shaping (wie Anm. 220), S. 51. Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 182 f.

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Die Leningrader Parteiorganisation war besonders stark vom demographischen Wandel betroffen. Nach dem Krieg hatte sich der Anteil an Parteimitgliedern aus Leningrad beträchtlich gemindert: »Changes within the structure of the Leningrad Communist Party and the city’s governing elite were even more dramatic than those in the population at large. During the first two years of the war, the membership of the city party organisation dropped by nearly 75 % […]. When Sergei Kirov died [1934, Anm. A.Z.], one soviet communist from ten was from Leningrad. By the end of World War II, only two percent of the allunion party-membership hailed from Leningrad.«223

In den folgenden Jahren pendelte sich der Prozentsatz an Leningraderinnen und Leningradern in der Zusammensetzung der Partei bei circa drei Prozent ein. Ungeachtet dieser geschwächten Position der Leningrader Parteimitglieder im Gesamtzusammenhang der VKP (b) blieb ihr Anteil in der Führungsspitze zunächst unverändert hoch. Die starke Position der Leningrader in der Führungsspitze stand im Missverhältnis zu ihrer schwachen Präsenz in der Parteibasis: Den höchsten Leningrader Parteifunktionären fehlte zunehmend die Machtbasis. Mit Andrej Zˇdanov stand ein Leningrader direkt hinter Stalin an der Spitze des sowjetischen Staates: Zˇdanov (geboren 1889) war seit 1912 in der revolutionären Bewegung tätig gewesen und begann seine politische Karriere als Parteisekretär auf regionaler Ebene.224 Von Stalin gefördert, stieg er in den 1930er-Jahren in die sowjetische Machtzentrale auf und war unmittelbar an den Säuberungsaktionen beteiligt. Nach der Ermordung Kirovs 1934 trat Zˇdanov dessen Nachfolge als Leningrader Gorkom- und Obkom-Sekretär an. Während des Krieges war er Mitglied des Militärrates der Leningrader Front und wurde ab 1944 von Stalin mit wichtigen Aufgaben im CK betraut. Besonders folgenschwer war die von ihm in der Nachkriegszeit vertretene repressive Kulturpolitik. Zˇdanovs Tod 1948 zog eine erdrutschartige Verschiebung der Machtverhältnisse in der sowjetischen Führungsspitze nach sich.225 Ein weiterer bedeutender Leningrader war der herausragende Ökonom Nikolaj Voznesenskij, seit 1938 Vorsitzender des Gosplan-Ministeriums und ab 1939 CK-Mitglied. Im Jahr 1941 wurde er zum ersten Stellvertreter des Vorsit223 Ruble, B. A.: The Leningrad Affair and the Provincialization of Leningrad, in: Russian Review Jg. 42 (1983), 3, S. 301 – 320, hier 308 f. 224 Vgl. Zˇdanov, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 374 f. 225 Ausführlicher zu Bedeutung und Tod Zˇdanovs: Pichoja (2000): Sovetskij Sojuz (wie Anm. 165), S. 46 – 50. Siehe auch Boterbloem, N. C.: The Death of Andrei Zhdanov, in: The Slavonic and Eastern European Review Jg. 80 (2002), 2, S. 267 – 287 sowie die ZˇdanovBiographie: Boterbloem, K.: The Life and Times of Andrei Zhdanov, 1896 – 1948. Montreal, 2004.

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zenden der sowjetischen Regierung. Während des Krieges verstärkte sich sein Einfluss weiter, denn er war als eines von fünf Mitgliedern im staatlichen Verteidigungskomitee (GKO), dem führenden Gremium der Kriegszeit, vertreten. 1947 wurde Voznesenskij Politbüromitglied. Stalin soll in ihm seinen Nachfolger in der Staatsführung gesehen haben.226 In Leningrad selber hatte seit 1946 Petr Sergeevicˇ Popkov als Erster Sekretär des Gorkom und Obkom die zentralen Funktionen in der Parteihierarchie inne. Popkov war 1903 geboren. Seine Karriere im Parteiapparat hatte sich seit 1937 besonders intensiv entwickelt.227 Im Sommer 1946 stellte das Leningrader Gorkom einen Generalentwicklungsplan vor. Leningrad erhielt jedoch nicht genug Geld, um diesen umzusetzen. Der Plan liefert Anhaltspunkte für das Bestreben, den traditionellen Leningrader Industriezweig, die Konsumgüterindustrie, besonders zu fördern.228 Dies stand nicht im Einklang mit der allgemeinen Entwicklung der sowjetischen Industrie, die vorrangig auf dem Gebiet der Schwerindustrie stattfinden und damit an die Vorkriegszeit anknüpfen sollte. Diese wirtschaftspolitische Tendenz wurde vereinzelt auch als Ursache für die wachsende Spannung zwischen der Moskauer Machtzentrale und der Leningrader Parteiorganisation angesehen.229 Die Zeitschriftenverordnung Die Zeitschriftenverordnung vom Sommer 1946 war ein erster Höhepunkt der von Andrej Zˇdanov inszenierten Phase spätstalinistischer Kulturpolitik, die als Zˇdanovsˇcˇina bekannt wurde. Diese beendete die kulturpolitische Atempause des Krieges, die den Kulturschaffenden im Dienste der Mobilisierung relative Freiheit der Darstellung gewährt hatte. Die Maßstäbe für ideologisch ›richtige‹ Darstellungen wurden verschärft und streng auf die Grundsätze des Sozialistischen Realismus zurückgeführt, Abweichungen mit Repressionen und Diffamierungen geahndet.230 Die Leningrader Kulturschaffenden waren von diesen Repressionen besonders stark betroffen: Am 14. August 1946 gab das CK die sogenannte Zeitschriftenverordnung heraus, die die literarischen Zeitschriften Zvezda231 und Leningrad, die von der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes herausgegeben wurden, scharf kritisierte. Zvezda 226 Ohne Autor : O tak nazyvaemom Leningradskom dele, in: Izvestija CK KPSS (1989), 2, S. 126 – 134, hier 127. ˇ istjakov, A. J.: Popkov, in: Margolis, A. D.; Ansberg, O. A.; Antonov, V. V. (Hg.): Sankt227 C Peterburg. E˙nciklopedija. Sankt-Peterburg, Moskva, 2006, S. 692 f. 228 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 46. 229 Vgl. Hahn, W.: Postwar Soviet Politics. The Fall of Zhdanov and the defeat of moderation, 1946 – 53. Ithaca NY, 1983, S. 94. 230 Vgl. Zˇdanov-Ära, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 375 f.. 231 dt.: der Stern

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konnte im Folgenden nur noch stark eingeschränkt erscheinen, Leningrad gar nicht mehr herausgegeben werden. In dieser kulturpolitischen Initiative werden tiefe Risse im Verhältnis zwischen Parteizentrale und Leningrader Parteiorganisation sichtbar. Am Beginn der neuen kulturpolitischen Entwicklung stand zunächst die Idee einer Erneuerung des sowjetischen ideologischen Apparates, die sogar die Möglichkeit einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Kultursektor in sich zu tragen schien232 : »Zu Beginn des Jahres 1946 wurde der sowjetischen Führung klar, dass der ideologische Apparat seinen Aufgaben nicht gewachsen ist. Dies führte zum Gedanken an die Notwendigkeit einer ernsthaften Reorganisation seiner Struktur und Veränderungen im Inhalt der Arbeit des Agitprop entsprechend der veränderten inneren und internationalen Lage. […] Zˇdanov wurde anvertraut, diese Reorganisation zu leiten, da er über sehr große Erfahrung auf diesem Gebiet verfügte und fähig war, die Wünsche des Führers zu erfassen und streng zu befolgen.«233

Im Entwurf eines Maßnahmenkataloges, den der Leiter des Führungsorgans für Agitation und Propaganda beim CK, Aleksandrov, am 14. April 1946 an Zˇdanov schickte, sind sowohl genaue Angaben zu Gehaltserhöhungen und Auflagensteigerungen von Zeitschriften als auch Verbesserungsvorschläge zur Zugänglichkeit und Veröffentlichung ausländischer wissenschaftlicher Schriften und Literatur ausgeführt.234 Doch bereits im Vorfeld dieses Projektes ließ Stalin bei einer Politbürositzung am 13. April Kritik an den sowjetischen Zeitschriften verlauten. Dabei stellte er nach einer Äußerung Zˇdanovs bereits eine Hierarchie der besten und schlechtesten Zeitschriften auf: »Genosse Stalin nannte als schlechteste der dicken Zeitschriften ›Novyj mir‹, gefolgt von ›Zvezda‹. Als verhältnismäßig gute oder beste Zeitschriften schätzt Stalin ›Znamja‹ […] und danach ›Oktjabr‹ ein. Genosse Stalin wies darauf hin, dass es für vier Zeitschriften nicht ausreichend talentierte Arbeiten, nicht genügend bedeutende Arbeiten gibt, und das zeige bereits, dass wir zu viele Zeitschriften haben […].«235

Dass sich der bevorstehende Schlag gegen Anna Achmatova und Michail Zosˇcˇenko richten würde, ließ sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht vorhersehen.236 Noch im Juni wurde Zosˇcˇenko als Redaktionsmitglied von Zvezda bestätigt. Gleichzeitig erhielt die Zeitschrift die Auflage, sich weniger mit his232 Babicˇenko, D. L.: Pisateli i cenzory. Sovetskaja literatura 1940-ch godov pod politicˇeskim kontrolem CK. Moskva, 1994, S. 116. 233 Glotova, O. A.: »Ucˇityvaja nalicˇie krupnych nedostatkov v postanovke propagandy i agitacii…«. Dokumenty CK VKP(b) o reorganizacii ideologicˇeskogo apparata partii. 1946 g., in: Istoricˇeskij Archiv (2003), 5, S. 3 – 27, hier 3. 234 Die überlieferten Teile des Dokumentes sind veröffentlicht bei Ebenda, S. 5 – 18. 235 Zˇdanov, zit. nach Babicˇenko (1994): Pisateli i (wie Anm. 232), S. 117. 236 Ebenda, S. 118.

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torischen Motiven aufzuhalten und stärker auf aktuelle Fragen der sowjetischen Gegenwart zu konzentrieren.237 Am 9. August 1946 wurde im Orgbüro ein Bericht von Aleksandrov und seinem Stellvertreter Egolin besprochen, in dem Achmatova und Zosˇcˇenko mit ihren Arbeiten sowie einer Reihe weiterer Texte, die in den Leningrader Literaturzeitschriften veröffentlicht worden waren, schwer kritisiert wurden. Am 14. August folgte eine Verordnung, die verfügte, dass grundlegende Veränderungen in der Redaktion der Zeitschrift Zvezda vorgenommen werden sollten, um »[…] die in dieser Verordnung angezeigten Fehler und Mängel der Zeitschrift zu beheben, die Linie der Zeitschrift zu begradigen und für ein hohes ideelles und künstlerisches Niveau der Zeitschrift zu sorgen, indem den Werken von Zosˇcˇenko, Achmatova und ihnen ähnlichen das Erscheinen in der Zeitschrift verwehrt wird.«238

So wurde der stellvertretende Vorsitzende der Propagandaleitung am Zentralkomitee Egolin, der mit Aleksandrov gemeinsam den Bericht über die ›Verfehlungen‹ von Zvezda und Leningrad vorbereitet hatte, als neuer Chefredakteur von Zvezda eingesetzt. Das Erscheinen der Zeitschrift Leningrad wurde aufgrund der Verordnung ganz und gar eingestellt: Die Bedingungen für das Erscheinen zweier Literaturzeitschriften seien nicht gegeben und alle literarischen Kräfte in Leningrad sollten um Zvezda herum konzentriert werden.239 In unserem Zusammenhang ist interessant, dass, obwohl mehrfach der Hinweis erfolgte, dass sich die Literatur mit Gegenwartsfragen zu beschäftigen habe, die am meisten geschmähten Leningrader Literaten nicht gerade diejenigen waren, in deren Arbeit die Erinnerung an die Blockade eine wesentliche Rolle spielte. Achmatova, die die meiste Zeit der Belagerung in der Evakuierung verbracht hatte und die Blockade in ihrem Werk kaum behandelte, wurde sogar von Prokof ’ev Stalin gegenüber wegen ihres Leningrad-Gedichtes »Pervaja dal’nebojnaja« gelobt, worauf Stalin antwortete, dass mehr als ein, zwei gute Gedichte in ihrem Werk wohl nicht zu finden seien.240 Die Kritik richtete sich insbesondere dagegen, dass die Stimmung in ihren Gedichten zu negativ und viele der verwendeten Bilder auf vorrevolutionäre, religiöse oder gar erotische Kontexte verwiesen. Zosˇcˇenko wurde insbesondere für seine satirischen Darstellungen des sowjetischen Alltags gerügt – als Paradebeispiel dafür diente seine Erzählung »Abenteuer eines Affen«, die ursprünglich als Kindergeschichte 237 Ebenda, S. 121. 238 O zˇurnalach ›Zvezda‹ i ›Leningrad‹. Iz postanovlenija ZK VKP (b) ot 14. avgusta 1946, in: Ohne Herausgeber : Za bol’sˇevistskuju idejnost’. Zbornik osnovnych postanovlenij CK VKP (b) i vystuplenij tov. A. A. Zˇdanova po ideologicˇeskim voprosam. Riga, 1951, hier 6. 239 Ebenda, S. 7. 240 Babicˇenko (1994): Pisateli i (wie Anm. 232), S. 124.

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veröffentlicht worden war. Auch die Arbeiten anderer Autoren, die sich ansatzweise mit den Zuständen in Leningrad während der Belagerung und mit dem Krieg in der Stadt beschäftigten, wurden nicht zum Ziel dieser ideologischen Kampagne. Stattdessen gerieten solche Arbeiten ins Kreuzfeuer der Kritik, die einen humorvollen und ironischen Blick auf den Kriegsalltag warfen. So beispielsweise die Kurzgeschichte »Zwischenfall über Berlin«241 von Varsˇavskij und Rest, die 1946 in der Zeitschrift Leningrad erschien und in der ein Bomberpilot karikiert wird, der bei einem Einsatz eine Flasche Bier in seiner Kleidung versteckt.242 Diese platzt und der Pilot glaubt sich verwundet, bis das Missverständnis nach der Landung aufgeklärt wird.243 Andrej Zˇdanov resümierte bei seiner Rede über die Zeitschriften Zvezda und Leningrad vor den Leningrader Schriftstellern und dem versammelten Leningrader Parteiaktiv : »Genossen, was fordert und will das Zentralkomitee? Das Zentralkomitee will, dass das Leningrader Aktiv und die Leningrader Schriftsteller genau verstehen, dass eine Zeit gekommen ist, in der es nötig ist, unsere ideelle Arbeit auf ein hohes Niveau anzuheben. […] Unsere Leute sollen gebildet und ideell versiert sein, mit hohen kulturellen und moralischen Anforderungen und Geschmack. Für dieses Ziel ist es nötig, dass unsere Literatur, unsere Zeitschriften sich nicht vor den Aufgaben der Gegenwart drücken, sondern der Partei und dem Volk helfen, die Jugend im Geiste der selbstlosen Hingabe an die sowjetische Gesellschaftsordnung zu erziehen, im Geiste des selbstlosen Dienstes im Interesse des Volkes.«244

Das Zitat macht deutlich, dass, was die literarischen und inhaltlichen Fragen der sowjetischen Nachkriegsliteratur anging, die Kulturschaffenden erneut auf die rein utilitaristische Linie des Sozialistischen Realismus eingeschworen werden sollten. Es konnte kein ›l’art pour l’art‹ geben. Negative Stimmungen, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit waren verpönt. Literatur hatte in allen Aspekten der Propagierung der sowjetischen Staatsordnung zu dienen und alles Negative, Frag- und Kritikwürdige außer Acht zu lassen. Diese Grundsätze gelten auch für die weitere Entwicklung des Kriegsgedenkens in der Literatur. Bourdieu schätzt den ›Schdanovismus‹ generalisierend als Versuch von Kleinintellektuellen ein, ihr geringes spezifisches Kapital aufzubessern.245 In Anbetracht der historischen Umstände wird jedoch deutlich, dass Zˇdanov selber keineswegs mit dem geringen Kapital eines mittelmäßigen Kulturschaffenden, russ.: Slucˇaj nad Berlinom Varsˇavskij, S.; Rest, B.: Slucˇaj nad Berlinom, in: Leningrad (1946), 3 – 4, S. 23 f. Egolin (1947): Za vysokuju (wie Anm. 189), S. 20. Zˇdanov, A. A.: Doklad t. Zˇdanova o zˇurnalach ›Zvezda‹ i ›Leningrad‹, in: Ohne Herausgeber (Hg.): Za bol’sˇevistskuju idejnost’. Zbornik osnovnych postanovlenij CK VKP (b) i vystuplenij tov. A. A. Zˇdanova po ideologicˇeskim voprosam. Riga, 1951, S. 8 – 32, hier 31 f. 245 Bourdieu (1997): Das literarische (wie Anm. 157).

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sondern mit der Autorität eines hervorragend positionierten und kapitalstarken Vertreters des Feldes der Macht in das literarische Feld der Sowjetunion intervenierte. Die Ursachen für diese Intervention sind zwar seinen Ambitionen geschuldet, diese liegen aber nicht im literarischen Feld, sondern im Feld der Macht. In der geschichtswissenschaftlichen Literatur wird die Zeitschriftenverordnung und die kulturpolitische Kampagne unter Zˇdanovs Führung als eindeutiges Warnsignal in Richtung der Leningrader Kulturschaffenden, aber auch der Leningrader Parteiorganisation gesehen. Dass die Wahl gerade Zosˇcˇenko und Achmatova traf, lag nach Einschätzung Babicˇenkos maßgeblich darin begründet, dass Zˇdanov bereits vorher mit beiden »gearbeitet« hatte und diese besonders namhafte Vertreter der Leningrader Literaturszene waren. So konnte den Schriftstellern zu verstehen gegeben werden: »[…] da die angesehensten und talentiertesten kritisiert werden, ist es für die mittelmäßigen, überhaupt für jeden, Selbstmord, sich aus dem Fenster zu lehnen.«246 Insgesamt stehen in der historiographischen Bewertung der Vorgänge weit mehr politische Motive Zˇdanovs als literarische oder inhaltliche Fragen im Vordergrund. So kommentiert Clark: »It is entirely possible that it was for political motives that Zˇdanov decided to lead the struggle against the Leningrad intelligentsia (above all), in order to ›cover‹ the Leningrad Party leaders responsible for the ›failure in ideological work‹. By doing so, by taking the matter into his own hands, he removed his political opponents from ideological implementation and simultaneously absolved himself of any suspicion of any ›Leningrad patriotism.‹«247

Wie Clark kommt auch Gromov zu dem Schluss, dass Zˇdanov mit seinem Angriff auf die Leningrader Zeitschriften von Kritik am Gorkom und Obkom Leningrads ablenken wollte.248 Als Ursachen für Zˇdanovsˇcˇina und Zeitschriftenverordnung müssen sowohl machtpolitische Verschiebungen an der Parteispitze gesehen werden, die nichts mit den kritisierten Autorinnen und Autoren und ihren Arbeiten zu tun hatten, als auch agitationspolitische Erwägungen, die zum Ziel hatten, die öffentliche Aufmerksamkeit mehr auf die unmittelbare Zukunft und die Aufgaben der Gegenwart zu lenken, statt sich mit der Kriegsvergangenheit und insbesondere ihren negativen Nebenaspekten zu beschäftigen. So bietet sich bei der Betrachtung der Leningrader Kulturszene in der zweiten Hälfte der 40er-Jahre ein heterogenes Bild: Die wirtschaftliche und infrastrukturelle Lage in der Sowjetunion, und damit auch in Leningrad, besserte sich 246 Babicˇenko (1994): Pisateli i (wie Anm. 232), S. 140. 247 Clark / Dobrenko (2007): Soviet Culture (wie Anm. 184), S. 401. 248 Gromov, E.: Stalin: iskusstvo i vlast’. Moskva, 2003, S. 428.

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innerhalb der ersten drei Nachkriegsjahre sukzessive.249 Die Stadt war im Aufbau begriffen, das kulturelle Leben erholte sich langsam. Viele Leningrader Kultureinrichtungen, aber auch Geschäfte wie das Bücher-Kaufhaus Dom Knigi, das seit 1941 geschlossen gewesen war, wurden 1948 wiedereröffnet.250 Die Kulturschaffenden der Stadt standen jedoch seit 1946 unter erhöhtem Druck. Gleichzeitig verstärkten sich die Spannungen zwischen der Leningrader Parteiorganisation und der Moskauer Parteiführung weiter, bis sie sich 1949 in der Leningrader Affäre entluden. Die Leningrader Affäre Zwischen 1949 und 1952 kam es zu einer Parteisäuberung, von der insbesondere Funktionäre betroffen waren, die aus Leningrad stammten. Im Zuge der sogenannten Leningrader Affäre wurden mehr als 2000 Partei-, Sowjet-, Komsomolund Gewerkschaftsvertreter aus ihren Ämtern entfernt.251 Einige der höchsten Leningrader Vertreter der Parteinomenklatur wurden zum Tode verurteilt, darunter CK-Mitglied A. A. Kuznecov. Die Beziehungen der Leningrader Parteiorganisation zum Moskauer Machtzentrum und Stalin selber waren bereits Anfang 1948 nicht unkompliziert. Dies zeigt eine Grußadresse, die der Leningrader Stadtsowjet gemeinsam mit Vertretern von Partei und öffentlichen Organisationen im Januar 1948 zum 4. Jahrestag der Befreiung Leningrads von der Blockade an Stalin richtete. Vor seiner Entsendung wurde das Schriftstück korrigiert, die gestrichenen Stellen sind hier kursiv gesetzt: »Die Werktätigen der Stadt Lenins, geführt durch die Leningrader Parteiorganisation und Ihre252 treuen Mitkämpfer und Schüler, Gen. Zˇdanov und Gen. Kuznecov, ertrugen ehrenhaft die unerhörten Schwierigkeiten und Entbehrungen der Blockade und zeigten der ganzen Welt ein Beispiel eiserner Standhaftigkeit, bolschewistischer Organisiertheit, Massenheldentums. Mit dem Namen Stalins gingen die Truppen der Leningrader Front in den Kampf, die Arbeiter und Arbeiterinnen des belagerten Leningrads an die Werkbänke [Tippfehler im Original: »[ bcV^[Q]« statt »[ bcQ^[Q]«, Anm. A.Z.] in die durchfrorenen, vereisten Werkshallen, unter der Führung Stalins errangen die Krieger und Werktätigen der Stadt Lenins den großen Sieg. […]«253 249 Gorlizki, Y.; Khlevniuk (Chlevnjuk), O.: Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945 – 1953. Oxford, 2004, S. 69. 1948 hatte die Getreideproduktion wieder ihr Vorkriegsniveau erreicht, die Produktion von Kartoffeln übertraf sogar die Vorkriegsernten. 250 Akademija Nauk SSSR: Kul’turnaja zˇizn’ v SSSR 1941 – 1950. Chronika. Moskva, 1977. 251 Bonwetsch, B.: Die ›Leningrad-Affäre‹ 1949 – 1951: Politik und Verbrechen im Spätstalinismus, in: Deutsche Studien Vierteljahreshefte (1990), 28, S. 306 – 322, hier 309. 252 Beachte: »Ihre« ist im Deutschen groß geschrieben, da es sich als Anrede direkt auf Stalin bezieht. 253 f. 25; op. 18; d. 68, CGAIPD: Grußadresse Januar 1948, S. 5. In der Akte sind zwei Exemplare der Adresse enthalten, sodass sich die Korrekturen in den Formulierungen nach-

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Die Korrekturen lassen darauf schließen, dass bereits Anfang 1948 die Erwähnung von Zˇdanov und Kuznecov selbst in Stalin untergeordneter Rolle als seine »Mitkämpfer und Schüler« als problematisch empfunden und gestrichen wurde. Der Korrektor der Rede scheint jedoch nicht nur bezüglich der Leningrader Führung Bedenken gehabt zu haben, sondern scheut offensichtlich auch eine zu drastische Beschreibung der Arbeitsumstände in Leningrader Fabriken während der Blockade. Ein weiterer, allerdings sehr diskreter Hinweis auf die Zustände im belagerten Leningrad bleibt unverbessert: »Das sozialistische System hat von Neuem seine unermessliche Überlegenheit gegenüber dem kapitalistischen System demonstriert, das Volksmassen zu Hunger, Bedürftigkeit und Entbehrungen verurteilt.«254

In diesem Dokument manifestiert sich, wie Geschichtsbilder auf dem Feld der politischen Kommunikation instrumentalisiert wurden. Teile der ursprünglich intendierten Information wurden offensichtlich im Prozess des Verfassens als nicht opportun genug beurteilt und gestrichen. In vorauseilendem Gehorsam wurde allein Stalin die ›Rettung Leningrads‹ zugeschrieben. In den Parteisäuberungen, die 1949 über die Leningrader Parteiorganisation und ihre prominentesten Vertreter hereinbrechen sollten, zeigte sich, dass derartige Vorsicht bei Weitem nicht übertrieben und unbegründet war. Zum entscheidenden Wendepunkt der Machtverschiebungen an der sowjetischen Führungsspitze wurde der Tod Zˇdanovs aufgrund einer Herzerkrankung am 30. August 1948.255 Für seine Nachfolge kamen sowohl Malenkov als auch Voznesenskij infrage. Die Gruppe Voznesenskij / Kuznecov behielt daraufhin zwar zunächst ihren Einfluss, aber ihr Machtkampf mit der Gruppe Malenkov / Berija verstärkte sich.256 Im Juli 1948 war Malenkov wieder CK-Sekretär geworden und konnte damit seine Machtstellung ausbauen. Vom 10.–20. Januar 1949 fand in Leningrad eine Großhandelsmesse statt, die auf eine separate Initiative der Leningrader Führung zurückging und nicht mit Stalin abgestimmt war. In der Folge wurden Kuznecov, Rodionov und Popkov, vollziehen lassen. Es ist unklar, wer die Adresse verfasst hat und ob die Verbesserungen vom Autor oder von einer weiteren Person stammen. Textstelle im Original, mit Tippfehler, Streichungen in Klammern: »CadUpjYVbp T_a_UQ ýV^Y^Q, ad[_S_UY]lV ýV^Y^TaQUb[_Z `QacYZ^_Z _aTQ^YXQgYVZ, (Y SQiY]Y SVa^l]Y b_aQc^Y[Q]Y Y dhV^Y[Q]Y c_S. 7UQ^_Sl] Y c_S. ;dX^Vg_Sl] ,) b hVbcmo SlUVaWQ\Y ^Vb\lfQ^^lV cadU^_bcY Y \YiV^Yp R\_[QUl Y `_[QXQ\Y SbV]d ]Yad _RaQXVg WV\VX^_Z bc_Z[_bcY, R_\miVSYbcb[_Z _aTQ^YX_SQ^^_bcY, ]Qbb_S_T_ TVa_YX]Q. (B Y]V^V] BcQ\Y^Q i\Y S R_Z S_Zb[Q ýV^Y^TaQUb[_T_ ea_^cQ, i\Y [ bcV^[Q] S `a_]VaXiYV _R\VUV^V\lV gVfQ aQR_hYV Y aQR_c^Ygl _bQWUV^^_T_ ýV^Y^TaQUQ, `_U S_UYcV\mbcS_] BcQ\Y^Q S_Y^l Y cadUpjYVbp T_a_UQ ýV^Y^Q _UVaWQ\Y SV\Y[do `_RVUd)«. 254 Ebenda, S. 6. 255 Mutmaßungen über eine Ermordung Zˇdanovs konnten auch von neueren Studien nicht bestätigt werden. Vgl. Boterbloem (2002): The Death (wie Anm. 225). 256 Pichoja (2000): Sovetskij Sojuz (wie Anm. 165), S. 50.

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die dem Leningrader Kreis um Voznesenskij angehörten, der Fraktionsbildung gegen Moskau beschuldigt, da sie für diese Veranstaltung nicht die Erlaubnis des Ministerrates eingeholt hatten. Gorlizki und Khlevniuk sehen in diesem ›Vergehen‹ einen nicht intendierten Hierarchiebruch: »It is still not clear how, from whom and with what commentaries news of the Leningrad fair was passed on to Stalin. Whatever the source, the fact that the fair had taken place at all without the requisite clearance from above was a cause of great displeasure to Stalin. To make matters worse, the fair could easily have been construed as the result of a deal among a number of leaders with close regional ties.«257

Der zweite Auslöser für die Affäre geht in den Dezember 1948 zurück. Der Leningrader Parteiorganisation wurde in einem anonymen Schreiben die Fälschung von Wahlergebnissen bei der gemeinsamen Parteikonferenz des Leningrader Obkom und Gorkom vom 22.–25. Dezember 1948 vorgeworfen.258 Dabei war es um die Wahl der obersten Parteifunktionäre von Leningrad und dem Leningrader Landkreis gegangen.259 Auf einer CK-Sitzung am 15. 02. 1949 wurde eine Resolution über antiparteiliches und antisowjetisches Verhalten von Popkov, Kuznecov und Rodionov verabschiedet. »Die Vorwürfe im Resolutionstext erinnern in ihrer Formulierung an die Schauprozesse der 30er Jahre: Es ging um antiparteiliches und antisowjetisches Verhalten. Kuznecov, Popkov und Rodionov werden als ›besondere Verteidiger der Interessen Leningrads‹ bezeichnet. Sie hätten sich eine Abweichung von der bolschewistischen Parteilinie zuschulden kommen lassen und versucht, einen Keil zwischen Zentralkomitee und die Leningrader Parteiorganisation zu treiben. Das CK sei umgangen worden, die angegriffenen CK-Mitglieder hätten sich selbst zu ›Paten‹ (sˇefy) Leningrads ernannt und versucht, die Leningrader Parteigruppe von der Partei abzuspalten.«260

Malenkov führte am 22. 02. 1949 ein Parteiplenum in Leningrad durch. Hier wurde eine Resolution zur CK-Resolution verabschiedet, die in ihrer Kernaus257 Gorlizki / Khlevniuk (Chlevnjuk) (2004): Cold Peace (wie Anm. 249), S. 80. 258 Zubkova, E.: Russia after the war. Hopes. Illusions and Dissappointments 1945 – 57. Armonk, 1998, S. 132. 259 Ohne Autor (1989): O tak (wie Anm. 226), S. 128. Die hier zitierte Zeitschrift Izvestija CK KPSS war zwischen 1919 und 1929 erschienen und wurde ab 1989 im Zeichen von Glasnost’ neu aufgelegt. Vgl. Gorbacˇev, M. S.: K cˇitateljam ›Izvestij CK KPSS‹, in: Izvestija CK KPSS (1989), 1, S. 4 – 5. Die Leningrader Affäre gehört zu den ersten Themen, die in den neuen Izvestija behandelt wurden. Den bekanntesten Opfern der Leningrader Affäre wurde erst 1987 und 1988 ihre Parteizugehörigkeit wieder zuerkannt, obwohl sie schon seit 1954 offiziell rehabilitiert waren. Nach Angaben des Artikels waren tatsächlich Gegenstimmen bei deren Wiederwahl unterschlagen worden, diese wirkten sich jedoch nicht auf die Wahlergebnisse aus. Wer für diese Unregelmäßigkeiten verantwortlich war, sei nicht endgültig geklärt. 260 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 53.

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sage die Leningrader Parteiorganisation beschuldigte, sie habe sich von der Parteizentrale abspalten wollen und eine Anti-Partei-Gruppe unter Popkov gebildet. Ein Kritikpunkt der Resolution war auch die »Unbescheidenheit« der Leningrader bezüglich der Blockadevergangenheit und der angeblich fehlende Wille, sich mit den Aufgaben der Gegenwart auseinanderzusetzen.261 Popkov und Kapustin, Erster und Zweiter Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, wurden daraufhin als erste im Februar 1949 aus ihren Ämtern entlassen. Als neuer Sekretär wurde Malenkovs Wunschkandidat Andrianov gewählt. Aus der eingeschüchterten Leningrader Parteiorganisation stellten sich keine Kandidaten zur Wahl. Anklage wurde jedoch nicht nur gegen in Leningrad tätige Parteifunktionäre erhoben, sondern auch gegen den Sekretär des Zentralkomitees A. A. Kuznecov und den Vorsitzenden des Ministerrates der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, M. I. Rodionov.262 Gleich zu Beginn der Affäre waren explizit die ›Leningrader‹ betroffen, also Funktionäre, die in Leningrad in Zˇdanovs Umfeld ihre Parteikarriere begonnen hatten, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Repressionen nicht mehr in Leningrad wirkten, wie Kuznecov und Rodionov. Um den führenden Leningrader Ökonomen und Vorsitzenden der Gosplan-Behörde Voznesenskij wurde eine Teilaffäre initiiert, die auch als Gosplanaffäre bezeichnet wird. Ab Ende März kam eine massive Säuberung des Leningrader Parteiapparats in Gang. Malenkov wurde beauftragt, kompromittierendes Material gegen die Angeklagten, unter anderem Kuznecov, Voznesenskij und Rodionov, zu sammeln. Stadtregierung und administrative Strukturen wurden stark dezimiert. Ihren Höhepunkt hatte die Affäre am 29. und 30. September 1950, als neun der höchsten Leningrader Parteifunktionäre, darunter eine Frau, in einem Gerichtsprozess verurteilt wurden.263 Infolge des Prozesses wurden am 1. Oktober 1950 Voznesenskij, Kuznecov, Popkov, Kapustin, Rodionov und Lazutin hingerichtet. Drei weitere Angeklagte wurden zu Lagerhaft verurteilt. Von den sechs zum Tode verurteilten Parteifunktionären hatten vier während des Krieges in Leningrad zentrale Positionen besetzt: Aleksej Aleksandrovicˇ Kuznecov war während des Krieges Mitglied des Militärsowjets der Leningrader Front und des Militärsowjets der zweiten Armee der Volchovfront gewesen und wurde 1943 zum Generalleutnant ernannt. Seit Januar 1945 war er Erster Sekretär des Leningrader Obkom und Gorkom. Zwischen 1946 261 »@_UUVaWYSQp ^Qbca_V^Yp bQ]__R_\mjV^Yp db`VfQ]Y `VaY_UQ S_Z^l Y R\_[QUl, Roa_ _R[_]Q Y T_a[_]Q 3;@ (R) ^V `aYXlSQ\_ ^Qbc_ZhYS_ [_]]d^Ybc_S [ aViV^Yo ^_Sl XQUQh, `_bcQS\V^^lf `QacYVZ Y c_SQaYjV] BcQ\Y^l]« Ebenda, S. 62. 262 Zubkova (1998): Russia after (wie Anm. 258), S. 132. 263 Für einen kurzen Überblick zu den Biographien der am 30. 09. 1950 Verurteilten siehe Biograficˇeskie spravki, in: Izvestija CK KPSS (1989), 2, S. 134 – 137.

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und 1949 stieg er zum CK-Sekretär auf, wurde Mitglied im Orgbüro und Leiter der Kaderführung beim CK. Er hatte sich in besonderem Maße bei der Entstehung des Museums der Verteidigung Leningrads eingesetzt, dessen Geschichte im Folgenden ausführlicher behandelt werden wird.264 Petr Sergeevicˇ Popkov war während des Krieges Vorsitzender des Leningrader Ispolkom. Seit März 1946 war er als Nachfolger Kuznecovs zum Ersten Sekretär von Gorkom und Obkom aufgestiegen und hatte damit die Schlüsselposition der Leningrader Parteiorganisation erreicht, die er bis 1949 ausfüllte. Jakov Fedorovicˇ Kapustin war während des Krieges Sekretär des Leningrader Gorkom, Mitglied des Militärsowjets der Nordfront und Bevollmächtigter des GKO für die Industrieevakuation in Leningrad. Seit 1945 war er Zweiter Sekretär des Gorkom. Petr Georgievicˇ Lazutin war zwischen 1941 und 1943 Sekretär des Leningrader Gorkom. Ab 1943 war er Stellvertreter des Gorkom-Sekretärs und leitete die Abteilung für Handel und Lebensmittelindustrie des Gorkom. Seit 1944 war er im Ispolkom des Leningrader Stadtsowjets erst als stellvertretender, ab 1946 dann als erster Vorsitzender tätig. Die Ursache für die Verurteilung dieser Funktionäre ist in ihrer machtpolitischen Stellung zu sehen, und nicht darin, dass sie während der Blockade in Leningrad tätig gewesen waren. Im Zuge des politischen Machtkampfes, der mit der Affäre einherging, wurden jedoch auch diese Tätigkeiten argumentativ instrumentalisiert. Im Laufe der Parteisitzungen, Verhöre und Verhandlungen, denen die Angeklagten sich aussetzten mussten, denunzierten sie sich gegenseitig und äußerten nach dem Prinzip von Kritik und Selbstkritik die unterschiedlichsten Selbst- und Fremdbezichtigungen. Neben Alkoholproblemen warfen die Funktionäre einander auch Fehlverhalten während der Blockade vor. Darüber hinaus kamen Anschuldigungen zur Sprache, einzelne Parteiführer und ihre Familien hätten während des Hungerwinters 1941 / 42 einen ausschweifenden Lebensstil gepflegt.265 Für die zukünftige offizielle Behandlung der Blockade hatte dies mehrere Folgen: Zum einen wurde festgelegt, dass eine ›Selbstüberschätzung‹ der Leningrader Parteiorganisation unzulässig sein sollte. Dass die Blockade siegreich geendet hatte, war in erster Linie Stalin und der Unterstützung durch das Hinterland und nicht der Leningrader Parteiführung zuzuschreiben. Indem führende Parteikader bezichtigt wurden, sie hätten sich während der Blockade 264 CGALI (1948): Berichtsnotiz über (wie Anm. 193), S. 1 sowie Sidorovskij, L.: Slovo o Muzee. Muzej oborony Leningrada – ego sud’ba byla vysoka i tragicˇna. Tak pust’ zˇe on vnov’ podnimetsja v nasˇem gorode., in: Smena (25. 03. 1988), S. 2. 265 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 113.

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Fehlverhalten zuschulden kommen lassen, und indem sie verurteilt wurden, waren die Fehler ›gesühnt‹ und mussten damit nicht mehr verhandelt werden. Die Ächtung der führenden Verantwortungsträger der Kriegszeit zog eine Tabuisierung der gesamten Leningrader Kriegsgeschichte nach sich. Auf den ersten Blick herrscht eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen der spätsowjetischen Darstellung der Leningrader Affäre aus der Perspektive der KPSS und neueren Forschungsergebnissen. So subsumiert die Zeitschrift Izvestija CK KPSS im Jahr 1989: »Die sogenannte Leningrader Affäre wurde von I. V. Stalin provoziert und organisiert, der danach strebte, unter den höchsten Führungspersonen eine Atmosphäre des Verdachts, Neides und Misstrauens zueinander zu schaffen und auf dieser Grundlage seine persönliche Macht zu stärken.«266

Wie eine Ergänzung klingt, daneben gestellt, eine Einschätzung aus dem Jahr 2004: »A principal cause for this purge was Stalin’s determination to prevent disobedience and to harden official discipline. […] [F]ollowing the arrest of the ›Leningraders‹, Stalin established a new balance of forces within the Soviet leadership.«267

Die Frage nach den Ursachen der Affäre und insbesondere ihrer Gewichtung ist jedoch nicht endgültig geklärt: Führten sachbezogene, inhaltliche Fragen zu dieser Parteisäuberung oder handelte es sich um eine rein machtpolitische Auseinandersetzung? Dies spiegelt sich insbesondere in den heterogenen Ergebnissen, zu denen die einschlägigen Forschungsarbeiten kommen. Pichoja resümiert beispielsweise: »Unter den Kampf um die Macht wurde eine ideelle Basis gelegt, die ›Erbfolge‹ wurde mit Hilfe zehn Jahre alter politischer Prozesse festgelegt. Der Rest war Sache der Exekutionstechnik.«268

Hahn indessen sieht die Differenzen zwischen Zˇdanov und Malenkov als Auseinandersetzung zwischen einer moderaten und einer dogmatischen Parteilinie und macht auch für die Leningrader Affäre inhaltliche Differenzen als Ursache aus.269 Dabei beruhen auch die Forschungskontroversen neueren Datums darauf, dass das Archivmaterial lückenhaft und bis heute nur eingeschränkt zugänglich ist. Einige neuere Arbeiten schreiben den Leningrader Parteieliten in der Nachkriegszeit ein Streben nach Autonomie der Russischen Föderation innerhalb des Gefüges der UdSSR zu, so Robert Service in seiner Stalinbiogra266 267 268 269

Ohne Autor (1989): O tak (wie Anm. 226), S. 126. Gorlizki / Khlevniuk (Chlevnjuk) (2004): Cold Peace (wie Anm. 249), S. 70. Pichoja (2000): Sovetskij Sojuz (wie Anm. 165), S. 51. Hahn (1983): Postwar Soviet (wie Anm. 229), S. 94.

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phie.270 Auch Brandenberger nennt als ein wichtiges Motiv für die Affäre die geplante Bildung einer eigenen russischen kommunistischen Partei, die von Leningrader Funktionären angestrebt wurde. Bidlack widerspricht diesem Ansatz.271 Gerade die Funktion der Parteisäuberung als Mittel des Austauschs von Spitzenfunktionären in der Parteiführung wirkte sich vehement auf die Ausformung offizieller Geschichtsbilder, aber auch auf das individuelle Gedenken an die Blockade aus. Führungskräfte, die in der Kriegszeit eine große Rolle für Leningrad gespielt hatten, wurden entmachtet und hingerichtet. Ihre Erwähnung, geschweige denn ihre offizielle Ehrung, blieb über Jahrzehnte gar nicht oder nur eingeschränkt möglich. Die zentrale Praxis des Kriegsgedenkens in der Sowjetunion bestand jedoch in der Ehrung der Verdienste der Armee und der politischen Führung. Daher bewirkte die Ächtung der maßgeblichen Leningrader Parteiführer der Kriegszeit, dass mit ihren Persönlichkeiten auch die Leningrader Kriegsgeschichte zum Tabuthema wurde. Jörg Ganzenmüller hält fest: »Auch wenn die Leningrader Parteiorganisation jene Stellung, die sie einst unter Zinov’ev hatte, nie wieder erlangen konnte, so scheint doch ihr offen zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein den Ausschlag für die ›Leningrader Affäre‹ gegeben zu haben. Der Blockademythos wurde dabei offenbar als Teil einer Eigenständigkeitsideologie verstanden. Das von der Leningrader Partei vermittelte Geschichtsbild barg in Stalins Augen scheinbar eine gewisse Sprengkraft für das System in sich, denn er beließ es nicht bei der Säuberung der lokalen Parteikader, sondern versuchte zudem, die Erinnerung an die Blockade auszulöschen.«272

In den beschriebenen Vorgängen wird deutlich, wie sehr sich machtpolitische Verschiebungen auf die Darstellung der Blockade sowie die lokale Leningrader Geschichtspolitik auswirkten. Die Verquickungen zwischen den einzelnen Institutionen des zentralistischen sowjetischen Staates und das Postulat, die einzige, immerwährende Wahrheit zu verkünden, führten dazu, dass personelle Wechsel ideologische Folgen nach sich ziehen mussten. Neben personellen und machtpolitischen Faktoren wirkten in diesen Prozessen auch ideologische Faktoren. Nach dem Krieg entwickelten diese sich relativ differenziert, um zum Ende der 40er-Jahre schließlich stark eingeschränkt zu werden. Was dies konkret 270 Service, R.: Stalin. A Biography. London, 2004, S. 536. 271 Vgl. Brandenberger, D.: Stalin, the Leningrad Afffair, and the limits of Postwar Russocentrism, in: Russian Review Jg. 63 (2004), 2; Bidlack, R.: Ideological or Political Origins of the Leningrad Affair? A response to David Brandenberger, in: Russian Review Jg. 64 (2005), 1, S. 90 – 95; Brandenberger, D.: Ideology and Politics (or Vice Versa), in: Russian Review Jg. 64 (2005), 1. 272 Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 338.

Inhaltliche Einflüsse

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und im Einzelnen für die in Leningrad entstehenden Geschichtsbilder und ihre Inhalte bedeutete, soll in den folgenden Kapiteln nachvollzogen werden.

3.

Inhaltliche Einflüsse

Zunächst schien sich die Historisierung der Belagerung unter positiven Vorzeichen zu vollziehen. Ein Jahr nach seiner Befreiung, am 26. Januar 1945, wurde im Kreml beschlossen, Leningrad den Leninorden, die höchste Auszeichnung der Sowjetunion, zu verleihen. In der Anordnung des Obersten Sowjets heißt es: »Für die herausragenden Verdienste der Leningrader Werktätigen an der Heimat, für Mut und Heldentum, Disziplin und Standhaftigkeit, die im Kampf mit den deutschen Eindringlingen unter den schwierigen Umständen der Blockade durch den Feind bewiesen wurden, wird Leningrad mit dem Leninorden ausgezeichnet.«273

In den ersten Nachkriegsjahren wurde in Leningrad sukzessive eine Gedenkkultur entwickelt, die den 27. Januar, den Tag der vollständigen Befreiung der Stadt, als Gedenktag etablierte. Dabei wurden sowohl Gedenkfeiern und Trauerveranstaltungen als auch Informationsveranstaltungen und Volksfeste mit Musik und Feuerwerk durchgeführt. Diese verschiedenen Gedenkpraktiken kamen einerseits dem Bedürfnis derjenigen entgegen, die um die Gefallenen trauern oder ihre Freude über den Sieg ausleben wollten, gleichzeitig wurde der Anlass zur Information und politischen Instruktion derjenigen genutzt, die die Belagerung nicht miterlebt hatten. Maddox unterstreicht besonders den utilitaristischen Charakter dieses inszenierten Gedenkens, das zu einer besonders intensiven Beteiligung der Bevölkerung am Wiederaufbau der Stadt führen sollte: »In Leningrad, mourning and memory were harnessed, shaped, and used for productive and socially useful work.«274 Diese erste Phase in der Entwicklung des öffentlichen Kriegsgedenkens, in der nicht nur in Leningrad ausführlich des Krieges und des Sieges gedacht wurde, fand jedoch ein baldiges Ende. Bereits im Zusammenhang mit der Zˇdanovsˇˇcina wurde ein Gedenken, das auch die Schattenseiten des Krieges einbezog, durch eine Rückkehr zur reinen Lehre des Sozialistischen Realismus ersetzt. Bonwetsch kommentiert: »Aus dem Krieg herrührende seelische oder sonstige Verletzungen, womöglich sogar unlösbare, kamen nicht mehr vor, der Krieg überhaupt wurde fast aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt. Symbolisch dafür steht die Abschaffung des Tages des Sieges als eines herausgehobenen, arbeitsfreien Feiertages nach 1947. Er wurde zum normalen 273 Ukaz presidiuma verchovnogo soveta SSSR o nagrazhdenii goroda Leningrada ordenom Lenina, in: Leningrad (1945), 1 – 2, S. 1, hier 1. 274 Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 209.

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Feiertag ohne Arbeitsbefreiung abgewertet und damit den zahllosen ›billigen‹ Feiertagen für einzelne Berufszweige usw. gleichgestellt. […] In dieses Bild passt, dass Trägern von Kriegsorden bis hinauf zu dem eines ›Helden der Sowjetunion‹ im September 1947 die monatlichen Geldprämien und sonstigen Vergünstigungen gestrichen wurden.«275

Vor diesem Hintergrund nimmt sich die Leningrader Gedenkkultur auch in den späteren 40er-Jahren durchaus pompös aus. So war noch im Januar 1949, unmittelbar vor Beginn der Leningrader Affäre, ein Festakt zur Begehung des fünften Jahrestages der Befreiung der Stadt geplant, der auf dem Palastplatz mitten im Stadtzentrum stattfinden sollte und Tanz, Lagerfeuer und ein öffentliches Konzert mit sechs Blasorchestern vorsah.276 Neben den strukturellen Bedingungen und den historischen Begleitumständen, die bisher beschrieben wurden, müssen bei der Betrachtung der Historisierung der Blockade verschiedene diskursive Stränge in die Betrachtung einbezogen werden, die die Entstehung der neuen Geschichtsbilder maßgeblich mitbestimmten. Dies sind zum einen Motive, die der vorrevolutionären Vergangenheit der Stadt sowie der Revolutions- und Bürgerkriegsgeschichte entstammten und in der Kriegspropaganda neu aufgegriffen worden waren. Zum anderen wirkten sich im ersten Nachkriegsjahrzent Deutungen und historiographische Konstruktionen aus, die nach Kriegsende von den politischen Eliten in Moskau, insbesondere Stalin selber, entwickelt und vertreten wurden. Beide Diskursstränge bilden den Hintergrund und Bezugspunkt für die im Entstehen begriffenen Deutungen der Leningrader Kriegsgeschichte.

3.1.

›Petersburger Text‹ und Leningrad-Patriotismus

»[…] die Geschichte Petersburgs ist von der Petersburger Mythologie nicht zu trennen, dabei klingt das Wort Mythologie in diesem Zusammenhang keinesfalls als Metapher.«277

St. Petersburg / Petrograd / Leningrad war seit seiner Gründung im Jahre 1703 im kulturellen Sinn zu keiner Zeit ein unbeschriebenes Blatt. Allein der tradierte Gestus, mit dem Peter I. veranlasste, in einem kaum besiedelten Sumpfgebiet am Rande des russischen Imperiums eine völlig neue Hauptstadt zu erbauen, führte dazu, dass diese Stadt weithin als Symbol wahrgenommen wurde. Bei Gästen 275 Bonwetsch (2002): Der Große (wie Anm. 163), S. 171. 276 f. 25; sv. 1348; ed. chran. 178, CGAIPD: Durchführungsplan für ein Volksfest zum 5. Befreiungstag Januar 1949. 277 Lotman, J. M.: Simvolika Peterburga i problemy semiotiki goroda, in: Mal’c, A. E˙. (Hg.): Semiotika goroda i gorodskoj kul’tury. Peterburg. Tartu, 1984, S. 30 – 45, hier 36.

Inhaltliche Einflüsse

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und Einheimischen weckte sie die unterschiedlichsten Assoziationen, je nach deren politischer und weltanschaulicher Positionierung. Wie Lotman und Toporov zeigen, fand die symbolische Belegung der Stadt Petersburg in sich immer wieder reproduzierenden Gegensatzpaaren statt, die jedoch unterschiedlich gewertet wurden.278 Zentrale Elemente waren beispielsweise: Wasser und Stein, alt und neu, real und irreal, Kultur und Natur, männlich und weiblich, russisch und westlich. Dieser Dualismus liegt zum einen darin begründet, dass die Stadt während der Romantik häufig beschrieben und dadurch bekannt wurde. Zum anderen spiegelt sich darin auch ihre geographische Lage: »The pre-Petrine mindset is crucial in explaining the duality of Petersburg, which (to return to Lotman and Uspenskii) was created not only on the spatial boundary between East and West but also on the temporal border of the seventeenth and eighteenth centuries, between an age ruled by the equation old = good, and one that reverses the signs, appointing novelty as its primary value.«279

Petersburg wurde sowohl als moderne Militärstadt nach westlichem Vorbild beschrieben, bei deren Erbauung die menschliche Kultur, der menschliche Geist über die Natur (das Wasser) triumphiert hatten, als auch als mythischer, dem Untergang geweihter Ort, an dem Geister ihr Unwesen treiben und der dem beständigen Verfall und dem buchstäblichen Untergang in den Fluten anheimgegeben war. In der Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slavophilen wurde Petersburg zum unrussischen Gegenpol der alten russischen Hauptstadt Moskau stilisiert.280 Zentrale Symbolfigur in den positiven wie den negativen Deutungen der Stadt war ihr Begründer, Peter I. Die Polarität des sogenannten Petersburger Textes der russischen Literatur281 wird seit den späten 70er-Jahren in der Tradition der semiotischen Studien Lotmans und seiner Tartuer Schule diskutiert.282 Auffällig ist jedoch, insbesondere bei den neueren Veröffentlichungen zu diesem Thema, dass sich das Hauptaugenmerk der philologischen Betrachter grundsätzlich auf den ›Petersburger Text‹ richtet. Die Möglichkeit eines neueren, sowjetisch geprägten ›Leningrader Textes‹ wird völlig außer Acht gelassen. Autorinnen und Autoren der Sowjetzeit finden nur selten und am Rande Erwähnung, und wenn, dann die278 Ebenda, S. 32 f; Toporov, V. N.: Peterburg i peterburgskij tekst russkoj literatury, in: Mal’c, A. E˙. (Hg.): Semiotika goroda i gorodskoj kul’tury. Peterburg. Tartu, 1984, S. 4 – 29. Ihren vorläufig letzten Höhepunkt fanden die Diskussionen um das Thema des ›Petersburger Textes‹ anlässlich der 300-Jahrfeier der Stadt 2003. 279 Hellebust, R.: The Real St. Petersburg, in: Russian Review Jg. 62 (2003), 4, S. 495 – 507, hier 505. 280 Toporov, V. N.: Peterburgskij tekst russkoj literatury. St. Peterburg, 2003, S. 7 – 22. 281 Ebenda. 282 Für zentrale Texte dieser Diskussionen siehe Mal’c, A. E˙.: Semiotika goroda i gorodskoj kul’tury. Peterburg. Tartu, 1984.

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jenigen, die nicht den Mainstream ihrer Zeit vertraten oder diesem sogar widerstanden wie Achmatova, Brodskij oder Charms.283 Mit dem Ersten Weltkrieg, der Revolution und dem Bürgerkrieg erhielten neue Ereignisse, Personen, Orte und Symbole im Kontext der Mythologie der Stadt Bedeutung. Der Name St. Petersburg wurde 1914 als Petrograd russifiziert. Nach der Revolution verlor die Stadt 1918 ihren Status als Hauptstadt. Der Bürgerkrieg und der Versuch der Weißgardisten im Jahr 1919, unter der Führung von General Judenicˇ die Stadt einzunehmen, der mit dem Sieg der Roten Armee im November 1919 endete284, hinterließen Spuren im Mythos der Stadt: Das rote Petrograd hatte dem Ansturm der feindlichen Armee getrotzt und die Losung »Petrograd wird nicht aufgegeben!«, die das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei RKP (b) ausgegeben hatte, war umgesetzt worden. Der Stadt wurde als Auszeichnung für diesen Sieg der Rotbannerorden verliehen. Diese Ereignisse und ihre Symbolfunktion boten sich später als Vorlage für die Historisierung der Belagerung ebenso an wie die Tatsache, dass es gerade Stalin war, der von Lenin im Mai 1919 als Bevollmächtigter nach Petrograd geschickt worden war.285 Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg wurden der Winterpalast als alte, überwundene und das Smolnyj-Institut als neue Machtzentrale zu Erinnerungsorten. Peter I. wurde – vorübergehend – als zentrale Symbolfigur durch Lenin abgelöst. Petrograd erhielt nach Lenins Tod 1924 den Namen Leningrad. Erst nach Beginn des Krieges und der ideologischen Hinwendung Stalins zur

283 Smirnov, I. P.: Peterburg: gorod mertvych i gorod zˇivych, in: Markovicˇ, V. M.; Sˇmid, V. (Hg.): Susˇcˇestvuet li peterburgskij tekst? St. Peterburg, 2005, S. 35 – 58, hier 56 f. Diese inhaltliche Schwerpunktsetzung kann für die Arbeiten die Lotman und seine Kollegen Anfang der 80er-Jahre verfassten, noch akzeptiert werden, da ihre Arbeitsumstände einer kritischen Betrachtung oder auch nur gründlichen Analyse der sowjetischen LeningradMythologie und ihrer Adaptionen des ›Petersburger Textes‹ entgegenstanden. Ihr ist jedoch, meiner Ansicht nach, heute jegliche Grundlage genommen, da auch der sowjetische, systemkonforme Kanon sich heute auf den ›Petersburger Text‹ auswirkt und deshalb nicht außer Acht gelassen werden kann. 284 Für einen kurzen Überblick zu den Ereignissen siehe Kulegin, A. M.: Oborona Petrograda 1919, in: Margolis, A. D.; Ansberg, O. A.; Antonov, V. V. (Hg.): Sankt-Peterburg. E˙nciklopedija. Sankt-Peterburg, Moskva, 2006, S. 601 f; Severo-Zapadnaja Armija, in: Volkov, S. V. (Hg.): E˙nciklopedija grazˇdanskoj vojny. Sankt-Peterburg, 2002, S. 505 f; Bürgerkrieg, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 54 – 57. Ausführlich zur Petrograder Front im Bürgerkrieg: Brüggemann, K.: Die Gründung der Republik Estland und das Ende des ›Einen und unteilbaren Rußland‹. Die Petrograder Front des Russischen Bürgerkrieges 1918 – 1920. Wiesbaden, 2002. 285 Kulegin (2006): Oborona Petrograda (wie Anm. 284), S. 602. Die spätere Anwesenheit Trockijs (im Oktober) spielt hingegen im Kontext der selektiven stalinistischen Geschichtsschreibung keine Rolle.

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vorrevolutionären russischen Geschichte kehrte Peter I. in den Kanon der Leningrader Symbolfiguren zurück.286 Als Wiege und Schauplatz der Revolution gelangte die Stadt zu zentraler Bedeutung in der neu entstehenden sowjetischen Mythologie. Die Ambivalenz alter Symbole ging zugunsten einer neuen Eindeutigkeit der Bewertung verloren. So erübrigte sich fürderhin die Frage, ob nun das Alte oder das Neue positiv bewertet werden sollte: Im Kontext der sowjetischen Ideologie war das Neue, Zukünftige eindeutig dem Alten, Gestrigen vorzuziehen. Gerade der Dualismus der traditionellen Leningrad-Symbolik, versehen mit eindeutigen Wertungen, eignete sich besonders gut zur propagandistischen Darstellung Leningrads im Kontext des Großen Vaterländischen Krieges: Die jeweiligen Gegensätzlichkeiten wurden nun als eindeutig gut beziehungsweise eindeutig schlecht der sowjetischen und der deutschen Seite zugeordnet. Diese Dualität charakterisiert den Leningrad-Patriotismus der Kriegszeit. Begriffliche Gegensatzpaare des traditionellen ›Petersburger Textes‹ wurden aufgegriffen und mit vorrevolutionären und sowjetischen historischen Erinnerungselementen kombiniert. Diese Mischformen traditioneller und postrevolutionärer Symbolik bestimmt im Wesentlichen die propagandistische Publizistik zu Leningrad während der Kriegsjahre. So veröffentlichte beispielsweise im Dezember 1941, mitten im Leningrader Hungerwinter, die in Moskau erscheinende Frauenzeitschrift Die Arbeiterin (Rabotnica) einen Beitrag mit dem Titel »Unzerstörbares Leningrad«, der die realen Zustände in der belagerten Stadt – insbesondere den Hunger – vollständig ignoriert und stattdessen die Stadt und ihre Bewohner in einem symbolischen Feld ansiedelt, das von dem Gegensatz Kultur-Stein-gut–stark versus Natur / Unkultur-Sumpf-schlecht-schwach bestimmt ist: »Über den Fabriken und Werken Leningrads, über seinen Theatern, Museen, den historischen Palästen und Denkmälern hat der verdammte faschistische Barbar seine blutige Pratze erhoben.«287

Dabei finden sich die Symbole des neuen Leningrads der Fabriken und Werke neben dem alten, historischen Petersburg mit seinen Palästen und Denkmälern bildhaft beschrieben. Peter I. und der alte Name der Stadt, Petersburg, werden genannt und der Gründungsmythos des alten Petersburg, das als Festungsstadt inmitten »morastiger Sümpfe« und »schlummernder Wälder« errichtet wurde, beschworen.288 Als weiterer Erinnerungstopos aus der Leningrader Stadtge-

286 Vgl. Rambow (1995): Überleben mit (wie Anm. 37), S. 256. 287 Filipova, E.: Nesokrusˇimyj Leningrad, in: Rabotnica (1941), 34, S. 8. 288 Ebenda.

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schichte findet sich die Revolution mit der Symbolfigur Lenin, der im Gedächtnis der Bevölkerung lebt: »Noch frisch sind die Tage der Oktoberkämpfe im Gedächtnis der alten Arbeiter aus ›Piter‹, als die Stimme Lenins, des Führers der Revolution, sie zur geeinten monolithenen Kraft zusammenschloss.«289

Mit der Formulierung »Arbeiter aus Piter« wird eine Assoziation mit der vorrevolutionären Zeit der Arbeiterbewegung geweckt, wobei gerade die Petersburger Arbeiter von Lenin als die »fortschrittlichsten« beschrieben wurden.290 Der Kosename ›Piter‹, der noch weit vor der Revolution geprägt wurde, hält sich bis heute. Die steinerne Festigkeit, die im ›Petersburger Text‹ der Stadt zugeschrieben wird, überträgt sich hier durch Lenin auf ihre Bewohner und Bauwerke: »Streng blickt das Smolnyj, das Stabsgebäude der Revolution, in dem der unsterbliche Geist Lenins lebt.« Gleich zu Beginn des Textes heißt es außerdem: »Die Stadt, die den Namen Lenins trägt, ist unsterblich.«291 Auch die Tage des Bürgerkrieges und das Jahr 1919 bleiben nicht unerwähnt. Nicht nur in der publizistischen Propaganda, sondern auch in den Reden der Leningrader Parteieliten vereinten sich Elemente des ›Petersburger Textes‹ mit neuen historischen Elementen zum spezifischen Leningrad-Patriotismus. So bezeichnete Aleksej Kuznecov Leningrad anlässlich des Revolutionsfeiertages 1942 als »Stadt russischen Ruhms«, die »mit Blutsbanden an die gesamte Geschichte der Revolutionsbewegung unseres Landes gebunden« sei und »unter härtesten Bedingungen der Blockade wie ein Fels, unerschütterlich und unerreichbar für die Feinde«292 stehe. Interessant ist dabei, dass hier gerade der russische, nicht der westliche Charakter der Stadt betont wird. Im Kontext des Leningrad-Patriotismus erhielt jedoch nicht nur die Stadt Leningrad mit ihren historisch bedeutsamen Gebäuden menschliche Züge. Die ›Charakterzüge‹ der Stadt, wie Standhaftigkeit und Unbesiegbarkeit, gingen auch auf ihre Bewohnerinnen und Bewohner über und diese wurden gleichsam durch die großartige historische Tradition ihrer Stadt in die Pflicht genommen. Der Topos der ›wahrhaften Leningraderinnen und Leningrader‹, die auch als 289 Ebenda. 290 Vgl. bspw. Kuznecov, A. A.: Gorod velikogo Lenina, in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 7 – 16, hier 12. 291 Filipova (1941): Nesokrusˇimyj Leningrad (wie Anm. 287). 292 Kuznecov, A. A.: Doklad sekretarja Leningradskogo gorkoma VKP (b) A. A. Kuznecova na torzˇestvennom zasedanii Leningradskogo Soveta deputatov trudjasˇcˇichsja sovmestno s komandovaniem Leningradskogo fronta, kranoznamennogo baltijskogo flota i partijnymi i obsˇcˇestvennymi organizacijami Leningrada, posvjasˇcˇennym 25. godovsˇcˇine Velikoj Oktjabr’skoj socialisticeskoj revoljucii, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1944, S. 248 – 257, hier 253.

Inhaltliche Einflüsse

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Zivilpersonen ihre Arbeit zuverlässig wie Soldaten erfüllten, wurde erschaffen. Insbesondere die Leningrader Arbeiter waren der Tradition der Revolutionäre der Arbeiterbewegung verpflichtet. So berichtete im Herbst 1942 der Leningrader Vertreter des sowjetischen Gewerkschaftsbundes Kazakov in der Zeitschrift Propaganda i Agitacija über die neuesten Produktionssiege in der Leningrader Industrie. Als beispielhaft erwähnt er den jungen Arbeiter Antipov : »Er hatte hohe Temperatur. Der Arzt verordnete ihm, nach Hause zu gehen, aber Antipov ging stattdessen in die Werkshalle. Man hatte ihm am Vorabend eine Aufgabe übertragen – in 8 Stunden 100 Teile zu produzieren. ›Warum bist du gekommen?‹, sprach ihn der Werkshallenleiter an. ›Du bist krank, geh nach Hause.‹ ›Ich mache den Auftrag für die Front fertig und gehe. Aber versuchen Sie vorher nicht, mich zu überreden, ich höre vorher auf keinen Fall auf zu arbeiten.‹ Antipov machte in 5 Stunden 120 Teile und erst dann ging er weg. Am Arbeitsplatz sagen sie nun über ihn: ›Er ist ganz wie ein verletzter Krieger. Bevor er die Aufgabe erledigt hat, hört er nicht auf zu kämpfen.‹«293

Obwohl die beschriebene Szene nur wenige Monate nach dem Hungerwinter datiert, werden Hunger und Mangelernährung nicht als Gründe für die Krankheit des jungen Arbeiters ersichtlich. Es ist eine fiebrige Erkrankung, die den jungen Mann nicht an der Übererfüllung seines Arbeitspensums hindern kann. Die Idealisierung der Leningrader Bevölkerung im Rahmen Leningrad-patriotischer Darstellungen beschränkte sich weder auf die Leningrader Arbeiter noch auf Männer. Seit Kriegsbeginn lancierten sowjetische Frauenzeitschriften ein Leningrader Pendant zur Sowjetfrau: »Wahrhafte Leningraderinnen« patrouillierten demnach in der belagerten Stadt und ersetzten die and die Front gegangenen Männer – selbst als Schwangere – im Luftschutz. Sie packten bei der Trümmerbeseitigung, bei der medizinischen Versorgung, im öffentlichen Nahverkehr und anderen Bereichen an und schreckten auch vor Kampfeinsätzen nicht zurück.294 So beschreibt es ein gleichnamiger Beitrag in der Frauenzeitschrift Rabotnica295 vom Dezember 1941. In der Zeitschrift Krestjanka296 werden »Junge Leningraderinnen« als »weitblickend« und »scharfsichtig« charakterisiert, sie hätten ein gutes Gefühl297 für verschiedene Situationen, seien »furchtlos, mutig« und »standhaft«, aber auch »lieb« und linderten mit »zärt293 Kazakov, P.: Vstretim XXV godovsˇcˇinu Velikogo Oktjabrja novymi proizvodstvennymi pobedami, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1944, S. 221 – 224, hier 221. 294 Rozenfarb, I.: Nastojasˇcˇie leningradki, in: Rabotnica (1941), 34, S. 9 – 10. 295 dt. die Arbeiterin 296 dt. die Bäuerin 297 Im Original russ.: cˇut’e

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lichen Händen« das Leiden der Verwundeten.298 Die Texte legen nahe, dass diese Eigenschaften der jungen Frauen in unmittelbarer Beziehung zu ihrer Herkunft aus Leningrad stehen. Ein »Leningrader Mädchen« oder eine »wahrhafte Leningraderin« bleibt in der belagerten Stadt und übernimmt die in Friedenszeiten von Männern ausgeführten Aufgaben. Die Möglichkeit der Evakuierung, um sich und vor allem die eigenen Kinder zu schützen, kommt in diesen Konzeptionen nicht vor. Vielmehr idealisieren diese Bilder die absolute Selbstaufgabe für den Sieg, die keine Rücksicht auf familiäre Bindungen und auf die eigene körperliche Unversehrtheit nahm. Die Botschaft, die der Bevölkerung mit diesen Stereotypen übermittelt wurde, war einfach: Selbstaufopferung war in dieser Ideologie die einzig akzeptable Haltung und wurde sowohl von den Soldaten als auch von der Zivilbevölkerung erwartet. Für die Betrachtung der Historisierung der Belagerung Leningrads bleibt festzuhalten, dass diese keinesfalls im luftleeren Raum stattfand. Für Interpretationen der Ereignisse gab es sowohl symbolische Vorgaben als auch Parallelnarrative wie die Verteidigung der Stadt im Bürgerkrieg 1919. Aus diesem Gedächtnishintergrund, der sich von alten Petersburg-Mythen über Revolution und Bürgerkrieg bis in die jüngste Geschichte erstreckte und vielfach auf alten dualistischen Bildern der Stadt aufbaute, schöpften auch die Akteure, die in der frühen Nachkriegszeit die Geschichte der Belagerung schrieben. Doch die Vorgaben beschränkten sich nicht nur auf literarische Vorlagen und das nüchterne Kalkül des Leningrad-Patriotismus. Ein besonderer Umstand der Kriegsgeschichtsschreibung in der Sowjetunion der Vierzigerjahre ist die Tatsache, dass sich das Staatsoberhaupt mit eigenen Deutungsangeboten persönlich zu Wort meldete.

3.2.

Die ›Meistererzählung‹: Stalin über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion

»Far from a historian himself, Stalin was nevertheless articulate and well-informed on historical issues. Even if we bemoan many of his opinions, we cannot label him a dillettante.«299

Die ›kriegswissenschaftlichen Lehren‹ Stalins bildeten einen unantastbaren und überaus wirkungsmächtigen Grundstock an Geschichtsbildern zum Großen Vaterländischen Krieg. James von Geldern hat zu Recht darauf verwiesen, dass 298 Leningradskie devusˇki, in: Krestjanka (1942), 19 – 20, S. 19, hier 19. 299 Geldern, J. v.: Conclusion. Epic Revisionism and the Crafting of a Soviet Public, in: Platt, K. F.; Brandenberger, D. (Hg.): Epic Revisionism. Russian History and Literature as Stalinist Propaganda. Madison, 2006, S. 325 – 340, hier 325.

Inhaltliche Einflüsse

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Stalin selber die Geschichtsschreibung als wesentliches Mittel der Politik, als »statecraft«300, verstand. Bisher wurde davon ausgegangen, dass alle Texte, die unter Stalins Namen veröffentlicht wurden, tatsächlich von ihm selber verfasst worden waren.301 Erst in jüngster Zeit wurden Zweifel an der Authentizität einzelner Texte geäußert.302 Yurchak weist darauf hin, dass sich machterhaltende ideologische Diskurse auf eine übergeordnete ›objektive Wahrheit‹ beziehen müssen.303 Als einen solchen machterhaltenden Diskurs versteht er Stalins wissenschaftliche Interventionen: »From his position external to discourse, Stalin in the 1930s and 1940s led the production of a widely circulating metadiscourse on ideological representations, in which linguistic formulations, literary texts, artistic products, and scientific theories were publicly evaluated as correct or incorrect from the point of view of the scientific Marxist-Leninist analysis of the world, and suggestions were made as to how to improve them accordingly.«304

Stalin nahm dabei die Rolle des außenstehenden ›Meisters‹ ein, der über die Richtigkeit, den Wahrheitsgehalt und die Gültigkeit aller Diskurse zu befinden hatte. Seine Auslegung der Kriegsgeschichte wurde damit zur ›Meistererzählung‹ und hatte Vorrang vor allen anderen möglichen Deutungen und Geschichtsbildern. Historiographische Ansätze zur Behandlung dieses Phänomens lenkten bisher das Augenmerk vorwiegend auf die Autorität, mit der die Stalin’schen Ansätze durchgesetzt wurden. Inhalte und Bedeutung ihrer einzelnen Bestandteile waren dabei zumeist zweitrangig. So bezeichnet Joachim Hösler Stalin zwar für die Zeit bis 1953 als »ersten und einzigen Historiker des Krieges«305, setzt sich jedoch nicht mit den Inhalten von dessen geschichtspolitischen Konstruktionen auseinander und widmet sich sogleich den Konzepten, die nach der sogenannten Wiederbelebung der sowjetischen Geschichtsschreibung ab 1956 verbreitet wurden.306 Dabei umgeht der Autor jedoch eine Reihe geschichtswissenschaftlicher Grundkonzeptionen, die ihren Ursprung in den »kriegswissenschaftlichen Lehren des Genossen Stalin« haben und weit über die Herrschaftszeit 300 Ebenda, S. 325. 301 Service (2004): Stalin (wie Anm. 270), S. 451. 302 Clark, K.: ›The History of the Factories‹ as a Factory of History : a case study of the Role of Soviet Literature in Subject Formation, in: Hellbeck, J.; Heller, K. (Hg.): Autobiographical Practices in Russia. Autobiographischen Praktiken in Russland. Göttingen, 2004, S. 251 – 277, hier 252. 303 Yurchak (2006): Everything was (wie Anm. 213), S. 10. 304 Ebenda, S. 41. 305 Hösler, J.: Aufarbeitung der Vergangenheit? Der Große Vaterländische Krieg in der Historiographie der UdSSR und Rußlands, in: Osteuropa Jg. 55 (2005), 4 / 6, S. 115 – 125, hier 115. 306 Ebenda, S. 116.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

Stalins hinaus wirksam blieben. Die abgrenzende Haltung gegenüber den von Stalin vertretenen Linien sowjetischen Kriegsgedenkens ist im Kontext einer um möglichst realistische und an Ereignissen orientierten objektiven Darstellung bemühten Geschichtsschreibung verständlich. Sie riskiert jedoch, die enorme geschichtspolitische Wirkungsmacht zu vernachlässigen, die sich in den historiographischen Vorgaben der Moskauer Parteieliten entfaltete. Aus diesem Grund soll die Stalin’sche Meistererzählung vom Großen Vaterländischen Krieg, dessen Ursachen, Verlauf und »beständig wirkende Faktoren« im Rahmen dieser Studie eingehender betrachtet werden. Die ›Meistererzählung‹ gab Themen vor, die in der Behandlung der Belagerung Leningrads nicht fehlen durften. Das Verhältnis dieses dominanten Paradigmas sowjetischer Geschichtspolitik zu den Linien, die sich in Leningrad sukzessive entwickelten, ist von zentraler Bedeutung. Die ›Meistererzählung‹ ermöglicht es, den inhaltlichen Wandel von einer relativ vielfältigen Interpretation der Ereignisse unmittelbar nach Kriegsende zu einheitlicheren, verkürzten Darstellungen in den späteren 40er- und frühen 50er-Jahren zu verstehen: Die fehlende Einbeziehung der ›kriegswissenschaftlichen‹ Lehren des Genossen Stalin wurde gegen Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre nicht selten zum Totschlagargument, um unliebsame Gedächtnislinien gar nicht erst zur Veröffentlichung kommen zu lassen. Die ›Meistererzählung‹ über den Krieg, die in der Sowjetunion ab 1945 immer mehr an Wirkungsmacht gewann, wurde auf der Grundlage des Buches »Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion«307 von I. V. Stalin entwickelt. Bereits seit 1942308 erschien unter diesem Titel eine Auswahl von Stalins Reden und Befehlen der Kriegszeit, die im weiteren Kriegsverlauf beständig erweitert und neu herausgegeben wurde. Die fünfte Auflage dieses Sammelbandes erschien seit 1945 monatlich neu und war zum Standardwerk stilisiert worden, das bei jeder Gelegenheit zitiert wurde.309 Obwohl es sich dabei einfach um eine Sammlung von Reden und Befehlen Stalins aus der Kriegszeit handelte, wurde das Buch in den folgenden Jahren als militärtheoretisches Standardwerk eingestuft und setzte zunehmend den Rahmen für jede weitere Kriegsgeˇ asˇnikov 1953 über die schichtsschreibung. So schreibt ein Historiker namens C Bedeutung der Sammlung: »In dieser Arbeit entwickelte Genosse Stalin die marxistisch-leninistische Theorie über den Krieg und die Armee weiter, legte die Ursachen und den Charakter des Zweiten Weltkriegs offen, bestimmte die Ziele und Besonderheiten des Großen Vaterländischen

307 russ.: O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza 308 Vgl. Brandenberger (2002): National Bolshevism (wie Anm. 107), S. 138. ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 3. 309 Vgl. C

Inhaltliche Einflüsse

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Krieges der Sowjetunion, arbeitete die grundlegenden Fragen der sowjetischen Kriegswissenschaft aus und entwickelte sie weiter […].«310

Darüber hinaus sollte das Buch nicht nur für die Betrachtung der Geschichte, sondern auch als eine Art Handbuch für den Umgang mit der gegenwärtigen politischen Lage im beginnenden Kalten Krieg – außerhalb der Sowjetunion – gebraucht werden: »Die große Erfahrung des sowjetischen Volkes mit der Zerschlagung der faschistischen Angreifer […] hilft, die heutigen imperialistischen Angreifer zu entlarven […], und dient als inspirierendes Beispiel für die Völker anderer Länder, die für ihre Freiheit und Unabhängigkeit gegen die amerikanischen Prätendenten auf die Weltherrschaft kämpfen.«311

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes sollten von den Lesern nicht als Einzeltexte vor ihrem jeweiligen zeitlichen Hintergrund betrachtet werden, sondern bildeten in dieser Lesart gleichsam Teile eines großen Planes, mit dem Stalin persönlich sein Volk zum Sieg geführt hatte. Einzelne Daten und Ereignisse der Kriegsgeschichte werden daher jeweils in der Logik von Ursache und Wirkung angeordnet. Stalins ›Handeln‹ als ›genialer Führer‹ verursachte in diesem Paradigma den siegreichen Ausgang jedes einzelnen behandelten Ereignisses. So wurde beispielsweise die Rede Stalins bei »seinem historischen Auftritt im Radio vom 3. Juli 1941« als ein »detailliertes Programm für den Kampf und die Zerschlagung der faschistischen Aggressoren« deklariert, die der Führer hier seinem Volk vorstellte.312 Erst »auf den Appell des Führers hin«313 wurde in dieser Logik die sowjetische Bevölkerung dazu veranlasst, sich gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen: »Beseelt von dem weisen Stalin’schen Programm der Zerschlagung des Feindes stellte das sowjetische Volk unter der Leitung der bolschewistischen Partei seine gesamte Arbeit auf den Krieg um. Die sowjetischen Menschen wurden von unversöhnlichem Hass auf die faschistischen Eindringlinge durchdrungen. Das ganze Land – Armee und Volk, Hinterland und Front – wurden zum geeinten Kriegslager, da sie sich unter der Losung ihres weisen Führers und Feldherrn ›Alles für die Front! Alles für den Sieg!‹ vereinigt hatten.«314

Umgekehrt bedeutete dies, dass sich in diesem Referenzsystem vor allem solche Daten und Ereignisse für die Darstellung im Kontext der Stalin’schen ›Kriegswissenschaft‹ eigneten, bei denen möglichst schlüssig ein unmittelbares Handeln von Stalin selber postuliert werden konnte. Wenn man in dieser Logik die 310 311 312 313 314

Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 16.

