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German Pages 418 Year 2015
Marius Otto Zwischen lokaler Integration und regionaler Zugehörigkeit
Kultur und soziale Praxis
Marius Otto, geb. 1985, lehrt Stadt- und Bevölkerungsgeographie an der RWTH Aachen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Migrations- und Stadtforschung.
Marius Otto
Zwischen lokaler Integration und regionaler Zugehörigkeit Transnationale Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen
D 82 (Diss. RWTH Aachen University), 2015 Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 9 1.
Einführung | 11
2.
Die Bedeutung von ‚Raum‘ aus einer konstruktivistischen Perspektive | 17
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Das Raumverständnis in der Geographie | 18 Raumkategorien in der Geographie | 22 Die Besonderheit von Nationen und Regionen als Raumkonstrukte | 25 Die kulturelle und symbolische Aufladung von Regionen | 28 Identität und Raum | 30 Zwischenfazit | 36
3.
Die Transnationalisierung alltäglicher Lebenswelten | 37
3.1 Klassische Ansätze der Migrationsforschung | 38 3.2 Die transnationale Perspektive auf grenzüberschreitende Migrationsprozesse | 40 3.3 Überlegungen zur Erfassung Transnationaler Sozialräume | 44 3.4 Zwischenfazit | 52 4.
Oberschlesien: Politisches Produkt und identitätsstiftendes Phänomen | 55
Exkurs: Industrialisierung in Ost-Oberschlesien | 57 4.1 Historischer Abriss bis 1945 | 60 4.2 Historischer Abriss nach 1945 | 69 4.3 Das oberschlesische Konstrukt I – Oberschlesien und das Begriffschaos | 77 4.4 Das oberschlesische Konstrukt II – Symbolische Aufladung einer Region | 88 Exkurs: Die Bedeutung des Dialekts in Oberschlesien | 97 4.5 Zwischenfazit | 103 5.
Aussiedlerintegration in Deutschland – Forschungsergebnisse und neue Perspektiven im Kontext transnationaler Lebenswelten | 105
5.1 Integration, Eingliederung und Einleben – Migranten zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext | 106
5.2 Migration zwischen Polen und Deutschland | 110 5.3 Migrationsverlauf der Aussiedler | 117 5.4 Integration von Aussiedlern: Forschungsperspektiven und -ergebnisse | 119 5.5 Jugendliche Aussiedler | 132 5.6 Aussiedler aus Oberschlesien | 134 5.7 Zwischenfazit | 137 6.
Die Transnationalen Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen: Leitidee für eine Analyse | 139
7.
Angewandte Methodik | 147
8.
Oberschlesienstämmige Aussiedler: Treiber von Transmobilität? | 161
8.1 Die Mobilität unmittelbar nach der Aussiedlung | 161 8.2 ‚Heimweh‘ – Mobile Kinder und Jugendliche und ihre Polen- bzw. Oberschlesienwelten | 165 8.3 Zwischen Pflicht und Sehnsucht: (Transnationale) Mobilität der Elterngeneration | 177 8.4 „Einmal im Jahr fahr ich schon hin“ – Mobilitätspläne abseits transmobiler Beziehungen | 195 8.5 Zwischenfazit | 202 9.
Die transnationalen Netzwerke der oberschlesienstämmigen Aussiedler: Von Abgrenzungen und imagined communities | 203
9.1 Soziale Netzwerke in Polen vor der Migration | 204 9.2 „Wir bleiben unter uns“ – Alltägliche Abgrenzungen in den transnationalen Aussiedlernetzwerken | 217 9.2.1 Erste Abgrenzungsebene: Die fremden Polen | 218 9.2.2 Zweite Abgrenzungsebene: Die fremden Deutschen | 232 9.2.3 Dritte Abgrenzungsebene: Die anderen Oberschlesier | 248 9.3 Zwischenfazit | 255 10. Die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland und ihre Bedeutung für transnationale Lebenswelten der Aussiedler | 257
10.1 Die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland | 258
10.2 Die materielle Infrastruktur und die Transnationalität von Alltagswelten oberschlesienstämmiger Aussiedler | 267 10.3 Zwischenfazit | 279 11. „Heimat ist, wo wir sind“: Die (transnationalen) Identitäts- und Zugehörigkeitsmuster der oberschlesienstämmigen Aussiedler | 281
11.1 Das stereotypische Bild (Ober-)Schlesiens aus Sicht der Aussiedler | 284 11.1.1 Das Stereotyp der ‚Region (Ober-)Schlesien‘ oder „Was ist (Ober-)Schlesien?“ | 284 11.1.2 Der ‚idealtypische (Ober-)Schlesier‘ oder „Wie muss ein (Ober-)Schlesier sein?“ | 286 11.1.3 Die Grenzen (Ober-)Schlesiens oder „Wo ist (Ober-)Schlesien?“ | 288 11.2 „Wir sind schon was Eigenes“ – Typologie der Wir-Gruppen oberschlesienstämmiger Aussiedler | 297 11.3 Zwischenfazit | 343 12. Von der Integration in Deutschland zum transnationalen Einleben – Die Perspektiven der Aussiedler auf das Ankommen und das alltägliche Einleben | 345
12.1 „Also keiner fährt mit Businessplan“ – Das Einleben nach der Migration aus der Perspektive der Aussiedler | 346 12.2 Das Ende der Integration? – Ankommen im Zielkontext | 355 12.3 Auf dem Weg zum transnationalen Einleben | 357 12.4 „Ich finde mich jetzt da nicht mehr zurecht!“ – Aspekte des transnationalen Einlebens | 364 12.5 „Das Wichtigste ist…“ – Die Hierarchie des transnationalen Einlebens | 371 12.6 Zwischenfazit | 374 13. Schlussüberlegungen zu Transnationalen Sozialräumen oberschlesienstämmiger Aussiedler | 377 Literaturverzeichnis | 395
Danksagung
Ich möchte mich an dieser Stelle in erster Linie bei meinen zahlreichen Interviewpartnern bedanken, ohne die eine (qualitative) Sozialforschung nicht auskommt. Ein Kollege am Institut, der im Bereich der Physischen Geographie arbeitet, sagte während meiner Empiriephase zu mir: „Wir Geomorphologen haben es leichter, unsere Untersuchungsobjekte müssen wir nicht zum Reden bringen!“ In der Tat braucht eine Arbeit über migrantische Alltagsrealitäten Menschen, die bereit sind, sich Zeit zu nehmen und private, z.T. sehr emotionale Erfahrungen preiszugeben. Daher finde ich es bemerkenswert, dass ich so viele verschiedene und interessante Interviewpartner gewinnen konnte, die mich nach Hause eingeladen und mir ihre kleinen und großen Geschichten des Lebens erzählt haben. Sie haben mich teilhaben lassen an einer Reise zurück in die Vergangenheit, aber auch an ihren jetzigen Einstellungen, Gefühlen und ihrem alltäglichen Leben. Das Interesse für ihre persönlichen Migrationsgeschichten und das Zuhören über mehrere Stunden – also meine eigentlich selbstverständlichen und bescheidenen Gegenleistungen – stellten dabei nicht selten eine neue Erfahrung für meine Interviewpartner dar. Es war für nicht wenige – und das nach vielen Jahren in Deutschland – das erste Mal, dass sie von ihrer Migrationsgeschichte in dieser Ausführlichkeit erzählen konnten. Und so entstanden in den Gesprächen auch für die Interviewpartner manchmal ganz neue Zusammenhänge, was mich immer daran erinnert, was ein offenes, erzählgenerierendes Interview bedeutet – nämlich die gemeinsame Produktion von Wirklichkeit durch Interviewer und Interviewpartner. Entstanden ist eine große Menge an interessantem Material, das trotz des Umfangs der Analysen immer noch viele zu bearbeitende Themen übrig lässt. Für diese sehr intensive und fruchtbare Empiriephase möchte ich daher Danke sagen! Ein besonderer Dank gilt meiner Betreuerin, Carmella Pfaffenbach, die mir exzellente Rahmenbedingungen für meine Arbeit geboten hat. Sie gab mir die notwendigen Freiheiten und führte mich immer wieder auf den richtigen Pfad. Ihre elementaren Hinweise und Verbesserungsvorschläge habe ich immer wieder zu schätzen gewusst. Den langen Weg von den ersten Überlegungen zum Forschungs-
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design im März 2011, über das erste Interview in Essen im September 2011 bis hin zur Abgabe der Dissertation im November 2014 hat Carmella Pfaffenbach durch eine ausgezeichnete Betreuung mit Leitplanken und Wegweisern versehen. Für eine unvergessliche Zeit möchte ich daher Danke sagen! Mein Dank gilt auch Claus-Christian Wiegandt, der das Zweitgutachten übernommen hat. Darüber hinaus möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen am Geographischen Institut der RWTH bedanken, die mich in den Arbeitspausen immer wieder motivierten. Ich danke meinen Eltern und Sonja, meiner Verlobten, für ihr offenes Ohr und ihre Unterstützung beim Verfassen der Arbeit. Walter Kaufmann danke ich für sein unermüdliches Lesen und Korrigieren. Für Kommentare und Anregungen inhaltlicher Art danke ich Tomasz Nawrocki, Gregor Ploch, Marta Chmielewska und Maria Kalczyńska. Achim Ehrig stand mir bei der Erstellung der Karten zur Geschichte Oberschlesiens zur Seite. Er fand immer wieder gute Lösungen für die Darstellung der vielen Grenzverläufe.
Aachen, August 2015
1. Einführung
In den letzten Jahren ist ein zunehmender Ausbau von Angeboten für Polenstämmige in Deutschland zu erkennen. Ob Radiosender, Geschäfte oder Treffmöglichkeiten – die Community der Polenstämmigen bildet mittlerweile ein zusammenhängendes Netz von Anbietern verschiedener Produkte, Dienstleistungen und Informationen. Ein Teil dieser Community setzt ganz offensichtlich einen regionalen Schwerpunkt mit Bezug zu Oberschlesien, das in den 1970er und 1980er Jahren das wichtigste Herkunftsgebiet von Aussiedlern1 aus Polen gewesen ist. Dass diese Aussiedler sowohl Anbieter als auch Nutzer der Angebote sind, macht deutlich, dass der Herkunftskontext für sie auch nach 25 bis 30 Jahren Aufenthalt in Deutschland keineswegs bedeutungslos geworden ist. In der Migrations- und Integrationsforschung bleibt die aktuelle Situation der polenstämmigen Aussiedler in Deutschland jedoch weitestgehend unberücksichtigt. Mit Blick auf die aktuelle Forschung zur Migration zwischen Polen und Deutschland und die Ausrichtung politischer Migrationsdebatten zeigt sich vielmehr, dass das Interesse für Aussiedler, die als deutsche Volkszugehörige und ausgestattet mit einem Vertriebenenausweis einen entscheidenden Teil der Migration nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachten, nach 1989 deutlich abgenommen hat. Die in den 1970er Jahren verstärkt aufkommende Aussiedlerforschung hat sich zudem im Laufe der Zeit an die veränderten Aussiedlerstrukturen angepasst. Aussiedler aus Polen machten bis 1989 noch den größten Anteil an allen Aussiedlern aus, weshalb bis zu diesem Zeitpunkt viele Untersuchungen zu polenstämmigen Aussiedlern unternommen wurden. Nach 1989 verlagerte sich der Fokus auf die Spätaussiedler aus dem GUS-Raum, welche nun die Aussiedlerströme dominierten. Zudem erhielten nach 1989 neue Migrationsformen stärkere Aufmerksamkeit. Mit Bezug zu Polen sind hier vor allem Arbeits- und Bildungsmigranten zu nennen, die stärker pendelorientierte Migrationskonzepte entwickelten (z.B. saisonale Migration polnischer
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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Erntehelfer). Auf politischer Ebene ergaben sich nach 1989 schlichtweg neue Herausforderungen für die Migrations- und Integrationspolitik. Mit der Wende stand zunächst die Ost-West-Migration in Deutschland im Fokus, später kamen nach und nach die Flüchtlingsmigration, die Regulierung der EU-Binnenwanderung sowie das Ziel der Anwerbung von ausländischen Fachkräften hinzu. Die in den 1970er und 1980er Jahren vielfach diskutierte Integration von Aussiedlern, welche zunächst als Selbstverständlichkeit („Deutsche Rückkehrer“; Krafczyk 1978) und später als ‚Mammutaufgabe‘ („wie Ausländer“; Zurhausen 1983; Mammey/Schiener 1998) deklariert wurde, geriet daher in den 1990er Jahren mehr und mehr aus dem politischen Fokus. Aufmerksamkeit erhielt dagegen die Diskussion um ‚Parallelgesellschaften‘ mit Blick auf die zunehmende kulturelle und vor allem religiöse Vielfalt in Deutschland, wobei die Wahrnehmung von kultureller Vielfalt viel mit dem Aspekt der Sichtbarkeit von Andersartigkeit zu tun hat, wie beispielsweise bei der ‚Kopftuchdebatte‘ oder der Diskussion um Moscheebauten in Deutschland immer wieder deutlich wird. Anders als etwa bei den Gastarbeitern aus der Türkei oder Südeuropa wurde polenstämmigen Aussiedlern stets eine gewisse kulturelle Nähe zu Deutschland attestiert. Ihre Integration schien daher reibungsloser zu verlaufen als die Integration anderer Migrantengruppen, auch weil ihre zunehmende Organisation in polnischen Kirchengemeinden oder Vereinen im Vergleich zu der Organisation muslimischer Migranten in religiösen Gemeinden insgesamt unscheinbarer und damit unbedeutender erschien. Dennoch stellt sich die Frage, was von der Aussiedlermigration im Hinblick auf kulturelle Differenz geblieben ist. Unterliegt die Aussiedlerintegration einem Automatismus, bedingt durch die ‚unstrittige‘ formelle Staatszugehörigkeit der Aussiedler und ihre lange Aufenthaltsdauer im Zielkontext? Oder verschleiert der Fokus auf die strukturelle und soziale Integration dieser Gruppe nicht tiefergehende Differenzierungsprozesse? Die Ausrichtung von Migranten auf ihre nationale Community wird oftmals als Problem angesehen und mit Entfremdung sowie Abkapselung assoziiert. Wie sind vor diesem Kontext die verschiedenen Aussiedlernetzwerke in Form von Communities einzuordnen? Fest steht, dass ihnen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil sie weniger sichtbar sind und durch die vermeintliche ‚oberflächliche‘ Integration ihrer Mitglieder (Arbeitsmarkt, Sprache) nicht problematisiert werden können. Aber sie sind dennoch gesellschaftsprägend und tragen zur kulturellen Vielfalt bei. Die zahlreichen polnischen Geschäfte, die vollen Kirchen während polnischsprachiger Gottesdienste und der Ausbau von Billigflugverbindungen zu verschiedenen Destinationen in Polen sind keineswegs nur auf die Migration der ‚neuen‘ polnischen Arbeits- und Bildungsmigranten seit den 1990er Jahren zurückzuführen, sondern zeigen deutlich, dass der Herkunftskontext auch für die Aussiedler alltagsprägend ist. Es stellt sich die Frage, wie sich die Lebenswelten der Aussiedler, die vor 1989 nach Deutschland migriert sind und hier zunächst lediglich aus dem Blickwinkel einer erfolgreichen (‚oberflächlichen‘) In-
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tegration im Zielkontext betrachtet wurden, langfristig entwickelt haben. Wie ist Integration hier zu verstehen? Und was ist von der Migrationserfahrung, der PräMigrationszeit und dem Herkunftskontext geblieben? Besonders vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen im Jahr 1989 stellt sich auch die Frage, inwieweit sich Lebenswelten durch die neue Reisefreiheit, aber auch durch den abnehmenden Raumwiderstand (Transportmöglichkeiten, neue Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnik) verändert haben. Welche Folgen hatte dies für die Beziehungen zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext? Die vorliegende Dissertation greift daher das Thema der Aussiedlermigration auf, allerdings ohne eine Neuauflage oder Aktualisierung der Studien aus den 1970er und 1980er Jahren anzustreben. Im Vordergrund stehen die Subjektperspektive und die Rekonstruktion der Aussiedlerlebenswelten. Die individuelle Wahrnehmung und Reflexion von Integration, nicht die Aktualisierung von Daten zur strukturellen Eingliederung steht im Fokus. Die Fragestellungen wurden daher zunächst sehr offen formuliert und erst im Verlauf der Untersuchung modifiziert und konkretisiert. Ausgewählt wurde dabei die Gruppe der oberschlesienstämmigen Aussiedler, denen in der Aussiedlerforschung immer wieder hybride Muster („schwebendes Volkstum“; vgl. Bohmann 1969) von Identitäten und Zugehörigkeiten und eine ausgeprägte regionale Bindung nachgesagt wurden. Es stellt sich die Frage, welche Rolle diese regionale Bindung für die Aussiedlermigration und die Alltagsrealitäten spielte und heute noch spielt. In jedem Fall werden in den vergangenen Jahren vermehrt regionale, oberschlesische Phänomene in der polnischen Community in Deutschland sichtbar: Es gibt Schlesiertreffs, schlesische Geschäfte und oberschlesische Radiosender, die von Aussiedlern betrieben werden. Wie sind diese Phänomene einzuordnen und auf welche Entwicklungen sind sie zurückzuführen? Historisch gesehen war Oberschlesien stets geprägt durch eine Grenzlage. Im 20. Jahrhundert wurden Oberschlesien und seine reichen Rohstoffvorkommen zum politischen Spielball. Die Region wurde mehrfach in ihren Grenzen aufgebrochen und unter den Nationalmächten Deutschland und Polen aufgeteilt. Ständige Grenzverschiebungen auf der einen Seite und die starke kulturelle Durchmischung auf der anderen Seite sind zum Charakteristikum Oberschlesiens geworden. Oberschlesien war lange Teil der preußischen Provinz Schlesien und gehörte zum Deutschen Reich. Nach der Teilung 1921 und dem Zweiten Weltkrieg wurde es schließlich an Polen angegliedert und hier wiederum in zwei Wojewodschaften integriert. Es begann die polnische Nationalitätenpolitik: Die verbliebene und nicht vertriebene Bevölkerung wurde als ‚polnisch‘ deklariert, obwohl ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung eher Beziehungen zu Deutschland pflegte bzw. eher an seine oberschlesische Lebenswelt gebunden war. In den 1950er Jahren setzten dann erste Aussiedlungen ein, die sich in den Folgejahren ausweiteten. Allein aus Oberschlesien sind von 1950-1994 600.000 Menschen nach Deutschland ausgesiedelt.