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unmittelbare persönliche Beteiligung des Herrschers an einem Ereignis als Maßstab für dessen Bedeutung im Kontext der Kriegsgeschichtsschreibung annimmt, so bot die Leningrader Kriegsgeschichte und insbesondere die Geschichte der Leningrader Zivilbevölkerung kaum geschichtswürdige Stoffe. Stalin selber hatte weder die Stadt noch die Leningrader Front während des Krieges besucht.315 Die Entscheidungen, die für die Verhältnisse in der Stadt entscheidend waren, gingen zwar auf Anordnungen Stalins zurück, wurden jedoch von Leningrader Parteifunktionären und Vertretern der Stadtverwaltung beziehungsweise von der Leitung der Leningrader Front umgesetzt.316 Persönliches Wirken Stalins konnte allenfalls auf dem Gebiet der Militärbefehlsgebung ausgemacht werden. In dieser Widersprüchlichkeit zwischen Stalins Anspruch auf die ›Urheberschaft‹ des Sieges und der Unmöglichkeit, an allen Schauplätzen, so auch in Leningrad, persönlich präsent und aktiv gewesen zu sein, erschließt sich ein fatales Dilemma, das für die Leningrader Kriegsgeschichtsschreibung in den späten 40er-Jahren schwere Folgen nach sich ziehen sollte. In Leningrad förderte die Leningrader Parteiorganisation indessen bereits während des Krieges die Lektüre des Buches »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«. Dies geht aus einem Artikel hervor, den der Leningrader Gorkom-Sekretär für Propaganda Machanov im August 1943 in der Leningradskaja Pravda veröffentlichte. Er bezieht sich darin auf eine zweite Auflage des Werkes, die mit 100000 Exemplaren im Mai 1943 erschienen war.317 Die einzelnen Leningrader Parteistrukturen führten Vorlesungen und Konsultationen zu dem Buch durch, die sowohl beim Gorkom als auch in den großen Industriebetrieben abgehalten wurden. Im Radio wurde wöchentlich eine Sendung zu dem Buch gebracht. Eine große Rolle spielt dabei das »System der beständigen Kontrolle«, die vor Ort von den jeweils leitenden Vertretern der jeweiligen Parteieinrichtung durchgeführt werden sollte. Dazu schreibt Machanov : »Gewöhnlich wird die Kontrolle der politischen Selbstbildung mit dem Mittel regelmäßiger Gespräche durchgeführt, bei denen 5 – 10 Personen anwesend sind. Diese 315 Service weist darauf hin, dass sich Stalin niemals auf mehr als 30 oder 40 Meilen der Front näherte: Service (2004): Stalin (wie Anm. 270), S. 456. 316 Lomagin zeigt, wie gerade zu Beginn des Krieges der ungeheure Erfolgsdruck in Form von Drohungen an die lokalen Partei- und Militärvertreter weitergegeben wurde. Vgl. Kapitel 2 in Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33). Für Quellen zur Kommunikation Stalins mit Verantwortlichen der Leningrader Front und Stadtverwaltung siehe auch Volkovskij (2004): Blokada Leningrada (wie Anm. 15), u. a. S. 16 – 19. 317 Machanov, A. I.: Izucˇenie knigi tovarisˇcˇa Stalina leningradskoj partiinoj organizacii, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947, S. 56ff, hier 56. Dem Artikel zufolge war das Buch trotz der hohen Auflage »innerhalb weniger Tage ausverkauft«, sodass eine Neuauflage von 200000 Exemplaren in Vorbereitung sei.

Inhaltliche Einflüsse

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theoretischen Gespräche werden mit großem Erfolg durchgeführt. Die leitenden Arbeiter kommen nicht selten mit ausführlichen Aufzeichnungen. Manchmal verlaufen die Gespräche in Form heißer kameradschaftlicher Diskussionen.«318

Obwohl diese Ausführungen Machanovs möglicherweise mehr seinen Wunschvorstellungen von der Arbeit der ihm untergebenen Strukturen als den tatsächlichen Gegebenheiten entsprachen und der Artikel zudem sicherlich darauf ausgelegt war, für die Teilnahme an den Lesekreisen und Seminaren zu werben, wird doch deutlich, dass bereits während des Krieges die Ausführungen Stalins zum Großen Vaterländischen Krieg weite, bewusst durch lokale Parteistrukturen gesteuerte Verbreitung fanden. Dies bedeutet auch, dass in Leningrad mit der Historisierung der Belagerung beschäftigte Parteimitglieder mit den Stalin’schen Lehren zum Großen Vaterländischen Krieg zumindest in ihren Grundzügen vertraut gewesen sein müssen. Ob und wie sich dies auf die von ihnen entwickelten und vertretenen Geschichtsbilder auswirkte, wird im Folgenden zu betrachten sein. Inhaltliche und chronologische Grundzüge von Stalins Kriegsgeschichte Gerade für die Ausprägung chronologischer Grundlinien in der Betrachtung des Krieges sollten die Stalin’schen Lehren zum Großen Vaterländischen Krieg prägend werden. So betont Machanov : »Jeder Auftritt des Genossen Stalin charakterisiert in sich eine ganze Periode des Großen Vaterländischen Krieges gegen die deutsch-faschistischen Eindringlinge. Das gründliche und tiefe Studium der Auftritte und Befehle des Genossen Stalin gibt jedem, der sein Buch studiert, die Möglichkeit, sich über die Ziele und Aufgaben des Vaterländischen Krieges bewusst zu werden und klarer seine Rolle und seinen Platz in den gemeinsamen Bemühungen des sowjetischen Volkes bei der Zerstörung des verhassten Feindes zu erkennen.«319

Von den 38 in der 5. Auflage des Bandes veröffentlichten Dokumenten sind 21 als »Prikazy«, also als Befehle überschrieben. Bei weiteren veröffentlichten Texten handelt es sich um Reden, Ansprachen oder Vorträge Stalins. Darüber hinaus finden sich auch fünf Dokumente, in denen Stalin Fragen ausländischer und inländischer Journalisten beantwortet. Die Anlässe der Auftritte und Appelle wiederholen sich alljährlich und spiegeln den Katalog der wichtigsten sowjetischen Feiertage. Darunter ist der 23. Februar als Tag der Roten Armee, der 1. Mai als Tag der Arbeit sowie der 6. und 7 November anlässlich des Revolutionsfeiertages und Feiertage für einzelne militärische ›Berufsgruppen‹ wie die Artillerie. Für 1945 kamen Stalins Ansprachen zum 9. Mai und zum 22. Juni hinzu, 318 Ebenda, S. 56. 319 Ebenda, S. 56.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

die die historiographischen Eckdaten symbolisierten und so die Betrachtung des Krieges als abgeschlossenen Zeitraum innerhalb einer begrenzten Chronologie ermöglichten. Mit dem ersten Dokument, der Ansprache vom 3. Juli 1941 und der Ansprache zur Kapitulation Japans am 3. September 1945, die für Stalin das Ende des Zweiten Weltkrieges markierte, war der Rahmen für eine Chronologie des Großen Vaterländischen Krieges bereits durch Aufbau und Zusammenstellung der Beiträge in dem Sammelband gesteckt. Sowohl die chronologischen Grundzüge als auch inhaltliche Elemente der Deutung des Krieges legte Stalin gegen Ende des Krieges in seinen einzelnen Auftritten fest. Besonders aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang die Reden, die er alljährlich anlässlich des Revolutionsfeiertages hielt. Am 6. November jedes Kriegsjahres trat Stalin vor dem Verteidigungskomitee und dem Moskauer Sowjet der Arbeiterdeputierten bei einer feierlichen Sitzung auf. Die Reden zu dieser Gelegenheit waren besonders ausführlich und in mehrere Unterpunkte gegliedert und enthielten einige der propagandistischen Grundlinien, die später als von Stalin entwickelte, zentrale Lehren und Theorien zum Großen Vaterländischen Krieg propagiert wurden. Im Vergleich zu anderen staatsführenden Politikern trat Stalin wenig in der Öffentlichkeit auf und vergrößerte damit den ihn umgebenden Nimbus, da er eine breite Projektionsfläche für die Vorstellungen der Bevölkerung bot.320 Prägend für die Geschichtsschreibung in der Nachkriegszeit und damit auch für die Leningrader Kriegsgeschichte war insbesondere der Vortrag vom 6. November 1944 anlässlich des 27. Jahrestages der Oktoberrevolution vor dem Moskauer Sowjet der Arbeiterdeputierten.321 In dieser Rede waren zwei wichtige Grundmotive stalinistischer Kriegsgeschichtsschreibung angelegt. Dies sind die Einteilung der Kriegsgeschichte in vier Perioden und die Deutung der militärischen Erfolge der Roten Armee 1944 als »zehn vernichtende Schläge« gegen den Feind. Die vier Perioden in der Stalin’schen Kriegsgeschichtsschreibung Im November 1944 zeichnete sich bereits deutlich ab, dass die Sowjetunion siegreich aus dem Großen Vaterländischen Krieg hervorgehen würde. Das tatsächliche Ende des Krieges war jedoch noch nicht abzusehen. Daher wurden in dem Vortrag drei Phasen des Kriegsverlaufes benannt: Die ersten beiden Kriegsjahre waren Jahre des Vorrückens der deutschen Armee, in denen die Rote Armee Verteidigungskämpfe führen musste. Das dritte Kriegsjahr (1943) wurde als »Jahr des grundlegenden Umbruchs«322 bezeichnet, 320 Service (2004): Stalin (wie Anm. 270), S. 451. 321 Stalin (1945): O Velikoj (wie Anm. 179), S. 134 – 149. 322 russ.: god korennogo pereloma

Inhaltliche Einflüsse

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während das vierte Kriegsjahr zum »Jahr der entscheidenden Siege«323 erklärt wurde. Diese Einteilung wurde nach dem Krieg von professionellen Historikern aufgenommen und weiterentwickelt. Die sowjetische Historiographie der frühen 50er-Jahre schuf aus den von Stalin vorgegebenen chronologischen Grundlinien eine feststehende Chronologie: Die erste Phase des Krieges erstreckte sich demnach über den Zeitraum von Juni 1941 bis Herbst 1942 und wurde euphemistisch als »Periode der aktiven Verteidigung der Sowjetarmee« bezeichnet. Als wichtigste Aspekte in diesem Zeitabschnitt galten das Scheitern des Blitzkriegsplanes und die Verteidigung Moskaus.324 Die zweite Kriegsphase dauerte von Ende 1942 bis Ende 1943 und wurde als »Periode des grundlegenden Umbruchs im Kriegsverlauf« bezeichnet. Als kennzeichnend für diesen Zeitabschnitt galt, dass die Rote Armee zur Offensive übergegangen sei und in dieser Periode zwei Drittel des besetzten Territoriums zurückerobert wurden. Stalingrad und Kursk galten dabei als entscheidende Etappen.325 Als dritte Kriegsphase wurde das Jahr 1944 als »Jahr der entscheidenden Siege der Sowjetarmee« oder »Periode der zehn Stalin’schen Schläge«326 betrachtet. Die Befreiung Leningrads im Januar 1944 figurierte in diesem Schema als erster der ›zehn Schläge‹, die zur Befreiung der Sowjetunion geführt hätten.327 Als vierte und letzte Kriegsphase galt der Zeitraum von Ende 1944 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, das in diesem Schema durch die Kapitulation Japans am 2. September 1945 markiert ist. Die Phase wurde als »Periode der abschließenden Siege der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und das imperialistische Japan« bezeichnet. Kerndaten waren hier die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai und die Kapitulation Japans am 2. September 1945.328 Auffallend an dieser Chronologie ist die Verkürzung der jeweiligen Kriegsphasen zum Ende des Krieges hin. Die für die sowjetische Seite mit großen Schwierigkeiten, Verlusten und Niederlagen verbundenen ersten Kriegsjahre werden in einer Periode zusammengefasst. Dabei liegt der Akzent nicht auf den Verlusten und Niederlagen, sondern auf der »aktiven Verteidigung« und dem Scheitern des Blitzkriegsplanes. Diese historische Periode konnte nur an einem 323 russ.: god resˇajusˇcˇich pobed ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 20 f sowie Anisimov, I.; Kuzmin, G.: 324 Vgl. C Velikaja Otecˇestvennaja vojna Sovetskogo Sojuza 1941 – 1945. Moskva, 1952, S. 3 – 60. ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 21 f sowie Anisimov / Kuzmin (1952): 325 Vgl. C Velikaja Otecˇestvennaja (wie Anm. 324), S. 61 – 87. ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 22. 326 C 327 Vgl. Ebenda, S. 22 sowie Anisimov / Kuzmin (1952): Velikaja Otecˇestvennaja (wie Anm. 324), S. 88 – 121. ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 22 sowie Anisimov / Kuzmin (1952): 328 Vgl. C Velikaja Otecˇestvennaja (wie Anm. 324), S. 122 – 162.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

Punkt enden, an dem der deutsche Vormarsch zumindest zum Stehen gekommen war und erste Erfolge auf sowjetischer Seite zu verzeichnen waren. Bezüglich der Leningrader Kriegsgeschichte ist anzumerken, dass wesentliche Ereignisse und Themen, die mit der Blockade der Stadt und insbesondere der Tragödie der Zivilbevölkerung verbunden waren, gänzlich in der ersten Kriegsphase aufgehen. Der Durchbruch der Blockade im Januar 1943, ein wesentlicher Wendepunkt des Kriegsverlaufes für Leningrad, lässt sich nur allgemein am Anfang der zweiten Stalin’schen Kriegsphase verorten. Die Phasen der Stalin’schen Chronologie erstrecken sich im Allgemeinen von Jahresende zu Jahresende. Dies war durch den Entstehungszusammenhang der einzelnen Reden anlässlich des Feiertages am 7. November begründet. Damit verläuft Stalins Chronologie im Wesentlichen diametral entgegengesetzt den für Leningrad wichtigen Ereignissen, die jeweils am Jahresanfang stattfanden. Dies machte es praktisch unmöglich, eine an wichtigen Eckdaten für Leningrad orientierte Darstellung mit der Stalin’schen Chronologie in Einklang zu bringen. In den ersten Nachkriegsjahren war die Existenz solcher verschiedenartiger chronologischer Konzeptionen unter Verweis auf das gesonderte Schicksal Leningrads noch möglich. Wie die Behandlung des Verteidigungsmuseums in Kap. V zeigen wird, wurde jedoch die Absolutheit, mit der dieses Schema aller Kriegsgeschichtsschreibung zugrunde gelegt werden sollte, letztendlich zum Stolperstein für abweichende Konzeptionen: Jede lokale Kriegsgeschichtsschreibung, so sehr ihre Autoren auch um politische Unverfänglichkeit bemüht gewesen sein mochten, wurde durch sie zum Scheitern verurteilt. Die ›zehn Stalin’schen Schläge‹ Mit den zunehmenden Erfolgen der Roten Armee wurden die Kriegsperioden in der Stalin’schen Chronologie kürzer und differenzierter, insbesondere das Schema der ›zehn Schläge‹ trägt zu einer Differenzierung bei und verstärkt den militärgeschichtlichen Schwerpunkt. In diesem Schema werden die großen militärischen Erfolge, die die Rote Armee 1945 verzeichnen konnte, als von Stalin persönlich geplante ›Schläge gegen den Feind‹ dargestellt. Das Deutungsmuster der ›zehn Schläge‹ diente dazu, die persönliche Verantwortung Stalins für den Sieg der Roten Armee ideologisch zu verankern. Es wurde bereits unmittelbar nach Kriegsende aufgegriffen und in einer von der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Generalstabs der Roten Armee Ende Mai 1945 herausgegebenen Broschüre329 ausführlich dargestellt. In dieser Abhandlung werden folgende Episoden und Kriegsschauplätze wie folgt als ›zehn Schläge‹ benannt: 329 Ohne Autor : Desjat’ sokrusˇitel’nych udarov. Kratkij obzor operacii krasnoj armii v 1994 g. Moskva, 1945.

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Inhaltliche Einflüsse

Erster Schlag Zweiter Schlag Dritter Schlag Vierter Schlag Fünfter Schlag Sechster Schlag Siebter Schlag Achter Schlag Neunter Schlag Zehnter Schlag

»Die Zerschmetterung der Deutschen vor Leningrad« »Die Zerschmetterung der Deutschen in der rechtsufrigen Ukraine« »Die Zerschmetterung der deutsch-rumänischen Truppen auf der Krim und vor Odessa« »Die Zerschmetterung der finnischen Truppen in Karelien« »Die Zerschmetterung der Deutschen in Weißrussland« »Die Zerschmetterung der Deutschen in der Westukraine« »Die Jassko-Kisˇinevskaja-Operation« »Die Zerschmetterung der Deutschen im Baltikum« »Die Zerschmetterung der deutsch-ungarischen Truppen auf ungarischem Gebiet« »Die Zerschmetterung der Deutschen in der Pecˇenga-Region«

Januar – Februar 1944 Februar – März 1944 April – Mai 1944 Juni – Juli 1944 Juni – Juli 1944 Juli – August 1944 August 1944 September – Oktober 1944 ohne Zeitangabe Oktober 1944

Das Schema der ›zehn Schläge‹ berücksichtigt die einzelnen Kriegsschauplätze aus einem rein militärgeschichtlichen Blickwinkel, ohne tiefer auf die Folgen der militärischen Kampfhandlungen und die Zustände vor Ort einzugehen. Gleichzeitig wird eine Deutung angeboten, die Stalin als unmittelbaren Urheber der Erfolge auf der ganzen (Front-)Linie darstellt. Danach sind die militärischen Erfolge des Jahres auf einen »Auftrag« zurückzuführen, den der Genosse Stalin in seinem Befehl No. 70 vom 1. Mai 1944 ausgesprochen habe. Dieser lautete, den Feind nicht nur aus den eigenen Grenzen zu vertreiben, sondern »bis in die eigene Höhle zu verfolgen«330. Der Text der Broschüre fährt fort: »Um diese großen historischen Aufgaben zu erfüllen, führte die Rote Armee im Jahr 1944 zehn gewaltige, zerstörerische Schläge gegen den Feind aus. Es ist einfach zu erkennen, dass all diese zehn Angriffsoperationen Teile eines einheitlichen, genial erdachten, gründlich vorbereiteten und glänzend ausgeführten strategischen Planes sind, dass sie alle durch die Einheit eines strategischen Vorhabens des Oberkommandos der Streitkräfte verbunden sind.«331

Das Zitat legt eine eindeutige Interpretation der militärischen Erfolge des Jahre 1944 nahe. Sie sollen als persönliche Erfolge des Generalissimus Stalin verstanden werden. Stalins Befehle waren in diesem Paradigma Ausgangspunkt, sein Plan die Bedingung für alle militärischen Erfolge des Jahres 1944. Leningrad nimmt in diesem System die Rolle eines Kriegsschauplatzes unter 330 Ebenda, S. 10. 331 Ebenda, S. 11

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

vielen ein, der im Stalin’schen Paradigma erst in dem Moment des ›Großen Sieges bei Leningrad‹ von Interesse ist. Dieser figuriert als ›erster Schlag‹ zur endgültigen Befreiung der Sowjetunion. In der Aufbereitung des Schemas durch die kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabs werden sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Kulturschätze der Stadt am Rande erwähnt. Sie erfüllen die Rolle einer zusätzlichen Motivation für die Kämpfenden: »Ein Streben beseelte unsere Truppen – so schnell wie möglich die Stadt Lenins von den barbarischen Bombardierungen der deutschen Artillerie zu befreien, sich grausam an den faschistischen Schurken für all den Kummer zu rächen, den sie der Zivilbevölkerung Leningrads zugefügt hatten. Den Tod von Frauen, Alten und Kindern zu rächen sowie die Zerstörungen, die in Leningrad, Gatschina und Puschkin angerichtet worden waren, die Vernichtung und den Raub der großartigen Kulturschätze, die die faschistischen Barbaren mit ihrer Wirtschaft im Landkreis Leningrad angerichtet hatten.«332

Die hier dargestellte Sicht der Ereignisse unterscheidet sich massiv vom Blickwinkel der Leningrader Zivilbevölkerung. In lokaler Perspektive war der ›große Sieg vor Leningrad‹ zwar ein sehr bedeutendes Ereignis, das eigentliche Epos des Krieges lag für die Leningrader jedoch in den Jahren vor der siegreichen Beendigung der Belagerung. Die Rolle der Partei Nach dem Beginn der Leningrader Affäre ergab sich im Hinblick auf die thematischen Schwerpunkte, die aus der Exegese der Stalin’schen Kriegslehren folgten, noch ein weiterer unauflösbarer neuralgischer Punkt. Im Stalin’schen Paradigma kam der Partei während des Krieges eine zentrale Rolle zu. Es war dies die Rolle der »VKP (b) als Organisator und Inspirateur unserer Siege im Großen Vaterländischen Krieg«333. In der inneren Logik des Paradigmas, das sich bis zu den frühen 50erJahren entwickelte, war die Rolle der Partei eng verbunden mit den »beständig wirkenden Faktoren«, die laut Stalin letztendlich für den Ausgang des Krieges ausschlaggebend sein sollten, nämlich die »Widerstandsfähigkeit des Hinterlandes, Stimmung der Truppen, Anzahl und Qualität der Divisionen, Bewaffnung der Armee, sowie die Organisationsfähigkeit der Beˇ asˇnikov kommentiert: fehlshaber der Armee«334. C »Der Leitsatz über die beständig wirkenden Faktoren gab der bolschewistischen Partei und dem sowjetischen Volk den Schlüssel zum Verständnis der grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Krieges, der unmittelbaren Verbindung von Kriegsverlauf und Ausgang des Krieges mit dem Charakter und der ökonomischen und politischen 332 Ebenda, S. 18. 333 Vgl. bspw. Talenskij (1952): O knige (wie Anm. 190), S. 28. ˇ asˇnikov (1953): O knige (wie Anm. 190), S. 24. 334 Stalin, zit. nach C

Inhaltliche Einflüsse

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Entwicklung des Staates und seiner Ideologie, des Reifegrades seiner Kader und der Stärke und moralischen Standhaftigkeit seines Hinterlandes.«335

Die Partei spielte hier eine doppelte Rolle. Zum einen war sie sozusagen der lebende Beweis für die Überlegenheit der sowjetischen Staatsordnung, da sie die ideologisch fortschrittlichen und ausgereiften Kader in sich bündelte, zum anderen zeigte sich hier ihre Aufgabe, die gesellschaftlichen Kräfte des Landes im Krieg zu mobilisieren. In dieser Logik wäre der Leningrader Parteiorganisation und ihrer organisatorischen Tätigkeit während der Belagerung eine große Rolle im offiziellen Kriegsgedenken zugekommen. Nach der Leningrader Affäre wurden jedoch ihre wichtigsten Vertreter, die während der Blockade gewirkt hatten, zu politischen Unpersonen. Sie büßten ihren Wert als politisch-historische Aushängeschilder vollkommen ein. Mit ihren als Staatsfeinden angeprangerten und verurteilten Akteuren wurde die Geschichte der Leningrader Parteiorganisation während des Krieges zu einem politisch höchst brisanten Thema. Dies machte einen wichtigen Teil des stalinistischen Paradigmas im Kontext der Leningrader Kriegsgeschichte nach 1949 praktisch unerfüllbar. Leningrad als ein Kriegsschauplatz unter vielen Das Werk Stalins »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« macht in seinem Aufbau und der Auswahl eines deutlich: Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, die in den ersten Nachkriegsjahren nach den ideologischen Vorgaben Stalins entstand, sollte eine einheitliche Geschichte sein. David Brandenberger zeigt in seiner Arbeit überzeugend, wie in der stalinistischen sowjetischen Geschichtsschreibung die Rolle der nicht-russischen Nationalitäten und Republiken zugunsten einer vereinheitlichten russozentrischen Linie marginalisiert wurde.336 Ein ähnlicher Vorgang betrifft die Behandlung einzelner Kriegsschauplätze in der Konzeption des Großen Vaterländischen Krieges: Sie konnten nur insofern berücksichtigt werden, als sie für den siegreichen Ausgang des gesamten Krieges bedeutsam waren. Im Bezug auf die Blockade zeigt sich dies besonders deutlich, wenn man die Darstellung des Blockadedurchbruchs im Januar 1943 mit der Befreiung Leningrads im Januar 1944 vergleicht. Der Durchbruch der Blockade, der für die Bewohner der eingeschlossenen Stadt von enormer moralischer und materieller Bedeutung war, da er die Versorgungslage massiv verbesserte, findet sich im Sammelband nur im Rahmen einer umfassenden Bilanz, die Leningrad nicht besonders hervorhebt:

335 Vgl. Ebenda, S. 24 f. 336 Brandenberger (2002): National Bolshevism (wie Anm. 107), S. 183 – 196.

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Bedingungen der Historisierung 1944 – 1949

»Im Ergebnis zweimonatiger Angriffskämpfe durchbrach die Rote Armee auf einer breiten Front die Verteidigung der deutsch-faschistischen Truppen und zerstörte 102 Divisionen des Gegners, nahm über 200000 Kriegsgefangene, eroberte 13000 Geschütze und viel anderes Gerät und bewegte sich bis zu 400 Kilometer vorwärts. […] Ich spreche den Kommandeuren und den ruhmreichen Truppen Dank aus, die die Hitlerarmeen vor Stalingrad zerschlagen, die Blockade Leningrads durchbrochen und die Städte Kantemirovka, Belovodsk, Morozovskij […] von den deutschen Okkupanten befreit haben.«337

Leningrad, die ›zweite Hauptstadt‹, wird hinter Stalingrad und in einer Reihe mit kleineren Orten erwähnt. In einer längeren Ansprache anlässlich des Feiertages der Roten Armee am 23. Februar 1943 in Moskau kommt Leningrad ebenfalls in einer Aufzählung zusammen mit anderen Orten als ein Kriegschauplatz unter vielen vor. Seine Erwähnung dient lediglich dazu, einen von Stalin beschworenen Wandel der Kräfteverhältnisse zugunsten der Roten Armee zu verdeutlichen.338 In einer Ansprache zum selben Anlass ein Jahr später, nachdem Leningrad von der Belagerung befreit worden war, geht Stalin ausführlicher auf die Stadt ein: »Ein großer Sieg wurde von unseren sowjetischen Truppen bei Leningrad errungen. Unsere Truppen haben ein mächtiges System seit Langem bestehender, tief gestaffelter Befestigungen des Gegners durchbrochen, eine starke Gruppe deutscher Truppen zerstört, Leningrad vollständig von der feindlichen Blockade und dem barbarischen Artilleriebeschuss befreit.«339

Die hier angeführten Zitate verdeutlichen den dezidierten militärgeschichtlichen Schwerpunkt, der durch die Erhebung des Sammelbandes »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« zum Standardwerk der sowjetischen Kriegsgeschichte gesetzt wurde. Gerade der Blick auf die Behandlung der Leningrader Kriegsgeschichte zeigt, was auch für andere Schauplätze des Krieges gelten mag: Zwar wurden die militärischen Erfolge zum Bestandteil der offiziell behandelten Kriegsgeschichte, in den Reden und Befehlen des Generalissimus hatte jedoch das Schicksal und das Erleben Einzelner über Floskeln hinaus keinerlei Stellenwert. Die persönliche Hauptrolle bei der Erringung des Sieges, die sich ›Genosse Stalin‹ in seinen Kriegslehren zugeschrieben hatte, wurde in seiner 1947 erschienenen »Kurzen Biographie« zusammengefasst, abgerundet 337 Stalin, I. V.: Prikaz verchovnogo glavnokomandujusˇcˇego po vojskam jugo-zapandnogo, juzˇnogo, donskogo, severo-kavkazskogo, voronezˇskogo, kalininskogo, volchovskogo i leningradskogo frontov«, 25.01. 1943, in: Ohne Herausgeber (Hg.): O Velikoj otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. 5 Aufl. Moskva, 1945, S. 76. 338 Stalin, I. V.: Prikaz verchovnogo glavnokomandujusˇcˇego, 23.02. 1943., in: Ohne Herausgeber (Hg.): O Velikoj otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. 5 Aufl. Moskva, 1945, S. 80 f. 339 Stalin, I.: Prikaz verchovnogo glavnokomandujusˇcˇego, 23. 02. 1944, in: Ohne Herausgeber (Hg.): O Velikoj otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. 5 Aufl. Moskva, 1945, S. 120.

Inhaltliche Einflüsse

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und mit Kommentaren aus der Pravda und von Molotov ausgeschmückt.340 Dadurch dass Stalins Version des Krieges zum Maßstab allen öffentlichen Kriegsgedenkens erhoben wurde, öffnete sich eine unüberbrückbare Lücke zwischen dem, was die Akteurinnen und Akteure sowie Rezipientinnen und Rezipienten offiziellen Erinnerns vor Ort erlebt hatten, und dem, was sie nun erinnern sollten. Selbst für Soldaten, die in dem Schema noch als militärische Protagonisten Platz fanden, eignete sich dieses Paradigma keineswegs dazu, mit ihren Erlebnissen umzugehen und weiterzuleben.

340 Aleksandrov, G. F.: Iosif Vissarionovicˇ Stalin. Kratkaja biografija, 2. Aufl., Moskva, 1947, S. 182 – 243.

III. Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

1.

Zwei Institute – ein Thema: Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit »So war es! Und von dieser Stunde an beginnt eine neue Periode im Leben der Stadt, wenn der Historiker die Feder nimmt und beginnt, der Reihe nach die ganze Geschichte des beendeten titanischen Epos zu schreiben.«341

Dieses Bild vom Historiker, der sich nach der Beendigung der Kämpfe um Leningrad hinsetzt, um alles Geschehene für zukünftige Generationen zu Papier zu bringen, stammt aus der Feder des Leningrader Schriftstellers und Literaturfunktionärs Nikolaj Tichonov. Neben der Erleichterung über die Beendigung der Blockade manifestiert sich darin gleichzeitig der Anspruch, dass die Kriegsgeschichte Leningrads in Zukunft auf einer Ebene mit den Heldenmythen des klassischen Altertums zu stehen habe. Mit der Entstehung von Geschichtsbildern zur Blockade in der Nachkriegszeit hat dieses idealisierte Bild nichts zu tun. Die Historisierung der Belagerung Leningrads war ein Prozess, der bereits weit vor dem Ende der Blockade einsetzte und auch keinesfalls von einer Person oder Personengruppe, insbesondere nicht von der Gruppe der Historiker vollzogen wurde. Lisa Kirschenbaum hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der Große Vaterländische Krieg bereits seit seinem Beginn in der Öffentlichkeit als »history in the making«342 präsentiert wurde. Dieser Umstand erschwert die Unterscheidung zwischen Geschichtsbildern, die eher dem Bereich der Kriegspropaganda zuzuordnen sind, und solchen, die den Beginn der nachträglichen Bearbeitung und Historisierung der Blockade kennzeichnen. Darstellungen zu den Ereignissen in Leningrad wurden bereits während des Krieges in unterschiedlichen Medien und von unterschiedlichen Körperschaften entwickelt und 341 Tichonov, N. S.: Pobeda! Leningrad v janvare, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947, S. 203, hier 203. 342 Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111), S. 77.

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

verbreitet. Gleichzeitig hatten, wie dieses Kapitel zeigen wird, auch wissenschaftliche Einrichtungen unterschiedliche Funktionen und Aufgaben und dienten nicht ausschließlich der wissenschaftlichen Arbeit. Zur historiographischen Bearbeitung der Blockade, ihrer eigentlichen Historisierung und zur Sammlung und Archivierung von Dokumenten aus der Kriegszeit standen im Leningrad der Kriegs- und Nachkriegszeit zwei wissenschaftliche Einrichtungen zur Verfügung: Das Historische Institut der Akademie der Wissenschaften und das Institut für Parteigeschichte. Die Leningrader Akademie der Wissenschaften war bereits seit ihrer Gründung im 18. Jahrhundert ein staatliches Wissenschaftszentrum. Bei dem Institut für Parteigeschichte handelte es sich um ein Parteiorgan der VKP, das eng mit der lokalen Abteilung für Agitation und Propaganda zusammenarbeitete. Arbeitsschwerpunkte des Instituts für Geschichte der Akademija Nauk waren die Forschung und wissenschaftliche Publikation. Dem Institut für Parteigeschichte ging es hingegen mehr um die Sammlung und Vermittlung von Informationen, die der ideologischen Arbeit der Parteiorgane von Nutzen sein konnten. Beide Einrichtungen konkurrierten zunächst um den Vorrang bei der Bearbeitung des Themas Blockade.343 Dabei muss angemerkt werden, dass die Initiative zur Dokumentierung der Leningrader Kriegsgeschichte mit dem Ziel der historiographischen Aufarbeitung sehr früh ergriffen wurde. Bereits im März 1942, als der Hungerwinter des ersten Kriegsjahres noch nicht vergangen war, bemühte sich das historische Institut der Akademie der Wissenschaften um die Bildung einer Kommission zur Sammlung von Material über die Verteidigung der Stadt.344 In einem Schreiben an Militärsowjet und Gorkom heißt es: »Die vollständige Geschichte des großen Befreiungskrieges wird natürlich nicht jetzt und nicht sofort geschrieben werden. Dafür werden Jahre sorgfältigen Sammelns, kritischen Überprüfens und literarischen Verarbeitens von dokumentarischem Material benötigt, aber es ist unerlässlich, diese Arbeit jetzt zu beginnen, unter Mitarbeit von Zeitgenossen und Kriegsteilnehmern, denn nur dies garantiert die Vollständigkeit und den Wert des gesammelten Materials.«345

In demselben Schreiben bietet die Akademie die Dienste ihrer Historiker an, um diese Arbeit der Dokumentation zu leisten. Etwa zeitgleich wurde im Institut für

343 Diese Vorgänge sind von Dzeniskevich untersucht und beschrieben worden. Siehe insbesondere Dzeniskevicˇ (1998): Blokada i (wie Anm. 119), S. 7 sowie: Dzeniskevicˇ, A.: O sozdanii obsˇcˇegorodskoj komissii po sboru materialov dlja istorii oborony Leningrada, in: Rossijskaja Akademija Nauk, Institut rossijskoj istorii, Sankt-Peterburgskij filial (Hg.): Leningradskaja nauka v gody velikoj otecˇestvennoj vojny. St. Peterburg, 1995, S. 129 – 139. 344 Ebenda, S. 131 345 Zit. nach Ebenda, S. 131.

Zwei Institute – ein Thema: Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit

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Parteigeschichte bereits mit dem Sammeln von Material zur Blockade begonnen.346 Die Behandlung des Antrags der Akademie der Wissenschaften wurde zunächst aufgeschoben. Er kam erst am 3. April 1943347 auf einer gemeinsamen Sitzung von Obkom und Gorkom zur Sprache. Hier wurde eine Kommission zum Sammeln von Materialien mit dem Ziel der Herausgabe einer Chronik »Leningrad und der Leningrader Landkreis im Vaterländischen Krieg gegen die deutsch-faschistischen Eindringlinge« gebildet. Das Stadtkomitee der Partei wollte dieses Thema jedoch nicht den Historikern, die nur zu einem geringen Anteil Parteimitglieder waren, überlassen.348 Hinzu kam, wie Camutali betont, dass viele Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und des Instituts für Geschichte zu diesem Zeitpunkt bereits evakuiert worden waren.349 In die Kommission wurden ausschließlich Parteifunktionäre berufen. Sammlung und Archivierung der Quellen übernahm das Institut für Parteigeschichte, die wissenschaftliche Qualifikation der Forschenden war dabei zweitrangiges Kriterium.350 In den folgenden Jahren verlor das Institut für Geschichte weiter an Einfluss. Während der Leningrader Affäre berichtete der Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des Leningrader Gorkom seinem neu von Moskau eingesetzten Vorgesetzten Andrianov : »Die Abwesenheit des Prinzips der bolschewistischen Parteilichkeit in der Arbeit des LOII, die Gutmütigkeit und Selbstzufriedenheit, die versöhnlerische Haltung gegenüber den von vielen Historikern noch nicht überwundenen Traditionen der bourgeoisen Geschichtswissenschaft führte zur Verbreitung objektivistischer Ansichten unter einer Reihe von wissenschaftlichen Mitarbeitern des LOII.«351

Diese Äußerungen zeigen, dass die Leningrader Affäre sich auch auf Ansehen und Einfluss des Historischen Instituts negativ auswirkte.352 In demselben 346 Dies zeigen die Bestände des CGAIPD in St. Petersburg, das als ehemaliges Parteiarchiv die Bestände des Istpart beherbergt. Die im Rahmen des Instituts durchgeführten Zeitzeugenbefragungen und das von Institut gesammelte Material (Tagebücher, Lebensberichte etc.) sind im Fond 4000 zu finden. 347 Ebenda, S. 134 348 Dzeniskevicˇ (1998): Blokada i (wie Anm. 119), S. 7. 349 Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13), S. 149. 350 Plaggenborg diagnostiziert den Vorrang der Parteiinstitutionen vor staatlichen und Regierungsinstitutionen als Merkmal stalinistischer Herrschaft. Vgl. Plaggenborg, S.: XI. Die Organisation des Sowjetstaates, in: Hellmann, M.; Schramm, G.; Zernack, K. (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands. Stuttgart, 1992, S. 1414 – 1525, hier 1446 f. 351 f. 25; op. 18; sv. 1348; ed. chran. 173, CGAIPD: Smolovik an Andrianov : Auskunft über die Arbeit der Leningrader Abteilung des Institutes für Geschichte der Akademie der Wissenschaften 28. 04. 1949, S. 1. 352 Zu den Problemen des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften siehe auch Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13).

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

Schreiben moniert Smolovik, dass ein geplantes dreibändiges Werk zur Geschichte Leningrads, das im Januar 1951 erscheinen sollte, »umfangreiche Mängel aufweise und an Objektivismus leide«353. Ob diese Kritik sich auch auf die Behandlung der Kriegszeit in dem geplanten Projekt bezog, lässt sich der Quelle leider nicht entnehmen. Auch am Institut für Parteigeschichte ging die Leningrader Affäre nicht spurlos vorüber : Im Februar 1949 wurde der Direktor des Institutes Avvakumov seines Amtes enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Ihm wurden Fehler in der Auswahl des Personals vorgeworfen.354 Die Tatsache, dass die historiographische Bearbeitung der Blockade vorrangig durch ein Parteiinstitut übernommen wurde, hatte weitreichenden Einfluss auf Form und Inhalt des offiziellen Gedenkens an die Blockade. Um dies deutlich zu machen, ist es notwendig, kurz auf die Geschichte der Institute für Parteigeschichte einzugehen. Bei den Istpart handelte es sich um Archivierungsund Forschungseinrichtungen, die sich mit der Geschichte der Revolution und der VKP (b) beschäftigten und sowohl zentral in Moskau als auch in den regionalen Zentren der Sowjetunion agierten. Sie waren jeweils einerseits dem beim CK angesiedelten Moskauer Lenininstitut und andererseits den jeweiligen Stadt- beziehungsweise Landkreis–Parteikomitees unterstellt.355 Das erste Institut für Parteigeschichte war im Herbst 1920 auf der Grundlage der »Kommission zur Geschichte der RKP und Oktoberrevolution« gegründet worden. Das Moskauer sowie das Leningrader Istpart wurden bereits im selben Jahr eingerichtet. Zu den Aufgaben der Istpart gehörte das Sammeln historischer Materialien und deren Präsentation. Dabei beschränkten sie sich nicht auf wissenschaftliche Publikationen, sondern wurden zu Zentren lokaler und zentraler Geschichtspolitik. Bereits seit den 20er-Jahren waren sie beispielsweise mit der Organisation von »Ausstellungen über die Geschichte von Partei und Revolution, ›Leninecken‹, Revolutionsmuseen, Erinnerungsabenden, Vorträgen […]«356 in Moskau und an anderen Orten befasst. »Kooperationsgruppen« in Betrieben, Parteistrukturen und Armee-Einheiten unterstützten Istpart-Mitarbeiter in diesen Tätigkeiten.357 Arbeitsschwerpunkte der Institute für Parteigeschichte lagen bereits seit ihrer Gründung sowohl im Sammeln schriftlichen Materials als auch in der Arbeit mit Interviews und der Sammlung biographischer Zeitzeugenberichte.358 353 CGAIPD (1949): Smolovik an (wie Anm. 351), S. 4. 354 Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13), S. 152. 355 Komarov, N. S.: Sozdanie i dejatel’nost’ Istparta. (1920 – 1928), in: Voprosy istorii KPSS (1958), 5, S. 153 – 165, hier 165. 356 Ebenda, S. 159 f. 357 Ebenda, S. 159. 358 Ebenda, S. 156.

Propaganda und Forschung in einem

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Im Zusammenhang mit der Historisierung der Belagerung soll nun die Arbeit des Leningrader Institutes für Parteigeschichte sowohl anhand seiner Veröffentlichungen in den späten 40er-Jahren als auch anhand unveröffentlichter Quellen beleuchtet werden. Das während des Krieges und unmittelbar nach Beendigung der Belagerung produzierte Rohmaterial zu den Themen Belagerung und Verteidigung Leningrads im Krieg dokumentiert die Entstehung von Geschichtsbildern zur Blockade vor Ort. Dabei zeigt sich zum einen die Arbeitsweise des Parteiinstitutes, zum anderen wird deutlich, welche Themen und Inhalte von Zeitzeugen in Leningrad unmittelbar nach dem Krieg erinnert wurden. Die besondere Bedeutung des Leningrader Istpart für die Historisierung der Belagerung liegt darin, dass das Institut sich nicht darauf beschränkte, Material für Forschungen und Publikationen zu sammeln, sondern gleichzeitig politisch motivierte Erinnerungsveranstaltungen durchführte und dokumentierte. Aus dieser Tätigkeit ergibt sich ein Bereich, in dem sich politische ›Bildungs- und Aufklärungsarbeit‹ – beziehungsweise Propaganda – mit der Erhebung historischer Quellen vermischte.

2.

Propaganda und Forschung in einem: Erinnerungsveranstaltungen und Interviews des Instituts für Parteigeschichte

Als parteieigene Einrichtung war das Institut für Parteigeschichte – äußerlich eine Forschungs- und Archivierungseinrichtung – im besonderen Maße der politischen Linientreue seiner Forschungsergebnisse und Publikationen verpflichtet. Dies bedeutete, dass die Prozesse des Erhebens von Quellenmaterial, seiner Analyse und seiner politischen Instrumentalisierung sich institutionell überlagerten. Material wurde erhoben, um damit – letztendlich – Geschichtspolitik zu betreiben. Damit stand nicht das Sammeln an sich, sondern die Selektion und Interpretation im Vordergrund. Das Istpart sammelte zwischen 1941 und 1946 intensiv Erzählungen, Augenzeugenberichte und Tagebücher zu den Vorgängen in Leningrad während des Krieges.359 Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Befragungstätigkeit wandelten sich im Laufe der Zeit: Während 1944 sehr viele Kommandeure von Partisanenregimentern sowie Werksdirektoren und Vorarbeiter befragt wurden, nahm 1946 / 47 der Anteil an Interviews zu, die sich mit dem Berufsleben in verschiedenen Berufsgruppen beschäftigten, darunter Vorarbeiter in Fabriken 359 Vgl. Camutali (2005): Zametki po (wie Anm. 13), S. 148. Demnach wurden die ersten Interviews bereits im November 1941 durchgeführt.

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

und Lehrer, aber auch Parteifunktionäre. Die Gespräche wurden von IstpartMitarbeitern mitstenographiert. Die archivierten Protokolle, die im CGAIPD transkribiert vorliegen, geben den Inhalt der Gespräche zumeist wörtlich wieder. Vielfach vermitteln sie einen guten Einblick in Gesprächssituation, Wortwahl und Bildungsstand der Zeitzeugen. Auch wird ersichtlich, welche Themenbereiche den Befragten bei den Darstellungen ihrer Erlebnisse wichtig waren. Bei Durchsicht der Findbücher entsteht der Eindruck, dass bereits nach 1946 das Interesse an der Erforschung der Blockade abnimmt und erst ab den späten 50ern und Anfang der 60er-Jahre überhaupt wieder Umfragen gemacht wurden, in denen die Belagerung unter anderen Themen ein Rolle spielte.360 In diesen später erhobenen Quellen taucht das Thema Blockade nur vereinzelt als Teil von Biographien und nicht als Hauptthema der jeweiligen Erzählung auf. Erinnerungsveranstaltungen Ein Beispiel für ein Arbeitsfeld des Istpart, bei dem sich ideologisch-politische Ziele mit dem Sammeln von Quellenmaterial vermischten, war die Protokollierung und Archivierung sogenannter Erinnerungsabende361. Diese Praxis wurde bereits in den 20er-Jahren begonnen und institutionalisierte sich zunehmend.362 Über den Organisationsprozess und darüber, welche Strukturen das jeweilige Treffen organisiert und vorbereitet haben, geben die Quellen keine Auskunft. Es liegt jedoch nahe, dass diese Aufgabe von den erwähnten Kooperationsgruppen übernommen wurde. Unklar bleibt, in welcher Häufigkeit Treffen, die dem gemeinsamen Erinnern dienten, stattfanden, zumal nicht deutlich wird, ob alle Erinnerungsveranstaltungen protokolliert beziehungsweise alle Protokolle archiviert wurden. Häufig hatten die Veranstaltungen bedeutsame, politisch konnotierte Daten oder Feiertage zum Anlass. Im Jahr 1925 wurden beispielsweise Trauerversammlungen zum 1. Todestag Lenins organisiert, bei denen sich Weggefährten an Lenin erinnerten. Andere Veranstaltungen, die direkt in Werken oder Fabriken stattfanden, hatten zumeist die Geschichte der jeweiligen Produktionsstätte zum Thema.363 In der Regel kamen bei einer Veranstaltung mehrere 360 Von mir eingesehen: die Kataloge des Fonds 4000 (opis’ 20, 18, 17, 10), der zum großen Teil gesammelte Erinnerungen enthält. 361 russ.: pamjatnye vecˇera 362 Das Archiv des Istpart (heute im CGAIPD) verfügt über undatierte Protokolle solcher Veranstaltungen, die dem Inhalt nach nicht lange nach dem Bürgerkrieg aufgezeichnet worden sein müssen. Vgl. CGAIPD Fond 4000, op. 6. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die umfassende Betrachtung von Findbüchern und Einschätzungen einzelner Protokolle. 363 Solche Veranstaltungen lassen sich auch im Zusammenhang mit dem Projekt des Schrei-

Propaganda und Forschung in einem

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Redner zu verschiedenen Ereignissen oder Epochen zu Wort, was zeigt, dass es offensichtlich auch darum ging, eine narrative Kontinuität zu schaffen. Vielfach wurden Treffen mit Lenin oder anderen berühmten Bol’sˇeviki, die eigene revolutionäre Vergangenheit und Erinnerungen an den Bürgerkrieg zum Thema. Die Durchführung von Erinnerungsabenden wirkte auf mehreren Ebenen im Sinne der Bewusstseinsbildung und politischen Identifikation der Teilnehmenden.364 Durch den Versammlungscharakter und das Erzählen unter den Werksangehörigen wurde ein Gefühl von Identität und Zusammengehörigkeit gestiftet. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht gut lesen und schreiben konnten, hatten daran teil. Durch die Wiederholung solcher Veranstaltungen und die Integration immer neuer Ereignisse wurden Kontinuitäten geschaffen, die von der vorrevolutionären Zeit bis in die Gegenwart reichten. Dies führte zur Ausbildung und Verbreitung von Geschichtsbildern, die die eigene Vergangenheit und die Geschichte der jeweiligen Organisation als sinnvollen und wesentlichen Bestandteil der ›großen Geschichte‹ darstellten. Nicht zuletzt verfestigte die institutionalisierte ›geteilte Erinnerung‹ von Führungspersönlichkeiten wie Werksleitern und Vorarbeiterinnen und Vorarbeitern die Hierarchien, indem sie den referierenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den Respekt ihrer Untergebenen sicherte. Die Praxis, solche Erinnerungsabende protokollieren zu lassen und im Istpart zu archivieren, machte die während der Veranstaltungen ausgetauschten Informationen zusätzlich zur publizistischen und wissenschaftlichen Weiterbearbeitung nutzbar. Nach den archivierten Aufzeichnungen von Erinnerungsabenden des Leningrader Istpart zu urteilen, wurden die Gedenkveranstaltungen in der Zeit vor dem Krieg seltener und gewannen in der Nachkriegszeit vorübergehend wieder an Bedeutung. Zunehmend kamen neben den Themen Revolution, Bürgerkrieg und Werksgeschichte auch Erzählungen aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges, insbesondere der Blockade zur Sprache.365 Obwohl die Organisation solcher Erinnerungsveranstaltungen von Parteistrukturen ausging, enthielten die hier präsentierten Erzählungen häufig eine breite Auswahl an Themen und Sujets. Diese gingen nicht selten weit über den üblichen Kanon von Kriegspropaganda und Leningrad-Patriotismus hinaus. bens einer Geschichte der Werke und Fabriken sehen, das in den 30er-Jahren massiv vorangetrieben wurde. Vgl. dazu Clark (2004): The History (wie Anm. 302). 364 Maddox unterstreicht die Mobilisierungsfunktion, die die Arbeit der Agitpropabteilungen in Leningrad zur Belagerung in der Nachkriegszeit hatte. Insbesondere neu zugewanderte Leningrader und Leningraderinnen sollten so an die Leningrader Kriegsgeschichte herangeführt werden. Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 188 f. 365 In den mir vorgelegten Findbüchern sind für 1938 die Protokolle von vier Veranstaltungen, für 1939 und 1940 von je einer Veranstaltung und für 1946 bis 1949 Protokolle von weiteren fünf verzeichnet, wobei die Belagerungszeit nicht bei allen thematisiert wurde.

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

Im Leningrader Egorov-Werk fand beispielsweise am 2. August 1946 »bei einer Tasse Tee« eine Besprechung alter Produktionsarbeiter statt, die durch ein Protokoll überliefert ist.366 Die Teilnehmenden erzählten über ihre Tätigkeit in dem Werk seit 1899, die Blockade wird laut dem Protokoll nur kurz thematisiert.367 Dabei kamen nicht nur heldenhafte Seiten des Lebens während der Belagerung, sondern auch der Kriegsalltag im Werk zur Sprache. Hunger, Armut, Wassermangel und andere Missstände, mit denen die Belegschaft konfrontiert war, wurden direkt und ohne Beschönigungen thematisiert. Ein Zeitzeuge erzählte beispielsweise davon, wie er bei dem Versuch, Decken in einem Werksofen zu entlausen, diese aus Versehen verbrannte.368 Ein anderer, der offensichtlich in der Werkshierarchie eine Führungsposition einnahm, schilderte eindrucksvoll seine gesundheitlichen Probleme. Obwohl er auf der Krankenstation lag, kümmerte er sich um die nötigen Arbeitsprozesse und überwachte seine Untergebenen.369 Die Erzählung greift dabei ein auch in der Kriegspropaganda verbreitetes Motiv auf: den heldenhaften Leningrader Arbeiter, der trotz körperlicher Leiden seinen Arbeitsplatz nicht verlässt. Im Unterschied zu dem oben beispielhaft zitierten Text370 aus der Kriegspropaganda nennt der Zeitzeuge hier allerdings ausdrücklich den Hunger als Grund für seine Krankheit. An dieses Segment der Erzählung schließt eine Episode an, die im Unterschied zu gängigen Stereotypen der Kriegspropaganda das Motiv des Hungers und seiner Folgen weiter vertieft: Es gab, erzählte der Vorarbeiter weiter, in der Nähe der Werkskantine viele streunende Katzen. Als einmal sieben junge Kätzchen auftauchten, beschlossen die Arbeiter, diese zu töten, da weitere überflüssige Esser unerwünscht waren. Er schloss seine Erzählung mit den Worten: »Charakteristisch ist aber, dass, wie später Andreev und Bolotin zugaben, auch ich den Gedanken hatte, wie ich wenigstens ein Kätzchen behalten könnte, um, nachdem ich es getötet hätte, mir einen Braten zu verschaffen. Da sieht man, in welchem Zustand der Mensch sich damals befand, wenn man sogar bereit war, eine Katze zu essen.«371

Das weitere Schicksal der Kätzchen bleibt offen. Anstatt die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fabrik zu idealisieren, legt die erzählte Episode einen dezidierten Schwerpunkt auf die verzweifelte Lage der Fabrikarbeiter. Dies lässt 366 f. 4000; op. 6; sv. 686; ed. chran. 447, CGAIPD: Erinnerungstreffen alter Fabrikarbeiter des Egorov-Werkes 02. 08. 1946. 367 Ebenda, S. 15 – 18. 368 Ebenda, S. 15. 369 Ebenda, S. 16. 370 Vgl. dazu meine Ausführungen unter II.3.1. 371 Ebenda, S. 16.

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darauf schließen, dass der Erzähler davon ausging, dass auch andere Überlebende im Publikum solche Episoden im Gedächtnis behalten hatten und diese ebenfalls als weitverbreitetes Phänomen einschätzten. Interessant ist auch, dass die anwesenden Parteivertreter zu dieser Erzählung weder Stellung bezogen noch die Episode abmilderten. Die Praxis, Haustiere zu essen, wäre sicherlich als Motiv in keinem Text der Kriegspropaganda vorgekommen. Im Leningrad der Nachkriegszeit war jedoch allgemein bekannt, dass dies durchaus vorgekommen war, und auch in weiter verbreiteten Texten, wie dem Tagebuch von Vera Inber, das immerhin mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde, kam dieses Phänomen zur Sprache. An diesem Beispiel wird deutlich, wie vielschichtig sich der Prozess der Gewinnung von ›geschichtsfähigem‹ Material selbst in der Arbeit eines Parteiinstitutes gestaltete. Die teilnehmenden Überlebenden der Belagerung waren jahrelang der Kriegspropaganda ausgesetzt gewesen. Wie der zitierte Arbeiter waren sie mit deren Motiven vertraut und identifizierten sich mit propagandistischen Formen. Da die Referentinnen und Referenten solcher Erinnerungstreffen eingeladen wurden, ihre Erinnerungen zu teilen, galten sie offensichtlich als politisch zuverlässige Erinnerungsträger. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Überlebenden selber ausschließlich solche Motive hervorbrachten, die in die propagandistischen Schemata passten. In ihrem historischen Erinnern gingen sie über die in der Kriegspropaganda verbreiteten Motive hinaus. Die präsentierten Erzählungen unterlagen wie alle individuellen Geschichtszeugnisse durchaus individuellen Beschränkungen. Es ist anzunehmen, dass die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bestimmte Erinnerungen, die als zu privat oder anstößig empfunden wurden, für sich behielten und sich – bewusst oder unbewusst – an gewissen politischen Maximen ausrichteten. Gerade deshalb erstaunt die Freimütigkeit, mit der die anwesenden Werksangehörigen ihre Erinnerungen an Situationen teilten, die nicht dem gängigen Heldenparadigma ihrer Zeit entsprachen. Es zeigt sich vielmehr, dass das System von Zensur und Selbstzensur durch die gemeinsame Zeitzeugenschaft von Parteivertreterinnen und -vertreter und Erinnerungsträgerinnen und -träger teilweise außer Kraft gesetzt wurde. In der halböffentlichen Sphäre – ›beim Tee‹ – gab es ein Jahr nach Kriegsende einen relativ großen Freiraum, unterschiedliches – nicht nur eindeutig heldenhaftes – Verhalten zu erinnern. Im Vergleich zu den vom Istpart durchgeführten Interviews bilden die Protokolle von Erinnerungsabenden nur eine relativ kleine Quellengruppe zur Geschichte der Blockade. In der Praxis der Durchführung, Protokollierung und Archivierung dieser Veranstaltungen wird jedoch deutlich, wie nahe die Aufgaben von politischer Propaganda und historischer Forschung in der Praxis der Parteiinstitutionen beieinander lagen. Diese strukturell angelegte Verbindung

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prägte in entscheidendem Maße die Inhalte der vom Istpart konstruierten und in der Öffentlichkeit vertretenen Geschichtsbilder. Interviews Neben den organisierten Erinnerungstreffen, die vor einem breiteren Publikum stattfanden, gab es auch Treffen von Parteimitgliedern mit Zeitzeuginnen und -Zeitzeugen, die eigens zum Zweck der Aufzeichnung von Erinnerungen durchgeführt wurden. Bei der Betrachtung der Protokolle ist diese Unterscheidung jedoch nicht immer klar zu vollziehen. Vielmehr unterscheiden sich die Protokolle von Erinnerungstreffen nur graduell von eigens organisierten Interviews. Die politische Motivation in der Arbeit des Istpart manifestierte sich insbesondere in der Auswahl der interviewten Personen beziehungsweise der archivierten Protokolle. Besonderes Interesse bestand an Expertenwissen. Vorrangig wurden Gespräche mit höhergestellten Parteifunktionären, Werksleitern, Vorarbeitern und anderen höheren und mittleren Führungspersonen gesammelt. Obwohl unter den Befragten männliche Personen in Führungspositionen die weitaus größte Gruppe bilden, lassen sich auch Aufzeichnungen von Gesprächen mit Personen und Gruppen finden, die nicht in dieses Auswahlschema passen. Dazu gehört auch das Protokoll der Befragung eines »Hausfrauen- und Hausangestellten-Aktivs« vom März 1944.372 Der Begriff »Aktiv« bezeichnet dabei eine Gruppe besonders aktiver Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eines Arbeitskollektivs.373 In diesem Fall handelte es sich um Personen, die während des Krieges unterschiedliche Aufgaben zur Instandhaltung und Nachbarschaftshilfe in den Wohnhäusern des Leningrader Stadtbezirkes Ochta erfüllten. Sie waren in ihren Wohnhäusern damit beschäftigt, für die Beseitigung von Toten zu sorgen, Schäden zu registrieren und zu beseitigen. Das Protokoll dieser Befragung zeigt eine Gruppe von Personen, die überwiegend aus Frauen bestand – die meisten von ihnen Mütter mehrerer Kinder. Ähnlich wie bei dem oben beschriebenen Erinnerungstreffen erzählen sie in einer offensichtlich vertraulichen Atmosphäre über ihre schrecklichen Erlebnisse während der Belagerung. Auch hier fällt auf, dass viele der berichteten Details durchaus nicht ausschließlich heldenhaftes Verhalten spiegeln und keine politischen Bewertungen oder Aussagen enthalten. Gleichzeitig geben die Erzählungen tiefen Einblick in das Alltagsleben der Zivilbevölkerung im belagerten Leningrad. 372 f. 4000; op. 10; d. 169, CGAIPD: Befragung eines Hausfrauenaktivs (Protokoll) 07. 03. 1944. Das Protokoll war nicht vollständig zugänglich. S. 1, 9 und 19 waren vom Archivpersonal ohne Angaben von Gründen zugeheftet worden. 373 Aktiv : Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija. 2 Aufl.1949 – 1958, S. 621 – 622 (Spaltenzählung).

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Einige der Anwesenden waren während der Belagerung vom Rajsowjet eingesetzt worden, um in der Nachbarschaft für die Evakuation aus Leningrad zu werben. Sie gaben an, ein Grund für die Weigerung vieler Menschen, insbesondere Frauen, sich evakuieren zu lassen, sei die Angst gewesen, dass ihr Lebensunterhalt nach ihrer Evakuierung nicht gesichert sei. In dem Gespräch wird auch deutlich, dass sich die Erzählenden in diesen Befürchtungen bereits 1944 bestätigt fühlten. Eine Zeitzeugin erwähnt, dass viele der Evakuierten nach dem Ende der Belagerung Schwierigkeiten hätten, die Erlaubnis zur Rückkehr von den Behörden zu bekommen und deshalb »Briefe schreiben und darum bitten, nach Leningrad zurückkehren zu können«374. Aus dem protokollierten Gespräch wird deutlich, dass viele Frauen aus Armut und Unsicherheit entschieden, mit ihren Kindern in der belagerten Stadt zu bleiben, und für diese Entscheidung häufig einen sehr hohen Preis bezahlten. Eine Frau, die ihren Ehemann und vier ihrer fünf jugendlichen Kinder in der Belagerung aufgrund von Hunger, Krankheiten und im Kampf verloren hatte, berichtet: »Auch ich entschied, nicht zu gehen. Wir hatten hier unser ganzes Leben verbracht und wir hatten nichts, womit wir hätten wegfahren können. Wir hatten überhaupt kein Geld.«375 Nachdem sie all ihre Familienmitglieder, die in der Belagerung umgekommen waren, aufgezählt hat, endet sie ihren Bericht mit den Worten: »Wir hatten sowieso nichts, womit wir hätten fahren können. Wir wären sowieso gestorben. Mein Mann war Trinker.«376 Die Erzählung macht die Ausweglosigkeit deutlich, in der sich insbesondere kinderreiche Familien ohne Ressourcen und Kontakte außerhalb Leningrads befanden. Sie impliziert auch ein tiefes Misstrauen gegenüber Staat und Parteistrukturen. Diese boten zwar eine Evakuation an, die Zeitzeugin traute ihnen jedoch offenbar nicht zu, die Grundversorgung ihrer Familie auch außerhalb Leningrads zu gewährleisten, bis die Familie sich selbst hätte versorgen können. Sie geht vielmehr davon aus, dass sie sich durchgehend mit eigenen Mitteln hätte versorgen müssen. Sehr offen sprechen die Frauen auch von Kannibalismus, den sie in ihrer unmittelbaren Umgebung erlebt haben.377 Eine der befragten Frauen erzählt von einer sechsköpfigen Familie, die in ihrer 4-Zimmer-Wohnung ein Zimmer gemietet hatte. Offensichtlich hatte es in dieser Familie einen Fall von Mord mit Kannibalismus gegeben, über den der im Sterben liegende Familienvater ihr berichtete. Sie meldete diesen Fall den Behörden und begründet dies in der Erzählung mit der Befürchtung, sonst selber Probleme zu bekommen. Trotz der 374 375 376 377

CGAIPD (1944): Befragung eines (wie Anm. 372), S. 3. Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 3 – 5.

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Schrecklichkeit der berichteten Ereignisse lässt sich der protokollierten Erzählung weder eine Verurteilung der betroffenen Personen noch eine politischideologische Sichtweise auf das Geschehen entnehmen. Auch hier versuchen die anwesenden Vertreter des Istpart nicht, den Bericht zu beeinflussen, und nehmen offensichtlich auch keine Wertung oder Einschränkung des Protokollierten vor. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass auch bei Befragungen die gemeinsame Zeitzeugenschaft von Befragten und Interviewenden ausschlaggebend für die erzählten Episoden war. Politische Erwägungen spielten auch bei den von lokalen Parteivertretern und -vertreterinnen generierten und gesammelten Materialien zunächst eine untergeordnete Rolle.378 Das Institut für Parteigeschichte zwischen Ideologie und individuellem Erinnern Die Betrachtung der vom Institut für Parteigeschichte protokollierten Zeitzeugenerzählungen macht deutlich, dass die Produktion von Geschichtsbildern auch durch ein Parteiinstitut nicht eindeutig als rein manipulatives Unterfangen gesehen werden kann. Die Praxis des Parteiinstituts, Erinnerungen an Ereignisse von politischer und patriotisch konnotierter Bedeutung zu generieren und zu sammeln, ist eindeutig dem offiziellen Raum zuzuordnen: Sie lässt sich unschwer als institutionell bestimmte Erinnerungspraxis bestimmen. Hinzu kam das politische Sendungsbewusstsein der Parteieinrichtungen, zu deren Aufgaben ja Agitation und Propaganda zählten. Dies hätte bedeuten können, dass die Befragten keine Geschichten erzählen, die nicht in den offiziell propagierten Interpretationsrahmen passen. Es hätte auch zur Folge haben können, dass die Interviewerinnen und Interviewer keine Informationen aufzeichnen und konservieren würden, die gängigen ideologischen Maximen widersprechen. Es hätte zumindest für die Angehörigen der jeweiligen Struktur nahegelegen, Interpretationen anzubieten, die die mitgeteilten Erlebnisse, wie das Leiden der Eltern, die ihre Familie verloren hatten, in ein ideologisches Referenzsystem zu integrieren. So hätten sie beispielsweise den Tod der Kinder als Opfer für die Rettung der Stadt und der Sowjetunion deklarieren können. Die Nachbarin, die sich des Kannibalismus schuldig gemacht hatte, hätte auch ideologisch stigmatisiert werden können. Aber solche Mechanismen von ideologischer Beeinflussung und Selbstzensur scheinen in den protokollierten Gesprächen nicht wirksam zu werden. Wie bei dem oben beschriebenen Erinnerungstreffen sind auch diese in erster Linie Gespräche unter Überlebenden, die sich gemeinsam an die Zustände in der Stadt zu Beginn der Belagerung erinnerten und im Grunde auch ihre 378 Diese Überlegungen sind auch Gegenstand eines eigenen Aufsatzes. Vgl. Zemskov-Züge, A.: Narrating the siege of Leningrad. Official and Unofficial Practices in the Memorialization of the ›Great Patriotic War‹, in: Lüdtke, A.; Jobs, S. (Hg.): »Unsettling History«. Archiving and Narrating in Historiography. Frankfurt, New York, 2010, S. 199 – 217.

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Einschätzung der gegenwärtigen Lage teilen. Auch hier ist zwar das eigentliche Framing der Gesprächssituation öffentlich und ideologisch motiviert, das Setting, in dem das Gespräch geführt wurde, ist jedoch eher inoffizieller Natur und offizielle Deutungsmuster scheinen hier nur wenig Einfluss gehabt zu haben. Aus den vom Istpart gesammelten Protokollen wird auch deutlich, wie einzelne Überlebende unmittelbar nach dem Krieg versuchten, ihre Kriegserlebnisse in die eigene Biographie zu integrieren. Bei der Verarbeitung der Kriegserlebnisse und Verluste spielte das gesellschaftliche Umfeld und auch der ideologisch bedingte gesellschaftliche Status der Überlebenden eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich beispielsweise in der Erzählung eines Arbeiters, der im Rahmen einer Erinnerungsversammlung über den Verlust seiner sechsköpfigen Familie sprach. Zu Kriegsbeginn wurde er eingesetzt, um an der Leningrader Front Waffen zu reparieren. Er kommentiert: »Meine Frau hat sehr geweint und wollte mich nicht gehen lassen… ich galt sozusagen als ›zum Tode verurteilt‹.«379 Nach einer Beschreibung seiner Tätigkeiten an der Front, wo er »vielen das Leben gerettet« habe, kommt er auch auf seine Familie zu sprechen: »Jetzt sage ich was über meine Familie. Die Tochter schreibt, die Mutter ist gestorben, dann, als ich kam, starb mein Sohn, nur noch drei Kinder blieben übrig, doch auch die sind dann gestorben […] Auf diese Weise habe ich meine ganze Familie verloren. Heute gelte ich als Werksmeister meiner Abteilung im Werk.«380

In der weiteren Erzählung steht das Arbeitsleben des Zeitzeugen im Zentrum. Neben der Resignation über den Tod der Familienmitglieder klingt auch die Befriedigung an, sowohl an der Front als auch in der Fabrik Wichtiges zu leisten. Der Tätigkeitsbereich des Zeitzeugen – als Arbeiter in einem kriegswichtigen Bereich und an der Front –, der im sowjetischen Kontext gleich doppelt positiv konnotiert ist, bildet ein Gegengewicht zu den privaten Verlusten. In der Darstellung wird deutlich, dass auch ideologisch begründete Wertschätzung für die Leistungen Einzelner bei der individuellen Verarbeitung schrecklicher Kriegserlebnisse hilfreich sein konnte. Das Fazit, das aus dieser Beschäftigung mit den Protokollen des Istpart gezogen werden kann, verweist auf die Vielschichtigkeit auch der sowjetischen Wirklichkeit: Die Historisierung der Belagerung hat sich in einem Klima politischer Manipulation vollzogen und konnte sich keineswegs frei pluralistisch gestalten. Aber auch in Partei- und Sowjetorganisationen arbeiteten Überlebende, deren Blick nicht nur von politischen Stereotypen, sondern auch – in wesentlichem Maße – von ihrem eigenen Erleben und Erinnern bestimmt war. Gerade dieser Anteil an Selbstbestimmtheit und eigener Beurteilung der Lage 379 f. 4000; op. 10; ed. chran. 192, CGAIPD: Erinnerungsveranstaltung (Protokoll) 06. 04. 1943, S. 35. 380 Ebenda, S. 36.

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

gewann in Leningrad während der ersten Nachkriegsjahre an Bedeutung. Ideologische Vorgaben, wie die militärgeschichtliche Zentriertheit von Stalins ›Kriegslehren‹ fanden in den individuellen und zivilgeschichtlichen Themenfeldern, die das Erleben und Erinnern der Zivilbevölkerung bestimmten, kaum Resonanz. Dies wirkte sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, nicht nur auf das gesammelte Material aus, sondern schlug sich auch in den publizierten Texten und offiziell präsentierten historiographischen Konstruktionen nieder.

3.

Alte Texte, neue Ziele: Publikationen des Instituts für Parteigeschichte

Um einen Einblick in die Tätigkeit des Institutes für Parteigeschichte und die Wirkungsbreite der hier entwickelten historischen Konzeptionen zu gewinnen, ist es wichtig, sich insbesondere auch mit den Publikationen dieser Einrichtung näher zu befassen. In seinen Veröffentlichungen zur Blockade verfolgte das Leningrader Istpart zwei verschiedene Grundrichtungen, die der Zweiteilung seiner Aufgabenbereiche entsprachen: die eher propagandistische und die dokumentative Arbeit. Einerseits wurde an literarisch-publizistischen Texten gearbeitet. Diese waren für einen breiten Leserkreis informativ und unterhaltsam und erfüllten gleichzeitig propagandistische Zwecke. In dem Band »Leningradcy v dni blokady«, wurde beispielsweise das vom Istpart gesammelte alltagsgeschichtliche Material von Schriftstellern wie Nikolaj Tichonov aufbereitet. Andererseits beschäftigte man sich im Istpart mit der Sammlung und Herausgabe von Quellen. Das zentrale Werk zur Belagerung, das am Institut in der Nachkriegszeit entstand, war die erste umfassende Quellensammlung zur Geschichte der Blockade: »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«. Die beiden Bände erschienen 1944 und 1947 und müssen als prägend für die Entwicklung der vor Ort entstandenen Geschichtsbilder zur Blockade in der Nachkriegszeit angesehen werden, da das Werk zu dieser Zeit der einzige umfassende Dokumentenband zur Belagerung war.

3.1.

Neuauflage der Kriegspropaganda: »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«

Obwohl das Werk als Quellensammlung an sich keinen theoretischen Ansatz beinhaltet, der eine unmittelbar historische Konzeption der Belagerung vertritt, lässt die Auswahl und Anordnung der publizierten Quellen doch eine inhaltliche

Alte Texte, neue Ziele: Publikationen des Instituts für Parteigeschichte

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Linie erkennen, die einiges über das Verständnis der Geschichte der Belagerung aussagt, das sich im Leningrad der Nachkriegszeit entwickelte. Die chronologische Linie, die sich aus der Gliederung der Quellenbände ergibt, ist im Vergleich zu den Stalin’schen Lehren deutlich detaillierter und ereignisbezogener. Nicht nur militärische Erfolge gingen als Ereignisse von historischer Bedeutung in die Gliederung ein. Allein die Bandbreite des veröffentlichten Materials ermöglicht einen tiefen Einblick sowohl in die in Leningrad während des Krieges veröffentlichten Texte unterschiedlicher Genres als auch in die inhaltlichen und thematischen Prioritäten der Herausgeber. Viele der veröffentlichten Texte waren bereits in Zeitungen oder Zeitschriften, häufig in der Leningradskaja Pravda erschienen. Neben Befehlen Stalins wurden Vorträge und Texte lokaler Partei- und Militärführer sowie Leningrader Schriftsteller in den Sammelband aufgenommen. Bei den meisten Beiträgen überwiegt der propagandistische Wert durchaus vor dem tatsächlichen Informationsgehalt. Für die sich entwickelnden Geschichtsbilder sind Konzeption und Aufbau der beiden Bände äußerst aussagekräftig. Das Stalin’sche Konzept von den vier Kriegsphasen und den ›zehn Schlägen‹ wurde im November 1944 erstmals formuliert, der erste Band von »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« war jedoch bereits im Frühjahr 1944 zum Druck freigegeben worden. Daraus ergab sich für die Erstellung einer Chronologie der Ereignisse in Leningrad ein zeitlicher Vorsprung, der zunächst eine gewisse ideologische Freiheit sicherte. Die Chronologie konnte ohne den Schatten der Lehre von den vier Kriegsphasen und den ›zehn Schlägen‹ formuliert werden. Dieser Umstand war prägend für die gesamte weitere Entwicklung von Geschichtsbildern zur Blockade in der späten Stalinzeit. Chronologie Die Formulierung seiner Chronologie des Großen Vaterländischen Krieges hatte I. V. Stalin nach einer unkomplizierten Formel gestaltet: Als historisch hatten im Wesentlichen solche Daten und Ereignisse zu gelten, die mit eindeutigen militärischen Siegen der Roten Armee verbunden waren. Die Aufgabe, eine Quellensammlung zur Leningrader Kriegsgeschichte herauszugeben, erforderte jedoch eine weit differenziertere Herangehensweise an die Ereignisse in der belagerten Stadt. Aus der Chronologie, die sich aus den einzelnen Kapiteln der Bände ergibt, geht deutlich hervor, wie schwierig eine politisch korrekte, positive Benennung der einzelnen Zeitabschnitte war. Die einzelnen Kapitel wurden wie folgt benannt:

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

Kapitelüberschrift Kriegsbeginn und Umstellung der Arbeit auf Kriegsbedingungen In den Tagen des Kampfes auf den Etappen vor der Stadt und Periode der Abwehr des Sturms der Stadt Erste Periode der Blockade Die Monate der Hungerblockade Der Kampf für die Beseitigung der Folgen der Hungerblockade und die Verstärkung der Verteidigungskraft Leningrads Die Periode der Vollendung des Umbaus Leningrads in eine Kriegsstadt Die Vorbereitung auf den zweiten Kriegswinter Der zweite Kriegswinter, Blockadedurchbruch und Vorbereitung der entscheidenden Kämpfe Periode der Sommeroffensive der Roten Armee Die letzten Monate der Blockade Die Große Schlacht bei Leningrad

Zugeordneter Zeitraum 22. Juni – Anfang August 1941 August – September 1941 Ende September – November 1941 Dezember 1941 – März 1942 Ende März – Mai 1942 Juni – Anfang August 1942 Mitte August – Oktober 1942 November 1942 – Juni 1943 23. Juni – 31. Oktober 1943 November 1943 – Januar 1944 Januar – März 1944

Zusätzliche Themenbereiche: – Der Leningrader Landkreis in den Tagen des Großen Vaterländischen Krieges – Die Partisanenbewegung in den zeitweilig besetzten Gebieten – In den nicht besetzten und befreiten Gebieten des Landkreises Leningrad (Juni 1943 - März 1944) Bei der Betrachtung dieser chronologischen Gliederung zeigt sich, dass neben dem Begriff der Periode auch weitere zeitliche Parameter, wie Tage und Wochen verwendet werden. Auffällig ist, dass vorrangig solche Zeitabschnitte als Periode bezeichnet werden, die zumindest teilweise mit militärischen Erfolgen in Verbindung gebracht werden konnten. Dies zeigt sich deutlich bei der Bezeichnung des zweiten Zeitabschnitts: »In den Tagen des Kampfes auf den Etappen vor der Stadt und Periode der Abwehr des Sturms der Stadt«. Das als Erfolg der Roten Armee verbuchte Scheitern der Einnahme Leningrads verdient offenbar die Bezeichnung ›Periode‹, während die Phase, in der sich die Rote Armee vor Leningrad auf dem Rückzug befand, als ›Tage‹ bezeichnet wird. Interessant ist weiterhin, dass zwar die ersten Monate der Belagerung als Periode bezeichnet werden, mit Beginn des Hungers in der Stadt setzen jedoch »Monate« der Hungerblockade ein. Auch der Zeitraum, in dem die Folgen des Hungerwinters beseitigt wurden, gilt nicht als Periode, während die Vollendung des Umbaus in eine Kriegsstadt wieder als solche gelten kann. Zwar ist der Durchbruch der Belagerung nicht mit dem Begriff einer Periode verbunden, wohl aber die sogenannte Sommeroffensive des Jahres 1943. Die Bezeichnung

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der »Großen Schlacht bei Leningrad« war bereits 1944 zu einem feststehenden Begriff geworden. Es bleibt festzuhalten, dass auf der Ebene der Bezeichnung einzelner Zeitabschnitte bereits in der Chronologie eine Hierarchisierung der Ereignisse festgelegt wird. Neben der detaillierten Periodisierung der Kriegsereignisse in und um Leningrad ist für die Bewertung der hier behandelten Chronologie ein Aspekt von besonderer Bedeutung. Dies ist die Tatsache, dass der Leningrader Hungersnot in diesem historiographischen Konzept ein eigener Zeitraum zugeordnet ist. Darüber hinaus kommt das Wort ›Hungerblockade‹ in zwei Kapitelüberschriften vor. Dies macht eines deutlich: Die Behandlung der Leiden der Zivilbevölkerung war zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Chronologie durchaus konstitutioneller Bestandteil der sich entwickelnden historiographischen Konstruktionen. Dieses Element wurde auch für das zeitgleich im Entstehen begriffene Museum der Belagerung Leningrads zum festen Bestandteil des Ausstellungskonzeptes. Zwar legt das Kapitel zur »Hungerblockade« keineswegs wirklich Zeugnis über die tatsächlichen Umstände in der Stadt während des Hungerwinters 1941 / 42 ab. So fehlen Zahlen, die die Sterblichkeit unter der Zivilbevölkerung dokumentieren, gänzlich. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt vielmehr auf Beiträgen, die verschiedene Berufsgruppen zu besseren Leistungen anspornen und der Bevölkerung ihre Aufgaben mitteilen. In einer Tabelle werden die Lebensmittelrationen für den Zeitraum zwischen 1941 und 1943 dokumentiert, ohne dass deutlich wird, welch katastrophale Folgen sich aus diesem Mangel an Lebensmitteln tatsächlich ergaben. Dennoch wurde mit der Einbeziehung der Hungersnot als eigener Zeitabschnitt in einer offiziellen Chronologie eine Möglichkeit geschaffen, sich auf den Begriff der »Hungerblockade« zu beziehen, der dann für weitere zeitgleich entstehende Konzeptionen, wie die Ausstellungen im Verteidigungsmuseum, eine wesentliche Rolle spielen sollte. Im Vergleich zur Textsammlung »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« liegt der Schwerpunkt dieses Sammelbandes weniger auf den militärischen Siegen und ihrer Verknüpfung mit dem ›Handeln‹ Stalins. Dennoch sind auch in diesem Werk prikazy des Oberbefehlshabers vertreten. Die ausgewählten Texte Stalins beschäftigen sich eingehender mit den militärischen Vorgängen in und um Leningrad, so die Befehle, die nach entscheidenden erfolgreichen Militäroperationen in Krasnoe Selo, Ropsˇa und Gatsˇina herausgegeben wurden und in denen Stalin die Ehrung der beteiligten Truppenteile anordnete.381 Generell 381 So beispielsweise Prikaz verchovnogo glavnokomandujusˇcˇego generalu armii Govorovu. 19. janvarja 1944, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947, S. S.149 f.