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In der vorliegenden Dissertation werden nun die langfristige Entwicklung der Lebenswelten oberschlesienstämmiger Aussiedler und die wirksamen Bezugsräume von Netzwerken, Identitäten und kultureller Praxis (z.B. Sprache, religiöse Praxis) diskutiert. Es wird aufgezeigt, wie sich transnationale Facetten der Lebenswelten im Spannungsfeld von Integration im deutschen Kontext, polnischer Sozialisierung und regionaler, oberschlesischer Verbundenheit entwickelt haben. Dabei wird eine Gruppe von Aussiedlern bzw. Migranten2 betrachtet, die nicht in höchstem Maße mobil ist zwischen Herkunfts- und Zielkontext. Vielmehr zeichnet sie sich durch etablierte Lebenskonzepte im deutschen Wohnumfeld aus. Und dennoch sind diese Lebenswelten in vielen Fällen als stark von transnationalen Aspekten durchzogen zu sehen. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der Transnationalitätsbegriff weiter gedacht wird: In dieser Arbeit wird aufgezeigt, wie Transnationale Sozialräume konstituiert werden, indem der Herkunftskontext ‚Oberschlesien‘ als vielseitiges und immer wieder anders abgegrenztes Konstrukt – z.B. als ‚Heimat‘, Wohnort ‚bester Freunde‘ oder als Wertenorm in Bezug auf kulturelle Praxis und soziale Interaktion – im Zielkontext bedeutsam wird. Pluri-Lokalität wird aus diesem Verständnis heraus nicht nur durch das Aufspannen von Beziehungen zwischen verschiedenen Orten, sondern auch durch die Überlagerung von Lokalitäten und deren Bedeutung in einem räumlichen Kontext wirksam. Der konzeptionelle Rahmen der Arbeit bewegt sich daher im Spannungsfeld von Kulturgeographie und Politischer Geographie. Die Politische Geographie interessiert sich aktuell mehr denn je für die „gesellschaftliche Konstruktion und Produktion von Raum und die daraus resultierenden materiellen (raumbezogenen) Praktiken“ (Reuber 2012: 21). Besonders im Forschungsfeld ‚Raum und Identität‘ liegt eine besondere Schnittmenge zwischen beiden, wobei sich die Kultur- und auch die Sozialgeographie eher der emotionalen Verortung von Menschen widmet und die Politische Geographie nach sich daraus ergebenden Machtstrukturen sucht, die beispielsweise für Ein- und Ausgrenzung oder Vertreibung verantwortlich sind (Reuber 2012: 23). Diese Schnittmenge lässt sich auch in dieser Arbeit wiederfinden: Betrachtet werden transkulturelle Lebenswelten, die von den (Trans-)Migranten durch Raumbezüge gegliedert und ausgedrückt werden. Solche Raumbezüge als
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Eine Aussiedlung ist eine Migration, verstanden als Wohnortverlagerung. Die Verwendung von ‚Migration‘ und ‚Migranten‘ ist insofern angemessen. Sie impliziert hier keine Gleichstellung der Aussiedler mit Ausländern oder die Betonung eines Fremdheitsfaktors. Sie soll jedoch zumindest andeuten, dass die Aussiedlung in vielen Fällen ähnliche Facetten annahm wie andere Formen der Migration: Sie war ein Wanderungsprozess, der mal mehr und mal weniger freiwillig war und die Aufgabe des bisherigen Lebensmittelpunktes zur Folge hatte.
E INFÜHRUNG | 15
Fixpunkte von Lebenswelten (z.B. Oberschlesien oder Polen) sind nichts anderes als subjektive Raumproduktionen, die es zu rekonstruieren gilt. Die Arbeit gliedert sich in 13 Kapitel. In vier Kapiteln wird zunächst der theoretisch-konzeptionelle Rahmen der Arbeit hergeleitet. Kapitel 2 beschäftigt sich mit der konstruktivistischen Sichtweise auf ‚Raum‘ und der Frage von Identität und ‚Raum‘. In Kapitel 3 werden diese Erkenntnisse mit dem Ansatz der Transnationalität in Verbindung gebracht. Hier wird aufgezeigt, wie Transnationalität verstanden wird und welche Überlegungen bzw. Annahmen zur Erfassung Transnationaler Sozialräume bestehen. Kapitel 4 reflektiert die Geschichte des Herkunftskontextes der untersuchten Aussiedlergruppe. Dargestellt wird, wie Oberschlesien als politisches Raumprodukt über Jahrhunderte im Machtkampf zwischen den nationalen Großmächten instrumentalisiert wurde. Dabei wird auf die aktuelle mediale und gesellschaftliche Raumproduktion rund um Oberschlesien eingegangen. Zum Abschluss dieses ersten Blocks wird in Kapitel 5 die Aussiedlerforschung mit besonderem Augenmerk auf die polenstämmigen Aussiedler aufgearbeitet. Die einzelnen Bausteine des theoretisch-konzeptionellen Teils werden in Kapitel 6 zusammenfassend reflektiert und in einem Gesamtkonzept der Arbeit zusammengeführt. Hier werden auch die konkreten Fragen an das empirische Material vorgestellt. Kapitel 7 gibt einen Überblick über die Methodik und das Vorgehen in der Empiriephase. Die Ergebnispräsentation findet in den Kapiteln 8-12 statt. In fünf Kapiteln werden die transnationalen Facetten der Aussiedlerlebenswelten beschrieben und die Bedeutung des (oberschlesischen) Raumbezugs herausgestellt. Differenziert sind die Kapitel nach den Themen Mobilität, Netzwerke, materielle Infrastruktur, Identitäten sowie Einleben. In Kapitel 13 werden die gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die zuvor formulierten Fragen zusammengefasst.
2. Die Bedeutung von ‚Raum‘ aus einer konstruktivistischen Perspektive
Für die Rekonstruktion von Raumbezügen in alltäglichen Lebenswelten muss zunächst eine Diskussionsgrundlage für das Verständnis von Raumkonstrukten, wie z.B. Regionen, geschaffen werden. In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche geläufige, im alltäglichen Gebrauch häufig als ‚gegeben‘ empfundene Formen, wie etwa Metropolregionen, Heimatregionen, Verkehrsverbünde und Gebietskörperschaften wie Provinzen oder Bundesländer. Doch wie werden Regionen eigentlich gebildet? Wie kommt es zu ihrer Abgrenzung als erdräumliche Ausschnitte und zu ihrer symbolischen Aufladung? Und wie können solche Symbolsysteme identitätsstiftend sein? In Politik und Wissenschaft bilden Raumkonstrukte in den meisten Fällen nach wie vor die Grundlagen für Analysen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Prozesse – meistens ohne die Reflexion des konstruierten Charakters der räumlichen Grundlagen (Nationen, Regionen) zu berücksichtigen. Unterschiede zwischen einzelnen Regionen oder Nationen oder ihre Besonderheiten in unterschiedlichen Kontexten werden deshalb so häufig erforscht, weil der Rahmen für die Analysen schon feststeht und nicht erst erzeugt werden muss. Es wird auf historische oder institutionelle Grenzziehungen zurückgegriffen oder es werden der Untersuchung bzw. einer inneren Homogenität entsprechende Grenzen gebildet. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass diese Grenzen weder objektiv noch ‚natürlich‘ sind. Zu untersuchende Sachverhalte werden lediglich in einen für sie scheinbar exakt passenden Raumcontainer ‚gepresst‘. Grenzziehungen und damit auch Regionen stehen immer in einem besonderen Kontext und werden oft neu verhandelt. Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist das objektive Wahrnehmen und Abbilden der Welt ohnehin unmöglich. Jegliche Ordnungen der Erde sind erzeugt und keine ‚natürlichen‘ Attribute der ‚einen Welt‘. Folglich sind auch alle Regionen Konstrukte. Sie entstehen etwa durch politische Raumordnungen, merkmalsorientierte und der besseren Erfassbarkeit bzw. Vergleichbarkeit dienende Erdgliederungen und individuelle Mental Maps (vgl. Gebhardt et al. 2007: 9). Dabei hat die
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Konstruktion von Regionen und die räumliche Ordnung der Erde, etwa im politischen Kontext, erhebliche Folgen. Sie schließt ein und grenzt aus. Sie schafft somit Zugehörigkeiten. Der Anspruch der Geographie dabei ist zu untersuchen, wie diese Grenzen gezogen werden (Dekonstruktion) und welche Auswirkungen sie auf die soziale Praxis haben (Handlungsrelevanz) (Gebhardt et al. 2007: 10ff.). Regionen, Nationen oder hierauf bezogene emotionale Phänomene wie ‚Heimat‘ werden dabei aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus nicht einfach als gegeben, sondern als produziert verstanden (Seebacher 2012: 48).
2.1 D AS R AUMVERSTÄNDNIS
IN DER
G EOGRAPHIE
Die Frage, wie ‚Raum‘ gedacht wird, ist komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. ‚Raum‘ und ‚räumlich‘ werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet; über das, was sich letztlich im Einzelnen hinter ‚Raum‘ verbirgt, wird häufig nicht reflektiert. Vielmehr noch wird davon ausgegangen, dass sich irgendwo ein gemeinsamer Nenner befinden muss (Hard 2003: 15ff.; vgl. auch Hard 2002: 235ff.). ‚Raum‘ und die dahinter liegenden Konzepte werden in der Geographie sehr unterschiedlich zur Erfassung räumlicher Strukturen verwendet, aber eben auch als Medium in der Alltagswelt eingesetzt (z.B. Strafraum, Erholungsraum). ‚Raum‘ wird „als physisch-materielles Substrat behandelt, als Artefakt, das zugleich Bedingung und Folge von Handlungen ist, als Träger unterschiedlichster symbolischer Bedeutungen, als Bestandteil kognitiver Konzepte und ggf. verhaltenssteuerndes und -beeinflussendes Medium“ (Miggelbrink 2002: 39). Eine Rekonstruktion von Raumkonstrukten bedarf daher einer Spezifizierung des Verständnisses von ‚Raum‘. Grob gegliedert befinden sich die unterschiedlichen Auffassungen von ‚Raum‘ in der Geographie in einem Spektrum zwischen absolutistischen und relativistischen Raumkonzepten. In Ersteren basiert das Grundverständnis auf der Trennung von ‚Raum‘ und ‚Materie‘. Ausgangspunkt ist die duale Existenz beider Kategorien. Der ‚Raum‘ als Behälter von Materie erreicht damit die Stellung einer übergeordneten Realität (Schroer 2012: 30). Nach Auffassung der relativistischen Raumkonzepte „stehen hingegen materielle, körperliche Objekte und ‚Raum‘ in einem engen Konstitutionszusammenhang, das heißt, ‚Raum‘ ist ohne Materie, als eigenständige Struktur nicht denkbar und ergibt sich aus der relativen Lage von Objekten zueinander“ (Seebacher 2012: 54; vgl. Löw 2001 für die Soziologie). Entscheidend ist, ‚Raum‘ nicht als reales Objekt der Wirklichkeit anzusehen. ‚Raum‘ ist kein Ding. Seine Bedeutung ergibt sich erst durch eine bestimmte Forschungsperspektive bzw. eine Bedeutungszuweisung. Entsprechend gibt es nicht den ‚Raum‘ und das Raumkonzept (Hard 2003: 24ff.). Vielmehr führen die einzelnen Raumkonzep-
D IE B EDEUTUNG
VON
‚R AUM ‘
AUS EINER KONSTRUKTIVISTISCHEN
P ERSPEKTIVE | 19
te in der Geographie zu unterschiedlichen Ergebnissen, wobei in erster Linie entscheidend ist, ob ‚Räume‘ als physisch-materielle Welt oder als durch Kommunikation und Interaktion konstruiert verstanden werden (Hard 2003: 16ff.). Wichtig für das Verständnis von ‚Raum‘ ist sein Verhältnis zu dem, was in ihm passiert, wie über ihn gedacht wird und wie er dadurch letztlich erst erschaffen wird. Hier ist der konstruktivistische Blick die Basis aller weiteren Überlegungen. „Eine solche Grundperspektive geht davon aus, dass Menschen aufgrund ihrer eingeschränkten Wahrnehmung keine unmittelbare und ‚objektive‘ Information über die sie umgebende Welt haben, sondern diese immer nur selektiv durch die diversen Filter ihrer individuellen und gesellschaftlich bedingten Wahrnehmungen und Erwartungen aufnehmen können.“ (Reuber 2012: 38) Am Beispiel des Ruhrgebiets lässt sich gut nachvollziehen, wie komplex Raumkonstrukte und damit auch Muster von Raumwahrnehmungen sein können. Im Ruhrgebiet vermischen sich Images vom ‚alten Kohlenpott‘ und von einem modernen Freizeitraum mit Bildern einer ‚Ausländerregion‘ und eines bedeutenden Bildungs- und Technologiestandortes. All diese Images werden in irgendeiner Weise wahrgenommen, jedoch nicht gleichzeitig für jedermann. Es gibt daher nicht die eine Welt, sondern verschiedene Welten aus verschiedenen Blickwinkeln. Diese sozialen Welten können dabei nicht als eine kausale Folge einer physischen Welt angesehen werden (Miggelbrink 2002: 40). Die Frage, so Reuber (2012: 39), ist eben nicht, wie ein objektiver ‚Raum‘ Gesellschaft beeinflusst, sondern: Wie wird ‚Raum‘ überhaupt konstruiert und relevant? Und welche Rolle spielt er für soziale Prozesse? Aus der Perspektive der Politischen Geographie steht dann beispielsweise im Fokus, wie durch Raumkonstrukte „das Eigene und das Fremde im gesellschaftlichen Kontext politisch hergestellt wird“ (Reuber 2012: 39). Für die Forscherperspektive gilt übrigens, dass diese keine privilegierte sein kann, sondern dass sie durch eine besondere Art der Kommunikation wiederum neue ‚Wirklichkeiten‘ schafft (Gebhardt et al. 2004: 294). Im Sinne des Übergangs einer raum- zu einer handlungszentrierten Sozialgeographie (insb. nach Werlen) muss vor diesem Hintergrund zwangsläufig das Handeln des Menschen in den Vordergrund rücken, indem „das Räumliche […] als Dimension des Handelns gesehen [wird], nicht umgekehrt“ (Werlen 2000: 309). ‚Raum‘ muss in der Forschung deshalb nachrangig sein, weil ihm erst das Handeln von Subjekten eine Bedeutung verleiht und er dadurch als Konstrukt Relevanz erhält (Werlen 2000: 310). „Im Zentrum steht die Frage, wie Subjekte handeln. Dann ist zu erforschen, welche Bedeutung den räumlichen Aspekten für die Verwirklichung der Handlungen zugewiesen wird.“ (Werlen 2000: 310; vgl. Wardenga 2006: 40) Diese Perspektivenverlagerung, so Werlen, ermöglicht es, neue, globalisierte Lebensformen zu erforschen. ‚Kultur‘ oder auch Gesellschaft sind nicht (mehr) an einen ‚Raum‘ gebunden, was sich alleine dadurch zeigt, dass auf engstem ‚Raum‘ kulturelle Vielfalt möglich ist. Das Handeln, das als zentrales Forschungsobjekt in den Fokus rückt, bezieht sich dabei auf intendierte, zielgeleitete und bewusste Tä-
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tigkeiten und ist stets an einzelne Personen gebunden. Nach Giddens können drei Bewusstseinsformen unterschieden werden, die das Handeln bestimmen. Das Unterbewusstsein setzt sich aus Bedürfnissen und Wünschen zusammen, die eine grobe Richtung des Handelns vorgeben. Das praktische Bewusstsein enthält all das Wissen, über das der Handelnde verfügt, ohne darüber nachdenken zu müssen. Es ist für die alltäglichen Routineaktivitäten verantwortlich und nicht immer zu artikulieren. Das Wissen, das auch artikuliert werden kann, ist im diskursiven Bewusstsein verankert. Es ist die Basis für ein reflektiertes Handeln (Giddens 1988: 55ff. zit. in Werlen 2000: 314ff.). Wichtig für das Verständnis von Handeln ist dessen Subjektivität. Auch wenn sich der Handelnde stets an intersubjektive Orientierungsrahmen anlehnt, die Werte und Normen enthalten, bleibt die Interpretation dieser Rahmen stets subjektiv (Werlen 2000: 318). Um sich vor diesem Hintergrund einem Raumkonstrukt wie einer Region nähern zu können, muss demnach verstanden werden, was die Basis einer Konstruktion von Räumlichkeit ist: Objekte können nur Bedeutungsträger sein und nicht selbst eine Bedeutung darstellen. „Sie sind als Mittel der Symbolisierung immer nur das Vehikel von Bedeutung/Bedeutungen. So gibt es wohl eine räumliche Ordnung der Vehikel, aber keine der Bedeutungen.“ (Werlen 2000: 334) Die Bedeutungen werden erst von den Subjekten generiert, ‚Raum‘ „hat ohne erfahrendes, erkennendes oder handelndes Subjekt keine eigenen symbolischen Bedeutungen“ (Werlen 2000: 335). Wenn ein ‚Düsseldorfer‘ und ein ‚Kölner‘ beispielsweise das ‚Rheinland‘ als ‚Heimat‘ bezeichnen, werden hierunter durch individuelle Wahrnehmungs- und Denkprozesse unterschiedliche Vorstellungen vom räumlichen Kontext ‚Rheinland‘ als ‚Heimat‘ bestehen. In dieselbe Richtung geht der Ansatz von Löw in der Soziologie. Löws (2001: 158ff.) Vorstellung von Raumkonstitution basiert auf einem relativistischen Raumverständnis. Die Anordnung von Menschen und sozialen Gütern bezeichnet sie als Spacing, über eine Syntheseleistung werden Menschen und Güter über Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse zu Räumen zusammengefasst. Das einfachste Beispiel ist hier der Nationalstaat, der nichts anderes als ein Resultat verschiedener Konstruktions- und Konstitutionsprozesse ist. Werlen spricht hier von den „Geographien symbolischer Aneignung“ (Werlen 2000: 348). Sein Zugang zu ‚Raum‘ und ‚Räumlichkeit‘ bietet nach Wardenga einen „differenzierten Zugang zu den durch Entwicklung neuer Kommunikationsmedien endgültig weltweit vernetzten Lebensbedingungen und Lebensverhältnissen. Indem nun Regionalisierungen als durch Subjekte praktizierte alltägliche, in umfassendere Sinnordnungen eingelassene Weltbindungen verstehbar gemacht werden konnten, wurden Räume als Produkte produktiv-konsumtiver, normativ-politischer oder informativ-signifikanter Handlungen sichtbar.“ (Wardenga 2006: 41)
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Die Aufgabe der Forschung ist es nun, die symbolischen und emotionalen Aufladungen von Teilen der Welt zu identifizieren und zu rekonstruieren. Entscheidend für diese Perspektive ist, dass „der Mensch als intentional handelnder und sozialer Akteur seine Umwelt über Alltagspraxen ständig ‚umbaut‘, sie neu ‚konstruiert‘ und immer wieder verändert. Diese Veränderungen in der Welt geschehen auf Basis unterschiedlichster Motive, Bedürfnisse und Bewusstseinsebenen“ (Seebacher 2012: 112). Handeln schafft hierbei keine ‚realen Räume‘, sondern neue Lagebeziehungen zwischen physisch-materiellen Elementen bzw. eine „Räumlichkeit der Gesellschaft“ (Werlens „alltägliche Regionalisierungen“) (Seebacher 2012: 112). Die Rekonstruktion alltäglicher Regionalisierungen erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Ein Bereich sind die emotionalen Aufladungen von räumlichen Gegebenheiten (Werlen 2000: 346ff.), wo durch Handeln symbolische Regionalisierungen entstehen (Seebacher 2012: 114). Werlen betont in diesem Zusammenhang, dass für die Konstitution sozial-kultureller Wirklichkeiten die symbolische Aneignung von Orten wichtig ist, doch „dass dadurch die sozial-kulturelle Welt nicht eine räumliche wird. Denn die räumliche Relationierung symbolischer Gehalte bedeutet nicht, dass die Symbole räumlich sind. Sie sind ‚Bestandteil‘ der Kommunikation, und nicht des Raumes. Elemente der Kommunikation können räumlich relationiert sein und gerade in dieser Form – wie die Diskurse regionalisti-scher und nationalistischer Bewegungen zeigen – äußerst machtvolle Mittel der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten werden. Genau auf diese Zusammenhänge sind die entsprechenden Untersuchungen der symbolischen Aneignung auszurichten: auf die Abklärung der sozialkulturellen Bedeutung räumlich relationierter symbolischer Konstruktionen wie ‚Heimat‘.“ (Werlen 2000: 349)
Wirklichkeit und damit auch die Räumlichkeit der Gesellschaft sind daher weder unabhängig von Subjekten noch objektiv. Die wahrgenommene Wirklichkeit wird durch Handeln konstruiert und reproduziert. Einzelne Bausteine (Stadtgrenzen, Nationalstaaten) können dann zu ‚normalen‘ oder ‚wahren‘ Wirklichkeiten werden und bilden schließlich den Orientierungsrahmen für weiteres Handeln (Weichhart 2008: 371ff.). Derartige Konstruktionsprozesse finden ständig statt und lassen sich auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen betrachten. Die Lageveränderung von Körpern auf der Erdoberfläche etwa schaffen „ununterbrochen unterschiedliche relationale Anordnungen physisch-materieller Elemente auf der Erdoberfläche“ (Seebacher 2012: 51). Ebenso entstehen individuell konstruierte soziale und symbolische Räume in Folge von Sinnzuschreibungen und Kommunikation. Kognitive Konstrukte wie ‚Heimat‘ oder ‚Herkunftsland‘ sind dann relevant für raumbezogene Identitäten. Abseits der subjekt- und handlungszentrierten Perspektive haben sich in den letzten Jahren auch zunehmend diskursorientierte Ansätze innerhalb der Neuen Kul-
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turgeographie etabliert. Sie wenden sich vom Fokus auf das Subjekt ab und stellen die Bedeutung von Sprache für die Konstruktion von ‚Wirklichkeiten‘ in den Mittelpunkt. Ein Diskurs als „Korpus von Aussagen mit einer gewissen Regelhaftigkeit und Systematik der inneren Organisation“ (Reuber/Pfaffenbach 2005: 203) kann in dieser Auffassung nicht auf einzelne Subjekte zurückgeführt werden. Nicht die einzelne Handlung, sondern der Korpus an Aussagen wird als entscheidend gesehen. Subjekte werden nicht als intentional handelnd, sondern als Erschaffer von Diskursen verstanden (Weichhart 2008: 377; Mattissek 2004: 307). Jedoch wird auch bei Werlen ‚Raum‘ „auf sprachlicher und semiotischer Basis, und somit fernab jeglicher Materialität, durch ‚symbolische Aneignungen‘ und Bedeutungszuweisungen konstruiert“ (Seebacher 2012: 125), was für diese Arbeit die zentrale Perspektive auf Raumkonstruktion darstellt. Für die vorliegende Untersuchung bleibt letztlich relevant, dass eine ‚Region‘ nicht als objektiver Gegenstand verstanden werden kann. Erst subjektive Wahrnehmungs-, Denk-, Interpretations- und Handlungsprozesse, die Diskurse entstehen lassen und auch von Diskursen beeinflusst werden, produzieren Raumeinheiten wie ‚Heimat‘ oder ‚Angstraum‘. Für die Forschung heißt dies, nach Miggelbrink (2009: 87), dass nicht auf ‚Raum‘ verzichtet werden soll, jedoch ‚Raum‘ nicht der zentrale Forschungsgegenstand sein kann, sondern die menschlichen Tätigkeiten, die eine gesellschaftliche Wirklichkeit erst herstellen. Die Autorin fasst weiterhin zusammen: „Die erdräumlich lokalisierbaren materiellen Gegebenheiten werden als Bedingung, Mittel und Folge von Handlungen verstanden, deren Bedeutung sich nur über den jeweiligen Handlungskontext bzw. dessen Rekonstruktion erschließt. Raum kann also verstanden werden als eine Ordnungsbeschreibung materieller Objekte. Eine Beschreibung und Analyse der Ordnung handlungsrelevanter Artefakte kann in räumlichen Kategorien erfolgen, allerdings bloß insofern, als sie mittels eines räumlichen Ordnungsrasters jeweils nur für einen bestimmten Handlungskontext und in einer konkreten Situation Gültigkeit beanspruchen kann.“ (Miggelbrink 2009: 88)
2.2 R AUMKATEGORIEN
IN DER
G EOGRAPHIE
Einen Überblick über die bereits angedeutete Perspektivenvielfalt auf ‚Raum‘ in der Geographie haben beispielsweise Weichhart (2008), Miggelbrink (2002) und Wardenga (2006) zusammengestellt. Weichhart hat versucht, unterschiedliche Auffassungen von ‚Raum‘ zu inventarisieren und damit die Spannweite von absolutistischen und relativistischen Raumkonzepten zu konkretisieren. Als Raum1 bezeichnet er „Teilbereiche der Erdoberfläche“, was bei Miggelbrink (2002: 44) unter „materi-
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elle Umwelt“ fällt. Hierunter sind sogenannte Adressangaben wie ‚Alpenraum‘ oder ‚Ruhrgebiet‘ zu verstehen. Diese Ausschnitte der Erdoberfläche haben entweder unscharfe bzw. unbekannte Grenzen oder fest definierte Grenzverläufe. Eine Besonderheit stellen Beschreibungen wie ‚Ballungsräume‘ dar. Diese beziehen sich auf Gebiete mit einer bestimmten Verbreitung von Merkmalsausprägungen. Raum2 beschreibt, nach Weichhart, den Behälter oder den Container, der übrig bleibt, wenn sein „Inhalt“ herausgenommen wird, d.h. es geht hier um den leeren ‚Raum‘, der „als eigenständige ontologische Struktur […] unabhängig von ihrer dinglich-materiellen Erfülltheit existiert“ (Weichhart 2008: 77). ‚Raum‘ wird hier dem absolutistischen Raumverständnis entsprechend als etwas Reales gesehen, „als Element der physisch-materiellen Wirklichkeit“ (Weichhart 2008: 78). Anders ist es beim Raum3, der für immaterielle Relationen steht. Hier ist eine Ordnungsstruktur gemeint, die es einem ermöglicht, Elemente in Relation zu setzen. Der ‚Raum‘ ist hier kein eigenständiger Gegenstand, sondern ein Mittel zur Vereinfachung und Generalisierung von Strukturen. Ein Beispiel hierfür ist die topographische Karte. Beim Raum4, der sich aus diesen Überlegungen ableiten lässt, herrscht das Grundverständnis, dass der ‚Raum‘ lediglich durch „Relationalität der physischmateriellen Dinge zueinander konstituiert“ wird (Weichhart 2008: 79). Werden die Dinge aus dem ‚Raum‘ entfernt, bleibt nichts übrig. ‚Raum‘ kann hier ohne die Relationalität von Dingen in ihm nicht existieren und ist daher „ein Produkt von Beziehungen“ (Massey 2003: 31). Raum4, der für Werlens handlungszentrierte Sozialgeographie grundlegend ist, ist demnach „keine eigenständige ontologische Struktur, kein Gegenstand oder ‚Seinsbereich‘, sondern er stellt genau genommen ein Attribut, eine Eigenschaft der physisch-materiellen Dinge, dar“ (Weichhart 2008: 79, Herv. i.O.).1 Diese Attribute sind dann entsprechend subjektive sozio-kulturelle Zuschreibungen. So kann das Ruhrgebiet parallel das Attribut des ‚alten Kohlenpotts‘ und auch das eines postmodernen Freizeitraums tragen. Der stärker in der Wahrnehmungsgeographie verankerte „erlebte Raum“ ist in Weicharts Inventarisierung der Sonderfall „Raum1e“. Es ist der wahrgenommene Raum, also ein mit Bedeutungen aufgeladener Erdausschnitt, der in Verbindung zum Raum1 steht (Weichhart 2008: 82). Die stärkere Berücksichtigung der subjektiven Perzeption von ‚Raum‘ kam „als Folge der Kritik an der wertneutralen Beschreibung von Raumstrukturen durch den spatial approach“ (Wardenga 2006: 39, Herv. i.O.). Der „erlebte Raum“ ist das, was der Mensch für sich in einem persönlichen Konstrukt als Wirklichkeit definiert. In ihm sind „Elemente der Natur und der
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Der Vollständigkeit wegen benennt Weichhart noch den Raum5, der auf Kant zurückgeführt wird und als Rahmen für die Organisation von Wahrnehmungen beschrieben wird. ‚Raum‘ ist hier kein Ding, und auch keine Vorstellung, sondern wie etwa Zeit „eine Bedingung oder Weise der Gegenstandswahrnehmung“ (Weichhart 2008: 84, Herv. i.O.).
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materiellen Kultur, Berge, Seen, Wälder, Menschen, Baulichkeiten, Siedlungen, Sprache, Sitten und Gebräuche sowie das Gefüge sozialer Interaktionen zu einer räumlich strukturierten Erlebnisgesamtheit, zu einem kognitiven Gestaltkomplex verschmolzen“ (Weichhart 2008: 82f.). Dabei sind für kollektive Images sowohl der individuelle Erfahrungskontext als auch intersubjektiv kommunizierte Meinungen und Vorstellungen entscheidend: „Es gibt so etwas wie gruppen- und kulturspezifische Werturteile, Klischees und Imagezuschreibungen. Die meisten von uns haben etwa ein besonderes, subjektives und auf die persönlichen Erfahrungshorizonte bezogenes Bild vom Ruhrgebiet, dem Weinviertel, der Wachau oder der Toskana. Wir könnten aber unschwer Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in diesen subjektiven Raumbildern entdecken, die man als kollektives Image dieser erlebten Räume bezeichnen kann.“ (Weichhart 2008: 82)
Auch der „erlebte Raum“ ist nichts anderes als ein Konstrukt, in dem ein Gemenge von Meinungen, Erfahrungen oder Urteilen über einen Raum1 zum Vorschein kommt. Eng mit diesem Raumverständnis verknüpft ist die Wahrnehmungsgeographie, die darauf abzielt die Perzeption räumlicher Strukturen zu erforschen und die Wirkung eines daraus abgeleiteten Verhaltens auf die Strukturen zu erfassen. Mental Maps sind hier beliebte Mittel, um diese subjektiven Wirklichkeiten zu erfassen (Downs/Stea 1982). Problematisch an diesem Raumverständnis ist, dass von einer ‚objektiven Realitätsvorlage‘ ausgegangen wird. Wenn es verschiedene Wahrnehmungen der toskanischen Region gibt und damit unterschiedliche Räume1e, produziert werden, dann ist zu fragen, was genau in diesem Fall die ‚reale‘ toskanische Vorlage sein kann (vgl. Wardenga 2006: 40). Sie ist ebenfalls ein Konstrukt. Ihre administrativen Grenzen sind Produkte politischen Handelns und ihr Image als reizvolle Urlaubslandschaft das Ergebnis individueller Bedeutungszuweisungen (Landschaft, Wein, mittelalterliche Städte) bzw. die Folge eines erfolgreichen Tourismusmarketings. Die Toskana stellt keine durch Wahrnehmungen verzerrte ‚objektive‘ Realität dar, sondern ist als das, womit sie assoziiert oder wie über sie gedacht und gesprochen wird, ebenfalls ein Produkt (vgl. Weichhart 2008: 90f.). Vor diesem Hintergrund gibt es in Weichharts (2008: 326ff.) Inventarisierung eine weitere Raumkategorie – nämlich die des sozial konstituierten und konstruierten Raumes6S. Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht nur der von Individuen wahrgenommene und „erlebte Raum“ eine Konstruktion darstellt, sondern letztlich auch jede zu interpretierende ‚Vorlage‘. „Der dahinter stehende Konstruktionsprozess der alltäglichen Regionalisierungen verweist dabei in der Regel auf einen Raum1 und schreibt diesem im Rahmen der gesellschaftlichen Sprachpraxis ganz bestimmte Attribute zu, die somit als soziale Stereotype gleichsam verortet werden. […] Häufig bezieht sich der sozial konstruierte Raum auch dergestalt auf die phy-
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sisch-materielle Welt, dass diese aktiv in den Konstruktionsprozess einbezogen wird. Im Falle der normativ-politischen Regionalisierungen geschieht dies etwa dadurch, dass in bestimmten Territorien (Raum1-Elemente, die politische Zuständigkeitsbereiche und Bezugsgrößen des Verwaltungshandelns darstellen) bestimmte Normen Gültigkeit besitzen, welche die Praxis der produktiv-konsumtiven Regionalisierung beeinflussen.“ (Weichhart 2008: 326f.)