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Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

lässt sich jedoch sagen, dass die Anordnungen des vozˇd’382 zwar als historische Zeugnisse, jedoch nicht als in sich geschlossene ›Lehre‹ einbezogen wurden. Darüber hinaus fehlen Texte, in denen Stalin sich als Militärtheoretiker oder Historiker zu profilieren suchte. Ein Parteifunktionär als ›Historiker‹: Alexej A. Kuznecov Die Tatsache, dass im Sammelband des Leningrader Istpart nicht die sogenannten Kriegslehren des Genossen Stalin im Mittelpunkt stehen, bedeutet keineswegs, dass in dem Werk von der Verbreitung politisch motivierter Interpretationen abgesehen wurde. Diese gingen jedoch nicht von Stalin, sondern von lokalen Partei- und Militärvertretern aus, die sich als politische und ideologische Autoritäten profilierten und gleichzeitig ihre eigene Sichtweise der Ereignisse einbrachten. Wie Sabine Arnold für das Gedenken an Stalingrad feststellte383, kam auch im Fall Leningrads gerade den Reden von Parteivertretern eine maßgebliche Rolle im Kriegsgedenken und in der Etablierung von Geschichtsbildern zu. An der historischen Aufbereitung der Leningrader Belagerung beteiligte sich ein Vertreter der Leningrader Parteielite besonders intensiv : Aleksej Aleksandrovicˇ Kuznecov. Bereits während des Krieges hatte er als Gorkom-Sekretär und Mitglied des Militärsowjets der Leningrader Front eine Schlüsselposition zwischen Partei und Militär bekleidet. So gehörte es zu seinen Aufgaben, zu verschiedenen Anlässen die Situation in Leningrad zu beschreiben. Dabei entwickelte er sukzessive sowohl eine chronologische als auch eine ideologische Grundlinie, die sich in anderen historischen Konzepten, die in den Leningrader Parteistrukturen entwickelt wurden, widerspiegelten. Zwischen 1946 und 1949 war Kuznecov CK-Sekretär, Mitglied im Orgbüro und Leiter der Kaderführung beim CK. Neben Zˇdanov war er so als höchstgestellter Leningrader Parteifunktionär direkt im Moskauer Machtzentrum vertreten. Dies verlieh seinen geschichtspolitischen Konzeptionen noch mehr Gewicht. Als der zweite Band der Sammlung »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« 1947 erschien, befand sich Kuznecov auf dem Höhepunkt seiner Macht. Seine Texte, die in dem Sammelband veröffentlicht wurden, mussten in diesem Kontext als Produkte eines CK-Mitglieds von den Herausgebern als ideologisch einwandfrei angesehen werden. Auf der lokalen Bühne hatte Kuznecov sich als Parteifunktionär in Leningrad während des Krieges einen Namen gemacht. Er konnte daher seine Erfahrung vor Ort in seine ideologischen Konzeptionen einfließen lassen. Bereits im November 1942 hielt Kuznecov während einer feierlichen Sitzung des Leningrader 382 dt.: Führer 383 Arnold (2002): Generationenfolge (wie Anm. 48), S. 199.

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Sowjets der Arbeiterdeputierten anlässlich des 25. Jubiläums der Oktoberrevolution eine Rede, die zentrale Motive und Formulierungen späterer Geschichtsbilder vorprägte.384 Anhand der Rede lässt sich auch beobachten, wie selbst die nichtssagendsten Vorgaben aus Moskau von lokalen Funktionären aufgegriffen und mit zentralen Motiven des Leningrad-Patriotismus verknüpft wurden. Nach einem Bericht über den Stand der Gefechte vor Leningrad zitiert Kuznecov einleitend zu seinen Ausführungen über die Lage in der Stadt eine kurze Parole aus den Losungen des CK KPSS zum 25. Revolutionsfeiertag: »Einen flammenden Gruß den heldenhaften Verteidigern Leningrads! Es leben die Leningrader, die ruhmreichen Patriotinnen und Patrioten unserer Heimat!« Dieser Gruß wird im Folgenden zum Anlass für einen stilisierten, historisch begründeten Schwur, den Kuznecov den Leningradern als Antwort in den Mund legt: »Die Stadt russischen Ruhms, unser Nationalstolz – Leningrad – war niemals und wird niemals in der Macht von Eroberern sein. Die Stadt ist mit Blutsbanden an die gesamte Geschichte der Revolutionsbewegung unseres Landes gebunden, eine Stadt, mit der Freundschaft und Schaffen zweier der größten Genies der Menschheit – Lenin und Stalin – verbunden sind, die Wiege der Oktoberrevolution, steht unter härtesten Bedingungen der Blockade wie ein Fels, unerschütterlich und unerreichbar für die Feinde.«385

Das Zitat ist ein besonders treffendes Beispiel für die Verknüpfung von russischer Nationalrhetorik, Elementen des Leningrad-Patriotismus und des ›Petersburger Textes‹. Aus der historischen Tradition der Stadt sowie ihrer ›Unbeugsamkeit‹ leitet Kuznecov einen Anspruch der Stadt Leningrad auf eine Sonderstellung innerhalb der Sowjetunion ab: »Wie in der Periode friedlichen, schöpferischen Arbeitens der Völker der Sowjetunion steht auch in der schweren Stunde des Krieges Leningrad ein Ehrenplatz unter den Städten unserer Heimat zu.«386

Unter den Bedingungen der Belagerung erscheint dieser Anspruch aus der Perspektive der lokalen Parteivertreter als angemessen und scheint sich unmittelbar aus der historischen Bedeutung Leningrads sowie der Sondersituation der Belagerung zu ergeben. Leningrads Sonderstellung wird zum Argument, der Bevölkerung besondere Leistungen und Entbehrungen abzuverlangen. Später, während der Leningrader Affäre, wurde gerade diese Haltung zum Stein des Anstoßes für die Moskauer Parteieliten. Gleich nach Kriegsende publizierte Kuznecov in der Zeitschrift Partijnoe 384 Kuznecov (1944): Doklad sekretarja (wie Anm. 292). 385 Ebenda, S. 253. 386 Ebenda, S. 253.

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stroitel’stvo den Aufsatz »Die Bol’sˇeviki Leningrads beim Schutz ihrer Heimatstadt«387. Darin wurden viele Motive der Rede vom November 1942 aufgegriffen, Formulierungen beibehalten und weiter ausgebaut. Im Vergleich der beiden Texte zeigt sich, dass sich erste historiographische Konzeptionen der Belagerung nach Kriegsende unmittelbar aus der politischen Rhetorik der Kriegsjahre speisten. Ein prägender Begriff, der in beiden Texten vorkommt und dann sowohl im Aufbau des Sammelbandes als auch als Bestandteil der ersten Ausstellungskonzeptionen figurierte, ist die Formulierung »bor’ba na dal’nych podstupach k Leningradu«, die eine erste Phase der Leningrader Kriegsgeschichte bezeichnete. Mit der Formulierung »Kampf auf den entfernten Etappen vor Leningrad« lässt sich die Tatsache der sowjetischen Niederlagen und des schnellen Rückzuges der Roten Armee zu Kriegsbeginn in ein verhältnismäßig positives Geschichtsbild integrieren. Die Tatsache, dass Kuznecov diese geschichtspolitisch vorteilhafte Formel bereits im Herbst 1942 gebrauchte, bedeutet nicht, dass sie tatsächlich von ihm stammte. Dass sich ihre Etablierung jedoch anhand solch unterschiedlicher Texte aus dem Repertoire der Leningrader Parteiorganisation nachvollziehen lässt, macht deutlich, wie zweckmäßige Formeln von Anfang an reproduziert wurden, um dann als Vorgabe für ideologisch unverfängliche Geschichtsbilder zu dienen. Sowohl in der Rede als auch in dem Aufsatz wird als eines der ersten Daten der 21. August 1941 genannt, an dem sich die Leningrader Parteispitze und Militärkommandantur mit einem Appell an die Bevölkerung wandten. Kuznecov kommentiert dazu 1945: »Die Leningrader Parteiorganisation verheimlichte nicht die Gefahr, die sich in diesen Tagen der Stadt genähert hatte, sondern sprach im Gegenteil mutig und offen mit den Werktätigen darüber und mobilisierte sie so zum Widerstand gegen den Feind.«388

Der Aufruf markiert das geeinte Handeln von Militärführung und städtischen Regierungsorganen, die demnach bereits vor Beginn der Belagerung alles Mögliche zum Schutz der Stadt und der Bevölkerung unternommen hatten. Zur Ausgangslage der Belagerung Ende September 1941 formuliert Kuznecov : »Die verlogene Göbbelspropaganda begann, die Lage so darzustellen, als ob die Faschisten Leningrad nicht einnehmen wollten. […] [D]er neue deutsche Plan, von militärischen Misserfolgen hervorgebracht, bestand darin, dass der Widerstand Leningrads mit der knochigen Hand des Hungers erstickt werden sollte.«389 387 Kuznecov, A. A.: Bol’sˇeviki Leningrada na sasˇcˇite rodnogo goroda, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947, S. 7 – 15. 388 Ebenda, S. 9. 389 Kuznecov (1944): Doklad sekretarja (wie Anm. 292), S. 254. Diese Sichtweise, dass die

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Im Artikel von 1945 wird diese Formulierung und das Bild von der »knochigen Hand des Hungers« wörtlich wiederholt.390 Ein genaues Datum, wann die Belagerung begonnen hatte, findet sich weder in der Rede noch in dem Artikel. Besonders interessant nimmt sich der Vergleich beider Texte bezüglich der Hungersnot im Winter 1941 / 1942 aus. In seiner Rede resümiert Kuznecov : »Ungeachtet der außerordentlich schweren Umstände des Winters 1941 – 1942 – des Hungers, der Kälte, des Fehlens von Licht und Wasser : Der Geist der Leningrader wurde und wird nicht gebrochen. Im Gegenteil, in den Tagen des Vaterländischen Krieges, im Kampf mit den Schwierigkeiten, wurde die Moral der Leningrader noch mehr gestärkt und gestählt. Keinen Tag kam das geschäftige, angespannte Leben der Stadt zum Stillstand. Sogar in den schwersten Tagen im Winter 1941 – 1942, in der Kälte, ohne Licht und bei mangelnden Nahrungsmitteln, wenn die Werkbänke vor Kälte mit Reif bedeckt waren, hörten die Unternehmen nicht auf zu arbeiten.«391

Diese Evaluation wird im Artikel von 1945 nicht übernommen. Vielmehr findet sich hier eine ausführliche Argumentation, die offenbar die Hungersnot erklären und deren Unvermeidbarkeit unterstreichen sollte: »In der Stadt wird eine Reihe von Maßnahmen unternommen, die einen ökonomischeren Verbrauch der Lebensmittelvorräte bewirken sollen. […] Die Lage gestaltete sich jedoch so, dass die Lebensmittelvorräte beständig abnahmen. […] Es ist klar, dass man unter diesen Verhältnissen nicht genügend Lebensmittel einführen konnte, dass sie für die Truppen an der Front und die Stadt mit einer Bevölkerung von über einer Million gereicht hätten. Man musste zu den letzten Mitteln greifen – die Lebensmittelnormen für die Bevölkerung senken, um sich bis zu dem Zeitpunkt zu halten, an dem die Einfuhrmöglichkeiten von Lebensmitteln besser wären. Von September bis November 1941 wurden die Brotrationen für die Bevölkerung vier Mal verringert. Die geringsten Brotrationen gab es zwischen dem 20. November und dem 25. Dezember, als sie für Arbeiter 250, für Angestellte, Familienmitglieder und Kinder 125 Gramm Brot pro Tag betrugen.«392

Wie zum Ausgleich werden im weiteren Text auch die Daten genannt, an denen die Brotrationen im Dezember 1941 und Februar 1942 wieder erhöht werden konnten. Der rechtfertigende Ton dieser Textstelle macht deutlich, dass Kuznecov sich in Erklärungsnot befand. Ob diese durch Kritik von außen oder durch Belagerung eine Strategie war, die aus dem Unvermögen erwuchs, die Stadt einzunehmen, und dennoch ihre Einnahme zum Ziel hatte, bildet bis heute einen Kern der gängigen russischen militärgeschichtlichen Deutungen (vgl. Kap. I.2. Militärgeschichtliche Aspekte). In der deutschen Forschung wird die Belagerung spätestens seit Ganzenmüller eindeutig als Teil des Vernichtungskrieges und damit als Genozid an der Leningrader Bevölkerung eingeordnet. 390 Kuznecov (1947): Bol’sˇeviki (wie Anm. 387), S. 10. 391 Kuznecov (1944): Doklad sekretarja (wie Anm. 292), S. 254. Da es sich bei der publizierten Rede um eine gekürzte Fassung handelt, besteht die Möglichkeit, dass auch an dieser Stelle Kürzungen vorgenommen worden sind. 392 Kuznecov (1947): Bol’sˇeviki (wie Anm. 387), S. 10.

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eigene innere Konflikte entstanden war, wird nicht deutlich. Dennoch zeigt sich, dass aus seiner Perspektive sowohl die Daten, an denen die Brotrationen gesenkt wurden, als auch die Erhöhungen der Lebensmittelnormen zu den zentralen Daten der Leningrader Kriegsgeschichte gehören. Dies hebt seine lokalgeschichtliche Perspektive deutlich gegen Stalins »Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges« ab, die sich im Wesentlichen anhand erfolgreicher militärischer Offensiven strukturieren lässt. In ihren Grundsätzen handelt es sich dennoch nicht um eine geschichtspolitische Konzeption, die Stalins Linie entgegenlief. Es finden sich durchaus Elemente, die den Stalin’schen Konzeptionen entsprechen. So betonte Kuznecov beispielsweise die wichtige Rolle, die die Verbundenheit der Stadt mit dem Hinterland gespielt habe: »[…] [D]ie Reihen der Leningrader erzitterten nicht […]. [I]n diesen schweren Tagen erfuhren die Werktätigen der Stadt wie nie zuvor die große moralische Unterstützung des sowjetischen Volkes, sie spürten, dass mit ihnen das ganze Land zur Verteidigung Leningrads aufgestanden war.«393

Paradoxerweise wird gerade an diesem Zitat deutlich, dass Kuznecov seine lokale Leningrader Perspektive über den Gesamtzusammenhang des Krieges stellte: Nicht die Leningrader hatten sich in die Reihen der Verteidiger der Sowjetunion eingereiht, sondern das sowjetische Volk war zur Verteidigung Leningrads angetreten. Ein Anspruch auf die Sonderrolle Leningrades war in diesem Bild impliziert. Gleichzeitig verzichtet Kuznecov in dem Aufsatz von 1945 ausdrücklich darauf, einen Sonderstatus für Leningrad zu beanspruchen. Ob diese Stelle der Rede zensiert worden war oder ob Kuznecov selber darauf verzichtet hatte, da Leningrad sich nicht mehr in einer Situation befand, in der die Bevölkerung zusätzlich zum Durchhalten motiviert werden musste, bleibt offen. Ein weiterer zentraler Punkt, den Kuznecovs Konzeption mit den geschichtspolitischen Maximen der Stalin’schen Geschichtsbilder gemein hatte, war die zentrale Rolle, die der Partei in der Bewältigung der Krise zugeschrieben wurde. Kuznecov setzt dabei allerdings in einem entscheidenden Bereich wiederum einen lokalen Schwerpunkt: Als zentrale Figur wird nicht Stalin selber, sondern Zˇdanov genannt. »Im tödlichen Ringen mit dem Feind, das den Leningradern außerordentliche Anstrengungen, Durchhaltevermögen und Opfer abverlangte, erfüllte die Leningrader Parteiorganisation unter der Führung des Genossen Zˇdanov die Aufgaben, die in dieser Periode vor ihr standen. […] Die organisatorische Arbeit der Leningrader Bol’sˇeviki einte alle Werktätigen der Stadt und richtete ihre Anstrengungen auf ein Ziel – die 393 Ebenda, S. 10 f.

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Verteidigung der Stadt. Niemals zuvor zeigte sich die avantgardistische, organisatorische Rolle der Kommunisten so klar und vollständig wie in dieser Periode.«394

Angesichts der guten Stellung Zˇdanovs in Stalins engstem Kreis scheint diese Bemerkung keinen Anstoß bei den zuständigen Zensoren erregt zu haben.395 Kuznecovs ideologische Nähe zu Zˇdanov klingt auch im Abschluss des Artikels an, der einen positiven Ausblick auf den Wiederaufbau Leningrads wirft: »Der patriotische Pathos der Leningrader, der von ihnen im Kampf für den Erhalt ihrer Heimatstadt in der Periode der Blockade gezeigt wurde, findet nun seinen Ausdruck im Wiederaufbau der Industrie und des städtischen Haushaltes. Die Stadt Lenins, die unübertroffene Beispiele des Heldenmutes gezeigt hat, wird in der Periode der friedlichen Entwicklung in den ersten Reihen der Kämpfer für das weitere Gedeihen unseres sozialistischen Vaterlandes sein.«396

Mit dem Hinweis auf die anstehenden Aufgaben für den Wiederaufbau Leningrads deutet Kuznecov eine wesentliche Funktion des Kriegsgedenkens an: Die Erinnerung an die heldenhafte Kriegsvergangenheit der Stadt sollte dazu dienen, die Bevölkerung zu neuen Höchstleistungen anzuspornen. Für Trauer um die Opfer und Kritik an möglichen Fehlern der politischen Führung bot ein derart ausgelegtes Geschichtsbild keinen Raum. Die Belagerung aus militärischer Sicht Neben den richtungsweisenden Konzeptionen der Leningrader Parteiprominenz kamen in dem Sammelband des Istpart auch militärische Führer der Leningrader Front zu Wort. Zu nennen ist beispielsweise ein Beitrag des Leiters der politischen Führung der Leningrader Front Cholostov, der bereits im Januar 1945 in der Zeitschrift Propaganda i agitacija unter dem Titel »Velikaja pobeda pod Leningradom« erschienen war.397 Cholostovs Aufsatz bietet Ansätze für eine stärker militärisch ausgerichtete Periodisierung der Leningrader Kriegsgeschichte. Diese wird jedoch nicht schlüssig durchgehalten. Auch scheinen die gewählten Begriffe, insbesondere die Bezeichnungen für Zeitabschnitte, eher willkürlich gewählt zu sein. So ist mal von Phasen, mal von Perioden die Rede. 394 Ebenda, S. 14. 395 Hier zeigt sich ein auffälliger Unterschied zu der unter II.2.2. zitierten Grußadresse anlässlich des vierten Jahrestages der Befreiung Leningrads 1948 an Stalin, aus der die Namen der Leningrader Parteifunktionäre gänzlich gestrichen worden sind. Dieser Unterschied lässt sich zum einen damit erklären, dass die Grußadresse an Stalin direkt gerichtet war, zum anderen damit, dass die Atmosphäre zwischen der Moskauer Machtzentrale und der Leningrader Parteiorganisation 1948 bereits deutlich angespannter war. 396 Ebenda, S. 15. 397 Cholostov, D. I.: Velikaja pobeda pod Leningradom, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov. Leningrad, 1947, S. 289 – 297.

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Die militärgeschichtliche Ausrichtung macht die hier vertretenen Geschichtsbilder insgesamt besser als Kuznecovs Konzeptionen mit den Ansätzen vereinbar, die Stalin 1944 entwickelt hatte. Als erste Phase bezeichnet Cholostov den Zeitraum von Kriegsbeginn bis Anfang September 1941, als die Offensive des deutschen Gegners vor Leningrad zum Stoppen gebracht wurde. Die besondere Bedeutung dieses Zeitabschnitts sieht er darin, dass der Blitzkriegsplan der Deutschen bei Pulkovo gescheitert sei. Eine zweite Periode erstreckt sich nach Cholostov von September 1941 bis zum 18. Januar 1943 und wird von ihm als »Kampf unter den Voraussetzungen der Blockade« bezeichnet. Damit deckt sich dieser Zeitabschnitt weitgehend mit der ersten Kriegsphase, der »Periode der aktiven Verteidigung der Sowjetarmee« nach der Stalin’schen Periodisierung. Auch hier fällt die positive Formulierung auf, die den Akzent auf den Kampf um Leningrad legt. Als charakteristisch für diesen Zeitraum beschreibt Cholostov einerseits die »Beschießungen und die Qualen des Hungerwinters«, aber auch die Eisstraße über den nahe der Stadt gelegenen Ladogasee, die von Zˇdanov organisiert worden sei.398 Er resümiert: »Keine Minute fühlte sich Leningrad abgetrennt von seiner Heimat. Das ganze Land sorgte für Leningrad.«399 In der Bewertung Leningrads als Kriegsschauplatz setzt Cholostov hier jedoch einen anderen Schwerpunkt als Kuznecov. Die Stadt figuriert in dieser Argumentation als Empfänger von Unterstützung. Front und Hinterland werden als geeint beschrieben. Leningrad wird jedoch nicht, wie bei Kuznecov, zum vorrangigen Kriegsschauplatz stilisiert. Die Sicht des Militärvertreters der Leningrader Front wird insbesondere in der hohen Bewertung des Blockadedurchbruchs deutlich. Bei seinen weiteren Ausführungen verzichtet Cholostov auf eine explizite Fortführung der Periodisierung. Sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf der eingehenden Beschreibung der Vorgänge um die Befreiung Leningrads im Januar 1944. Obwohl der Artikel grundsätzlich besser als Kuznecovs Entwürfe mit den von Stalin selber geförderten Geschichtsbildern vereinbar ist, betont auch Cholostov die Sonderstellung Leningrads unter den sowjetischen Städten: »Das Feuerwerk zu Ehren des Großen Sieges vor Leningrad schallte durch das ganze Land. Leningrad ist dem sowjetischen Volk besonders teuer, als zweite Hauptstadt Russlands, als Wiege der sozialistischen Oktoberrevolution, als Stadt, wo Lenin und Stalin die Grundlagen der sowjetischen Staatsordnung legten.«400

398 Ebenda, S. 290. Im Winter 1941 / 42 wurden auf diesem Wege Lebensmittel und andere lebenswichtige Güter in Lastwagen über das Eis des zugefrorenen Sees in die Stadt transportiert. 399 Ebenda, S. 290. 400 Ebenda, S. 296.

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Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Cholostov weit weniger ambitioniert war als beispielsweise Kuznecov, Leningrader Kriegsgeschichte zu schreiben. Seine Rede von Perioden ist kaum konsequent durchdacht und auch nicht darauf angelegt, eine beständige historische Konzeption zu bilden. Interessant ist festzuhalten, wie sich historische Periodisierungen lokaler Akteure bedingt durch ihr eigenes Tätigkeitsfeld unterscheiden. Der Militärvertreter Cholostov zieht vorwiegend solche Daten zur Strukturierung heran, die mit Militäraktionen verbunden sind. Als Parteivertreter hatte Kuznecov hingegen mehr die Bevölkerung und das Handeln der Partei im Blick. Dies zeigt sich auch bei den Daten, die er für seine Chronologie der Belagerung auswählt. Cholostov war nicht der einzige Militärvertreter der Leningrader Front, der mit militärgeschichtlichen Deutungen der Leningrader Krieggeschichte aufwartete. 1946 publizierte der Oberbefehlshaber der Leningrader Front Govorov401 beispielsweise einen Artikel in der Zeitschrift Leningrad mit dem Titel »Der Schlag aus der belagerten Stadt«402. Darin beschreibt er zwei Perioden der Schlacht um Leningrad, deren erste auf 1942 – 43 und deren zweite auf 1944 datiert wird. Auch diese Periodisierung fand keine weitere Verbreitung.

3.2.

Erinnern für die Zukunft: »Leningrad dvazˇdyj ordenononsnyj« als Dokumentation der Gedenkpraktiken in Leningrad

In einem weiteren Sammelband, den das Institut für Parteigeschichte in der Nachkriegszeit herausgab und der 1945, also zwischen den beiden Bänden von »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«, erschien, manifestieren sich in besonderem Maße die Praktiken lokalen Kriegsgedenkens, die sich im Leningrad der Nachkriegszeit herausbildeten. Dieser Band trägt den Titel »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj« (übersetzt etwa »Leningrad, zweifach ordentragend«) und wurde mit einer Auflage von 10000 Exemplaren im April 1945 zum Druck freigegeben. Es handelt sich um eine besonders aufwendig gestaltete Ausgabe mit Abbildungen, eingeklebten Klappbildern sowie einem Faksimile der Ordensurkunde und des Ordens selber, die in dem Buch eingeheftet sind. Die Materialsammlung ist in zwei thematische Blöcke geteilt. Im ersten, kleineren Teil sind Dokumente abgedruckt, die die Auszeichnung der Stadt mit dem Roten Banner und dem Rotbannerorden im Dezember 1919 dokumentieren. Diese Auszeichnung erhielt die Stadt nach der Beendigung der 401 Govorov (geboren 1897) war von Juni 1942 bis März 1945 Oberbefehlshaber der Leningrader Front. Vgl. Institut voennoj istorii Ministerstva Oborony Rossijskoj Federacij: Velikaja Otecˇestvennaja: komandarmy. Voennyj biograficˇeskij slovar’. Moskva, 2005, S. 47. 402 Govorov, L.: Udar iz osazˇdennogo goroda, in: Leningrad (1946), 7 – 8, S. 1 – 3.

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Kämpfe um Petrograd während des Bürgerkrieges. Im zweiten Teil wird die Auszeichnung Leningrads mit dem Leninorden am 27. Januar 1945 ausführlich dokumentiert. Mit der Herausgabe dieses besonders wertvollen Jubiläumsbandes, dessen Preis bei 30 Rubeln lag, erfüllte das Leningrader Istpart sowohl propagandistische als auch dokumentarische Aufgaben. Zum einen erfuhren die Verdienste der lokalen Parteivertreter während der Blockade bei der Preisverleihung besondere Würdigung. Außerdem bot letztere den lokalen Parteieliten die Möglichkeit, sich mit Genehmigung, ja ausdrücklicher Aufforderung aus Moskau selbst zu feiern. Zum anderen wurde mit der gemeinsamen Dokumentation der Verleihung des Rotbannerordens an Petrograd für militärische Verdienste im Bürgerkrieg und der Verleihung des Leninordens an Leningrad anlässlich des ersten Jahrestages der Befreiung der Stadt von der Belagerung eine historische Kontinuität konstruiert und fortgeführt, die bereits als ein zentrales Motiv in der Kriegspropaganda fungiert hatte. Die Tatsache, dass Michail Ivanovicˇ Kalinin403 beide Orden überreichte, bildete ein zusätzliches symbolisches Bindeglied beider Anlässe. Rotbannerorden und Leninorden In der Sowjetunion waren im Jahr 1917 zunächst alle Orden und Ehrenzeichen abgeschafft worden. Mit der Einführung des ersten sowjetischen Ordens, des Rotbannerordens, begann 1918 das Phänomen des sowjetischen Auszeichnungswesens, das weit größere Ausmaße annahm als in den meisten anderen Ländern der Welt.404 Insbesondere für die Nachkriegszeit konstatiert Ow einen geradezu »inflationären Umgang« mit der Verleihung von Orden.405 Dieser führte letztendlich zu einer Minderung der Bedeutung von Ordensverleihungen. Eine Besonderheit des sowjetischen Auszeichnungssystems war zudem, dass Orden hier auch an Städte, Kollektive, Betriebe und Militäreinheiten als Gesamtheiten verliehen werden konnten. In dieser Praxis fand die Vorstellung des Kollektivheldentums der ausgezeichneten Einrichtungen Ausdruck.

403 Kalinin, M. I., geboren 1875, war Gefolgsmann und Mitkämpfer Lenins während der Revolution 1917 und dann in der Petrograder Stadtverwaltung tätig. Nach 1922 nahm er wichtige politische Ämter wahr, wurde Mitglied des Politbüros und ab 1929 zum Unterstützer Stalins. Zum Zeitpunkt der Ordensverleihung war er Präsident des Obersten Sowjet. Durch seine Tätigkeit in Petrograd und seine hohen Ämter genoss er, insbesondere in Leningrad, großes Ansehen. Vgl. Kalinin, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 127 f sowie ausführlicher Tolmatschow, A. V.: Michail Kalinin. Eine Biographie. Berlin, 1986. 404 Ow, M. F. v.: Ehrentitel und Medaillen in der Sowjetunion, in: Osteuropa Jg. 37 (1987), 10, S. 767 – 781, hier 767 f. 405 Ebenda, S. 780.

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Der Rotbannerorden war vorrangig eine militärische Auszeichnung406, aber auch besondere Verdienste um die revolutionäre Bewegung sollten mit ihm gewürdigt werden.407 In der Begründung seines Vorschlages, Leningrad das Rote Ehrenbanner und den Rotbannerorden zu verleihen, nennt Kalinin sowohl die aktive Beteiligung Petrograder Kommunisten in Räten und Komitees des ganzen Landes als auch die militärischen Erfolge bei der Verteidigung Petrograds im Jahr 1919.408 Am 20. Dezember 1919 verlieh er im Auftrag des siebten allrussischen Sowjetkongresses den Orden an Leningrad. Der Leninorden wurde am 6. April 1930 gemeinsam mit dem Roten Stern409 eingeführt. Im seinem Gründungsstatut wird er als »die höchste Auszeichnung der Sowjetunion für besonders hervorragende Leistungen«410 bezeichnet. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese höchste Auszeichnung während des Krieges 36000 Personen verliehen wurde, während den Roten Stern im selben Zeitraum nur 2900 Personen erhielten.411 Auch der Leninorden konnte an Unternehmen, Einrichtungen, Militäreinheiten, Republiken und Städte verliehen werden.412 Die Bereiche, in denen besondere Leistungen erbracht werden sollten, waren durchaus nicht klar begrenzt. Dazu zählten sowohl Verdienste um die Völkerfreundschaft als auch Erfolge bei der Arbeit und in der Revolutionsbewegung sowie bei der Verteidigung des Vaterlandes. Rotbannerorden und Leninorden waren typische Auszeichnungen für Städte, die den Ehrentitel ›Heldenstadt‹ trugen.413 Ergänzend sei noch angefügt, dass neben den kollektiven Auszeichnungen auch eine große Anzahl von Einzelpersonen für Verdienste bei der Verteidigung Leningrads ausgezeichnet wurde. Im Dezember 1942 wurde die Medaille für die Verteidigung Lenigrads ›Za oboronu Leningrada‹ geschaffen, die sowohl an Militär- als auch an Zivilpersonen verliehen wurde. Auch Personen, die während der Belagerung evakuiert wurden und nicht die ganze Zeit in Leningrad blieben, konnten die Medaille für besondere Leistungen zur Verteidigung der Stadt bekommen. Insgesamt wurde sie an 1470 000 Personen verliehen.414

406 Vgl. Ebenda, S. 770. 407 Kuznecov, A.: E˙nciklopedija russkich nagrad. Moskva, 2002, S. 361. 408 Vgl. die Rede Kalinins anlässlich des VII. allrussischen Sowjetkongresses am 5. Dezember 1919: Avvakumov / Alekseeva (1945): Leningrad dvazˇdyj (wie Anm. 178), S. 29 f 409 russ.: Orden krasnoj zvezdy 410 Kuznecov (2002): E˙nciklopedija russkich (wie Anm. 407), S. 359. 411 Durov, V. A.: Nagrady Velikoj Otecˇestvennoj. Moskva, 1993, S. 6. 412 Kuznecov (2002): E˙nciklopedija russkich (wie Anm. 407), S. 359. 413 Ebenda, S. 360. 414 Vgl. Durov (1993): Nagrady Velikoj (wie Anm. 411), S. 72 – 75. Siehe Buchtitel.

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Ablauf der Zeremonie Am 28. Januar 1945, einen Tag nachdem Leningrad mit dem Leninorden ausgezeichnet worden war, berichtete das Parteiorgan Pravda ausführlich über die Ordensverleihung. Zu diesem Anlass, so hieß es, »[…] versammelten sich die besten Menschen der Heldenstadt. Diejenigen, die in den ersten Reihen ihrer Verteidiger kämpften in den Tagen des selbstlosen Kampfes mit dem Feind. Viele tragen zwei oder drei Orden auf der Brust und bei allen glänzt die Medaille ›Für die Verteidigung Leningrads‹ an einem grünen Band.«415

Die feierliche Sitzung des Leningrader Sowjets der Deputierten der Werktätigen mit dem Kommando der Leningrader Front, der Baltischen Rotbannerflotte und den gesellschaftlichen Einrichtungen der Stadt fand im berühmtesten Theater der Stadt, dem Kirovtheater416 statt. Als Datum war der erste Jahrestag der Befreiung Leningrads von der Belagerung gewählt worden. Mit dem großen Feuerwerk am 27. Januar 1944, als die Befreiung der Stadt gefeiert wurde, begann in Leningrad eine Tradition des Gedenkens an die Blockade, die mit einem Festritual verbunden war : »Dieser Tag setzte sich als ›Leningrader Feiertag‹ durch, der jedes Jahr mit propagandistischem Aufwand und großer öffentlicher Anteilnahme begangen wurde. Er diente der Erinnerung an die Blockade mit ihren unzähligen Toten, war dabei gleichzeitig Ausdruck des Stolzes der Überlebenden und wurde auch von der Leningrader Parteigruppe zum Anlass genommen, ihre eigenen Verdienste um die Verteidigung der Stadt herauszustellen.«417

Diese Feiern wurden zu einem festen Bestandteil der Stadtkultur und nahmen sowohl im kulturellen Programm der Agitpropabteilung als auch im Budget der Stadt nicht unwesentlichen Raum ein, wie beispielsweise der Jahresplan der Agitpropabteilung für 1945 zeigt.418 Noch unmittelbar bevor die Leningrader Affäre ihren Ausgang nahm, wurden umfangreiche Feierlichkeiten anlässlich des Leningrader Feiertags geplant. Der »Durchführungsplan des Volksfestes, anlässlich des 5. Jahrestages der Befreiung Leningrads von der feindlichen Belagerung. 27. Januar 1949«419 sieht einen Festakt mit sechs Blasorchestern, Tanz, Lagerfeuern und einem Konzert auf dem Palastplatz im Stadtzentrum vor. Auf einer Liste möglicher Redner findet sich sowohl Kuz415 Vrucˇenie Leningradu ordena Lenina na torzˇestvennom sasedanii v teatre imeni Kirova, in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 69 – 72, hier 69. 416 Heute trägt es wieder den Namen ›Marijnskij Teatr‹. 417 Peltzer (1993): Die Leningrader (wie Anm. 70), S. 171. 418 f. 25; op. 10; sv. 1021; ed. chran. 523, Otdel propagandy i agitacii gorkoma VKP (b): Pläne und Kalender 1945. 419 CGAIPD (1949): Durchführungsplan für (wie Anm. 276).

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necov als auch Militärvertreter höchsten Ranges, wie Vorosˇilov420, Govorov und Fedjuninskij421. Zu Beginn der Festveranstaltung anlässlich der Verleihung des Leninordens an Leningrad wurden, laut Pravda-Bericht, Leningrader und Moskauer Würdenträger mit stehenden Ovationen begrüßt. Unter den Anwesenden waren Michail Ivanovicˇ Kalinin, der den Orden verleihen sollte, Gorkom- und ObkomSekretär Kuznecov, der Ispolkomvorsitzende Popkov sowie der Oberkommandierende der Leningrader Front Govorov und andere bekannte Persönlichkeiten. Im Mittelpunkt der Zeremonie standen eindeutig Leningrader Parteivertreter, während Ordensverleiher und Regierungsmitglied Kalinin und eine Abordnung des Moskauer Stadtsowjets die Rolle von Gästen und Gratulanten einnahmen. Aleksej Aleksandrovicˇ Kuznecov eröffnete die Feierlichkeiten mit einer kurzen Ansprache. Nach einer Schweigeminute für die im Kampf um Leningrad gefallenen Soldaten ernannte er Stalin in Abwesenheit zum »Ehrenvorsitzenden« der Feier, dem auf diese Weise, trotz seiner Abwesenheit, eine zentrale Rolle im Ablauf der Feierlichkeiten zugeteilt wurde. Nach dieser Eröffnung der Ordensverleihung betrat eine 50-köpfige Abordnung der Leningrader Bevölkerung mit dem Ehrenbanner, das der Stadt 1919 gemeinsam mit dem Rotbannerorden verliehen worden war, die Bühne. Unter den 50 Personen, die offensichtlich auserwählt waren, um verschiedene Berufsund Tätigkeitsgruppen zu repräsentieren, die während der Belagerung in der Stadt tätig waren, befanden sich auch 11 Frauen.422 Allerdings wurde der Orden nicht von einem Mitglied dieser Abordnung, sondern von dem Ispolkomvorsitzenden Popkov entgegengenommen. Die Delegation, die das Banner trug, senkte dieses und Popkov befestigte den Orden daran. Im Anschluss an die Übergabe des Ordens trat Popkov mit einer Dankesrede auf. Danach folgte ein Vertreter der Moskauer Delegation, Sokolov, ein Mitglied des Moskauer Stadtkomitees der VKP, mit einer kurzen Gratulation. Hiernach marschierten Vertreter von Armee und Flotte in den Saal ein. Die nun folgenden Beiträge von Militärvertretern fasst der Pravda-Artikel wie folgt zusammen: »Generaloberst Popkov und Admiral Tribuc richten den Leningradern Grüße und heiße Glückwünsche aus und versichern, dass die Krieger der Leningrader Front und 420 Vorosˇilov, K. E., geboren 1881, vor dem Krieg Politbüromitglied und Verteidigungskommissar, während des Krieges zeitweilig Befehlshaber der Nordostfront und Mitglied des GKO. Vgl. Vorosˇilov, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 365 f. 421 Fedjuninskij, I. I., geboren 1900, im Großen Vaterländischen Krieg Generalmajor, später Generaloberst, teilweise an der Leningrader- und Volchovfront eingesetzt. Vgl. Institut voennoj istorii Ministerstva Oborony Rossijskoj Federacij (2005): Velikaja Otecˇestvennaja (wie Anm. 401), S. 232. 422 Avvakumov / Alekseeva (1945): Leningrad dvazˇdyj (wie Anm. 178), S. 73 f.

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der baltischen Rotbannerflotte mit Ehre ihre Pflicht in den entscheidenden Kämpfen zur Zerstörung des Feindes erfüllen werden.«423

Diese Grußadressen beantwortete der Vorsitzende des Ispolkom des Leningrader Landkreises Solov’ev. Erst nach diesen förmlichen Gratulationen und Gegengratulationen trat der Vorsitzende des Obersten Sowjet Michail Ivanovicˇ Kalinin mit seiner Rede auf. Abschluss der Feierlichkeiten bildete die Verlesung einer Grußadresse der feierlichen Versammlung an Stalin und das Abspielen der Sowjetischen Hymne. Aufbau: Hierarchie statt Chronologie Insbesondere durch den Aufbau und die Anordnung der Texte unterscheidet sich der Band »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj« von der Textsammlung »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza«. Der Dokumentenband zur Verleihung des Leninordens an Leningrad ist nicht nur einbändig und weit weniger umfangreich, sondern auch nach völlig anderen Prinzipien strukturiert. In dem Quellenband hatte sich durch die Einteilung der veröffentlichten Dokumente eine Chronologie und damit eine Interpretation der Ereignisse im belagerten Leningrad ergeben. In der Anordnung der Texte in dem Ordensband manifestiert sich hingegen die Hierarchie der an der Ordensverleihung beteiligten Machtvertreter. Ziel ist nicht, die Geschichte der Belagerung zu schreiben, sondern die Praktiken des Kriegsgedenkens nach Beendigung der Belagerung zu dokumentieren und damit die Beteiligung und Bedeutung der lokalen und zentralen Administration festzuschreiben. Daraus ergibt sich, dass die Machtbeziehungen zwischen dem Zentrum / Moskau und lokalen Parteivertretern in dem Sammelband besonders präsent sind. Dies gilt nicht nur für die abgedruckten Texte, sondern auch für Bilder und Symbole, die in dem Band präsentiert werden. In der Anordnung der abgedruckten Texte im Quellenband des Istpart lässt sich eine leichte Abweichung vom Ablauf der Veranstaltung feststellen. Die Rede Kalinins ist hier unmittelbar nach den Grußadressen von Armee und Flotte eingefügt. Die Antwort auf diese steht an vorletzter Stelle, vor der Grußadresse an Stalin. Bereits vor dem inneren Titelblatt des Buches wird das Leningrader Istpart, anders als bei anderen Veröffentlichungen desselben Institutes, als Filiale des Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institutes beim Zentralkomitee ausgewiesen. Wie in einem Fotoalbum, durch Seidenpapiereinlagen geschützt, füllen Porträts von Lenin und Stalin je eine der nächsten beiden Seiten. Erst danach folgt das innere Titelblatt des Buches. Nach der Titelseite findet sich eine aufklappbare Fotografie des zentralen sowjetischen Gedächtnisortes der Oktoberrevolution in 423 Ebenda, S. 71.

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Leningrad: des Smol’nyj-Institutes. Auf Abbildungen der dort aushängenden Gedenktafeln ist zu lesen, dass Lenin und Stalin von hier aus den bewaffneten Aufstand angeführt hätten und hier die sowjetische Regierung und Staatsordnung durch Lenin gegründet worden seien. Man erfährt jedoch nicht, dass Leningrad auch während der Belagerung vom Smol’nyj aus regiert wurde, da hier der Militärrat der Leningrader Front angesiedelt war. Diese symbolträchtigen Abbildungen bilden Rahmen und Hintergrund aller folgenden Texte. Hier wird der Schauplatz der Handlung festgelegt, im hierarchischen Kanon der sowjetischen Staatssymbolik verankert und in die Tradition des Gedenkens an die Revolution eingeordnet. Erst nach dieser symbolischen Weichenstellung folgt der erste Textbeitrag des Bandes. Die beiden Teile des Buches unterscheiden sich deutlich durch die Art des veröffentlichten Materials. Während der erste Teil – zur Verleihung des Rotbannerordens an Leningrad 1919 – hauptsächlich von Ausschnitten aus Briefen oder Reden Lenins bestimmt ist, in denen dieser die besonderen Fähigkeiten und die Fortschrittlichkeit der Leningrader Arbeiter preist und diese zum Durchhalten im Bürgerkrieg auffordert, entstammt nur ein einziger Text dem Kontext der Ordensverleihung selber. Dies ist ein einseitiger Ausschnitt aus der Rede Kalinins zu diesem Anlass. Der zweite, umfangreichere Teil des Bandes besteht hingegen zum großen Teil aus langen Abdrucken der anlässlich der Verleihung des Leninordens gehaltenen Reden. Nur zwei der abgedruckten Dokumente entstammen dem Jahr 1944. Das ist zum einen der vom Führungsstab der Leningrader Front unterzeichnete prikaz424, der die Befreiung Leningrads von der Belagerung bekanntgab und am 27. Januar 1944 veröffentlicht wurde, zum anderen ein Gratulationsschreiben Roosevelts an die Stadt Leningrad vom 17. Mai 1944425. Zusätzlich sind Zeitungsartikel über die Ordensverleihung sowie Gratulationen aus dem In- und Ausland in dem Band vertreten. Zwischen den beiden Teilen des Buches steht in roter Schrift gedruckt die Anordnung des II. Sowjetkongresses der UdSSR, Petrograd in Leningrad umzubenennen.426 Dieses Dokument, das zu keiner der beiden Ordensverleihungen in Beziehung steht, unterstreicht die historische Kontinuität der beiden Anlässe. Darüber hinaus stellte auch die Umbenennung der Stadt nach Lenin eine weitere Auszeichnung dar. Ähnlich wie bei dem Band »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« gibt es auch im Band »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj« keinerlei Kommentare der Herausgeber. Damit fehlt eine Einordnung und wissenschaftliche Einschätzung der veröffentlichten Materialien, die den Band zu einer 424 dt.: Befehl; Ebenda, S. 37 f. 425 Ebenda, S. 39. 426 Diese datiert vom 26. Januar 1924.

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wissenschaftlichen Publikation hätten machen können. Der Inhalt der Publikation geht nicht über die in den publizierten Quellen enthaltenen Deutungen hinaus, die zum großen Teil direkt aus der Feder der Leningrader Parteivertreter und der parteieigenen Presse stammen. Repräsentationen der Leningrader Politprominenz: Kuznecov und Popkov Die Rede, die Aleksej Aleksandrovicˇ Kuznecov anlässlich der Verleihung des Leninordens an Leningrad hielt, ist ein Beispiel für einen solchen Text. Sie diente vorrangig zur Erfüllung formaler Zwecke. Kuznecovs Aufgabe als derzeitiger Gorkom- und Obkom-Sekretär und damit höchster Leningrader Parteifunktionär und Gastgeber der Feierlichkeiten war, die Versammelten zu begrüßen und die Ordensverleihung einzuleiten. In seiner Wortwahl bezog er sich denn auch unmittelbar auf die Formulierungen des Ordenserlasses aus Moskau. Gleichzeitig würdigte er in sakral anmutenden Worten allgemein die Verdienste Stalins um die Befreiung der Stadt, ohne diese Würdigung an konkreten Ereignissen festzumachen: »In dem Erlass zur Auszeichnung der Stadt Leningrad mit dem Leninorden wird alles über die mutigen Leningrader und ihre Verdienste an unserer Heimat in der Periode des Vaterländischen Krieges gesagt. Heute, an diesem feierlichen Tag, sind unsere Blicke und unsere Gedanken auf den Genossen Stalin gerichtet, der der Organisator und Inspirateur der Verteidigung Leningrads war.«427

In geschichtspolitischer Hinsicht ist ein Artikel Kuznecovs, der am Tag der Ordensverleihung in der Pravda erschien, aussagekräftiger. Dieser findet sich am Beginn des Istpart-Sammelbandes anstelle eines Vorworts. In dem Pravda-Artikel nennt Kuznecov zunächst den Anlass der Feierlichkeiten und beginnt dann mit einer kurzen Beschreibung der Militäraktionen, die zur Befreiung der Stadt im Januar 1944 geführt hatten. Um die militärgeschichtliche Bedeutung dieser Ereignisse zu unterstreichen, bezieht er sich auf eine Einschätzung Stalins: »Mit einem zielstrebigen Schlag gegen den Feind wurde der Ausgang der historischen Schlacht um Leningrad entschieden. Der oberste Befehlshaber und Marschall der Sowjetunion Genosse Stalin nannte diese Schlacht den ›großen Sieg bei Leningrad‹. Dieser glänzende Sieg führte zur Befreiung des ganzen Leningrader Gebietes von den deutschfaschistischen Eindringlingen.«428

Die Gründe für die erfolgreiche Beendigung der Belagerung führt Kuznecov auf den Kampfgeist der »Sowjetischen Menschen«, nicht ausdrücklich auf den der 427 Kuznecov, A. A.: Vstupitel’naja rech tov. Kuznecova A. A., in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 45 – 46, hier 45. 428 Kuznecov (1945): Gorod velikogo (wie Anm. 290), S. 8.

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Leningrader, und die Überlegenheit sowjetischer Waffen zurück. Auf zwei Seiten würdigt er die Verdienste der Armee an der Leningrader Front. Besonders werden die anfängliche Überlegenheit der deutschen Seite und deren spätere Verluste hervorgehoben.429 In einem weiteren inhaltlich neuen Abschnitt geht es um die Verdienste der Partei, insbesondere der Leningrader Parteiorganisation. Geschickt greift Kuznecov hier auf ein Lenin-Zitat zurück, dessen Aussage er im selben Atemzug auf Stalin ausdehnt. So versichert sich der Autor dessen – unanzweifelbarer – Autorität, um den Leningrader Kommunisten besondere Vorzüge zuzuschreiben: »Die Arbeiter Leningrads wurden von Lenin und Stalin immer hoch eingeschätzt: ’Die Arbeiter Piters – schrieb Lenin – stellen einen kleinen Teil der Arbeiter Russlands. Aber sie sind einer der besten, fortschrittlichsten, bewusstesten, revolutionärsten, härtesten […] Teile der Arbeiterklasse und aller Werktätigen Russlands. (Lenin, Werke, Bd.23, S. 29). Die Parteiorganisation Leningrads lenkte in der Periode der Blockade alle Aufmerksamkeit darauf, diese berühmten Traditionen Piters in den Leningradern weiterzuentwickeln und zu vermehren.«430

In einem weiteren Textabschnitt werden der Wiederaufbau und die Zukunft Leningrads thematisiert. Erst in diesem Zusammenhang beklagt Kuznecov die Opfer, die die Verteidigung der Stadt gefordert hatte. Er ruft dazu auf, derjenigen Toten zu gedenken, »die auf dem Schlachtfeld oder bei der Arbeit«431 umgekommen waren. Die große Gruppe ziviler Opfer, die arbeitsunfähig waren und zum Zeitpunkt ihres Todes keine institutionalisierten Funktionen erfüllten, so wie Alte, Kinder und Mütter, die aufgrund der zu geringen Lebensmittelrationen nicht überleben konnten, finden in diesem Gedenken keine Erwähnung. Auf den Hunger in der belagerten Stadt geht Kuznecov in seiner Rede nur in einem Nebensatz ein. Dieser findet sich im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Leningrader Parteiorganisation. So betont Kuznecov, die Kommunisten hätten »mit den Werktätigen Leningrads alles Unglück, die unglaublichen Entbehrungen, die durch die Blockade entstanden waren, den Tod durch Hunger und Geschütze« geteilt und seien »überall, in den schwierigsten Gebieten vorne« gewesen.432 Kuznecov bezieht sich hier auf die in der Stadt verbliebenen Parteimitglieder. Daher nimmt es sich zunächst merkwürdig aus, dass er darin ein besonderes Verdienst der Parteimitglieder ausmacht. Seine Äußerung ist jedoch vor dem Hintergrund der anhaltenden Gerüchte über das ausschweifende Leben höherer Parteikader während der Belagerung zu verstehen: In Kuznecovs Dar-

429 430 431 432

Ebenda, S. 8 – 10. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 12.

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stellung wird der Hunger zum notwendigen Übel, das alle in Leningrad verbliebenen Personen gleich stark betraf. Am Ende des Pravda-Artikels stellt Kuznecov das Kriegsgedenken in den Dienst des Wiederaufbaus: Die Verleihung des Leninordens verpflichte die Leningrader Bevölkerung dazu, besonders intensiv am Aufbau der Stadt zu arbeiten.433 Besonders fruchtbar ist der Vergleich des Pravda-Artikels mit dem unter III.3.1. behandelten Aufsatz »Die Bol’sˇeviki Leningrads beim Schutz ihrer Heimatstadt«434, den Kuznecov wenig später, im Mai 1945, in der Zeitschrift Partijnoe stroitel’stvo435 veröffentlichte. Während in diesem Beitrag die Vorstellung von Lenigrad als vorrangigem Kriegsschauplatz artikuliert wird, zu dessen Verteidigung sich die ganze Sowjetunion erhoben habe, stellt der Pravda-Artikel die Stadt eher als Empfänger von Hilfsleistungen dar. Hier ist zu lesen, Leningrad sei durch den »heißen Atem der Heimat gewärmt«436 worden. Weiter heißt es: »Der feindliche Ring umschloss Leningrad eng, aber wir fühlten uns nicht abgetrennt vom viele Millionen zählenden sowjetischen Volk, wir spürten immer die unzerreißbare enge Verbindung mit unserem ganzen mächtigen Land.«437

In solchen geringfügigen Formulierungsvariationen lassen sich Ansätze zur Annäherung beziehungsweise Abweichung von Stalin’schen Vorgaben erkennen. Die Vorstellung von Leningrad als Empfänger von Hilfsleitungen, von der Leningrader Bevölkerung als eines Teils des »Millionen zählenden« Sowjetvolkes lässt die Stadt als einen Kriegsschauplatz von vielen erscheinen. Die Formulierung hingegen, mit den Leningradern sei »das ganze Land zur Verteidigung Leningrads aufgestanden«438, impliziert dessen besondere Bedeutung. Auch die Darstellung der Rolle Zˇdanovs im Vergleich zur Bedeutung Stalins wird in den beiden Texten unterschiedlich gewichtet: In Partijnoe stroitel’stvo wird die Tätigkeit Zˇdanovs als ausschlaggebend für viele Aktivitäten in Leningrad während des Krieges dargestellt. In dem Pravda-Artikel findet dieser keine Erwähnung, stattdessen wird die Rolle Stalins als »Inspirateur und Organisator der Verteidigung Leningrads und Zerschlagung der Deutschen bei Leningrad«439 hervorgehoben. In diesen unterschiedlichen Darstellungsweisen zeigt sich uns Kuznecov selber in verschiedenen Rollen. Beim Verfassen des Aufsatzes für Partijnoe 433 434 435 436 437 438 439

Ebenda, S. 16. Kuznecov (1947): Bol’sˇeviki (wie Anm. 387). dt.: Parteiaufbau Kuznecov (1945): Gorod velikogo (wie Anm. 290), S. 12. Ebenda, S. 12 f. Kuznecov (1947): Bol’sˇeviki (wie Anm. 387), S. 10 f. Kuznecov (1945): Gorod velikogo (wie Anm. 290), S. 13.

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stroitel’stvo stand seine Perspektive des lokalen Parteiakteurs im Vordergrund, der das Handeln seiner Struktur beschreibt und bezüglich des Hungers in der Stadt durchaus auch rechtfertigt. Gleichzeitig hebt er seine eigene Bedeutung und die seiner Stadt besonders hervor. In dem Pravda-Artikel ging es hingegen darum, einer breiten Öffentlichkeit die geglättete und an Stalins Interpretationen angepasste Version offiziellen Kriegsgedenkens zu präsentieren. Besonders hohe Einschätzungen der Stadt und ihrer Bewohner konnten hier nur unter Heranziehung besonders unantastbarer Autoritäten, wie Lenin und Stalin selber, vorgebracht werden. Es bleibt festzuhalten, dass die Bewertung und Gewichtung der Belagerung und ihrer Akteurinnen und Akteure in verschiedenen offiziellen Kontexten durch ein und dieselbe Person durchaus unterschiedlich ausfiel. Als zweiter hochgestellter Vertreter der Leningrader Parteieliten trat der Vorsitzende des Ispolkom des Leningrader Stadtsowjets Petr Sergeevicˇ Popkov auf. Im Vergleich zur Rede Kuznecovs, die ja eher allgemein gehalten war, beschäftigte sich Popkov stärker mit den konkreten Maßnahmen, die von der Leningrader Parteiorganisation und ihren Mitgliedern unternommen worden waren, um die Stadt vor einer Einnahme zu schützen. Dabei bleibt ähnlich wie bei Kuznecov die Hungersnot in der Stadt unerwähnt: »Indem sie Schwierigkeiten und unwahrscheinliche Entbehrungen überwanden, lösten die Werktätigen unserer Stadt unter der Leitung der Leningrader Parteiorganisation in den Tagen der Blockade eine Aufgabe nach der anderen, verstärkten die Verteidigung der Stadt, sammelten Kräfte und Mittel für die Zerschlagung der deutschen Besatzer vor Leningrad.«440

Das Massensterben der Leningrader Zivilbevölkerung wird hier mit der Wendung »unwahrscheinliche Entbehrungen« verbrämt. Dabei finden weder die zivilen noch die militärischen Opfer Erwähnung. Für die erfolgreiche Beendigung der Belagerung macht Popkov drei verschiedene Ursachenbereiche aus: Diese sind der Patriotismus der Leningrader und ihre Ergebenheit gegenüber Regierung, Partei und dem »Führer und Lehrer« Stalin, außerdem die Gewissheit der Leningrader Bevölkerung, dass das »Sowjetvolk« und Stalin ihnen beistehen. Und schließlich die Tatsache, dass die »Verteidigung von der Leningrader Parteiorganisation angeführt« wurde.441 In dieser Lösung wird geschickt vermieden, den Leningradern besondere – traditionelle – Fähigkeiten zuzuschreiben. Das Geheimnis ihres Erfolges liegt in dieser Darstellungsweise in ihrer Haltung Stalin gegenüber. So wird dieser zwar erwähnt, befindet sich jedoch in einer passiven Rolle. Interessant ist weiterhin, dass Popkov die Rolle seiner eigenen, der Lenin440 Popkov, P. S.: Recˇ tovarisˇcˇa Popkova, in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 47 – 51, hier 48. 441 Ebenda, S. 49.

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grader Parteiorganisation, genauso hoch einschätzt, wie das Vertrauen der Leningrader in Stalin. Erst in einem späteren Abschnitt bezeichnet auch Popkov – wie Kuznecov – Stalin als den »Organisator und Inspirateur der großen Siege bei Leningrad«.442 Im letzten Drittel seiner Rede beschäftigt sich Popkov mit dem Wiederaufbau Leningrads und den Aktivitäten, die dazu erforderlich sind. Die Rede schließt mit mehreren Schwüren gegenüber Kalinin, Stalin, der Heimat und der Regierung, alles zu tun, um diese Aufgaben zu erfüllen. Deutlicher als in anderen Redebeiträgen kommt in der Rede Popkovs die utilitaristische Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens zutage. Thema der Rede ist das Handeln der Leningrader Parteifunktionäre, das zum Siege geführt habe und nun den Aufbau Leningrads ermögliche. Die Kriegsopfer fehlen in dieser Gedenkkonzeption völlig. Statt Trauer um die Opfer zuzulassen, wurde ein übertrieben wirkender Enthusiasmus von der Bevölkerung eingefordert. Der einzige Sinn des Gedenkens lag darin, die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Leningrader Bevölkerung zu erhöhen. Auch beim Vergleich unterschiedlicher Darstellungen Popkovs spielt der Kontext eine zentrale Rolle. So hatte er 1944 in einer Rede beim Obersten Sowjet der RSFSR ebenfalls über die Aktivitäten der jeweiligen Parteiakteure in Leningrad gesprochen, war dabei jedoch stärker auf die tatsächliche Lage in der Stadt, insbesondere die Situation der Zivilbevölkerung eingegangen: »Die Fenster in den meisten Häusern waren zerschlagen durch die Explosionen der Sprengbomben und Artilleriegeschosse. Viele mussten zwischen 15 und 18 Kilometer zu Fuß zur Arbeit gehen. Die Brotration wurde für Arbeiter auf 250 gr., für Angestellte und Familienmitglieder auf 125 gr. pro Tag gekürzt. Dazu kommt, dass dem Brot 30 Prozent Ersatzstoffe beigemischt waren. Andere Lebensmittel konnten wir der Bevölkerung aus Mangel an solchen nicht geben. Die Menschen lebten in unmenschlichen Verhältnissen. Es begann Hunger und Skorbut. Viele starben an Unterernährung.«443

Zahlen der Hungertoten wurden jedoch auch in dieser Darstellung nicht genannt. Vertreter aus Moskau: Sokolov und Kalinin Neben den Leningrader Parteivertretern kamen bei der Ordensverleihung auch zwei Personen zu Wort, die das Moskauer Machtzentrum beziehungsweise die sowjetische Regierung vertraten. Dies waren ein Sekretär des Moskauer Stadtparteikomitees namens Sokolov und der Präsident des Obersten Sowjets Michail Ivanovicˇ Kalinin. Weder in der abgedruckten Grußadresse noch im Pravda442 Ebenda, S. 49. 443 Popkov, P. S.: V-ja sessija Verchovnogo Soveta RSFSR 1-go sozyva. Recˇ deputata P.S. Popkova, in: Leningrad (1944), 4, S. 3 – 6, hier 4.

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Artikel über die Ordensverleihung vom 28. 01. 1945, der auch in dem Band veröffentlicht ist, sind Name und Vatersname von Sokolov oder wenigstens dessen Initialen erwähnt.444 Dies lässt seine Person als statusniedriger erscheinen als die Leningrader Funktionäre, die immer mit Initialen genannt werden. Auch in gängigen Nachschlagewerken fand sich sein voller Name nicht: I. M. Sokolov war während des Krieges an der Organisation der Moskauer Volkswehr beteiligt gewesen. Er hatte einem Komitee zur Hilfe für Verwundete vorgestanden und einem weiteren Parteikomitee zum Wiederaufbau Moskaus angehört.445 Die Ansprache Sokolovs beschränkte sich auf eine kurze, eher neutral gehaltene Gratulation, in der er die Leningrader Kriegsgeschichte in den weiteren Kriegsverlauf einordnete. Kalinin hielt eine ausführlichere Rede. In dieser griff er ein zentrales Motiv des ›Petersburger Textes‹ auf, welches im LeningradPatriotismus und in der Kriegspropaganda weitverbreitet war, nämlich die Stadt als Zentrum des Fortschritts: »Der Kampf Leningrads mit den faschistischen Horden – das ist das Aufeinandertreffen der Kräfte des Fortschritts mit den Kräften der Barbarei. Es war das Zusammentreffen reaktionärer Stagnation mit einer wahrhaft progressiven Stadt, mit der progressivsten Bevölkerung der Welt. Und Leningrad hat gesiegt, der Fortschritt hat gesiegt.«446

Dieses Motiv steht einerseits in enger Verbindung mit der Rolle Leningrads als Zentrum der Revolution, geht jedoch auch auf die Gründung der Stadt durch Peter den Großen als neue Hauptstadt des russischen Zarenreiches zurück. Der Bezug zur vorrevolutionären Leningrader Geschichte wird auch durch die Aussage bekräftigt, »seit alter Zeit« würden in Leningrad revolutionäre Ideen besonders gut gedeihen.447 Besonders bemerkenswert in der Rede Kalinins ist seine Erwähnung der zivilen Opfer in Leningrad. Im Vergleich mit den Darstellungen der Leningrader Parteifunktionäre nimmt sie sich außerordentlich offen aus: »Vor Leningrad wurde genau so hart gekämpft wie an den anderen Frontabschnitten. Aber hier wurde der Kampf erschwert durch die Isoliertheit Leningrads, was bekanntermaßen zu großen Opfern unter der Zivilbevölkerung, Kinder und Alte nicht ausgenommen, führte. Die Leningrader haben wie niemand sonst viel individuelles 444 Sokolov, I. M.: Recˇ tovarisˇcˇa Sokolova (ot delegacii Moskvy), in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 52 – 53 sowie Pravda (1945): Vrucˇenie Leningradu (wie Anm. 415), S. 71. 445 Bukov, K. I.; Il’in, G. V.; Cygankov, V. P.: Boevoj otrjad srazˇajusˇcˇejsja Partii. Moskovskaja partijnaja organizacija v gody velikoj otecˇestvennoj vojny. Moskva, 1985, S. 46, 170, 334 f. 446 Kalinin, M. I.: Recˇ Tovarisˇcˇa Kalinina, in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 59 – 62, hier 59 f. 447 Ebenda, S. 60.

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Leid und Unglück erfahren. Aber wenn es Hitler auch nur für eine Stunde gelungen wäre, Leningrad einzunehmen, dann hätten die modernen Barbaren grausam mit der Leningrader Bevölkerung abgerechnet und es gäbe unzählig viel mehr Opfer unter der Leningrader Bevölkerung.«448

Gerade in diesem Zitat gesteht Kalinin den Kriegsereignissen in Leningrad besondere Bedeutung zu und hebt die Tragik der Leningrader Kriegsgeschichte im Kontext der allgemeinen sowjetischen Kriegsgeschichte besonders hervor. Dies lässt sich einerseits auf das Leiden der Leningrader Bevölkerung beziehen, andererseits aber auch auf die außerordentlich große Bedeutung Leningrads für den gesamten Kriegsverlauf, die Kalinin postuliert. Nicht zuletzt macht er auch bei den Leningrader Proletariern besondere Eigenschaften aus, da diese bei Lenin und Stalin in die Lehre gegangen seien. Zum Ende seines Beitrags kommt auch Kalinin auf die Aufgaben des Wiederaufbaus zu sprechen. Dieser Teil der Rede ist bei ihm jedoch weit weniger umfangreich als bei den Vertretern der Leningrader Parteiorganisation. Er schließt mit dem Satz: »Ich bin sicher, dass diese Auszeichnung von Ihnen gerechtfertigt werden wird.«449 Unter den untersuchten Redebeiträgen weist der Beitrag Kalinins zweifellos die meisten Attribute eines ausgeprägten Leningrad-Patriotismus auf. Gleichzeitig lässt sich hier weniger als bei anderen Rednern das Bestreben erkennen, die Überlebenden durch das Kriegsgedenken für die Zukunft in die Pflicht zu nehmen und die persönlichen ›Verdienste‹ Stalins hervorzuheben. Zum einen sind diese Auffälligkeiten sicherlich mit der Tatsache zu erklären, dass Kalinin seine politische Karriere als Arbeiter in Leningrad begonnen hatte und er daher geneigt war, sich mit dem ›Leningrader Proletariat‹ in besonderer Weise zu identifizieren.450 Da Kalinin nicht als Leningrader Parteifunktionär für den Wiederaufbau der Stadt verantwortlich war, hatte er auch kein sehr ausgeprägtes Interesse daran, die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung mittels ihrer Verpflichtung auf den Leninorden zu steigern. Darüber hinaus bestand für ihn keine Gefahr, durch die Hervorhebung eigener Verdienste um Leningrad in Konkurrenz zu Stalins Allmachtsanspruch zu treten, was sich später als reale Gefährdung für die Leningrader Parteieliten herausstellen sollte.

448 Ebenda, S. 60. 449 Ebenda, S. 62. 450 Zur Biographie Kalinins vgl. Tolmatschow (1986): Michail Kalinin (wie Anm. 403). Trotz seiner ideologischen Verbrämtheit bietet der Beitrag einen schnellen Einblick in Leben und Werk Kalinins.

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»Mit neuen Arbeits-Heldentaten antworten wir auf die hohe Auszeichnung«: Helden in der Bringschuld Der Band »Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj« dokumentiert im Unterschied zu anderen Textsammlungen den rituellen Charakter, den das Kriegsgedenken bei offiziellen Gedenkfeiern annahm. In dieser und ähnlichen Inszenierungen offenbart sich in besonderem Maße seine Funktionalität. Es wurde nicht nur der militärischen Opfer und großen Heldentaten gedacht, das rituelle Gedenken im öffentlichen Raum war untrennbar mit Schwüren und Beschwörungen verbunden, in denen die Vergangenheit für zukünftiges Handeln instrumentalisiert wurde. Aus der Leningrader Kriegsgeschichte ergab sich so eine Verpflichtung aller für die Gegenwart und in die Zukunft hinein. Diese Verknüpfung erscheint paradox: Die Leningrader Bevölkerung wurde einerseits zu kollektiven Heldinnen und Helden erklärt. Im selben Atemzug wurde andererseits ihre Bringschuld gegenüber den staatlichen und Parteistrukturen sowie gegenüber Stalin erklärt. Ein Element, das die Zeremonie der Ordensverleihung in besonderer Weise prägte, waren Beschwörungen der Person Stalins. Sie waren besonders präsent in den Beiträgen der Leningrader Parteivertreter. Die gängige Formel für die Beschwörung von Stalins besonderer Rolle für die Leningrader Kriegsgeschichte war die Bezeichnung als »Organisator und Inspirateur der Verteidigung«. Darüber hinaus finden sich Formulierungen, die den Reden einen quasi-sakralen Anstrich geben, so wenn Kuznecovs in seiner Eingangsrede sagt: »Heute, an diesem feierlichen Tag sind unsere Blicke und Gedanken auf den Genossen Stalin gerichtet, der Organisator und Inspirateur der Verteidigung Leningrads war.«451 In einem gesonderten Schreiben, das am Ende der Veranstaltung verlesen wurde, werden diesen formelhaften Beschwörungen nochmals wiederholt und mit Schwüren in Bezug auf den Wiederaufbau der Stadt verknüpft. Unter anderem heißt es: »Stalin ist der Sieg! Mit diesem Gedanken lebten, arbeiteten und kämpften wir – wie alle sowjetischen Menschen – und überwanden schweres Unglück und Entbehrungen. Als wir siegreich aus dem grausamen Kampf hervorgegangen waren, gaben wir Ihnen unser Wort, Leningrad als großes industrielles und kulturelles Zentrum des Landes wiederherzustellen. […] Damit erfüllen wir unsere Schuld vor Ihnen, vor der sowjetischen Heimat und der siegreichen Roten Armee.«452

Wodurch diese hier beschworene abstrakte Schuld entstanden sein soll, bleibt jedoch offen. So bleiben die Beschwörungen als leere Phrasen stehen. Bezüglich der Stalin’schen Geschichtsbilder muss angemerkt werden, dass dieser Text der 451 Kuznecov (1945): Vstupitel’naja (wie Anm. 427), S. 45. 452 Tovarisˇcˇu Stalinu Iosifu Vissarionovicˇu, in: Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V. (Hg.): Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945, S. 66 – 68, hier 67.

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einzige ist, der explizit Bezug auf dieses Paradigma, namentlich die ›zehn Schläge‹ des Jahres 1944 nimmt.453 In den leeren Beschwörungen Stalins offenbart sich eine geschichtspolitische Taktik der Leningrader Parteivertreter : Dem vozˇd’ wurde eine eigene Rolle in der Leningrader Kriegsgeschichte zugeschrieben, indem man die Formel vom »Organisator und Inspirateur« erfand und beständig wiederholte. Darüber hinaus wurden jedoch weder konkrete Handlungen Stalins benannt oder konstruiert, die das Kriegsschicksal Leningrads beeinflusst hätten. Noch wurden weitergehende Bemühungen unternommen, die Leningrader Kriegsgeschichte in die von Stalin 1944 entwickelten Grundzüge seiner Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einzuschreiben. Einzige Ausnahme bleibt das erwähnte Schreiben an Stalin selber. Diese Taktik der Lippenbekenntnisse gegenüber Stalin wurde von Popkov ebenso wie von Kuznecov betrieben, wobei diese darauf achteten, die Besonderheit Leningrads und der Leningrader nicht über Gebühr und nur mit den Worten Lenins zu betonen. In der Rede Kalinins fehlen solche Vorsichtsmaßnahmen, hier wurden Motive des Leningrad-Patriotismus und der Kriegspropaganda eins zu eins übernommen, ohne sie dem sich entwickelnden Stalin’schen Geschichtsparadigma anzupassen. Am Ende des Sammelbandes zur Ordensverleihung erhalten die Lesenden ausführlichen Einblick in das Presseecho, welches der Preisverleihung folgte. Den Anfang bildet der bereits behandelte Pravda-Artikel, der detailliert den Ablauf der Ordensverleihung wiedergibt und am 28. Januar als Leitartikel erschien. Weiterhin finden sich vier Leitartikel sowjetischer Tageszeitungen, die sich mit dem Jubiläum der Befreiung Leningrads und der Ordensverleihung befassen. Die Artikel sind jeweils in ihrem thematischen Schwerpunkt dem Schwerpunkt der jeweiligen Zeitung angepasst. Alle sehen jedoch in der Befreiung Leningrads im Januar des Vorjahres eine Ursache für die gegenwärtigen militärischen Erfolge. Leningrad wird in diesen Beiträgen immer wieder als Heldenstadt bezeichnet, obwohl ihm dieser Titel erst 20 Jahre später, am 8. Mai 1965, offiziell verliehen wurde.454 Die Izvestija sovetov deputatov trudjasˇcˇichsja SSSR streicht in ihrem Artikel »Die unsterbliche Heldentat der Heldenstadt«455 gerade Hunger und Entbehrungen im Winter 1941 – 42 als besonderen Beweis für die Heldenhaftigkeit der Leningrader heraus:

453 Ebenda, S. 67. 454 Vgl. Tichonov, L. P.: Sankt Peterburg ot A do Ja. Istorija, legendy, fakty, foto. Sankt-Peterburg, 2007, S. 307 f. 455 Avvakumov / Alekseeva (1945): Leningrad dvazˇdyj (wie Anm. 178), S. 87 – 90.

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»Wahrhaftig, in den unerträglichen Umständen der feindlichen Umzingelung, belagert in den Mauern der Stadt, in Kälte, Hunger, unter unaufhörlichem Artilleriebeschuss, inmitten von Bränden und Ruinen, inmitten des Todes und unerhörter Leiden – unter diesen härtesten Bedingungen hielten die Werktätigen der Stadt durch und gaben ihre Stadt nicht in die Hände des Feindes.«456

Die Armeezeitung Krasnaja zvezda widmet sich unter der Überschrift »Mut und Tapferkeit Leningrads«457 besonders intensiv dem militärischen Schwerpunkt und den Verlusten der Gegner, die ausführlich aufgezählt werden. In ihrem Artikel »Die Heldentat der Werktätigen Leningrads« beschäftigt sich die Komsomolskaja pravda mit den von Jugendlichen verübten Tätigkeiten in der Stadt. Die Gewerkschaftszeitung Trud konzentriert sich auf den Wiederaufbau von Produktionsstätten und die Steigerung der Produktivität in Leningrad.458 Den Abschluss des Bandes bildet der Leitartikel der Leningradskaja pravda vom 30. 01. 1945. Unter dem Titel »Mit neuen Arbeits-Heldentaten antworten wir auf die hohe Auszeichnung«459 wird hier über die Gratulationen und Glückwünsche aus dem ganzen Land berichtet. Die Leser der Zeitung erhalten darüber hinaus Anweisungen, wie sie auf die Auszeichnung ihrer Stadt reagieren sollten: »Im Arbeitsalltag haben wir die frohe Nachricht über die Auszeichnung erhalten. Mit Arbeit beginnen wir den morgigen Tag. Und das wird die beste Antwort auf die erhaltene Belohnung sein, damit erweisen wir uns der hohen Ehre würdig, die uns Partei und Regierung erwiesen haben. Es steht uns nicht an, hochmütig zu werden.«460

Gerade dieser Artikel aus der Tageszeitung der Leningrader Parteiorganisation verdeutlicht nochmals, worauf der Schwerpunkt des Kriegsgedenkens in Leningrad in Zukunft liegen sollte und welche Wirkungen sich die Parteileitung von der Ordensverleihung erhoffte. Sinn und Zweck des Gedenkens sollte darin liegen, positiv zu erinnern, um aus dem Desaster des Krieges mit dem Bewusstsein der eigenen Leistung und Stärke hervorzugehen. Dies sollte sich unmittelbar positiv auf die Produktivität der Leningrader Bevölkerung auswirken und einen raschen Wiederaufbau der Stadt ermöglichen. Schattenseite dieser Art von Geschichtspolitik war der Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit.