Es besteht daher nicht die Auffassung, es gäbe keine Zypressen oder mittelalterlichen Gassen in der Toskana. Nur ist ihre Namensgebung, ihre Bedeutung als Elemente von Stadt- und Naturlandschaft und ihre Einordnung in Oberkategorien wie ‚Bäume‘ oder ‚Straßen in toskanischen Städten‘ Ergebnisse von Bedeutungszuweisungen. Für die Forschung lässt sich daraus ableiten, dass die Erfassung sozialer Konstrukte keinen Zugang zur ‚Wirklichkeit‘ ermöglicht. Die Forschungsgegenstände existieren nicht unabhängig, sondern sind das Produkt aus dem gewählten Paradigma, der Fragestellung und der Herangehensweise. Jedes Ergebnis ist ebenfalls ein Konstrukt, das durch die gewählten Perspektiven und Begrifflichkeiten produziert wird (Seebacher 2012: 84f.; Redepenning 2006: 16).
2.3 D IE B ESONDERHEIT VON N ATIONEN UND R EGIONEN ALS R AUMKONSTRUKTE Die zwei wohl bekanntesten Raumkonstrukte, nämlich Regionen und Nationalstaaten, beschreibt Werlen (1993: 40) „als Produkte einer besonderen Kombinatorik von Gesellschaft und Raum […], in der sowohl die Homogenisierung der sozialen Welt, wie auch der sozial-weltliche Holismus eine zentrale Rolle spielen“. Dies wird insbesondere im Fall der Nationalstaaten deutlich. So sehr sie als struktur- und ordnungsschaffende Gebilde unverzichtbar erscheinen, bleiben sie historisch gewachsene Konstrukte. Anderson etwa spricht von einer „Erfindung“ (2005) bzw. von „imagined communities“ (2006). Nation ist hierbei ein soziales Kollektiv innerhalb eines Gebietes. Es definiert sich über das Territorium und die Bevölkerung, der Staat hingegen über eine institutionalisierte Organisation. Nationale Kollektive müssen nicht mit Staatsgrenzen übereinstimmen. Sie werden häufig über Sprache, und ergänzend durch Traditionen oder historische Ereignisse konstituiert. Gemeinsame Merkmale haben das Ziel, die Zusammenfassung von Menschen in einem Territorium zu legitimieren. Eine nationale Identität ist dann eine Folge dieser Gemeinsamkeiten. Dass allerdings eine Sprache als Kriterium für viele Nationen nicht zutrifft (z.B. Schweiz, Indien) führt Werlen zu der Erkenntnis, dass eine Nation „zumindest in gewissen Bereichen eine gemeinsame Kultur teilt, vergangenheitsorientiert über eine gemeinsame historische Erzählung und zukunftsorientiert über gemeinsame Projekte verfügt“ (Werlen 1993: 55; Hühn et al. 2010: 20f.). Hall
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(2000: 204f.) zählt drei Vorstellungen der Gemeinschaft einer Nationalkultur auf: Erinnerungen an die Vergangenheit, das Streben nach einem Zusammenleben und die Fortsetzung des Erbes. Dabei ist es so, dass die Mitglieder der Nation nicht alle anderen kennen, jedoch von einer all umfassenden Gemeinschaft ausgehen, was Anderson (2005: 15) zu der Definition als „vorgestellte politische Gemeinschaft“ verleitet. Nationalstaaten sind letztlich Konstrukte, die zu „normal“ geworden sind, um sie zu hinterfragen: „In der Tat werden wir nicht mit nationalen Identitäten geboren, diese werden erst durch Repräsentationen gebildet und im Verhältnis zu ihnen verändert. Was es heißt ‚englisch‘ zu sein, wissen wir nur dadurch, daß das ‚Englischsein‘ als eine Bedeutungskette durch die englische nationale Kultur repräsentiert wird. Eine Nation ist also nicht nur ein politisches Gebilde, sondern auch etwas, was Bedeutungen produziert – ein System kultureller Repräsentationen.“ (Hall 2000: 200, Herv. i.O.)
Brubaker bemerkt daher, dass nicht die Frage relevant ist, was eine Nation ist, sondern vielmehr: „How is nationhood as a political and cultural form institutionalized within and among states?“ (Brubaker 1996: 16) Für Nationalstaaten, insbesondere in Europa, wird in der aktuellen Fachdebatte ein immer stärkerer Funktionsverlust („Entstaatlichung“) diskutiert, der mit Bedeutungsverschiebungen in Richtung der supranationalen, globalen und regionalen Ebene zusammenhängt (Brenner 2004; Miggelbrink/Redepenning 2004). In Debatten um Raumbezüge von Identitäten wird entsprechend häufig die identitätsstiftende Nation als „Auslaufmodell“ bezeichnet (Pott 2001: 13). Gleichzeitig hat der Nationalstaat politische, ökonomische und gesellschaftliche Verantwortung und stellt Rahmenbedingungen für Migrations-, Wirtschafts- und Sozialpolitiken. Und diese haben Handlungsrelevanz, unabhängig vom konstruierten Charakter der Nationalstaaten (Pries 2010). Oftmals bleibt die Nation als „große soziale Kollektivität“ (Hall 1999a: 87) ein wichtiger Stabilisator von Identitäten, auch weil Alternativen sprachlicher Differenzierungsmomente fehlen. Die Nation als „System kultureller Repräsentationen“ (Hall 2000: 200) bleibt häufig begrifflicher Konsens für Phänomene, die Menschen als Traditionen oder Praktiken beschreiben. Regionale Konstrukte können entweder im Rahmen einer Staatszentrierung aus dem Herunterbrechen von nationalstaatlichen Maßstabsebenen, etwa zur Gliederung eines staatlichen Territoriums, oder auch losgelöst hiervon als Produkte der subjektiven Symbolisierung entstehen (Miggelbrink 2002: 11). Als politischadministratives Gebilde, symbolischer Bedeutungsträger oder Programmraum für Organisationen wird die ‚Region‘ in sehr unterschiedlichen Kontexten aufgespannt (Miggelbrink 2002: 95). In der Regel wird Gesellschaft über territoriale Zuordnungen gegliedert, die zugrundeliegende Homogenität der territorialen Konstrukte stützen sich auf kulturelle Faktoren, physisch-geographische Gegebenheiten oder öko-
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nomische Eigenschaften. So wird vom Baskenland, vom Alpenraum oder von der ‚blauen Banane‘ in Europa gesprochen. Gemeinsam haben solche Territorien, dass das erforscht wird, was innerhalb ihrer Grenzen passiert, jedoch nicht wie ihre Grenzen zustande kommen. Sie erreichen über ihre Kommunikation den Status eines objektiven ‚Gegenstandes‘ (Miggelbrink 2002: 96) und sind in vielen Fällen „methodische Hilfsmittel der Hypothesenbildung und -prüfung“ (Miggelbrink 2009: 79). ‚Regionen‘ helfen die komplexe Erde zu ordnen und sie greifbar zu machen. Die Welt erscheint überschaubarer, wenn sie in kleine Einheiten zerlegt werden kann, die mit einigen wenigen Symbolen ausgedrückt werden können. So veröffentlichte ‚Die Zeit‘ im Jahr 2012 eine Karte zu Nordrhein-Westfalen, in der ‚alles‘, was dieses Bundesland ausmacht, durch kleine Subregionen und Symbole differenziert wurde (Abb. 1). Der Autor kommentiert diese Symbole regionaler Identitäten auf seiner Homepage wie folgt: „A map of the German state North RhineWestphalia showing all bigger cities and the most famous buildings, places, events, products and traditions of this city.“ (Human Empire 2012) Werlen (1993: 43) hebt hervor, dass bei einer regionalen Identität, die sich auf regionale Lebenskontexte oder eine Herkunftsregion bezieht, der Bezug der Identität unklar bleibt und nicht nur durch einen reinen Ausschnitt der Erdoberfläche geprägt ist. Vielmehr sind die Bedeutungen entscheidend, die eine Region ausfüllen und diese hierdurch erst entstehen lassen. ‚Region‘ ist daher ein emotionales Phänomen und heißt dann z.B. „Heimat“ (Pott 2001: 18). Regionalisiert werden können dann eigentlich nur die physisch-materiellen Gegebenheiten, jedoch nicht die Symbole und Aufladungen (Werlen 1993: 43). Werlen plädiert daher dafür, dass die materielle Grundlage (z.B. Gebirge, Küste) nicht als „Erzeuger“ der symbolischen Bedeutungen und der Identitäten gesehen werden darf, sondern nur als „Vehikel“. Sie darf nicht mit ihrer Bedeutung gleichgesetzt werden (Werlen 1993: 44). Regionale Identität ist aus dieser Perspektive kein regionales Phänomen und damit auch nicht räumlich abzubilden. „Es handelt sich um ein ‚Selbstbildnis‘ der Mitglieder einer sich selbst – über Wohnstandorte und die alltäglichen Aktionsräume – regional definierenden Lebensgemeinschaft sowie die innerhalb von ihr als verbindlich gehaltenen Normen, Werte usw..“ (Werlen 1993: 44) Weiter schreibt Werlen: „Selbst wenn bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer regional differenzierten kollektiven Identität materielle Gegebenheiten als Schauplätze oder Zeugen einer gemeinsamen Geschichte, Ortsbezeichnungen als Vehikel des gemeinsamen Erinnerns usw. eine wichtige Rolle spielen können, ist dies aber nicht ausreichend, um auf undifferenzierte Weise von einer ‚Zugehörigkeit zu einem bestimmten Raum […] zu sprechen‘.“ (Werlen 1993: 45) Genauso verhält es sich bei dem von Werlen diskutierten „Regionalismus als soziale Typisierung“ (Werlen 1993: 48). Stereotypen wie ‚Rheinländer‘ implizieren (Vor-)Urteile gegenüber Gruppen. Die Herkunft dieser Gruppe ist jedoch keine soziale Kategorie, sondern eine erdräumlich fixierte. Allein die Herkunft, und nicht
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biographische Aspekte sind entscheidend. Soziale Aspekte werden Personen allein aufgrund ihrer Herkunft zugeordnet. Aus diesen Überlegungen heraus werden Regionskonstrukte auch immer wieder anders produziert (vgl. für das Ruhrgebiet Danielzyk/Wood 2004). Abbildung 1: Nordrhein-Westfalen auf einer Karte
Quelle: Human Empire 2012, Jan Kruse
2.4 D IE VON
KULTURELLE UND SYMBOLISCHE R EGIONEN
AUFLADUNG
Nicht selten basiert die Abgrenzung einer Region auf der Annahme, dass diese etwas Einzigartiges oder Spezifisches ausmacht. Dabei kann es um wirtschaftliche Entwicklungen gehen oder um Sprache, Praxis und Traditionen – kurz ‚Kultur‘.
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Aus der konstruktivistischen Perspektive muss eine hieraus abgeleitete ‚Regionalkultur‘ genauso verstanden werden wie die Region selbst – nämlich als Konstrukt. Genauso wie das Ruhrgebiet keine ‚natürlichen‘ Grenzen hat, ist auch eine ‚Ruhrgebiets-Kultur‘ ein Produkt alltäglichen Handelns. Die konstruktivistische Sichtweise auf ‚Kultur‘ bricht dabei die lange Zeit dominierende Vorstellung homogener und abgrenzbarer Kulturen und Kulturräume auf. Der klassische Kulturbegriff aus dem 17. Jahrhundert ging davon aus, dass sich Völker und ihre Kulturen gemäß ihrer Umweltbedingungen entwickeln. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Geist der Humanität einen Überbau für alle Menschen bildet und die ‚Kultur‘ zu den ‚feinen Unterschieden‘ führt. Daraus folgt die Annahme, dass jede Handlung in einem ‚Kulturraum‘ ein Ausdruck dieser einen ‚Kultur‘ ist, die von anderen klar abgrenzbar ist (Welsch 1992: 6ff.; vgl. auch Blotevogel 2003). Durch die zunehmende weltweite Verflechtung von Ökonomien und Menschen, der „Globalisierung von Biographien“ (Pott 2001: 12), ist dieser klassische Kulturbegriff jedoch zunehmend kritisch zu betrachten und letztlich unhaltbar. Der Philosoph Wolfgang Welsch (1999: 196) spricht territorial abgrenzbaren und homogenen Inseln die Existenz ab. Er argumentiert vor allem mit Globalisierungsprozessen, die unabhängig von nationalen und regionalen Grenzen ablaufen: Neue Formen der Kommunikation durchdringen immer mehr Teile der Welt und klassische Raum-Zeit-Verhältnisse werden aufgebrochen. Gesellschaftliche Heterogenität ist für den Autor aufgrund der Vielfalt von verschiedenen Lebensstilen und -entwürfen auf engstem Raum beobachtbar und entsteht durch eine Vermischung, Durchdringung sowie Überlagerung von ‚Kulturen‘ (Welsch 1999: 195): „IndioLieder in unseren Hitparaden, Karibik-Studios in jeder Kleinstadt, Exotismus in der Mode und Ananas das ganze Jahr über. […] Selbst was nicht unmittelbar innerhalb der jeweiligen Kultur verfügbar ist, wird im Zeitalter der Telekommunikation und des Flugverkehrs doch vergleichsweise unmittelbar. […] Alles ist in innerer oder äußerer Reichweite.“ (Welsch 1992: 11) Welsch spricht daher von „Transkulturalität“, die für einen Kulturbegriff jenseits des Gegensatzes von Eigen- und Fremdkultur steht (Welsch 1999: 195ff.; Wardenga 2006: 42). Transkulturalität bezieht sich dabei auf die Idee der Hybridität, die bei Welsch durch das Vermischen von Lebensformen eine Grundlage für das Verständnis von ‚Kultur‘ ist. Hybridität schafft variable und multiple Identitäten und Lebensentwürfe: „This intermingling of different modes of consumption and production as well as diverse elements of patterns of thinking, perceiving and acting is reflected in varied lifestyles.“ (Didero 2011: 5) Kulturelle Differenzen sind damit jedoch nicht obsolet. Sie sind ein elementarer Bestandteil, wenn es um Identitätskonstrukte und die Definition des Eigenen und des Fremden geht. Nach Gebhardt et al. (2003: 1ff.) dreht sich gerade in den Zeiten eines tiefen gesellschaftlichen Wandels, in denen klassische Differenzierungen wie Klasse oder Schicht nicht mehr ausreichen, um Differenzen in einer Gesellschaft der kleinen Unterschiede festzuhalten, wieder vieles um ‚Kultur‘. Kulturkonstrukte
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sind nach Julia Lossau (2014: 28f.) die Motoren für Hierarchisierungs- und Differenzierungsprozesse und damit auch für die eigene Positionierung. Sie dienen zur Abgrenzung ‚der Anderen‘ (Differenzierung) und implizieren auch eine Bewertung dieser Grenzen (wir/sie sind besser/schlechter) (Hierarchisierung). Kulturkonstrukte werden zentral beim Verständnis der Beziehung zwischen Identität und Differenz, in der sich das Eigene erst über die Beziehung zum anderen kreiert und als Ergebnis von Zugehörigkeit und Ausschluss zu sehen ist (Pütz 2004: 26f.). Und hier spielen eben Grenzziehungen eine Rolle – politische Grenzen und die in den Köpfen der Menschen (vgl. Reuber 2012: 61). Sich abzugrenzen ist eben doch einfacher, wenn dazu nicht jeder andere Mensch bewertet werden muss, sondern gleich ein ganzes Land oder eine Region abgegrenzt werden kann. ‚Kultur‘ und ‚Raum‘ sind nach Hall daher wichtige Stützen, mit denen Identitäten rekonstruiert werden: „Es scheint mir, dass Menschen der Welt nicht handeln, sprechen, etwas erschaffen […] und reden, über ihre eigene Erfahrung nachdenken könnten, wenn sie nicht von irgendeinem Ort kommen, von irgendeiner Geschichte, wenn sie nicht eine bestimmte kulturelle Tradition erben.“ (Hall 1999a: 95) Wichtig ist hierbei, dass ‚Kultur‘ als Motor von Differenzierungen stets das Ergebnis von individuellen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Kommunikationsprozessen ist. Nicht was eine ‚türkische‘ oder ‚oberschlesische Kultur‘ ist, muss die Frage sein, sondern was sie bedeutet, wie sie kommuniziert wird und wie sie zur eigenen Abgrenzung von ‚anderen Kulturen‘ benutzt wird. Für Bango sind ‚Kulturen‘ daher letztlich Produkte von Kommunikation: „Da die Kultur nur im Zusammenleben und Zusammenhandeln der Menschen entsteht, kann man mit Recht behaupten, dass Kultur ein Produkt (oder Konstrukt) der Gesellschaft ist. Und weil die Gesellschaft aus Kommunikation besteht, ist die Kultur ein Produkt der menschlichen Kommunikation.“ (Bango 2003: 151; vgl. auch Michalewski 2010) Diese Sichtweise auf einen dynamischen und komplexen Kulturbegriff setzt sich zwar immer stärker durch, wichtig ist dabei allerdings, dass wir am Ende der „Übergangsphase vom nationalstaatlichen Containerraum hin zur entgrenzten Weltgesellschaft“ (Luutz 2007: 29) auch in der Forschung mehr Platz für entgrenzte Phänomene machen.
2.5 I DENTITÄT
UND
R AUM
„Ohne Identität gäbe es für uns keine Position, von der aus wir unsere Aussagen treffen könnten, keinen Ort, von dem aus wir sprechen könnten“ – schreibt Lossau (2011: 659) und betont damit den unabdingbaren und zwangsläufigen Charakter von Identität. Identitäten sind Erzählungen über sich selbst und bilden als Fixpunkte des Denkens, Seins und Handelns einen Teil der Persönlichkeit (Weiss 1993: 25;
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Hall 1999a: 83). Sie sind einerseits kontinuierlich und unterliegen andererseits auch dynamischen Veränderungen, weil Identität als Selbstkonzept eine Eigen-Interpretation ist und sich durch die eigene Geschichte verändert. Jede Biographie ist gekennzeichnet durch fortwährende „Realitätsdestruktionen und Realitätsneuaufbau“ (Dröge/Krämer-Badoni 1987: 78). Identität entsteht über den personalen Aspekt, also darüber, was der Mensch über sich weiß, und über den sozialen Aspekt, d.h. über das Wissen, wie andere über ihn denken (Weiss 1993: 26). Damit hat Identität neben ihrer dynamischen Komponente auch eine Dauerhaftigkeit und Treue zu sich selbst (Hein-Kirchner 2008: 13). Interessant ist, wie der Aufbau von Realität nach einem Migrationsprozess abläuft und wie sich dieser Prozess im Kontext von transnationalen Alltagswelten weiterentwickelt. Entscheidend für Identitätskonstrukte sind stets individuelle Ortsund Zeitkategorien. Der Zugang zu diesen Konstrukten muss dabei aus verschiedenen Perspektiven erfolgen: „Identity has both personal and collective dimensions, and is tied up with gender, class, ethnicity, age and styles of living. Moreover, identity is bound up with geography and place: as homeland (nation) and home place (community) and in relational terms as one´s ‚place‘ in the world.“ (McHugh 2000: 85) McHugh macht damit deutlich, dass die Fragen ‚Deutscher oder Ausländer?‘ oder ‚Pole oder Schlesier?‘ nicht ausreichen können, um der Komplexität einer Identität gerecht zu werden. McHugh erwähnt auch Raumbezüge in Form von Nationalstaaten und Orten. Ohne Zweifel beeinflussen nationalstaatliche oder regionale Grenzen Identitätskonstrukte. In Nürnberg wird ein Neuankömmling vielleicht vor der Frage stehen, ob er ein ‚Franke‘ werden kann. Und mit dem Überschreiten der nationalstaatlichen Grenzen ändern sich sämtliche rechtliche Grundlagen und die persönlichen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten. Wichtig ist jedoch zu beachten, dass die Perzeption dieser Gegebenheiten keinem allgemeinen Konsens folgt. Vielmehr wird das nach außen kommunizierte ‚Deutsch-Sein‘ oder ein ‚FränkischSein‘ stets eine unterschiedliche Bedeutung haben und es wird sich auch auf unterschiedliche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsbereiche beziehen. Identitäten sind soziale Konstrukte, eine ständige Selbstreflexion infolge einer Auseinandersetzung mit der Umwelt. Sie sind Ergebnisse von dynamischen, veränderbaren und unvorhergesehenen Prozessen. Identität ist damit mehr als die bloße Zugehörigkeit zu einer Nation oder Region. Die Verbundenheit mit einer Heimat muss auch nicht zwangsläufig eine regionale Identität bedeuten (Lash/Friedman 1998; Glorius 2007). Es ist daher ratsam, den Überlegungen von Anthias (2008) zu folgen und zwischen einer Identität und Zugehörigkeit zu unterscheiden. Letztere bezieht sich eher auf die Verbundenheit zu Menschen oder Räumen und das Teilen von Werten und Praktiken mit der zugehörigen Menschengruppe: „Identity involves individual and collective narratives of self and other, presentation and labelling, myths of origin and myths of destiny with associated strategies and identifications.
32 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER ZUGEHÖRIGKEIT Belonging on the other hand is more about experiences of being part of the social fabric and the ways in which social bonds and ties are manifested in practices, experiences and emotions of inclusion. […] To belong is to share values, networks and practices and not just a question of identification. It is important to relate the notion of belonging to the different locations and contexts from which belongings are imagined and narrated: these locations are trans-locations in terms of a range of social positions and social divisions and identities such as gender, class, stage in the life cycle and so on.“ (Anthias 2008: 8f.)
Die Identitätsforschung in der Kulturgeographie, aber auch in der Politischen Geographie beschäftigt sich vor allem seit dem cultural turn mit dem Zusammenhang von Identität und Raum aus verschiedenen Perspektiven. Zum einen werden die raumbezogenen Identitäten in den Fokus gestellt. Diese werden als individuelle und emotionale Bindung an bestimmte Orte angesehen (Weichhart 1990). Nach Hall (1999b: 426) sind Identitäten in symbolischer Form stets in Raum und Zeit verankert. Zum anderen beziehen sich neuere Ansätze stärker auf die deterritorialisierten Identitätsmuster. Hier finden sich die Konzepte der Transnationalisierung bzw. der Transidentität wieder. Schließlich werden auch die in Diskursen hergestellten Identitätskonstruktionen von Räumen untersucht (Pott 2007). Es stellt sich die Frage, welche Rolle ‚Raum‘ für Identitäten in der globalisierten Welt spielen kann. Bei regionalen Identitäten liegt die Vermutung nahe, dass diese auch unabhängig von konkreten Orten sein können, indem sich regionale Besonderheiten als Bausteine einer Identität weniger in Form von Orten und Grenzen, sondern vielmehr in Form anderer Phänomene wie des festen Gefüges einer Familie, der religiösen Praxis oder des gesprochenen Dialekts manisfestieren. Andererseits nimmt das Subjekt jedes dieser Phänomene irgendwo in einem konkreten Kontext wahr und konserviert diese Ort-Emotion-Kombinationen. Eine Familie lebt unter einem Dach, die Beichte wird in einer Kirche abgelegt, und der Dialekt wird erst dort wichtig, wo man ihn auch gebrauchen kann. Scheinbar deterritorialisierte Phänomene wie Familienzusammenhalt werden über räumliche Kategorien (‚oberschlesischer Zusammenhalt‘) ausgedrückt, weil sie dadurch erst greifbar und vermittelbar werden. Ein ‚oberschlesischer Zusammenhalt‘ in Familienbanden betrifft dabei eine imagined community im Sinne von Anderson (2006). Es ist leichter, diesen als regionales Phänomen auszudrücken als alle Menschen aufzuzählen, die nach eigener Auffassung zu dieser Gruppe gehören. Letztlich sind Identitäten immer an die Dualität des Eigenen und des Anderen gekoppelt. Identitätsaufbau braucht die eigene Positionierung gegenüber dem Anderen und ist daher ein Prozess der Spaltung (Hall 1999a: 93). Identitäten sind damit „situativ und konstruiert“ (Richter 2006: 95), weil sie nicht nur an der eigenen Interpretation und äußeren Einflüssen hängen, sondern fortwäh-
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rend aus der Interaktion mit anderen konstruiert werden.2 Dabei ist es so, dass sich diese Definition des Eigenen und des Anderen bzw. die Bildung von Wir- und SieGruppen in der Alltagssprache am ehesten räumlich fassen lassen (Pott 2007: 28). Reuber formuliert dies folgendermaßen: „Bei raumbezogenen Identitäten wird in der Verknüpfung sozialer Differenzierungen (z.B. unterschiedliche Religion, […] unterschiedliche Hautfarbe) mit räumlichen Repräsentationen bzw. Zuschreibungen das Eigene und das Fremde auf eine lokalisierbare, oft sogar mit einer klaren Grenze versehenen Weise geschaffen. Das Eigene entsteht durch eine Differenzbeziehung zu einem ausgeschlossenen Anderen.“ (Reuber 2012: 46) In der Geographie ist die Suche nach Raum- und Ortsbezügen in Identitätskonstrukten fest verankert und wird in Form von raumbezogenen Identitäten präsentiert (Pott 2007: 29). Bartels (1981: 7) betont, dass die „Territorialität des Menschen“, also sein Bezug auf begrenzte Lebensräume zu den „Grundmomenten menschlicher Bedürfnisstrukturen“ wie Nahrungsaufnahme oder Sexualität gehöre. Ortsbezüge können die Funktion von „individuellen oder kollektiven Identitätsankern“ ausüben (Pott 2007: 30). Die Ansatzpunkte sind hierbei vielfältig. Von der Fokussierung auf regionale Identitäten bis hin zum Konzept der „Heimat“ wurde der Raumbezug von Identitäten auf vielfältige Weise diskutiert. Weichhart differenziert die raumbezogenen Aspekte von Identifikation wie folgt: Zunächst ist eine raumbezogene Identität als emotionale Repräsentation von Räumen zu verstehen. „Hier ist also die subjektiv oder gruppenspezifisch wahrgenommene Identität eines bestimmten Raumausschnittes und damit auch seine Abgrenzung gegenüber der mentalen/ideologischen Repräsentation anderer Gebiete angesprochen.“ (Weichhart 1990: 20, Herv. i.O.) Damit meint Weichhart, dass beispielsweise Quartiere oder Städte in der alltagspraktischen Erfahrung wahrgenommen, klassifiziert und als „konstruktives Konstrukt handhabbar“ gemacht werden. Sie entwickeln sich zu Gegenständen von intersubjektiver Kommunikation. Über die Bedeutung von ‚in die Stadt fahren‘ herrscht ggf. mit einigen Abweichungen Einigkeit. Diese Bezeichnungen gehen jedoch über Adressangaben hinaus, sie haben auch eine konnotative Bedeutung, die sich aus Wertzuschreibungen und Emotionen zusammensetzt (Weichhart 1990: 20ff.). Auf der anderen Seite lässt sich raumbezogene Identität aus der Perspektive der individuellen Selbst-Identität betrachten. Identität ist dann zu verstehen „als gedankliche Repräsentation und emotional-affektive Bewertung jener räumlichen Ausschnitte der Umwelt, die ein Individuum in sein Selbstkonzept einbezieht, als Teil seiner selbst wahrnimmt. Auf der Ebene sozialer Systeme verweist der Begriff auf die Identität einer
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Als Schlagworte nennt Richter (2006: 95) „Fluidität“, „Multiplizität“ und „Instabilität“, die den dynamischen und komplexen Charakter von Identitäten zusammenfassen.
34 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER ZUGEHÖRIGKEIT Gruppe, die einen bestimmten Raumausschnitt als Bestandteil des Zusammengehörigkeitsgefühls wahrnimmt […]. Bei Berücksichtigung der Außenperspektive können Raumausschnitte auch Bestandteil der Wahrnehmung von Fremdgruppen-Identität sein und damit zur Repräsentation des betreffenden ‚Sie-Konzepts‘ beitragen.“ (Weichhart 1990: 23, Herv. i.O.)
Raumbezug kann damit auch auf kollektiver Ebene wichtig sein, wenn ein Raumausschnitt die Repräsentation eines Wir-Konzepts ausmacht.3 Reuber (2012: 46) betont, dass es ohne das Andere (Sie-Konzepte oder eben andere Wir-Konzepte) nicht das Eigene (Ich- oder Wir-Konzepte) geben kann. Bestimmte Räume und ihre Eigenschaften können dann Symbole des Selbst darstellen. Weichhart nennt sie „Ausdrucksmittel der Ich-Darstellung“ (Weichhart 1990: 23). „Here the environment is experienced as an important part of one´s self, as an integral component of self-identity. The environment is no longer detachable from the person.“ (Ittelson 1978: 202) Nach Weichhart ist ein Territorium „sowohl Bezugsebene sozialer Werte und Interaktionen als auch Projektionsfläche für das personale Ich“ (Weichhart 1990: 40f., Herv. i.O.). Es leistet einen wichtigen Beitrag bei der Suche nach dem Einzigartigen und Besonderen im Prozess der Identitätsfindung (Weichhart 1990: 42). Der Bezug im physischen Raum ist damit genauso wichtig für die personale Identität wie die politische Identität oder die Geschlechtsidentität und bildet ein Gegengewicht zu Anonymität oder Entwurzelung (Reuber 1993: 6f.). Dabei ist die Bedeutung des Räumlichen für die Identität nicht immer gleich relevant und unterliegt einer dynamischen Komponente. Bezugsebenen können sich zwischen lokalen und kosmopolitanen Maßstäben bewegen, in Zeiten der Individualisierung und globaler Vernetzung sind Bindungen an verschiedene Territorien und damit komplexe Identitäten möglich (Weichhart 1990; Glorius 2007: 53f.).4 Der Mehrwert einer raumbezogenen Perspektive in der Identitätsdiskussion ist, dass die sozialen Zugehörigkeiten verräumlicht werden und dass zur Wir/SieDifferenzierung auch eine Hier/Dort-Differenzierung hinzukommt (Reuber 2012: 46). Welche Bedeutung letztlich die raumbezogene Identität für das Individuum und sein Selbstkonzept hat, ist nur schwer einzuschätzen (Miggelbrink 2009: 85). Sicher ist jedoch, dass Zuschreibungen wie ‚Die Italiener‘ oder ‚Wir Oberschlesier‘ kein allgemeingültiger Konsens zugrunde liegt, sondern individuelle ‚Hier-undDort-Konstrukte‘, die manchmal zu kollektiven Phänomenen werden. Ein spezielles Forschungsgebiet im Rahmen der raumbezogenen Identität ist die Heimatforschung. Hinter dem Begriff ‚Heimat‘ verbirgt sich eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungszusammenhänge (Weiss 1993: 8). Lange Zeit, vor der Industrialisierung, war ‚Heimat‘ ein faktischer Rechtsanspruch und damit auf Haus
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Hier wird auch öfter der Begriff „kollektive Identität“ verwendet (vgl. Golova 2011).
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Mehr hierzu in Kapitel 3.