456 457 458 459 460

Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 91 – 93. Ebenda, S. 96 – 99. Ebenda, S. 121 – 124. Ebenda, S. 122.

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4.

Geschichtsschreibung in Leningrad: Das Institut für Parteigeschichte

Resümee

In den Leningrader wissenschaftlichen Einrichtungen fand praktisch keine wissenschaftliche Arbeit statt, die über die Herausgabe von Quellen hinausgegangen wäre. Die einzige dabei geleistete – im weitesten Sinne historiographische – Arbeit war das Erstellen von Gliederungen, die eine Periodisierung der Belagerung vornahmen. Aber auch diese waren von Kuznecov übernommen worden. Unter dem Anschein von Wissenschaftlichkeit wurden Inhalte unmittelbar reproduziert, die aus der Feder lokaler Parteifunktionäre stammten. Dabei wurde auch deren politisches Taktieren im Bezug auf Moskau sowie das Hervorheben eigener Verdienste und das Verschleiern eigener Fehler mit übernommen. Das Fehlen einer Kommentierung und Einordnung der Quellen in den Bänden bedeutet auch, dass die in den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes entworfenen Geschichtsbilder lokaler Parteivertreter an die Stelle wissenschaftlicher Auswertung und Analyse treten. Die neutralisierende, interpretierende, kontextualisierende und versachlichende Funktion wissenschaftlicher Analysen wurde auf Personen verlagert, die in der politischen Administration und im Propagandaapparat tätig waren. Diese Praxis bildet den Kern der politischen Manipulation der Geschichtspolitik im Leningrad der Nachkriegszeit. Von den wissenschaftlichen Mitarbeitern des Istpart wurden durchaus Erzählungen erhoben, die den Rahmen des politisierenden Heldennarrativs bei Weitem sprengten. Diese kamen in den Publikationen jedoch deshalb nicht zum Tragen, weil es überhaupt keine Analyse weder des publizierten noch des unveröffentlichten Archivmaterials gab. Die im Istpart entwickelten und vertretenen Geschichtsbilder hatten jedoch dieselbe Wirkungsmacht wie Geschichtsbilder, die durch Forschung hätten entstehen können.

IV. Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

1.

Blockadeliteratur: Gedenken zwischen Sozialistischem Realismus und Zensur »In the peculiar historical circumstances of Russian – even more soviet – political life, the role of literature was never confined to creativity alone. It expressed the public mood and served as a medium of rapport among people […].«461

Diese Einschätzung der Historikerin Elena Zubkova gilt zweifellos auch für die Literatur, die in der Nachkriegszeit die Belagerung beziehungsweise die Verteidigung Leningrads thematisierte. Hier wurden Bilder Leningrads und seiner Bewohner entwickelt und verbreitet, die auf lange Zeit wirksam blieben und in der Sowjetunion weite Verbreitung fanden. Dies war den zeitgenössischen Vertreterinnen und Vertretern der Leningrader Literaturszene, die in der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes organisiert waren, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der lokalen Parteistrukturen durchaus bewusst. Die Literatur bot Raum für Gefühle und individuelle Interpretationen. Sie war ein Medium, das einen großen Kreis an Rezipienten erreichen konnte. Gerade auf dem Gebiet der Blockadeliteratur wurde die Frage, wie die verzweifelte Lage der Zivilbevölkerung während der Belagerung dargestellt werden sollte, zum zentralen Problem: Zum einen war es unmöglich, die Menschen in der belagerten Stadt authentisch zu beschreiben, ohne Mangel und Leid der Bevölkerung zu thematisieren. Diese Beschreibungen erinnerten jedoch immer auch an Zustände, die die sowjetische Regierung zu verschiedenen Zeiten selber herbeigeführt hatte.462 Zum anderen war die mythische Überhöhung und Heroisierung 461 Zubkova (1998): Russia after (wie Anm. 258), S. 7. 462 So die Hungersnöte im Zusammenhang mit der Kollektivierung. Ausführlich dazu Davies, R. W.; Wheatcroft, S. G.: The Years of Hunger: Soviet agriculture 1931 – 1933. Houndmills, Basingstoke, 2004 oder Dolot, M.: Execution by Hunger. London, 1985. Im Kontext des Krieges kurz auch bei Bonwetsch (2000): War as (wie Anm. 168), S. 139 f.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

der Sowjetmenschen ohne die Folie von fremdinduziertem Leiden nicht vollziehbar. Ein Kritiker, der 1947 das Buch »Doroga zˇizni« von Saparov im Auftrag der Leningrader Agitpropabteilung rezensierte, resümiert: »Ich meine, dass in dem Buch, bei allen unzweifelhaften Vorteilen, die Tendenz zu sehen ist, den Heroismus unserer sowjetischen Menschen mit nicht ganz überzeugenden Mitteln zu zeigen. Es entsteht der Eindruck, dass sich unsere Leute nur unter den Bedingungen der zweifellosen Überlegenheit des Gegners bewähren konnten. […] Wir erlitten nicht nur Entbehrungen, sondern bekämpften und überwanden sie auch. Das müsste stärker betont werden.«463

Diese Anmerkung zeigt die doppelbödigen Anforderungen, die an Literatur über die Blockade in der Nachkriegszeit gestellt wurden. Sie sollte die Heldenhaftigkeit der Sowjetmenschen zeigen, dabei aber nicht zu sehr die Schwierigkeiten und Nöte akzentuieren, die es in der belagerten Stadt gegeben hatte. Die Zerrissenheit zwischen der Darstellung heroischer Figuren und dem Leid der Menschen, um das gerade die Literatur nicht herumkommen konnte, führte zu ausführlichen öffentlichen Diskussionen darüber, wie das sogenannte Leningrader Thema behandelt werden sollte. Zum besseren Verständnis dieses inhaltlichen Konfliktes ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass die schriftstellerische Arbeit der sowjetischen Autorinnen und Autoren sich seit 1932 am Paradigma des Sozialistischen Realismus orientieren musste. Die rigiden Grundsätze dieser einzigen anerkannten künstlerischen Richtung beinhalteten zahlreiche Tabus bezüglich Darstellungsformen und Inhalten, die in Literatur und Kunst vorkommen sollten. Zu nennen wären dabei die Ablehnung aller sprachlichen Formen, die nicht der Hochsprache entstammten oder allgemein verständlich waren, ebenso wie die Forderung, ausschließlich positive Heldenfiguren darzustellen. Die Literatur war somit in den ausschließlichen Dienst der Politik gestellt worden: »[…] [L]iterature was to serve the ideological position and policies of the Bolshevik Party and in so doing should be optimistic and forward-looking (that is it should intimate the great and glorious future).«464

Für die Darstellung der Blockade mit literarischen Mitteln erwiesen sich insbesondere zwei Aspekte des Sozialistischen Realismus als problematisch. Diese waren: die Ächtung der literarischen Darstellung physiologischer Prozesse, die umso mehr alle Beschreibungen von Hunger und dessen Folgekrankheiten

463 f. 25; op. 18; sv. 1344; ed. chran. 118, CGAIPD: Gel’berg, S. A.: Kritik an ›Doroga Zˇizni‹ (Autor : Saparov). 464 Katerina Clark: Socialist Realism in Soviet Literature, in: Cornwell, N. (Hg.): Reference guide to Russian Literature. Chicago, 1998, S. 55 – 59, hier 56.

Blockadeliteratur: Gedenken zwischen Sozialistischem Realismus und Zensur

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ausschloss, sowie die mythologische Überhöhung Moskaus, die einen zentralen Bestandteil des thematischen Kanons bildete.465 Doch nicht nur inhaltliche Beschränkungen, die durch den Primat des Sozrealismus entstanden waren, prägten die Bearbeitung des ›Leningrader Themas‹. Mindestens im gleichen Maße bedeutsam war die gesellschaftliche Rolle, die den Schriftstellerinnen und Schriftstellern in diesem Literaturverständnis zukam. Als »Ingenieure der Seele« sollten diese ihre Arbeit in den Dienst des Systems stellen. Autorinnen und Autoren waren Mittler, die bestimmte Ansichten und Denkweisen in der Bevölkerung verbreiten sollten, wobei künstlerische Aspekte in den Hintergrund traten. Anna Krylova hat gezeigt, dass viele sowjetische Literaturschaffende in der Nachkriegszeit durchaus beobachteten, dass es für das durch den Krieg entstandene Leid und die nötige Trauer im offiziellen Kriegsgedenken kaum Raum gab. Daher übernahmen sie – in Anknüpfung an ihre Aufgabe als »Ingenieure« – in der Nachkriegszeit sukzessive die Verantwortung dafür, entstandene Verwundungen zu heilen. Dies beurteilt Krylova durchaus kritisch: »The absence of a psychological paradigm meant that the self-proclaimed mission of Soviet writers as healers and caretakers of people’s souls and minds was not challenged or questioned by competing professionals. […] Their traditional role of civil servants and caretakers of people’s inner lives remained unchallenged, and it became of increasing importance to soviet society. Soviet writers not only publicly recognized and articulated the psychological impact of war on Soviet society ; they also developed a ›treatment‹ for the injuries of the soul – what could be called ›word-therapy‹.«466

Krylova unterstreicht, dass diese Aufgaben von der Literatur als einzigem Medium jedoch schwerlich erfüllt werden konnten. Darüber hinaus beobachtet sie, dass die in diesem Kontext literarisch aufgearbeiteten Erfahrungen stark selektiv waren und dabei beispielsweise das Erleben von Frauen als Kriegsteilnehmerinnen völlig ausgeblendet wurde. Um sicherzustellen, dass die einzelnen Autorinnen und Autoren die ihnen zugedachte ideologische Rolle erfüllten, wurde jeder einzelne Text vor jeder Publikation einer ganzen Reihe von Zensurmaßnahmen unterzogen.467 Diese reichten »von der Eliminierung eines Gedankens, die der Autor beim Abfassen eines Textes selbst vornimmt, bis zur Eliminierung des Autors selbst aus der 465 Zu den Tabus des Sozialistischen Realismus siehe Ebenda, S. 55. 466 Krylova (2001): Healers of (wie Anm. 95), S. 319. 467 Allgemeine Darstellungen zur Zensur in der Sowjetunion: Hübner, P.: Aspekte der sowjetischen Zensur, in: Osteuropa (1972), 1, S. 1 – 24; Blyum (Bljum) / Foote (2003): A selfadministered (wie Anm. 153). Speziell zu Leningrad, allerdings zur Tauwetterzeit vgl. Bljum, A. V.: Kak e˙to delalos’ v Leningrade. Cenzura v gody ottepeli, zastoja i perestrojki 1953 – 1991. Sankt-Peterburg, 2005.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Gesellschaft«.468 Das politische Kontrollsystem von Druckerzeugnissen wurde durch die Unterordnung der Verlage unter Partei- und Regierungsorganisationen gewährleistet. Zusätzlich gab es in Moskau die zentrale Zensureinrichtung Glavlit469, die in allen Orten und Landkreisen über Unterorganisationen (Rajlit, Oblit etc.) verfügte. In allen Verlagen gab es Mitarbeiter, die Glavlit unterstellt waren. Doch nicht nur die Zensurbehörden, auch die in den Verlagen angestellten Redakteure übten politische Kontrollfunktionen aus. So äußerte beispielsweise der spätere Vorsitzende der Leningrader Abteilung des SSP, Prokof ’ev, im Frühjahr 1946 auf einer Redaktionssitzung des Verlags Sovetskij Pisatel’, der dem Sowjetischen Schriftstellerverband unterstand, gegenüber Zosˇcˇenko: »[…] [W]ir, die Mitglieder des Redaktionsrates haben das Recht, den Autor auf das hinzuweisen, was nach unserer Ansicht ideologisch schwach oder nicht so wünschenswert in einem Buch ist. Nein, wir sind nicht die Zensur. Aber wir sollen trotzdem nicht nur auf die Stilistik, sondern auch auf die Politik achten.«470

Diese Äußerung beruhte keineswegs auf einer persönlichen Anmaßung Prokof ’evs. Die politische Kontrollfunktion der Redakteure war integraler Bestandteil des Zensursystems. Stalin selber betonte in seiner Rede zu den Zeitschriften Leningrad und Zvezda am 9. August 1946 die besondere Rolle politisch versierter Redakteure in den Verlagen.471

2.

Erinnern oder Mobilisieren: das ›Leningrader Thema‹ im Schriftstellerverband

Die wichtigste Instanz, mithilfe derer die Partei Kontrolle über die in der Sowjetunion erscheinende Literatur ausübte, war der Sowjetische Schriftstellerverband.472 Für die öffentliche Bearbeitung des Themas Blockade spielt insbesondere seine Leningrader Abteilung mit ihren beiden literarisch-politischen Zeitschriften Zvezda und Leningrad eine große Rolle. Nicht zufällig wurden gerade diese in der Zeitschriftenverordnung zum Angriffsziel der Moskauer Führung. Sie fungierten als Aushängeschild der Leningrader Literaturszene und als Angelpunkt zwischen der Moskauer Zentrale und der Leningrader Abteilung Hübner (1972): Aspekte der (wie Anm. 467), S. 1. Zur Organisation und Arbeitsweise von Glavlit: Ebenda, S. 6 – 9. Bljum (2005): Kak e˙to (wie Anm. 467), S. 150. Maksimenkov, L. V.: Bol’sˇaja cenzura. Pisateli i zˇurnalisty v strane sovetov 1917 – 1956. Moskva, 2005, S. 573 – 576. 472 Garrard, J.; Garrard, C.: Inside the Soviet Writers’ Union. New York, 1990, S. 10;russ.: Sojuz Sovetskich Pisatelej, abgekürzt SSP. 468 469 470 471

Erinnern oder Mobilisieren: das ›Leningrader Thema‹ im Schriftstellerverband

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des Schriftstellerverbandes. Die Rüge an die Zeitschriften und die Schließung der Zeitschrift Leningrad waren Warnsignale, die gleichermaßen der Leningrader Abteilung des Schriftstellerverbandes und der Leningrader Parteiorganisation galten. Obwohl, wie in Kapitel II ausgeführt, die Darstellung der Belagerung 1946 nicht den Kern der Anklagepunkte bildete, die den Zeitschriften zur Last gelegt wurden, wirkte sich die Verordnung auch auf die literarische Verarbeitung der Belagerung aus. Bei der Behandlung der Nachkriegsliteratur, die sich mit Belagerung und Leningrader Kriegsgeschichte beschäftigt, kommt es deshalb darauf an, einerseits die Eingebundenheit der Leningrader Schriftsteller in das gesamtsowjetische und aus Moskau geleitete literarische und kulturelle System und andererseits die Eigenständigkeit der Leningrader Organisationsteile und Einzelpersonen zu erfassen.

2.1.

Geschichte und Organisation

Der Sowjetische Schriftstellerverband war der erste der sogenannten schöpferischen Verbände473, die in der Sowjetunion gegründet wurden und das kulturelle Leben in entscheidendem Maße prägten. Nichtsdestotrotz blieb der faktische rechtliche Status des Verbandes bis zum Ende der Sowjetunion unklar. Der Schriftstellerverband galt als nichtstaatliche Organisation und wurde vom Kulturministerium gefördert, ohne demselben zu unterstehen.474 Aufbau und Arbeitsweise dieser kulturpolitischen Vereinigung stellen sich in der Forschungsliteratur als schwer durchschaubar dar, viele der verfügbaren Informationen widersprechen einander. Die Gründung des SSP auf dem ersten Sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 bereitete der Existenz der meisten anderen literarischen Vereinigungen ein Ende, die in der stalinistischen Sowjetunion bis zu diesem Zeitpunkt noch überlebt hatten. Sie bedeutete die institutionelle Verankerung der Kontrolle von Parteistrukturen über das gesamte literarische Leben in der Sowjetunion: »When Stalin put in place the twin pillars of the Soviet guidance system for literature – the Union of the Soviet Writers and Socialist Realism – he was in effect closing down a century-long debate about the nature of literature and the role of writers in society. […] The notion that writers should serve the cause of improving society had been modified

473 russ.: tvorcˇeskie sojuzy 474 Vgl. Ebenda, S. 6. Zur Rechtslage siehe auch Tvorcˇeskie sojuzy v SSSR. (organizacionnopravovye voprosy). Moskva, 1970.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

by Lenin to mean that they should serve the party, since it was leading the people to a better future under communism.«475

Die Verbandsgründung wurde auf dem Kongress zwar als eine Initiative kommunistischer Schriftsteller zur Vertretung ihrer Interessen inszeniert, schon bald wurde die Mitgliedschaft im Verband jedoch zum ausschlaggebenden Kriterium für die Möglichkeit, literarische Schriften zu veröffentlichen.476 Andererseits war eine der Voraussetzungen, überhaupt in den Verband aufgenommen zu werden, dass der jeweilige Autor eigene Veröffentlichungen vorzuweisen hatte. Im Hintergrund jeder Betrachtung der Arbeit des Verbandes, insbesondere während der Kriegs- und späten Stalinzeit muss zweifellos die zentrale Rolle des Schriftstellerverbandes bei der Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung sowjetischer Schriftsteller in den 30er-Jahren gesehen werden. Nach Angaben aus den frühen 90er-Jahren wurden während der Herrschaft Stalins etwa 2000 Schriftsteller verhaftet, von denen etwa die Hälfte zu Tode kam. Der Verband und seine Funktionäre waren daran maßgeblich beteiligt.477 Diese Erfahrung sorgte für eine von Unsicherheit, Furcht und Misstrauen geprägte Atmosphäre im Verband und muss insbesondere die Selbstzensur bedeutend intensiviert haben. In Aufbau und Organisation des Verbandes lässt sich dasselbe Prinzip der Machtverteilung erkennen, das in anderen Organisationen der gleiche Zeit auszumachen ist: Die Partei dominierte die Organisation von innen, indem tonangebende Positionen nur an Parteimitglieder vergeben wurden.478 Funktionsweise und Aufbau des Schriftstellerverbandes waren von Anbeginn nicht einfach zu durchschauen. Sie waren zwar in Statuten festgelegt, Matlock betont jedoch, dass diese generell nicht eingehalten wurden, obwohl sie von Parteimitgliedern ausgearbeitet worden waren.479 Dies galt beispielsweise auch für einzelne Tagesordnungspunkte, die auf Plenarsitzungen ohne Angaben von Gründen unbehandelt blieben.480 Generell sollte der Sowjetische Schriftstellerkongress, der aus Delegierten der gesamten Sowjetunion bestand, die leitenden Organe des Schriftstellerverbandes wählen. Diese waren: Die Leitung des Schriftstellerverbandes481, das Präsi475 Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 29. 476 Schriftstellerverband, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 285 f, hier 286. 477 Vgl. Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 48 – 49. 478 Matlock, J. F.: The »Governing Organs« of the Union of Soviet Writers, in: American Slavic and East European Review, Jg. 15 (1956), 3, S. 382 – 399, hier 394. 479 Ebenda, S. 397. 480 Ebenda, S. 394. 481 russ.: pravlenie

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dium der Leitung, ein Sekretariat, dem der Erste Sekretär des Schriftstellerverbandes vorstand, sowie eine Mandatskommission und eine Redaktionskommission, die für die Erstellung von Sitzungsprotokollen zuständig war.482 Das Procedere der Bestimmung einzelner Organe war nur unzureichend geregelt:. Es oblag einzelnen Delegierten, die für sich in Anspruch nahmen, verschiedene Gruppen oder Delegationen zu vertreten, eine unbestimmte Anzahl von Personen für ein Gremium vorzuschlagen. Diese Wahl wurde dann vom Kongress einstimmig angenommen.483 Die Verteilung von Führungsaufgaben unter den Führungsgremien des Schriftstellerverbandes variierte und entsprach größtenteils nicht den Aufgaben, die sie entsprechend den Statuten des Verbandes erfüllen sollten. Die Leitung des Verbandes war daher weniger ein Führungsorgan als ein Instrument zur politischen Einflussnahme: »One characteristic of all meetings of the Executive Board is the comparatively heavy representation of minority nationalities. This, plus the emotional atmosphere of meetings, the relative unimportance of actual membership on the board and the omission of any discussion of the actual work of the union leads me to believe that the primary purpose of these sessions is to bring the writers from the ›periphery‹ to the centre in order to give them direct contact with the current line and in order to instruct all writers in the literary policy of the day.«484

Auch Zusammensetzung, Wahl und Aufgaben von Präsidium und Sekretariat des Schriftstellerverbandes sind keineswegs klar. Das Präsidium wurde in unregelmäßigen Abständen neu gewählt, wobei allerdings nicht die gesamte Leitung des Verbandes an der Wahl teilnahm. Zwischendurch wurden einzelne Präsidiumsmitglieder ausgetauscht.485 Während des Krieges und in der Nachkriegszeit wurde die Arbeit der lokalen Abteilungen des Schriftstellerverbandes im Präsidium diskutiert und ideologisch gesteuert. Dasselbe galt für die Arbeit von Zeitschriften und Verlagen. Das Präsidium entschied auch über die Aufnahme neuer Mitglieder und den Ausschluss von Schriftstellern aus dem Verband, obwohl die Statuten des Verbandes das Recht zur Annahme der Leitung und das Recht zum Ausschluss dem Sekretariat vorbehielten. Seit 1946 lässt sich eine Umgewichtung im Machtgefüge des Schriftstellerverbandes feststellen, die das Sekretariat zu seinem führenden Gremium machte.486 In allen beschriebenen Gremien waren es jeweils die sogenannten Parteigruppen, also die Mitglieder der VKP, die den Ton angaben: 482 483 484 485

Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 33. Ebenda, S. 33. Matlock (1956): The Governing (wie Anm. 478), S. 388. Ebenda, S. 388. Demnach wurde das Präsidiums zwischen dem ersten und dem zweiten Schriftstellerkongress (1934 und 1954) 1937, 1939 und 1953 neu gewählt. 486 Ebenda, S. 390.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

»The Party group was turned into an organ which took upon itself all functions, which decided many questions ahead of time and as a result the non-Party writers who were members of the Secretariat and Presidium took no part in deciding important questions.«487

Diese Praxis führte offensichtlich zu zahlreichen Konflikten zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen innerhalb des Verbandes. Der starke Einfluss der Parteigruppen ließ jedoch während des Krieges deutlich nach. Dies lässt sich zum einen mit der weniger starken Kontrolle der Literatur durch die Partei, zum anderen aber auch mit einer Tendenz zur Zentralisierung aller politischen Prozesse während des Krieges erklären. Die zentrale Figur in der Leitung des Schriftstellerverbandes war der Erste Sekretär des Verbandes. »The first secretary seems to dominate meetings of the Presidium. He has been chosen more for his political reliability than for his prominence as a writer, and sometimes is a member of the Party Central. […] The secretary gives the opening and closing speeches at a meeting of the Presidium, and in his closing remarks he sometimes rebukes those who would fault with his opening statement or interpretes it ›incorrectly‹.«488

Bei der Betrachtung der Historisierung der Belagerung Leningrads ist es von zentraler Bedeutung, dass zwischen 1944 und 1946, also in den Jahren, die für die Ausbildung der zentralen Geschichtsbilder maßgeblich waren, der Leningrader Literaturfunktionär Nikolaj Tichonov das Amt des Sekretärs des SSP bekleidete. Er hatte dieses Amt von Alexander Fadeev übernommen, der in den 30er-Jahren massiv in die Säuberungsaktionen innerhalb des Schriftstellerverbandes verstrickt gewesen war. Die Einsetzung Tichonovs wird von Garrard als Anzeichen für den weicheren ideologischen Kurs der Kriegsjahre eingeschätzt.489 Tichonov verfasste eine große Anzahl von Prosa- und publizistischen Texten, die in sich mit Leningrad und seinen Bewohnern während des Krieges beschäftigen.490 Die Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes Im Frühsommer 1941 zählte die Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes etwa 300 Mitglieder, von denen circa die Hälfte bei Kriegsbeginn in die Rote Armee eintrat beziehungsweise eingezogen wurde.491 In den ersten Kriegswochen erfüllte der Leningrader Schriftstellerverband 487 Ebenda, S. 395 – 396. Zit. nach Peredovaja, »O rabote sojuza pisatelej«, Literaturnoe obozrenie, No. 9 (May, 1938), S. 5. 488 Ebenda, S. 392. 489 Vgl. Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 64. 490 Diese werden ausführlich unter IV.3.1. behandelt. 491 Zu den Leningrader Schriftstellerinnen und Schriftstellern während des Krieges siehe Bachtin, V.: Budni stavsˇie podvigom, in: Dicˇarov, Z. (Hg.): Golosa iz blokady. Leningradskie pisateli v osazˇdennom gorode. Sankt-Peterburg, 1996, S. 11 – 46, hier 12.

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durchaus die Funktion eines Raumes für die politische Beeinflussung der Literatur, wie in der Zeit vor dem Krieg. So fand beispielsweise am 11. Juli 1941 eine Versammlung der Leningrader Schriftsteller und Schriftstellerinnen statt, auf der darüber diskutiert wurde, welche Themen und Darstellungsweisen der momentanen Kriegslage angemessen seien. Dabei äußerte sich eine anwesende Vertreterin des Stadtsowjets kritisch dazu, dass in einigen Artikeln auf die deutsche kommunistische Partei Bezug genommen worden war, was in ihrem Verständnis der »richtigen Einschätzung des Feindes« entgegenwirkte. Sie wies darauf hin, dass im Moment »nicht die Weltrevolution auf der Tagesordnung« stehe.492 Während des Krieges erfüllte der Verband eine Reihe humanitärer und bürokratischer Aufgaben. So traf sich die Verbandsleitung zwei Mal wöchentlich, um die Listen evakuierter Familienmitglieder zu aktualisieren, Fragen der Versorgung in der Stadt verbliebener Mitglieder zu klären und der Verstorbenen zu gedenken.493 Später wurde auch eine Krankenstation eingerichtet, wo sich Schriftsteller gegen die Folgeerkrankungen des Hungers behandeln lassen konnten. Ab 1943 organisierte der Leningrader Schriftstellerverband zusätzlich Erholungsreisen für monatlich drei Schriftsteller nach Peredelkino. Obwohl insgesamt davon ausgegangen werden muss, dass die ideologische Kontrolle innerhalb des Schriftstellerverbandes während des Krieges an Bedeutung verlor494, blieb sie offensichtlich auch in Leningrad spürbar. Es gab Debatten um inhaltliche Fragen, die auf Diskrepanzen zwischen der ›Wahrheit‹ des Geschriebenen und der Darstellung der schwierigen Lage in der Stadt verwiesen. So äußerte Fadeev bei einer Versammlung 1942: »Es wird gesagt, dass ›die Zensur uns nicht die Möglichkeit gibt, diese Schwierigkeiten zu zeigen.‹ Wir müssen wahrheitsgemäß schreiben. Wenn wir die Schwierigkeiten nicht zeigen, die wir durchlebt haben, dann können wir auch nicht die Widersprüche zeigen und die Dramatik im Kampf und dann wird der Heroismus unserer Leute ohne diese Schwierigkeiten gemindert […].«495

Der Schriftstellerverband war zu dieser Zeit jedoch nicht das einzige Forum für solche inhaltlichen Diskussionen und ideologische Modifikationen schriftstellerischer Arbeit. Diese fanden auch in den sogenannten operativen Gruppen von Schriftstellern bei der politischen Führung der Leningrader Front statt. Am Ende des Krieges nahmen politische Themen zunehmend Raum in der Arbeit des Verbandes ein. Ein wichtiges Diskussionsthema war die Frage, wie die Leningrader Schriftsteller ihre Kriegserfahrungen literarisch verarbeiten 492 493 494 495

Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 23. Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 62. Lomagin (2002): Neizvestnaja blokada (wie Anm. 33), S. 166.

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könnten und sollten. Das ›Leningrader Thema‹, wie die Memorialisierung von Krieg und Blockade im Leningrader Schriftstellerverband vorsichtig genannt wurde, bildete ein zentrales thematisches Feld für die Leningrader Schriftsteller der Nachkriegszeit, das sich aus ihren eigenen Erfahrungen im belagerten Leningrad und an der Leningrader Front und aus ihrem im Krieg erstarkten Lokalpatriotismus speiste. Interessant sind allerdings die Titel der von der Leningrader Abteilung des SSP durchgeführten Lesungen. So wurden 1945 Lesungen zum Thema »Die Leningrader Schriftsteller über den Sieg« oder »Die Leningrader Schriftsteller im Großen Vaterländischen Krieg« durchgeführt, nicht jedoch Veranstaltungen zum ›Leningrader Thema‹ oder gar zur ›Leningrader Blockade‹.496 Eine Aufgabe, die der Leningrader Schriftstellerverband während der gesamten Belagerung erfüllte, war die Herausgabe der sogenannten dicken Zeitschriften497 Zvezda und Leningrad. Die Bedeutung dieser Literaturzeitschriften für das literarische Leben ist nicht zu unterschätzen: Bevor eine neue Arbeit als eigenständiges Buch erscheinen konnte, wurde sie häufig zuerst ganz oder in Teilen in einer solchen Zeitschrift abgedruckt.498 Nachdem die Arbeit diese Erstveröffentlichung durchlaufen hatte, wurden häufig nochmals Korrekturen vorgenommen, bevor sie in Buchform erscheinen konnte. Auf der Ebene von Zeitschriftenbeiträgen wurde nicht selten getestet, wie ein Thema weiterhin behandelt und ausgelegt werden konnte. Die Leningrader literarischen Zeitschriften erschienen während des Krieges und auch in den Nachkriegsjahren bis zur Zeitschriftenverordnung durchgehend. Ihre Podiumsfunktion machte gerade sie zum Forum, in dem die Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung der Belagerung erprobt werden konnten.

2.2.

Die Zeitschrift Leningrad

Die Zeitschrift Leningrad erschien während der Kriegsjahre als ein bebildertes Journal der Größe DIN A4. Ihre Auflage betrug in den Jahren 1944 und 1945 konstant 15000 Exemplare und wurde zu Beginn des Jahres 1946 auf 25000 Exemplare gesteigert499, die als Einzel- oder Doppelnummern erschienen. Ihr Umfang steigerte sich von unter 20 Seiten für eine Einzelnummer im Krieg auf ca. 25 Seiten in der Nachkriegszeit und bis zu 50 Seiten pro Doppelnummer. 496 f. 371; op. 5; d. 3, CGALI: Aufzählung von Belletristik-Lesungen 1945, vom Leningrader Schriftstellerverband organisiert.. 497 russ.: tolstye zˇurnaly 498 Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 4 – 5. 499 Dies kann mit der von Zˇdanov betriebenen Reorganisation des ideologischen Apparates in Verbindung gebracht werden. Vgl. Kap. II.2.1.

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Insgesamt stellt sich die Zeitschrift als ein Forum für literarische und kulturelle Themen dar. Den Schwerpunkt der Publikationen bildeten literarische Texte wie Erzählungen, Ausschnitte aus Romanen und Gedichte, die auch die meisten Seiten umfassten. Darüber hinaus waren auch immer wieder Beiträge zu finden, die sich damit beschäftigen, wie Schriftsteller arbeiten beziehungsweise welche Art von Texten sie produzieren sollten. In den einzelnen Heften gab es Beiträge zum kulturellen Leben in der Stadt, über die Theater, Ausstellungen und Konzerte. Vereinzelt kamen Tatsachenberichte über der Kriegsalltag vor, auch wurden Texte von Partei- oder Militärvertretern500 abgedruckt. Lokalpolitische Themen wurden behandelt, sofern sie den Schriftstellerverband betrafen und von besonderer lokalpolitischer Bedeutung waren, wie etwa die Verleihung des Leninordens an die Stadt oder die Wahl Nikolaj Tichonovs in den Obersten Sowjet501. Porträts einzelner Schriftsteller, die Preise bekommen hatten, sowie Nachrufe auf Mitglieder des Verbandes waren keine Seltenheit. Regelmäßig kamen Beiträge über Kunst und Gestaltung und satirische Beiträge vor. Während die Zeitschrift Zvezda die Zeitschriftenverordnung überstand und auch nach dem Sommer 1946 erscheinen konnte, wurde Leningrad nicht nur für einige Beiträge kritisiert, sondern auch geschlossen. Neben Erzählungen von Michail Zosˇcˇenko, die als Kritik am sowjetischen Gesellschaftssystem beziehungsweise einzelnen Zuständen der Nachkriegsgesellschaft aufgefasst worden waren, wurden auch solche Arbeiten kritisiert, die Krieg und Kriegsende zum Gegenstand hatten. An der Darstellung der Kriegsthematik im Rahmen der Zeitschrift Leningrad hatte es jedoch auch schon vor der Zeitschriftenverordnung Kritik gegeben. Bereits 1944 erschien, ausgerechnet in Zvezda, ein sehr kritischer Beitrag über die Zeitschrift Leningrad. Nicht unähnlich der Kritik, die später von Stalin und Zˇdanov geäußert wurde, moniert dieser Artikel einen Mangel an qualitativ hochwertigen literarischen Beiträgen.502 Zwar wird positiv vermerkt, dass das Journal zum »Leningrad-Patriotismus«503 erziehe – dies erschien offensichtlich 1944 durchaus noch als wünschenswert. Es geschah jedoch nach Ansicht des Autors nicht auf die richtige Weise: »Wir haben das Recht, in der Zeitschrift Leningrad die bekannten Leute unserer Front zu suchen. Wir würden gerne literarische Porträts unserer Krieger und Offiziere sehen, die es hervorragend gelernt haben, die deutschen Eindringlinge zu schlagen. […] Finden wir in der Zeitschrift viele Skizzen dieser unserer Helden? […] Genau so finden 500 Bspw. Govorov (1946): Udar iz (wie Anm. 402) sowie Popkov (1944): V-ja sessija (wie Anm. 443). 501 Ohne Autor : Nikolaj Tichonov. Predvybornoe sobranie leningradskich pisatelej, in: Leningrad (1946), 1 – 2, S. 3; Licharev, B.: Znamenosec nasˇego otrjada, in: Leningrad (1946), 1 – 2, S. 4; Rozen, A.: Poe˙t geroicˇeskogo Leningrada, in: Leningrad (1946), 1 – 2, S. 5. 502 Spektor, O.: O zˇurnale Leningrad, in: Zvezda (1944), 3, S. 101 – 105, hier 101. 503 Ebenda, S. 102.

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wir eigentlich fast nichts über die Helden des Hinterlandes, über die selbstlose Arbeit unserer Meister und Erfinder, Ingenieure und Schlosser, über Leute, deren Arbeitsheldentaten so eng mit den Kampfheldentaten der Helden der Front verbunden sind.«504

Neben dem reißerischen Ton, der durch die rhetorischen Fragen erzeugt wird, fällt auf, dass der Autor durch die Verwendung der wir-Form eine fiktive homogene Leningrader Leserschaft konstruiert, deren einheitlichen Interessen die Zeitschrift angeblich nicht genügten. Weiterhin wird moniert, dass zu wenig über die Zerstörungen und Verbrechen berichtet würde, die der Feind an der Stadt und ihren Bewohnen begangen hatte.505 Seit 1945 wurde die Zeitschrift Leningrad zur Plattform, auf der die Diskussionen innerhalb der Leningrader Abteilung des Schriftstellerverbandes präsentiert wurden, die ideologische Fragen der Darstellung von Krieg und Belagerung betrafen und damit normsetzend wirkten. Von besonderem Interesse sind hier die in der Zeitschrift veröffentlichten kurzen literarischen Texte, da sie in anderer Weise und mit anderen Schwerpunkten die Belagerung der Stadt beleuchten als Texte der bisher vorgestellten ›wissenschaftlichen‹ Kontexte. Blockade und Verteidigung in literarischen Texten In den 1944 – 46 erschienenen Heften der Zeitschrift Leningrad werden häufig die ideologischen Vorgaben für eine Kriegs- und Blockadeliteratur diskutiert. Andererseits ist die Belagerung selber und vor allem das Leben der Zivilbevölkerung in der belagerten Stadt in der Zeitschrift kaum als Thema präsent. Gerade in den Jahren 1944 und 1945 bewegte sich ein Großteil der Erzählungen um den Themenkreis von Trennung durch den Krieg und Wiedersehen bei Kriegsende. Damit wurde eher als das Gedenken daran, was im Krieg geschehen war, die Frage nach dem Abbruch beziehungsweise der Weiterführung von Beziehungen zwischen Personen und zwischen den Geschlechtern zum Thema. Das Leben an der Front beziehungsweise in der belagerten Stadt während des Krieges bildet dabei häufig nicht den Gegenstand des Textes, sondern nur dessen Hintergrund, oder stellt kleine Teilelemente der Handlung. Zumeist werden Liebesbeziehungen thematisiert, wobei der Mann an der Front kämpft, während die Frau in der Stadt Leningrad arbeitet. Der Krieg wird zumeist als positives Entwicklungselement dargestellt: Durch die Trennung und die Kriegserfahrung reifen beide Partner und können bei Kriegsende ihre Beziehung auf einer ›höheren Ebene‹ neu aufnehmen. 504 Ebenda, S. 101 f. 505 Ebenda, S. 102.

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Ein Beispiel für einen solchen Text ist die Erzählung »Weiße Nächte«506 von der Stalinpreisträgerin Vera Ketlinskaja.507 Die Kurzgeschichte spielt vor einer typischen Leningrader Kulisse: Ein junges Paar spaziert in einer hellen Sommernacht durch die Stadt und muss auf dem Heimweg warten, bis die hochgezogenen Brücken wieder abgesenkt und begehbar werden. Die romantische Szene wird jedoch durch die Uneinigkeit des Paares gebrochen, das sich in einem Beziehungsstreit befindet, über dem es sich schließlich entzweit. So trennen sich die Wege der Liebenden kurz vor Kriegsbeginn. Der junge Mann kann jedoch seine launische Freundin nicht vergessen: »Und ihre liebe, quälende Gestalt – launisch, listig, widerspenstig, mit Tränen in den Augen und einem feindseligen Lächeln auf den Lippen – nahm er mit sich an die Front und lebte damit in der nächtliche Schwüle der Unterstände, beim abwartenden Wachen im Schützengraben und manchmal, wenn die Müdigkeit nicht allzu tödlich war, in den schweren und unerholsamen Träumen.«508

Trotz des Bruchs stehen die beiden Partner während des Krieges in einem kameradschaftlichen Briefkontakt. Die Not der Zivilbevölkerung wird in diesem Kontext thematisiert, indem sie von der Protagonistin der Geschichte gerade verschwiegen wird: »Sie antwortete ihm ganz genauso, in einem sorglosen, bekanntschaftlichen Ton, sodass es schwierig war zu glauben, dass diese Briefe in Leningrad, während der schwersten Monate seiner Verteidigung geschrieben worden waren. Sie beklagte sich über nichts und fühlte sich nach ihren eigenen Worten anfangs ›gut‹ und dann ›wieder richtig gut‹.«509

Weder der Hunger noch die Not der Leningrader Zivilbevölkerung wird hier ausdrücklich erwähnt. Die Haltung der jungen Frau, die sich über nichts beklagt und offensichtlich versucht, ihren Partner vor Sorgen zu bewahren, unterliegt einem Wandlungsprozess. Anders als in der ersten Szene, in der sie sich launisch und leichtsinnig zeigte, ist ihr Verhalten hier von Mitgefühl und Sorge um ihren Partner sowie durch eine trotzige, standhafte Haltung gegenüber der Hungersnot geprägt. Gerade darin, dass sie ihre eigene Not verschweigt, liegt ihre Tugendhaftigkeit. Nach der Befreiung der Stadt kehrt der junge Mann, der gerade eine Kriegsverletzung ausgeheilt hat, nach Leningrad zurück und begibt sich, wieder in einer »Weißen Nacht«, auf die Suche nach seiner Freundin, die er schließlich am Morgen bei der Arbeit auf einer Baustelle antrifft. Obwohl auch dieses Zusammentreffen nicht nur harmonisch verläuft, haben beide Seiten gelernt, mit 506 507 508 509

russ.: Belye nocˇi Ketlinskaja, V.: Belye nocˇi, in: Leningrad (1945), 1 – 2, S. 11 – 14. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 13.

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ihren Unstimmigkeiten gelassener umzugehen, und heiraten noch am selben Tag. Ein besonders interessantes Detail der Erzählung liegt in der Behandlung des Heldenbegriffes. Am Beginn der Erzählung verlangt die junge Frau, Zˇenja, danach, einen Helden zu heiraten, der »etwas nie Dagewesenes schafft«, worauf er ihr antwortet, dass derjenige nie Dagewesenes schaffe, der »wie ein Lastengaul« arbeite.510 Am Ende der Erzählung hat die Protagonistin aus eigener Erfahrung eine realistischere Haltung zum Heldentum gewonnen: »Denkst du, ich weiß nicht, was das ist, Heldentum? Es ist genau das, wovon man schwitzt und Rückenschmerzen bekommt. Ziegel schleppen, Erde hacken, durchnässt werden und frieren und kein Haus zu haben und kein Brot zu haben und keine Erholung zu kennen und keinen zu haben, bei dem man sich beschweren kann… und du denkst, du kannst mich mit Orden beeindrucken!«511

In der Reaktion auf ihren emotionalen Ausbruch zeigt sich, dass der junge Mann, Fedja, an Gelassenheit gewonnen hat: Er wiederholt nur seine eigenen Worte vom »Lastengaul« und macht damit deutlich, dass er selber seinen Auszeichnungen keine übermäßige Bedeutung zumisst.512 In dieser Szene wird deutlich, wie ein Grundmotiv des Sozialistischen Realismus auf den Kontext der Leningrader Zivilbevölkerung übertragen wird: Die Heldin der Erzählung wird mit elementaren Herausforderungen konfrontiert, die sie überwindet. Dabei erlangt sie einen höheren Grad an persönlicher Reife.513 Fedja, der Protagonist, hat diese Lektion schon vor dem Krieg gelernt. Beide Partner sind durch ihre Erfahrungen während des Krieges gewachsen und stärker aneinander gebunden als vor dem Krieg. Für das Kriegsgedenken bedeutet dieses Muster die Instrumentalisierung und Umdeutung der leidvollen Kriegserfahrung in ein positives Schema der nutzbringenden Erfahrung. Die Botschaft lautet: Mangel und Leid waren nötig, um den beiden Protagonisten den Weg zueinander zu ebnen, sie sind an diesen Prüfungen gewachsen. Der Preis für diese Art der sinnstiftenden Betrachtung ist, dass die zahllosen Opfer der Belagerung, die das Kriegsende nicht erlebten, unsichtbar bleiben müssen. Die Geringschätzung und das Verschweigen persönlichen Leidens wird in dieser Haltung zum Wert an sich stilisiert.

510 511 512 513

Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 14. Vgl. die Ausführungen von Katerina Clark zur stichijnost’: Katerina Clark (1998): Socialist Realism (wie Anm. 464), S. 58.

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Nicht alle literarischen Beiträge der Zeitschrift Leningrad, in denen die Trennung durch Krieg und Blockade sowie das Wiedertreffen der Figuren bei Kriegsende thematisiert wird, kommen zu einer solch positiven und stereotypen Deutung der Kriegserfahrung im Sinne des Sozialistischen Realismus. Insbesondere ein Beitrag zeigt deutlich die Schwierigkeiten eines zurückgekehrten jungen Soldaten, sich nach dem Krieg in der zivilen Gesellschaft zurechtzufinden: »Das Treffen«514 von Gennadij Gor, ein Ausschnitt einer längeren Erzählung mit dem Titel »Umrisse des Ungewöhnlichen«515. Die Handlung spielt nach dem Krieg in Leningrad. Der junge Kostja ist von der Front zurückgekehrt und geht nun wieder mit viel jüngeren Mitschülern in die 9. Klasse. Seine Umgebung zeigt sich jedoch wenig beeindruckt von seinen militärischen Auszeichnungen: »Der Onkel empfing ihn, als wäre nichts geschehen, als hätten sie sich erst gestern getrennt, als lägen nicht zwei Jahre Krieg, Ungewissheit und Trennung zwischen ihnen. Es wunderte ihn auch nicht, dass vor ihm nun kein Junge in engen Hosen stand, sondern ein Invalide des Vaterländischen Krieges mit goldenen Tressen und einem Orden. ›Nun, wie ist das Wetter? Hat’s gefroren? Bist du mit der Tram oder zu Fuß gekommen?‹ Als gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres als ob Kostja mit der Straßenbahn oder zu Fuß gekommen wäre oder ob auf dem Hof Frost ist oder nicht.«516

Hier ist es, im Unterschied zur Darstellung Ketlinskajas, gerade das Beschweigen der Kriegserfahrung, das dem Protagonisten zu schaffen macht. Noch bedrückender empfindet Kostja das Wiedersehen mit seiner alten Jugendliebe, die nach dem Krieg an ihm, dem ehemaligen Frontkämpfer, nicht mehr Interesse zeigt als vor Kriegsausbruch. Seine Verdienste an der Front würdigt die junge Frau nicht, sie fragt nur »[…] ob er studierte und an welcher Hochschule. Als wüsste sie nicht, dass er drei Jahre mit gutem Grund verpasst hatte, und als bemerkte sie nicht, dass er auf der Brust einen Kriegsorden und zwei goldene Tressen trug – so sehr wunderte sie sich, dass er nicht an der Hochschule studierte, sondern in die neunte Klasse der Mittelschule ging.«517

Die Spannung zwischen den beiden Hauptfiguren findet in diesem Text keine Auflösung. Dominant bleibt die bedrückte Stimmung Kostjas, der nach seiner Rückkehr keinen Anschluss an das Leben im Frieden finden kann. Der Bruch bildet sich klar in dem Rollenkonflikt ab, dem der Protagonist ausgeliefert ist: sein Schülerdasein will nicht mit seiner Rolle als ausgezeichneter Soldat und erwachsener Mann harmonieren. Der Textausschnitt wirkt in seiner Konflikthaftigkeit deutlich authentischer als die Erzählung Ketlinskajas. Es wird klar, 514 515 516 517

russ.: Vstrecˇa russ.: Ocˇertanija neobyknovennogo Gor, G.: Vstrecˇa, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. 18 – 20, hier 18. Ebenda, S. 20.

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dass hier reale und weitverbreitete Probleme von Kriegsheimkehrern geschildert werden. Auch bleibt die Kriegserfahrung selbst hinter dem gegenwärtigen Erleben des Protagonisten verborgen und wird nur als Hintergrund seines gegenwärtigen Leidens erahnbar. Thema ist weniger das Kriegsgedenken als die nicht mitteilbaren Erinnerungen, die Unverständnis und Isolation hervorrufen. Neben der ernsthaften Behandlung sozialer Probleme fanden in der Zeitschrift Leningrad auch ironische Zwischentöne Raum: In der Kurzgeschichte »Zwischenfall über Berlin«518 wird ein Pilot beschrieben, der Bier mit an Bord eines Bombers schmuggelt und ein äußerst unheldenhaftes Bild abgibt. Die Weigerung, sich dem ›Schönwetter-Gebot‹ des Sozialistischen Realismus unterzuordnen, führte zur Verurteilung dieser Texte während der Zˇdanovsˇcˇina. Beide Texte wurden als »fehlerhaft« eingestuft und galten als ein Grund für die Schließung der Zeitschrift.519 Als Beispiel für die Verankerung von Geschichtsbildern mittels literarischer Texte eignet sich besonders der Ausschnitt aus dem Roman »Die Straße nach Leningrad«520 von I. Kratt, der unter dem Titel »Ladoga« Anfang 1946 in der Zeitschrift erschien.521 In dem Text wird beschrieben, wie ein Frontsoldat Ende 1941 von seiner Position am Ladogasee in die Stadt kommt, um dort über die Tragfähigkeit der Eisfläche zu berichten. Dies war von besonderer Bedeutung, da die Errichtung einer Eisstraße über den Ladogasee geplant war. Der größte Teil des Ausschnitts beschreibt, wie die Hauptfigur Komarov in Leningrad ankommt und seine verlassene Wohnung aufsucht. Dort erlebt er einen Bombenangriff und wird Zeuge, wie die Menschen aus seiner Nachbarschaft – Alte, Frauen und Kinder – unter den Angriffen leiden. Ein junges Mädchen aus seinem Haus wird auf dem Wachposten getötet. Nach diesem Erlebnis begibt sich Komarov ins Smol’nyj, um vor dem Militärsowjet der Leningrader Front zu berichten. Mit seiner Ankunft beginnen sich im Text die reale und die fiktive Ebene zu mischen. Das Gebäude wird zu einem Hort der Sicherheit und Gemütlichkeit stilisiert: »Im Empfangszimmer befanden sich noch drei Soldaten. Gedämpftes Licht einer Lampe mit grünem Schirm […] ließ das Zimmer im Halbdunkel und schuf eine Atmosphäre der Ruhe und Gelassenheit. Als befände sich der Feind hunderte Kilometer von hier, als gäbe es keine stündlichen Bombardierungen, keine Zerstörungen, keine Blockade und als hinge über der Stadt keine schreckliche Bedrohung.«522

russ.: Slucˇaj nad Berlinom Ohne Herausgeber (1951): Za bol’sˇevistskuju (wie Anm. 189), S. 4. russ.: Doroga na Leningrad Kratt, N.: Ladoga (otryvok iz romana ›Doroga na Leningrad‹), in: Leningrad (1945), 1 – 2, S. 14 – 16, hier 14 – 16. 522 Ebenda, S. 16.

518 519 520 521

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Diese Beschreibung kontrastiert besonders stark mit den vorhergehenden Szenen von Bedrohung, Angst und Gefahr. Komarov führt in Gedanken die Tapferkeit der betroffenen Zivilpersonen auf die Existenz »solcher Zimmer« zurück, die »weder tags noch nachts geschlossen« würden.523 Als handelnde Personen treten nun führende Leningrader Parteifunktionäre auf. Unter den Mitgliedern des Militärsowjets wird Kuznecov persönlich genannt. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor jedoch der Person Zˇdanovs: »Andrej Aleksandrovicˇ saß fast direkt bei der Lampe und sein Gesicht war gut beleuchtet. Komarov kannte ihn von Fotografien als korpulent, mit einem leicht spöttischen und gutmütigen Blick, aber jetzt war er hohlwangig geworden, seine Augen waren streng und von kühler Aufmerksamkeit.«524

In diesem kurzen Absatz werden Zˇdanov verschiedene Eigenschaften zugeschrieben: Zum einen ein grundsätzlich gutmütiges Wesen, zum anderen angemessene Ernsthaftigkeit unter den schwierigen Umständen in der Stadt. Eine besondere Funktion erfüllt die Beschreibung seiner Physiognomie, seines Gewichtsverlusts. Nachdem in dem vorherigen Textabschnitt der Hunger in der Stadt nicht erwähnt worden ist, bringt der Autor diesen ausgerechnet in der Beschreibung Zˇdanovs unter, der, wie der Text suggeriert, vom Hunger betroffen ist. Nicht zuletzt bildet der Schauplatz des Geschehens ein zentrales Gestaltungselement eines Geschichtsbildes. Das Smol’nyj fungiert hier einmal mehr als Erinnerungsort an die Revolution. Zˇdanovs ruhige Präsenz an diesem Ort lässt ihn in der Vorstellung mit Darstellungen Lenins und Stalins als wachende Väter verschmelzen. Nicht zufällig erinnert sich der aufgewühlte Komarov beim Verlassen des Gebäudes daran, dass bereits Lenin durch diese Korridore gelaufen ist.525 Der Textausschnitt Ladoga macht die Leser zu unmittelbaren Augenzeugen historischer Vorgänge und versetzt sie in die Illusion zu wissen, wie es wirklich gewesen ist: Zˇdanov persönlich hat mit der Unterstützung der ihm nahestehenden Parteigenossen die Entscheidung für die Einrichtung einer Eisstraße getroffen. Er steht dabei als weiser Führer in der Tradition Lenins. Außenstehende Personen wie der Protagonist der Erzählung sind an diesen Vorgängen beratend beteiligt gewesen. In diesem Sinne ersetzt die Literatur hier die Geschichtsschreibung. Die Desinformiertheit der Bevölkerung wird durch fiktive Bilder und nicht durch die Ergebnisse historischer Studien ›behoben‹. Indem literarische Figuren und reale Personen verschmelzen, können diesen ganz nach Belieben Eigenschaften und Handlungen angedichtet oder aberkannt werden. 523 Ebenda, S. 16. 524 Ebenda, S. 16. 525 Ebenda, S. 16.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Obwohl die Leningrader Hungersnot nicht zu den wirklich präsenten Themen in der Zeitschrift Leningrad gehörte, lassen sich in einigen Texten ausführlichere Behandlungen des Themas Hunger und Lebensmittelbeschaffung finden. In der Kurzgeschichte »Gedächtnis des Herzens«526 treffen ein junger Leutnant und die Kommandeurin eines Frauenbataillons aufeinander. Die Frauen des Bataillons sind in ihrer Arbeitskraft durch »Vitaminmangel« beeinträchtigt: »Die Arbeit war schwierig und hart. […] [D]ie ausgehungerten Leningraderinnen konnten sich kaum bewegen. Ein Arzt erklärte ihr : Die Leute leiden an Vitaminmangel. Die spärliche Nahrung hat kaum Vitamine. Es wäre gut, wenigstens Kohl zu besorgen. Und Sofija fand heraus, dass es direkt vor den deutschen Drahtabsperrungen Kohl gab, den die Anwohner nicht hatten ernten können. Sie beschloss, diesen Kohl um jeden Preis zu besorgen.«527

Die junge Kommandeurin versucht, die Frontlinie zu übertreten, um in der neutralen Zone zwischen sowjetischer und deutscher Front im Schnee verborgene Kohlköpfe zu sammeln. Der Leutnant will sie zunächst daran hindern. Als er ihr nach ihrem erfolgreichen Ausflug eine leichte Verletzung verbindet, tadelt er sie wegen ihrer »Gier«. Sie antwortet kurz und resolut, der gesammelte Kohl sei ja nicht für sie selber, und hinterlässt bei dem Leutnant einen bleibenden Eindruck: »›Sonja aus Pulkovo‹ – seufzte Dolin – ›alle Achtung, […] die lässt nichts auf dich kommen und wärmt dir das Herz…‹«528 Das Motiv des Hungers ist hier nicht in der belagerten Stadt, sondern an der Front, in einer Szene angesiedelt, die dem thematischen Feld der Verteidigung Leningrads angehört. Der Hunger der Frauen wird geschickt als »Vitaminmangel« chiffriert und im Vordergrund der Handlung stehen nicht etwa Leiden und Verfall, sondern die Tatkräftigkeit der jungen Kommandeurin. Derart aufbereitet und im Zusammenhang der sich entwickelnden Liebesgeschichte zwischen den Hauptfiguren wird das Problem des Hungers angesprochen. Zugleich wird der Hunger jedoch an den Platz verwiesen, der ihm im Schema des Sozialistischen Realismus zukommt: Er ist nichts als eine lästige Begleiterscheinung, die überwunden werden muss, um die Arbeitskraft der Bevölkerung zu erhalten. Ein anderer Text fällt durch die besonders offene Behandlung des Themas Hunger auf: Bei »Im ersten Winter«529 handelt es sich weniger um einen literarischen Text als um einen Augenzeugenbericht. Hier berichtet der Kommandeur eines Pionierbattaillons aus dem Alltag seiner Einheit. Thema ist unter anderem

526 527 528 529

russ.: Pamjat’ serdca; Zˇurba, P.: Pamjat’ serdca, in: Leningrad (1945), 12, S. 15. Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 15. russ.: Pervoj zimoj; Grigor’ev, N.: Pervoj zimoj, in: Leningrad (1945), 10, S. 6 – 7.

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die Besorgnis des Versorgungsgehilfen über die fortdauernden Senkungen der Lebensmittelrationen. Detailliert wird die Verpflegung beschrieben: »Den Mannschaftsköchen war strengstens befohlen worden, wie vorher drei Mal täglich ein warmes Essen zu kochen. Als Lebensmittel wurden dafür pro zehn Mann eine Dose Sprotten bereitgestellt, sodass in unserer Mittagssuppe ein Fischchen schwamm und in der Morgen- und Abendsuppe je ein halbes. Für die Sättigung gaben die Köche noch ein paar Gramm Hirse in den Kessel, aber nur ein Mensch mit starker Einbildungskraft konnte in seinem Löffel ein Körnchen ausmachen.«530

Von allen Beschreibungen der Verpflegung, die in der Zeitschrift Leningrad zu finden sind, ist dies die detaillierteste. Auch spart der Zeitzeuge nicht aus, dass der Versorgungsgehilfe selber stark abgemagert ist. Mit Stolz berichtet er dennoch, dass die Soldaten trotz dieser Umstände nicht mit der Schlachtung des letzten der Einheit verbliebenen Pferdes einverstanden gewesen seien, obwohl schon einige verhungert waren. Statt dieses Verhalten zu unterbinden, um die Kampfkraft der Einheit zu schützen, wird es vom Kommandeur gefördert. In diesem Motiv findet sich ein Heldenbegriff, der die Größe des Opfers über das mit dem Opfer erreichte Ziel stellt und die negativen Konsequenzen der Selbstaufopferung ausblendet. Inhaltliche Diskussionen zum ›Leningrader Thema‹ Neben literarischen Texte lässt sich ein weiteres Genre in der Zeitschrift Leningrad und anderen ›dicken Journalen‹ ausmachen: die programmatischen Texte. Häufig handelte es sich dabei um Redebeiträge von Plenarversammlungen der Leitung des Schriftstellerverbandes. Dieses Gremium trug für die politische Erziehung der Mitglieder, insbesondere der lokalen Organisationszweige, Sorge. Es erfüllte die Aufgabe, die Literaturschaffenden politisch aufzuklären und zu politischer Linientreue zu erziehen, und regte die Entwicklung einer Programmatik für ›politisch korrektes‹ Kriegsgedenken in der Literatur an. Verbreitung fand diese unter anderem über Publikationen in Leningrad. Vor dem Hintergrund des Heldenkultes und des idealisierenden Realismusbegriffes des Sozialistischen Realismus klingt die Forderung nach schonungsloser Wahrheit, die Nikolaj Tichonov 1944 auf dem neunten Plenum der Leitung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes aussprach, zunächst vielversprechend: »Der wichtigste Held unserer Literatur ist, in Zeiten des friedlichen Aufbaus genauso wie in den Tagen des Vaterländischen Krieges, die Wahrheit. Wir wollen nicht die von uns erlittene Not vergessen, nicht die Tage der grausamen Kämpfe, nicht die riesige Kraftanstrengung des Landes auf dem Weg zum Sieg. Wir wollen unsere Krieger und

530 Ebenda, S. 6.

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Offiziere nicht in die prunkvolle Kleidung von Märchenhelden kleiden oder uns auf Kampfbeschreibungen beschränken.«531

Sie wird jedoch sogleich durch die Beteuerung des »moralischen Reichtums« sowie der »ganzen Tiefe des mächtigen Geistes des sowjetischen Menschen«532 relativiert, die diesem Zitat folgt. Zeitzeugenschaft ist, nach den Ausführungen Tichonovs zu urteilen, eine wesentliche Voraussetzung für authentisches literarisches Schaffen. Am Beispiel der Gedichte und des Tagebuchs von Ol’ga Berggol’c macht Tichonov die »inspirierende Wirkung wahrer, großer Gefühle« aus, »ohne die es keine wirkliche Poesie geben« könne.533 Ein Jahr später, auf der zehnten Plenartagung der Leitung des SSV, vertritt der Leningrader Schriftsteller A. A. Prokof ’ev eine merklich distanziertere Haltung gegenüber realistischen Beschreibungen des Kriegsalltags in Leningrad aus der Feder von Ol’ga Berggol’c: »Die Autorin bezeugt beispielsweise, dass bei einem Eisloch, wo die Leningrader Wasser holten, ein Toter ins Eis eingefroren gewesen sei, eingefroren und so verblieben, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, bis zum Frühling. Ja, der Hunger ließ die Leningrader auf der Straße umfallen, ja, Tote lagen dort, wie auf einem Schlachtfeld, aber wir räumten die Körper der Gefallenen weg, das weiß Berggol’c genau; ihre Mitbürger können nicht ihr Wasser dort geholt haben, wo ihr gefallener Genosse im Eis eingefroren war. Das ist nicht richtig, nicht richtig! Das ist eine Abweichung.«534

Auch misst Prokof ’ev der Zeitzeugenschaft der Autoren weniger Bedeutung zu als Tichonov im Jahr zuvor und betont, dass auch Nicht-Leningrader über die Belagerung schreiben könnten und sollten, wenn sie das vorliegende Material ausreichend studiert hätten.535 Die ideologischen Bemühungen um Vorgaben für eine linientreue Literatur fanden auch vor Ort in Leningrad ihre Umsetzung. Im April 1945 wurde eigens eine Diskussionsveranstaltung zum ›Leningrader Thema‹ in der dortigen Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes durchgeführt.536 Auch hier gehörte Prokof ’ev zu den Rednern. In seinem Einführungsvortrag unterstrich er insbesondere zwei Aufgaben, die diese Diskussion erfüllen sollte: Zum einen sollten bereits erschienene Arbeiten zur Belagerung besprochen und bewertet werden. Darüber hinaus wollte man die Aufmerksamkeit von Künstlern und 531 Tichonov, N. S.: Sovetskaja literatura v dni Otecˇestvennoj vojny. Iz doklada N. S. Tichonova na IX plenume pravlenija SSP, in: Leningrad (1944), 3, hier 12. 532 Ebenda, S. 12. 533 Ebenda, S. 12. 534 Prokof’ev, A. A.: Iz doklada A. A. Prokof ’eva, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. 26 – 27, hier 26. 535 Ebenda, S. 26. 536 Auszüge der Redebeiträge wurden im Sommer 1945 in der Zeitschrift Leningrad veröffentlicht: Diskussia o leningradskoj teme, in: Leningrad (1945), 7 – 8, S. 26 – 27.

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Schriftstellern gegenüber der Leningrad-Thematik fördern. Die Beschäftigung mit dem Schicksal Leningrads im Großen Vaterländischen Krieg charakterisierte Prokof ’ev »[…] als das Thema eines großen, militärischen und zivilen Sieges, der zugespitzt die herausragenden Qualitäten des sowjetischen Menschen zutage bringt. Diese sind: Die uneingeschränkte Liebe zu und Ergebenheit der mächtigen bolschewistischen Partei, dem Führer der Völker, Genossen Stalin, die uneingeschränkte Liebe und Ergebenheit gegenüber der Heimat.«537

Leningrad druckte in demselben Artikel auch einen Redebeitrag P. Gromovs ab. Dieser unterteilte die literarischen Arbeiten zur Blockade in gelungenere und weniger gelungene. Dabei hob er einzelne Autoren besonders hervor. So übte Gromov zunächst heftige Kritik am Tagebuch Vera Inbers. Es sei »qualvoll, dieses Buch zu lesen«; Inber überfrachte »die Erzählung mit Alltag, kleinlichem, persönlichem Alltag und naturalistischen Bildern des hungernden Leningrads«.538 Insbesondere kritisiert Gromov die Beschreibung von Gesicht und Körperhaltung eines halbverhungerten Menschen – eines Dystrophikers. »Wozu diese klinische Beschreibung? Wem gibt sie etwas und was bringt sie? Es geht überhaupt nicht darum, dass der Künstler etwas verbergen sollte – nein. Schreib worüber du willst, aber es muss eine Verallgemeinerung geben, eine Reflexion der Ereignisse, nicht einfach eine Anhäufung entsetzlicher Details.«539

Im Gegensatz zu dieser scharfen Verurteilung Inbers steht das Lob der Prosa Nikolaj Tichonovs als »künstlerisch hochwertigste Umsetzung des Leningrader Themas«.540 Besonders hebt Gromov die Verbindung von beschriebenen Schwierigkeiten und »romantischer Verallgemeinerung« am Beispiel des Poems »Kirov ist mit uns«541 in der Arbeit Tichonovs hervor. Insgesamt sei es kein Zufall, dass das ›Leningrader Thema‹ besser in Gedichten als in Prosatexten dargestellt werden könne: »In Gedichten wird leichter ein Gefühl der historischen Perspektive über den unmittelbaren emotionalen Widerhall des historischen Ereignisses erreicht.«542 Auf dem Plenum der Leitung des SSP Ende 1945 kommt auch Prokof ’ev zu einer Gegenüberstellung der Arbeiten von Tichonov und Inber. Während Tichonovs Leningrad-Tagebuch »Das Leningrader Jahr«543 als »bemerkenswert« 537 538 539 540 541 542 543

Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 27. russ.: Kirov s nami. Tichonov wurde dafür den Stalinpreis verliehen. Ebenda, S. 27. russ.: Leningradskij god

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

und »lehrreich für Leningrader und Nicht-Leningrader« charakterisiert wird, ist über Vera Inbers Tagebuch zu lesen: »Das Tagebuch ist breit, aber die Welt, die darin eingeschlossen ist, sehr klein. In dem Tagebuch kommt, ungeachtet vieler festgehaltener Einzelheiten, das volle Leben der eingeschlossenen, heldenhaft gegen den Feind kämpfenden Stadt nicht vor. Alles ist auf ein kleines Weltchen begrenzt, so sehr sich Vera Inber auch bemüht, dieses zu vergrößern.«544

Die Beiträge, die in der Zeitschrift Leningrad zum ›Leningrader Thema‹ veröffentlicht wurden, unterscheiden, wie gezeigt, ›gelungene‹ Arbeiten zum Leningrader Thema, die das Heldentum der Leningrader Bevölkerung abbildeten und die Leningrader als Handelnde zeigen, von ›nicht gelungenen‹ Arbeiten, die zu ausführlich das Leiden und Sterben der Menschen thematisieren. Auf der einen Seite steht dabei die Literatur Nikolaj Tichonovs, auf der anderen Seite die Arbeiten von Ol’ga Berggol’c und Vera Inber. Die Bewertung bezieht sich sowohl auf lyrische Arbeiten als auch auf die Prosa dieser Autoren. Der Leningrader Schriftsteller Makogonenko kommt in seinem Beitrag in der Zeitschrift des Moskauer Schriftstellerverbandes Znamja zu einem weit weniger kontrastierenden Bild. Auch Makogonenko sieht Tichonov als besonders herausragenden Vertreter des ›Leningrader Themas‹. Er findet jedoch nichts Verurteilenswertes an den detaillierten Schilderungen leidender Menschen von Ol’ga Berggol’c. Diese sind für ihn »Träger und Vertreter menschlicher Schicksale«545. Ein weiterer Unterschied zwischen dem in der Zeitschrift Leningrad konstruierten Konsens und dem Beitrag in Znamja ist der Umgang mit der Frage, wie sich die Literatur zum ›Leningrader Thema‹ zur literarischen Tradition der Stadt verhalten soll. Makogonenko sieht hier eindeutig eine Fortsetzung, nicht nur der sowjetischen Vorkriegsliteratur, sondern sogar der vorrevolutionären Petersburger Literaturtradition: »Die Hinwendung der Poeten und Schriftsteller des belagerten Leningrad zum Thema ihrer Stadt, ist, im Wesentlichen, die Fortsetzung einer Tradition der russischen Literatur. Die Leningrader Poesie der Blockade-Periode ging von bereits geschaffenen Formen aus, berücksichtigte und sammelte in sich das Beste aus dem vorher Geschaffenen und setzte die Tradition der Darstellung von Petersburg – Petrograd – Leningrad unter neuen historischen Umständen fort.«546

Bei der Diskussion zum ›Leningrader Thema‹ im Leningrader Schriftstellerverband kommt hingegen Gromov zu dem Schluss, dass dieses keineswegs auf das ›Petersburger Thema‹ zurückgehe: 544 Prokof’ev (1945): Iz doklada (wie Anm. 534), S. 27. 545 Makogonenko (1945): Leningradskaja tema (wie Anm. 173), S. 209. 546 Ebenda, S. 206.

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»Das Leningrader Thema ist das Thema der historischen Eigenart eines neuen Menschentyps, der fähig ist, jegliche Schwierigkeiten und Entbehrungen im Namen der ihn beseelenden hohen Idee des sowjetischen Patriotismus zu ertragen.«547

Die Gegenüberstellung des Znamja-Beitrages und der Beträge aus der Zeitschrift Leningrad zeigt, dass in den programmatischen Texten des Schriftstellerverbandes Arbeiten zum ›Leningrader Thema‹, die das Leiden der Menschen ausführlich thematisieren, von solchen unterschieden wurden, die dies vermeiden und sich stärker auf das Handeln ihrer Personen als auf deren Zustand konzentrieren. In den Beiträgen der Zeitschrift Leningrad, insbesondere des Jahres 1945, war diese Unterscheidung zusätzlich mit einer starken Bewertung der jeweiligen literarischen Richtung verbunden. Trotz dieser Einteilung in gute und weniger gute Literatur zum ›Leningrader Thema‹ ist festzuhalten, dass die Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber in den ersten Nachkriegsjahren ungefähr gleich weit verbreitet waren. Die Unterschiedlichkeit ihrer Herangehensweisen wirkte sich nicht auf die Auflagenstärke ihrer Arbeiten aus. Von den Kriegsleiden zum Aufbau-Heldentum: die Zeitschriftenverordnung und ihre Folgen Die Zeitschriftenverordnung vom 14. August 1946 hatte die Schließung der Zeitschrift Leningrad zur Folge. Wie eine Analyse der Beiträge der Zeitschrift zeigt, war die Blockade zwar ein diskutiertes Thema im Leningrader Schriftstellerverband, die Mehrzahl der Beiträge der Zeitschrift handelten jedoch von anderen Themen. In einzelnen Prosabeiträgen kommen Motive aus der belagerten Stadt, vorzugsweise jedoch Motive von der Leningrader Front vor. Die bevorzugte Textform, in der man über die Blockade schrieb, blieb vorerst jedoch die Lyrik. Auch die Kritik Zˇdanovs richtete sich nicht in erster Linie gegen Darstellungen der Leningrader Kriegsgeschichte. Gegenstand der Kritik waren vorwiegend Darstellungsweisen, und hier bot das sogenannte ›Leningrader Thema‹ durchaus Angriffsfläche. Nicht das konkrete Einzelschicksal und Leiden interessierte, sondern das allgemeine Heldentum. Insofern wurden allzu offene naturalistische Darstellungen von Hunger und Leid indirekt zum Gegenstand der Kritik. Zˇdanov hatte 1946 bei seinem Vortrag vor Leningrader Schriftstellern eindeutige Aufgaben formuliert: »Unser Volk erwartet, dass die sowjetischen Schriftsteller die enorme Erfahrung, die das Volk im Großen Vaterländischen Krieg erworben hat, überdenken und verallgemeinern, dass sie jenes Heldentum abbilden und verallgemeinern, mit dem das Volk jetzt am Wiederaufbau der Volkswirtschaft unseres Landes arbeitet, nachdem der Feind vertrieben wurde.«548 547 Ohne Autor (1945): Diskussia o (wie Anm. 536), S. 27. 548 Zˇdanov, A. A.: Doklad o zˇurnalach ›Zvezda‹ i ›Leningrad‹. Moskva, 1952, S. 14.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Darstellungen des Krieges sollten also nicht das Leiden Einzelner abbilden oder verarbeiten, sondern die gemeinsamen Erfolge hervorheben: »Nehmen wir ein Thema wie den Wiederaufbau Leningrads. In der Stadt geht eine großartige Arbeit voran, die Stadt heilt ihre Wunden, die ihr durch die Blockade zugefügt wurden, die Leningrader sind voller Enthusiasmus und Pathos des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Wurde darüber irgendetwas im Journal ›Leningrad‹ veröffentlicht? Werden die Leningrader irgendwann erleben, dass ihre Heldentaten der Arbeit auf den Seiten der Zeitschriften Darstellung finden?«549

Dabei waren die Vorwürfe, die Zeitschrift würde sich nicht mit dem Wiederaufbau der Stadt Leningrad beschäftigen, völlig aus der Luft gegriffen. Beiträge wie die Rede Popkovs vor dem obersten Sowjet550 oder der Text »Leningrad v 1944 godu«551 von Ilja Gruzdev beschäftigten sich ausführlich mit dem Wiederaufbau der Stadt. Auch unter den Illustrationen der Zeitschrift finden sich zahlreiche Abbildungen von Wiederaufbauarbeiten. Zˇdanovs Botschaft war eindeutig: Die Literatur sollte sich der Zukunft zuwenden und den Aspekt des Wiederaufbaus behandeln, anstatt individuelles Leid, Trauer und die Schrecken der Kriegsjahre zu thematisieren. Diese Maxime spiegelt die pragmatische Herangehensweise der Moskauer Führung, die die Erinnerung an den Krieg hiermit von Anfang an in den Dienst des Wiederaufbaus stellte.552 Die Zeitschriftenverordnung wirkte sich jedoch nicht nur darauf aus, was in Zukunft geschrieben und veröffentlicht werden konnte, sondern auch darauf, welche bereits vorhandenen Texte weiterhin öffentlich zugänglich waren. So legte die Leningrader Agitprop-Abteilung am 03. 12. 1946 gegenüber Parteisekretär Kapustin Rechenschaft über von ihr durchgeführte sogenannte Hilfsmaßnahmen zugunsten der Leningrader Massenbibliotheken ab. Darin heißt es: »Im Oktober dieses Jahres führte die Abteilung für Propaganda und Agitation eine Versammlung der Bibliotheksmitarbeiter des gesamten Stadtgebietes durch. Auf der Versammlung wurde ein Vortrag zum Thema ›Über die Aufgaben der Massenbibliotheken im Zusammenhang mit der Verordnung des Zentralkomitees der VKP / b / über die Zeitschriften ›Zvezda‹ und ›Leningrad‹‹ gehalten. Der Versammlung ging eine Überprüfung der 20 größten Bibliotheken voran. Die Besprechung des Vortrages verlief aktiv und zeigte, dass die wichtigsten Kader der Bibliotheksarbeiter ihre Aufgaben verstehen.«553

549 550 551 552 553

Ebenda, S. 16. Popkov (1944): V-ja sessija (wie Anm. 443). Gruzdev, I.: Leningrad v 1944 godu, in: Leningrad (1944), 13 – 14, S. 1 – 3. Vgl. Pravda (1945): Vrucˇenie Leningradu (wie Anm. 415), S. 283. f. 25; op. 10; d. 645; dok. 54, CGAIPD: Avakumov an Kapustin: Information über Hilfsmaßnahmen für öffentl. Bibliotheken 3. 12. 1946.

Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber

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Dabei ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, ob Arbeiten zur Blockade von Säuberungsmaßnahmen in Bibliotheken betroffen waren, und wenn das der Fall war, welche Arbeiten das waren. Auch an der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes blieb langfristig der Verdacht politischer Unzuverlässigkeit hängen. In einem nicht unterzeichneten Bericht vom 17. 05. 1947 an den Sekretär des Obkom und Gorkom, Popkov, und den Gorkom-Sekretär Kapustin heißt es, in der Leningrader Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes habe sich vieles gebessert. Dennoch gäbe es Mängel, die die erfolgreiche Umsetzung der Verordnung verhinderten. Insbesondere würde noch immer nicht ausreichend über »heutige, aktuelle Themen« geschrieben. Die meisten Schriftsteller arbeiteten über Vorkriegs- und Kriegsthemen.554 Des Weiteren arbeiteten die Schriftsteller nicht ausreichend mit Zeitungen zusammen und diskutierten die einzelnen Arbeiten zu wenig kritisch555 und bemühten sich nur ungenügend um ihre eigene ideeliche Vervollkommnung.556 Obwohl der Zeitschrift Zvezda die radikalste Maßnahme, ihre Schließung, erspart geblieben war, war auch sie dauerhaft in Ungnade gefallen. Unter eine schriftliche Bitte um die Erlaubnis, den Umfang von Zvezda ab Anfang 1948 zu vergrößern, die Kuznecov und Suslov auf Antrag Popkovs am 18. Oktober 1947 an Stalin richteten, setzte Stalin eine kurze handschriftliche Ablehnung.557

3.

Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber

Trotz des weitreichenden und ausgeklügelten Zensursytems und ungeachtet aller formaler und inhaltlicher Beschränkungen bildete sich am Ende des Krieges keine einheitliche Herangehensweise an das sogenannte Leningrader Thema heraus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller mussten ihr Erleben, ihre Erinnerungen an die im Paradigma des Sozialistischen Realismus vorgesehenen Formen und Inhalte anpassen. Dabei kam es zu enormen Spannungen. Diese Spannungen wurden im Verlauf der Nachkriegsjahre auf unterschiedliche Weise behandelt und von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren auf ganz verschiedene Weise aufgelöst. Auch der enorme Druck auf die Leningrader 554 f. 25; op. 10; sv. 1042; ed. chran. 68, CGAIPD: Bericht über die Erfüllung der Verordnungen des CK VKP(b) 17. 05. 1947, l.5. 555 Ebenda, l.6. 556 Ebenda, l.7. 557 Zapiska A. A. Kuznecova i M.A. Suslova I.V. Stalinu ob uvelicˇenii ob’’ema zˇurnala ›Zvezda‹. 18. 10. 1947, in: Chlevnjuk, O.; Gorlickij, J.; et.al. (Hg.): Politbjuro CK VKP (b) i Sovet Ministrov SSSR 1945 – 1953. Moskva, 2002, S. 247, hier 147.

198

Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Schriftsteller nach der Zeitschriftenverordnung führte nicht unmittelbar zur Modifikation der Inhalte und Themen, die sich im Zusammenhang mit der Behandlung der Belagerung ergaben. Ähnlich wie in der Historiographie lässt sich auch für die Leningrader Nachkriegsliteratur ein breites Spektrum an Motiven und Themen feststellen, die im Zusammenhang mit der Belagerung behandelt wurden. Auch wenn nach der Leningrader Affäre die rigide spätstalinistische ideologische Linie ein weitgehendes Verschweigen vieler Aspekte der Blockade bewirkte, so konnten doch nicht alle Themen, die zu diesem Zeitpunkt bereits öffentlich verhandelt worden waren, wieder vollständig unterdrückt werden. Als ›Stimme Leningrads‹ ist die Journalistin und Schriftstellerin Ol’ga Berggol’c sicherlich die heute bekannteste und prägende Vertreterin der LeningradLiteratur. Ihre Lyrik wurde zum Grundstock eines ganzen literarischen Paradigmas.558 Ihre Offenheit im Umgang mit den unangenehmen Seiten Leningrader Kriegsgeschichte und ihre konsequente Subjektivität, die sich im literarischen Prinzip der »samovyrazˇenie«559 manifestierte, erregten bereits während des Krieges Aufsehen und Missbilligung der Literaturkritik. Dies trug wohl dazu bei, dass sie, anders als viele ihrer Leningrader Kolleginnen und Kollegen, keinen Stalinpreis erhielt.560 Diese Umstrittenheit, gemeinsam mit ihrer breiten Beliebtheit in der Bevölkerung, die durch ihre Radiosendungen eine sehr enge Beziehung zu der Schriftstellerin aufgebaut hatte, geben Ol’ga Berggol’c einen Sonderstatus unter den Leningrader Schriftstellern. Ihre Gedichte und auch ihr Tagebuch wurden zwar veröffentlicht, gehörten aber nicht zu den auflagenstärksten Beiträgen zur Blockade der Nachkriegsjahre. Obwohl sie sich im Medium der Literatur bewegte, spielte der Rundfunk die ausschlaggebende Rolle für die Breitenwirkung ihrer Texte. Zwei andere Leningrader Autoren und Stalinpreisträger waren in den ersten Nachkriegsjahren mit besonders auflagenstarken Beiträgen zum ›Leningrader Thema‹ vertreten. Diese sind der Leningrader Schriftsteller und Journalist Nikolaj Tichonov und die Moskauer Autorin Vera Inber mit ihrem Leningrader Tagebuch, das unter dem Titel »Fast drei Jahre« immer wieder in hohen Auflagen veröffentlicht wurde. Beide waren gleichermaßen auflagenstark auf dem sowjetischen Buchmarkt vertreten und beschäftigten sich in ihren Arbeiten mit verschiedenen Aspekten des Alltagslebens in der belagerten Stadt. Ihre Arbeiten unterscheiden sich jedoch grundlegend sowohl durch die ausgewählten Themen und Motiven als auch durch deren Präsentation. Deshalb sollen gerade sie hier exemplarisch für die Nachkriegsliteratur zum ›Leningrader Thema‹ behandelt werden. 558 Vgl. Tschöpl (1988): Die sowjetische (wie Anm. 173). 559 dt. etwa: Ausdruck des Selbst 560 Vgl. Ebenda, S. 130.

Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber

3.1.

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Nikolaj Tichonov

Literaturfunktionär und Chronist der Belagerung Der 1896 in St. Petersburg geborene Nikolaj Semenovicˇ Tichonov brachte als systemtreuer Chronist der Leningrader Blockade glänzende Voraussetzungen mit: Als gebürtiger Leningrader hatte er eine besondere lokalpatriotische Vorliebe für die Stadt. Der Große Vaterländische Krieg war bereits der vierte Krieg, den er erlebte, nachdem er bereits den Ersten Weltkrieg, den Bürgerkrieg und den Winterkrieg mit Finnland als Soldat miterlebt hatte. Seine literarische Arbeit hatte er in der Armee begonnen und als Verfasser von Revolutionsballaden hatte er weite Bekanntheit erreicht. Neben seiner literarischen Arbeit hatte sich Tichonov bereits vor dem Krieg als Literaturfunktionär einen Namen gemacht. Vor der Gründung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes 1934 war er in der seit 1930 bestehenden Literaturvereinigung der Roten Armee, LOKAF561, organisiert. Bei der Gründung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes spielte Tichonov eine zentrale Rolle. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch kein Parteimitglied war, machte er Vorschläge für die Besetzung der leitenden Organe des Kongresses, sich selbst eingeschlossen. Darüber hinaus nahm er für sich in Anspruch, für die Delegationen aus Moskau, Leningrad, der Ukraine, Weißrussland und drei kaukasischen Republiken zu sprechen. Alle Vorschläge wurden ohne Diskussion angenommen.562 Gerade seine politische Tätigkeit machte Tichonov zu einem Werkzeug des Staates, zu einem ›Ingenieur der menschlichen Seelen‹ im Sinne des Sozialistischen Realismus. Dies bedeutete auch, dass er sich bereits in den 30er-Jahren für die Durchsetzung der rigiden stalinistischen Linie ohne Rücksicht auf Verluste einsetzte563 und wesentlich zur Ächtung und dem materiellen und psychologischen Ruin solcher Schriftstellerkollegen und Lyriker beitrug, deren Arbeit als mit dieser Linie unvereinbar galt. Dies spiegelt sich beispielsweise eindringlich in den flehentlichen Briefen, die Osip Mandel’sˇtam aus seiner Voronezˇer Verbannung 1936 und 1937 an Tichonov richtete.564 Als Literaturfunktionär zeigte Tichonov außerordentliches Geschick, sich der jeweiligen politischen Linie anzupassen und mit dem Strom zu schwimmen. 561 Chrenkov, D.: Nikolaj Tichonov v Leningrade. Leningrad, 1984, S. 118; LOKAF: kurz für Literaturnoe ob’’edinenie Krasnoj Armii i Flota 562 Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 33. 563 Vgl. Burkhart, D.: Fallstudien zu Zensurvorgängen in der Stalinzeit. Mandel’sˇtam, Achmatova, Pasternak, in: Brockmeier, P.; Kaiser, G. R. (Hg.): Zensur und Selbstzensur in der Literatur. Würzburg, 1996, S. 173 – 192 insbesondere S. 181. 564 Mandel’sˇtam, O. E˙.: Pisma O. E˙. Mandel’sˇtama N.S. Tichonovu, in: Ohne Herausgeber (Hg.): Slovo i sud’ba. Osip Mandel’sˇtam. Issledovanija i materialy. Moskva, 1991, S. 28 – 33.

200

Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Auch als er vorübergehend unter den Verdacht geriet, an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein, entging er einer Verhaftung und weiteren Folgen.565 Von der Leningrader Affäre blieb Tichonov ebenfalls verschont. Bereits ganz zu Beginn des Krieges trat Tichonov als »[e]iner der ersten Kriegstheoretiker und Publizisten«566 auf. In einer Extraausgabe der Leningrader Pravda veröffentlichte er bereits am 22. Juni 1941 einen kurzen Text mit dem Titel »Wir siegen«. Sein erstes Kriegsgedicht erschien bereits am nächsten Tag. Wie bereits anhand des Sammelbandes »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj Vojne« deutlich wurde, waren seine Texte während der gesamten Zeit regelmäßig in der Leningrader Pravda, der Armeezeitung Na Strazˇe Rodiny und auch in den Zeitschriften des Leningrader Schriftstellerverbandes Zvezda und Leningrad vertreten. Tichonov kann daher als meistveröffentlichter Leningrader Literat der Kriegszeit gelten.567 Dabei veröffentlichte er sowohl Gedichte, wie das Poem »Kirov s nami«, für das er 1941 den Stalinpreis verliehen bekam, als auch Erzählungen, wie in dem ˇ erty sovetskogo cˇeloveka«, und nicht zuletzt publizistische Texte, in Band »C denen er sich mit verschiedenen Aspekten des Lebens in der belagerten Stadt, aber vor allem an der Leningrader Front beschäftigte. Kennzeichnend für Tichonovs Werk während der Kriegszeit ist die Verbindung zwischen Literatur und Publizistik.568 In seiner publizistischen Arbeit betätigte er sich im wahrsten Sinne des Wortes als Chronist der Belagerung, indem er monatliche Berichte über die Lage in Leningrad und insbesondere an der Leningrader Front in der Tageszeitung der Roten Armee Krasnaja Zvezda veröffentlichte. Diese Texte wurden erneut in dem Sammelband »Leningradskij god«569 publiziert. Gleichzeitig und zusätzlich zu seiner äußerst ertragreichen schriftstellerischen Tätigkeit trieb Tichonov während des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit seine politische Karriere voran. Während des Krieges leitete er eine Gruppe von Schriftstellern, die an die politische Leitung der Leningrader Front angegliedert war. Dabei handelte es sich um eine sogenannte operative Gruppe, die Bachtin als »militärische Unterabteilung« bezeichnet: »Die Gruppenmitglieder hielten sich ständig in den Redaktionen der Armee- Divisions-, Flotten- und Schiffszeitungen auf, halfen ›mit ihrer Feder‹ aus und leiteten junge Journalisten an. Oft traten sie vor Soldaten und Matrosen auf. Unbedingt besuchten sie die Frontabschnitte, wo man sich auf den Angriff vorbereitete, schrieben über die Helden der Kämpfe für ihre Front- oder Flottenzeitung (Na strazˇe rodiny und Krasnyj 565 566 567 568

Garrard / Garrard (1990): Inside the (wie Anm. 472), S. 48. Chrenkov (1984): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 561), S. 115. Bachtin (1996): Budni stavsˇie (wie Anm. 491), S. 16. Tichonov, N. S.: Otecˇestvennaja Vojna i Sovetskaja Literatura. Doklad na Plenume SSP v fevrale 1944 goda: Pisatel’ i e˙pocha. Moskva, 1972, S. 58 – 80, hier 61. 569 Tichonov, N. S.: Leningradskij god. Maj 1942 – 1943. Leningrad, 1943.

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baltijskij flot). Gleichzeitig erfüllten sie vielzählige Aufgaben des Sovinformbüros, bereiteten Material für ausländische Veröffentlichungen und zentrale Zeitungen vor. Häufig gab die militärische oder politische Führung, ausgehend von den praktischen Bedürfnissen der Front, den Schriftstellern konkrete Themen vor […].«570

Der hohe Rang dieser Gruppierung wird insbesondere daran deutlich, dass sie vom Smolnyj Institut aus arbeitete und damit in der unmittelbaren Schaltzentrale der lokalen Machtstrukturen angesiedelt war.571 Im Jahr 1944 stieg Tichonov zum Sekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes auf572, musste jedoch bereits 1946 von diesem Amt zurücktreten und wurde erneut durch Fadeev ersetzt. Garrard sieht hier einen Hinweis auf eine Verschärfung der weicheren Linie der Kriegszeit in der Politik des Verbandes. Tichonov kandidierte in der Folge für den Obersten Sowjet. Die Zeitschrift Leningrad veröffentlichte anlässlich seiner Kandidatur eine Reihe von Beiträgen.573 Darin zeigt sich die enge Verknüpfung von Tichonovs literarischer und politischer Tätigkeit. Seine Gedichte werden in den Wahlkampfreden seiner Unterstützer immer wieder zitiert. Im selben Jahr wurde er Deputierter im Obersten Sowjet der UdSSR. Der hier skizzierte Tätigkeitsbereich Tichonovs macht deutlich, dass sein literarisches und sein politisches Tätigkeitsfeld sich überschnitten und gegenseitig bedingten. In der Sowjetunion erschienen verschiedentlich Abhandlungen und Biographien Tichonovs sowie Neuauflagen und Sammlungen seiner Werke.574 In der nachsowjetischen Zeit verloren er und sein Werk weitgehend an öffentlichem Interesse. Problematisch an der Literaturlage ist, dass seine Person in der verfügbaren Sekundärliteratur in einem idealisierten Licht und mit schwer überprüfbaren Tugenden ausgestattet erscheint575. So berichtet sein Zeitgenosse Chrenkov noch 1984, Tichonov habe während der Blockade auf Vergünstigungen, die ihm durch seine Tätigkeit als Funktionär zugekommen wären, verzichtet: »[…] [D]ieser Verlockung nachzugeben, hieß für Tichonov

570 Bachtin (1996): Budni stavsˇie (wie Anm. 491), S. 14. 571 Vgl. Fatjusˇcˇenko, V. I.: Tichonov, Nikolaj Semenovicˇ, in: Nikolaev, P. A. (Hg.): Russkie pisateli 20 veka. Biograficˇeskij slovar’. Moskva, 2000, S. 684 – 686, hier 685 sowie Chrenkov (1984): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 561), S. 121. 572 Fatjusˇcˇenko (2000): Tichonov, Nikolaj (wie Anm. 571), S. 685. 573 Ohne Autor (1946): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 501); Licharev (1946): Znamenosec nasˇego (wie Anm. 501); Rozen (1946): Poe˙t geroicˇeskogo (wie Anm. 501). 574 So bspw. Chrenkov (1984): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 561); Sˇosˇin, V.: Nikolaj Tichonov. Ocˇerk zˇizni i tvorcˇestva. Leningrad, 1981; Tichonov, N. S.: Pisatel’ i e˙pocha. Moskva, 1972; E˙ventov, I.: Voennaja Proza N. Tichonova, in: Zvezda (1944), 3, S. 95 – 105 u. a. 575 So bspw. Sˇosˇin (1981): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 574) sowie Chrenkov (1984): Nikolaj Tichonov (wie Anm. 561). Ich danke meiner Schwägerin Elena Zemskova für ihre kritischen Anmerkungen zur Person Tichonovs, die mich zu weiteren Recherchen veranlasst haben.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

das Recht zu verlieren, die Teilnehmer der Verteidigung Leningrads als Kameraden anzusprechen.«576 Inwieweit sich Tichonovs Haltung zur Blockade im Laufe der Jahre änderte, bleibt unklar. Bljum dokumentiert jedoch, dass Tichonov in späteren Jahren durchaus Kritik an der Versorgungslage der Bevölkerung der belagerten Stadt geübt und dies auch in Gesprächen mit Chrenkov geäußert habe: »Man kann die Heldentat nicht vom Leiden trennen. Aber manche denken, das könnte man… Man muss sich nur vorstellen – sagte er zornerfüllt – es gibt Autoren, die in völligem Ernst behaupten, dass die Versorgung Leningrads in der Blockade beispielhaft organisiert gewesen sei und dass die Zahl der Hungertoten klar übertrieben sei.«577

Nach Bljum wurde dieser Kommentar Tichonovs aus dem Text »Osen’ v Peredel’kine«, der 1981 in der Zeitschrift Zvezda erschien, von der Zensur gestrichen. Er stellt einen Hinweis darauf dar, dass sich trotz aller parteipolitisch korrekten Darstellung des Geschehenen auch Tichonovs Haltung zur Blockade zumindest im Nachhinein nicht ausschließlich auf idealistisch-patriotische Vorstellungen beschränkte. Im Folgenden soll es nun darum gehen, welche historischen Konzeptionen Tichonov in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelte und offiziell vertrat. Ein Schriftsteller als ›Historiker‹ Die Tatsache, dass Tichonov die Aufgabe übernahm, in Moskau über die Leningrader Kriegsgeschichte zu berichten, zeigt nochmals eindrücklich, dass sich seine Rolle durchaus nicht auf die des politisch motivierten Prosaisten beschränken lässt. Er betätigte sich vielmehr mit Zustimmung der Moskauer Parteizentrale als ›Historiker‹. Als Wortführer gab er in der Leningrader Abteilung und der Zentrale des Schriftstellerverbandes vor, wie der Krieg in der Literatur behandelt werden sollte. Im Februar 1944 trat er, wie oben erwähnt, bei der Plenarsitzung der Leitung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes auf.578 In seiner Rede gibt Tichonov einen Überblick über die Arbeit der zeitgenössischen Dichter und Schriftsteller. Er äußert Lob und Kritik und hebt dabei hervor, wie das Kriegsthema behandelt werden soll. Als wichtige Themen betont er die sowjetische »Völkerfreundschaft«579 und die Arbeit des Hinterlandes580. Nebenher konstatiert er, dass die Kriegszeit nach der Wiedereinführung der ältesten Formen der Poesie verlangt.

576 577 578 579 580

Ebenda, S. 121. Bljum, A. V.: Blokadnaja kniga v cenzurnoj blokade, in: Neva (2004), 1, S. 238 – 245, hier 242. Tichonov (1972): Otecˇestvennaja Vojna (wie Anm. 568). Ebenda, S. 67. Ebenda, S. 75.

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Als ›Historiker‹ der Kriegszeit ging der Einfluss Tichonovs jedoch weit über künstlerische Fragen im Sinne des Sozialistischen Realismus hinaus. Ähnlich wie in den behandelten Konzeptionen von A. A. Kuznecov lässt sich auch in Tichonovs eher historiographischen als literarischen Arbeiten eine innere Entwicklung zeigen.

Chronologien Um diese Entwicklung zu verdeutlichen ist es lohnenswert, zwei Texte zu vergleichen, die 1943 und 1944 veröffentlicht wurden. Aus dem Text der 1943 erschienenen Broschüre »Der heldenhafte Schutz Leningrads« entwickelte Tichonov einen Vortrag über das »heldenhafte Leningrad«, den er im Frühjahr 1944 in Moskau hielt. Auch hier zeigt sich, analog zu den Arbeiten Kuznecovs, dass die ersten geschichtspolitischen Konzeptionen zur Belagerung Leningrads bereits zwischen 1942 und 1944 geprägt wurden und damit mehrere Monate früher als die Stalin’schen Kriegslehren von den drei Kriegsphasen und den zehn Schlägen entstanden. Sie hatten sich also frei von dem später so dominanten Stalin’schen Interpretationsmuster entwickeln können.

Der heldenhafte Schutz Leningrads581

Heldenhaftes Leningrad582

Der Kampf um Leningrad

Leningrad wehrt den Sturm durch die Deutschen ab (August – September 1941) Die Hungerblockade (Winter 1941 – 1942)

Beim Schutz der großen Stadt Die Frontstadt

Die Frontstadt (März – Dezember 1942)

Die Blockade ist durchbrochen

Durchbruch der Blockade (Januar 1943) Eine neue Periode im Leben der Frontstadt (Februar – Dezember 1943) Der große Sieg bei Leningrad (Januar 1944)

581 Tichonov, N. S.: Geroicˇeskaja zasˇcˇita Leningrada. Moskva, 1943; russ.: Geroicˇeskaja zasˇcˇita Leningrada 582 Tichonov, N. S.: Geroicˇeskij Leningrad. Stenogramma publicˇnoj lekcii pisatel’ja N.S. ˇ ajkovskogo v Tichonova procˇitannoj 22 marta 1944 goda v koncertnom zale imeni C Moskve. Moskva, 22 marta 1944 goda; russ.: Geroicˇeskij Leningrad

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Der Titel der ersten Veröffentlichung »Der heldenhafte Schutz Leningrads« war eher untypisch; sonst wurde zumeist von der Verteidigung Leningrads gesprochen583. Der Vortragstitel »Heldenhaftes Leningrad« hingegen war 1944 bereits zu einem feststehenden Begriff geworden. Obwohl die Gliederung des Broschürentextes nach chronologischen Gesichtspunkten erfolgte, gibt das Inhaltsverzeichnis keine Jahreszahlen oder Monate zur Orientierung an. Der Vortragstext hingegen präsentiert bereits eine fertige Chronologie der Ereignisse und grenzt die Kriegsgeschichte Leningrads von August 1941 bis Januar 1944 klar ein. Die innere Gliederung dieses Zeitraums gestaltet sich in der Rede freilich bedeutend weniger differenziert als in der ›geschichtswissenschaftlichen‹ Quellensammlung desselben Jahres, dem Quellenband »Geroicˇeskaja Oborona Leningrada«. Außer den beiden Schlüsseldaten, dem Blockadedurchbruch584 vom Januar 1943 und dem ›großen Sieg bei Leningrad‹ vom Januar 1944 unterscheidet Tichonov drei Zeiträume, die jeweils ein Kapitel füllen. Dies sind zunächst die Monate unmittelbar vor Beginn der Belagerung (August und September 1941), die 1943 mit »Kampf um Leningrad« umschrieben sind. In der Formulierung der Vortragsgliederung »Leningrad wehrt den Sturm durch die Deutschen ab« wird der Stadt ein weitaus aktiverer Part zugeschrieben. Als Schlüsselereignis wird für diesen Zeitraum wie bei Kuznecov der 21. August 1941 genannt. Dieser steht hier allerdings nicht für den Aufruf der Leitung von Ispolkom und Stadtsowjet, der an diesem Tag veröffentlich wurde, sondern als Stichtag, um die Lage an der Front – das Fortschreiten der Wehrmacht von drei Richtungen: Kingisepp, Luga und Tosno – festzuhalten. Dem Aufruf wird dennoch großes Gewicht für die Mobilisierung der Leningrader Bevölkerung zugeschrieben und der Bau von Befestigungsanlagen und Barrikaden, das Anwachsen der Volkswehr und Ähnliches werden im Text eindeutig als Folge dieses Appells dargestellt. Insgesamt lässt sich sagen, dass große Teile dieses ersten Kapitels von 1943 im Vortragstext erhalten geblieben sind. In der Broschüre von 1943 folgt auf das erste thematische Feld, das mit den ersten Kriegsmonaten verbunden ist, der weit gefasste thematische Abschnitt »Beim Schutz der großen Stadt«. Anhand des Textes von 1944 lässt sich hier eine grundlegende inhaltliche Änderung feststellen: Der gesamten Konzeption wird ein neues Element hinzufügt, das auch in der Chronologie deutlich sichtbar wird. Der Hunger kommt als strukturierendes Element neu hinzu und wird klar dem Winter 1941 / 42 zugeordnet. Während im Kapitel »Beim Schutz der großen Stadt« ein militärgeschichtli583 So lautete bspw. der Titel der 1944 eröffneten Ausstellung »Geroicˇeskaja oborona Leningrada«. 584 russ.: Proryv blokady

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cher Zugang zu den ersten Monaten der Belagerung gewählt wurde, steht im Kapitel »Die Hungerblockade« eindeutig die Zivilbevölkerung im Mittelpunkt. Wie Kuznecov sieht auch Tichonov in beiden Texten den Misserfolg der Deutschen bei der ursprünglich geplanten Einnahme der Stadt als Ursache für ihre Belagerungsstrategie. Obwohl der Titel des folgenden Kapitels in beiden Texten gleich lautet, nämlich »Frontstadt«, sind sie inhaltlich unterschiedlich gestaltet. Analog zum vorhergehenden Teil hat sich im späteren Text auch hier der inhaltliche Schwerpunkt vom militärischen Bereich stärker auf den zivilen Bereich verschoben. Besonders interessant ist, dass in dem Vortragstext das Thema der Säuberung der Stadt neu hinzugenommen ist. Es wird ausführlich behandelt und steht in engem Zusammenhang mit der Beschreibung weiblichen Handelns. Wie bereits im Titel deutlich wird, findet sich in diesem Teil der Chronologie insbesondere das Motiv der Einheit von Front und Hinterland, das dauerhaft zu einem zentralen Element des Leningrad-Mythos wurde. Das Kapitel »Die Blockade ist durchbrochen« (1943) beziehungsweise »Durchbruch der Blockade« hat Tichonov für seinen Vortrag deutlich erweitert. Im Broschürentext berichtet dieser Abschnitt eher allgemein und emotional über die Entschlossenheit der sowjetischen Soldaten und die Freude in der Bevölkerung über den Durchbruch. Im Vortrag kommen darüber hinaus genauere Beschreibungen der Tätigkeiten einzelner Waffengattungen sowie der militärischen Lage nach dem Durchbruch vor. Der Vortragstext enthält zusätzlich zu den bisher erwähnten noch zwei weitere Kapitel, die das Jahr 1943 und die endgültige Befreiung der Stadt abdecken. Das Kapitel »Ein neuer Lebensabschnitt der Frontstadt« (Februar-Dezember 1943) ist trotz seiner zeitlichen Begrenzung eher nach inhaltlichen als nach zeitlichen Parametern gegliedert. Die Beschießungen der Stadt sowie die große Anzahl an zivilen Opfern wird hier ebenso thematisiert wie das kulturelle Leben in der Stadt und die Verleihung der Medaille »Für die Verteidigung Leningrads«585. Nachdem im mittleren Teil des Vortragstextes im Vergleich zum früheren Text die Rolle der Zivilbevölkerung Leningrads ausdrücklich an Bedeutung für das gesamte Narrativ gewonnen hat, kehrt Tichonov am Ende nochmals zu seinem ursprünglichen militärischen inhaltlichen Schwerpunkt zurück. Zu Beginn des Kapitels schildert er die hoffnungslose Lage der deutschen Seite. Im letzten Absatz zieht Tichonov nochmals alle Register im Sinne der zeitgenössischen sowjetischen Literaturpolitik: Er weist darauf hin, dass sich Leningrad bereits im Prozess des Wiederaufbaus befinde, und beschwört die – wahrhaft sowjetpatriotische – Verbundenheit mit Stalingrad, welche in der Logik des 585 russ.: Za oboronu Leningrada

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Textes durch die Person Stalins zustande kommt. »Leningrad und Stalingrad – das sind große Beispiele des Stalin’schen Heerführergenies. […] [S]ie sind das Pfand des unsterblichen Ruhmes unserer Heimat, die in eine wunderbare Zukunft geht unter der Führung des großen Stalin.«586 Inhalte In der Person Tichonovs und in seinen historiographischen Texten werden einige Besonderheiten der Historisierung der Belagerung auf eindrückliche Weise deutlich. Zum einen zeigt sich, wie sehr das Paradigma des Sozialistischen Realismus eben nicht nur in der Literatur und Kunst, sondern auch im historischen Gedenken und in der Historiographie wirksam wurde. Es schlug sich nicht nur vehement auf Inhalte nieder sondern beeinflusste die entstehenden Geschichtsbilder auch strukturell. In der Person Tichonovs wird deutlich, was die veränderte Rolle der Intellektuellen für weitreichende Folgen hatte. Tichonov verkörperte in einer Person einen lokalen Parteifunktionär und ehemaligen Soldaten bzw. später den Abgeordneten des Obersten Sowjet, der mit militärischem Hintergrund gleichzeitig Literaturpolitik an höchster Stelle im Schriftstellerverband betrieb. Selber verfasste er sowohl literarische als auch historiographische Texte. Diese neu entstehenden historiographischen Konzeptionen vertrat er auch persönlich, wie bei seinem Vortrag in Moskau. Gleichzeitig war er Zeitzeuge der Belagerung Leningrads. In seinem Vortrag nimmt Tichonov bereits einige Grundlinien späterer Stalin’scher Maximen vorweg. Er versteht es meisterhaft, die Grundsätze des Sozialistischen Realismus zu bedienen. Zur gleichen Zeit reproduziert er jedoch auch Elemente des Leningrader Lokalpatriotismus, die in den Arbeiten anderer Autoren später massiv kritisiert werden sollten. In den historiographischen Grundlinien hat die von Tichonov vertretene Konzeption viele Gemeinsamkeiten mit den in Kap. III behandelten Ansätzen von Aleksej Kuznecov. Wie Kuznecov beschreibt auch Tichonov als Ursache für die Belagerungsstrategie der Deutschen deren Scheitern bei der Einnahme Leningrads. Die Tatsache, dass es überhaupt zu einer Belagerung der Stadt kam, wird also bereits als Erfolg der Roten Armee eingestuft: »Da setzten die Deutschen ihre Hoffnungen in die Hungerblockade Leningrads. Sie entschieden, dass der harte Winter, die Schwierigkeiten der Versorgung der Stadt und der Truppen Leningrad in eine ausweglose Lage bringen würden. Das, was wir nicht mit dem Sturm, Beschießungen und Bombardierungen erreichen konnten, dachten die Deutschen, das wird durch die Knochenhand des Hungers erreicht. Die Deutschen kannten die Leningrader schlecht.«587 586 Ebenda, S. 30. 587 Ebenda, S. 10.

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Diese Einschätzung stimmt mit den von Kuznecov vertretenen Motiven überein. Sogar die Formulierung von der »Knochenhand des Hungers« wird von beiden in diesem Zusammenhang benutzt. Zu dieser gemeinsamen historiographischen Konzeption gehört auch die Einstufung Leningrads als erster Kriegsschauplatz Europas, an dem Hitler gestoppt wurde.588 Diese Schwerpunktsetzung bildet einen deutlichen Unterschied zu Stalins Interpretation, der in seinem Konzept der ›zehn Schläge‹ die besondere Bedeutung des Kriegsschicksals der Stadt Leningrad in deren Befreiung von der Belagerung, dem ›ersten Schlag‹ seines Schemas, sah. Tichonov nennt als Ursache des besonderen Interesses der Deutschen an der Einnahme Leningrads ihren »Hass auf alles Russische«589. In den Augen der Gegner spricht er ihr damit keine besondere politische Bedeutung, sondern nationale Bedeutung zu. David Brandenberger hat die Gleichsetzung von ›russisch‹ mit ›sowjetisch‹ als ideologische Besonderheit des »Nationalbolschewismus« der späten Stalinzeit beschrieben. Damit wurde die Erfahrung des Krieges zur russischen Erfahrung stilisiert.590 Leningrad-Patriotismus Brisanz und lokalpatriotische Färbung der von Tichonov vertretenen Geschichtsbilder treten besonders deutlich an den Stellen im Text hervor, an denen die Leningrader Bevölkerung mit ihren Leistungen und Eigenschaften verallgemeinernd dargestellt und in Bezug zu ihrer Stadt gesetzt werden. Dabei ist dem Autor offensichtlich durchaus bewusst, dass die Darstellung der Leningrader und Leningraderinnen als außergewöhnliche oder besonders standhafte Sowjetbürgerinnen und -bürger möglicherweise zu ideologischen Problemen führen kann. Er schreibt: »Wir wissen: In verschiedenen Gegenden unserer Heimat – in der Ukraine, Stalingrad, Weißrussland und im Kaukasus – überall wo man riesige Opfer bringen musste, fanden die Leute die Kraft zum moralischen und kämpferischen Widerstand, ich kann also nicht die Leningrader auf eine besondere Stufe des Heroismus stellen, aber dennoch gab es Besonderheiten in den Leningrader Verhältnissen.«591

In Tichonovs Argumentation lassen gerade diese besonders schwierigen Verhältnisse es als gerechtfertigt erscheinen, der Leningrader Bevölkerung trotzdem eine Sonderrolle zuzuschreiben. Dabei distanziert er sich vehement von der vorrevolutionären Geschichte der Stadt und damit auch von den Einwohnern 588 589 590 591

Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 3. Vgl. Brandenberger (2002): National Bolshevism (wie Anm. 107), S. 196. Tichonov (1944): Geroicˇeskij Leningrad (wie Anm. 582), S. 12.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

des alten Petersburg und macht die revolutionäre Vergangenheit und die Person Lenins zum Bezugspunkt in der Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner : »In Leningrad wurden mit neuer Kraft die besten Traditionen fortgesetzt. […] Der Leningrader Arbeiter, ein äußerst freiheitsliebender Mensch und Meister – war Lenin etwa nicht vor ihm aufgetreten, noch in der Zeit der ersten revolutionären Zirkel […]?! Der Charakter des Leningraders ähnelt nicht dem Charakter des von uns entfernten Peterburgers aus Peters Zeiten. Er ist wie neu geformt, er hat nichts von einem Menschen der alten Zeit und alles von dem fernen Arbeiter […].«592

In Tichonovs Darstellung wird die Leningrader Bevölkerung durch ihre Zeitzeugenschaft der Revolution zu einer ideologisch besonders weit entwickelten Spezies des Sowjetmenschen stilisiert, die diese spezielle Grundqualifikation während der Herrschaft Stalins noch erweitert hatte. Die Leningrader hätten das Gefühl des »Patriotismus« und des »Kollektivismus« in der »Stalin’schen Schule des Heroismus« bis zur Vollendung entwickelt.593 Mit diesen Ausführungen schafft Tichonov eine Art ideologisches Hintertürchen, das es ermöglicht, die Leningrader ideologisch unverfänglich, da mit der Autorität von Lenin und Stalin abgesichert, trotzdem als besonders heroisch darzustellen. Dieselbe Vorgehensweise lässt sich bei der Behandlung der lokalen Akteure feststellen. Zˇdanov, den Tichonov als »Leiter der Verteidigung Leningrads« einstuft, scheint auf einer Stufe und auf einer Rednerliste mit Lenin zu stehen: »In dem Saal, wo vor einem Vierteljahrhundert Lenin gestanden hatte und eine neue Ära im Leben Russlands verkündete, klangen die Worte eines Vortrags und der Saal begrüßte mit stürmischem Applaus den Auftritt des Leiters der Verteidigung Leningrads, des Genossen Zˇdanov.«594

Auch die Erwähnung des Stalin’schen Heerführergenies, mit der der Vortrag schließt, verbirgt nicht, dass Tichonov als zentrale Akteure der Verteidigung Leningrads die Leningrader Parteifunktionäre ansieht. Hunger Ein weiterer Bereich der historiographischen Konzeption Tichonovs, der besondere Beachtung verdient, ist seine Sichtweise auf den Hunger in der Stadt und das Leiden der Menschen. Wie bereits beschrieben, verortet der Autor die Hungersnot in der Stadt in der Chronologie als »Hungerblockade«. Er stellt sie wie Kuznecov als eigene Periode der Belagerung dar. Trotz dieser Gemeinsamkeiten im chronologischen Aufbau lassen sich jedoch auch Unterschiede zwischen Tichonovs und Kuznecovs Konzeptionen feststellen. Generell ist die Be592 Ebenda, S. 25. 593 Ebenda, S. 26. 594 Ebenda, S. 18.

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schreibung des Hungers in der Stadt im Unterschied zu Beschreibungen militärischer Handlungen von äußerster Sachlichkeit geprägt: »Das Leben in der Stadt wurde mit jedem Tag schwerer. Die Lebensmittelration war außerordentlich knapp. Lebensmittel und Brennstoffe wurden nicht hergestellt. So sehr auch an Brennstoffen gespart wurde, die Vorräte schrumpften mit jedem Tag. Es gab eine Zeit, in der ein Teil der Bevölkerung – Angestellte und Familienmitglieder – 125 gr. Brot mit einer 30-prozentigen Beimischung von Austauschstoffen erhielten. Der Hunger begann. Mit ihm kamen Skorbut und Dystrophie.«595

Diese nüchterne Beschreibung verzichtet darauf, das Leiden der Menschen direkt zu benennen und seine Ausmaße festzuhalten. Wie andere zeitgenössische Dokumente des öffentlichen Gedenkens macht auch dieser Text keine Angaben zur Anzahl der Hungeropfer. Die Tatsache, dass vieles nicht erwähnt oder öffentlich behandelt wurde, wird bei Tichnonov zur Tugend. Je unbemerkter ein Tod eintrat, desto heldenhafter ist er in der Logik des Textes gewesen.596 Zweifel am Handeln der verantwortlichen politischen Führer oder zumindest eine Argumentation, die die Notwendigkeit der geringen Lebensmittelrationen rechtfertigte, so wie bei Kuznecov, kommen in Tichonovs Moskauer Vortrag nicht vor. Vielmehr werden die Hungeropfer eindeutig als gerechtfertigt eingestuft: »Die Leningrader, die der Hungerblockade zum Opfer fielen, starben für Leningrad. Ihre Ehrengräber sind durch Kampf und Sieg der großen Stadt gerechtfertigt.«597

In diesem Unterschied in der Darstellung der Hungersnot erschließt sich die jeweilige Handlungsperspektive des Autors: Die Versorgungssituation der Bevölkerung fiel, zumindest am Rande, in den Verantwortungsbereich Kuznecovs. Er war unmittelbar an den diesbezüglichen Entscheidungen beteiligt. Daher zeigt sich in seiner Darstellung eine andere Haltung zu dieser Frage als in der Darstellung Tichonovs. Dessen Aufgabe als Literaturfunktionär bestand vielmehr darin, dafür zu sorgen, dass die Entscheidungen der Leningrader Parteielite als über jeden Zweifel erhaben erschienen. Im Krieg gestählt: die Leningraderinnen Ein letzter thematischer Bereich, der hier betrachtet werden soll, ist die Darstellung der Frauen im belagerten Leningrad. Analog zu anderen zeitgenössischen Darstellungen erscheint in Tichonovs Moskauer Vortrag die Leningraderin als besonders edle, heldenhafte und opferbereite Variante der Sowjet595 Ebenda, S. 11. 596 Ebenda, S. 12. 597 Ebenda, S. 12.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

frau.598 Die Ausführungen zu diesem Thema beschäftigen sich vorwiegend mit der Aufzählung aller möglicher Bereiche und Situationen, in denen Frauen in der belagerten Stadt tätig gewesen seien. Wie in der Darstellung Kuznecovs stehen hier insbesondere solche Bereiche im Vordergrund, die nicht den traditionellen weiblichen Rollenbildern entsprechen. Auch die Verortung der Arbeit von Frauen innerhalb der Chronologie entspricht den Darstellungen Kuznecovs: Das Thema wird besonders ausführlich im Zusammenhang mit dem Frühjahr und dem Sommer 1942 behandelt, als die Säuberung der Stadt Leningrad nach dem Hungerwinter und der Anbau von Gemüse in der Stadt für den nächsten Winter zu wichtigen Aufgaben wurden. Besonders plastisch werden Tichonovs Ausführungen da, wo einzelne Frauen und ihre Heldentaten beschrieben werden. Hier werden vor allem Feldkrankenschwestern genannt, die in die Kampfhandlungen eingriffen. Die zivilen Tätigkeiten von Frauen werden ohne Beispiele abstrakt beschrieben. Frauen, die sich an Kampfhandlungen beteiligten, werden hingegen namentlich genannt und bekommen in der ausführlicheren Beschreibung ihrer Taten ein Gesicht. Auch in der Beurteilung weiblichen Handelns hat in dieser Darstellungsweise der Kampf eine vorrangige Bedeutung vor zivilen Aufbau- und Versorgungstätigkeiten. Gesonderte Aufmerksamkeit widmet Tichonov den neuen Berufen, die Frauen während des Krieges erlernten. Diese Erscheinung, die ja mit dem Fehlen der Männer an ihren Arbeitsplätzen begründet war, bezeichnet Tichonov als »die Schule des Patriotismus«, die die Leningraderinnen »mit der Medaille ›Für die Verteidigung Leningrads‹ abschlossen«599. Ähnlich wie bei dem von Tichonov vertretenen Stereotyp der Leningrader, die durch die besonderen Umstände in der Stadt den Status besonderen Heldentums erlangten, wird hier auch bezüglich der Leningraderinnen eine Perspektive eingenommen, in der die Härten der Kriegserfahrung quasi zum Lehrmeister stilisiert werden. Nur unter diesen besonders harten Umständen konnten sich in diesem Darstellungsparadigma die besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten der Leningrader Frauen vollends entfalten: »[…] [I]m Frieden waren die Leningrader Frauen keine Heldinnen. Sie wurden dazu. Sie überwanden nicht nur äußere Schwierigkeiten: sie überwanden vieles Persönliche, Unnötige, Kleinliche, sie erhoben sich über ihre persönlichen Verluste und ihren Kummer, über persönliche Tragödien und familiäre Bindungen, aber sie töteten in sich nicht die Menschlichkeit ab. Sie erhoben sie. Das Leiden durchglühte sie mit seinem Feuer, aber ihr Herz versteinerte nicht und verkohlte nicht. Es wurde gestählt. Wenn sie sich das Weinen abgewöhnten, heißt das nicht, dass sie kein Mitleid mehr kannten. Sie 598 Vgl. Kap. II.3.1. 599 Ebenda.

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begannen es tiefer zu fühlen. Sie befreiten sich nur vom Mitleid für den verhassten Feind.«600

Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Stereotyp des Leningraders und der Leningraderin liegt in der Tatsache, dass für das weibliche Bild der Revolutionsmythos keine Rolle spielt. Interessanterweise wird im Zusammenhang mit den Leningrader Frauen der Vorkriegszeit keineswegs ihre revolutionäre Vergangenheit assoziiert. Der Fokus der Darstellung liegt vielmehr auf ihrer Weiblichkeit, deren Manifestationen eingeteilt werden in »unnötige, kleinliche« und wahrhaft wichtige, wie das Mitleid mit anderen (ihren Männern), die durch die Feuerprobe des kriegsbedingten Leidens erst richtig zur Geltung und Entfaltung kommen. Gerade an dieser Textstelle schlägt der Ton um: Er bleibt nicht bei einer reduzierten Sachlichkeit der Darstellung, sondern erreicht beinahe literarische Qualität. Unter der Kategorie der weiblichen Kleinlichkeiten werden auch große persönliche Verluste (verhungerte und getötete Familienangehörige) verbucht. Gerade hier wird deutlich, wie in der ideologischen Verbrämung das Leiden und die Kriegstraumatisierung, die viele der Überlebenden bis an ihr Lebensende zeichnen sollten, unversehens zur Tugend stilisiert wurden. Diese propagandistische Umkehrung blieb auf lange Zeit kennzeichnend für die offizielle Linie in der Behandlung der Blockade.601 »Die neue Klassik«: Prosa und Publizistik Neben den programmatischen und konzeptionellen Beiträgen, die Tichonov zur Historisierung der Belagerung Leningrads leistete, stehen seine literarischen Texte, die er gemäß den von ihm vertretenen Prinzipien verfasste und die weite Verbreitung fanden. Kennzeichnend für die Herangehensweise Tichonovs an den »titanischen Epos«602, als den er die Belagerung beschreiben wollte, sind zahlreiche Bezüge zu Motiven aus antiken Heldensagen. Ein zeitgenössischer Literaturkritiker sieht in den Arbeiten Tichonovs, ganz im Sinne des Autors selber, die »Klassik unserer Zeit, die von den sowjetischen Menschen geschaffen wird«.603 Das Motiv des Heldentums ist für diese Texte bestimmend. Von besonderem Interesse ist der Zyklus seiner Leningrader Erzählungen, die sowohl unter dem Titel »Charakterzüge des Sowjetmenschen«604 als auch unter dem 600 Ebenda, S. 17. 601 Krylova hat darauf hingewiesen, dass die Rolle der Frauen in der Nachkriegsliteratur insbesondere darin gesehen wurde, die Männer zu heilen und zu ergänzen (auch im wörtlichen Sinne, ihre verlorenen Körperteile zu ersetzen). Dabei wurde die Traumatisierung der Frauen selber verdrängt und blieb unausgesprochen. Vgl. Krylova (2001): Healers of (wie Anm. 95), S. 330. 602 Tichonov (1947): Pobeda! (wie Anm. 341), S. 203. 603 E˙ventov (1944): Voennaja Proza (wie Anm. 574), S. 99. ˇ erty sovetskogo celoveka 604 russ.: C

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Titel »Leningrader«605 in leicht abgewandelten Zusammenstellungen erschienen. Die skizzierten Figuren entstammen der Leningrader Zivilbevölkerung. Jeder einzelne dieser kurzen literarischen Texte stellt eine auf den ersten Blick ganz gewöhnliche Figur vor, die sich unter den schwierigen Bedingungen der Belagerung heldenhaft verhält. Bei dem Versuch, die Heldenhaftigkeit seiner Figuren mit den Mitteln des Sozialistischen Realismus darzustellen, geht Tichonov nicht selten der Realitätsbezug und die Schlüssigkeit der Erzählung verloren. Die Protagonisten wirken ungewollt komisch und die Situation absurd. Die Erzählung »Menschen auf dem Floß«606 zeigt beispielsweise einen ertrinkenden Fotografen, der beim Beschuss eines Schiffes im finnischen Meerbusen Schiffbruch erleidet. Er entdeckt in seiner Nähe ein Floß mit weiteren Personen. In einer Szene taucht der bereits halb ertrunkene Fotograf neben dem Floß auf und spricht die darauf befindlichen Personen an: »Er fragte, wie ihm schien mit donnernder Stimme, um den Schrei der Frau zu übertönen […]: ›Wer ist hier Kommunist?‹ Der ihm am nächsten befindliche Mann sah ihn direkt, von oben bis unten an und sagte: ›Ich…‹ und streckte die Hand aus, um dem Fotografen auf das Floß zu helfen. ›Was ist denn, Genosse‹, sagte der Fotograf langsam, ›die Frau schreit so, sie müssen sie doch beruhigen […].‹«607

Der Autor gesteht seiner Figur keinerlei normale menschliche Regung im Angesicht des Todes zu. Einzig über den Verlust seines Arbeitsinstrumentes, eines Fotoapparates der Firma Leica, ist der Mann so betrübt, dass er Tränen vergießt. In einer anderen Erzählung desselben Zyklus werden Mutter und Tochter beschrieben, die sich zu Fuß auf den Weg aus der Stadt an die Leningrader Front machen, um ihren Sohn beziehungsweise Bruder aufzusuchen. Mit welchem Ziel dies geschieht und beide sich in Gefahr begeben, bleibt bis zum letzten Satz unklar. Nachdem die Mutter ihren Sohn aus der Ferne im Kampf beobachtet und mit seinen Kameraden gesprochen hat, erklärt sie ihrer Tochter : »Olja, – sagte sie, nachdem sie geschwiegen hatte – jetzt bin ich ruhig. Meine Seele ist ruhig. Ich hatte Angst, dass er nicht in den Kampf gehen kann, dass er schwach ist und schlecht sieht – ich entschied mich, nachzusehen. Ich habe nachgesehen. Mein Sohn kämpft wie alle. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Gehen wir nach Hause.«608

605 russ.: Leningradcy ˇ erty sovetskogo cˇeloveka. 606 Tichonov, N. S.: Ljudi na plotu, in: Tichonov, N. S. (Hg.): C Leningradskie rasskazy. Moskva, 1945, S. 3 – 7; russ.: Ljudi na plotu 607 Ebenda, S. 5. ˇ erty sovetskogo cˇeloveka. Leningradskie 608 Tichonov, N. S.: Mat’, in: Tichonov, N. S. (Hg.): C rasskazy. Moskva, 1945, S. 12 – 16, hier 16.

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Nicht die mütterliche Sorge um das Wohlergehen ihres Kindes, sondern die Angst, dass der schwache Sohn versagen könnte, bewegen die Mutter in diesem Text. Obwohl viele der Erzählungen im Winter 1941 / 42 während der Leningrader Hungersnot spielen, gelingt es Tichonov, das Thema des Hungers nur sehr subtil zu behandeln bzw. auszublenden. Nur in zwei der zehn Erzählungen kommen offensichtlich vom Hunger geschwächte Figuren vor. Dies sind allerdings alte Männer, deren Schwäche auch im Zusammenhang mit ihrem hohen Alter steht. So in der Geschichte »Der alte Soldat«609 : »Die Schlacht zog sich in die Länge. Der Feind blieb vor den Mauern Leningrads liegen. Der Winter kam. Im Haus wurde es kalt und dunkel. Schwach prasselnd brannten im kleinen Öfchen feuchte Späne. Dem Alten ging es von Tag zu Tag schlechter. Er lag unter der alten zerknitterten Decke und das ganze Leben zog an ihm vorüber. Es war ein langes, arbeitsreiches und interessantes Leben und wenn nicht die Jahre und die Entbehrungen gewesen wären, hätte er noch lange leben können.«610

Ursachen für die Krankheit des alten Mannes sind beides: sein Alter und »die Entbehrungen«. An anderer Stelle wird beschrieben, wie seine Tochter den Alten mit Suppe füttert. Nur durch die Kraft der guten Nachricht, dass Moskau gerettet sei, lebt der Mann jedoch auf. Er beginnt wie durch ein Wunder körperlich zu arbeiten. Die Figuren Tichonovs zeigen ›Neue Menschen‹, die kraft ihrer ideologischen Einsichten und ihres Patriotismus erhaben sind über Regungen wie Schmerzen, Angst, mütterliche Sorge um die Unversehrtheit ihrer Kinder, Schwäche und Hunger. Die Protagonistinnen und Protagonisten werden als Handelnde gegen ihre menschlichen und normalen Instinkte und Regungen geschildert. Ihr Heldentum besteht darin, diese zu überwinden. In diesem Ideal ist das Stereotyp des Leningraders mit dem des Sowjetmenschen verschmolzen. Ein weiteres Betätigungsfeld Tichonovs, in dem sich ideologischer und literarischer Anspruch Tichonovs verbinden, ist seine journalistische Arbeit. Als ein Beispieltext für diese Gattung soll der Artikel »Sieg! Leningrad im Januar«611 vom 30. Januar 1944 kurz charakterisiert werden. Tichonov beschreibt darin die Stimmung in Leningrad und an der Front vor und während der entscheidenden Kämpfe um die Befreiung der Stadt. Gerade der Abschluss dieses Artikels zeigt, wie es mit literarischen Mitteln möglich war, im Sinne der Stalin’schen Maximen über Leningrad im Krieg zu schreiben. In einem Szenario, das in der nahen Zukunft verortet ist, verbindet Tichonov die Freude über den Sieg bei Leningrad mit dem Motiv der Freundschaft zwischen den Städten Leningrad und Moskau. 609 russ.: staryj voennyj ˇ erty sovetskogo cˇeloveka. Le610 Tichonov, N. S.: Staryj voennyj, in: Tichonov, N. S. (Hg.): C ningradskie rasskazy. Moskva, 1945, S. 17 – 20, hier 18. 611 Tichonov (1947): Pobeda! (wie Anm. 341).

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Er beschreibt eine Begrüßungsszene in Leningrad am Bahnhof. Sie spielt, nachdem der erste direkte Zug aus Moskau über die wiederhergestellte Bahnverbindung eingetroffen ist: »Wie viele Umarmungen, wie viele Rufe, wie viel Begeisterung und unendliche Freude! Freunde umarmen sich wie Kampfgefährten: Und durch die Straßen, in denen nie ein Feind gegangen ist, gehen Moskauer und Leningrader, um der ganzen Welt ihre große Bruderschaft zu zeigen, die schreckliche Prüfungen überdauerte, aus denen sie als Sieger hervorgingen. Und gemeinsam nennen sie über der freien, unbesiegbaren Neva, in der Stadt Lenins, den Namen ihres Freundes und Führers, des Siegers über die Feinde des Vaterlandes, Befreiers der Völker, den geliebten und großen Namen: Stalin! Sie nennen ihn mit aller Hingabe treuer Söhne der Heimat und mit Sohnesliebe.«612

Geschickt wird hier die Einigkeit zwischen Moskau und Leningrad so beschworen, dass sie als unabdingbare Grundlage für den positiven Ausgang der Belagerung erscheint. Der Name Stalins wird zum Symbol der Freundschaft und Einigkeit zwischen Leningradern und Moskauern. Er persönlich hat die Befreiung Leningrads ermöglicht und wird zur zentralen Figur in dem beschworenen Bild des Friedens. Die Textstelle zeigt, dass für die Vermittlung von Vorstellungen über die historischen Zusammenhänge und von propagandistischen Motiven gerade das literarische Genre besonders geeignet war. Ein wesentlicher Bestandteil erfolgreicher Propaganda war die emotionale Stimulierung der Bevölkerung. Diese Aufgabe konnte von Literaten wie Tichonov häufig besser erfüllt werden als von Vertretern der politischen Eliten. Darin mag die besondere Bedeutung der Blockadeliteratur liegen. In der künstlerischen Freiheit verbarg sich jedoch andererseits ein Potenzial für ›ideologische Fehler‹.

3.2.

Vera Inber

Leningraderin aus Moskau oder Moskauerin in Leningrad? Vera Inber, von Zeitgenossen aufgrund ihrer Verbundenheit zum BlockadeThema nicht ohne Ironie als »unsere Leningraderin aus Moskau«613 bezeichnet, wurde 1890 in Odessa in einer der Intelligenzija zugehörigen Familie geboren und starb 1972 in Leningrad. Sie begann ihre literarische Karriere als Dichterin und brachte ihren ersten Gedichtband »Pecˇal’noe vino« 1914 im Selbstverlag in Paris heraus.614 Ab 1922 lebte Vera Inber in Moskau und schloss sich der konstruktivistischen Litera612 Ebenda, S. 204. 613 Prokof’ev prägte diese Bezeichnung auf der Plenarsitzung des SSP im Mai 1945. 614 1917 und 1922 folgten weitere Gedichtbände: »Gor’kaja uslada« und »Brennye slova«.

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turrichtung an. Gerade diese frühe Phase ihres Schaffens wird von der westlichen und von der sowjetischen Literaturkritik gegensätzlich bewertet. Kasack stellt fest, Inber habe ihre Karriere als begabte Dichterin begonnen, aber ihr Talent in dem Versuch verloren, sich dem System anzupassen.615 Kelly sieht in ihr ein typisches Beispiel für eine angepasste Schriftstellerin, die aus Angst und dem Unwillen, auf Bequemlichkeiten zu verzichten, gemeinsame Sache mit Staat und Partei machte.616 Die ihr zeitgenössische sowjetische Literaturwissenschaft sieht den Wert der literarischen Arbeit Inbers gerade in ihrer ideologischen Verbrämtheit. Erst durch ihre ›Bekehrung‹ zum Kommunismus habe sie »fehlerhafte Einflüsse abschütteln« können um sich »schrittweise die einheitliche Methode aller sowjetischen Literatur an[zu]eignen – die Methode des Sozialistischen Realismus«.617 In ihrer kurzen Autobiographie, die Vera Inber 1952 verfasste, schließt auch sie selber sich dieser Darstellungsweise ihrer künstlerischen Biographie an. Ihr Frühwerk bezeichnet sie dabei als die »immer selben ästhetischen, gekünstelten, lebensfernen Verse« und setzt den Beginn ihrer »wirklichen Biographie« auf das Jahr 1923.618 Durch die sowjetische Literaturkritik wurde sie zum Paradebeispiel der ›guten Intellektuellen‹ stilisiert, die sich trotz anfänglicher Schwierigkeiten, die ihrer Herkunft aus der bürgerlichen Intelligenzija zugeschrieben werden, zu einem nutzbringenden Mitglied der neuen Gesellschaft und letztendlich selber zu einem ›Neuen Menschen‹ entwickelte.619 Ihr Biograph und Kritiker Grinberg bewertet diese Haltung 1961 wie folgt: »Die Erfahrung Inbers ist deshalb besonders wertvoll, weil sie vieles revidieren und neu überdenken und sich beharrlich von schlechten Einflüssen befreien, beharrlich die Schönheit und Edelkeit einer ihr vorher unbekannten Welt erfassen musste. Die große Schule der revolutionären Wirklichkeit machte sie zu einer selbständigen und originellen Dichterin; der Anschluss an das Leben des Volkes, an die Heldentat des Volkes weckte in ihr Gefühle, die sie selber früher vielleicht nicht einmal vermutet hätte.«620

Zu einem zentralen Thema in Inbers Werk wurde dann auch die ›Bekehrung‹ der vorrevolutionären Intelligenzija und ihre Anpassung an die Verhältnisse im neuen sowjetischen Staat. Ein Tribut an die sowjetische Ideologie waren beispielsweise ihre literarischen Arbeiten zu Lenin, allen voran das Gedicht »Fünf 615 Inber, Vera Michajlovna, in: Kazak, V. (Hg.): Leksikon russkoj literatury XX veka. Moskva, 1996, S. 167, hier 167. 616 Kelly, C.: A History of Russian Women’s writing 1820 – 1992. Oxford, 1994, S. 235. 617 Tarasenkov, A. K.: Tvorcˇeskij put’ Very Inber : Vera Inber. Izbrannye proizvedenija v dvuch tomach. Moskva, 1954, S. 5 – 33, hier 12. 618 Inber, V.: Kratkaja avtobiografija: Izbrannaja proza. Moskva, 1952, S. 3 – 6, hier 4. 619 Vgl. Usievicˇ, E.: O nekotorych cˇertach tvorcˇestva Very Inber, in: Znamja (1945), 12, S. 193 – 201. 620 Grinberg, I.: Vera Inber. Moskva, 1961, S. 8.

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Nächte und Tage«621, das sie zum Tod Lenins 1924 verfasste. Zwischen 1924 und 1926 lebte Vera Inber im Ausland und war als Auslandskorrespondentin in Berlin, Brüssel und Paris tätig. Wie Nikolaj Tichonov war auch Vera Inber eine Literaturfunktionärin. Auch sie war vor der Gründung des Schriftstellerverbandes Gründungsmitglied der Schriftstellervereinigung der Roten Armee LOKAF.622 Als Mitglied der Leitung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes war sie in der Auswahlkommission für neue Mitglieder vertreten und arbeitete im Verlag des Schriftstellerverbandes »Sovetskij pisatel’« sowie in der Redaktion von Znamja, der Zeitschrift des Moskauer Schriftstellerverbandes, mit.623 Trotz ihrer politischen Angepasstheit gab es in der Karriere Vera Inbers auch Ansätze zur Auseinandersetzung mit sowjetischen literarischen Dogmen. Auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 kritisierte sie beispielsweise das Schema des ausschließlich positiven Helden: Diese wirkten wie »Roboter« und die sowjetischen Schriftsteller müssten sich vor »Abstraktheit und Schematismus« hüten.624 Die Kriegsjahre, die Vera Inber mit ihrem Mann, dem Arzt Ilja Davidovicˇ Strasˇun, der als Leiter eines Krankenhauses in die Stadt berufen worden war, in Leningrad verlebte, wurden zum Höhepunkt ihrer Karriere als Schriftstellerin. Das Poem »Pulkovskij meridian« und Inbers Blockadetagebuch »Fast drei Jahre«625 spiegeln den Versuch, auch den Alltag der Zivilbevölkerung während der Belagerung darzustellen. Mit ihrer Kriegsliteratur erlangte Vera Inber schließlich große offizielle Anerkennung: 1946 wurde ihr der Stalinpreis der 2. Kategorie für »Pulkovskij meridian« und auch für das Leningrader Tagebuch verliehen. In ihre Leningrader Zeit fällt auch ihre Aufnahme in die VKP (b) im Jahr 1943. Später bezog sie sich gerade auf diese Periode, um ihre eigene politische Vollkommenheit zu unterstreichen. So beispielsweise auf einer öffentlichen Veranstaltung zur Aburteilung Pasternaks im Jahr 1958: »Ich wurde in den Tagen des Großen Vaterländischen Krieges zur Leningraderin. Die ganze Blockade verbrachte ich an der Neva, in der Stadt Lenins. Mein Patriotismus ist gut bekannt, so gut ich konnte habe ich ihn im Poem ›Pulkovskij meridian‹ und in dem Buch ›Pocˇti tri goda‹ ausgedrückt. Für diese Werke wurde ich mit dem Staatspreis ausgezeichnet. Warum ich heute darüber spreche? Weil Pasternak nicht bei uns in den Reihen der kämpfenden Schriftsteller war. Er ruhte sich friedlich aus, zuerst auf der 621 russ.: Pjat’ nochej i dnej 622 Vechnaja molodost’ serdca. K 90-letiju so dnja rozˇdenija V.M.Inber, in: Znamja (1980), 7, S. 242 – 244, hier 243. 623 Ebenda, S. 244. 624 Kasper, K.: Russische Prosa im 20. Jahrhundert. Eine Literaturgeschichte in Einzelporträts. München, 1993, S. 396. 625 russ.: Pocˇti tri goda

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ˇ istopol. […] Seine Poesie ist mir Datscha in Peredelkino, dann in der Evakuation in C fremd, weil sie gegen die Partei ist.«626

Der Opportunismus und die politische Linientreue Vera Inbers, die sich auch gegen ihre Schriftstellerkollegen richtete, brachten ihr vor allem außerhalb der Sowjetunion harte Kritik ein. So berichtet der Journalist Gendlin, der diesen Redebeitrag in einem 1986 in Amsterdam erschienenen Buch mit Erinnerungen an berühmte Vertreter des sowjetischen kulturellen Lebens überlieferte, sie habe ihm bei einem Interview elf Jahre nach der Ächtung Pasternaks ihre Verehrung für diesen beteuert. Auf seine abschließende Frage, ob sie jemals aufrichtig gewesen sei, habe sie sich geschüttelt »wie ein verwundeter Vogel« und darauf bestanden, dieses »schrecklichste Bekenntnis mit sich in die Ewigkeit« zu nehmen. Gleichzeitig verwies sie darauf, dass ihr ihre Verwandtschaft mit Trockij627 »ewige Angst eingeflößt« habe.628 Gerade in ihrer ›unsowjetischen‹ Herkunft sieht Jochen Hellbeck die Ursache dafür, dass Inber in ihrer Arbeit zu »diaristic accounts of self-transformation«629 neigte. Dadurch, dass sie selbst und ihre literarischen Figuren ihre eigene Wandlung zum ›Neuen Menschen‹ unter Beweis stellten, entging Inber der drohenden gesellschaftlichen Marginalisierung. Durch die sowjetische Literaturkritik der Nachkriegszeit wurden Inbers Arbeiten zum ›Leningrader Thema‹ höchst kontrovers bewertet. Dabei ist einerseits immer wieder von der »Banalisierung«630 des ›Leningrader Themas‹ die Rede und davon, dass die Tagebuchaufzeichnungen »von der Oberfläche des Lebens genommen wurden, da die Autorin sich nicht die Aufgabe gestellt hat […], auf die Ereignisse aus der Geschichte herauszublicken, sondern nur aus dem Fenster ihres Hauses«.631 Vor allem die Darstellungen leidender und sterbender Menschen wurden wiederholt als untragbar eingestuft.632 Andererseits gibt es auch direkt nach dem Krieg bereits sehr positive Kritiken dieser Arbeiten. 626 Gendlin (1986): Perebiraja starye (wie Anm. 63), S. 191. 627 Lev Davidovicˇ Trockij war Mitglied des Militärrevolutionären Komitees und damit maßgeblich an der Planung und Durchführung der wichtigsten Abläufe während der Oktoberrevolution beteiligt. Er baute die Rote Armee auf. Bis zum Tode Lenins übernahm er wichtige Aufgaben in der Sowjetregierung, geriet jedoch nach 1924 immer mehr in Opposition zu Stalin und damit ins politische Abseits. Er wurde 1926 aus dem Politbüro, 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen und 1940 im Exil ermordet. Seit Stalin war Trockij in der sowjetischen Öffentlichkeit zur Unperson geworden. Vgl. Trockij, in: Torke, H. J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. München, 1993, S. 338 – 340. 628 Gendlin (1986): Perebiraja starye (wie Anm. 63), S. 196 f. 629 Hellbeck (2003): Working, Struggling (wie Anm. 110), S. 186. 630 Leningradskaja tema, in: Leningrad Jg. 1945, 7 – 8, S. 26 f, hier 26 f. 631 Zelinskij (1946): Vera Inber (wie Anm. 187). 632 Vgl. bspw. (1945): Diskussia o (wie Anm. 536), S. 27 sowie Zelinskij (1946): Vera Inber (wie Anm. 187).

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

So nennt Tichonov die Arbeiten Inbers als ein Beispiel dafür, dass die Not der Kriegsjahre manche Schriftsteller zu Höchstleistungen anspornte.633 Auch die Erstveröffentlichung des Tagebuchs in der Zeitschrift Znamja fand breiten Anklang und rief vielfältige positive Reaktionen bei den Lesern der Zeitschrift hervor.634 Kennzeichnend für die utilitaristische Haltung zum Kriegsgedenken ist allerdings, dass die Erinnerung an Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung und die drastische Offenheit, mit der Vera Inber diese beschreibt, nicht als Wert an sich, sondern höchstens als Mittel zum Zweck – der Darstellung der Heldenhaftigkeit der handelnden Personen – verstanden werden: »[…] [D]er Wert dieses Werkes besteht nicht nur in der Abbildung von Leiden und Schrecken, sondern auch darin, dass die Schriftstellerin die Geistesstärke und starke Moral der sowjetischen Menschen gezeigt hat, die sich über dieses Leiden erheben und es besiegen.«635

Gerade aufgrund der Diversität, mit der die Arbeiten Inbers zur Belagerung bewertet wurden, verwundert die Beständigkeit, mit der diese auch nach der Zeitschriftenverordnung in gleichbleibend hohen Auflagen erschienen, so beispielsweise eine Neuauflage des Blockadetagebuches 1947 mit einer Auflage von 100000 Exemplaren.636 Auch nach Stalins Tod erschienen weiterhin Sammelbände, die das Tagebuch und das Poem enthielten. Diese beiden Faktoren machen Vera Inbers Tagebuch zu einem sehr relevanten Medium des Gedenkens an die Belagerung Leningrads. Im Unterschied zu den historiographischen Texten, die insbesondere zur chronologischen Strukturierung der Leningrader Kriegsgeschichte beitrugen, finden sich hier besonders viele inhaltliche Motive und Symbole, die das Erleben der Belagerung durch die Bevölkerung in sich tragen. Von besonderem Interesse ist das Genre des privaten Tagebuchs auch deshalb, weil es zwar einerseits als Prosatext veröffentlicht und gelesen wurde, sich andererseits jedoch offensichtlich weniger als andere – literarische – Prosatexte an den Standards des Sozialistischen Realismus orientieren musste, da es sich mit realen Ereignissen und Personen beschäftigte, die ja nicht alle ›positive Helden‹ sein konnten. »Fast drei Jahre«: Das Blockadetagebuch Das unter dem Titel »Fast drei Jahre« veröffentlichte Tagebuch, das Vera Inber während ihrer Zeit in Leningrad kontinuierlich geführt hatte, umfasst den Zeitraum von ihrer Reise nach Leningrad, beginnend mit dem 22. August 1941, 633 634 635 636

Tichonov (1944): Sovetskaja literatura (wie Anm. 531), S. 12. Usievicˇ (1945): O nekotorych (wie Anm. 619), S. 193. Tarasenkov (1954): Tvorcˇeskij put (wie Anm. 617), S. 21. Knizˇnaja letopis’ 1947, Titel 10342.

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kurz bevor die Stadt völlig eingeschlossen wurde, bis unmittelbar vor ihrem Umzug zurück nach Moskau nach der Befreiung der Stadt, aber vor Kriegsende, im Juni 1944. Das veröffentlichte ›Tagebuch‹ beruht auf einer Vielzahl von Aufzeichnungen, die in einer Sammlung von zehn Notizbüchern überliefert sind, die Vera Inber während ihrer Leningrader Zeit nutzte. Erstmals wurden diese als ein ›Tagebuch‹, bereits unter ihrem späteren Titel in der Zeitschrift des Moskauer Schriftstellerverbandes Znamja im Februar 1945 zum Druck freigegeben, also kein Jahr nach den letzten veröffentlichten Einträgen. Für die folgende Abhandlung wurden diese Version des Textes und eine weitere, 1946 erschienene, benutzt. Wenn man den Text der Erstveröffentlichung mit den literarischen Beiträgen zur Leningrader Kriegsgeschichte vergleicht, die in Zvezda und Leningrad zur selben Zeit erschienen, so fällt auf, dass die Moskauer Abteilung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes dem Thema des Lebens und Sterbens der Zivilbevölkerung Leningrads während der Blockade wesentlich offener gegenüberstand als seine Leningrader Abteilung. Die Veröffentlichung der Beobachtungen Inbers, auch ihrer drastischen Schilderungen des Leidens und Sterbens in der belagerten Stadt, war gerade hier möglich, während die in der Zeitschrift Leningrad veröffentlichten Prosa-Texte, wie in Kap. IV.2.2. ausgeführt, sehr viel schematischer den Prinzipien des Sozialistischen Realismus entsprachen. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass aus Vera Inbers Tagebuchaufzeichnungen sehr wohl hervorgeht, dass sie und ihr Mann im Vergleich zu breiten Schichten der Bevölkerung eine durchaus privilegierte Stellung innehatten.637 Dies wird deutlich, aber nicht diskutiert. So lesen wir, wie an Silvester 1941 »die letzte Flasche vergorener Riesling«638 geöffnet wurde, wie Anfang Februar 1942 die Protagonistin für den Besuch einer zweitägigen Veranstaltung von der Krankenhausküche mit zwei Eiern und von ihrem Mann mit einer halben Tafel Schokolade ausgestattet wurde oder Ende März desselben Jahres ein reich gefülltes Paket des Moskauer Schriftstellerverbandes639 die Lebensmittelvorräte der Familie deutlich aufbesserte. Die Zugehörigkeit zum Milieu der privilegierten, gut ausgebildeten und deshalb nützlichen Intelligenzija kommt auch bezüglich anderer beschriebener Personen zum Tragen. So schreibt Inber über die bevorstehende Evakuierung eines Bekannten:

637 Goure weist 1973 in seiner Rezension der englischen Übersetzung des Tagebuchs darauf hin, dass dessen Besonderheit gerade in der spezifischen Perspektive der sowjetischen intellektuellen Elite zu sehen ist. Vgl. Goure, L.: Leningrad diary (Review), in: Slavic Review Jg. 32 (1973), 2, S. 391. 638 Inber, V.: Pocˇti tri goda. Leningradskij dnevnik. [Leningrad], 1946, S. 96. 639 Ebenda, S. 49.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

»Das ist alles nicht so einfach: Die Angst vor der Zukunft und die Liebe zur Stadt (wie kann man sie in einer solchen Zeit verlassen) und das Bewusstsein: wenn sie dich rausbringen wollen, heißt das, dein Land braucht dich. Und wie kann man nicht fliegen, wenn es einem schon angeboten wird.«640

Die hier dargestellte Abwägung, ob die Möglichkeit der Evakuation angenommen werden soll oder nicht, unterscheidet sich deutlich von der Argumentation der vom Istpart interviewten Hausfrauen. Nicht die Furcht davor, nach der Evakuierung nicht genug Mittel zum Überleben zu haben, sondern das Bewusstsein der eigenen Bedeutung steht hier im Zentrum und gibt letztendlich den Ausschlag, das Angebot anzunehmen. Existenzielle Furcht davor, die Stadt zu verlassen, kommt in der Überlegung nicht vor, vielmehr die Anerkennung des Angebots der Evakuierung auf dem Luftweg als verdientes Privileg. Körperlichkeit des Leidens und Sterbens Als Ehefrau des Leiters des 1. Medizinischen Institutes Leningrads, das am Erisman- Krankenhaus auf der Petrograder Seite angesiedelt war, war Vera Inber beinahe während der gesamten Belagerung ›kaserniert‹, das heißt sie lebte mit ihrem Ehemann in einem Zimmer direkt im Institut. Dies bedeutete auch, dass sie in besonderem Maße mit körperlichen Aspekten des Hungerns und Sterbens konfrontiert war. Diese werden immer wieder zum Gegenstand der Tagebucheintragungen. Ein Merkmal, das die Tagebuchaufzeichnungen Vera Inbers von anderen zeitgenössischen Prosatexten unterscheidet, ist der Einsatz des Mittels der literarischen Beschreibung mit keinem anderen Ziel als der möglichst genauen Widergabe der eigenen Wahrnehmung. Dabei liefern die eigenen Beobachtungen sozusagen Rohmaterial, das als Tagebucheintrag unreflektiert und unbearbeitet stehen bleibt, ohne unmittelbare Schlussfolgerungen. So dokumentiert sie beispielsweise die »Leichenhalle unter offenem Himmel«641, die sich Ende Dezember 1941 neben dem Hintertor des Krankenhauses etabliert hatte: »Die Toten in Laken, Tischdecken, in Flicken- oder Bettdecken, manchmal in Vorhängen. Einmal sah ich einen kleinen, scheinbar sehr leichten Leichnam eines Kindes in Packpapier, mit Bindfaden umwickelt. All das leuchtet unheilvoll auf dem Schnee. Manchmal ragt unter dem Leichnam eine Hand oder ein Bein hervor. In diesen bunten Stoffen birgt sich noch etwas, das an Leben erinnert, aber auch die Unbeweglichkeit des Todes. All das erinnert gleichzeitig an eine Schlacht und ein Nachtlager.«642

Im Tagebuch wird das Gesehene in seiner schrecklichen Absurdität in sachlichem Ton festgehalten. An die sachliche Beschreibung schließt die Suche nach 640 Ebenda, S. 40. 641 Ebenda, S. 45. 642 Ebenda, S. 45 f.

Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber

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literarischen Assoziationen an, die das Grauen plastischer, eindringlicher und greifbarer machen. Vera Inber hatte unmittelbar an den Vorgängen im Krankenhaus teil und stand im Kontakt sowohl mit bettlägerigen Hungernden als auch mit Verletzten. So beobachtete sie, wie »[…] zwei Frauen eine dritte in unser Krankenhaus zur Geburt [führten]. Sie ging, mit vorgewölbtem Bauch, gelb, mit blutigen Tränensäcken vom Skorbut, dünn wie ein Skelett und konnte kaum die Beine bewegen.«643

Auch diese nahezu diagnostische Beschreibung kommt im Tagebuch in einer Reihe mit anderen Beschreibungen Hungernder im Straßenbild vor. Ohne Überleitung, nur mit dem Halbsatz »Ich habe gesehen…« und ohne Schlussfolgerungen werden diese Anblicke des Hungers im belagerten Leningrad gleichsam konserviert. Besonders eindrucksvoll ist Inbers Beschreibung ihrer Beobachtungen im Sektionssaal und dem daran angeschlossenen Badezimmer : »Im ersten Zimmer lag auf dem Boden ein vollkommen entkleideter männlicher Leichnam. Ein Skelett wäre fülliger gewesen. Hier lag etwas, das offensichtlich nie ein Körper mit Blut und Muskeln gewesen war. In einer tiefen, trockenen Höhlung unter dem Schlüsselbein lag wie in einer Tasse ein Zettel mit dem Namen des Verstorbenen. Ich las ihn nicht. Die Augen des Toten waren geöffnet, das Gesicht mit einem solchen besonderen Leichen-Bärtchen bedeckt, das kein Rasierer entfernen kann. Grauenhaft ragte seine Nase. Im nächsten Raum standen in der Reihe einige Bahren: das waren männliche und weibliche Leichen. Die völlig gleiche unmenschliche Magerkeit nahm ihnen Alter und sogar Geschlecht.«644

Vor dem Hintergrund des in anderen Prosatexten weitverbreiteten Euphemismus der ›Entbehrungen‹ werden hier, ohne Beschönigungen, klinisch genau die Folgen des Hungers sichtbar gemacht. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die Tabuisierung bedenkt, mit der im Sozialistischen Realismus Körperlichkeit und Geschlecht belegt waren. Diese besondere Unmittelbarkeit der Darstellung und ihre Veröffentlichung lassen sich nur mit der Sonderstellung des Tagebuches als nicht wirklich literarischer Text erklären. »Sowjetische Menschen« neben Fehlorganisation und »Simulanten« Im Rahmen des Tagebuches »Fast drei Jahre« finden sich nicht ausschließlich Tagebucheinträge. An einzelnen Stellen werden journalistische Auftragsarbeiten wiedergegeben, die Vera Inber für die In- und Auslandspresse verfasste. Diese lassen die Unterschiede zwischen Vera Inbers ›offiziellen‹, zur unmittelbaren

643 Ebenda, S. 49. 644 Ebenda, S. 56 f.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Publikation in der sowjetischen und ausländischen Presse bestimmten Texten und ›informellen‹ Tagebucheinträgen deutlich werden. In den journalistischen Beiträgen Inbers finden sich weitaus stilisiertere ›positive Helden‹ als in den Tagebucheinträgen. Ein Beispiel hierfür ist ein von Inber porträtierter 20-jähriger sowjetischer Flieger mit der Hündin »Göbbels«, die sich »servil zu seinen Füßen ausstreckte«645. Die besonderen Leistungen des jungen Fliegers werden ausführlich beschrieben. Er hatte nicht nur eine besonders große Anzahl an abgeschossenen feindlichen Flugzeugen zu verzeichnen, sondern war auch in einem besonders waghalsigen Manöver einem Kameraden zu Hilfe gekommen. Auf die Frage, ob auch die deutschen Flieger ihren Kameraden in Gefahr Hilfe leisteten, antwortet er in Inbers Text: »Aus den Aussagen kriegsgefangener deutscher Piloten wissen wir, dass sie für jedes unserer Flugzeuge, das sie abschießen, Geld bekommen. Verstehen Sie? Geld. Der Deutsche will nur unsere Maschine abschießen und schnell zum Zahlmeister laufen. Aber für ihren eigenen Fallschirmspringer bekommen sie nichts. So kämpfen sie. Diese Ungeheuer. Diese käuflichen Bestien.«646

In den Äußerungen des jungen Fliegers unterstellt Inber, politisch versiert, die ideologisch bedingte Schwäche und Minderwertigkeit der kapitalistischen Feinde, die aus reiner Geldgier kämpfen. Auch eigene Bekannte werden in den Beschreibungen der Tagbucheinträge nicht selten zu klassischen positiven Helden stilisiert, so die Leiterin eines Kinos, die auch in dem Kino verharrt, als dort mehrere Bomben mit zeitverzögerten Auslösern eingeschlagen haben, weil sie den Geldschrank mit den Einnahmen zu bewachen will. Weitere Angestellte des Kinos leisten ihr bei dieser gefährlichen Wache Gesellschaft.647 Neben diesen positiven Helden werden jedoch mehr als einmal auch wenig vorbildhaftes Verhalten und sogar Verbrechen beschrieben, die in der eingeschlossenen Stadt weitverbreitet waren. So schließt sich an die Beschreibungen der Hungertoten im Badezimmer des Krankenhauses die Bemerkung an: »Und inmitten des Schreckens gibt es auch Täuscher, Simulanten. Sie hungern auch, aber nicht tödlich. Die kommen wegen eines Tellers Suppe durch die ganze Stadt hierher. Und entringen ein Stück oder einen Schluck Nahrung denen… im Badezimmer.«648

645 Ebenda, S. 149. Hier ist zu beachten, dass die Bezeichnung ›Hündin‹ im Russischen ein überaus starkes und weitverbreitetes Schimpfwort ist. 646 Ebenda, S. 150 f. 647 Ebenda, S. 238. Vgl. Zemskov-Züge, A.: Helden um jeden Preis. Leningrader Kriegsgeschichte(n), in: Osteuropa Jg. 61 (2011), 8 – 9, S. S.135 – 153, hier 143. 648 Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 57.