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und Hof bezogen. Für die Industriegesellschaft wurde sie zum romantischen Ideal in Form von Architektur oder Mode. „Heimat wurde in dieser Form, überspitzt formuliert, zum ‚Soma für alle‘ im Huxleyschen Sinne […] in einer vielfach als heimatlos empfundenen modernen Industriegesellschaft, zum klischeehaften Massenartikel der Massenmedien.“ (Reuber 1993: 3) Sein Missbrauch zum Zweck politischer Interessen ließ den Begriff zeitweise in Verruf kommen. Den Wandel des Heimatbegriffs führt Bartels auf die hohe Mobilität der Menschen zurück: „Angesichts […] der hohen Fernfunktionalität des sozioökonomischen Miteinanders weichen jedoch tatsächliche Lebensräume und subjektive Satisfaktionsräume oft stark voneinander ab.“ (Bartels 1981: 8) Der neue Heimatbegriff als „Konzept für eine lebensweltliche Utopie der sogenannten Postmoderne“, wie es Reuber (1993: 4) beschreibt, ist „das Etikett für selbstverantwortlich organisierte, kleinteilige, regional oder lokal bezogene Lebenswelten […]. Ein solches Verständnis von Heimat hat Auswirkungen auf das konkrete Handeln des Individuums im Raum, es verändert im Zuge dieses Aneignungsprozesses den Raum selbst“ (Reuber 1993: 4). Trotz solcher Perspektivenverlagerungen, so Bartels (1981: 9), bleibt „das Heimatbedürfnis selbst jedoch als ‚Kulturkonstante‘ unverändert; es stellt eine bestimmte Facette des menschlichen Verlangens nach Geborgenheit dar, – nicht nur in einem ‚Ruheraum‘ Halt zu haben, sondern überhaupt in einer überschaubaren heilen Welt, insbesondere in einer integren Gesellschaftsformation, zu Hause zu sein“. In den Forschungen zur Relevanz von ‚Raum‘ für Identitätskonstrukte wurden sehr unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet, häufig auch um Plastikwörter wie ‚Heimat‘ zu umgehen. So entstanden Arbeiten zur „räumlichen Identität“, „raumbezogenen Identität“, zum „Regionalbewusstsein“ und zur „räumlichen Verbundenheit“ (Reuber 1993: 6). Reuber hat sich wiederum in seiner Studie für den Begriff der „Bindung“ entschieden, da sich dieser, anders als etwa die raumbezogene Identität mit ihrer Mensch-Zentrierung oder die durch die Psychologie geprägte „räumliche Identifikation“, nicht schon vorab in eine bestimmte Richtung begibt (Reuber 1993: 6). Kritik an den raumbezogenen Ansätzen der Identitätsforschung kam vor allem im Fall der Regionalismusdebatte auf. Die Hauptkritik bezog sich darauf, dass eine Zugehörigkeit zu einer Region nicht auf Grenzen und Flächen bezogen werden könne, sondern stets an Inhalte geknüpft sei, die eine besondere Verbreitung hätten (Weiss 1993: 12). Dies ist jedoch dann unproblematisch, wenn Grenzen und ‚Räume‘ in Identitäten nicht als reale Objekte, sondern als durch Bedeutungszuweisungen relevant gewordene Konstrukte verstanden werden.
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2.6 Z WISCHENFAZIT Um die Bedeutung eines Raumkonstrukts (z.B. ‚Region Oberschlesien‘) rekonstruieren zu können, muss verstanden werden, dass Räume keinen ‚natürlichen‘ Charakter haben können und immer wieder anders wahrgenommen werden. Die erdräumlichen Ausschnitte, die als Grundlagen für Regionen und Nationen herhalten, sind nur Bedeutungsträger (Werlen 2000: 334). Die Bedeutungen werden erst von handelnden und erkennenden Subjekten generiert, ‚Raum‘ allein hat keine symbolischen Attribute. Dabei sind Raumkonstrukte wie Regionen höchst machtvoll. Sie schließen ein und grenzen aus, indem durch sie Zugehörigkeiten ausgedrückt werden. Aus dem ‚Wir‘ und ‚Sie‘ wird ‚Hier‘ und ‚Dort‘. Eine Wirklichkeit und damit auch die Räumlichkeit der Gesellschaft sind daher weder unabhängig von Subjekten noch objektiv. Aus dem Verständnis heraus, dass es nicht eine objektive, wirkliche ‚Heimatregion‘ für alle geben kann, weil sie individuell und immer neu produziert wird, muss daher an dieser Stelle auch von Wirklichkeiten gesprochen werden. Raumbezüge in Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukten sind häufig ganz entscheidend, weil über sie soziale Ordnungen ausgedrückt werden. ‚Räume‘ werden hier im Hinblick auf eine vermeintliche Einzigartigkeit symbolisch aufgeladen. Nicht selten wird hierfür auf die Historie und damit auch auf ‚Kultur‘ zurückgegriffen. Abgrenzung, ein Prozess der für subjektive Identitätskonstrukte zentral ist, basiert auf Differenz und damit auf der Bildung des Eigenen und des Fremden. Identitätsbildung ist gebunden an Orte, Traditionen und eine persönliche Geschichte. Sie manifestiert sich häufig in einer Positionierung mit dem Verweis auf eine Zugehörigkeit zu einer ‚Kultur‘. ‚Kultur‘ kann dabei nicht aus „einer realistisch-objektiven oder gar essentialistischen Perspektive gesehen werden, sondern muss als ein System von Sinnzuweisungen oder als diskursive Konstruktion betrachtet werden“ (Seebacher 2012: 116). ‚Kulturen‘ sind individuelle Konstrukte, die insbesondere durch die globale Vernetzung und die zunehmende Individualisierung sowie Vermischung von Lebenskonzepten immer komplexer werden. Die konstruktivistische Sicht auf ‚Raum‘ und ‚Kultur‘ hat jedoch nicht zur Folge, dass diese obsolet werden, sondern dass etwa ‚Raum‘ nicht der zentrale Forschungsgegenstand sein kann. Vielmehr stellt das menschliche Handeln Raum- und Kulturwirklichkeiten erst her. Für die Suche nach der Bedeutung der ‚Region Oberschlesien‘ in alltäglichen Lebenswelten lassen sich demnach die Fragen aufwerfen, wie dieser Raum gedacht und damit produziert wird, welche Bedeutungen ihm zugewiesen werden und wie es in diesem Zusammenhang zu kollektiv wirksamen Images kommt?
3. Die Transnationalisierung alltäglicher Lebenswelten
In den letzten zwanzig Jahren wurde in der Migrationsforschung eine zunehmende Komplexität von internationalen Migrationsprozessen beobachtet, die nicht mehr klassischen, unidirektionalen Wanderungen zwischen Herkunfts- und Zielgebiet zugeordnet werden konnten. Der Transmigrant wurde ‚ins Leben gerufen‘: Ein Migrant, der nach seiner Wanderung nicht einen ‚gewöhnlichen‘ Integrationsprozess im Zielland durchlebt, eine Rückkehr ins Herkunftsland plant oder sich als Mitglied einer Diasporagemeinschaft nach seiner ‚Heimat‘ sehnt, sondern einer, der sowohl im Ankunfts- als auch im Herkunftskontext präsent ist und beide in seinem Lebenskonzept vereint (vgl. Pries 2001a). Transmigration ist zum Schlagwort einer zunehmenden Vernetzung unterschiedlicher nationaler und lokaler Kontexte durch die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Migranten geworden. Dabei wird von einem Aufspannen sozialer Räume ausgegangen, die losgelöst von nationalen bzw. regionalen Grenzen die Pluri-Lokalität der Transmigranten erfassbar machen sollen. Hier ist eine genaue Definition dieser ‚Räume‘ notwendig. Angelehnt an Weichharts Raum4 und Werlens Fokussierung auf das Handeln von Subjekten und der nachgeordneten Bedeutung der Räumlichkeit, sind diese Transnationalen Sozialräume nicht als Summe aus verschiedenen Nationalstaaten, Regionen oder Orten dieser Erde zu verstehen, sondern ergeben sich durch die Relativität der Bedeutungen, die Migranten einzelnen räumlichen Kontexten zuweisen. Sie werden zwar durch Grenzen und politische Raumkonstrukte beeinflusst und sind in lokalen Prozessen verankert, können aber nicht durch Flächenräume (Raum1) ausgedrückt werden. Von zentraler Bedeutung ist die Erkenntnis, dass Transnationale Sozialräume nicht nur durch physische Mobilität der Migranten entstehen, sondern durch Handeln allgemein. Hierzu gehören auch das Denken, Fühlen und Sprechen. Für das Verständnis von migrantischen Lebenswelten, die klassische regionale und nationale Gliederungen der Erde aufbrechen, bietet ein etwas weiter gedachter Transnationalitätsansatz eine gute Analysegrundlage. Ein solcher muss sowohl eine konstruk-
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tivistische Sichtweise als auch die große Bedeutung immaterieller Beziehungen für transnationale Lebenswelten integrieren.
3.1 K LASSISCHE ANSÄTZE
DER
M IGRATIONSFORSCHUNG
Lange bezogen sich gängige Erklärungsansätze für internationale Migration auf unidirektionale und einmalige bzw. zweimalige (bei Rückkehrern) Migrationsbewegungen zwischen zwei Staaten (Palenga-Möllenbeck 2006a: 2093). Betrachtet wurden die Migrationsbedingungen bzw. -motive sowie die Auswirkungen dieser Prozesse auf die Beteiligten im Herkunfts- und Ankunftsgebiet. Konkret ging es im Ankunftsgebiet dann um die Bedingungen und den Erfolg einer Integration, die hier letztlich das Ende des Migrationsprozesses darstellt und sich zwischen erfolgreicher Assimilierung und einem Diaspora-Dasein bewegt (Pries 2001a: 12; PalengaMöllenbeck 2005: 227). Auf einer Makro-Ebene wurden dann mit Hilfe von PushPull-Ansätzen vor allem die migrationsfördernden Strukturen erforscht (Han 2005: 14). Auf der Mikro-Ebene wurden die Determinanten von individuellen Wanderungsentscheidungen betrachtet, so etwa im Rahmen des rational-choice-Ansatzes, der Migration als Resultat von Kosten-Nutzen-Rechnungen sieht. Die WertErwartungs-Theorie baut hierauf auf und berücksichtigt den Umstand, dass nicht ‚reale‘ Bedingungen, sondern subjektive Wahrnehmungen Migrationen in Gang setzen. Neuere Perspektiven brachten zudem eine Aufmerksamkeitsverlagerung auf ganze Gruppen (z.B. Familien) und einen aggregierten Nutzen mit. In stärker interpretativen Ansätzen wurden vermehrt individuelle Entscheidungsmuster betrachtet. Alle Ansätze hatten gemeinsam, dass sie eine Untersuchungsbasis für einmalige Migrationsprozesse boten (Glorius 2007: 20; Pries 2001a). Neuere Ansätze kamen vor allem im Zuge komplexer internationaler Verflechtungen und der Internationalisierung der Arbeitsmärkte ab den 1980er Jahren auf. Erkannt wurde, dass Wanderungen nicht zwangsläufig einmalig sein müssen und sogar einen dauerhaften Charakter annehmen können (Han 2006: 150). Die zunehmende räumliche Fragmentierung von Arbeitsmärkten und Kapital war die Grundlage für die Theorie der Neuen Internationalen Arbeitsteilung, die Migration als Folge wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse ansieht (Heller/Bürkner 1995). Andererseits wurden einzelne Migrationsbewegungen stärker in einen Gesamtzusammenhang gesetzt. Wie Wanderungen zusammenhängen und welche Beziehungen dadurch zwischen Herkunfts- und Ankunftsland aufgebaut werden, wurde vor allem in den Ansätzen der Netzwerkforschung diskutiert (Glorius 2007: 21). Netzwerke werden als spezifische Mengen und Verbindungen zwischen sozialen Akteuren gesehen (Mitchell 1969). In der Netzwerkforschung geht es um das Geflecht dieser sozialen Beziehungen. Dabei stehen Fragen, „wie Netzwerke entstehen, sich repro-
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ALLTÄGLICHER
L EBENSWELTEN
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duzieren und selbst zum Gegenstand von Strategien werden“, im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (Holzer 2006: 8). Netzwerkforscher unterscheiden schließlich zwischen „netten“ Netzwerken (persönlich und unpersönlich) und „nützlichen“ Netzwerken (Sozialkapital) (Holzer 2006). In der Migrationsforschung werden Netzwerkansätze seit den 1990er Jahren als besonders fruchtbar angesehen – sowohl für die Rekonstruktion von Migrationsentscheidungen als auch für das Verständnis des Alltags von Migranten. Durand/Massey beschreiben Migrationsnetzwerke als „set of interpersonal ties that connect migrants, former migrants, and nonmigrants in origin and destination areas“ (Durand/Massey 1992: 17). Kosten und Risiken von Wanderungsentscheidungen und -prozessen werden durch bestehende Netzwerke besser kalkulierbar (Parnreiter 2000: 36). Mit Hilfe des Netzwerkansatzes hat beispielweise Pries (2001a: 34; vgl. auch Pries 1999) für internationale Wanderungsprozesse aus karibischen Staaten und Mexiko in die USA gezeigt, dass die Mehrheit der Arbeitsmigranten die Ortswechsel im Rahmen ausdifferenzierter Netzwerke vorgenommen hat und diese für die konkreten Migrationsverläufe entscheidender waren als Lohndifferenzen und Absolutentfernungen. Durch bestehende Netzwerke kann die räumliche Orientierung der Migration vorbestimmt werden (Parnreiter 2000: 36) und auch die ersten Schritte im Ankunftsgebiet maßgeblich beeinflusst werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Föbker et al. (2010) im Falle der Migration hochqualifizierter Universitätsmitarbeiter. Die Betrachtung des Gesamtzusammenhangs von Migrationsprozessen mündete in dem Ansatz der Migrationssysteme, da erkannt wurde, dass Migration nie allein durch eine individuelle und unabhängige Entscheidung zustande kommt (Pries 2001a: 44). Zu Migrationssystemen gehören sämtliche Rahmenbedingungen und Faktoren, die Wanderungen in diesem System, also zwischen Herkunfts- und Ankunftsgebiet, beeinflussen. Die Migrationsprozesse werden dabei durch einmalige Ströme, aber auch durch temporäre Migranten oder Touristen bestimmt. Die Beziehungen zwischen Herkunfts- und Ankunftsgebiet, aber auch die Migrationsprozesse selbst sind dynamisch und passen sich immer wieder neuen Bedingungen an. Das Migrantennetzwerk ist ebenfalls ein Bestandteil des Systems (Glorius 2007: 22f.). Doch zurück zum dauerhaften Charakter von Migration: Die Feststellung, dass Wanderungen nicht immer eine Richtung haben, nicht immer ein Ende finden und sich im ‚neuen vereinten Europa‘ auch nicht von (Staats-)Grenzen aufhalten lassen, führte dazu, dass der bisherige Blick auf Migration überdacht wurde (vgl. Faist 1997; Pries 2001b). Diese Neuausrichtung der Forschung lässt sich am besten mit dem Ansatz der Transnationalität zusammenfassen.1
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Was nicht bedeuten soll, dass es vor der Neuausrichtung der Migrationsforschung nicht bereits transnationale Wanderungen gegeben hat (Weichhart 2010: 61f.).