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Ausführlich kolportiert Inber auch eine Geschichte von Mutter und Tochter, die von einer Frau, die der Tochter Arbeit versprochen hatte, Anfang Februar 1942 um ihre Lebensmittelkarten gebracht wurden.649 Die Verbrecherin konnte nicht gefasst und identifiziert werden, aber die Dialoge der Opfer werden wörtlich zitiert. Gleich zu Beginn des Tagebuches wird erzählt, wie bei der Evakuation von Kleinkindern aus Moskau durch Fehlorganisation deren Namen, die ihnen auf die Haut geschrieben worden waren, entfernt wurden, sodass die Mütter zur Identifikation aus Moskau anreisen mussten, wobei aber trotzdem nicht alle Kinder identifiziert werden konnten.650 Auch in Inbers Beschreibung der Kohlernte in Leningrad kommen durchaus kritische Töne vor: »Sogar die Gemüseanpflanzungen sind qualvoll. Nicht überall ist das Gemüse aufgegangen, nicht überall wurden die Kohl-Setzlinge überprüft. Und es sind riesige, unansehnliche, bittere Blätter ohne Strunk gewachsen. Noch nicht einmal das Krankenhauspferd will sie essen. Und die Leute nehmen sie mit und fahren mit diesen tragischen Blättern, der zerstörten Hoffnung, in der Straßenbahn.«651

Offensichtlich sind die hier beschriebenen Fehlernten durch die mangelnde Sorgfalt der mit dem Gemüseanbau befassten Personen zu erklären. In all diesen Fällen von Fehlverhalten oder Kriminalität, wie im Falle der gestohlenen Lebensmittelkarten, stehen die Opfer der jeweiligen Situation im Zentrum der Beschreibung: die Mütter, die zusätzliche Mühen in Kauf nehmen müssen, das Kind, das durch Fehlorganisation zur Waise geworden ist, Mutter und Tochter, denen die Lebensmittelkarten gestohlen wurden, und die enttäuschten Gemüsekonsumenten. Allerdings werden auch die »Täter« eher in einer Opferrolle gesehen: »Tichomirov erzählte uns auch von der Sammlung seltener Tulpenzwiebeln, die von hungrigen Leuten für eine Suppe ausgegraben wurden. Ein solcher Mensch wurde am Ort des Verbrechens gefasst: er trug die Zwiebeln in einer Tasche für Gasmasken. Aber war das ein ›Verbrechen‹ in einem solchen Winter wie dem unseren?«652

Mit ihren Betrachtungen des Lebens im belagerten Leningrad und darunter auch der Missstände hält sich Vera Inber immer auf der Seite der Opfer und blendet dabei die Motive des unkorrekten Verhaltens ebenso aus wie die Tatsache, dass es auch Personen gab, die sich am Hunger anderer bereicherten. Der Schwarzmarkthandel in der belagerten Stadt, wo häufig große materielle Werte gegen sehr geringe Mengen mangelhafter Lebensmittel aus zweifelhafter Herkunft 649 650 651 652

Ebenda, S. 74 – 76. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 141. Ebenda, S. 113.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

getauscht wurden, kommt in den Erinnerungen Inbers nur am Rande und in abgeschwächter, verallgemeinerter Form vor : »Vor Kurzem wurden irgendwo 27 Tütchen Askorbinsäure (Vitamin C) gegen einen lebendigen Hund zum Essen eingetauscht. Marietta sagte bedächtig: ›Naja, wenn das ein großer Hund war, lohnt es sich.‹«653

Kannibalismus und die Praxis, Körperteile von Hungeropfern zu Fleisch zu verarbeiten, bleiben unerwähnt. Durch diese Darstellungsweise werden die im Tagebuch vorkommenden Personen in zwei Kategorien unterteilt. Sie gehören entweder zur Gruppe der Opfer oder zur Gruppe der positiven Helden. Missstände, die durch Fehlverhalten und Fehlorganisation zustande gekommen sind, werden unabhängig von ihrem Zustandekommen und den Verantwortlichen behandelt. Fehler der Behörden werden damit genauso verschleiert wie Missstimmungen und Verbrechen in der belagerten Stadt. Stalin und seine »mächtige Partei« »Ich fühle Glück und Stolz bei dem Gedanken, dass ich mich in den Reihen der mächtigen, der großartigen Partei befinde, die von dem Genie Stalin geführt wird.«654

Dieses Zitat Vera Inbers aus ihrer kurzen Autobiographie von 1952 offenbart eine Haltung, die sich auch im Blockadetagebuch wiederfinden lässt. Die Verehrung Stalins kommt in floskelhaften Formeln, ohne weitere Ausführungen zum Ausdruck. Stalin ist in den veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen nur an zwei Stellen als Redner präsent, beide Male anlässlich des Revolutionsfeiertages, und zwar im November 1941 und 1942. Bei den Einträgen fällt insbesondere auf, dass die Rede selber und ihr Inhalt kaum Erwähnung finden und das Gefühl der Zuhörerin im Vordergrund der Beschreibung steht: »Gestern Abend haben wir die Rede Stalins aus Moskau gehört. […] Sie erhob sich über den Luftalarm, über die Finsternis, über diese Nacht. Sie war stärker als alles. Wir hörten sie und sahen ins Feuer. Und all das verschmolz für uns zu einem einzigen, leuchtenden, großartigen Trost.«655

Anlässlich der Rede von 1942 spürte Inber gar, dass »der spricht, der alles weiß und niemals unaufrichtig ist«. Nach der Rede sei der Zeitpunkt des Sieges ihr näher erschienen. Der Inhalt der Rede bleibt jedoch unkommentiert, der Leser erfährt nur, dass es um »unsere Beziehungen zu den Verbündeten« gegangen 653 Ebenda, S. 46. 654 Inber (1952): Kratkaja avtobiografija (wie Anm. 618), S. 5. 655 Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 36; Eintrag vom 07. 11. 1941.

Heldenepos versus Alltag: Texte von Nikolaj Tichonov und Vera Inber

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sei.656 An keiner Stelle stellt die Autorin einen direkten Bezug zwischen einem Befehl oder einer Handlung Stalins und der Lage in Leningrad her. Die Rolle des Führers bleibt die einer abstrakten, überhöhten und allwissenden ›Gottheit‹. Die Leningrader Parteifunktionäre bleiben in Inbers Tagebuch weitestgehend unerwähnt. Popkov wird einmal erwähnt, als Inber berichtet, wie ihr im Juni 1943 die Medaille für die Verteidigung Leningrads verliehen wurde.657 Zˇdanov wird immerhin mit der von ihm initiierten Einrichtung von Verteilungsstellen für zusätzliche Nahrungsmittel und ärztliche Hausbesuche für geschwächte Hungerkranke im Mai 1942 in Verbindung gebracht.658 Beide Namen fallen auch im Zusammenhang mit dem Aufruf an die Leningrader Bevölkerung im August 1941.659 Kein Vertreter der Leningrader Parteiprominenz wird darüber hinaus in den Tagebucheinträgen als Persönlichkeit vorgestellt oder in seinem Tun für die Stadt besonders hervorgehoben. Ihre eigene politische Gesinnung und deren Rolle für ihr Schaffen reflektiert Inber im Zusammenhang mit ihrem Parteibeitritt. In dieser Reflexion findet sich eine nahezu modellhafte Beschreibung des Schriftstellers in Sinne des Sozialistischen Realismus: »In welchem Maß ist das, was ich schreibe, nützlich für die sowjetische Literatur, die ihrerseits ein Teil einer großen Angelegenheit ist, des Gedeihens meines Landes, des ersten sozialistischen Landes der Welt. […] Wie hat meine Feder, meine Waffe, im belagerten Leningrad gewirkt? Konnte ich ihm wenigstens in irgendeinem Maße nützlich sein? Dafür bin ich verantwortlich. Das wurde mir von der Partei übertragen, es ist meine Parteiangelegenheit.«660

In Inbers Tagebucheinträgen wird nicht immer allen ästhetischen Anforderungen des Sozialistischen Realismus Rechnung getragen, so bei der klinisch genauen Beschreibung der Leningrader Hungeropfer. Dennoch ist dieses Bekenntnis zur Rolle des Schriftstellers als ›Bedienstetem‹ der Partei doch letztendlich ausschlaggebend, auch für Vera Inbers Blockadetagebuch. Zwar kann sie als Augenzeugin sich nicht gänzlich vor den Problemfeldern der Belagerung verschließen, ausführlichere Erwähnung finden jedoch nur solche thematischen Bereiche und Personen, die im weitesten Sinne zum Nutzen der Partei instrumentalisiert werden können. Die Beschreibung des Grauens der Blockade und der schrecklichen Folgen des Hungers konnten in diesem Sinne zur Agitation der

656 657 658 659

Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 213. Ebenda, S. 118. Ebenda, S. 6 sowie Inber, V.: Pocˇti tri goda. Leningradskij dnevnik, in: Znamja (1945), 1, S. 65 – 181, hier 66. 660 Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 248 f.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

Lesenden gegen den Feind beitragen. Die Stilisierung der Handelnden zu Helden trug der Vorbildfunktion Rechnung, die diese positiven Helden ausüben sollten. Politische Manipulation: Unterschiede zwischen den Publikationen 1945 und 1946 Die Kritik, die Vera Inbers Tagebuch nach seiner Veröffentlichung erfuhr, lässt zunächst die Vermutung plausibel erscheinen, dass das Buch nach seinem erstmaligen Erscheinen nochmals gekürzt oder verändert worden sein könnte, bevor es 1946 den Stalinpreis erhielt. Hinzu kommt auch, dass die Zeitschriftenverordnung von August 1946 zu größerer ideologischer Wachsamkeit der Herausgeber und Zensoren hätte führen können. Ein detaillierter Vergleich der Erstausgabe in der Zeitschrift Znamja mit dem Text des 1946 erschienenen Tagebuches zeigt allerdings, dass die Unterschiede zwischen beiden Ausgaben durchaus nicht gravierend sind. Generell gilt, dass nicht gekürzt wurde, sondern dass in der Ausgabe von 1945 wiederholt kurze Passagen fehlen, die erst 1946 hinzukamen. An wenigen Stellen wurde der Text so verändert, dass sich nicht nur eine stilistische Änderung, sondern auch eine Bedeutungsänderung ergab. Eine solche Änderung findet sich beim Eintrag vom 11. September 1941. Vera Inber berichtet über Schriftstellerkollegen, die wegen der Einnahme Tallinns661 die Stadt verlassen mussten. Während in der Ausgabe von 1945 der Text lautet: »Ihre Evakuation über das Meer nach Leningrad war schwierig«662, lesen wir in der Ausgabe von 1946: »Der Durchbruch der baltischen Flotte aus der Umzingelung«663 sei schwierig gewesen. Während sich die erste Formulierung eindeutig auf die Situation der fliehenden Schriftsteller bezieht, gibt die veränderte Variante der Beschreibung einen anderen, verallgemeinerten Sinn, sie bezieht sich auf die allgemeine Lage der Flotte bei Tallinn. Gleichzeitig wird nicht mehr deutlich, dass die Schriftsteller und möglicherweise auch andere Personen aus Tallinn nach Leningrad evakuiert worden waren, offensichtlich kurz bevor die Stadt eingeschlossen wurde. Diese Veränderung des publizierten Tagebuchtextes wurde nach seiner Erstveröffentlichung vorgenommen. An anderen Stellen ist der 1946 veröffentlichte Text ausführlicher als die Variante von 1945. So berichtet Vera Inber im Eintrag vom 25.11. davon, wie ein Bekannter während eines Luftangriffs auf das Institut seine Dissertation verteidigte. Während an dieser Stelle 1945 nur berichtet wird, dass während der Verteidigung wegen eines Stromausfalls eine Kerosinlampe brannte664, erfahren wir in der Ausgabe von 1946 darüber hinaus, dass »beim Abendessen mit ver661 662 663 664

Tallinn wurde am 28. 08. 1941 eingenommen. Inber (1945): Pocˇti tri (wie Anm. 659), S. 70. Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 16. Inber (1945): Pocˇti tri (wie Anm. 659), S. 79.

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dünntem Alkohol auf den neuen Kandidaten der medizinischen Wissenschaft angestoßen« wurde.665 Da die Szene sich zur Zeit der größten Lebensmittelknappheit abspielte, konnte hinter dem Hinweis auf ein Abendessen mit Alkohol besondere ideologische Brisanz vermutet werden. Auch in einem anderen Fall gibt die spätere Ausgabe Informationen, die in Znamja nicht veröffentlicht worden waren. So beginnt der Eintrag von 25. Januar 1942 mit der Einschätzung: »Die Lage ist katastrophal. Jetzt hat sich eine Menschenmenge auf unseren hölzernen Zaun gestürzt und ihn für Feuerholz auseinandergenommen.«666 Dieses dramatische Geschehen kommt im früheren Abdruck des Tagebuchs nicht vor. Beide Beispiele zeigen, dass teilweise Äußerungen über die Lage der Stadtbevölkerung Leningrads und die persönliche Situation der Zeitzeugin als Institutsangehörige verändert wurden. Dabei scheinen die angelegten Maßstäbe allerdings für die frühere Ausgabe strenger gewesen zu sein als für die spätere. Eine andere Art von Änderungen weist auf eher allgemeine ideologische Bedenken hin. Auch hier ist allerdings die spätere Ausgabe des Buches weniger streng. So ist ein Vergleich der unter starkem Beschuss stehenden Werke und Fabrikanlagen mit »Wachtklöstern« früherer Zeiten nur in der Ausgabe von 1946 zu finden.667 Auffällig ist auch, dass an allen Stellen, wo in der Ausgabe von 1945 über die »Einnahme« sowjetischer Orte durch die Rote Armee berichtet wird, die Formulierung in der späteren Auflage in »Befreiung« geändert wurde. Hier zeigt sich eine konsequent umgesetzte konzeptionelle Entscheidung bezüglich des Sprachgebrauchs. Andere geringfügige Hinzufügungen, die nach 1945 vorgenommen wurden, lassen keine eindeutige ideologische Motivation erkennen. So besteht der Eintrag zur Befreiung Leningrads am 27. Januar 1944 in der Znamja-Ausgabe aus lediglich einem Satz: »Großartigstes Ereignis im Leben Leningrads: seine völlige Befreiung von der feindlichen Blockade.«668 Die Ausgabe von 1946 lässt noch den emotionalen Erregungszustand der Zeitzeugin sichtbar werden. Hier sind zusätzlich die Sätze angefügt: »Und hier fehlen mir, der professionellen Schriftstellerin, die Worte. Ich sage einfach: Leningrad ist frei. Und darin liegt alles.«669 Der Vergleich der beiden Textversionen des Tagebuchs zeigt, dass es nicht sehr gravierende ideologisch motivierte Änderungen des Texte gegeben hat. Anhand mehrerer Beispiele zeigt sich, dass die Vorsicht vor ideologisch ver665 Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 40. 666 Ebenda, S. 70. 667 Ebenda, S. 205. Dieser Satz fehlt in der Ausgabe von 1945; vgl. Inber (1945): Pocˇti tri (wie Anm. 659), S. 145. 668 Ebenda, S. 166. 669 Inber (1946): Pocˇti tri (wie Anm. 638), S. 257.

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Das ›Leningrader Thema‹ in der Nachkriegsliteratur

fänglichen Formulierungen und Informationen bei der Erstveröffentlichung in Znamja offensichtlich größer war als bei der eigenständigen Publikation des Tagebuches. Die spezifische Kombination von detaillierten Leidensbeschreibungen und der Konstruktion von Heldenhaftigkeit im Leningrader Alltagsleben, die sich im Tagebuch Vera Inbers manifestiert, steht für eine eigene Richtung des Gedenkens an die Belagerung, in der eine spezifische Form Leningrader Opferheldentums zur Geltung gebracht wurde. Nach dem Literaturkritiker Usievicˇ, der versuchte, die Kritik an der »Kleinlichkeit« von Inbers Darstellung zu entkräften, bestand der Heroismus der Leningrader Bevölkerung gerade darin, »[…] dass die Leningrader Menschen blieben, während der Feind mit allen Kräften versuchte, solche Verhältnisse herzustellen, in denen es unmöglich war, ein Mensch zu bleiben. Dass jede kultivierte und menschliche Geste, alltäglich unter normalen Bedingungen, Heldentum erforderte und heldenhafte Anstrengungen zum Alltag wurden und alle Tage und Stunden, jede Minute des Tages ausfüllten, dass wenn diese Bemühungen aufgehört hätten, das ganze Heldentum der roten Armee die Stadt nicht hätte retten können.«670

Dies bedeutet auch, dass die minutiöse Darstellung des Alltagsgeschehens aus diesem Heldentum seine Daseinsberechtigung zieht. Die nicht völlig literarische Form des Tagebuchs machte es dabei möglich, stellenweise die ehernen Gesetze des stalinistischen Literaturbetriebes und insbesondere des Sozrealismus außer Kraft zu setzen. Dies geschah mit dem Ziel, die Leistungen der Leningrader Bevölkerung, die unter dem Hunger in der Stadt zu leiden hatte, als besonders heldenhaft zur Geltung zu bringen.

4.

Resümee

Der Bereich der Literatur war für die Herausbildung von Geschichtsbildern zur Belagerung Leningrads in der Nachkriegszeit von zentraler Bedeutung. Die Historisierung der Belagerung fand dabei in einem breiten Spektrum von Genres statt. Zum einen betätigten sich Schriftsteller wie Nikolaj Tichonov im wahrsten Sinne des Wortes als Historiker, indem sie mit historiographischen Konstruktionen aufwarteten und diese in Vorträgen und Publikationen weitertrugen. Zum anderen wurde auch in der Literatur Geschichtspolitik betrieben, indem beispielsweise politische Akteure, wie Zˇdanov, als literarische Charaktere in Romanen oder Erzählungen auftraten. Die Historisierung ereignete sich dabei in einer Grauzone zwischen Fiktion und realen Ereignissen. Dabei konnte häufig 670 Usievicˇ (1945): O nekotorych (wie Anm. 619), S. 136 f.

Resümee

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nicht zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können, unterschieden werden. Gerade dieser Zwischenbereich machte es jedoch auch – in sehr begrenzter Form – möglich, Leid und Unsicherheit zu thematisieren, die durch das Erleben von Krieg und Belagerung entstanden waren. Auch die Leningrader Schriftsteller betätigten sich, in begrenztem Maße, als »Healers of wounded souls«671. Ein besonderes Genre der Historisierung der Belagerung war die Tagebuchliteratur, hier vertreten durch Vera Inbers Tagebuch. Das biographische Paradigma ermöglichte es den Autoren, gerade in dieser – nicht ganz literarischen – Form von den Gesetzen des Sozialistischen Realismus abzuweichen und ihre Erlebnisse und Eindrücke in der belagerten Stadt weniger verbrämt mitzuteilen. Dabei kommt einerseits die Authentizität des Erlebten zum Tragen, andererseits werden in dieser Form die erwünschten – ideologisch wertvollen – Inhalte transportiert, die den geschichtspolitischen Charakter des Tagebuchs ausmachen. Die Autorität der Augenzeugin – eines realen Menschen und einer geachteten Autorin – wirkt dabei verstärkend, als Katalysator der politischen Botschaften. Betrachtet man die Leningrader Literaturszene und ihre Akteurinnen und Akteure insgesamt, so lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu den Beobachtungen Bourdieus ausmachen.672 Unzweifelhaft wurde die gelungene Anwendung der Prinzipien des Sozialistischen Realismus sowie ihre Position im Schriftstellerverband und, soweit vorhanden, ihre Auszeichnung mit dem Stalinpreis für die Literaturschaffenden zum Kapital. Mit dieser ›Münze‹ konnten ›Mängel‹ der eigenen Person oder Biographie ausgeglichen werden. Hinzu kam die Möglichkeit, in mehreren Feldern gleichzeitig mit hohem politischem Kapital gewinnbringend zu agieren. Vera Inber nutzte das im Sozrealismus angelegte Motiv des persönlichen Wandels durch biographische Härten, um ihren eigenen Wandel von der bourgeoisen, weltfremden Intellektuellen zum ›Neuen Menschen‹ glaubhaft zu machen. Nikolaj Tichonov glich die literarischen Mängel und die geringe Originalität seiner Werke mit einer besonders linientreuen Darstellungsweise aus. Gleichzeitig versetzte ihn seine hohe Position im Schriftstellerverband in eine überlegene Lage gegenüber weniger linientreuen und auch literarisch anspruchsvolleren Schriftstellerkollegen. Darin liegt gleichzeitig eine Besonderheit des literarischen Erinnerungsfeldes in der Sowjetunion. Die Kapitalsorten der Akteurinnen und Akteure beschränkten sich nicht auf ein Feld. Das politische Kapital eines Akteurs war im Zweifelsfall in materieller und ideeller Hinsicht immer bedeutsamer als andere feldspezifische Kapitalsorten. 671 Krylova (2001): Healers of (wie Anm. 95). 672 Vgl. Bourdieu (1997): Das literarische (wie Anm. 157) sowie Fischer / Jarchow (1987): Die soziale (wie Anm. 156).

V. Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953

»More than a genre and more than simply one institution on a par with others, museums are essential sites for the fabrication and perpetuation of our conception of ourselves as autonomous individuals with unique subjectivities.«673

Eine besondere Rolle im offiziellen, aber auch im individuellen Gedenken an die Blockade in der Nachkriegszeit spielt zweifellos das »Museum der Verteidigung Leningrads«, das 1949 im Zuge der Leningrader Affäre geschlossen und bis 1953 sukzessive aufgelöst wurde. Mit seinen bis zu 38 Sälen und den unzähligen militärischen und persönlichen Exponaten war es gleich nach Kriegsende mit Abstand das meistbesuchte Museum der Stadt674. Als eine zentrale Einrichtung, die eigens dem Gedenken an die Belagerung gewidmet war, kann das Museum als das zentrale geschichtspolitische Instrument im Leningrad der Nachkriegszeit gelten.675 Hier wurden die sich neu etablierenden Konzeptionen der Leningrader Kriegsgeschichte entwickelt und präsentiert. Dabei wirkten die verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Instanzen zusammen, Präsentationsweisen wurden etabliert, verhandelt und modifiziert. Maddox hat explizit auf die Bedeutung des Museums bei der Mobilisierung der Bevölkerung zum Wiederaufbau der Stadt hingewiesen: »As an official commemoration of the siege, the museum offered citizens a mythologized representation of the blockade at which survivors could re-live the heroism and tragedy of their experience. It also acted as an educational and mobilizational tool, which sought both to inculcate love for the city and a desire to restore it.«676

Die besondere geschichtspolitische Brisanz der Einrichtung ist darin zu sehen, dass der Besuch des Museums für viele Überlebende weit mehr als eine politi673 Preziosi, D.; Farago, C.: Grasping the world. The idea of the museum. Aldershot, 2004, S. 3. 674 Vgl. f. 7384; op. 29; ed. chran. 259, CGASPb: Vortrag zum Kulturaufbau 31. 12. 1946, S. 65 ff. 675 Diese Einschätzung wird von Maddox geteilt. Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 198. 676 Ebenda, hier 189.

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Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953

sche Pflichtübung war. Ein Zeitzeuge, der als 19-jähriger Militärjournalist das Museum besuchte, betont beispielsweise die emotionale Wirkung, die die Ausstellung auf ihn hatte: »Und nachdem wir aus dem Krieg gekommen waren, hatten wir so ein Gefühl […], dass eigentlich auch das friedliche Leben wieder anfängt. Als ich in das Museum kam, war das so ein Gefühl, als ob uns der Krieg noch lange nicht loslassen würde. Es war alles so ausdrucksvoll, alles war so erschütternd, und die Leute, die diesen Kummer erlebt hatten, sie hatten sich noch nicht wirklich ausgeweint. Und hier, verstehen sie, wurde das alles gezeigt. Es war ein einzigartiges Museum.«677

Die Einrichtung des Museums lässt sich unschwer als eine propagandistische Maßnahme enormen Umfangs erkennen. Und dennoch kamen die zuständigen Instanzen damit unzweifelhaft dem Bedürfnis weiter Bevölkerungsteile entgegen, ihren traumatischen Erlebnissen Raum und Sinn zu verleihen. In diesem Spannungsfeld zwischen politischer Intention und dem Bedürfnis der Überlebenden, ihre Erlebnisse zu verarbeiten und einzuordnen, liegt die besondere Brisanz und Wirkungsmacht des Museums.

1.

Das Museum als ›Baustelle der Erinnerung‹

Bei der Erforschung der Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads« und des Leningrader Verteidigungsmuseums wird deutlich, dass auch in der spätstalinistischen Sowjetunion Aushandlungsprozesse und wiederholte inhaltliche Änderungen nötig waren, um zu den späteren, vermeintlich so starren Geschichtsbildern zu kommen. Die Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads«, die zu Beginn des Jahres 1944 zusammengestellt wurde, war keine Kunstausstellung. In ihrem Rahmen wurden zwar auch Bilder gezeigt, aber besonders augenfällig und raumfüllend waren die militärischen Exponate der Ausstellung. Dieser Schwerpunkt spiegelte sich auch in der Zusammensetzung des Ausstellungspersonals wider. Von 100 Angestellten waren die Hälfte Militärangehörige, darunter sowohl der Ausstellungsleiter als auch Architekten, Ingenieure, Künstler, Tischler, bis hin zum Chauffeur.678

677 Dobrotvorskij, N.(Zemskov-Züge, A.): Interview zum Museum der Verteidigung Leningrads in der Nachkriegszeit und heute. St. Petersburg, 13. 04. 2007. Nikolaj Dobrotvorskij war zum Zeitpunkt des Interviews wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verteidigungsmuseum. 678 f. 25; op. 10; sv. 1017; ed. chran. 468; l. 44 – 49, CGAIPD: Liste der Museumsangestellten 1944.

Das Museum als ›Baustelle der Erinnerung‹

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Trotz ihrer ausgeprägten Präsenz wirkten nicht nur Partei und Militär an der Ausstellung mit. In einem Bericht des Museumsdirektors Kovalev an die Agitpropabteilung der Leningrader Parteiorganisation von 1949 heißt es: »Am Aufbau der Ausstellung beteiligte sich die ganze Stadt – Industrieunternehmen, öffentliche Organisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und Militäreinheiten. Die Aufbauarbeiten wurden innerhalb von 4 Monaten beendet (die Ausstellungsfläche betrug 9000 Quadratmeter). In dieser Zeit wurden 7382 Exponate und Dokumente gesammelt. […] Am ersten Öffnungstag der Ausstellung, dem 30. April 1944, wurde die Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads« von 16000 Menschen besucht.«679

Sowohl die ursprüngliche Ausstellung als auch das 1945 gegründete Museum können im Prozess der Historisierung der Belagerung als eine Art lebendige Baustelle betrachtet werden, die an einer Schnittstelle zwischen den politischen Machtstrukturen, dem Militär, öffentlichen Einrichtungen und der Bevölkerung angesiedelt war. Die unterschiedlichen beteiligten Instanzen brachten jeweils ihre eigene Sichtweise der Geschichte in die Ausstellung und das Museum ein. So besuchten beispielsweise im Oktober 1947 Mitarbeiter des Museums das »Karl Marx-Werk«. Dort sammelten sie Material und Informationen zur Geschichte des Werkes während der Blockade und befragten leitende Angestellte, die über die Arbeit im Werk während des Krieges erzählten.680 Maddox hebt die enorme ideologische Breitenwirkung hervor, die die Arbeit der Museumsangestellten entfaltete, und weist darauf hin, dass zwischen 1946 und 1949 allein 670 Informationsveranstaltungen von Museumspersonal an verschiedenen Veranstaltungsorten in Leningrad durchgeführt wurden.681 Das Museumspersonal war dazu angehalten, sein Wissen anderen Strukturen zur Verfügung zu stellen. In einem Bericht über den Kulturaufbau in Leningrad 1946 heißt es unter dem Vermerk »dringende Notwendigkeit«: »Die Museen der Stadt Leningrad / das Leninmuseum, das Kirovmuseum und das Verteidigungsmuseum / sowie die Bezirksparteikomitees sind zu verpflichten, der Kinoprogrammverwaltung beim Ausführenden Komitee des Leningrader Stadtsowjets unabdingbare Hilfe in der Auswahl von Materialien, ihrer Anordnung und in der Organisation einer breiten massenpolitischen Arbeit in den Kinotheatern der Stadt Leningrad zu leisten.«682(Hervorhebung von mir, A.Z.)

679 f. 25; op. 18; d. 195; l. 2 – 5, Kovalev, V.: Auskunft des Museumsdirektors V. Kovalev über die Arbeit des Verteidigungsmuseums April 1949, S. 2. 680 f. 4000; op. 10; d. 1350, CGAIPD: Dokumentation des Besuchs von Mitarbeitern des Verteidigungsmuseums im Karl Marx Werk 20. 10. 1947. 681 Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 202 f. 682 CGASPb (1946): Vortrag zum (wie Anm. 674), S. 106.

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In öffentlichen Aufrufen wurde die Bevölkerung gebeten, mögliche Exponate im Museum abzugeben.683 Viele Überlebende ergriffen auch selbst die Initiative und lieferten Dokumente und Erinnerungsstücke ab.684 Im Aufbau der Ausstellung wurde also durchaus auch auf inoffizielle und individuelle Erinnerungen zugegriffen. Die finanziellen Geschicke der Ausstellung wurden vom Ausführenden Komitee, dem Ispolkom des Leningrader Stadtsowjets, verwaltet. Dieses bewilligte auch den Ausbau und die Verbesserung der Ausstellung bei der Umgestaltung in ein Museum und teilte das nötige Geld zu, im April 1945 immerhin 900000 Rubel extra.685 Die Eingebundenheit des Museums in ein umfangreiches Geflecht städtischer Organisationen, die sich aus den Quellen zeigt, macht deutlich, dass die proklamierte Vormacht des sowjetischen Staates686 als eines einheitlichen Gebildes eine Vielzahl von Motiven und Wirkungen im Prozess der Historisierung der Belagerung verschleiert. Die einzelnen geschichtspolitischen Akteurinnen und Akteure handelten zumeist sowohl als Überlebende der Belagerung als auch als Vertreter ihrer jeweiligen Institution. Zu Beginn der Arbeiten an der Ausstellung und dem Museum war ihnen noch kein verbindliches Interpretationsraster vorgegeben worden, in das die Leningrader Krieggeschichte eingeordnet werden sollte. Stalins Schema von den vier Kriegsphasen und den ›zehn Schlägen‹ entstand erst im Jahr 1944, als die Ausstellung bereits geöffnet war. Für die politischen Akteure der Kriegszeit, die Leningrader Parteifunktionäre, hatte der größte Teil der Leningrader Kriegsgeschichte vor der Befreiung der Stadt im Januar 1944 stattgefunden. Aufgrund dieser Bedingungen fand die Konzeptionierung der Leningrader Kriegsgeschichte im Rahmen von Ausstellung und Museum in einem nicht zu unterschätzenden Handlungsfreiraum statt. Das Schaubild zeigt das Geflecht von Beziehungen, von dem das Museum umgeben war. Das Stadtkomitee der Partei gab die von oben empfangene ideologische Grundlinie an das Museum weiter. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die Abnahmekommission, die im Februar 1946 die Ausstellung des neu entstandenen Museums begutachtete, vom Stadtkomitee zusammengestellt wurde. In der Kommission war sowohl das Stadtkomitee der Partei als auch das ausführende Komitee des Stadtsowjets personell vertreten. Auch nachdem das Museum abgenommen und eröffnet worden war, stand die Museumsleitung mit 683 Vgl. f. 277; op. 1; d. 457; l. 1 – 3 (2 fehlt), CGALI: Bericht über die Arbeit des Musems 1946 kein Datum, S. 3. 684 Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 192. 685 f. 277; op. 1; d. 3; l. 15 f, CGALI: Ispolkom-Entscheidung über Vergrößerung und bessere Ausstattung der Ausstellung »Die Heldenhafte Verteidigung Leningrads« 09. 04. 1945. 686 Vgl. bspw. Kirschenbaum (2006): The Legacy (wie Anm. 111), S. 80; Ganzenmüller (2005): Das belagerte (wie Anm. 40), S. 317.

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dem Stadtkomitee in Verhandlungen über Ausstellungskonzeptionen und Exponate und legte regelmäßig Rechenschaftsberichte vor. Das Stadtkomitee gewährleistete im Gegenzug die Versorgung des Museums mit finanziellen und Sachmitteln, die über den Stadtsowjet zugeteilt wurden. Stadtsowjet und Stadtkomitee konnten auch auf die Zusammenarbeit zwischen den städtischen Einrichtungen einwirken. Seitens des Militärs wurden dem Museum Personal und Exponate zur Verfügung gestellt, was die kompetente Darstellung und die Schwerpunktsetzung auf militärische Fragen sicherstellte. Ein wesentliches Element, das die Entwicklung historiographischer Konzeptionen zur Blockade im Leningrad der Nachkriegszeit maßgeblich beeinflusste, ist die Mitwirkung von Überlebenden an der Herausbildung offiziell vertretener Geschichtsbilder. Im Schaubild sind die Zeitzeugen mit Schärpen dargestellt. Ihr besonderer Einfluss bestand darin, generelle ideologische Vorgaben von oben an ihre eigenen Einschätzungen und Erinnerungen anzupassen und so modifiziert in die Ausstellung einzubringen. Dies war einerseits für die Glaubwürdigkeit der Ausstellung in der lokalen Bevölkerung unerlässlich, barg jedoch andererseits das Risiko, Widerspruch bei der Moskauer Parteileitung hervorzurufen. Die wesentlichsten Mittel, derer sich die Angestellten und der Direktor des

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Museums bei ihrer Konstruktion eines möglichst umfassenden Gesamtbildes der Belagerung bedienten, waren zum einen die Auswahl der zu präsentierenden Exponate und zum anderen ihre Anordnung zu einem sinnhaften Ganzen. Mieke Bal hat bereits 1994 auf den »narrativen Charakter«, den Sammeln per se hat, hingewiesen. Besonders beachtenswert ist ihre Einschätzung des Sammelns als »[…] process consisting of the confrontation between objects and subjective agency informed by an attitude«.687 Diese Haltung war bei einem großen Teil des Museumspersonals, das ja mit dem Sammeln, Verwalten und Anordnen der Exponate betraut war, von ihrem eigenen Erleben der dargestellten Ereignisse geprägt. Das Zusammenwirken der unterschiedlichen Strukturen mit ihren jeweiligen Akteurinnen und Akteure machte das Museum zu einem Raum, in dem sukzessive die Einflüsse unterschiedlicher Strukturen und Individuen aufgenommen, einzelne Elemente ausgewählt und letztendlich zu öffentlich präsentierten Zusammenhängen verdichtet wurden. Die Leningrader Parteiorganisation mit ihrer Agitpropabteilung kontrollierte die Rechenschaftsberichte des Museumspersonals und griff berichtigend ein. Allerdings waren auch in den Abnahmekommissionen Zeitzeugen und politische Akteure der Kriegszeit vertreten, die die Ausstellung aus ihrer Warte der Erinnernden beurteilten und ein Interesse an der Hervorhebung sowohl ihrer eigenen Verdienste als auch von ihnen als wichtig empfundener Inhalte hatten. Diese Konstellation aus verschiedenen politischen Strukturen, deren Akteurinnen und Akteure in ihrem Denken und Handeln maßgeblich von ihrer Erfahrung geleitet wurden, erwies sich im Fall der Historisierung der Belagerung als besonders prägend. Dies liegt daran, dass die dominanten Vorgaben zur Kriegsgeschichtsschreibung, nämlich die später von Stalin vertretenen Konzeptionen, unmittelbar nach der Befreiung Leningrads, als die im Museum vertretenen Geschichtsbilder konzipiert wurden, noch nicht zur Verfügung standen. Historischer Überblick Die Entstehungsgeschichte des »Museums der Verteidigung Leningrads« reicht bis 1941 zurück, als bereits im Spätsommer, noch vor Beginn der Belagerung, im Leningrader Stadtzentrum erobertes deutsches Kampfgerät ausgestellt wurde. Die beschädigten deutschen Waffen und Panzer verdeutlichten der beunruhigten Leningrader Bevölkerung plastisch, dass es trotz des schnellen Vorrückens der Wehrmacht auch Erfolge im Kampf zu verbuchen gab. Die Sammlung vergrößerte sich mit der Zeit und diente nicht nur als An687 Bal, M.: Telling objects: A Narrative Perspective on Collecting, in: Elsner, J.; Cardinal, R. (Hg.): The cultures of collecting. London, 1994, S. 97 – 115, hier 100.

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schauungs- und Propagandamaterial für die Bevölkerung. Soldaten der Roten Armee wurden hier geschult, erobertes Kampfgerät im Einsatz zu verwenden.688 Insbesondere nach dem Durchbruch der Belagerung im Januar 1943 stiegen die Besucherzahlen der kleinen Ausstellung deutlich an.689 Am 8. August 1943 gab der Militärsowjet der Leningrader Front den Befehl Nr. 18 »Über das Sammeln, Registrieren und Bewahren von Musterwaffen und Kampftechnik zu Gedächtniszwecken« heraus. Im November desselben Jahres machten der Sekretär des städtischen Parteikomitees, Machanov, und der Leiter der politischen Führung der Front, Cholostov, in einer gemeinsamen Initiative den Vorschlag, eine neue, umfangreichere Ausstellung über die Kampfhandlungen an der Leningrader Front zu organisieren. Dieser Vorschlag wurde im Dezember 1943 vom Militärsowjet der Leningrader Front angenommen.690 Angesichts der schwierigen Lage in der Stadt und der Tatsache, dass viele Museen und Kultureinrichtungen erst weit nach Kriegsende wiedereröffnet wurden, scheint es verwunderlich, dass bereits während der Belagerung der Stadt eine Ausstellung zu diesem Thema vorbereitet wurde. Tatsächlich aber wurde die Form der Ausstellung als Mittel der Kriegspropaganda nicht nur in Leningrad eingesetzt, sondern entsprach bereits seit dem Ersten Weltkrieg einem international üblichen Begleitphänomen von Kriegen.691 Ebenfalls 1943 gab es in der Moskauer Tretjakov-Galerie eine Kunstausstellung zum Thema »Der Große Vaterländische Krieg«, in der auch Arbeiten Leningrader Künstler ausgestellt wurden.692 Nicht nur Militärsowjet und Leningrader Parteiführung arbeiteten daran, die Belagerung der Stadt in einer Ausstellung aufzugreifen, auch einzelne Kultureinrichtungen beschäftigten sich eigenständig mit der Belagerung und ihren Folgen. Das »Museum der Sozialistischen Landwirtschaft« plante beispielsweise eine Ausstellung zum Thema »Der Kampf um Gemüse im belagerten Leningrad während des Großen Vaterländischen Krieges«. Darin sollte es um den Gemüseanbau in der Stadt gehen.693 In einem Brief vom 22. Juli 1943 bat der Muse688 Sˇisˇkin, A.; Dobrotvorskij, N.: Gosudarstvennyj memorial’nyj muzej oborony i blokady Leningrada. Kratkij istoricˇeskij ocˇerk (k 60-letiju so dnja osnovanija muzeja). Sankt-Peterburg, 2006, S. 3. 689 Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 190. 690 Sˇisˇkin / Dobrotvorskij (2006): Gosudarstvennyj memorial (wie Anm. 688), S. 4 f. 691 Zum internationalen Vergleich siehe insbesondere Zwach, E.: Deutsche und englische Militärmuseen im 20. Jahrhundert: eine kulturgeschichtliche Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Krieg. Münster, 1999. 692 Vgl. den Ausstellungskatalog: Velikaja Otecˇestvennaja vojna. Katalog vystavki. Moskva, 1943, S. 7. Darin wörtlich: »Eines der Hauptthemen der Ausstellung ist das Thema des Hasses gegen den Feind. Mit diesem Hass sind die Arbeiten der Leningrader Künstler angefüllt. In den heldenhaften Tagen der Belagerung standen sie an den Waffen, schlugen sie sich im Nahkampf, schufen Werke, die Hitlers Banditen entlarvten.« 693 f. 7384; op. 17; d. 852; l. 4 – 6, CGASPb: Fedorov an Popkov an Fedorov : Briefwechsel, S. 4.

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umsdirektor Fedorov bei Ispolkom-Sekretär Popkov um Unterstützung und betonte dabei, die Arbeit an der Ausstellung sei schon fortgeschritten.694 Am 30. 07. 1943 ließ Popkov durch seinen Sekretär ohne Angabe von Gründen mitteilen, dass die Ausstellung nicht stattfinden werde.695 Popkovs Entscheidung zeigt, dass ähnlich wie bei der Auseinandersetzung zwischen dem Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Parteigeschichte die Leningrader Parteiführung sich bereits während des Krieges um eine führende Rolle bei der Ausbildung einer geschichtspolitischen Linie bemühte. Die Entscheidung zeigt auch, dass Fragen der inhaltlichen Schwerpunktsetzung zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden waren: Im Mittelpunkt sollte nicht etwa die Eigeninitiative der Bevölkerung im Umgang mit ihrer Not stehen, die den Hunger und seine Bekämpfung zum zentralen Thema des Gedenkens gemacht hätten, sondern der militärische Aspekt der Verteidigung und die Verdienste der Leningrader Parteiorganisation und ihrer Führungskader. Bei ihrer Abnahme am 28. 04. 1944 hatte die Ausstellung zehn Abteilungen, die chronologisch aufeinander aufbauten, angefangen von Leningrad als industriellem und kulturellem Zentrum der Zeit vor dem Krieg bis zum »Großen Sieg vor Leningrad«.696 Die Abteilung »Das Jahr des grundlegenden Umbruchs im Kriegsverlauf« war mit 3073 Exponaten der bei Weitem ausführlichste Teil der Ausstellung. Hier zeigt sich ein klarer inhaltlicher Schwerpunkt der Konzeption, die besonders die militärischen Erfolge der Jahre 1943 und 1944 hervorhob. Dem Hunger in der Stadt war eine eigene Abteilung mit dem Titel »Die Periode der Hungerblockade« gewidmet, die immerhin 516 Exponate zeigte. Am 05. 10. 1945 wurde vom Sowjet der Volkskommissare der Russischen Föderativen Sowjetrepublik und den städtischen Parteigremien entschieden, die Ausstellung in ein Museum umzugestalten.697 Bei seiner Abnahme im Februar 1946 war das Museum, wie im Übergabeprotokoll zu lesen ist, zu einem »Museum neuen Typs« geworden, »dessen auf wahrhaft wissenschaftlicher Arbeit gegründete Ausstellung über große Aus-

694 Ebenda, S. 6. 695 Ebenda, S. 5. Das Landwirtschaftsmuseum befand sich in einem der Gebäude, die kurz darauf für das Verteidigungsmuseum geräumt werden mussten. Zur Konkurrenz zwischen Landwirtschaftsmuseum und Verteidigungsmuseum siehe auch f. 7384; op. 17; d. 1179; l. 36, CGASPb: Fedorov an Popkov : Brief.. 696 f. 25; op. 10; d. 469; l. 1 – 3, CGAIPD: Abnahmeprotokoll der Ausstellung 28. 04. 1944. 697 Vgl. f. 277; op. 1; d. 1; l. 11, CGALI: Kosygin: Anordnung zur Umwandlung der Ausstellung in das Verteidigungsmuseum 5. 10. 1945. Maddox weist darauf hin, dass bereits vor Eröffnung der Ausstellung Machanov sich in einem Schreiben an Zˇdanov, Kuznecov und Kapustin dafür aussprach, dass diese zum Museum mit Bedeutung für die gesamte Republik ernannt werden sollte, was zur besseren finanziellen und personellen Ausstattung des Museums geführt hätte. Vgl. Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 194.

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druckskraft verfügt und von parteilicher Zielstrebigkeit durchdrungen […]«698 war. Zu der Ausstellung waren elf neue Säle hinzugekommen.699 Obwohl der Schwerpunkt der Museumsausstellung noch immer auf der militärischen Geschichte der Belagerung lag, wird doch anhand der Zusammensetzung der Abnahmekommission deutlich, dass die Leningrader Parteiorganisation nach Kriegsende die Verantwortung für die Ausstellung von den Militärbehörden übernommen hatte und dem Museumsprojekt große Bedeutung zumaß. Mit Popkov, der seit März 1946 Erster Sekretär von Gorkom und Obkom war, und Kapustin, seinem Zweiten Sekretär, waren die höchsten Funktionäre der Leningrader Parteiorganisation vertreten. Auch der Leiter der städtischen Abteilung für Kultur und Aufklärungsarbeit Racˇinskij gehörte der Kommission an. Als besonders hochrangiger Leningrader Parteifunktionär war CK-Mitglied Aleksej Aleksandrovicˇ Kuznecov700 in besonderer Weise um das Schicksal des Verteidigungsmuseums bemüht.701 Nach den Erinnerungen des ehemaligen stellvertretenden wissenschaftlichen Leiters des Museums Misˇkevicˇ hatte Kuznecov entscheidend bei der Konzeptionierung der Ausstellung mitgewirkt und persönlich eine Periodisierung der Belagerung für die Ausstellung verfasst.702 Unter den Mitarbeitern des Museums kommt Lev L’vovicˇ Rakov eine zentrale Rolle zu. Seit 1944 war er zunächst als stellvertretender Leiter, dann als Direktor für Ausstellung und Museum tätig. Im Mai 1947 wurde er zwar zum Direktor der Leningrader Saltykov-Sˇcˇedrin-Bibliothek berufen, behielt aber weiterhin die Leitung der militärischen Abteilung des Museums inne und war ab 1949 massiv von den Repressionen gegen das Museum und seine Mitarbeiter betroffen. Bei der Betrachtung der kurzen Geschichte des Leningrader Verteidigungsmuseums in der Nachkriegszeit fällt insbesondere auf, dass die Ausstellung des Museums einem ständigen Wandel unterworfen war. Nachdem die erste Ausstellung 1944 eröffnet worden war, wurde bereits 1945 die Umwandlung zum Museum vorgenommen. In den Jahren 1946 und 1947 gab es Änderungen in der Ausstellung, die in einem neuen Museumsführer dokumentiert sind. Nach der Erweiterung der ursprünglichen Ausstellung und ihrer Umwandlung in ein Museum war eine überarbeitete Neuauflage des Ausstellungsführers von 1945 notwendig geworden. In dem Vorgang der Überarbeitung, der ei698 keine Signatur, Ordner : Vystavka-Muzej Geroicˇeskaja oborona Leningrada, Archivnye dokumenty 1943 – 1953, Archiv Muzeja oborony Leningrada: Abnahmedokument des Verteidigungsmuseums 18. 02. 1946, S. 1. Zum Bedeutungswandel des Begriffes der ›Wissenschaftlichkeit‹ (nauchnost’) im stalinistischen Paradigmenwandel vgl. Yurchak (2006): Everything was (wie Anm. 213), S. 46. 699 Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114), hier 194. 700 Zu Kuznecov vgl. meine Ausführungen zur Leningrader Affäre, Kap. II.1.a. 701 Vgl. CGALI (1948): Berichtsnotiz über (wie Anm. 193), S. 1. 702 Vgl. Sidorovskij (1988): Slovo o (wie Anm. 264).

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gentlich zur Routine der Umgestaltung und Erweiterung gehörte, manifestierte sich der Beginn der politischen Konflikte zwischen dem Museum und der Parteizentrale in Moskau. Museumsdirektor Kovalev legte in einem Bericht an das Stadtkomitee der Partei vom 4. März 1949 dar, welche Probleme es mit der Veröffentlichung des neuen Museumsführers gegeben hatte. Danach hatte die Zensurbehörde das fertige Buch zurückgehalten, da sie angeblich neue Anordnungen zu befolgen hätte. Nach einer weiteren Prüfung durch die Militär-Zensurbehörden in Leningrad und Moskau sowie durch die oberste Zensurbehörde Glavlit wurden nochmals Änderungen vorgenommen.703 Der Museumsführer erschien schließlich im November 1948.704 Nur einen Monat später, im Dezember 1948, wurde von den Museumsmitarbeitern ein neuer, vollkommen umgestalteter Ausstellungsentwurf bei der Leningrader Parteiorganisation eingereicht.705 Insgesamt war das Museum von seiner neunjährigen Bestehenszeit, die erste Ausstellung eingeschlossen, nur vier Jahre geöffnet. Zwar liegen auch die internen Ausstellungskonzepte vor, letztendlich zeugen jedoch nur die publizierten Ausstellungsführer davon, wie sich die tatsächlich realisierten Ausstellungen gestalteten. Sie geben auch Einblick in die vom Museum öffentlich vertretenen und verbreiteten Geschichtsbilder. Dennoch sind die internen Programme und die Ausstellungskonzeptionen, die nicht verwirklicht werden konnten, aufschlussreich, da sie das Ringen des Museumspersonals, seiner Leitung und der Behörden um die im Weiteren zu vertretenen Geschichtsbilder zeigen und deutlich machen, welche Themen und Bereiche des Gedenkens als politisch problematisch eingestuft wurden. Im Folgenden soll es nun zuerst um die tatsächlich umgesetzten Ausstellungen gehen. In einem zweiten Schritt werden die Konzeptionen behandelt, die nach Schließung des Museums entwickelt wurden und nicht zur Umsetzung kamen.

2.

Ausstellungen im Wandel

Chronologien Die Ausstellungsmacher, die Anfang 1944 innerhalb weniger Monate die erste Ausstellung zur Belagerung Leningrads zusammenstellten, standen vor einer schwierigen Aufgabe. Sie mussten Geschichtsbilder entwickeln, die gleichzeitig den ideologischen Anforderungen und den Erinnerungen der Leningrader Be703 f. 25; op. 18; d. 201; l. 18 – 21, Kovalev, V.: Kovalev an Leonov an Svincov : Erklärung zur Veröffentlichung des Museumsführers 4. 03. 1949, S. 20 f. 704 Ohne Autor : Muzej Oborony Leningrada. Putevoditel’. Leningrad, Moskva, 1948. 705 f. 25; op. 18; sv. 1342; ed. chran. 93; l. 15 – 18, CGAIPD: Ausstellungsprogramm des Verteidigungsmuseums (Entwurf) [Dez. 1948].

Ausstellungen im Wandel

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völkerung genügten sowie eine solide Grundlage für die weitere Geschichtsschreibung zur Belagerung bilden konnten. Um die Leningrader Kriegsgeschichte möglichst eindrucksvoll und positiv zu gestalten, boten sich im Rahmen der Ausstellung als Mittel die Auswahl, Anordnung und Kontextualisierung beziehungsweise Kommentierung der Exponate an.706 Die Bedeutung der Gesamtkonzeption muss umso höher eingeschätzt werden, da die Ausstellung einen großen Personenkreis erreichen und ihre Wirkung nicht nur auf der intellektuellen, sondern auch auf der emotionalen Ebene entfalten sollte. Die Möglichkeiten thematischer und chronologischer Gliederung des präsentierten Materials entfalteten insbesondere in ihrer gemeinsamen Anwendung ein nicht zu unterschätzendes propagandistisches Potenzial. So kam beispielsweise beim Umbau von der Ausstellung zum Museum eine Artillerieabteilung neu hinzu. Obwohl diese Abteilung chronologisch aufgebaut war, reflektierte sie nicht die ganze Geschichte der Artillerie in und bei Leningrad, sondern konzentrierte sich auf zwei Phasen des Kriegsgeschehens: den Vormarsch der Deutschen auf Leningrad und die Befreiung der Stadt von der Belagerung. Der Stellungskrieg, der die längste Zeit der Belagerung andauerte, wurde in der Darstellung völlig ausgeblendet. Sie beschränkte sich vielmehr auf die Phasen, die die meiste Dynamik und das beste Material für ein Heldennarrativ zu bieten hatten. Da die Blockade erst seit wenigen Monaten als in sich abgeschlossener Zeitraum gelten konnte, stand es 1944 an, das zu tradierende Wissen über diesen Zeitabschnitt auszuwählen und zu ordnen, ohne dass es Vorgaben aus Moskau gegeben hätte, die direkt der Geschichte der Belagerung angepasst worden wären. Zu diesem Zeitpunkt, zu Beginn des Jahres 1944, waren auch die grundlegenden Motive des Stalin’schen Paradigmas der Kriegsgeschichte noch nicht entstanden. Weder das Konzept der ›zehn Schläge‹, die ja erst im Jahr 1944 stattfanden, noch die Chronologie der vier Phasen des Kriegsgeschehens, die erst nach Kriegsende geprägt wurde, standen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung. Die Leningrader Parteiorganisation musste daher auf ihre eigenen umfangreichen Vorarbeiten zurückgreifen. Hier ergab sich ein Freiraum, der noch 706 Vgl. Beil, C.: »Musealisierte Gewalt«: Einige Gedanken über Präsentationsweisen von Krieg und Gewalt in Ausstellungen, in: Museumskunde Jg. 68 (2003), 1, S. 7 – 17, hier 8. Christine Beil resümiert zur Präsentation von Objekten aus dem militärischen Kontext: »[…] [V]on dem Gedanken, es gebe Neutralität im Museum, gilt es sich wohl ein für alle Mal zu verabschieden: Ausstellen bedeutet immer auswählen und damit Position beziehen. Vermeintliche Neutralität in der Präsentation oder der Objektauswahl hat zudem den Nachteil, dass sie der faszinierenden Eigendynamik, die Kriegstechnik, Waffen und Uniformen entfalten können, wenig entgegenzusetzen hat.«

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Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953

während des Krieges die Entstehung eigener chronologischer Linien in der Leningrader Kriegsgeschichte begünstigte. Diese waren vorerst vorrangig an den Ereignissen in Leningrad und nicht am Ablauf und an der ideologisch korrekten Gesamtinterpretation des Großen Vaterländischen Krieges orientiert. Wie bereits erläutert, hatte sich das Leningrader Institut für Parteigeschichte bereits seit 1943 mit der Belagerung beschäftigt. Neben dem erzählerischen Sammelband »Leningradcy v dni blokady« stand der 1944 erschienene erste Band der Quellensammlung »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne« in Vorbereitung, der am 28. 04. 1944 zum Druck freigegeben wurde und damit praktisch zeitgleich mit der Ausstellung entstand.707 Insbesondere diese Publikation bildete eine gute Grundlage für die Vorbereitung der Ausstellung, sodass letztendlich das Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes und die Gliederung der geplanten Ausstellung zu weiten Teilen übereinstimmten. Viele Formulierungen wurden in einem ersten internen Ausstellungsplan von Anfang 1944708 wörtlich übernommen und auch die in den Führern von 1945 und 1948 benannten Perioden entsprechen dieser Vorlage im Wesentlichen, sodass jeweils ein oder zwei Kapitel des Buches ihre Entsprechung in einer Abteilung der Ausstellung fanden. So entspricht beispielsweise das Kapitel »Kriegsbeginn und Umstellung auf Kriegsbedingungen«, das sich auf den Zeitraum vom 22. Juni bis Anfang August 1941 bezieht, der Abteilung »Leningrad in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges«, wie sie im Ausstellungs- bzw. Museumsführer von 1945 und 1948 beschrieben ist. Die beiden Kapitel »Der Kampf um die Beseitigung der Folgen des Hungerwinters und die Verstärkung der Verteidigungskraft Leningrads.« (Ende März-Mai 1942) und »Periode der Beendigung der Arbeiten zum Umbau Leningrads in eine Militärstadt« (Juni – Anfang August 1942) wurden dagegen in Ausstellung und Museum zu einer Abteilung mit dem Titel »Periode der Beseitigung der Folgen des Hungerwinters und der Umwandlung Leningrads in eine Militärstadt« zusammengefasst. Interessant ist die Verknappung und Schwerpunktverschiebung in der Formulierung von »Der zweite Kriegswinter, Durchbruch der Leningrader Blockade, Vorbereitung der entscheidenden Kämpfe« (November 1942 – Juni 1943) im Buch über »Die Herbst-Winteroffensive der Roten Armee und der Durchbruch der Leningrader Blockade« im internen Ausstellungsplan von 1944 bis zu »Durchbruch der Leningrader Blockade« in der tatsächlichen Umsetzung in Ausstellung und Museum709. Hier zeigt sich, wie sukzessive der einzelne Titel an

707 Leningradskij institut istorii VKP (b) (1944): Leningrad v (wie Anm. 177). 708 f. 25; op. 10; sv. 1017; ed. chran. 468; l. 17 – 21, CGAIPD: Ausstellungsprogramm Anfang 1944. 709 Vgl. Ohne Autor : Vystavka Geroicˇeskaja oborona Leningrada’. Ocˇerk putevoditel’. Leningrad, Moskva, 1945; Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704).

Ausstellungen im Wandel

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Schlagkraft gewinnt und auf das Wesentliche, nämlich den siegreichen Ausgang der Kämpfe reduziert wird. In der Ausstellung fand letztendlich im Wesentlichen eine Mischform zwischen chronologischer und thematischer Anordnung der Themen und Exponate Anwendung. Das Bestreben, eine Chronologie mit festgelegten Perioden zu etablieren, ist hier deutlich zu erkennen. Neben den Perioden wurden auch Themengebiete abgesteckt, die im Zusammenhang mit der Belagerung als bedeutsam angesehen wurden und zumeist als Unterkategorien einzelner Perioden fungierten. Im ersten Konzept der Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads« von 1944 waren elf Abteilungen vorgesehen710, von denen sich acht auf Zeiträume bezogen und drei themenbezogen waren. Zwei der thematischen Abteilungen haben eindeutig politisch-agitativen Charakter : dies sind die Einführungsabteilung »Das sozialistische Leningrad – ein hoch bedeutendes ökonomisches, politisches, militärisches und kulturelles Zentrum unserer Heimat« und die nicht realisierte Schlussabteilung »Vorwärts zur Vertreibung des Feindes aus den Grenzen des Heimatlandes. Tod den deutschen Eindringlingen!«. Bis auf die Schlussabteilung wurde diese Gliederung mit leichten Formulierungsänderungen in der 1944 eröffneten Ausstellung umgesetzt. Das Thema des Partisanenkampfes ließ sich offensichtlich nicht schlüssig in die Chronologie eingliedern, sodass es in Form einer abgegrenzten, in sich wiederum chronologisch organisierten Abteilung mit dem Titel »Die Partisanenbewegung im Leningrader Umland« der Ausstellung beigeordnet wurde. Obwohl das Belagerungsmuseum vor seiner Eröffnung 1945 ganz neu gestaltet wurde, veranlasste das Stadtkomitee bereits 1946 und 1947 grundlegende konzeptionelle Änderungen. Nach diesen Veränderungen hatte das Museum, wie in dem Museumsführer von 1948 dokumentiert, nun weitere vier thematische Abteilungen über die Ingenieurstruppen, den Luftschutz, die Artillerie und die Aviation in der Stadt, die den militärischen Schwerpunkt der Ausstellung nochmals deutlich verstärkten. Die Partisanenabteilung – ursprünglich wenig schlüssig und vermutlich aus räumlichen Gründen bei den Kämpfen im Vorgelände Leningrads eingeordnet – wurde ebenfalls in diesen letzten, thematisch organisierten Teil der Ausstellung integriert. Insgesamt war das Museum nun in einen umfangreicheren chronologischen Teil gegliedert, in dem einzelne Themenbereiche jeweils bestimmten Perioden zugeordnet waren, und in einen kleineren thematischen Teil, der die Arbeit militärischer und staatlicher Strukturen in chronologischer Abfolge dokumentierte. Die Einführungsabteilung zitierte nun im Titel den vierten Fünfjahrplan: »Leningrad – größtes politisches, industrielles und kulturelles Zentrum unseres

710 CGAIPD (1944): Ausstellungsprogramm (wie Anm. 708).

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Landes.« Es liegt nahe, dass gerade diese in Moskau geprägten Worte zur Absicherung gegen den Vorwurf der Leningrader Selbstherrlichkeit dienen sollten. Von besonderem Interesse ist im Zusammenhang der Entwicklung von Blockade-Chronologien der Umgang mit der verheerenden Hungersnot während der Belagerung. Ganz so wie in den Konzeptionen, die von Kuznecov und Tichonov vorgelegt worden waren, wurde auch hier dem Hunger und Leiden der Bevölkerung ein eigener Bereich – eine Epoche in der Blockadegeschichtsschreibung – zugeteilt. Diese Lösung findet sich wie erläutert auch in den bereits behandelten Materialbänden »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj Vojne«711. Die Hungersnot wurde als eigene Periode der »Hungerblockade« in die Chronologie der Belagerung aufgenommen. Die entsprechende Ausstellungsabteilung war zwar weniger umfangreich als die Teile, die sich mit den militärischen Erfolgen beschäftigten, nahm aber im Konzept der Ausstellung ihren festen Platz ein. Es zeigt sich also, dass die Integration der Hungersnot als eigene Epoche der Leningrader Kriegsgeschichte in den ersten Nachkriegsjahren weitverbreitet und unumstritten war. Die politisch hochkarätig besetzte Abnahmekommission, die das Museum im Februar 1946 begutachtete, legte gerade auf diese Abteilung besonderen Wert. Sie brachte sogar den Vorschlag ein, die Abteilung über die Hungerblockade mit Zeichnungen und Fotografien zu erweitern.712 Dies zeigt, dass zum Entstehungszeitpunkt des Museums das Thema des Hungers von der Leningrader Parteielite durchaus nicht als politisch anstößig angesehen wurde. In den ersten Nachkriegsjahren war die Zeit des Hungers noch sehr präsent und auch die Parteifunktionäre hatten, wenn auch nicht am eigenen Leib, den Umfang der Katastrophe erfahren und im Gedächtnis behalten. Gerade das Beispiel des Verteidigungsmuseums zeigt, dass bei der Ausbildung des lokalen Kriegsgedenkens die Zeitzeugenschaft der Vertreter der Parteiführung für die transportierten Inhalte besonders ausschlaggebend war. Obwohl die Maxime einer ›positiven und zukunftsgewandten‹ Erinnerung Geltung fand, so war es doch unmöglich, das noch so präsente Leiden der Bevölkerung auszusparen. Indem die Hungerblockade zur historischen Periode wurde, war das Thema eingegrenzt und hatte zunächst einen eigenen Platz im Gesamtzusammenhang der neu entstehenden Geschichtsbilder. 711 Leningradskij institut istorii VKP (b) (1944): Leningrad v (wie Anm. 177). Leningradskij institut istorii VKP (b) (1947): Leningrad v (wie Anm. 177). 712 Vgl. Archiv Muzeja oborony Leningrada (1946): Abnahmedokument des (wie Anm. 698), S. 2. Laut dem Schriftstück führte eine Kommission von Kapustin, Popkov, Sˇirokov, Cholostov, Tjurkin und Racˇinskij am 18. Februar 1946 entsprechend der Entscheidung des Gorkombüros vom 5. Februar in Gegenwart des Museumsdirektors Rakov eine Museumsabnahme durch. Die Verfügung des Gorkom über die Umwandlung der Ausstellung in ein Museum war damit erfüllt.

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Darstellungsmittel Was die Darstellungsmittel und die Weise der Präsentation in der Ausstellung angeht, war das Leningrader Verteidigungsmuseum ähnlichen Einrichtungen, die seit dem Ersten Weltkrieg in Westeuropa existierten, durchaus vergleichbar.713 Die meisten der von Christine Beil benannten Kategorien üblicher Darstellungsmittel von Krieg und Gewalt in Museen714 lassen sich in den Exponaten des Verteidigungsmuseums wiederfinden: Objekte aus dem militärischen Kontext, Alltagsdinge im Kontext von Krieg und Gewalt, Fotografien, Dingkult, Museumsraum als Bedeutungsträger.715 Allerdings fehlen die Mittel, die im kritischen Kontext heutiger Ausstellungen genutzt werden, um eine deutliche Distanzierung zur dargestellten Gewalt zu erreichen, wie der Verzicht auf Exponate oder betonte Nüchternheit und Distanz in der Darstellung. Eine solche Distanzierung lag offensichtlich nicht im Interesse der Veranstalter der Ausstellung, dürfte jedoch auch in anderen Ländern zu dieser Zeit kaum üblich gewesen sein. Statistische Daten Ein Exponattyp, der über die genannten Kategorien hinaus eine große Rolle spielte, war statistisches Informationsmaterial. Anhand der Museumsführer lässt sich nicht feststellen, inwieweit die in der Ausstellung präsentierten Zahlen damaligen oder sogar heutigen Kenntnissen entsprachen oder ob sie bewusst manipuliert worden waren. Auffällig ist jedoch, dass vor allem solche Informationen präsentiert wurden, die die Verluste des Gegners oder allenfalls eigene Sachverluste bezifferten, nicht aber die Opferzahlen zeigen. So wurden in der Abteilung »Der Kampf im nahen Leningrader Vorgelände« Verlustzahlen nur der deutschen Luftwaffe, nicht aber der sowjetischen Seite genannt. In der Abteilung »Leningrad in der Hungerblockade« gab es zwar Zahlen zu den Zerstörungen, die an einem Tag durch Beschießungen und Bombardierungen angerichtet worden waren, nicht aber zur Anzahl der Menschen, die an einem Tag durch Beschießungen und Hunger zu Tode kamen. Stattdessen wurde eine Statistik über die aus Trümmern geretteten Personen präsentiert. Eine zentrale Technik der gezielten ideologischen Einflussnahme bestand also in der Auswahl der präsentierten Daten.

713 Vgl. insbesondere Zwach (1999): Deutsche und (wie Anm. 691) sowie: Lange, B.: Einen Krieg ausstellen. Die »Deutsche Kriegsausstellung« 1916 in Berlin. Berlin, 2003. 714 Beil (2003): »Musealisierte Gewalt (wie Anm. 706). 715 Vgl. Ebenda.

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Militärische Objekte Das Mittel der Selektion spielte auch bezüglich anderer Exponatgruppen wie beispielsweise bei den militärischen Objekten eine Rolle. In der Abteilung »Die Luftstreitkräfte der Leningrader Front im Kampf um die Stadt Lenins«, die erst nach den Umbauten 1946 / 47 hinzugekommen war, fand sich beispielsweise eine 1100 kg schwere sowjetische Sprengbombe. Der Museumsführer von 1948 kommentiert dazu: »Mit solchen Bomben haben unsere Bomberpiloten die Lebenszentren des Gegners getroffen.«716 Da sich die Ausstellung jedoch eigentlich mit dem Schicksal Leningrads im Krieg beschäftigte, entsteht die Frage, warum nicht eine deutsche Bombe, wie die, die Zerstörungen in der Stadt verursacht hatten, in der Ausstellung gezeigt wurde, zumal es eine wichtige Aufgabe der sowjetischen Luftstreitkräfte war, Bombenangriffe abzuwehren. Als Erklärung liegt nahe, dass es in ideologischer Hinsicht gewinnbringender erschienen sein muss, an die Zerstörungen in Deutschland zu erinnern, als die Zerstörungen im eigenen Lager zu thematisieren. Ein auffälliges Darstellungsmittel, das als Präsentationsprinzip gelten kann, ist die häufige Personalisierung der ausgestellten Waffen. Diese wird erreicht, indem das jeweilige Exponat mit Informationen über den Mann, der es bediente, und dessen Heldentaten präsentiert wurde. Seltener kommt auch in der Sprache der Museumsführer eine ›Belebung‹ der ausgestellten Waffen vor. Ein besonders eindringliches Bild wird im Zusammenhang mit einem im Trophäensaal ausgestellten deutschen Geschützrohr beschworen. Der Museumsführer von 1945 kommentiert: »Das gefangene Ungeheuer ist nun im Ausstellungssaal erstarrt und zeugt von der Kraftlosigkeit des Feindes.«717 Das Bild zitiert die in Russland seit dem Mittelalter verbreitete sakrale und säkulare Drachentötermythologie, in der ein positiver, männlicher Held (Georgij Pobedonosec, Dobrynja Nikiticˇ u. a.) das Land von einem Drachen befreit, den er tötet. Dieses Motiv auf die Situation des Sieges über Hitlerdeutschland zu übertragen, war auch in den sowjetischen Medien bei Kriegsende verbreitet.718 Im Museumsführer von 1948 wurde das Bild abgeschwächt; nun ist nicht mehr von einem »Ungeheuer« die Rede. Im Bezug auf den Kriegsgegner verstärkt sich jedoch die Rhetorik, da nicht mehr nur dessen »Kriegskraft geschwächt« ist, sondern seine Niederlage und Vernichtung tatsächlich zur Realität geworden sind: »Die eingenommene Waffe ist nun im Museumssaal erstarrt und zeugt von der Niederlage und Vernichtung des Feindes.«719 716 Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 192. 717 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 112. 718 Bilibin, I. J.: Bitva russkogo bogatyrja so ›smeem gorynycˇem‹. Zeichnung, in: Leningrad (1945), 9, S. Umschlag Innenseite. 719 Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 120.

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Ähnlich wie von Christine Beil beschrieben, lässt sich gerade auf dem Gebiet der Objekte aus dem militärischen Kontext der massive Einsatz von Dingkult zeigen: »Die Ausstellungsmacher setzen auf Beeindruckungsobjekte, die zumeist frei, durch keine Absperrung vom Besucher getrennt im Raum stehen […]. Das Spektakuläre am Krieg beherrscht hier die Szene – eine Seite, die die Besucher solcher Museen wohl auch suchen. Zu diesem Technikkult kommt eine Art Reliquienverehrung, wie sie vor allem um Gegenstände berühmter Persönlichkeiten betrieben wird.«720

Diese Art der Präsentation prägte im besonderen Maße die Ausstellung und das Museum der Verteidigung Leningrads. Über die in den Sälen aufgehängten Flugzeuge, Raketen und ausgestellten Panzer hinaus lässt sich die Reihe der ausgestellten ›Beeindruckungsobjekte‹ beliebig fortsetzen. Ein besonders bekanntes Exponat des Museums, das eindeutig der Kategorie des Dingkults zugeordnet werden kann, war eine Pyramide aus den Helmen gefangener oder gefallener deutscher Soldaten im Trophäensaal des Museums. Museums- und Ausstellungsführer kommentieren die Installation einhellig: »Entlang der linken Seite des Saales ist eine riesige Pyramide aus deutschen Helmen aufgebaut. Irgendwann einmal hat jede von ihnen den Kopf eines deutschen Eindringlings bedeckt.«721

In dem Zitat wird deutlich, dass die Bedeutung des Exponates nicht in der Präsentation der Helme an sich, sondern in ihrer Masse lag. Über das militärische Exponat hinaus, das über die Schlagkraft einer eigenen oder gegnerischen Waffe oder über die Ausrüstung der Kämpfenden informieren sollte, wurden die Helme so zu Kultgegenständen, deren Aussage nicht auf der Sachebene, sondern im emotionalen Bereich liegt. Jeder einzelne Helm wurde vom militärischen Gegenstand quasi zum Überrest des gefallenen Soldaten. Stalin und die Leningrader Führungsriege Das Mittel des Dingkultes beschränkte sich nicht auf Exponate aus dem militärischen Bereich. Mythisierend überhöhte Gegenstände wurden insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Personenkult um Stalin eingesetzt. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die subtile Wirkungsweise des Dingkultes bildet ein Exponat, das im Museumsführer von 1948 beschrieben wird. Es handelt sich um ein aus einer Zeitung ausgeschnittenes Stalinporträt aus dem Besitz eines gefallenen Soldaten, das in der Abteilung 10 »Der Große Sieg bei Leningrad« zu sehen war. Das blutbefleckte Dokument trägt die Unterschrift des 720 Beil (2003): »Musealisierte Gewalt (wie Anm. 706), S. 12. 721 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 119; Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 129.

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Gefallenen: »Die Partei und das Volk der UdSSR sollen wissen, dass ich als Kommunist gestorben bin.« Im Museumsführer ist dieses Exponat abgebildet und wird wie folgt kommentiert: »Dieses erschütternde Dokument bezeugt die selbstlose Kühnheit der sowjetischen Soldaten, ihre grenzenlose Hingabe an die Partei Lenins-Stalins.«722 Die Ausstellung blutbefleckter Gegenstände kann nicht als Mittel zur sachlichen Information verstanden werden. Vielmehr besteht der Symbolgehalt der Blutflecken darin, das Opfer des Gefallenen besonders eindrucksvoll sichtbar zu machen. Wie dieses Opfer zu verstehen ist, hat der Soldat, gleich einem Vermächtnis, selber in das hinterlassene Bild eingeschrieben: Er ist für seine kommunistische Überzeugung gestorben – sein Opfer trägt gleichsam das Gesicht Stalins. In dem blutgetränkten Porträt seines Idols vollzieht sich seine Verschmelzung mit der Person Stalins. Ein besonders augenfälliges Beispiel für die mythische Überhöhung der Person Stalins findet sich in einer Installation, die in sich militärische Elemente, die Silhouette Leningrads und die Person Stalins vereint. Das Ensemble ist ebenfalls im Museumsführer von 1948 beschrieben und abgebildet: »Vor dem Hintergrund der Silhouette Leningrads symbolisieren die riesigen Kanonen, von hellem Licht überflutet, die Macht der Stalin’schen Artillerie. Über dem Wandbild die berühmt gewordenen Worte des Genossen I. V. Stalin: ›Die Artillerie ist der Gott des Krieges‹.«723

Die Stalinbüste vor dem Hintergrund eines Panoramas im Leningrader Stadtzentrum, der Börse mit den Rostralsäulen, suggeriert die Präsenz des Führers in der Stadt – obwohl er Leningrad während der Belagerung nicht besucht hatte. Die Stufen vor dem Bild erinnern an den Zugang zu einem Altarraum. Stalin selbst wird dabei zum »Gott des Krieges« stilisiert. Die Banner an den äußeren Bildrändern bringen ein sowjetpatriotisches Element ein. Ein zentraler Vorwurf, der von der Moskauer Führung während der Leningrader Affäre und insbesondere bezüglich des Verteidigungsmuseums erhoben wurde, war, die Rolle Stalins sei in der Geschichtsschreibung und im Museum nicht ausreichend hervorgehoben worden. Vor diesem Hintergrund ist in der Untersuchung der Ausstellung und des Museums die Präsenz Stalins sowie das Verhältnis der Abbildungen Stalins zu Darstellungen der Leningrader Parteiführer von besonderem Interesse. Wie bereits erwähnt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verhältnis zwischen der Moskauer und der Leningrader Parteiorganisation in einem länger anhaltenden Prozess verschlechterte. Dies legt nahe, dass Änderungen in der Ausstellung Hinweise auf diese politischen 722 Ebenda, S. 106. 723 Ebenda, S. 181.