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3.2 D IE
TRANSNATIONALE P ERSPEKTIVE AUF GRENZÜBERSCHREITENDE M IGRATIONSPROZESSE
In den USA zeigte sich für die Migrationsströme aus der Karibik, Asien und aus Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten, dass das Einleben dieser Migranten vor ganz anderen Bedingungen stand, als es noch bei der großen Einwanderung aus Europa der Fall war. „Ihre Lebensführung zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit der formellen Integration in das Ankunftsland und der Beibehaltung von vielfältigen Verbindungen in das Herkunftsgebiet aus und entzieht sich somit den gängigen nationalräumlichen Betrachtungsperspektiven.“ (Glorius 2007: 29) Diese Migranten waren weder als Immigranten noch als Remigranten zu bezeichnen. Ihre Beziehungen waren plurilokal und erstreckten sich über die nationalen Grenzen hinweg. Die Bindungen zum Herkunftsgebiet nahmen nicht ab, sondern wurden gepflegt (Han 2006: 150). Diese multiple Verortung der Migranten und die sich daraus ergebenden Folgen für Identitätskonstrukte und das Einleben wurden zum Untersuchungsgegenstand der Transnationalitätsforschung, die zunehmend Beachtung fand, da die bisherigen Begrifflichkeiten als nicht ausreichend erachtet wurden, um den neuen Migrationsformen gerecht zu werden (Glorius 2007: 39). Besonders im Migrationssystem zwischen den USA und Mexiko wurden transnationale Migrationsformen beobachtet. Martínez (1994) umschrieb diese Migranten als „border people“. Smith stellte fest, dass das Leben dieser „border people“ organsiert ist „under conditions in which their life-worlds are neither ‚here‘ nor ‚there‘ but at once both ‚here‘ and ‚there‘“ (Smith 1994: 17). Einen ersten größeren Überblick über diese neue Art der Migration in den USA wurde von Glick Schiller et al. im Jahr 1992 herausgegeben, die erste Erfahrungen mit diesem neuen Migrationstypus präsentierten (Glick Schiller et al. 1992a). Die nationale Grenzen überquerenden Aktivitäten der Transmigranten wurden als Aufspannen „sozialer Felder“ zusammengefasst. Transmigranten sind nach Ansicht der Autorinnen gleichzeitig in vielen verschiedenen Kontexten verankert: „Transmigrants develop and maintain multiple relations – familial, economic, social, organizational, religious, and political that span borders.“ (Glick Schiller et al. 1992b: 1) Transnationale Migrantenwelten wurden auch im 1994 erschienenen Werk von Basch et al. („Nations Unbound“) für den Fall von Migranten aus Grenada, St. Vincent, Haiti und den Philippinen in den USA untersucht. Eine zentrale Erkenntnis war, dass die jeweiligen Nationalstaaten und ihre Gesellschaften nicht mehr als Pole gesehen werden können, sondern durch die alltäglichen Vernetzungen der Migranten verbunden sind. „The migrants in the study moved so frequently and were seemingly so at home in either New York or Trinidad as well as their societies of origin, that it at times became difficult to identify where they ‚belonged‘.“ (Basch et al. 2000: 5) Betont wurde auch die Bedeutung der Netzwerke für die Bildung der
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Transnationalität. Durch den massenhaften Charakter der Migration und der Tatsache, dass in den betreffenden Ländern viele Familien von Migrationsfällen betroffen waren, führte dies zu der Entwicklung von transnationalen Familien, die die Prozesse im Rahmen der sozialen Felder maßgeblich mitbestimmen und erst in Gang setzen. Sie induzieren Besuche der Heimat und bilden einen Kern des Netzwerks (Han 2005: 73). Des Weiteren ist das Sammelwerk von Smith/Guarnizo zu nennen (1999). Unter dem Titel „Transnationalism From Below“ widmet sich dieser Band der Transnationalität „von unten“, die entgegen der Transnationalität „von oben“ (= globale Kontrolle des Kapitals) wirkt (vgl. Pries 2001a: 52). Ursprünglich für den amerikanischen Kontext angewendet, hat sich der Ansatz der Transnationalität zunehmend für die Betrachtung der europäischen Migrationsprozesse etabliert (vgl. Pries 1997a; Jurgens 2001; Nowicka 2007). Im deutschsprachigen Kontext ist vor allem der Soziologe Ludger Pries zu nennen, der den Ansatz der Transnationalität populär gemacht hat (z.B. Pries 1997a, 2001b). Pries geht davon aus, dass Migranten zunehmend über mehrere räumliche und soziale Bezugspunkte verfügen, da sie in Zeiten der Globalisierung sehr einfach den Kontakt mit ihren Heimatregionen aufrechterhalten können. Pries postuliert, dass die Migranten somit durch gleichzeitige Einbindung in Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft neue, von nationalen Grenzen unabhängige, Transnationale Sozialräume kreieren und eine eigene transkulturelle Identität entwickeln (Pries 2001a: 32f., 2008: 258f.). Diese Annahme der gleichzeitigen Einbindung in verschiedene lokale, regionale oder nationale Kontexte wurde zunächst vor allem auf mobile, hochqualifizierte Arbeitskräfte bezogen, die im Zuge einer internationalen Karriere mehrfach ihren Wohnund Arbeitsort wechseln. Es wird davon ausgegangen, dass diese Gruppe aufgrund einer überdurchschnittlich hohen Ausstattung mit sozialem Kapital berufliche und private Netzwerke über nationale Grenzen hinweg entwickelt und auch im Verlauf der Migrationsbiographie aufrecht erhält (Ilyes 2006: 3f.; Butterwegge 2009: 10; Scheibelhofer 2006). Im weiteren Verlauf wurde der Ansatz der Transnationalität auch für andere Migrationskontexte in Europa populär. Jurgens (2001) hat sich mit Türken in Berlin und deren Bezügen zur Türkei beschäftigt, Fassmann (2003) arbeitete für Polen in Wien ein „Leben in zwei Gesellschaften“ heraus, genauso wie Morokvasic (1994) mit Fokus auf die polnische Pendelmigration und Bezug auf Gelegenheitsjobs. Im von Nowicka (2007) herausgegebenen Sammelband zur Arbeitsmigration in Europa liegt der Fokus auf deutsch-polnischen Migrationsbeziehungen und transnationalen Phänomenen. Oberschlesien geriet u.a. auch in den Fokus (Palenga-Möllenbeck 2007). Die oberschlesienbezogene Transnationalitätsforschung ist dabei vor allem auf ‚neue Arbeitsmigranten‘ der 1990er Jahre und nur am Rande auf die Aussiedler der 1970er und 1980er Jahre ausgerichtet. Hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Palenga-Möllenbeck (2005, 2006a, 2006b, 2007). Sie setzt an dem Zeitpunkt an, als durch die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes Aussiedler aus Ober-
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schlesien nicht mehr im geregelten Verfahren aufgenommen (inkl. aller Hilfsleistungen) und mit einem Vertriebenenausweis ausgestattet wurden. Für diese Gruppe besteht allerdings weiterhin die Möglichkeit zur Einreise nach Deutschland bzw. zur Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit. Entscheidend ist, dass dabei nicht auf die polnische Staatsangehörigkeit verzichtet werden muss. Für die Personen, die eine solche Möglichkeit hatten, war dies dann von Interesse, wenn sie in den 1990er Jahren und später den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt wollten, der anderen Polen zunächst auch nach dem EU-Beitritt Polens verwehrt blieb (PalengaMöllenbeck 2006a: 2096). Palenga-Möllenbeck hat sich mit der dadurch geförderten Entstehung transnationaler Räume beschäftigt. In ihrer Untersuchung zeigt die Autorin, wie die doppelte Staatsangehörigkeit es ermöglicht, Lebensmittelpunkte zu verlagern oder zu spalten. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war es für die betreffenden Migranten möglich, am deutschen Arbeitsmarkt zu partizipieren, ohne den Haushalt in Polen aufgeben zu müssen. Für Palenga-Möllenbeck ist daher eine der entscheidenden Grenzen in diesem Sozialraum keine politische, sondern eine Wohlstandsgrenze (Palenga-Möllenbeck 2006a: 2094). Diese wird im Zusammenhang mit dem einfachen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zur Alltagserfahrung und impliziert in gewisser Weise Zwänge. Jugendliche aus Oberschlesien arbeiten bereits in der Ferienzeit in Deutschland und richten ihre Karrieren auf eine Migration aus. Der Kontakt zu in Deutschland lebenden Angehörigen und die Erfolgsgeschichten der Pendler verstärken zudem die Bereitschaft zur Migration (PalengaMöllenbeck 2006a: 2097). Die Verbindung zur Aussiedlungsphase vor 1989 liegt in den Beziehungen zwischen den Aussiedlern und den in Polen Verbliebenen. Letztere hatten durch zahlreiche Bekannte und Familienkontakte in Deutschland Anknüpfungspunkte für Formen von saisonaler Arbeitsmigration. Diese pendelartige Arbeitsmigration ist in Polen keine Randbewegung, Schätzungen gehen von 230.000300.000 Doppelstaatlern in den Wojewodschaften Schlesien (poln.= śląskie) und Oppeln (poln.= opolskie) aus, von denen ca. 60 Prozent regelmäßig in Deutschland arbeiten. Auch Glorius (2007) hat sich, im Fall der Polen in Leipzig, mit polnischen Arbeits- und Bildungsmigranten der 1990er bzw. 2000er Jahre, aber auch mit Migranten mit einer deutlich längeren Aufenthaltsdauer beschäftigt. Für sie ist der Übergang zu einer stärker durch Pendelbewegungen geprägten Migration eine Folge von verschiedenen Entwicklungen. Die schlechte Arbeitsmarksituation in Polen und die sich nur langsam bessernden Lebensbedingungen waren Push-Faktoren, gleichzeitig ist durch die starke Reglementierung der Immigration und die Implementierung von temporären Arbeitsmigrationsprogrammen in Deutschland diese Form der Wanderung gefördert worden. Sie bezog sich vor allem auf Arbeitsplätze im NiedriglohnSektor, was zudem die Art der Migrationsströme von Polen nach Deutschland änderte. In den Jahren vor 1989 litt die polnische Gesellschaft an einem brain drain, nach 1989 konnten vor allem Wenig-Qualifizierte am Arbeitsmarkt in Deutschland
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partizipieren. Glorius unterscheidet vier Typen innerhalb der temporären Arbeitsmigration: • • • •
Werkvertragsarbeitnehmer (als Beschäftige in einem mittelosteuropäischen Subunternehmen), vor allem im Bauwesen Saisonarbeitnehmer (kurzfristige Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft oder im Hotel- und Gaststättengewerbe) Gastarbeitnehmer (zu Weiterbildungszwecken) Grenzgänger (Pendelbewegung zur Arbeit in Deutschland, allerdings ohne Wohnsitzverlagerung)
Vor allem die Anzahl der Saisonarbeiter umfasste große Migrationsbewegungen. Im Jahr 1994 waren es 251.000 Personen. Diskutiert wurden hier die häufig schwierigen Arbeits- und Lebensumstände der temporären Arbeitsmigranten (Cyrus 1994: 111). Die Kontingente für diese Form der Migration wurden stets den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes angepasst. Die Entwicklung von illegalen Arbeitsformen hat darüber hinaus zur Anpassung der politischen Reglementierungen geführt, wie im Fall der polnischen Pflegehilfen. Abseits dieser temporären Arbeitsformen war es polnischen Migranten nur schwer möglich, legal in Deutschland zu arbeiten (Glorius 2007: 110f.). Die EU-Zugehörigkeit Polens hatte zunächst keine großen Änderungen für das Migrationssystem mitgebracht, da Polen in Deutschland nicht über die volle Freizügigkeit bezüglich des Arbeitens und des Wohnens verfügten. Das neue Zuwanderungsgesetz von 2005 änderte geringfügig Rahmenbedingungen für Hochqualifizierte und Unternehmer, die Fokussierung auf temporäre Arbeitsmigration blieb (Glorius 2007: 112f.). Palenga-Möllenbeck hat für ihre Untersuchungsgruppe, die durch ihre Pendelbeziehung sowohl mit Deutschland als auch mit Polen/Oberschlesien verbunden ist, aufzeigen können, wie komplex Alltagsrealitäten und Identitätsmuster sind und dass diese kaum mit gewöhnlichen Kategorien zu fassen sind. Über klassische Ansätze ist nach Meinung der Autorin kein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen – gerade weil auch die oberschlesische/schlesische Region ein wichtiger Ankerpunkt für die Transmigranten ist und hier zunächst unklar bleibt, wie dieses Konstrukt zu verstehen ist. In jedem Fall ist für die Autorin das „nationalstaatliche Containerdenken“ zu kurz gegriffen (Palenga-Möllenbeck 2005: 228, 2006a: 2099). Zum Thema von Identitätskonstrukten dieser Doppelstaatler ist Palenga-Möllenbeck zu interessanten Ergebnissen bezüglich der Komplexität dieses Forschungsfeldes gekommen und hat Typen oberschlesischer Identitäten im Fall der Pendelmigranten aufgestellt. Der erste Typ wird durch ein „weder noch“-Konstrukt bestimmt, das sich durch eine essentialistische oder eine nicht essentialistische Sichtweise geprägt sein kann. In der ersten Variante wird eine „oberschlesische Identität“ „im ethnischen Sinne
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und in starker Abgrenzung von Deutschen und Polen verwendet“ (PalengaMöllenbeck 2007: 236), in der zweiten ist sie durch nicht-ethnische Kategorien oder mit der Distanz zu nationalen Kategorien gefüllt (z.B. Heimat). Eine dritte Variante dieses ersten Typus ist die, bei der zusätzlich zur „oberschlesischen Identität“ universelle (z.B. „Grenzmensch“) oder europäische Beschreibungen („Europäer“) hinzugefügt werden. Dies zeigt deutlich, wie unterschiedlich eine oberschlesische Identität im Kontext der Transmigration interpretiert werden kann, und dass die Bedeutung räumlicher Bezüge variieren kann. Beim zweiten Typus („sowohl als auch“) beschreiben die Interviewpartner eine Mischung beider nationaler Kategorien (z.B. Deutsch-Pole). Weiterhin benennt die Autorin einen dritten Typ („entweder oder“), bei dem eine Identifizierung über die Wahl einer nationalen Kategorie erfolgt, was zeigt, dass die Herkunft ‚Oberschlesien‘ nicht zwangsläufig Zerrissenheit bedeutet (Palenga-Möllenbeck 2007: 237). Die Autorin resümiert, „dass oberschlesische Migranten ein eher universelles Repertoire von ethnischen Identitätskonstrukten benutzen, die von monolokalen über bi- bis hin zu multilokalen reichen“ (Palenga-Möllenbeck 2007: 239). Für den Fall der Polen in Leipzig präsentiert Glorius (2007) interessante Ergebnisse bezüglich transnationaler Lebenswelten. Bei Glorius wird deutlich, wie Ankunfts- und Herkunftskultur durch verschiedene Alltagsebenen, wie Partizipation in der polnischen Community, virtuelle und körperliche Mobilität ins Herkunftsland sowie Einleben und Bindungen in/an verschiedene lokale Kontexte verknüpft werden. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die je nach Migrationstyp unterschiedlich ausgestalteten Transnationalen Sozialräume eben auch durch Kommunikation aufrechterhalten werden können. Physische Mobilität ist nicht zwangsläufig eine Voraussetzung für die Entstehung dieser Räume (Glorius 2007: 284ff.).
3.3 Ü BERLEGUNGEN ZUR E RFASSUNG T RANSNATIONALER S OZIALRÄUME Transnationale Migration zeichnet sich durch eine Pluri-Lokalität aus, die nicht auf ein bestimmtes Ziel bezogen ist. Die Migranten überqueren dabei mehrfach nationalstaatliche Grenzen und etablieren soziale Bezugspunkte auf beiden Seiten. Im Alltag der Migranten entstehen neue kulturelle Muster und Vergesellschaftungsformen, bestehend aus Elementen der Herkunfts- und Ankunftsregion und einem hybriden Charakter (Glorius 2007: 39f.). Han (2006: 154) spricht hier von einem „vielfachen Involviertsein“. Pries (2001a: 39f.; vgl. auch Pries 2007) hat anhand verschiedener Kriterien transnationale Migration von anderen Migrationsformen abgegrenzt. Zunächst grenzt er Emigranten bzw. Immigranten ab, die nach einem einmaligen Migrations-
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prozess ihren Lebensschwerpunkt verlagern und ‚nur‘ noch lose Kontakte zum Herkunftsgebiet aufrechterhalten. Als zweiten Typen benennt er den Remigranten, der für eine befristete Zeit und mit dem Wissen um seine Rückkehr migriert. Beim Diaspora-Migranten geht die Migrationsentscheidung auf eine religiös oder politisch motivierte Flucht zurück oder wurde durch Organisationen (Kirche, transnationale Unternehmen etc.) initiiert. Der Diaspora-Migrant behält starke Bindungen zum Herkunftsland oder -gebiet und lässt sich kaum auf die Ankunftsgesellschaft ein. Eine Diaspora kann nach Safran (1999: 364f.) als „expatriate minority community“ gesehen werden, die sich im Ausland befindet, Bindungen zum Herkunftsgebiet sowie kollektive Erinnerungen einer verlorenen Heimat pflegt und sich im Gastland nicht vollständig akzeptiert fühlt. Sie sehnt sich daher nach einer Rückkehr. Während der Begriff zunächst nur auf politisch-historisch begründete ‚Idealtypen‘ einer Diaspora und im Wesentlichen auf ihre religiöse Bedeutung bezogen wurde (Smart 1999; Braziel/Mannur 2003: 1), wird er heute z.T. auch auf „transnational communities“ bezogen (Safran 1999: 367). Beim Transmigranten entfällt dieses ‚entweder oder‘. Eine Bindung oder ein Einleben findet jenseits einer Grenzziehung zwischen Herkunfts- und Ankunftsland bzw. Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft statt. Für den Transmigranten gibt es kein echtes Zentrum, auf das alles ausgerichtet ist, sondern gerade der hybride Charakter und das Entstehen von etwas Neuem ist entscheidend. Zudem ist bedeutsam, ob sich die Migranten selbst als entwurzelt und leidend (Mayer 2005: 10) bzw. diskriminiert, ausgeschlossen oder marginalisiert (Clifford 1999: 311ff.) fühlen, so wie es für eine Diaspora angenommen wird (Deffner/Pfaffenbach 2013). Für das ‚Neue‘, das im Fall einer transnationalen Migration entsteht, hat Pries (1996a, 2001a) den Terminus des Transnationalen Sozialraums (TNS)2 eingeführt. Damit umschreibt Pries die Sphäre, in der sich Transmigranten im Alltag bewegen. Ein TNS ist als pluri-lokaler, sozialer Verflechtungszusammenhang zu sehen.3 Pries
2
Goldring (1997: 180) hat für die interpersonalen Beziehungen im Rahmen dieser TNS den Begriff „transnational community“ verwendet, als „(konkretere) Form der Vergesellschaftung“ (Han 2005: 80f.), die nicht mit einem TNS gleichgesetzt werden, sondern vielmehr verschiedene TNS umfassen kann.