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Vorgänge geben könnten. Außerdem waren einige der relevanten Leningrader Parteifunktionäre, zumindest seit der Umwandlung der Ausstellung in ein Museum, persönlich am Schicksal des Museums und auch an dessen Abnahme beteiligt. Sie alle hatten besonderes Interesse daran, dass ihre eigenen Verdienste im Museum angemessen dargestellt wurden. Dank ihres Einflusses wurden, laut Abnahmeprotokoll, im Siegessaal Porträts der Führer von Partei- und Sowjetorganisationen und der wichtigsten Persönlichkeiten der Leningrader Industrie angebracht.724 Der Vergleich von Ausstellungsführer und Museumsführer legt nahe, dass es in der Entwicklung von der Ausstellung zum Museum bezüglich der Darstellung der Verdienste Stalins und der Leningrader Parteikader zwei einander entgegenlaufende Bewegungen gab. Die Leningrader Funktionäre konnten und wollten ihre Verdienste um Leningrad anhand vieler konkreter Tätigkeitsfelder hervorgehoben wissen. Stalin hatte sich während des Krieges nur peripher mit den Ereignissen in Leningrad beschäftigt. Daher beschränkten sich die realistischen Möglichkeiten, seinen Anteil an dem ›großen Sieg bei Leningrad‹ gebührend zu würdigen, auf allgemeine Aussagen oder militärische Grundsatzentscheidungen. Die tendenzielle Verschlechterung der Beziehungen zwischen Leningrad und der Parteizentrale seit 1946 hatte das deutlich ausgeprägte Bemühen zur Folge, der Person Stalins eine prominentere Rolle im Museum einzuräumen, als er in der Ausstellung von 1944 gehabt hatte. Teilweise wurde die Präsenz bekannter Leningrader zurückgenommen. Ihre Porträts wurden in den einzelnen Sälen nicht mehr zuvorderst, sondern im hinteren Teil des Saales angesiedelt. Im Ausstellungsführer von 1945 wird eine Fotografie des Smolnyj, einem zentralen Erinnerungsort, der, wie bereits gezeigt, mit den Personen Lenins und Stalins verbunden war, auch mit einem Hinweis auf Leningrader Parteiführer verknüpft: »Mit dem Gebäude des Smolnyj ist die Tätigkeit des ›flammenden‹ Volkstribuns und Lieblings des Volkes S. M. Kirov und A. A. Zˇdanovs, dem Leiter der heldenhaften Verteidigung Leningrads, verbunden.«725

1948 dagegen bleibt zwar der Hinweis auf das Smolnyj als Hauptquartier der Revolution und Wirkungsstätte Lenins und Stalins erhalten, der Kommentar zu Kirov und Zˇdanov fällt jedoch weg. Scheinbar gegenläufig zu dieser Entwicklung findet sich im Museumsführer von 1948 eine neue Abbildung einer am Ende derselben Abteilung ausgestellten Zˇdanov-Büste. Anhand einzelner Textstellen lässt sich der Versuch feststellen, Stalins indi724 Archiv Muzeja oborony Leningrada (1946): Abnahmedokument des (wie Anm. 698), S. 2. 725 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 7.

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rekte Teilnahme an den Ereignissen um Leningrad hervorzuheben. Gleichzeitig wurde die Eigeninitiative der Leningrader Bevölkerung in der Darstellung zurückgenommen. Das Kapitel vier zur Partisanenabteilung wird im Ausstellungsführer von 1945 mit dem Satz eingeleitet: »Der Roten Armee zu Hilfe traten die Arbeiter der Stadt Lenins und des Leningrader Gebiets, die die Welt mit ihrem Heroismus und ihrer Standhaftigkeit verblüfften, in den tödlichen Kampf mit den faschistischen Eindringlingen. In allen von den Deutschen eingenommenen Gebieten bildeten sich Partisanenabteilungen und entfaltete sich der Partisanenkrieg.«726

Im Museumsführer von 1948 werden Kausalitäten und auch die Eigenschaften der Leningrader Werktätigen in demselben, redaktionell bearbeiteten Satz anders dargestellt: »Dem Aufruf des Genossen I. V. Stalin folgend, traten Tausende von Patrioten, die Werktätigen der Stadt Lenins und des Leningrader Gebiets in den tödlichen Kampf mit den faschistischen Eindringlingen. In allen zeitweise von den Deutschen eingenommenen Gebieten wurden Partisanenabteilungen eingerichtet.«727

Als ursächlich für die Bildung der Partisanenverbände wurde nicht mehr die Tatsache dargestellt, dass die Rote Armee Unterstützung benötigte. Nun galt der Aufruf des Genossen Stalin als ausschlaggebend. Die Betonung von Heroismus und Standhaftigkeit der Leningrader Arbeiter entfiel. Hinzu kam hingegen der Hinweis, dass die Gebiete zeitweise besetzt gewesen waren. Bemerkenswert ist auch die Änderung bezüglich des handelnden Satz-Subjektes im Vergleich der beiden Sätze. Partisanenabteilungen, die »sich bildeten«, suggerieren eine gewisse Eigendynamik und selbstbestimmtes Handeln ihrer Akteure. Dieses aktive Handeln wird im zweiten Satz durch die Verwendung des Passivs ausgeblendet. In Verbindung mit den Kontextsätzen ensteht der Eindruck, dass nicht die Partisanen ihre Abteilungen gründeten, sondern die Parteiorganisation. Ein Gebiet, auf dem sich das Wirken der Leningrader Parteifunktionäre besonders als Thema anbot, war die Abteilung »Leningrad in der Periode der Hungerblockade«. Sie wurde zwischen 1945 und 1948 bedeutend erweitert. In dieser Abteilung spielte die Person Zˇdanovs eine besonders große Rolle, insbesondere im Zusammenhang der Einrichtung der Eistraße über den Ladogasee im Winter 1941 – 1942. Gleichzeitig wird gerade in dieser Abteilung das Bestreben, Stalin buchstäblich in den Vordergrund zu rücken, deutlich. Am Beginn dieser Abteilung stand nach dem Ausstellungsführer von 1945 noch eine Fotografie von Zˇdanov und Kuznecov während eines Telefongesprächs mit dem 726 Ebenda, S. 23. 727 Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 146.

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Kreml. Ein Stalinporträt mit Zitat war erst im zweiten Saal zu finden. Im Museumsführer von 1948 waren Porträt und Zitat an den Beginn der Abteilung gesetzt worden. Die Rolle Stalins wird nun besonders hervorgehoben: »[…] Genosse Stalin gab eine Analyse der sich an der Front entwickelnden Lage und zeigte in genialer Voraussicht, dass die Niederlage des faschistischen Deutschlands unvermeidlich sei. Er legte die grundlegende Aufgabe der sowjetischen Menschen fest: ›…die Kriegskraft der deutschen Eindringlinge muss zerstört werden, alle deutschen Okkupanten, die in unsere Heimat eingefallen sind, um uns zu versklaven, müssen bis zum letzten vernichtet werden.‹«728

Grundsätzlich ist die Tendenz erkennbar, einzelne Zitate so zu setzen, dass sie wie direkte Aufträge zum Handeln wirken. So entsteht der Eindruck des direkten persönlichen Engagements Stalins für die belagerte Stadt. Gerade in der Abteilung über die Hungerblockade geht jedoch mit der Hervorhebung Stalins auch die Erweiterung der Einbeziehung von Leningrader Parteivertretern einher. So wurden Porträts von Popkov und Kosygin neu in die Ausstellung des Museums aufgenommen. Diese waren jedoch erst im dritten Saal der Abteilung zu sehen. Die Abteilung »Der Große Sieg bei Leningrad« zeigte am deutlichsten den politischen Klimawandel. Sichtbar wird dieser bereits in den Stalinzitaten, mit denen diese Abteilung eröffnet wurde. 1945 klang in dem einleitend zitierten Ausspruch Stalins vor allem Lob für die Erfolge der Roten Armee an: »Dieses Jahr war vor allem deshalb ein Wendejahr, weil der Roten Armee in diesem Jahr erstmals seit Kriegsbeginn eine große Sommeroffensive gegen die deutschen Truppen gelang.«729

1948 war dieser Ausspruch weiter nach hinten gerückt, während das Zitat, das am Beginn der Abteilung zu lesen war, vor allem Stalins Autorität als politischer Führer und dessen Handlungsanweisungen in den Mittelpunkt rückte: »Das Wichtigste besteht jetzt darin, dass die gesamte Rote Armee Tag für Tag ihre Kampftechniken verbessert, dass alle Kommandeure und Soldaten der Roten Armee die Kriegserfahrung studieren und lernen, so zu kämpfen, wie es der Sieg erfordert.«730

Diese Sichtweise wird im Folgenden weiter gestützt mit der Feststellung, dass die erfolgreichen Sommerkämpfe des Jahres 1943 durch die parteipolitische Arbeit mit dem Buch »Über den Großen Vaterländischen Krieg« von I. V. Stalin inspiriert gewesen seien.731 Auch in dieser Bemerkung lässt sich das Bestreben erkennen, in der Leningrader Kriegsgeschichte Anhaltspunkte für eine mög728 729 730 731

Ebenda, S. 38. Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 100. Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 97. Ebenda, S. 100.

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lichst unmittelbare und persönliche Beteiligung Stalins am siegreichen Ausgang der Belagerung zu finden. Da Beispiele seines direkten Handelns nicht gefunden werden konnten, wurde seine persönliche Beteiligung über die Rezeption seiner Schriften konstruiert, die angeblich zu den militärischen Erfolgen beigetragen haben sollten. Der zweite Saal wird mit Büsten von Stalin, seinen Marschällen und den Politbüromitgliedern eröffnet, dann folgt eine Reihe von ausgestellten Waffen und Wandbildern und erst am Ende findet sich eine neu hinzugekommene Porträtgalerie, die die Mitglieder des Leningrader Militärrates, die Generäle der Leningrader Front und die lokalen Parteiführer zeigt. Auch hier wird die demonstrative hierarchische Hervorhebung Stalins gegenüber den Leningrader Parteifunktionären deutlich. Insgesamt lässt sich beim Studium der publizierten Dokumentationen zu Ausstellung und Museum feststellen, dass in ihrer Entwicklung von 1944 bis 1948 durchaus eine Sensibilisierung für die hierarchische Anordnung lokaler Parteivertreter gegenüber der Person Stalins stattgefunden hat. Augenfällig ist im Vergleich der Ausstellungsführer besonders die verstärkte Betonung der Rolle Stalins in der späteren Veröffentlichung. Eine Herabminderung der Bedeutung der lokalen Parteiführer ist in dem sich entwickelnden Geschichtsbild jedoch 1948 nicht festzustellen. Die Hervorhebung ihrer Verdienste und ihre Präsenz in der Ausstellung verstärkte sich einerseits. Andererseits wurden ihre Verdienste dezidiert gegenüber der größeren Bedeutung Stalins als politischer und militärischer Führer abgegrenzt. Letztendlich erscheint die tatsächlich realisierte Museumsausstellung als versuchter Kompromiss zwischen dem Geltungsbedürfnis Stalins auf der einen und den Interessen lokaler politischer Akteure auf der anderen Seite. Offen bleibt, ob dieser Wandel ausschließlich auf die Zeitschriftenverordnung zurückzuführen war, oder ob über die Zensur des Ausstellungsführers hinaus seitens der Moskauer Parteizentrale direkt Einfluss auf die Entwicklung von Ausstellung und Museum genommen wurde. Die Zivilbevölkerung Leningrads »Das Museum soll anhand der Ausstellungsmaterialien den Patriotismus der Massen propagieren, den die sowjetischen Menschen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges gezeigt haben, und am Beispiel der heldenhaften Leningrader die Fähigkeit vermitteln, jedwede Schwierigkeiten zu überwinden.«732

Die Frage, wie die Zivilbevölkerung in Ausstellung und Museum dargestellt wurde, ist im Kontext der politischen Instrumentalisierung der Belagerung von 732 CGAIPD (1948): Ausstellungsprogramm des (wie Anm. 705), S. 16.

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besonderer Bedeutung. Dabei ist zu fragen, welche Aspekte des Lebens in der belagerten Stadt in die sich im Museum entwickelnden Geschichtsbilder eingingen und welche unerwähnt blieben. Zum einen ging es, zumindest nach dem zitierten Arbeitspapier des Museums darum, die Fähigkeit der ›heldenhaften Leningrader‹ zu zeigen, Schwierigkeiten zu überwinden, zum anderen erforderte dies das Zugeständnis, dass es in der belagerten Stadt überhaupt Probleme gegeben hatte. Je ausgeprägter der Heldenmut der Zivilbevölkerung dargestellt wurde, umso tiefer mussten die Einblicke in die existenzielle Not der Bevölkerung der hungernden Stadt gehen. Die Gefahr bei einer solchen Darstellung war jedoch, dass sich gerade im Zusammenhang mit der Hungerthematik mögliche Ansatzpunkte zur Kritik an der Leningrader und auch der Moskauer Führung offenbarten. Eine weitere ›Gefahr‹ bestand darin, die Eigeninitiativen der Zivilbevölkerung im Umgang mit der Not besonders hervorzuheben, da dies die Rolle der Partei- und Sowjetstrukturen als ›Retter‹ Leningrads schmälern konnte. Zwei Perioden boten sich besonders an, das Leben der Zivilbevölkerung in der belagerten Stadt zu thematisieren. Dies waren die Abteilung »Die Periode der Hungerblockade«, die den Winter 1941 / 42 zum Inhalt hatte, und die darauffolgende Abteilung »Beseitigung der Folgen des Hungerwinters«, die die Aufräumarbeiten und die Maßnahmen zu Vorbeugung einer erneuten Hungersnot im Frühjahr und Sommer 1942 darstellte. Die Abteilung zum Hungerwinter zeigte bereits 1944, aber auch weiterhin bis 1949 eine große Anzahl von Motiven, die auch heute zum Repertoire der gängigen Geschichtsbilder zur Blockade gehören. Dies betrifft sowohl die Darstellung der Arbeits- als auch der Lebensbedingungen der Bevölkerung. Dem Ausstellungsführer von 1945 lässt sich entnehmen, dass es Bilder von hungerkranken, aufgeschwemmten Fabrikarbeitern in vereisten Zechen gab. Das Bild einer Arbeiterin, die mit der Hand arbeiten musste, weil die Stromversorgung für die Maschinen unterbrochen war, wurde ebenfalls gezeigt. Die Aufnahme einer Frau an einem improvisierten Zimmerofen, der sogenannten Burzˇujka, ist typisch, auch für heutige Darstellungen der Blockade. Ebenfalls verbreitet sind bis heute Fotos von Menschen, die sich Wasser aus einem zugefrorenen Kanal holen müssen.733 Sowohl Ausstellung als auch Museum zeigten eine Waage mit der geringsten Brotration von 125 Gramm, die im Winter 1942 / 43 an sogenannte Unterhaltsempfänger734 ausgegeben wurde. In einem Diagramm wurde auch die Zusammensetzung dieses Brotes mit einem großen Teil beigemischter Ersatzstoffe erklärt. 733 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 64 f. 734 russ.: izˇdivency. Gemeint sind nicht Berufstätige.

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Die Zivilbevölkerung Leningrads kam in der Ausstellung vorwiegend in Gestalt anonymer oder zumindest weitestgehend hilfloser Opfer vor, die in der Stadt verhungerten oder durch Beschießungen getötet wurden. Diese Tendenz verstärkte sich eher noch im Museum, das weitere Fotos und Zeichnungen über den Blockadealltag ausstellte und auch das Tagebuch der kleinen Tanja Savicˇeva in die Ausstellung aufnahm, in dem sie den Tod aller ihrer Angehörigen aufgezeichnet hatte. Als Zivilperson, die namentlich in der Ausstellung vorkam, bildet Tanja Savicˇeva die Ausnahme. Sie vertrat nicht zufällig die Zivilbevölkerung und gab ihr ein Gesicht. Als kleines Mädchen, das vollkommen hilflos den fürchterlichen Lebensumständen in der Belagerung ausgeliefert ist und schließlich selbst stirbt, verkörpert Tanja Savicˇeva ein Gegenbild zu den männlichen Opferhelden der im Kampf gefallenen Soldaten. Ihre kindliche Unschuld und ihre Fassungslosigkeit vor dem ihr geschehenen Grauen machte es den Rezipierenden unmöglich, emotional unbeteiligt zu bleiben. Kinder stellten selbstredend die Opfergruppe dar, die eben völlig auf die Fürsorge durch Parteiorgane, Stadtverwaltung und Familien angewiesen waren. Sie hatten kaum reale Handlungsräume zum Umgang mit der Not. Damit ließ sich Tanja Savicˇeva als reines Opfer darstellen. Ihr Opfer-Sein wurde nicht durch eigenmächtiges Handeln gemindert, wie das bei erwachsenen Zivilpersonen der Fall gewesen war, die zu ihrer Rettung auch nicht selten Maßnahmen – wie das Handeln auf dem Schwarzmarkt oder Unterschlagen von Lebensmitteln – ergreifen mussten, die nicht dem offiziell gebilligten Verhalten entsprachen. Die Tendenz zur einseitigen Viktimisierung von Zivilpersonen steht in einem krassen Gegensatz zu der Tatsache, dass es in der Ausstellung keine Statistiken zu den tatsächlich in der Stadt durch Hunger oder Beschießungen umgekommenen Zivilpersonen gab. Gerade in dieser Hinsicht hebt sich die Darstellung der Zivilbevölkerung auch besonders stark von der Darstellung Militärangehöriger ab. Während Waffen häufig mit Porträts der sie bedienenden Soldaten und unter Hinweis auf deren Heldentaten präsentiert wurden, wird der Hinweis auf die heldenhafte Zivilbevölkerung, nicht selten Frauen, zumeist allgemein gehalten. Die Tendenz zur Verallgemeinerung sowohl der Verdienste als auch des Leidens der Zivilbevölkerung verstärkte sich zwischen 1945 und 1948. So ist im Ausstellungsführer im Kontext der Abteilung »Kampf auf den nahen Positionen vor Leningrad« zu lesen: »Der Heroismus der Leningrader war eine Massenerscheinung. Der Feind stand vor den Toren der Stadt. Die Stadt wurde zur Front und jeder Leningrader zum Kämpfer.«735 Der analoge Textabschnitt fällt im Museumsführer deutlich kürzer aus. Er lautet: »Die Kämpfe um Leningrad waren reich an Beispielen des Heroismus seiner Verteidiger.«736 Das 735 Ebenda, S. 52. 736 Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 30.

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Attribut des Heroismus wird nun nicht mehr »den Leningradern« an sich zugeschrieben, sondern den »Verteidigern« der Stadt, was es eindeutig auf den militärischen Kontext fokussiert. Während 1945 der Begriff der Front und der Kämpfer auch auf die Zivilbevölkerung ausgedehnt wurde, beschränkt er sich in der Neuauflage von 1948 klar auf den militärischen Bereich. Da die Mehrzahl der in der Stadt verbliebenen erwachsenen Personen Frauen waren, gibt die Beschäftigung mit der Darstellung der Zivilbevölkerung in Ausstellung und Museum besonderen Einblick in die Konstruktion von Genderstereotypen im Gedenken an die Blockade. Der Bereich, in dem die Rolle der Frauen insbesondere hervorgehoben wurde, ist die Abteilung VII mit dem Titel »Periode der Beseitigung der Folgen des Hungerwinters und Umwandlung Leningrads in eine Kriegsstadt«. Dieses Thema wird nicht über eine Unterscheidung zwischen den Aufgaben von Männern und Frauen in der belagerten Stadt eingeführt, sondern durch ihre Gleichsetzung: »In Leningrad gibt es keine Grenze zwischen Front und Hinterland… jeder Leningrader, Mann und Frau, hat seinen Platz im Kampf gefunden und erfüllt rechtschaffen seine Pflicht eines sowjetischen Patrioten.«737

Dieser Satz bleibt im Museumsführer unverändert. Die Gleichsetzung von Männern und Frauen wird hier topographisch verbildlicht: So wie Front und Hinterland in der belagerten Stadt nicht zu trennen seien, sollen auch die Aufgaben und Tätigkeitsfelder von Männern und Frauen untrennbar sein. Auf der Darstellungsebene findet sich ein massiver Unterschied zwischen der Abbildung von Frauen und Männern. Während das Handeln von Frauen allgemein in Fotos von nicht näher bezeichneten Personengruppen beispielsweise »Frauen bei Wiederaufbauarbeiten«738 dokumentiert wird, kommen selbst in dieser nicht vorwiegend militärisch ausgerichteten Abteilung einzelne Männer persönlich vor. 1945 findet sich hier das Gemälde: »Die unsterbliche Heldentat des Pioniers P. Labutin« sowie die Zeichnung »Heldentat des Unterleutnants zur ˇ ugunov«. Sowohl in der Ausstellung als auch im Museum war ebenfalls in See C dieser Abteilung das Gemälde »Die Heldentat des Nachrichtensoldaten Sprincon« sowie ein Funkgerät aus dessen Besitz zu sehen. Im Gesamteindruck wurden Männer zu konkreten Helden stilisiert, während die Beteiligung von Frauen abstrakt und allgemein behandelt wird. Dies lag sicher nicht daran, dass sich bei der Beschäftigung mit diesem Thema nicht auch herausragende Leistungen einzelner Frauen hätten finden lassen. Es muss vielmehr als eine, wenn auch vermutlich nicht bewusst getroffene, konzeptionelle Entscheidung der 737 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 75 sowie Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 70. 738 Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 75.

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Verantwortlichen angesehen werden, in deren Weltbild offensichtlich eine Trennung zwischen ›männlichem Individualheldentum‹ und ›weiblichem Kollektivheldentum‹ auszumachen ist. Dieser Eindruck wird verstärkt durch ein Popkov-Zitat, das sowohl in der Ausstellung als auch im Museum zu lesen war : »Eine herausragende Rolle im Leben Leningrads spielten die Leningrader Frauen… die schwersten Arbeiten von Holzfällern, Ladearbeitern, Gießern, Betonarbeitern übernahmen – erfolgreich und selbstlos – die Leningrader Frauen… überall und allerorts waren die heldenhaften Frauen voraus.« (Auslassungen im Original)739

Beide Elemente, die sich allgemein in der Darstellung der Geschlechterrollen erkennen lassen, werden auch in diesem Zitat deutlich. Zum einen liegt die proklamierte Heldenhaftigkeit der Leningrader Frauen gerade darin, traditionell männlich konnotierte Aufgaben erfolgreich zu erfüllen. Zum anderen wird dies als Massenerscheinung charakterisiert und – ohne konkrete Beispiele – verallgemeinernd dargestellt. Das Mittel der künstlerischen Darstellung im Porträt, das die Bedeutung der dargestellten Persönlichkeit besonders hervorhebt, war offensichtlich den männlichen Helden vorbehalten, während Frauen mit dem profaneren und zufälligeren Mittel der Fotografie dargestellt wurden. Hinsichtlich der Darstellung der Zivilbevölkerung und auch der Genderrollen ist auch der erst nach den Erweiterungen hinzugekommene Museumssaal über die Arbeit der Luftschutzorganisation MPVO740 von besonderem Interesse. Gerade auf diesem Gebiet lässt sich nur schwer zwischen der Zivilbevölkerung und den Angehörigen der Luftschutzorganisation trennen. Insbesondere Frauen und Jugendliche leisteten in ihren eigenen Wohnhäusern MPVO-Dienste, indem sie auf den Dächern wachten und Brandbomben löschten.741 Im zugehörigen Saal des Museums finden sich jedoch ausschließlich stärker institutionalisierte Formen der MPVO-Arbeit. Neben schematischen Darstellungen des Informationssystems und des Aufbaus der Organisation wurden Wandbilder vom Einsatz der MPVO zu Hilfsdiensten im Hungerwinter und an einem Einschlagsort gezeigt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Zivilpersonen in diesem Teil der Ausstellung gar nicht vorkamen. Ihre Präsenz beschränkte sich vielmehr auf ihre Rolle als hilflose Opfer, die von Angehörigen der MPVO gerettet werden mussten. Ein besonders eindrucksvolles Exponat war zweifellos der ausgestellte Teil 739 Ohne Autor (1948): Muzej Oborony (wie Anm. 704), S. 76. 740 Abkürzung für russ.: mestnaja protivovozdusˇnaja oborona, übersetzt etwa örtlicher Luftschutz. 741 Diese Tätigkeiten sind im Museumsführer in der Abteilung »Kämpfe auf den nahen Etappen vor Leningrad« erwähnt: Ebenda, S. 34. Unklar bleibt allerdings, ob hierzu auch Exponate zu sehen waren.

Ausstellungen im Wandel

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eines zerstörten Straßenbahnwagens, der hier besichtigt werden konnte. Dazu wurden Fotos von der Einschlagstelle sowie Gegenstände aus dem Besitz der in dem Wagen zu Tode gekommenen Personen gezeigt, darunter blutbefleckte Lebensmittelkarten und Kleidungsfetzen. Auch hier stellt sich, ähnlich wie bei dem behandelten Stalinbildnis, die Frage, wie die Präsentation blutbefleckter Überreste im Gesamtzusammenhang der MPVO-Abteilung zu verstehen ist. Die Grausamkeit eines Artillerieangriffs auf Zivilpersonen war sicherlich den meisten Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung durchaus noch im Gedächtnis. Die Exponate dienten daher wohl nicht dazu, über die Folgen eines solchen Angriffs zu informieren. Ein mögliches Motiv, gerade solche Exponate zu präsentieren, war sicherlich, die Schwere der Schäden und Verletzungen zu zeigen, mit der die Mitarbeiter der MPVO bei ihrer Arbeit konfrontiert waren. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte allerdings allein der zerstörte Wagen ausgereicht. Dies legt nahe, dass gerade die Ausstellung blutiger Überreste dazu diente, die Betrachter in besonderem Maße zu emotionalisieren. Ein weiteres Exponat aus diesem Zusammenhang, das besonders aus dem Rahmen fiel, war das Fragment eines menschlichen Schädels. Es handelte sich dabei um den Körperteil einer bei einer Beschießung zu Tode gekommenen Zivilperson, also nicht um eine Trophäe. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass keine Körperfragmente getöteter deutscher Soldaten ausgestellt wurden, liegt nahe, dass die Präsentation eines Körperfragmentes ein besonders drastisches Opfer-Symbol darstellen sollte. So kann dieses Exponat als eine säkularisierte Form der Märtyrerreliquie verstanden werden. Während jedoch im religiösen Kontext die Zurschaustellung von Körperfragmenten ausdrücklich der Ehrung des jeweiligen Heiligen dienen soll, steht hier nicht die getötete Person im Mittelpunkt, sondern lediglich ihre Funktion als Opfer. Selbst in diesem Extremfall der Präsentation individueller Überreste bleibt die getötete Zivilperson identitätslos und unterliegt der Anonymisierung der Leningrader Zivilbevölkerung. Wenn man die Entwicklung der Ausstellungen zur »heldenhaften Verteidigung Leningrads« in den Jahren 1944 bis 1948 betrachtet, lässt sich folgendes Fazit ziehen: Der ideologische Klimawandel der ersten Nachkriegsjahre, begleitet von Zˇdanovsˇcˇina und Zeitschriftenverordnung, wirkte sich zunächst nur geringfügig auf die in Ausstellung und Museum vertretenen Geschichtsbilder aus. Die Konzeptionen zur Deutung der Leningrader Kriegsgeschichte, die seit Ende 1943 vorwiegend von lokalen Parteivertretern entwickelt worden waren, konnten sich in ihren Grundzügen, namentlich ihrer chronologischen und thematischen Gliederung, verhältnismäßig lange Zeit halten. Änderungen bezüglich der hierarchischen Anordnung von Stalinbildnissen und -zitaten im Verhältnis zur Präsentation lokaler Akteure verweisen zwar auf zunehmende Bemühtheit, die Rolle Stalins für die Befreiung der Stadt besonders gründlich zu

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betonen. An deren Kontrapunktierung mit der zunehmenden Präsentation lokaler Parteivertreter lässt sich jedoch auch ein erstarktes Selbstbewusstsein der Leningrader Führungskader ablesen, die sich selbst und ihre Rolle bei der Rettung der Stadt inszenierten. Im Museum der Verteidigung Leningrads wurde unbestreitbar einseitiges Datenmaterial eingesetzt. Personen- und Dingkult waren ein zentrales Darstellungsmittel, und ganze Zeitabschnitte, in denen sich beispielsweise die Artillerie an der Leningrader Front in der Defensive befand, wurden ausgeblendet. Die Maßstäbe, die bei der Zusammenstellung der Exponate angewendet wurden, erfüllten die Forderungen Zˇdanovs nach der Hervorhebung der Heldenhaftigkeit und positiven Interpretation des Kriegsgeschehens mehr als deutlich. Dies führt zu der Annahme, dass 1944 und in den Folgejahren die Stalin’schen Lehren von den vier Kriegsphasen und den ›zehn Schlägen‹ von den Leningrader Ausstellungsmachern nicht als Konkurrenz oder alternativ zu ihren eigenen Konzeptionen gesehen wurden. Offensichtlich hatten sie nicht den Eindruck, dass sich die Leningrad-Erzählung unbedingt und strikt dem Stalin’schen Paradigma unterzuordnen hatte, zumal Stalin als Person und Führer in der Ausstellung wachsenden Raum einnahm. Hinzu kommt, dass die für die Stadt und ihre Bewohner besonders bedeutsamen und eindrucksvollen Ereignisse in vielen Fällen nicht mit dem Geschehen an anderen Kriegsschauplätzen in der Sowjetunion korrelierten und es sinnvoll erschienen sein muss, die Leningrader Kriegsgeschichte anhand der hier präsenten, eigenen Daten zu erzählen. Erst im Herbst 1948 begann sich abzuzeichnen, dass der im Museum erlangte Kompromiss zwischen lokalgeschichtlichen Schwerpunktsetzungen und der Lobpreisung Stalins als »Organisator und Inspirateur« der Verteidigung Leningrads keine dauerhafte Lösung im offiziellen Gedenken an die Belagerung Leningrads bleiben konnte.

3.

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Alle Bemühungen, eine ideologische Richtung in der Darstellung der Blockade zu entwickeln, die im Kontext der Ausstellung zum Ausgleich der machtpolitischen Spannungen zwischen der Leningrader Parteiorganisation und der Moskauer Führung beitragen konnte, waren letztendlich nicht von Erfolg gekrönt. Die Schwierigkeiten, die sich bereits bei der Publikation des Museumsführers angekündigt hatten, setzten sich fort und endeten mit der Schließung und letztendlichen Auflösung des Verteidigungsmuseums. Bei einer Überprüfung des Museums, die wahrscheinlich im Auftrag der Leningrader Agitpropabteilung durchgeführt worden war, wurden im Oktober

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1948 »trotz der im allgemeinen richtigen ideelich-politischen Linie«742 »viele wesentliche Mängel« festgestellt.743 Der Prüfbericht an den Leiter der Agitpropabteilung Smolovik, dessen Autor nicht namentlich erwähnt wird, bezeichnet die Ausstellung als »veraltet«, da sie seit 1944 nicht überarbeitet worden sei. In Anbetracht der erst 1945 vollzogenen Umgestaltung zum Museum und ihrer beständigen Überarbeitung ist diese Behauptung nicht eindeutig einzuordnen. Sie lässt nur den Schluss zu, dass der Autor eine grundlegende Umgestaltung anmahnt, die eine völlig neue Konzeption der hier präsentierten Geschichtsbilder umgesetzt hätte. In welche Richtung diese Neukonzipierung hätte erfolgen sollen, wird deutlich, wenn man die weiterführenden Auslegungen betrachtet: Die Rolle der bolschewistischen Partei und insbesondere Stalins sei weder bei der Darstellung der Belagerung noch beim Wiederaufbau der Stadt ausreichend anschaulich dargestellt worden. Ein besonderer Mangel sei die Tatsache, dass die »zehn Stalin’schen Schläge, die dem Feind beigebracht wurden«, nicht abgebildet seien.744 In dieser Kritik wird deutlich, dass bei den Mängeln, die hier angesprochen wurden, im Wesentlichen eine Darlegung der Belagerung angemahnt wurde, die der Auslegung der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges nach dem Buch »O velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« entsprach. Das von dem Prüfer angemahnte Paradigma der ›zehn Schläge‹ war jedoch erst im Herbst 1944, also lange nach dem ersten Ausstellungskonzept formuliert worden. Es bot zwar einen Interpretationsrahmen für den Kriegsverlauf im Jahr 1944, nicht aber für eine ausführliche Darstellung der spezifischen Leningrader Kriegsgeschichte. Innerhalb dieses Deutungsmusters wird ausschließlich der militärische Aspekt der Befreiung Leningrads behandelt. In den in Leningrad seit 1943 entwickelten Geschichtsbildern konnte dies allenfalls das Ende eines weitaus längeren Narrativs repräsentieren. Ein anderer Kritikpunkt des Berichtes bezog sich auf die Ausstellung von Fotografien der Schlossanlagen des Leningrader Umkreises: »Man kann noch hinzufügen, dass der Saal mit der Abbildung des Palastes von Peterhof beginnt und mit den Abbildungen der Paläste von Pavlovsk, Gatschina und Puschkin endet, was selbstverständlich beim Betrachter nicht die geordnete erforderliche Vorstellung von Leningrad als industrielles, kulturelles und politisches Zentrum unseres Landes erzeugen kann.«745 742 Die Formulierung idejno-politicˇeskaja linija ist nicht direkt ins Deutsche zu übersetzen. Der hier gewählte Begriff der »ideelich-politischen Linie« versucht die im Russischen zum Ausdruck kommende Vorstellung einer abstrakten Idee wiederzugeben, die hier als Maßstab für die politische Vertretbarkeit der behandelten Konzeptionen beschworen wird. 743 CGALI (1948): Berichtsnotiz über (wie Anm. 193), S. 2. 744 Ebenda, S. 2 f. 745 Ebenda, S. 4 f.

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Mit dieser Bemerkung spielt der Bericht auf die Vergangenheit Leningrads als imperiale Hauptstadt an und fordert eine Einordnung der Stadt in ein mehr sowjetisch als vorsowjetisch orientiertes Paradigma. Diese Argumentationsweise nimmt auch die im Rahmen der Leningrader Affäre geäußerten Forderungen vorweg, die Geschichte Leningrads in eine einheitliche Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einzuschreiben, statt das Sonderschicksal Leningrads zu betonen. Die Symbole, mit denen Leningrad in der Ausstellung repräsentiert wurde, sollten die Sonderrolle, die St. Petersburg traditionell in der russischen Geschichte eingenommen hatte, möglichst ausklammern. Die Auswahl der Fotografien von Parks und Schlossanlagen unterstrich hingegen seinen Sonderstatus als ehemalige Hauptstadt des Zarenreiches. Ein weiterer Komplex von Kritikpunkten, die ausführlich in dem Bericht behandelt werden, bezieht sich auf die Arbeit der Museumsführer. Auch hier wird bemängelt, dass die vorsowjetische Periode in deren Darbietung eine zu große Rolle gespielt habe. »[…] bei der Darlegung des Themas ›Leningrad – größtes kulturelles und industrielles Zentrum‹ wird in der Exkursion nur eine Charakteristik des vergangenen Petersburg gegeben. Das kulturelle Leben der sowjetischen Periode und im Besonderen der Vorkriegsjahre wird jedoch überhaupt nicht behandelt.«746

Unausgewogenheit wird den Führern auch bei der Gewichtung der verschiedenen Aspekte der Leningrader Kriegsgeschichte angelastet. So hätten sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Deutschland unerwartet und wortbrüchig angegriffen habe und der Krieg für die Deutschen unter besseren Umständen als für die Sowjetunion begonnen habe. Auch wurde bemängelt, dass zu viel von nicht explodierten Bomben die Rede gewesen sei, insbesondere mit dem Zitat eines Gedichtes von Vera Inber »Pulkovskij meridian«: »Bei den Besuchern kann damit der falsche Eindruck entstehen, dass die meisten deutschen Bomben nicht explodiert seien, was der Wirklichkeit und allen anderen Exponaten nicht entspricht, die eindrucksvoll die schrecklichen Zerstörungen zeigen, die der Stadt durch die feindliche Bombardierung zugefügt wurden. Dadurch nehmen sich die Führer selber die Möglichkeit, überzeugend die Tapferkeit und das Durchhaltevermögen der Leningrader zu zeigen, die der Panik nicht nachgaben, ungeachtet der Bombardierungen und Beschießungen.«747

Es muss angemerkt werden, dass die Argumentationsweise bei diesem Kritikpunkt wenig fundiert erscheint, da der Autor selber eingesteht, dass die Zerstörung der Stadt in der Ausstellung ausreichend dokumentiert war. Für die

746 Ebenda, S. 7 f. 747 Ebenda, S. 8.

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Führung durch den Siegessaal wurde eine stärkere Hervorhebung der »Reden und Befehle des Genossen Stalin« angemahnt. Der Bericht schließt mit einer Aufzählung nötiger Änderungsmaßnahmen, die mit einem Rundumschlag gegen die bisherige Qualität der Museumsausstellung eingeleitet wird: »Die Kommission befindet, dass die grundlegende Aufgabe, vor der die Museumsleitung steht, in der Verbesserung des ideelich-politischen Inhaltes der Ausstellung und der Führungen, der Vervollkommnung der Ausstellungsmethodik, der Verbesserung der Ausgestaltung und im Austausch der vorhandenen Bilder, Skulpturen etc. durch Werke hoher künstlerischer Qualität liegt.«748

Unter den im Folgenden aufgezählten »vor allem« nötigen Änderungsmaßnahmen finden sich unter anderem die Einbeziehung von mehr dokumentarischem Material über die »Führungsrolle der Partei bei der Verteidigung Leningrads«, wobei insbesondere auf die Führungsrolle Zˇdanovs hingewiesen wurde. Eine »grundlegende Überarbeitung der gesamten Ausstellung« und die Entfernung solcher Ausstellungsgegenstände, die »ihren ideelichen und erzieherischen Wert verloren« hätten, wurde angemahnt. Dem Bericht folgte ein Maßnahmenkatalog zur schnellen Verbesserung der Ausstellung.749 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der zwölfseitige Bericht auf insgesamt nur einer Seite die Vorzüge der Ausstellung behandelt und zum größten Teil aus der Aufzählung ihrer Mängel besteht. Eine Einschätzung dieses Dokuments wird dadurch erschwert, dass weder der Autor namentlich genannt wird noch die Instanz, die diese Überprüfung angeordnet hatte, zu erkennen ist. Dies macht es unmöglich festzustellen, ob dieser Beginn der Kampagne gegen das Museum in der Moskauer Parteizentrale oder in Leningrad ihren Ursprung hatte. Der Hinweis auf Zˇdanov und die mangelhafte Darstellung der Rolle der Leningrader Parteiorganisation spricht jedoch dafür, dass zumindest die Kommission aus dem Leningrader Lager gestammt haben könnte. Nach den erhaltenen Dokumenten bildet der Prüfbericht einen Wendepunkt bezüglich der im Museum vertretenen Geschichtsbilder. Hier wurde erstmals massive Kritik an der Ausstellungskonzeption geübt und ihre Unterordnung unter das Paradigma des Großen Vaterländischen Krieges gefordert. Dieser Befund gibt zu einer differenzierten Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Leningrader Affäre und der Schließung des Museums Anlass. So kann die Schließung des Museums nicht wirklich als Folge der Leningrader Affäre gesehen werden. Vielmehr setzte der Prozess, der letztendlich zur Zerstörung des Museums führte, bereits im Herbst 1948 unter erinnerungspolitischen Vorzei748 Ebenda, S. 11 f. 749 f. 277; op. 1; d. 695, CGALI: Plan zur sofortigen Verbesserung der Ausstellung des Verteidigungsmuseums, bezugnehmend auf eine Anordnung vom 30. 12. 1948..

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chen ein, bevor er zum Bestandteil der dynamischen Entwicklung der Leningrader Affäre wurde. In einem undatierten »Ausstellungsprogramm« desselben Jahres finden sich viele der kritisierten Mängel als Zielsetzungen formuliert: »Im Museum müssen anschaulich und überzeugend die Quellen der Kraft und Allmacht des sowjetischen Volkes, die Entwicklung der Stalin’schen Kriegswissenschaft und die führende organisatorische Rolle der Kommunistischen Allunionspartei der Bol’sˇeviki und des Genossen Stalin persönlich im Großen Vaterländischen Krieg und der Verteidigung Leningrads sowie die Sorge des sowjetischen Volkes, unserer Regierung, der Partei und des Genossen Stalin persönlich um Leningrad gezeigt werden. Die Arbeit der Leningrader Parteiorganisation und des treuen Mitkämpfers Stalins A. A. Zˇdanovs müssen in den Ausstellungen des Museums den ihnen gebührenden Platz erhalten. Diese Materialien sollen die Ausstellungen jedes Saales und jedes Themas durchdringen.«750

Wegen der fehlenden Datierung lässt sich nicht eindeutig sagen, ob diese Programmatik unmittelbar auf den Überprüfungsbericht zurückzuführen ist. Deutlich wird jedoch die Ausprägung einer ideologischen Linie, die die Rolle der Partei und der Person Stalins noch mehr als in den behandelten Ausstellungen in den Vordergrund der Repräsentation der Belagerung stellen sollte. Diese Linie manifestierte sich Ende 1948 ausdrücklich in den Richtlinien für eine Weiterarbeit des Museums. Der Prüfbericht zog weitreichende Folgen nach sich. Im Dezember 1948 reichte das Museum ein neues Ausstellungskonzept ein, das sich von den vorherigen Konzeptionen grundlegend unterschied. Dieser Entwurf sieht die vollständige Neustrukturierung der Ausstellung vor, die sich insbesondere in einer neuen, stark vereinfachten Chronologie abzeichnet. Diese war an die stalinistische ›Meistererzählung‹ von den vier Kriegsphasen angepasst worden. Von den im ersten Konzept der Ausstellung »Die heldenhafte Verteidigung Leningrads« 1944 ursprünglich angelegten 11 thematischen Abteilungen751, die dann in der Museumsausstellung auf 16 erweitert worden waren, blieben im internen Ausstellungsprogramm von Dezember 1948752 nur noch 7 übrig. Die in dem Prüfbericht schwerwiegend kritisierte einführende Abteilung, in der bis dahin die Bilder der Schlossanlagen zu sehen gewesen waren, war den Kürzungen komplett zum Opfer gefallen: 1944 hatte der Titel der ersten Ausstellungsabteilung »Das sozialistische Leningrad – wichtigstes ökonomisches, politisches, militärisches und kulturelles Zentrum unserer Heimat«753 gelautet, 750 751 752 753

f. 277; op. 1; d. 694, CGALI: Ausstellungsprogramm (Entwurf) 1948, S. 1. CGAIPD (1944): Ausstellungsprogramm (wie Anm. 708). CGAIPD (1948): Ausstellungsprogramm des (wie Anm. 705), S. 16 f. Ohne Autor (1945): Vystavka Geroicˇeskaja (wie Anm. 709), S. 130.

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1945 war ihr Titel an die Formulierung aus dem 4. Fünfjahrplan angepasst worden: »Leningrad – größtes politisches, industrielles und politisches Zentrum unseres Landes.« In dem Entwurf vom Dezember 1948 gab es keine Abteilung zu dieser Thematik mehr. Die erste Abteilung hieß nun: »Der wortbrüchige Überfall des faschistischen Deutschlands auf die Sowjetunion. Der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Die Zerstörung des deutsch-faschistischen Blitzkriegsplanes. Einhalten des Gegners vor Leningrad. Juni 1941-Oktober 1941.«754 Dieser Titel stellt das Motiv des unerwarteten wortbrüchigen Angriffs, das im Bezug auf die Darstellung der Ausstellungsführer angemahnt worden war, in den Mittelpunkt. Es ging nun zu Beginn der Ausstellung nicht mehr darum, Leningrad darzustellen, sondern vorrangig die Leningrader Kriegsgeschichte in den Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges einzuschreiben, wie er nach »O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« zu verstehen war. Die Blockade wurde in dem neuen Konzept in den allgemeinen Kriegsverlauf integriert und analog zu den vier Kriegsphasen in weitere vier Perioden unterteilt, denen jeweils eine Ausstellungsabteilung gewidmet war. Diese sind: Abteilung 2: »Aktive Verteidigung und Vorbereitung der Gegebenheiten für den Übergang zur Offensive der Sowjetarmee November 1941 – November 1942« Abteilung 3: »Jahr des Umbruchs im Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges. Durchbruch der Blockade. Leningrad – ein Arsenal der Roten Armee. November 1942 – November 1943«. Abteilung 4: »Jahr der entscheidenden Siege. Die Zerschlagung der deutschfaschistischen Eindringlinge bei Leningrad. November 1943 – November 1944.« Abteilung 5: »Die siegreiche Beendigung des Großen Vaterländischen Krieges. November 1944 – September 1945.« All diese Abteilungstitel nahmen explizit Bezug auf die Gesamtsituation in der Sowjetunion. Die einzelnen »Perioden« in diesem neu konzipierten Geschichtsbild entsprachen nun nicht mehr Ereignissen, die in Leningrad stattgefunden hatten. Sie waren der von Stalin vertretenen Konzeption des Kriegsverlaufs angepasst worden. Nur die sechste Abteilung widmete sich einem spezifischen Leningrader Thema: Dem Partisanenkampf im Leningrader Umland. Das neue Konzept bedeutete eine weitgehende Vereinfachung des bisherigen Museumsprogramms. Die besonderen Voraussetzungen, unter denen Leningrad in den Krieg einbezogen wurde, sowie die Besonderheiten der Blockade gingen 754 CGAIPD (1948): Ausstellungsprogramm des (wie Anm. 705), S. 16.

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im allgemeinen Kriegszusammenhang weitgehend verloren. Besonders drastisch wirkte sich die veränderte Chronologie bezüglich des Beginns der Belagerung Anfang September 1941 aus. Dieser markierte nach der neuen Periodisierung nicht mehr den Beginn eines eigenen Zeitabschnitts. Ganz offensichtlich ist das Bemühen, die einzelnen Titel der Ausstellungsabteilungen positiv klingen zu lassen: Die Formulierungen »Periode der Hungerblockade« und »Beseitigung der Folgen des Hungerwinters« sind nicht mehr vorzufinden. Die schwerste Zeit der Belagerung für die Bevölkerung, nämlich der erste Kriegswinter vom November 1941 bis April 1942, in der die meisten Hungertoten zu beklagen waren, geht völlig in der sogenannten Phase der »Aktiven Verteidigung und Vorbereitung der Gegebenheiten für den Übergang zur Offensive der Sowjetarmee November 1941 – November 1942« unter und wird so vollkommen unkenntlich gemacht. Die neue Ausstellungskonzeption macht deutlich, dass die Museumsleitung durchaus dafür zugänglich war, ihre ideologische Linie vollends umzustellen. Diese Bereitschaft führte jedoch keineswegs zu einer schnellen Angleichung und zum Erhalt des Museums. Im Gegenteil standen die wirklich existenziellen Probleme noch bevor. Im Februar 1949, als sich CK-Sekretär Malenkov in Leningrad aufhielt, um das berüchtigte Parteiplenum durchzuführen, das den Beginn der Leningrader Affäre markierte, übte er schwerwiegende Kritik am Museum. Der ehemalige stellvertretende wissenschaftliche Leiter des Museums Misˇkevicˇ erinnert sich: »Als am 21. Februar 1949 Malen’kov im Smolnyj ankam, wurde sofort ein Museumsführer angefordert. Als Lev Lvovicˇ [Rakov, Anm. A.Z.]. davon erfuhr, der damals schon Direktor der Publicˇnaja-Biblioteka war, sagte er mir : ›Alles spricht dafür, dass uns große Schwierigkeiten erwarten…‹ Als hätte er die Zukunft vorhergesehen! Sowohl Malenkov als auch nach ihm der neue Erste Sekretär von Obkom und Gorkom Andrianov wedelte mit unserem Museumsführer und schrie: ›Ihr habt ein Anti-ParteiNest gebaut! Ihr habt den Mythos über das besondere Blockadeschicksal Leningrads geschaffen! Ihr habt die Rolle des großen Stalin herabgemindert! Ihr habt – für den Besuch des großen Stalin – einen Terrorakt vorbereitet: Die Waffen sind geladen, Minen und Granaten sind nicht entschärft!‹«755

Ob Misˇkevicˇ bei dieser Gelegenheit tatsächlich persönlich mit Malenkov zusammengetroffen war, bleibt unklar. Fest steht jedoch, dass die hier erwähnten Anschuldigungen später auch in die Anklageschriften von Rakov und Misˇkevicˇ eingingen. Neben diesen spielte jedoch vor allem ein anderer Aspekt die zentrale Rolle: die Darstellung derjenigen Leningrader Parteifunktionäre, die zu Zˇdanovs engsten Mitstreitern gehört hatten und in den Machtkämpfen innerhalb des CK eine Malenkov und Berija opponierende Gruppierung bildeten. Dies spiegelt 755 Zit. nach Sidorovskij (1988): Slovo o (wie Anm. 264).

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sich insbesondere in der Reaktion der Museumsleitung auf den Angriff und das Parteiplenum wider. Vassilij Kovalev, der Lev Rakov 1947 als Museumsdirektor abgelöst hatte, erteilte den Museumsführern die Anweisung, nicht bei den Porträts von Popkov, Kuznecov und Kapustin stehen zu bleiben. »Am selben Tag wurde im Gemälde ›Zˇdanov und Kuznecov mit einem Baudotapparat‹ die Figur von Aleksej Aleksandrovicˇ [Kuznecov, Anm. A.Z.] übermalt. An ihrer Stelle wurde ein Fenster gemalt… Bald wurden die gemalten Abbildungen vieler berühmter Teilnehmer der Schlacht um Leningrad abgenommen und auf dem Hof verbrannt.«756

Mit diesen und ähnlichen Schnellkorrekturen konnte das Museum jedoch nur vorübergehend vor einer Schließung bewahrt werden. Die Vorwürfe waren zu gravierend, um keine weitreichenderen Konsequenzen nach sich zu ziehen. Bei einer Sitzung über das weitere Schicksal des Museums, die am 5. Juli 1949 in der Abteilung für Kultur- und Aufklärungsarbeit des Ausführenden Komitees des Stadtsowjets abgehalten wurde, stellte Museumsdirektor Kovalev den Entwurf eines neuen Ausstellungskonzeptes vor. Unter den 26 Anwesenden befanden sich sowohl die Abteilungsleiter des Ausführenden Komitees als auch Mitglieder der politischen Führung des Leningrader Militärbezirks sowie Abteilungsleiter und wissenschaftliche Mitarbeiter des Museums und Vertreter anderer Museen der Stadt. Das neue Konzept sollte von den Anwesenden diskutiert werden, um möglichst bald eine neue Ausstellung anbieten zu können. Die Diskussion, die sich in dem 51-seitigen Sitzungsprotokoll757 widerspiegelt, zeigt jedoch, dass es während des Treffens eher um politische Spitzfindigkeiten als um konkrete inhaltliche Fragen ging. Die Verhandlungen waren gespickt mit Hinweisen auf die »Lehren des Genossen Stalin«, die weit mehr als die institutionelle Zugehörigkeit und das Fachwissen der einzelnen Redner die Diskussion prägten. Wie sich Bemerkungen der Anwesenden entnehmen lässt, war dies nicht die erste Sitzung, bei der über neue Konzeptionen in der Museumsarbeit beraten wurde. Der Vertreter der politischen Führung des Leningrader Militärbezirks Alekseev kritisierte beispielsweise ein Bild, das ganz am Beginn des ersten Saales hängen sollte: »Die Idee, das Bild ›die Grenzüberschreitung‹ an den Anfang zu setzen, gefällt mir überhaupt nicht. Wenn das Bild dort bleibt, wird der erste Eindruck der Besucher sein: eine Panzerarmada hat sich in Bewegung gesetzt, ohne auf Widerstand zu stoßen. Ich denke, die Idee hier muss sein, die hervorragenden Qualitäten unserer Leute zu zeigen, über die Genosse Stalin gesprochen hat, die grundlegenden Qualitäten der Leute müssen im Zentrum stehen.«758 756 Ebenda. 757 CGALI (1949): Besprechung der (wie Anm. 194). 758 Ebenda, S. 43 f.

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Kovalev erklärte daraufhin, dass das Bild dort nur vorübergehend hängen solle. Nach längerem Hin und Her beendete schließlich der stellvertretende wissenschaftliche Direktor des Museums Sokov die Auseinandersetzung, indem er das Bild als »historisch falsch« einstufte: Stalin hätte doch in seiner Rede darauf hingewiesen, dass die besten deutschen Divisionen in den ersten Kriegstagen von der Roten Armee vernichtet worden seien.759 Diese Auseinandersetzung macht die Dynamik von Kritik und Selbstkritik deutlich, die sich bei den Verhandlungen um die Ausstellung entwickelte. Außenstehende ›Spezialisten‹ kritisierten die Ausstellung, ihre Kritikpunkte wurden nicht selten von Vertretern des Museumspersonals aufgegriffen, obwohl diese ja vorher selber an der Zusammenstellung der Exponate beteiligt gewesen waren. In der Diskussion finden sich auch Hinweise darauf, dass auf die Konzipierung der Ausstellung informell Einfluss genommen worden war. So bemerkte der leitende Architekt des Museums Joganson: »Es wurde uns seinerzeit nahegelegt, dass wir keine Zerstörungen mehr zeigen sollen, dass sie auf Passivität hinweisen […]«760 Obwohl hinsichtlich vieler Fragen keine eindeutigen Lösungen gefunden worden waren, endete die Sitzung mit dem Versprechen Kovalevs innerhalb von drei Monaten eine neue Ausstellung zu gestalten.761 Folgerichtig wurde das Museum dann auch am 26. August »Zur Reorganisation der Ausstellung« »vorübergehend« geschlossen.762 Im Februar 1950 ging man noch immer fest von einer Neueröffnung des Museums unter geänderten politischen Vorzeichen aus.763 Obwohl das Museum bis auf Weiteres geschlossen blieb, waren 1950 von den 132 Stellen, über die das Museum verfügte, noch immer 118 besetzt764, es waren jedoch »bedeutende Änderungen bei Auswahl und Einsatz der Kader«765 durchgeführt worden. Konkret bedeutete dies, dass auch der Museumsdirektor ausgetauscht worden war. Die Arbeit an einer neuen Ausstellung ging unterdessen weiter. Sichtbares Resultat war ein neues Ausstellungskonzept, das zukünftig fünf Abteilungen vorsah. Eine Inventur wurde durchgeführt, die bis zum 1. März 1950 abgeschlossen sein sollte und darüber hinaus war »[b]edeutende Arbeit […] bezüglich der Säuberung des Fonds« geleistet worden: »Eine Reihe von Exponaten wurde entfernt. Viele Dokumente und Exponate wurden den entsprechenden 759 760 761 762 763 764

Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 99. f. 277; op. 1; d. 927, CGALI: Bericht über die Arbeit der Leningrader Museen 1949, S. 1. f. 277; op. 1; d. 1046; l. 59, CGALI: Erklärung zum Verteidigungsmuseum 19. 02. 1950. Vgl. f. 277; op. 1; d. 1198; S. 1 – 12. (Seitennumerierung nach Originaldokument), CGALI: Jahresbericht des Verteidigungsmuseums mit neuem Ausstellungsplan 1950, S. 9. 765 CGALI (1950): Erklärung zum (wie Anm. 763).

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militärischen Organisationen übergeben.«766 Erste Schritte waren unternommen worden, um die so heftig kritisierten Gemälde zu ersetzen: »Die dringendsten Bestellungen zur Herstellung von abbildenden Kunstwerken, die unserer Partei, dem Großen Stalin und dem Heroismus des Sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet sind, wurden vergeben.«767 Allerdings gingen diese Veränderungsarbeiten mit einer bedeutenden Verzögerung der geplanten Wiedereröffnung des Museums einher. Eine bereits eingeleitete Generalrenovierung sollte erst im 4. Quartal 1950 abgeschlossen werden. Der ehemalige Museumsdirektor und Leiter der militärischen Abteilung des Museums Lev Rakov war bereits Ende Oktober 1949 nach Moskau ins Komitee für Kultur- und Aufklärungseinrichtungen gerufen, ab dem 9. November desselben Jahres beurlaubt und am 1. März 1950 entlassen worden. Mitte 1950 wurde er verhaftet und angeklagt, im Museum ein Attentat auf Stalin vorbereitet und zu diesem Zweck Waffen gesammelt zu haben.768 Noch folgenschwerer für das weitere Schicksal des Museums war jedoch die Hinrichtung seines ehemals einflussreichsten Schirmherrn A. A. Kuznecov im Oktober 1950. Die positive Aufbruchsstimmung, die noch Anfang 1950 vorgeherrscht hatte, war nicht von Dauer. Der Jahresbericht über das Jahr 1950 lässt bereits große Unzufriedenheit der Museumsleitung erkennen. Ein neuer Ausstellungsplan, der dem Bericht beiliegt, wird wie folgt kommentiert: »Wie aus den oben genannten Benennungen der einzelnen Ausstellungsabteilungen zu sehen ist, ändert sich die Struktur der Museumsausstellung grundlegend. Einer der wichtigsten Gründe dieser Strukturänderung ist die Notwendigkeit, die Wissenschaftlichkeit der Ausstellung zu verbessern, um den heldenhaften Kampf der Verteidiger Leningrads nicht getrennt vom Kampf des gesamten sowjetischen Volkes und seiner Streitkräfte […] zu zeigen. […] Um eine neue Ausstellung nach dem vom wissenschaftlichen Kollektiv ausgearbeiteten Plan zu schaffen, werden Mittel gebraucht. Die Frage der Mittel ist jedoch ungelöst, obwohl seit der Schließung des Museums zur Überarbeitung der Ausstellung und Generalrenovierung mehr als ein Jahr vergangen ist. In der Angelegenheit der schnellstmöglichen Öffnung des Museums muss nicht nur der wachsende Eingang von Anfragen der Werktätigen unserer Stadt berücksichtigt werden, sondern vor allem muss die große Bedeutung des Museums für die kommunistische Erziehung der Werktätigen und für die patriotische Erziehung

766 Ebenda. 767 Ebenda. 768 Am 31. 10. 1950 erfolgte seine Verurteilung zum Tod durch Erschießen, das Urteil wurde jedoch vier Tage später in 25 Jahre Haft umgewandelt. Bis zum 12. Mai 1954 war er in Vladimir inhaftiert, anschließend wurde die Haft wegen Nicht-Vorhandensein eines Tatbestandes ausgesetzt. Vgl. Rakov, Lev, in: Rossijskaja nacional’naja biblioteka (Hg.): Istorija biblioteki v biografijach ee direktorov 1795 – 2005. Sankt-Peterburg, 2006, S. 381 – 391.

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Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953

mithilfe von Materialien des Großen Vaterländischen Krieges in Betracht gezogen werden.«769

Die hier als »Verbesserung der Wissenschaftlichkeit« deklarierte Bereitschaft zur vollkommenen Anpassung der Ausstellung an eine neue politische Linie wirkte jedoch keineswegs stabilisierend auf die Gesamtsituation, in der sich das Museum befand. Ähnlich wie in der oben zitierten Sitzung waren es auch hier wieder keine konkreten Maßnahmen, die das Zustandekommen einer neuen Ausstellung verhinderten, sondern vielmehr das Unterlassen förderlicher Maßnahmen, das sowohl als Desinteresse und Nachlässigkeit der zuständigen Behörden als auch als aktive Behinderung der Museumsarbeit verstanden werden kann. Zwar wurden Gelder bewilligt, sie kamen jedoch nicht zur Auszahlung, obwohl sich die Museumsleitung mehr als willig gezeigt hatte, den neuen ideologischen Anforderungen zu genügen. Weder die 1949 bestellten Gemälde noch eine bestellte Karte, die die ›zehn Stalin’schen Schläge‹ illustrieren sollte, konnten bezahlt werden.770 Statt materieller Zuwendungen wurde jedoch für die politische Weiterbildung der Museumsangestellten Sorge getragen. So besuchte am 16. 01. 1951 ein Vertreter des Institutes für Heimatkunde und Museumsarbeit das Museum. Er warb für die Teilnahme an Kursen, die von einem Komitee für die Angelegenheiten der Kultur- und Aufklärungseinrichtungen beim Ministerrat (der RFSFR) organisiert wurden771, und bot sich an, die Museumsmitarbeiter in ihrer Arbeit beratend zu unterstützen. Auf konkrete Nachfragen der anwesenden Museumsangestellten reagierte er jedoch ausgesprochen vage. So fragte die Mitarbeiterin Sˇamsˇukova, wie Materialien von lokaler Bedeutung mit Materialien »mit Bedeutung für das ganze Land« in Verbindung gesetzt werden sollten. Simkin antwortete: »In dieser Frage gibt es kein Rezept. Das Prinzip muss sein, örtliche Vorgänge als Teil des Ganzen zu zeigen. In jedem konkreten Fall muss man von diesem Prinzip ausgehen.«772 Auch die offensichtliche Bemühung, wie auch immer geartete Auflagen zu verstehen und umzusetzen, die jedoch keine Aufhebung der Sanktionen nach sich zog, prägte zunehmend die Arbeit der verbleibenden Angestellten. Der Jahresbericht über das Jahr 1951 zeigt, wie die Tätigkeiten im Museum gleichsam in einen Leerlauf gerieten. Bereits das dritte Jahr in Folge beschäftigten sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter mit der Erarbeitung eines neuen Ausstellungsplanes, wobei sie sich vom »tiefen Studium des Buches ›Über den Großen Vaterländischen Krieg‹ 769 CGALI (1950): Jahresbericht des (wie Anm. 764), S. 11. 770 Ebenda, S. 12. 771 f. 277; op. 1; d. 1386; l. 4 – 7, CGALI: Protokoll einer Bespechung im Verteidigungsmueum 16. 01. 1951. 772 Ebenda, S. 7.

Das Ende des Museums

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von I. V. Stalin« inspirieren ließen.773 Anhand der durchgeführten Exkursionen und des gesammelten Materials lässt sich eine topographische Schwerpunktsetzung auf das Leningrader Umland ausmachen. Damit ging auch eine inhaltliche Festlegung auf die Partisanenbewegung im Leningrader Umland einher.774 Diese lenkte den Blick weg von den Vorgängen in der Stadt. Unter den neu erworbenen Ausstellungsgegenständen wird kein weiteres Material genannt, das die Geschichte der Leningrader Bevölkerung während des Hungerwinters illustriert. Neben ihrer Beschäftigung mit dem Ausstellungskonzept und der Sammlung hielten die wissenschaftlichen Mitarbeiter 130 Vorträge zu Themen wie »Genosse Stalin – Inspirator und Organisator der Verteidigung Leningrads« oder »Die Fürsorge des Genossen Stalin für Leningrad und die Leningrader«.775 Das Museum blieb geschlossen. Das Schicksal des Leningrader Verteidigungsmuseums wurde mit dem Beschluss Nr. 9536-r des Ministerrates der RSFSR vom 15. 10. 1952 besiegelt.776 Darin wurde ohne Angaben von Gründen die Liquidierung des Museums angeordnet und eine Liquidierungskommission benannt. Deren Aufgabe war es, über eine sinnvolle Weiterverwendung der Ausstellungsstücke und der Museumsangestellten zu entscheiden und binnen eines Monats dem Ministerrat Bericht zu erstatten. Ein Mitglied der Kommission war der bisherige Museumsdirektor Dubinin. Die Auflösung des Museums ist in den Archivmaterialien nur unzureichend dokumentiert. Zwar gibt es vereinzelte Übergabeakten von Material777, es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Augenzeugenberichte, die von Verbrennungsaktionen auf dem Hof des Museums berichten, der Wahrheit entsprechen. Die Liquidationsakte des Museum datiert ironischerweise vom 5. März 1953, dem Todestag Stalins.778

773 f. 277; op. 1; d. 1198; S. 1 – 7, 9 (Seitennumerierung nach Originaldokument), CGALI: Jahresbericht über die Arbeit des Verteidigungsmuseums (unvollständig) 1951, S. 1. Der Bericht wird nach dem Bestand des Verteidigungsmuseums zitiert, in dem S. 8 und S. 10 – 12 fehlen. 774 Ebenda, S. 2 f. 775 Ebenda, S. 9. 776 keine Signatur, Ordner : Vystavka-Muzej Geroicˇeskaja oborona, Archiv Muzeja oborony Leningrada: Verfügung des Ministerrates über die Schließung des Verteidigungsmuseums 25. 10. 1952. 777 f. 277; op. 1; d. 1561, CGALI: Übergabelisten von Museumsgegenständen.. 778 Sˇisˇkin / Dobrotvorskij (2006): Gosudarstvennyj memorial (wie Anm. 688), S. 31 sowie f. 277; op. 1; d. 1558; l. 25, CGALI: Liquidationsurkunde des Verteidigungsmuseums 5. 03. 1953.

270

4.

Das Museum der Verteidigung Leningrads 1944 – 1953

Resümee

Die Geschichte des Leningrader Verteidigungsmuseums in der Nachkriegszeit ermöglicht einen tiefen Einblick in die Verbindung zwischen Machtpolitik und lokaler Erinnerungspolitik in der spätstalinistischen Sowjetunion. Gerade die Rolle Leningrads als alte Hauptstadt und Schauplatz der Revolution sowie der große Einfluss der Leningrader Parteiorganisation und ihrer Führungskader haben dabei den Umfang und die Wucht mitverursacht, mit der ihre ›ideologischen Verfehlungen‹ geahndet wurden. In den sich wandelnden Chronologien und Hierarchien, die die Ausstellungen des Museums prägten, wird das Spannungsverhältnis zwischen der Perspektive lokaler geschichtspolitischer Akteure und den erstarkenden zentralen Elementen der ›Meistererzählung vom Großen Vaterländischen Krieg‹ deutlich. Dabei gab es nicht von Anfang an eine einheitliche inhaltliche Konzeption, die noch vor der Ausbildung und Verbreitung von Geschichtsbildern in Kraft getreten wäre. Bei der Erforschung von Ausstellung und Museum zeigt sich, dass sich eine im Sinne der Moskauer Parteizentrale ›politisch korrekte‹ Linie des Kriegsgedenkens in einem Prozess von Versuch und Irrtum schrittweise herausbildete. Diese passte sich jeweils mehr oder weniger an Vorgaben aus Moskau an. Den geschichtspolitischen Wendepunkt in der Entwicklung des Museums bildet der Prüfbericht vom Oktober 1948. Er hatte den Entwurf einer völligen Neukonzeption der Museumsausstellung zur Folge. Diese wurde jedoch weder gleich noch zu Beginn des Jahres 1949 konsequent umgesetzt. Während der Leningrader Affäre wurden die Möglichkeiten für eine neue Ausstellung des Museums immer weiter beschnitten: Mit dem Vorwurf der Planung eines Anschlages wurde ein militärischer Schwerpunkt für zukünftige Museumsausstellungen undenkbar. Nach der Verhaftung lokaler Parteiführer wie Kuznecov und Popkov wurde es darüber hinaus unmöglich, die Tätigkeit der Leningrader Parteiorganisation als Schwerpunktthema der Ausstellung weiter zu etablieren. Mit den Stalin’schen geschichtspolitischen Maximen wurde das Leiden der Zivilbevölkerung als Thema uninteressant. Außer einer Ausstellung, die sich auf die Darstellung der Befreiung Leningrads als ›erstem Schlag‹ nach dem Stalin’schen Paradigma beschränkt hätte, blieben kaum politisch unverfängliche Themengebiete übrig. Aber auch dieses Gebiet bot ohne Waffen als Exponate kein ausreichendes Material für eine Ausstellung. Ein weiterer Grund für die Stagnation und das letztendliche Scheitern des Museumsprojektes ist in der völligen Verunsicherung und Verängstigung der Museumsangestellten zu sehen. Wie das Protokoll der politischen Schulung der Museumsangestellten zeigt, mangelte es an klaren Vorgaben, wie die ideologischen Richtlinien konkret umgesetzt werden sollten. In der Geschichte des Verteidigungsmuseums treten Zusammenhänge zwi-

Resümee

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schen Kaderpolitik und offiziellem Kriegsgedenken deutlich zutage. Offen bleibt jedoch, warum Steuerungsprozesse, die eine Regulierung im Sinne des Systems durchaus ermöglicht hätten, nicht zum Erhalt des Museums führten. Die Frage, warum es nach all dem bürokratischen und finanziellen Aufwand, der zum Aufbau und zur Erhaltung des (jahrelang geschlossenen) Museums betrieben wurde, trotzdem zur Schließung kam, bleibt unbeantwortet. Ungeachtet aller Bereitschaft zur völligen inhaltlichen Umgestaltung, zur absoluten Unterordnung unter noch so unpassende ideologische Maximen und chronologische Abläufe wurde das Museum aufgelöst. Mit dieser Entscheidung blieb ein nicht unwesentliches ideologisches Steuerinstrument, das in Leningrad seine Wirkung hätte entfalten können, ungenutzt.

VI. Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

»[…] heresy in a society which tolerates only one philosophy is indistinguishable from treason.«779

Dieser Kommentar eines zeitgenössischen Beobachters zu den Vorgängen im sowjetischen Propagandaapparat der Nachkriegszeit lässt sich auch auf das Geschehen in Leningrad übertragen: Selbst größte Kompromissbereitschaft und politische Loyalität in der Entwicklung eigenständiger lokaler Geschichtsbilder schützte die Akteurinnen und Akteure nicht vor der Ahndung durch zentrale Instanzen. Gleichzeitig konnten dennoch aus der Atempause des Krieges einzelne Themen und Motive in die Nachkriegszeit hinübergerettet werden, die nicht vollends mit den Prinzipien des Sozialistischen Realismus und dem Heldendiskurs konform gingen. In diesem abschließenden Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der Forschungsarbeit zusammengefasst sowie Methoden und Theorien, die in der Arbeit Anwendung fanden, nochmals kurz betrachtet. Diese Befunde werden schließlich in einem Ausblick in den Kontext gegenwärtiger Strömungen im russischen Kriegsgedenken eingeordnet.

1.

Ergebnisse

Als in Leningrad Anfang 1944 die dominanten Linien regionalen Kriegsgedenkens konstruiert wurden, hatte Stalin die wichtigsten Grundzüge seiner Kriegsgeschichte noch nicht entwickelt. Wesentliche Vorlagen für die neu entstehenden Geschichtsbilder waren daher Texte der Kriegspropaganda, die sich nicht selten an den gelockerten ideologischen Maßstäben der Kriegsjahre orientierten. Aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen – textkritischen und 779 Corbett, P. E.: The Aleksandrov Story, in: World Politics Jg. 1 (1949), 2, S. 161 – 174, hier 168.

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Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

kontextualisierenden – Aufarbeitung dieser propagandistischen Texte gingen viele ihrer Formen und Inhalte unmittelbar in die neu entstehenden Geschichtsbilder ein. Die wesentlichen Veröffentlichungen zur Leningrader Kriegsgeschichte der ersten Nachkriegsjahre erschienen in Leningrad und wurden von lokal agierenden Akteurinnen und Akteuren und Überlebenden entwickelt. Beispielhaft wurden die Arbeit des Instituts für Parteigeschichte, die Leningrader Literaturszene mit der lokalen Abteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes, insbesondere Vera Inber und Nikolaj Tichonov, sowie das Museum der Verteidigung Leningrads betrachtet. Die Akteurinnen und Akteure vor Ort gingen mit einer Mischung aus ›bestem Wissen und Gewissen‹ gegenüber der zentralen Linie, eigenen Erfahrungen und einem spezifischen Leningrader Regionalstolz zu Werke, den sie zunächst für durchaus mit der zentralen Linie vereinbar hielten. Schlüsselfunktionen erfüllten Funktionäre, die sowohl in den Moskauer als auch in Leningrader Kontexten institutionell verankert waren, wie CK-Mitglied Aleksej Kuznecov und der Vorsitzende des SSP Nikolaj Tichonov. Keiner von beiden verfügte über professionelle Qualifikationen als Historiker. Auch betrieben sie kein Quellenstudium im eigentlichen Sinn. Ihre ›Qualifikation‹ bestand in ihrer politischen Gesinnung, ihrem Wissen als Zeitzeugen und insbesondere Tichonovs sklavischer Ergebenheit gegenüber dem Paradigma des Sozialistischen Realismus. Gerade die von Kuznecov und Tichonov entwickelten und in wesentlichen Punkten übereinstimmenden Geschichtsbilder verfügten über besondere Wirkungsmacht und Autorität. Sie erfuhren weite Verbreitung und werden in Grundzügen bis heute reproduziert. Die meisten Leningrader Akteurinnen und Akteure waren ernsthaft bemüht, der politischen Linie des Zentrums zu folgen. Diese war für sie zunächst jedoch kaum erkennbar. In einem relativen ideologischen Freiraum entwickelten sie lokalpatriotische Konzeptionen, die im Wesentlichen dem Sowjetpatriotismus und dem Sozialistischen Realismus angepasst waren. Diese schienen aus ihrer Sicht der politischen Generallinie zu entsprechen. Hier trifft auf die Leningrader Verhältnisse eine allgemeine Beobachtung v. Gelderns zu: »Even when there were more than enough directives and instructions available, Soviet citizens relied less on what they were told than on what they imagined their interlocutors wanted. And they were correct to do so, for Soviet cultural history is littered with individuals who thought they were working within official cultural values, unaware that the rules had undergone major transformation.«780

780 Geldern (2006): Conclusion (wie Anm. 299), S. 332.

Ergebnisse

275

Als nach 1944 Stalins Kriegslehren ihre Wirkung entfalteten, wurden diese zunächst nicht als Signal für eine sofort erforderliche ideologische 180-GradWendung aufgefasst. Vielmehr sollten die lokalpatriotischen Deutungen neben und ergänzend zu Stalins Konzeption ihre Bedeutung behalten. Modifikationen wurden, wie sich in der Ausstellung des Verteidigungsmuseums zeigt, insbesondere auf der Ebene der Hierarchie zwischen der Person Stalins und den Leningrader Parteivertretern vorgenommen: Die exklusive Vormachtstellung des Führers wurde dezidiert hervorgehoben. Dies tat der Selbstinszenierung der Leningrader Parteigrößen zunächst keinen Abbruch. Sie wurden erst nach der Leningrader Affäre 1949 zu Unpersonen. Bei den damit einhergehenden Diskussionen und Prozessen wurden ideologische Verfehlungen zwar breit angeprangert, die Bestrafung Einzelner richtete sich jedoch an ihren politischen Ämtern, nicht an den vertretenen Geschichtsbildern aus. Kuznecov wurde wegen seiner politischen Stellung geahndet. Tichonov, der ähnliche Geschichtsbilder vertrat, konnte unbeschadet überleben. Betrachtet man die Entstehung von Geschichtsbildern zur Belagerung Leningrads, zeigt sich, dass diese zum Teil auf den institutionellen Kontext ihrer Entstehung und auch auf einzelne Personen zurückgeführt werden können. Dabei waren es vorrangig Parteistrukturen und Vertreter der Leningrader Parteiorganisation sowie Leningrader Kulturschaffende – also Überlebende -, die Geschichtsbilder hervorbrachten und verbreiteten. In ihrer Arbeit nutzten sie in allen Bereichen Erinnerungen und Erfahrungen der Leningrader Zivilbevölkerung. Diese Konzeptionen und Geschichtsbilder waren zunächst nicht statisch, sondern bildeten sich sozusagen in einem Prozess von Versuch und Irrtum heraus: Eine Chronologie wurde entwickelt und veröffentlicht beziehungsweise bei der zuständigen Zensurinstanz eingereicht, kritisiert, modifiziert und erneut veröffentlicht. Einzelne Motive, Zustandsbeschreibungen und Formulierungen wurden entwickelt, zensiert, gedruckt, kritisiert, modifiziert und erneut publiziert. Zum Beispiel wurde ein Vortrag 1943 gehalten und abgedruckt. Der Text wurde 1944 an den aktuellen Stand der Ereignisse und ideologische Prämissen angepasst, in überarbeiteter Form vor anderem Publikum erneut vorgetragen und neuerlich modifiziert veröffentlicht. Beide Versionen landeten unkommentiert in ein und demselben Sammelband, der vom Institut für Parteigeschichte herausgegeben wurde. Manche Texte, vor allem literarische Arbeiten, wurden während der Zˇdanovsˇcˇina scharf kritisiert und sanktioniert. Dies zeigte Wirkung auf andere Autorinnen und Autoren: Sie mieden die kritisierten Themen und Motive in ihrer Arbeit oder versuchten, sie ideologisch anzupassen. Es wird deutlich, dass sich dabei auch lange vor Glasnost’ Geschichtsbilder in politischen und gesellschaftlichen Drahtseilakten ausbildeten. Diese waren zwar nicht wirklich plu-

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Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

ralistisch, wie Ganzenmüller für das postsowjetische Gedenken postuliert, dennoch wurden in geringem Umfang auch Zugeständnisse an die Erinnerungen kleiner, nicht offizieller und sogar kritischer Erinnerungskollektive gemacht. Einzelne Elemente ihres Erlebens fanden neben den allgegenwärtigen propagandistischen Formen Eingang in offiziell vertretene Geschichtsbilder und wurden hier instrumentalisiert: Die Not der Zivilbevölkerung darzustellen war erforderlich, um das propagandistisch geforderte Massenheldentum glaubhaft zu konstruieren. Das Leningrader Gedenken entwickelte sich auch deshalb so individuell und abgelöst von anderen Diskursen und Kriegsschauplätzen, weil seine Themen spezifisch waren. Stalin hatte mit seinen Kriegslehren das militärgeschichtliche Feld besetzt. Die Erinnerung der Überlebenden war zwar auch durch militärgeschichtliche Ereignisse wie die Befreiung der Stadt bestimmt. Was den in der Stadt eingeschlossenen Bürgerinnen und Bürgern jedoch im Gedächtnis blieb, war eher das Feuerwerk, das nach der Befreiung der Stadt gezündet wurde, als die militärgeschichtlichen Einzelheiten. Ihr Erinnern beschäftigte sich vorwiegend mit den Aspekten des Überlebens und Sterbens in der Stadt, mit dem Hunger und den desaströsen Zuständen. Allenfalls kleinere militärgeschichtliche, lokale Ereignisse, die in der Stadt wahrgenommen werden konnten, blieben im Gedächtnis. Im Gedenken an die Blockade trafen die unmittelbaren Erfahrungen und Erinnerungen der Überlebenden mit den politischen Vorgaben aufeinander. Dies führte zunächst nicht selten zu einer Aufweichung der Vorgaben oder hatte ihre Anpassung an selbst Erlebtes zur Folge. In der Kriegspropaganda hatte es eine generelle Verpflichtung zum kollektiven Heldentum gegeben. Aus den Geschichten und überlieferten Ereignissen der Belagerung wurden folglich im Prozess der Historisierung solche ausgewählt, die im Sinne eines Kollektivheldentums der Leningrader Bevölkerung interpretiert werden konnten. Da ein großer Teil der Stadtbevölkerung vollauf damit beschäftigt war, ihr Überleben zu sichern, mussten diese Tätigkeiten ausreichen, um sie zu Helden zu machen. Andernfalls hätte die Evakuierungspolitik der Stadtverwaltung generell hinterfragt werden müssen: Sie hatte ja dazu geführt, dass ein großer Anteil der Zivilbevölkerung zunächst in der belagerten Stadt verblieben war. Mit der zunehmenden Bedeutung der von Stalin in »Über den Großen Vaterländischen Krieg« vertretenen Geschichtsbilder traten die in Leningrad 1943 / 44 entwickelten Geschichtsbilder letztendlich in den Hintergrund. Insbesondere bei der Betrachtung der Arbeit im bereits geschlossenen Verteidigungsmuseum wird deutlich: An alle hier entwickelten Neuauflagen von Ausstellungen und damit modifizierten Geschichtsbilder wurde der Maßstab Stalin’scher Konzeptionen, beispielsweise das Schema der ›zehn Schläge‹, angelegt. Da diese sich ausschließlich auf erfolgreiche Militäroperationen mit Auswirkung auf den

Ergebnisse

277

Gesamtverlauf des Krieges bezogen, waren sie nur peripher deckungsgleich mit in Leningrad entwickelten Geschichtsbildern, die ja unterschiedliche Ereignisse seit 1941 sowie das Erleben der Zivilbevölkerung zumindest marginal einbezogen. Strukturelle Entgrenztheit: Erinnerungsfelder und Akteure der Historisierung Am Beginn der vorliegenden Arbeit stand als ein inhaltlicher Schwerpunkt die Frage nach der Rolle des sowjetischen Staates als einzigem geschichtspolitischem Akteur bei der Herausbildung des offiziellen Kriegsgedenkens. Sie ergab sich aus der Beobachtung, dass viele der zitierten Arbeiten zur Belagerung Leningrads von einem einheitlichen ›Staatsgedenken‹ ausgehen. Am Beispiel des Leningrader Kriegsgedenkens in der Nachkriegszeit zeigt sich, dass es lohnend ist, dieser pauschalen Betrachtungsweise eine differenzierte Untersuchung sowohl der hierarchischen ›Etagen‹ der Staatsmacht als auch der jeweiligen Erinnerungsfelder und der jeweils zuständigen Parteistrukturen entgegenzusetzen. Anhand der untersuchten Felder der Historisierung konnte gezeigt werden, dass Leningrader Parteistrukturen wie das Istpart, die Leningrader Abteilung des SSP und auch das Verteidigungsmuseum als von der Leningrader Parteiorganisation geführte Einrichtung den größten Anteil an der Historisierung der Belagerung hatten. Diese waren zwar Organe der Staatsmacht, lassen sich jedoch nicht einfach mit der Moskauer Parteizentrale und noch weniger mit dem Staat gleichsetzen. Sie waren lokale Strukturen, deren Akteurinnen und Akteure zwar Parteimitglieder, aber auch Überlebende der Belagerung waren. Die Leningrader Parteistrukturen waren mit ihren eigenen, lokalen Aufgaben beschäftigt. Ihre Vertreterinnen und Vertreter waren in ihrer Wahrnehmung der Belagerung von ihrem eigenen Erleben und Erinnern bestimmt. Jedem behandelten Erinnerungsfeld kann eine lokale Parteiorganisation zugeordnet werden – dem Bereich der historiographischen Dokumentation der Belagerung das Leningrader Institut für Parteigeschichte, der literarischen Bearbeitung des ›Leningrader Themas‹ die Leningrader Abteilung des SSP und der Musealisierung von Verteidigung und Blockade das Verteidigungsmuseum. In ihren Tätigkeitsbereichen waren diese jedoch keineswegs klar voneinander abgegrenzt. Es war nicht so, dass sich im Istpart Fachleute der historischen Zunft ausschließlich mit der Erforschung und historiographischen Bearbeitung der Leningrader Kriegsgeschichte beschäftigt hätten. Die im Schriftstellerverband organisierten Literatinnen und Literaten verfassten keineswegs ausschließlich literarische Texte zum Thema. Vielmehr stand in den Publikationen des Istpart die Propaganda und Agitation – also die Reproduktion der Aussagen politischer Autoritäten und der Kriegspropaganda im Vordergrund, während sich die Literaturschaffenden nicht selten als Chronisten oder Historiker wahrnahmen

278

Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

und mit ihren Deutungen die Lücke füllten, die unter anderen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen von einer seriösen Geschichtsforschung und Historiographie hätte ausgefüllt werden können. Damit hatte keineswegs die historische Forschung die Deutungshoheit über die Leningrader Kriegsgeschichte. Die sowjetischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller übernahmen in Ermangelung psychologischer Aufarbeitung der Kriegstraumata, wie von Anna Krylova beschrieben, die Aufgabe von ›Seelenheilern‹. Die Leningrader Literaturschaffenden nahmen sich auch der Aufgabe an, die mangelnde Aufklärung über die Lage in der Stadt und ihre Ursachen sowie über das Handeln der Verantwortlichen mit fiktiven und idealisierten Geschichtsbildern auszufüllen. Sowohl die Leningrader Zivilbevölkerung als auch politische Führer wie Zˇdanov wurden in der Kriegs- und Nachkriegsliteratur zu heldenhaften Kunstfiguren stilisiert. Wiederum mit der Methode von Versuch und Irrtum kamen dabei jedoch auch Entwürfe zur Veröffentlichung, die von der allgemein üblichen Heroisierung abwichen und menschliche, kummervolle und orientierungslose Kriegsheimkehrer schilderten. Einzelne Texte kratzten am Nimbus der sowjetischen Kriegshelden, indem sie ihnen beispielsweise die Lust auf eine Flasche Bier nach dem Angriff zugestanden und die Unachtsamkeit, nicht damit zu rechnen, dass diese während des Angriffs platzen könnte. Unter die zahllosen Beobachtungen von als heldenhaft zu interpretierendem Verhalten und Personen, die die Chronistin der Blockade Vera Inber überlieferte, mischten sich vereinzelt auch weniger heldenhafte Motive, die neben den ideologisch vollwertigen zur Veröffentlichung kamen. Das Genre des Tagebuchs ermöglichte ihr auch, authentische Eindrücke des Leidens und Sterbens in der Stadt zu publizieren, indem diese Form die ehernen Gesetze des Sozrealismus vorübergehend außer Kraft setzte. Die chronologische Grundlage der Musealisierung der Belagerung lieferten weder Historiker noch Schriftsteller. Sie entstammte der Feder eines politischen Funktionärs: Aleksej Kuznecov. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums nutzten offensichtlich Materialien des Istpart, betrieben aber auch eigene Studien. Ein zentrales Mittel der Machtausübung im sowjetischen Parteistaat war die Vereinigung mehrerer Ämter in einer Person. Lokale Akteure gewannen an Autorität, indem sie gleichzeitig oder zeitnah Ämter in Leningrad und Moskau – näher an der Machtzentrale – ausfüllten, wie Nikolaj Tichonov und Aleksej Kuznecov. Ihre geschichtspolitischen Konzeptionen hatten besonderes Gewicht und wurden insbesondere vor Ort in Leningrad als politisch hochgradig vertrauenswürdig eingestuft. Sie fanden breite Verwendung in allen Bereichen des Erinnerns. Daher bleibt festzuhalten: Bei der Historisierung der Belagerung Leningrads spielten Organe des Parteistaats eine zentrale Rolle. Es waren jedoch nicht die

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zentralen Agitations- und Propagandastrukturen, sondern ihre Leningrader ›Ableger‹, die von Überlebenden der Belagerung dominiert waren. Die einzelnen Bereiche der Entwicklung des Kriegsgedenkens waren nicht klar voneinander getrennt. Ihre Funktionen vermischten und überschnitten sich. Auffällig ist allerdings die Schlüsselrolle des literarischen Bereichs, der sowohl Aufgaben der Geschichtsforschung und Dokumentation als auch der psychologischen ›Nachsorge‹ übernahm. Für die Vermittlung von Vorstellungen über die historischen Zusammenhänge und von propagandistischen Motiven war gerade das literarische Genre besonders geeignet. Das Merkmal der strukturellen Entgrenztheit wirkte sich jedoch nicht nur auf die verschiedenen Bereiche der Historisierung der Belagerung aus. Ämterhäufung und Kompetenzüberschneidung sowie das Prinzip der absoluten Auslöschung politischer Gegner führte dazu, dass sich machtpolitische Verschiebungen an der Führungsspitze des Staates unmittelbar auf das öffentliche Kriegsgedenken auswirkten. Dies ist besonders deutlich am Beispiel des Verteidigungsmuseums zu erkennen. Utilitaristisches Taktieren: Effekte und Strategien Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt meiner Untersuchung besteht in der Frage, wie Akteure und Akteurinnen bei der Entwicklung von Geschichtsbildern vorgingen und welche Faktoren deren Inhalte beeinflussten. Wie in den Arbeiten von Nina Turmarkin, Andreas Langenohl, Amir Weiner und zuletzt Steven Maddox hat sich auch in der vorliegenden Studie erneut der zutiefst utilitaristische Umgang mit dem Kriegsgedenken in der Sowjetunion gezeigt. Das Kriegsgedenken hatte zum Ziel, unter Heranziehung der Kriegstoten als moralische Autorität die Leistungsbereitschaft der Überlebenden für den Wiederaufbau und ihre Loyalität zum sowjetischen Staat bis an die Grenzen des Möglichen zu steigern. Unter diesem Vorzeichen vollzog sich auch die Historisierung der Belagerung Leningrads, was sich auf die entstehenden Geschichtsbilder unmittelbar auswirkte. Der Prozess der Historisierung war dabei zum einen von Effekten geprägt, die sich aus den Aufgaben und dem Aufbau der beteiligten Organisationen ergaben. Zum anderen entwickelten die in Leningrad tätigen Akteurinnen und Akteure des Gedenkens eigene Strategien im Umgang mit politischen Vorgaben. Wie von Dzeniskevicˇ gezeigt, entschied sich die Frage, welche wissenschaftliche Institution am Ende des Krieges die Bearbeitung der Belagerung übernehmen sollte, bereits lange vor Kriegsende zugunsten des Leningrader Istpart. Aus dieser Entscheidung ergab sich, dass hier eine Institution federführend war, deren vorrangige Aufgabe im Bereich von Agitation und Propaganda lag. Dies blieb nicht ohne Folgen für die entstehenden Geschichtsbilder. Zwar boten die vom Istpart erhobenen Interviews ein thematisch breit gefächertes For-

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Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

schungsmaterial. Die Quellenanalyse macht deutlich, dass sogar auf vom Istpart dokumentierten Veranstaltungen mit propagandistischem Schwerpunkt, wie Erinnerungstreffen in Fabriken, viele Themen zur Sprache kamen, die sich über den Rahmen der Kriegspropaganda hinausbewegten. Auch standen Mittel und Personal zur Publikation umfassender Arbeiten zur Verfügung, wie der zweibändige Quellenband »Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza« zeigt. Dieser spiegelt jedoch keineswegs die Gesamtbreite der in den vom Istpart erhobenen Quellen behandelten Themen. Er beschränkt sich auf die unkommentierte Reproduktion von Texten der Kriegspropaganda. Hier zeigt sich eine strukturbedingte Dysfunktion der sowjetischen Geschichtsforschung. Diese halte ich für einen nicht bewusst hergestellten, aber in Kauf genommenen Effekt, der auf die Verfasstheit der sowjetischen Institutionen zurückgeht: Zwar war nicht ausdrücklich beschlossen worden, eine systematische Dokumentation und Erforschung der Belagerung zu unterlassen, diese fand jedoch einfach nicht statt. Statt von Fachleuten aufgrund systematischer Forschung Geschichtsbilder entwickeln zu lassen, wurden Konzeptionen aus Reden und Publikationen lokaler Parteigrößen in ihren Grundzügen direkt übernommen und bildeten die Grundlage für neue Darstellungen der Leningrader Kriegsgeschichte in der Nachkriegszeit. Dies bot den Vorteil, dass schwierige Themen wie die Mitschuld der sowjetischen Behörden an der mangelhaften Versorgung oder Amtsmissbräuche von Parteifunktionären auf Kosten der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung nicht behandelt werden mussten. In diesen Geschichtsbildern waren jedoch wichtige Elemente des Erlebens der Leningrader Zivilbevölkerung nicht oder nur rudimentär enthalten. Die Bearbeitung dieser Themenfelder fand in der Folge nicht in Form wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern in literarischen Darstellungen statt. Die Literatur zum ›Leningrader Thema‹ wurde auch deshalb zum umkämpften Gebiet, weil sich hier Themen von großer Wichtigkeit für die Überlebenden – wie Hunger und Leid in der belagerten Stadt – fanden, die sowohl in rein propagandistischen als auch in ›wissenschaftlichen‹ Texten ausgespart blieben. Entsprechend den Prinzipien des Sozialistischen Realismus wurden diese Themen jedoch häufig nicht einfach dargestellt, sondern sollten nach Möglichkeit eine bestimmte Haltung zu den beschriebenen Zuständen und Ereignissen sowie zum gegenwärtigen Umgang damit fördern. Der Krieg wurde im Rahmen dieser Darstellungsprinzipien zu einem Einfluss erklärt, der die Entwicklung der ›sowjetischen Menschen‹ fördere. Die dargestellten Protagonisten gewannen im Laufe der Handlung an charakterlicher Festigkeit, ihre Beziehungen wurden inniger und stabiler. Entbehrungen und Leid, die das Kriegserleben mit sich gebracht hatte, wurden so zu einem letztendlich positiven und stärkenden Einfluss umgedeutet. Diese Herangehensweise beförderte allerdings die Verschleierung und Verdrängung von Leid, Zerstörung und Traumatisierung. Texte, die beispielsweise

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die Orientierungslosigkeit offenlegten, die die Fronterfahrung bei Einzelnen hinterlassen hatte, wie der Textausschnitt »Das Treffen« von Gennadij Gor, erfuhren bereits 1946 im Zuge der Zeitschriftenverordnung harsche Kritik. Erwünscht waren Texte wie die Kurzgeschichte »Weiße Nächte« von Vera Ketlinskaja, in der die Leistungsbereitschaft der Protagonisten durch die im Krieg gemachten Erfahrungen steigt. Hier wird auch die erwünschte Umgangsweise mit dem Leiden der Kriegszeit deutlich gemacht. Die Botschaft lautet: Mangel und Leid waren nötig, um den beiden Figuren den Weg zueinander zu ebnen, sie sind an diesen Prüfungen gewachsen. Der Preis für diese Art der sinnstiftenden Betrachtung war, dass die zahllosen Opfer der Belagerung, die das Kriegsende nicht erlebten, unsichtbar bleiben mussten. Die Geringschätzung und das Verschweigen persönlichen Leidens wurde in dieser Haltung zum Wert an sich stilisiert. Eigene Entbehrungen sollten verschwiegen werden und Heldentum konnte nur durch harte Arbeit, Durchhalten und die Negierung und Geringschätzung des eigenen Leidens erreicht werden. Dabei gilt, dass Heldentum mit Selbstaufopferung um jeden Preis gleichgesetzt wird, unabhängig davon, ob durch das eigene Opfer eine reale Verbesserung der Situation erreicht wird oder nicht. Dieses Heldentum wurde auch von Nikolaj Tichonov in seinen Erzählungen zum ›Leningrader Thema‹ im besonderen Maße und bis zur Absurdität entwickelt. Ein besonders effektives Mittel der Historisierung war die Darstellung realer Personen mit literarischen Mitteln. Hier konnten den Protagonisten – wirklichen Personen, zu literarischen Charakteren stilisiert – die Charakterzüge zugeschrieben werden, die sie zur Erfüllung der Ideale brauchten: Ruhe, Standhaftigkeit, Solidarität mit der Bevölkerung und andere wichtige Eigenschaften. Beispielhaft für diese Strategie der Historisierung ist die Darstellung Zˇdanovs in der Erzählung »Ladoga«. Anstelle der sachlichen Erforschung und Darstellung von Zusammenhängen wurde dabei auf die Herstellung von idealisierten Fiktionen gesetzt.781 Diese waren ein durchaus probates Mittel, um die Autorität und Beliebtheit lokaler Parteivertreter zu stärken, und offenbaren damit einen ausgesprochen utilitaristischen Umgang mit Geschichtsbildern. Gleichzeitig zeigt sich hier ein Effekt der ›Arbeitsteilung‹ zwischen den Bereichen Historiographie und Literatur. Die mangelnde historiographische Behandlung zentraler Akteure der Leningrader Lokalpolitik wurde durch ihre literarische Beschreibung ersetzt. Die somit transportierten Inhalte entsprachen weniger historiographi-

781 Diese Taktik der Glorifizierung realer Personen mit literarischen Mitteln war nicht neu. Insbesondere die Person Lenins war bereits seit den 1920er-Jahren Gegenstand literarischer Mystifizierung gewesen. Vgl. bspw. Fuk, B.: Lenin-Märchen. Volksmärchen aus der Sowjetunion. Berlin, 1929.

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Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

schen Anforderungen als vielmehr den Prinzipien des Sozialistischen Realismus. Vor diesem Hintergrund kommt autobiographischen Darstellungen und Tagebuchliteratur eine besondere Rolle zu. Einerseits ließ sich im diesem Genre besonders authentisch die Transformation Einzelner durch das Kriegserleben zeigen. Die bekehrte ehemalige Vertreterin der Bourgeoisie Vera Inber bot mit ihren Aufzeichnungen und auch durch ihre vorhergegangenen Publikationen für dieses Wandlungsszenario eine besonders gute Projektionsfläche. Gerade sie, die während der Blockade in die Partei eintrat und ihre Arbeit in den Dienst der Kriegspropaganda stellte, machte mit ihrem persönlichen Beispiel deutlich, wie man sich die Einbindung der Intelligencija in das sowjetische System wünschte. Andererseits waren deutliche Überzeichnungen zugunsten der Prinzipien des Sozrealismus, wie Tichonov sie seinen Figuren einschrieb, in einem autobiographischen Genre unmöglich, wenn die Glaubhaftigkeit der Protagonistin als reale Person erhalten bleiben sollte. Und es war gerade diese Authentizität, die den Tagebuchpublikationen besondere Autorität verlieh. Die Frage nach dem Einfluss von Zeitzeuginnen und -zeugen auf die Entstehung von Geschichtsbildern zur Belagerung Leningrads, die am Beginn dieser Studie gestellt wurde, muss differenziert beantwortet werden. So waren nicht nur die Akteurinnen und Akteure der Geschichtspolitik selber Überlebende, sie erhoben auch mithilfe von Interviews und Zeitzeugengesprächen Quellen, die Erinnerungen an Krieg und Belagerung beinhalteten. Bereits während des Krieges gab es bei Stadtteilversammlungen der Partei Aufrufe dazu, Tagebuch zu führen.782 Mit Hellbeck kann eine solche Initiative einerseits als Mittel zur Förderung der Selbstreflexion Einzelner unter den erschwerten Umständen des Krieges betrachtet werden. Andererseits ging es auch darum, gerade Parteimitglieder ihre ideologisch einwandfreie Sicht auf die Vorgänge festhalten zu lassen, um diese später für historische Darstellungen verwenden zu können. Auch das Institut für Parteigeschichte und das Museum der Verteidigung Leningrads griffen in ihrer Arbeit zu unterschiedlichen Themen der Belagerung auf Augenzeugenberichte zurück, die beide Institutionen selbst erhoben. Diese und ähnliche Vorgehensweisen wirkten sich einerseits in beschönigenden Darstellungen und in der gezielten Hervorhebung der Verdienste lokaler Parteifunktionäre aus. Zum anderen wurden jedoch auch Missstände und Hungerfolgen thematisiert, die der Leningrader Bevölkerung noch zu präsent waren, um sie zu verschweigen. 782 Bei einer Versammlung des Rajkom des Kirov-Bezirkes wurde dazu aufgerufen, Tagebuch zu führen, um die Geschehnisse zu dokumentieren. Die Idee wurde von mehreren Anwesenden für gut befunden Ohne Herausgeber (2004): Blokadnye dnevniki (wie Anm. 33), S. 8f.

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Angesichts der weiten Verbreitung aufbereiteter Augenzeugenberichte fällt auf, dass gerade biographische Formen unter den ersten und am weitesten verbreiteten Veröffentlichungen zur Blockade waren. Darunter waren sowohl eher lebensnahe Texte, wie das Tagebuch von Vera Inber oder die Erzählung von Gennadij Gor, als auch Beiträge, die sich in ihrer Darstellungsweise überaus stark an den Prinzipien des Sozialistischen Realismus orientierten und dadurch überzeichnet wirkten. Diese Strategie der Historisierung entfaltete ihre propagandistische Wirkung darin, die Überlebenden für den Wiederaufbau in die Pflicht zu nehmen. Sie erlaubte ihnen darüber hinaus, ihre Erfahrungen als positiv oder zumindest sinnhaft in ihre Biographie zu integrieren und weiterzuleben. Eine scharfe Trennung zwischen individuellem und staatlichem Gedenken ist daher anhand des untersuchten Materials nicht festzustellen. Vielmehr wurden in vielen Bereichen individuelle Erinnerungen in mehr oder weniger modifizierter Form in die neu entstehenden Geschichtsbilder eingebunden. Diese bezogen häufig gerade daraus ihre Wirksamkeit. Strategisches Vorgehen im Bezug auf die lokale Geschichtspolitik lässt sich insbesondere im Umgang der Leningrader Parteifunktionäre mit der Darstellung Stalins und der Einbeziehung der von ihm vertretenen Deutungen des Krieges feststellen. In der Gestaltung der Ausstellungen des Verteidigungsmuseums zeigt sich der Versuch, einerseits die eigenen Verdienste gebührend zur Schau zu stellen, andererseits jedoch auch dezidiert die Person Stalins in allen möglichen Zusammenhängen zu präsentieren. In den Ausstellungssälen wurde stets eine eindeutig sichtbare Hierarchie geschaffen, in der die Leningrader Parteiprominenz zwar vertreten war, aber immer deutlich im Rang von der Person Stalins abgesetzt dargestellt wurde. Dabei wurde die allgegenwärtige Anwesenheit des Führers suggeriert. Problematisch war in diesem Zusammenhang, dass konkrete Verdienste des Führers um Leningrad mangels dessen Präsenz in der Stadt nur schwer auszumachen waren. Diese konkreten Belege für Stalins direktes Handeln zur Rettung der Stadt wurden durch die Formel von Stalin als dem »Organisator und Inspirateur der Befreiung Leningrads« ersetzt. Insbesondere bei Veranstaltungen, die breite Beachtung auch außerhalb Leningrads und insbesondere in Moskau fanden, wie der Verleihung des Leninordens an die Stadt im Januar 1945, wurde diese Formel geschickt und wiederholt eingesetzt. Sie stellte jedoch ein reines Lippenbekenntnis dar. Bei anderen Gelegenheiten, die sich eher auf lokaler Ebene abspielten, rückten die Verdienste der Leningrader Parteivertreter weit stärker in den Mittelpunkt. Ein Paradigma, viele Motive: Formen und Inhalte der Geschichtsbilder In Bezugnahme auf eine Formulierung von Jörg Ganzenmüller, der das sowjetische Kriegsgedenken generell als »uniform« einschätzt und mit dem »pluralistischen« Gedenken der postsowjetischen Jahre kontrastiert, wurde am Beginn

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dieser Untersuchung die Frage gestellt, inwieweit die Geschichtsbilder zur Belagerung Leningrads am Beginn ihrer Historisierung wirklich einförmig waren. Zur Beantwortung dieser Frage gehören unterschiedliche Aspekte: Es gab ein zentrales Bewertungsparadigma, das tatsächlich von Anfang an die Behandlung der Belagerung Leningrads als historisches Thema prägte. Dieses steht in enger Verbindung sowohl mit der für den Stalinismus bereits in den 30er-Jahren typischen Ausprägung des Heldenkultes als auch mit seiner speziellen Ausformung in der sowjetischen Kultur der Kriegszeit. Gleichzeitig zeigt eine eingehende inhaltliche Untersuchung verschiedener Texte zur Belagerung, dass gerade in den ersten Jahren der Historisierung, insbesondere 1943 / 44, eine große Vielfalt von Motiven öffentlich diskutiert und verhandelt und auch in entstehende offiziell vertretene Geschichtsbilder einbezogen wurde. Das zentrale Deutungsparadigma, das sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Bereichen der Historisierung ausmachen lässt, ist, ähnlich wie die meisten Stereotypen des ›Petersburger Textes‹ zweigeteilt. Der Begriff des Heldentums steht zwar im Zentrum, er untergliedert sich jedoch in einen aktiven und einen passiven Typus. Dem aktiven Heldentum ist der Begriff der oborona, der Verteidigung Leningrads, zugeordnet, während der Begriff blokada für passives (Opfer-)Heldentum steht. Oborona kann dem militärischen Bereich und der Front zugeordnet werden, blokada steht für den zivilen Bereich und das Innere der belagerten Stadt mit den darin verbliebenen Menschen. Im Mikrokosmos des Leningrader Kriegsgedenkens der Nachkriegszeit war der militärische Bereich generell dem zivilen Bereich übergeordnet: In den Belagerungschronologien Kuznecovs fungierte »die Blockade« als eine Periode unter anderen in der Geschichte der Verteidigung Leningrads. Im Museum der Verteidigung Leningrads gab es eine Abteilung zur Periode der Hungerblockade und eine weitere zur Beseitigung ihrer Folgen. Die Leningrader Zivilbevölkerung spielte gerade in diesen beiden Abteilungen eine Rolle. Diese Gewichtung forderte in den Geschichtsbildern für die Darstellung der Zivilbevölkerung einen hohen Preis: Sie bedeutete ihre einseitige Darstellung als Opfer, ihre nahezu vollständige Viktimisierung. Ansätze der Historisierung, die es ermöglicht hätten, die Leningrader Zivilbevölkerung stärker als Handelnde darzustellen, wie etwa die Initiative des Landwirtschaftsmuseums, eine Ausstellung zum »Kampf um Lebensmittel« zu zeigen, passten nicht in dieses Selektionsschema und kamen nicht zur Umsetzung. Dennoch ist das Deutungsparadigma des aktiven und passiven Heldentums nicht als absolut, sondern als relativ zu bewerten. Die Untersuchung der Arbeiten von Nikolaj Tichonov und Vera Inber sowie anderer Texte, die in der Zeitschrift Leningrad erschienen, zeigt, dass trotz dieser von Heldentum dominierten Grundstruktur im Gedenken an die Belagerung verschiedene Gewichtungen und Facettierungen möglich waren. Gerade in Formen, die nicht vollends dem literarischen Genre angehörten, ließen sich

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auch Hinweise auf die Ausmaße des Hungers in der Stadt transportieren. Dies trifft insbesondere auf Augenzeugenberichte wie den des Bataillonskommandeurs in der Zeitschrift Leningrad zu. Interessant ist, dass die Darstellung von Hunger in der Zeitschrift Leningrad noch am ehesten vor einem militärischen, nicht aber vor einem zivilen Hintergrund möglich war. Viele Bilder und Beschreibungen des Leidens der Zivilbevölkerung fanden im Tagebuch – ebenfalls ein literarischer Randbereich – von Vera Inber Raum. Hier war es auch möglich, am Rande über Formen von Vandalismus als Folge von Not und Hunger zu berichten, etwa die Demontierung eines Zauns für Feuerholz, den Handel mit Hunden oder das Verarbeiten von Katzen zur Fleischgewinnung zu erwähnen. Diese Hungerfolgen kamen im Tagebuch als einzelne Erscheinungen zur Sprache und zogen in der Öffentlichkeit die Kritik nach sich, die Autorin habe sich mit kleinlichen Alltagsbeschreibungen aufgehalten, statt sich dem großen Ganzen zu widmen. Dennoch wurden hier Bereiche des Alltagslebens im belagerten Leningrad angesprochen, die sich am Rande des Heldendiskurses und teilweise über diesen hinaus bewegten. Auch Fehlverhalten und Misskalkulationen der Behörden in der Organisation von Evakuierung und Versorgung der Bevölkerung konnten Erwähnung finden. Aus diesem thematischen und inhaltlichen Fundus schöpften auch spätere Darstellungen der Belagerung, die in den 60er- und 80er-Jahren mit ›neuen‹ Aspekten der Leningrader Kriegsgeschichte aufwarteten. Nicht nur im literarischen Bereich, sondern auch bei den Propaganda- und Agitationsveranstaltungen des Leningrader Istpart wurde der Bereich des Heldentums bisweilen eher weit ausgelegt. Die Befragungen der Mitarbeiterinnen des Leningrader Istpart brachten nicht nur heldenhaftes Verhalten der Gesprächspartnerinnen und -partner zur Sprache. Auch hier wurden Alltagserscheinungen besprochen, die die in der Stadt bestehende Not drastisch illustrierten. Hunger und Versorgungsmängel an überlebenswichtigen Gebrauchsgegenständen, Kannibalismus und die Angst, von den Behörden bei einer Evakuierung im Stich gelassen zu werden, kamen zur Sprache. Dies wurde möglich, da an diesen Erinnerungssettings vorwiegend Zeitzeuginnen und -zeugen beteiligt waren. Sie spielten sich im halböffentlichen Bereich ab, wirkten sich jedoch auf die Veröffentlichungen des Leningrader Istpart nur wenig aus. In seinen Publikationen nutzte das Istpart kaum Resultate dieser Forschungsarbeit, sondern beschränkte sich auf die Reproduktion der Konzeptionen lokaler Parteigrößen aus der Kriegszeit. Dieser funktionale Mangel in der Arbeit der wissenschaftlichen Einrichtungen hat bis heute schwerwiegende Folgen. So zeigt beispielsweise die eingehende Untersuchung der von Kuznecov und Tichonov am Ende des Krieges entwickelten Geschichtsbilder ein Schema, das bis heute im russischsprachigen Raum als grundlegende historische Tatsache angesehen wird. Demnach war die Ursache für die Belagerungsstrategie der

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Deutschen, dass sie bei der Einnahme Leningrads gescheitert waren. Die Tatsache, dass es überhaupt zu einer Belagerung der Stadt kam, wird also bereits als militärischer Erfolg der Roten Armee eingestuft. Dieses Geschichtsbild wurde in der Nachkriegszeit von Kuznecov, Tichonov und anderen geprägt und ist bis heute grundlegend für alle russischsprachige Geschichtsschreibung zur Leningrader Kriegsgeschichte. Neuere Untersuchungen, insbesondere die Arbeit Jörg Ganzenmüllers, die auf einem umfassenden Studium der deutschen Quellen beruht, stellen hingegen die Belagerung Leningrads in den Gesamtzusammenhang des Vernichtungskrieges und benennen wirtschaftspolitisches Kalkül auf einer rassenideologischen Grundlage als Ursachen für die Belagerung. Auf russischer Seite wird dies lediglich als Angriff auf die postulierte Heldenhaftigkeit der Verteidiger Leningrads verstanden.783 Die stalinistische Propaganda verstellt damit in der russischsprachigen Forschung die Sicht auf Konzeptionen, die sich aufgrund aktuellen Quellenstudiums ganz neu ergeben. Die Fixiertheit auf das Heldennarrativ bewirkte auch, dass erfolgreiche Schlachten und Kriegshandlungen selektiv betrachtet und zur Schau gestellt wurden, während man verlustreichere Schlachten und Niederlagen aussparte, was den Inhalt der sich entwickelnden Geschichtsbilder bestimmt. Auch diesem Phänomen liegt eine mangelnde wissenschaftliche Aufarbeitung allen zur Verfügung stehenden Materials zugrunde. Glantz weist für die gesamte sowjetische Historiographie der Blockade darauf hin, dass die weniger erfolgreichen Schlachten um Leningrad bedeutend schlechter erfasst und auch schlechter erforscht sind als die siegreichen. Auch dieses Phänomen lässt sich bereits in den ersten in der Nachkriegszeit entstandenen Konzeptionen zur Leningrader und allgemeinen sowjetischen Kriegsgeschichte nachweisen und hat hier seinen Ursprung. So beschränkte sich die Artillerieabteilung im Verteidigungsmuseum auf die Darstellung derjenigen Phasen, die die meiste Dynamik und das beste Material für ein Heldennarrativ zu bieten hatten. Stalins Kriegslehren stellen die von Niederlagen der Roten Armee geprägten historischen Abläufe weit weniger detailliert dar als das siegreiche Jahr 1944. Weder in den Ausstellungen des Verteidigungsmuseums noch in den Texten von Kuznecov und Tichonov werden Zahlen der Hungertoten genannt, die ja den wirklichen Umfang der Hungersnot in Leningrad verdeutlicht hätten. Zwar entwickelte Stalin seine Kriegslehren mit dem Schema der ›zehn Schläge‹ und den vier Kriegsphasen bereits 1944 und 45, sie entfalteten ihre Wirkung jedoch zunächst nur zögerlich. Erst Ende der 40er-Jahre wurden sie zum Maßstab für alle Kriegsgeschichtsschreibung erhoben. Anfang der 1950erJahre wandelten Historiker sie in allgemeingültige Paradigmen um, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verteidigungsmuseums als Maßstab für 783 Vgl. Frolov (2005): Chotel li (wie Anm. 57).

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eine gelungene Musealisierung der Leningrader Kriegsgeschichte vorgelegt wurden. Bei diesen Geschichtsbildern handelt es sich eindeutig um uniforme Konzeptionen. Ihre Uniformität ergibt sich aus den Selektionskriterien, die bei ihrer Schaffung angewandt wurden. So wird Leningrad in dem Werk »Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion« nur im Zusammenhang mit erfolgreichen Militäroperationen erwähnt. Die Bedeutung der Leningrader Kriegsgeschichte beschränkte sich demnach darauf, dass ›der große Sieg bei Leningrad‹ als ›erster Schlag‹ in Stalins Kriegsgeschichte einging. Leningrader Narrative über das Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung, über die Bemühungen der lokalen Parteiführung, die Bedingungen in der Stadt zu verbessern, und über das Mitwirken der Zivilbevölkerung fanden hier keinen Raum. Die Frage, ob und inwiefern das Kriegsgedenken im Lenigrad der Nachkriegszeit wirklich uniform war, ist differenziert zu beantworten. Zweifellos hat das Heldenparadigma bereits in den ersten Nachkriegsjahren zur Entstehung ideologisch bedingter weißer Flecken in den Geschichtsbildern zur Belagerung Leningrads geführt. Diese bestehen teilweise bis heute. Andererseits gab es gerade in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren die Möglichkeit, dieses allgegenwärtige Paradigma auch in Publikationen etwas weiter auszulegen und, je nach Genre, punktuell außer Kraft zu setzen. Der Vergleich von Vera Inber und Nikolaj Tichonov zeigt: wie im Einzelnen der Sozialistische Realismus in Texten über Leningrad im Krieg angewandt wurde, hing auch von der Entscheidung einzelner Autorinnen und Autoren ab. Das Heldenparadigma war ein dominantes Selektionsschema. Was aber im Einzelnen als heldenhaft verstanden oder dargestellt wurde, unterlag zumindest in den ersten Nachkriegsjahren noch dem Ermessen der geschichtspolitischen Akteurinnen und Akteure und kann nicht als einheitlich oder uniform bezeichnet werden. Mit Stalins Kriegslehren trat ein stark vereinheitlichtes und hochselektives Geschichtsbild zum Krieg und damit auch zur Leningrader Kriegsgeschichte in den Vordergrund. Es wurde nach der Leningrader Affäre durch Vertreter der Moskauer Machtzentrale vehement durchgesetzt und verhinderte letztendlich eine Neueröffnung des Leningrader Verteidigungsmuseums. Zum Ende der in meiner Arbeit untersuchten Zeitperiode bietet sich zusammenfassend das im Schaubild umgesetzte Bild: Stalin selber trat als geschichtspolitischer Akteur in das Geschehen. Die von ihm vertretenen Geschichtsbilder bestanden aus einförmigen, militärhistorischen Elementen. Sie wurden systematisch über die Partei- und Sowjetstrukturen vor Ort in Leningrad implementiert, beispielsweise über Lektüreveranstaltungen in den Leningrader Parteistrukturen. Dennoch blieben andere Konzeptionen wirksam, die ja bereits veröffentlicht worden waren, in den Erinnerungsgemeinschaften vor Ort weitergegeben wurden und in der Subjekterinnerung der Überlebenden weiter existierten. Sie sind im Schaubild verblasst als Gedächtnishintergrund sichtbar.

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Drei Dimensionen der Historisierung Die hier untersuchten Geschichtsbilder wurden in einer Zeit des Übergangs zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit in der Sowjetunion entwickelt. Jenseits dieses konkreten historischen Hintergrundes zeigen sich Grundlinien des Geschehens, die auch auf andere Erinnerungskontexte übertragen werden können. Der Begriff der Historisierung beschreibt den Entstehungsprozess von Ge-

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schichtsbildern. Er eröffnet einen Raum zwischen dem Ereignis und seiner Deutung, der eine zeitliche, eine inhaltliche und eine semantische Dimension hat. Dieser Raum wird von Akteurinnen und Akteuren mit ihren Handlungen und Entscheidungen ausgefüllt. Zwischen einem als historisch bedeutsam bewerteten Ereignis und dem fertigen Geschichtsbild, das dieses Ereignis zum Inhalt hat, liegt eine Zeitspanne. Sie macht die zeitliche Dimension der Historisierung aus. Je nach dem Ereignis und den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Historisierung kann diese unterschiedlich lang sein. Manche Aspekte von Ereignissen finden niemals Eingang in Geschichtsbilder, andere werden zeitnah historisiert. Im Fall der Leningrader Blockade begann die Historisierung während die Stadt noch belagert war. Die privilegierte Versorgung der höherstehenden Parteifunktionäre mit Lebensmitteln und ihr Missbrauch haben bis heute keinen Eingang in die offiziellen Geschichtsbilder gefunden. Die zeitliche Verzögerung bei der Historisierung mancher, auch weithin bekannter Inhalte ist keineswegs ein spezifisch sowjetisches Phänomen: 50 Jahre mussten vergehen, bis die Verbrechen, die die deutsche Wehrmacht in Osteuropa begangen hat, in Deutschland in offiziell anerkannte Geschichtsbilder eingegliedert werden konnten. Es zeigt sich also, dass zeitliche Nähe in der Historisierung eines Ereignisses keinesfalls zur größeren Vollständigkeit und Differenziertheit der entstehenden Geschichtsbilder beitragen muss. Schwierige, möglicherweise mit Schuld behaftete Ereignisse werden häufig viel später in Geschichtsbildern historisiert als positiv konnotierte Ereignisse. Auch die eigenen Opfergeschichten sind in der Regel präsenter und gehen leichter in offizielle Geschichtsbilder ein als Geschichten über die eigene Täterschaft. Wie sich ein Geschichtsbild letztendlich ausformt, ist unmittelbar mit der zeitlichen Dimension seines Entstehens verbunden. In der zeitlichen Dimension der Historisierung der Belagerung Leningrads gab es ein ideologisches Vakuum, das von lokalhistorischen Akteuren und ihren Sichtweisen ausgefüllt wurde. Dieser Umstand wirkt sich in den Geschichtsbildern zur Belagerung bis heute aus. Durch die zeitliche Nähe zum Ereignis waren vielen Überlebenden der Hunger und seine Folgen zu präsent, als dass man ihn hätte verschweigen können. Motive, die diese Überlebenden in der Nachkriegszeit in die Geschichtsbilder einbrachten, überlebten letztendlich auch die Tabuisierung der Blockade in den 1950er-Jahren. Sie wurden von denselben Akteurinnen und Akteuren und Nachgeborenen in den 1960er- und 1980er-Jahren wiederbelebt und erweitert. Die inhaltliche Dimension des Historisierungsprozesses wird von den inhaltlichen Elementen, den Bestandteilen der Geschichtsbilder, geformt. Nicht selten werden diese durch Symbole repräsentiert. Der improvisierte Kanonenofen burzˇujka kann für den Ausfall der städtischen Versorgungssysteme, aber

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auch für das Beisammensein der Familien in den kalten Wintermonaten stehen. Die Schlitten, auf denen Menschen und Dinge transportiert wurden, symbolisieren den Ausfall der städtischen Transportsysteme, gleichzeitig sind sie ein Symbol des Massensterbens, da viele Tote auf Schlitten transportiert wurden. Zu den symbolischen Motiven, die in der Erinnerung der Überlebenden eine Rolle spielen, kommen persönliche Erlebnisse, die den Blick auf die Belagerung und die Erinnerung der Überlebenden prägen und weitergegeben werden. Davon nicht immer klar zu trennen sind historische Ereignisse, die für bestimmte Etappen im Geschehen stehen: die Bombardierung der Badaev-Lebensmittellager, die erste Erhöhung der Brotration Ende Dezember 1941, die Befreiung der Stadt im Januar 1944 und andere. All diese verschiedenen Elemente sind ideologischen Einflüssen ausgesetzt, die Motive oder Ereignisse überformen und sie einfärben. In ihrer Orientierung am Heldenkult, der durch den Sozialistischen Realismus gefördert und gefordert war, ließen Akteure und Akteurinnen ›die Leningrader‹ zur lokalpolitischen Version der ›Sowjetmenschen‹ werden. Die ideologische Überformung von Motiven des Kriegsgedenkens ist in vielen Elementen heutiger Geschichtsbilder erhalten geblieben. In der semantischen Dimension der Historisierung wirken ihre zeitliche und ihre inhaltliche Dimension zusammen: Zu verschiedenen Zeitpunkten wählen Akteurinnen und Akteure jeweils unterschiedliche Elemente als Bestandteile für Geschichtsbilder aus. Hinzu kommt, dass sich die Bedeutung von Symbolen im Laufe der Zeit ändern kann.784 Erst die Verknüpfung der Elemente weist ihnen Sinn zu: In der Kombination unterschiedlicher Informationen erschließen sich jeweils andere Sinnzusammenhänge. Die Information, dass Parteimitglieder unter den wegen Kannibalismus verurteilten Leningraderinnen und Leningradern die kleinste Gruppe bildeten, erhält beispielsweise eine spezifische Bedeutung, wenn man zu ihrer Erklärung Quellen heranzieht, die belegen, dass Parteimitglieder zumeist besser versorgt waren als andere Bevölkerungsgruppen.785 Wählte man zur Ergänzung dieser Information Quellen, die eine höhere moralische Festigkeit der Parteikader belegten, ergäbe sich, wie in einem Kaleidoskop, ein anderes Bild. Eine besondere Spezifik eines Geschichtsbildes ergibt sich durch die chronologische Anordnung seiner Elemente: Vorangegangene Geschehnisse werden als ursächlich, spätere als Folgen betrachtet. Gerade durch die Kontrastierung unterschiedlicher Konzeptionen, wie Stalins Geschichtsbild von den ›zehn 784 Vgl. Lotman, J. M.: Besedy o russkoj kul’ture. Byt i tradicii russkogo dvorjanstva (XVIII – nacˇalo XIX veka). Sankt-Peterburg, 2002, S. 8 f.. 785 Zemskov-Züge, A.: Leben und Sterben in Leningrad. Quellen zum Alltag während der Blockade, in: Osteuropa Jg. 61 (2011), 8 – 9, S. 75 – 78, hier 77.

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Schlägen‹ und den Leningrader Geschichtsbildern der Nachkriegszeit, wird deutlich, wie sehr die transportierten Sinnzuweisungen von der Erfahrung ihrer Autorinnen und Autoren und vom Zeitpunkt ihrer Entstehung abhängen. Stalin hielt seine Reden zum Jahrestag der Revolution – jeweils am Ende eines Jahres. So entstand auch das Geschichtsbild der ›zehn Schläge‹ am Ende des Jahres 1944. Die Leningrader eröffneten ihre Ausstellung zur Leningrader Kriegsgeschichte bereits bald nach der Befreiung der Stadt im Frühjahr 1944. Die Schlacht, die zur Befreiung der Stadt im Januar 1944 führte, kommt in beiden Geschichtsbildern vor. Während sie bei Stalin als ›erster Schlag‹ und Ausgangspunkt des siegreichen Jahres 1944 gilt, stellen Leningrader Geschichtsbilder, die nur um Monate früher entstanden waren, sie als Schlusspunkt des Leidens in und des Kämpfens um Leningrad dar. In Stalins militärhistorisch geprägtem Geschichtsbild ist sie die erste in einer Reihe von Schlachten. Leningrader Geschichtsbilder bilden neben militärhistorischen Elementen auch Symbole, Ereignisse und Erlebnisse ab, die das Erleben der Zivilbevölkerung thematisieren. So ist die Befreiung Leningrads hier weit mehr als ein militärischer Erfolg, der zum Sieg führte: Die Bevölkerung wird durch ihn für ihr Durchhalten belohnt und die lokale Führung in ihrem Vorgehen bestätigt. So stehen letztendlich die Akteure und Akteurinnen im Fokus des Historisierungskonzeptes. In meiner Studie hat sich gezeigt, dass es zum Verständnis kollektiven Gedenkens nicht nur wünschenswert, sondern unumgänglich ist, sie in die Betrachtung der von ihnen entwickelten Geschichtsbilder einzubeziehen. Akteurinnen und Akteure, die Geschichtsbilder entwickeln, tun dies nicht im sterilen oder luftleeren Raum. Sie verwenden dafür ihr Wissen, ihre Erfahrungen, lassen sich von Wünschen, Befürchtungen oder Idealen leiten. Sie reagieren auf ideologische Vorgaben, auf Bedrohungen ihrer Person sowie Belohnungen, die ihnen in Aussicht gestellt werden. Sie sind es, die entscheiden, welche Geschichtsbilder entstehen und Bestand haben. Dabei liegt es in der Hand der Akteurinnen und Akteure, wie sie mit dem strategischen Einsatz von Geschichtsbildern umgehen. Sie entscheiden letztendlich auch, ob ihre Geschichtsbilder bestehende politische Systeme stabilisieren oder Räume für kritische Fragen und abweichende Ansichten eröffnen. Sie entscheiden, ob und wofür ihre Geschichtsbilder mobilisieren und motivieren. Die Geschichtsbildforschung wirft damit die historische Zunft auf sich selbst zurück. Sie macht uns im besten Falle deutlich, wie sehr auch wir selber als Akteurinnen und Akteure der Historisierung in den Vorstellungen unserer Zeit, in unseren eigenen Ideen und Idealen verhaftet sind. Sie kann auch zeigen, wie wir selber das Gestaltungspotenzial von Geschichtsbildern für ein integrierendes, konstruktives und zukunftsgewandten Gedenken nutzen können.

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Ausblick »Lenizdat druckte ein Buch über den Krieg. Unter einem abgebildeten Foto stand: ›Persönliche Gegenstände des Partisanen Bosnjuk. Die Kugel aus seinem Schädel und auch der Nagel, mit dem er einen Faschisten verwundete…‹«786

Diese Bildunterschrift schrieb der Schriftsteller Sergej Dovlatov in den 70erJahren in sein Notizbuch und versah sie mit seinem ironischen Kommentar : «Auf großem Fuß lebte der Partisan Bosnjuk!«787. Der Notizbucheintrag liefert eine charakteristische Zusammenfassung des sowjetischen Kriegsheldenkultes in seiner Absurdität. Der Einzelne, in diesem Fall der Partisan Bosnjuk, wird zum Helden erhöht und gleichzeitig all seiner Menschlichkeit beraubt. Von ihm bleiben nur die Kugel, die ihn tötete, und ein alter Nagel, mit dem er seine Heldentat vollbrachte. In diesen profanen Gegenständen, die zu Kultgegenständen erhoben wurden, soll sich seine Identität für den Leser erschließen. Sie ist gleichzeitig jeglicher individueller Merkmale beraubt: Der Partisan wird auf die Objekte seines Heldentums reduziert. In seiner Gestalt birgt sich eine zutiefst politische Aussage: Der Einzelne erlangt nur durch seine Opferbereitschaft Bedeutung. Die Bedeutung ermisst sich dabei an der Größe des Opfers, nicht des Erreichten. Die Befreiung Leningrads von der Belagerung liegt im Jahr 2012 bereits 68 Jahre zurück. Ihre Historisierung endete trotz der Leningrader Affäre nicht im Jahr 1953. Nach einer mehrjährigen Pause erschienen in den späten 50er- und 60er-Jahren Neuauflagen der Nachkriegsliteratur und auch neue Bücher, die die Belagerung behandelten. Das Leningrader Museum für Stadtgeschichte entwickelte eine Ausstellung zur Leningrader Kriegsgeschichte, die bis heute – nur wenig verändert – zu sehen ist. In den späten 70er-Jahren konnten Ales Adamovicˇ und Daniil Granin die Protokolle ihrer Gespräche mit Überlebenden im sogenannten »Blockadebuch«788 veröffentlichen. Darin kamen viele Details und Erinnerungen zur Veröffentlichung, die zwar auch schon in den Befragungen des Istpart angeklungen, bisher jedoch nicht öffentlich diskutiert worˇ ast’ pervaja. Solo na Undervude. (Leningrad 1967 – 1978), 786 Dovlatov, S.: Zapisnye knizˇki. C in: Ar’ev, A. J. (Hg.): Sergej Dovlatov. Sobranie socˇinenii. St. Peterburg, 1999, S. 133 – 168, hier 148 f. 787 Ebenda, S. 149. Tatsächlich ist nicht klar, ob es sich bei dem Eintrag um ein Zitat, eine Stammtischanekdote oder eine literarische Schöpfung handelt und ob auf dem Bild wirklich nur die Kugel und der Nagel abgebildet waren. 788 Adamovicˇ, A.; Granin, D.: Blokadnaja kniga. Moskva, 1979. Das Buch erschien in immer wieder überarbeiteten Neuauflagen, so bspw. Adamovicˇ, A.; Granin, D.: Blokadnaja kniga, 5. ergänzte Auflage, Leningrad, 1989. Für die Geschichtsschreibung zur Leningrader Kriegsgeschichte hat es wegen seiner außerordentlichen Authentizität und der Offenheit, mit der erstmals auch schwierige Themen wie Kannibalismus behandelt wurden, besondere Bedeutung. Vgl. Bljum (2004): Blokadnaja kniga (wie Anm. 577).

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den waren. Für einen begrenzten Zeitraum in den 80er- und frühen 90er-Jahren schien es, als stehe die Beseitigung der ›weißen Flecken‹ in der Geschichte der Belagerung bevor. Die Kehrseite dieser Öffnung war eine sensationslüsterne publizistische Ausschlachtung der Leningrader Kriegsgeschichte, die nicht nur die Überlebenden häufig brüskierte. Heute schlägt das Pendel des Kriegsgedenkens wieder in die andere Richtung aus. Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges war eine »Erfolgsgeschichte«.789 Folgerichtig wurden vorzugsweise solche Teilgeschichten erzählt, die als Erfolge gelten konnten. Andere, weniger erfolgreiche wurden entweder verschwiegen oder zu Erfolgen umgedeutet. Wie die Untersuchung der im Leningrad der Nachkriegszeit entstandenen Geschichtsbilder zeigt, ist die Kernfrage, die sich am Ende des Krieges ergab und die bis heute ungelöst bleibt, wie in einer solchen Erfolgsgeschichte mit den Opfern umgegangen werden soll, die die ›Heldentat‹ der Befreiung der Stadt Leningrad oder des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg gefordert hatte. Nicht zufällig wird gerade diese Frage von Andreas Langenohl als Kernfrage identifiziert, an der sich bis heute die Haltung Einzelner gegenüber der sowjetischen Geschichte herauskristallisiert: »Diejenigen, die den Stalinismus wie auch zumeist die Sowjetunion rundweg ablehnen, neigen dazu, das der Bevölkerung abverlangte Opfer im Sinne von engl. victim zu deuten, also als letztendlich sinnlos vernichtete Leben Unbeteiligter und Wehrloser ; diejenigen, die der Sowjetunion bzw. Sowjetrussland eine positive Wertung beilegen, tendieren dazu, die im GVK gebrachten Opfer im Sinne von eng. sacrifice zu interpretieren, d. h. als teleologisch orientierten, sinnhaften und letztlich bewusst dargebrachten Verzicht.«790

Die sowjetische Kriegspropaganda und die ideologische Aufladung des Kriegsgedenkens nach dem Ende des Krieges haben eine Verknüpfung der Leiden und Opfer des Krieges mit einem Anspruch an die postulierte Heldenhaftigkeit Einzelner geschaffen. Diese Verknüpfung wird auch 67 Jahre nach Kriegsende und fast 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion kaum kritisch hinterfragt, geschweige denn aufgelöst. Sie kann immer wieder von Neuem zur gesellschaftlichen Mobilisierung eingesetzt werden. Dabei gilt: je schwieriger die momentanen Verhältnisse, je zäher die vormals erwünschte Demokratisierung und die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage vorangehen, desto stärker wird auf die Symbole der heldenhaften Vergangenheit rekurriert. So resümiert der Soziologe Lev Gudkov : »Heute wird die Erinnerung an den Krieg und den Sieg in erster Linie durch Mechanismen geschaffen, die auf die Konservierung des gesellschaftlichen Ganzen zielen und die Gesellschaft vor wachsender Komplexität und Differenzierung bewahren. Die Er789 Scheide (2005): Ich habe (wie Anm. 24), hier S.1. 790 Langenohl (2000): Erinnerung und (wie Anm. 59), S. 311.

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innerung an den Krieg nützt vor allem der Legitimation der zentralisierten und repressiven sozialen Ordnung, sie ist in das allgemeine Gefüge der posttotalitären Traditionalisierung der Kultur in einer Gesellschaft eingefügt, die mit den Herausforderungen der Verwestlichung und Modernisierung nicht fertig wird; einer Gesellschaft, welche die Anstrengungen der begonnenen sozialen Veränderungen nicht ausgehalten hat.«791

Folgt man dieser Argumentation, verwundert es kaum, dass es gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine erschreckende Neuauflage alter Stereotypen gibt. Die Debatten um die Plakatierung von Stalinbildern in Moskau zum Siegestag 2010 zeigen jedoch auch, dass die Proteste im In- und Ausland sich gelohnt haben: Letztendlich wurde auf die Anbringung der Plakate verzichtet. Die Ziele, mit denen eines Ereignisses gedacht wird, wirken sich sowohl auf die Inhalte als auch auf die Formen des Gedenkens aus. Dies zeigt sich auch im Gedenken an die Belagerung Leningrads. Steven Maddox hat angemerkt, dass im Unterschied zu anderen europäischen Orten des Gedenkens in Leningrad nicht erwogen wurde, Zerstörungen im Stadtbild als Denkmäler stehen zu lassen.792 Während in anderen Gedenkkontexten, wie im Fall der Berliner Gedächtniskirche, Demut und Trauer über die schuldhafte Zerstörung des Krieges zum Inhalt des Gedenkens wird, war das Ziel des Gedenkens in der Sowjetunion anders gelagert. Hier ging es vielmehr darum, die eigene Stärke und Unüberwindbarkeit zum Gegenstand des Gedenkens zu machen. Diese Auswahl der Inhalte des Gedenkens kann mitunter durchaus reale Folgen für die Gegenwart nach sich ziehen. Im Jahr 2008 sorgte in einigen russischen Medien die Nachricht für Empörung, dass die deutsche Regierung sich bereit erklärt hätte, jüdische Überlebende der Belagerung, die in der Emigration in Israel in einer Blockadeopfer-Organisation organisiert waren, den Opfern des Holocaust gleichzustellen und ihnen eine finanzielle Entschädigung zukommen zu lassen.793 Empörte Reaktionen der russischen Medien wiesen jedoch nicht darauf hin, dass vonseiten der russischen Organisationen der Blockadeüberlebenden bisher kein Anspruch auf Entschädigung erhoben wurde.794 Die Ursache hierfür sieht die Petersburger Historikerin Tatjana Voronina in der Geschichtspolitik, die von diesen Organisationen seit ihrem Aufkommen in den 60er-Jahren verfolgt wird. Während im westlichen Kontext 791 Gudkov (2005): Die Fesseln (wie Anm. 19), S. 71 f. 792 Maddox (2008): Healing the (wie Anm. 114). 793 Voronina, T.: Die Schlacht um Leningrad. Die Verbände der Blockade-Überlebenden und ihre Erinnerungspolitik von den 1960er Jahren bis heute, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Jg. 60 (2012), 1, S. 58 – 77, hier 58. 794 Vgl. Dve Blokady Leningrada? http://www.pravpiter.ru/pspb/n200/ta011.htm, Stand: 28. 03. 2012; Sobina, A.: Kompensacija ne dlja vsech. Den/gi ot germanskogo pravitel’stva polucˇat tol’ko blokadniki evrei. http://www.izvestia.ru/world/article3118916/, Stand: 01. 04. 2012.

Ausblick

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die Entschädigung der Blockadeopfer gerade deren Status als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Mittelpunkt stellt, wurde im russischen Kontext die materielle Vergünstigung als Belohnung der Überlebenden für ihre Verdienste verstanden: »Die Betonung des Heroischen wurde zum Hauptmotiv der Erinnerung der blokadniki in ihrer Auseinandersetzung mit den lokalen Behörden um Erlangung monetärer Hilfeleistungen. Aus diesem Narrativ sollten all die negativen Seiten des BlockadeAlltags entweder ausgeschlossen oder als Abweichung von der Normalität verstanden werden.«795

Den Helden steht es jedoch offensichtlich nicht gut zu Gesicht, sich für das Durchlittene von der Besiegten entschädigen zu lassen. Diese beiden Versionen von Geschichtsbildern und damit auch der Sichtweise der Opfer lassen sich nicht gut vereinen. Sie stehen einander genauso unvereinbar gegenüber wie die Positionen der deutschen und russischen Historiker, die sich uneinig sind, ob das Ziel der Belagerung die Einnahme der Stadt oder das Aushungern der Bevölkerung als Teil des ausbeuterischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion war. Die Untersuchung der Historisierung der Belagerung Leningrads macht deutlich: Geschichtsschreibung ist ein selektiver Prozess. Und wie bei allen Selektionsprozessen kommt den angewandten Selektionskriterien zentrale Bedeutung zu. Und dies gilt nicht nur für die Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der stalinistischen Diktatur. Fatal an den sowjetischen Bedingungen ist nicht die Selektion an sich, sondern die Unmöglichkeit, die Selektionsprinzipien zu variieren oder zu ändern. So liegt die Problematik nicht in der Beschaffenheit der Geschichtsbilder, die von den Leningrader Parteifunktionären geschaffen wurden, sondern in der Absolutheit, mit der zunächst diese und später Stalins Konzeptionen gelten sollten. Auch in neuen Veröffentlichungen gelingt es den Autorinnen und Autoren häufig nicht, die alten, spätstalinistischen Selektionskriterien hinter sich zu lassen und das gewonnene Material aus einem wirklich neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Ursache hierfür sehe ich darin, dass die Generation der heute Forschenden sich noch immer in der Schuld der älteren Generation sieht, die ihnen in der sowjetischen Lesart durch den Sieg das blanke Leben ermöglicht hat. Diese moralisch und emotional äußerst aufgeladene Verstrickung macht es auch vielen Angehörigen der jungen Generationen noch immer unmöglich, sich aus dem Heldenparadigma zu befreien und neue Zugänge zur Vergangenheit zu finden. Für die weitere historiographische Bearbeitung der Blockade sind daher zwei 795 Voronina (2012): Die Schlacht (wie Anm. 793), S. 72.

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Versuch und Irrtum: die Historisierung der Belagerung Leningrads

Dinge wichtig: erstens die Öffnung der Archive, die eine wirklich freie und von wissenschaftlichen Fragestellungen geprägte Forschung ermöglicht. Forschende müssen die Möglichkeit erhalten, unabhängig von der Meinung der Archivangestellten un dpolitischen Beschränkungen ihre eigenen Prioritäten in der Auswahl des Materials zu setzen. Zweitens sind ein Wandel der Umgangsweisen mit den gewonnenen Informationen und eine freie Wahl der Themen, die untersucht werden können, dringend vonnöten. Dieser ist beinahe noch wichtiger als der unbeschränkte Zugang zu den Quellen, denn kein noch so freier Zugang zum Quellenmaterial wird wirklich neue Erkenntnisse bringen, wenn immer nur unter der Überschrift des Heldentums und der Viktimisierung gearbeitet werden kann. Umgekehrt ist es möglich, wirklich Neues aus bekannten und veröffentlichten Quellen zu erfahren, wenn die Scheuklappen des Heldendiskurses endlich abgelegt werden.

Anhang

Abkürzungsverzeichnis Archivsignaturen f. op. d. sv. ed. chran l.

Fond opis’ delo svjazka edinica chranenija list

Bestand Findbuch Akte etwa: Aktenbündel Aufbewahrungseinheit Blatt

Organisationen und Einrichtungen LOKAF

Literaturnoe ob’’edinenie Krasnoj Armii i Flota

Literarische Vereinigung der Roten Armee und Flotte

SSP

Sojuz sovetskich pisatelej

Verband sowjetischer Schriftsteller (eingedeutscht als Sowjetischer Schriftstellerverband)

VKP (b)

Kommunistische Allunionspartei der Vsesojuznaja kommunisticˇeskaja partija Bol’sˇeviki (bolsˇevikov)

GKO

Gosudarstvennyj komitet oborony

Staatliches Verteidigungskomitee

MPVO

Mestnaja protivovosdusˇnaja oborona

etwa: Örtlicher Luftschutz

LOII

Leningradskoe otdelenie instituta istorii

Leningrader Abteilung des Institutes für Geschichte (der Akademie der Wissenschaften)

Istpart

Institut istorii partii

Institut für Parteigeschichte

298 Glavlit

Anhang

Glavnoe upravlenie po Hauptverwaltung für Literatur- und delam literatury i izdatelstv Verlagsangelegenheiten

Parteikomitees CK

Central’nyj komitet

Zentralkomitee

Obkom

Oblastnoj komitet

Landkreisparteikomitee

Gorkom

Gorodskoj komitet

Stadtparteikomitee

Rajkom

Rajonnyj komitet

Stadtteilparteikomitee

Exekutivkomitees der Stadt- und Gebietsverwaltung Oblispolkom Oblastnoj ispolnitel’nyj komitet

Landkreis-Exekutivkomitee

Gorispolkom Gorodskoj ispolnitel’nyj komitet

Städtisches Exekutivkomitee

Rajispolkom Rajonnyj ispolnitel’nyj komitet

Bezirks-Exekutivkomitee

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300

Anhang

f. 277; op. 1; d. 1558; l. 25, CGALI: Liquidationsurkunde des Verteidigungsmuseums 5. 03. 1953. f. 7384; op. 17; d. 852; l. 4 – 6, CGASPb: Fedorov an Popkov an Fedorov : Briefwechsel. f. 7384; op. 17; d. 1179; l. 36, CGASPb: Fedorov an Popkov : Brief. f. 7384; op. 29; ed. chran. 259, CGASPb: Vortrag zum Kulturaufbau 31. 12. 1946. keine Signatur, Ordner: Vystavka-Muzej Geroicˇeskaja oborona Leningrada, Archivnye dokumenty 1943 – 1953, Archiv Muzeja oborony Leningrada: Abnahmedokument des Verteidigungsmuseums 18. 02. 1946. keine Signatur, Ordner : Vystavka-Muzej Geroicˇeskaja oborona, Archiv Muzeja oborony Leningrada: Verfügung des Ministerrates über die Schließung des Verteidigungsmuseums 25. 10. 1952. Akademija Nauk Uzbekskoj SSR: Fal’sifikatory istorii. (Kritika burzˇuaznoj istoriografii sredneij azii i stran zarubezˇnogo vostoka). Taschkent, 1985. Aleksandrov, G. F.: Iosif Vissarionovicˇ Stalin. Kratkaja biografija, 2. Aufl., Moskva, 1947. Aleksandrov, G.: O nekotorych zadacˇach obsˇcˇestvennych nauk v sovremennych uslovijach, in: Bol’sˇevik Jg. 22 (1945), 14, S. 17 – 29. Andreev, A. G.: Vnesˇnaja politika KPSS i sovetskogo gosudarstva v 1917 – 1921 gg. i ee burzˇuaznye fal’sifikatory. Leningrad, 1984. Anisimov, I.; Kuzmin, G.: Velikaja Otecˇestvennaja vojna Sovetskogo Sojuza 1941 – 1945. Moskva, 1952. Avvakumov, S. I.; Alekseeva, E. V.: Leningrad dvazˇdyj ordenonosnyj. Leningrad, 1945. Bilibin, I. J.: Bitva russkogo bogatyrja so ›smeem gorynycˇem‹. Zeichnung, in: Leningrad (1945), 9, Umschlag Innenseite. ˇ asˇnikov, I. P.: O knige I.V. Stalina ›O Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza‹. C Moskva, 1953. Cholostov, D. I.: Velikaja pobeda pod Leningradom, in: Leningradskij institut istorii VKP (b) (Hg.): Leningrad v Velikoj Otecˇestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Sbornik dokumentov i materialov (II). Leningrad, 1947, S. 289 – 297. Dobrotvorskij, N. (Zemskov-Züge, A.): Interview zum Museum der Verteidigung Leningrads in der Nachkriegszeit und heute. St. Petersburg, 13. 04. 2007, teiltranskribiert, im Besitz der Autorin. Egolin, A. M.: Za vysokuju idejnost’ sovetskoj literatury : Protiv bezidejnosti v literature. Sbornik statej zˇurnala Zvezda. Moskva, 1947, S. 5 – 32. Entfernung des Bretterverschlages um den ehernen Reiter. Titelbild, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. Titel. E˙ventov, I.: Voennaja Proza N. Tichonova, in: Zvezda (1944), 3, S. 95 – 105. Filipova, E.: Nesokrusˇimyj Leningrad, in: Rabotnica (1941), 34, S. 8. Fuk, B.: Lenin-Märchen. Volksmärchen aus der Sowjetunion (Roter Trommler 7)Berlin, 1929. Glotova, O. A.: »Ucˇityvaja nalicˇie krupnych nedostatkov v postanovke propagandy i agitacii…«. Dokumenty CK VKP(b) o reorganizacii ideologicˇeskogo apparata partii. 1946 g., in: Istoricˇeskij Archiv (2003), 5, S. 3 – 27. Gor, G.: Vstrecˇa, in: Leningrad (1945), 10 – 11, S. 18 – 20. Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja galereja (Hg.): Velikaja Otecˇestvennaja vojna. Katalog vystavki. Moskva, 1943. Govorov, L.: Udar iz osazˇdennogo goroda, in: Leningrad (1946), 7 – 8, S. 1 – 3.

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Namensregister

Achmatova, A. A. 71, 98 f., 101, 112, Aleksandrov, G. F. 98 f., Andrianov, V. M. 105, 133, 264 Avvakumov, S. I. 134 Berija, L. P. 103, 264 Brodskij, J. A. 112, Charms, D. I. 17, 112 Cholostov, D. I. 153 ff., 237, 244 Chrenkov, D. T. 201 f. Egolin, A. M. 99 Fadeev, A. A. 180 f., 201 Fedjuninskij, I. I. 159 Gor, G. S. 187, 281, 283 Govorov, L. A. 155, 159 Gromov, P. P. 193 f. Gruzdev, I. A. 196 Inber, V. M. 76 f., 81, 85, 139, 193 ff., 197 f., 214 – 229, 260, 274, 278, 282 – 285, 287 Judenicˇ, N. N. 112 Kalinin, M. I. 156 f., 159 ff., 166 ff., 170 Kapustin, Ja. F. 105 f., 196 f., 238 f., 244, 265 Kazakov, P. 115 Ketlinskaja, V. K. 185, 187, 281 Kirov, S. M. 96, 193, 200, 249 Kovalev, V. P. 233, 240, 265 f. Kuznecov, A. A. 37, 70, 72, 76, 102 – 106, 114, 148 – 155, 159, 162 – 166, 169 f., 172, 189, 197, 203 – 210, 238 f., 244, 250, 265, 267, 270, 274 f., 278, 284 ff. Lazutin, P. G. 105 f. Lenin, V. I. 90, 112, 114, 136 f., 149, 154,

156, 161, 163, 165, 168, 170, 178, 189, 208, 215 ff., 249, 281 Machanov, A. I. 120 f., 237, 237 Malenkov, G. M. 103 ff., 105, 107, 264 Misˇkevicˇ, V. M. 239, 264 Molotov, V. M. 129 Peter I. (der Große) 110 – 113, 167, 208 Popkov, P. S. 97, 103 – 106, 159, 162, 165 f., 170, 196 f., 225, 238 f., 251, 256, 265, 270 Prokof ’ev, A. A. 192, 214 Rakov, Lev L’vovicˇ 239, 244, 264 f., 267 Rest, Ju., I. (B.) 100 Rodionov, M. I. 103 ff. Roosevelt, T. 161 Saparov, A. V. 174 Sokolov, I. M. 159, 166 f. Solov’ev, N. V. 160 Stalin, I.V. 22, 26, 35, 38 f., 45, 50, 63, 70 ff., 77, 80 f., 83, 87 f., 94, 96 – 99, 102 ff., 106 ff., 110, 112, 116 – 129, 144 – 149, 152 ff., 156, 159 – 166, 168 ff., 176 ff., 183, 189, 193, 197, 203, 206 ff., 213 f., 217 f., 224 f. 234, 236, 241, 247 – 252, 257 ff., 261 – 269, 273, 275 f., 283, 286 f, 290 f., 295 Tichonov, N. S. 81, 131, 144, 180, 183, 191 – 195, 198 – 214, 216, 229, 244, 274 f., 278, 281 f., 284 – 287 Tribuc, V. F. 27, 159 Trockij, L. D. 112, 217 Varsˇavskij, S. P. 100 Vorosˇilov, K. E. 159 Voznesenskij, N. A. 96 f., 103 ff.

318 Zˇdanov, A. A. 70, 77, 96 – 103, 105, 107, 109, 148, 152 ff, 164, 182 f, 188 f., 195 f., 208, 225, 228, 238, 249 f., 257, 257 f., 261 f., 264 f., 275, 278, 281

Namensregister

Zinov’ev, G. E. 108 Zosˇcˇenko, M. M. 71, 98 f., 101, 176, 183

Sach- und Ortsregister

»Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion« (Buch) – kriegswissenschaftliche Lehren Stalins 116 ff., 251, 268, 276, 287 Glasnost’ 21, 41, 104, 275 Glavlit 176, 240, 298 Gorispolkom 90, 298 Gorkom 89 f., 96 f., 101, 104 ff., 120, 132 f., 148, 159, 162, 197, 239, 244, 264, 298 Rajkom 90, 282, 298 Gosplanaffäre 105 Heldenstadt 157 f., 170 Istpart – Institut für Parteigeschichte 83, 133 – 137, 139 f., 142 ff., 148, 153, 156, 160, 162, 172, 220, 277 – 280, 285, 292, 297 Krestjanka (Zeitschrift) 115 Leningrad (Zeitschrift) 72, 80 f., 95, 97 – 100, 155, 176 f., 182 ff., 187 f., 190 f., 193 – 196, 219, 284 f. Leningrader Affäre 25, 37, 72, 82, 91, 102, 104 – 108, 110, 126 f., 133 f., 149, 158, 198, 200, 231, 248, 260 ff., 264, 270, 275, 287, 292 Leningrad-Patriotismus – Leningrader Lokalpatriotismus 95, 110, 114, 116, 137, 149, 165, 167 f., 170, 182 f., 195, 206 ff., 210, 213, 216, 252 Leningrad-Symbolik 113

Leninorden 74, 79, 109, 156 – 162, 164, 168, 183, 283 Medaille für die Verteidigung Leningrads 157 f., 205, 210, 225 Museum der Verteidigung Leningrads – Verteidigungsmuseum – Belagerungsmuseum – Museum 66, 72 ff., 82 – 85, 106, 124, 147, 231 – 271, 274 – 279, 282, 284, 286 f. Obkom 89 f., 96 f., 101, 104 ff., 133, 159, 162, 197, 239, 264, 298 Oblispolkom 90, 298 Partiinoe stroitel’stvo (Zeitschrift) 149, 164 Petrograd 110, 112, 156 f., 161, 194 Piter 114, 163, Rabotnica (Zeitschrift) 113, 115 Rotbannerorden 112, 155 ff., 159 Roter Stern 157 Saltykov-Sˇcˇedrin-Bibliothek 239 Smolnyj Institut – Smolnyj 112, 114, 201, 249, 264 Sowjetischer Schriftstellerverband (SSP) – Schriftstellerverband 66, 80 f., 83, 85, 97, 174, 176 – 184, 191 f., 194 f., 197, 199 – 202, 206, 216, 219, 229, 274, 277 Sozialistischer Realismus – Sozrealismus 76, 80, 97, 100, 109, 174 f., 186 ff., 190 f., 197, 199, 203, 206, 212, 215, 218 f., 221, 225, 228 f., 273 f., 278, 280, 282 f., 287, 290

320 Stalingrad 30 f., 44, 58, 123, 128, 148, 205 ff. Stalinpreis 81, 139, 198, 200, 216, 226, 229 Tretjakov-Galerie 237 Winterpalast 112 Zeitschriftenverordnung 72, 74, 77, 81,

Sach- und Ortsregister

97, 101, 176, 182 f., 195 f., 198, 218, 226, 252, 257, 281 Znamja (Zeitschrift) 81, 98, 194 f., 215 f., 218 f., 116 ff. Zvezda (Zeitschrift) 72, 80, 97 – 100, 171, 176, 182 f., 195 ff., 200 ff., 219

Formen der Erinnerung herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann In Vorbereitung: Bd. 51: Barbara Stambolis (Hg.) Jugendbewegt geprägt Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen ISBN 978-3-8471-0004-1 Bd. 48: Christoph Deupmann Ereignisgeschichten Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001 ISBN 978-3-89971-910-9 Zuletzt erschienen: Bd. 50: Torsten Mergen Ein Kampf für das Recht der Musen Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900–1975) ISBN 978-3-89971-943-7 Band 47: Sascha Möbius Das Gedächtnis der Reichsstadt Unruhen und Kriege in der lübeckischen Chronistik und Erinnerungskultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ISBN 978-3-89971-898-0 Bd. 46: Birte Förster Der Königin Luise-Mythos Mediengeschichte des »Idealbilds deutscher Weiblichkeit«, 1860–1960 ISBN 978-3-89971-810-2 Bd. 45: Christian Kuhn Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert ISBN 978-3-89971-588-0

Leseproben und weitere Informationen unter www.vr-unipress.de Email: [email protected] | Tel.: +49 (0)551 / 50 84-301 | Fax: +49 (0)551 / 50 84-333