3
Pries orientiert sich an der Idee der alltäglichen Lebenswelt nach Schütz, die durch das Wissen der Subjekte konstituiert wird und sich aus einer sozialen Umwelt (raum-zeitliche Koexistenz mit anderen Subjekten) und einer sozialen Mitwelt (andere Sphären, die u.a. einmal zur Umwelt dazugehörten und theoretisch wieder zu ihr gemacht werden können) zusammensetzt (Pries 2010: 34). Diese als fraglos gegeben vorausgesetzte alltägliche Lebenswelt hat sich durch neue technische Möglichkeiten verändert und neue Bezugsräume eingenommen, die sich nun nicht mehr auf einen lokal begrenzten Kontext beziehen. Hierfür können Kontakte zu Verwandten verantwortlich sein, der Traum an einen „besse-
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(2001a) betont, dass hiermit jedoch nicht einfach eine Summe aus Herkunfts- und Ankunftsland zu sehen ist. Er sieht TNS auch nicht als Phänomene, die mit einem einheitlichen Flächenraum ausgedrückt werden können. „Vielmehr sind diese transnationalen sozialen Räume Produkt und Neuschöpfung aus identifikativen und soziostrukturellen Elementen der Herkunfts- und der Ankunftsregion“ (Pries 2001a: 40, Herv. i.O.). In den TNS finden Austauschbeziehungen statt, die „für die alltägliche Lebenspraxis, das Normen- und Wertesystem, die Arbeitsmarkt- und Berufsstrategien, die politischen Einstellungen und Aktivitäten oder die persönlichen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen – kurzum: für alle soziologisch und sozialwissenschaftlich relevanten Aspekte des Lebens – von unmittelbarem Gewicht sind“ (Pries 2010: 15). TNS werden nicht über absolute Distanzen bestimmt, sondern leben von der Relativität ihrer Elemente (vgl. Verne 2012: 18). Pries beschreibt sie als deterritorialisierte Konfigurationen von Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten (Pries 2001a: 53, 1996b: 23) und als neue analytische Raumkategorie, die „sowohl eine wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen und Positionierungen ist, als auch die alltagsweltliche Lebenspraxis, (erwerbs-)biographische Projekte und Identitäten der Menschen strukturiert und gleichzeitig über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweist“ (Pries 1996b: 23). Damit trennt sich Pries zwar von den Nationalstaaten als vorgegebene Bezugsräume, er kommt jedoch nicht ganz ohne fixen Raum1-Bezug aus, indem er als Elemente eines TNS Ankunfts- und Herkunftsregionen benennt. Pries sieht das, was einen TNS ausmacht, zwar nicht als an Grenzen und Nationalstaaten gebunden an, jedoch letztlich irgendwo konkret verankert bzw. nicht ubiquitär (Pries 2001a: 49). Basch et al. betonen in ihrem Werk (2000: 267ff.) unter dem Namen „Nations Unbound“, dass die Grenzen der Nationalstaaten obsolet werden, da ein Teil der Bevölkerung immer wieder oder fast ausschließlich als Transmigranten außerhalb des Staates leben, jedoch starke Beziehungen zum Herkunftsstaat haben und sogar eine wichtige Funktion für diesen Staat und dessen Bevölkerung ausüben können. „Wenn z.B. ein aus Haiti stammender Arzt aus den Einkünften seiner Praxis in New York regelmäßig Geld an seine haitianische Großfamilie überweist und sich ihr wie auch seiner Herkunftsgemeinde und seinem Geburtsland nach wie vor zugehörig fühlt, dann gehört dieser Arzt […] zum haitianischen Nationalstaat, der auf vielfältige Weise auf die nicht auf seinem Territorium lebenden Haitianer angewiesen ist.“ (Pries 2001a: 50) Hier ist allerdings zu hinterfragen, ob es bei diesem Arzt aus Haiti tatsächlich um
ren Ort“ auszuwandern oder der Wunsch, sich an der Bekämpfung einer sozialen Ungerechtigkeit an einem anderen Ort zu beteiligen. Diese Entwicklung ist das, was Pries als Pluri-Lokalisierung bezeichnet und von einer De-Lokalisierung abgrenzt (Pries 2010: 34).
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die Beziehungen zwischen zwei Ländern geht – oder nicht vielmehr zwischen New York und der Herkunftsgemeinde. Für den Nationalstaat Haiti mögen die remittances eine wichtige Einnahmequelle sein, aus der Perspektive des Migranten dürfte jedoch die Versorgung der Familie an erster Stelle stehen. Der Nationalstaat muss für die mobilitätsbezogenen, aber auch emotionalen Bezüge keine Rolle spielen. Die pluri-lokalen sozialen Räume sollten daher nicht aus einer Perspektive betrachtet werden, die vorgefertigte Maßstabsideen impliziert. Pries bedient sich einer konstruktivistischen Perspektive und sieht den Nationalstaat als ein Gedankenkonstrukt an. Den Sozialraum als Lebenswirklichkeit der transnationalen Migranten beschreibt er als entkoppelt von nationalstaatlichen Konstrukten (Glorius 2007: 33) und betont die Wichtigkeit einer Abkehr vom Containerdenken. Das Transnationalitätskonzept geht daher für ihn mit einer Abkehr von politischen Konstrukten wie dem ‚Nationalstaat‘ mit einer angeblich homogenen ‚Kultur‘ einher. Kulturelle Produkte und Praktiken werden genauso wie Identitäten nicht mehr als ortsgebunden gesehen (Han 2005: 83f.). Allerdings bleiben Nationalstaaten wichtige Bezugsgrößen, in der Forschung wird stets die Transmigration zwischen zwei Staaten betont: „Die Transmigranten unternehmen Aktionen, treffen Entscheidungen und entwickeln Aufgaben und Identitäten, die in Netzwerken eingebunden sind und gleichzeitig […] zwei oder mehrere Nationalstaaten […] miteinander verbinden.“ (Han 2006: 154; vgl. Verne 2012: 16) Das Problem liegt nicht in der Auffassung, dass jedes soziale Phänomen irgendwo fest im physischen Raum verankert ist, sondern darin, die transnationale Migration zu sehr als Migration zwischen zwei Staaten hervorzuheben. Aus Migrantenperspektive ist vielmehr anzunehmen, dass hier ganze andere Raumbezüge vorherrschen, was Pries in seiner Forschung (1997b) auch selbst festgestellt hat.4 Wichtig ist, dass für Pries der TNS einen subjektiven und durch Netzwerke, emotionale Bindungen sowie Mobilität kreierten Raum des Handelns darstellt. Pries betont jedoch, dass alles irgendwo im Lokalen verankert sein muss, was nachvollziehbar ist und Zustimmung findet: „This idea has certainly led to a notion of disembeddedness of transnational activities, suggesting that living or acting transnationally means to be delocalized, free of attachment and emplacement. Some researchers soon criticized this, argumenting that transnational migrants are not always in the air but must necessarily touch down somewhere.“ (Verne 2012: 16)
In Bezug auf die geographische Raumdebatte und Weichharts Raumkategorisierung stellt sich nun vielleicht die Frage, wie der TNS nach Pries einzuordnen wäre. Der
4
Pries (1997b: 36) spricht hier von einer stärkeren Entkoppelung von Flächen- und Sozialraum.
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Transmigrant spannt durch sein Handeln einen Transnationalen Sozialraum auf, der letztlich nur für ihn erlebbar sein kann. Der ‚Raum‘ und alles was zu ihm gehört ist daher ein kognitives Produkt. Han schreibt hierzu: Der TNS „bleibt diffus und inhaltlich nicht korrekt. Er kann nicht a priori vorausgesetzt, sondern erst im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Aktivitäten, die die Transmigranten in ihrem konkreten Alltag unternehmen, a posteriori erdacht bzw. vorgestellt (‚imagined‘ im Sinne von Benedict Anderson) werden.“ (Han 2005: 80)
Ein erst durch Handeln geschaffener Raum, der durch eine relativistische Perspektive entsteht, wäre damit am ehesten mit Weichharts Raum4 bzw. Raum6S in Beziehung zu setzen. Denn hier geht es nicht darum, wie ein Subjekt die Welt (Raum1) sieht und durch seine Wahrnehmung eigene Wirklichkeitskonstruktionen (Raum1e) schafft, sondern wie es die Welt mit produziert. Es ergibt sich ein Gesamtkonstrukt, das sich aus vielen einzelnen Konstrukten wie Heimatregionen, Nationalstaaten, beruflichen Zuständigkeitsbereichen u.v.m. zusammensetzt. Für Pries ist entscheidend, dass es bei allen Konstrukten stets einen fixen territorialen Bezugspunkt gibt, der adressierbar ist. Die Stadt New York, in der der haitianische Arzt lebt, ist beispielsweise eine solche Adressenangabe. Inwieweit sie für die Lebenswelt des Arztes wichtig ist, ist eine Frage individueller Wahrnehmungen und Erfahrungen. Das persönliche New York als Lebenswelt wird sicher nicht das administrative Konstrukt ‚New York‘ abbilden. Daher sollten adressierbare Bezugspunkte eines TNS aus der Migrantenperspektive abgeleitet werden. Zwei Maßstabsebenen weiter gedacht, ergibt sich eine ähnliche Überlegung: Welche Rolle kann der Nationalstaat als Konstrukt für eine pluri-lokale Lebenswelt zwischen New York und einer haitianischen Gemeinde spielen? Eine Antwort hierauf kann nur gegeben werden, wenn die Relevanz von Grenzen und Raumkonstrukten rekonstruiert und nicht bereits vorab definiert wird (vgl. Glorius 2007: 34). Nun stellt sich die Frage, wie eine Annäherung an den TNS von Migranten erfolgen kann. Pries hat hierfür analytische Dimensionen festgelegt (Pries 1996a, 1997b), die zumindest eine grobe Orientierung bieten. Zum einen benennt er den politisch-regulativen Rahmen, der transnationale Aktivitäten beeinflusst, z.B. durch Länderabkommen oder die Grenzpolitik. Dieser Analysepunkt bezieht sich damit eher auf Rahmenbedingungen des TNS. Stärker auf die Migranten selbst bezogen ist die Dimension der materiellen Infrastruktur. Sie umfasst die Medien, die den Personen-, Waren- und Informationsaustausch zwischen den einzelnen Orten ermöglichen, die innerhalb des TNS liegen. Dazu gehören IuK und neue Transportmöglichkeiten. Weiterhin zählen auch alle Einrichtungen dazu, die typisch für ethnic communities sind, d.h. die bestimmte Angebote für Migranten einer bestimmten Herkunft anbieten (religiöse Einrichtungen, Geschäfte etc.). Sie sind ganz entschei-
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dend, weil sie Mobilität obsolet machen und die Bedürfnisse abdecken können, die ein Migrant außerhalb des Herkunftskontexts hat. Pries differenziert hier zwischen sozialen Netzen (z.B. religiöse Vereine), professionellen Organisationen (Arztpraxen, Anwaltbüros) und einer sozio-kulturellen Infrastruktur (Sport, Musik, Essen), die nicht nur die ‚Herkunftskultur‘ in der Ankunftsregion sichert, sondern etwas Neues, Hybrides schafft (Pries 1996b: 24). Für die ethnic communities wird angenommen, dass diese wichtige erste Anlaufstellen für Migranten und einen ersten Rückhalt darstellen. Dabei sind sie nicht einfach eine kleinere Kopie der Herkunftsgesellschaft, sondern ein Spezifikum, das von seiner Minderheitenrolle im Ankunftsgebiet beeinflusst wird (Treibel 2003: 191ff.). Wichtig ist jedoch, diese Communities auch kritisch zu betrachten. Nach Pfaff-Czarnecka (2008: 316) werden ethnic communities zumeist etwas vorschnell als homogene Solidargemeinschaften abgestempelt, ohne Raum für Spannungen und Probleme zu lassen. Die dritte Analyseebene ist für Pries die der transnationalen Sozialstrukturen. Hierzu zählen alle Kontakte des Migranten, die letztlich Verbindungen innerhalb des TNS aufspannen. Sie werden durch die (wiederholte) Neustrukturierung von Erwerbs- und Lebensbiographien verändert. Die vierte Ebene sieht Pries in den emotionalen Bezügen, den transnationalen Identitäten, die durch hybride Muster gekennzeichnet sind. Diese sind bedingt durch den dynamischen Charakter der Migration und umfassen das Pflegen bestimmter Praktiken aus dem Herkunftskontext, aber auch neue Einflüsse im Ankunftskontext (Han 2005: 82) bzw. in einem gedachten Übergangskontext (Reisen, Zwischenstopps etc.). Letzterer wird in der Forschung bislang insgesamt vernachlässigt. Auch wenn in der konkreten Analyse alle von Pries vorgeschlagenen Ebenen miteinander verschmelzen, deutet diese Differenzierung einzelner Ebenen auf eine wichtige Grundvoraussetzung für die Betrachtung von transnationalen Lebenswelten hin: Transmigration ist mehr als das bloße Pendeln eines Migranten zwischen Herkunfts- und Ankunftsland. Genau hierauf bezog sich auch häufig die Kritik am Transnationalitätskonzept. Bemängelt wurde, dass es eigentlich keine genaue Definition für Transmigration gibt bzw. dass die bestehenden Definitionen viel Spielraum lassen (Mahler 1998: 74ff.). Wie oft muss ein Migrant zwischen Ankunftsund Ankunftsland hin und her pendeln, damit er ein Transmigrant sein kann? Muss er überhaupt pendeln? Problemlos ist das Konzept auf Idealtypen wie hochmobile Manager anwendbar. Was ist aber mit Migranten abseits dieser Idealformen? Was ist mit denjenigen, die sich Transportkosten nicht leisten können, jedoch Skype zur Verfügung haben (vgl. Glorius 2007: 31)? Mahler (1998: 74ff.) betont, dass für viele Migrationssysteme, wie etwa im karibischen oder mexikanischen Kontext, erst physische Mobilität Formen multipler Zugehörigkeiten entstehen lässt. Allerdings stellt die Autorin berechtigterweise die Frage, ob nicht auch andere Mobilitäten einen TNS bestimmen können:
50 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER ZUGEHÖRIGKEIT „What I ponder is the role of bodily mobility in this conceptualization. Can transmigrants be ‘bifocal’ if they, themselves, do not move between ‘home’ and ‘host’ countries? What about the impact of the flows of things not bodies, such as letters, videos, remittances, specialty foods and so on? Are the face-to-face contacts made possible by bodily movement more intense, more important to the development and perpetuation of transnational social fields and bifocal identities than the faceless ties of remittances – the movement of embodied not bodily ties?“ (Mahler 1998: 77, Herv. i.O.; vgl. auch Hühn et al. 2010: 29)
Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein TNS nicht nur über Mobilität aufrechtgehalten werden muss. Jurgens (2001: 107) hat für Türken in Berlin festgestellt, dass nicht Mobilität, sondern sogenannte „imagined relationships“ entscheidend sind. Die analytischen Ebenen nach Pries weisen ebenfalls drauf hin, dass nicht nur die physische Mobilität der Migranten entscheidend sein muss, sondern gerade über die Netzwerke und Identitätskonzepte Bindungen aufgebaut werden, die den TNS ausmachen und vor allem konstituieren. Insbesondere durch die neue IuK ist ein intensiver Austausch auch ohne physische Mobilität möglich und dies erzeugt ein „global togetherness“ (Greschke 2008: 275), auch wenn zu diskutieren ist, inwieweit dadurch face-to-face-Kontakte kompensiert werden können (vgl. Nowicka 2008). In diesem Zusammenhang müssen auch die neuen Möglichkeiten der Raumüberwindung (Transportnetze, IuK) richtig eingeordnet werden. Dass neue Transportmöglichkeiten existieren heißt nicht, dass sie sich jeder leisten kann. Die Nutzung moderner Kommunikationsmittel darf zudem nicht nur als Einstieg in das „globale Dorf“ (vgl. Appadurai 1990: 2) gesehen werden, sondern eventuell auch als unbefriedigende Alternative zur physischen Mobilität, wenn letztere aus organisatorischen, finanziellen oder gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist (vgl. Pfaff-Czarnecka 2008: 316). Vor diesem Hintergrund sollte die Transnationalität abseits großer Pendelbewegungen nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings ist bei der ‚Ausdehnung‘ des Transnationalisierungsbegriffs und der Leichtigkeit, mit der Transnationalität scheinbar möglich ist, die von Pfaff-Czarnecka (2008) in ihrem gleichnamigen Beitrag aufgeworfene Frage mehr als berechtigt: „Are We All Transnationalists Now?“ (vgl. auch Pries 2010) Es ist unstrittig, dass Nationalstaaten als Konstrukte existieren und wichtige Einflussfaktoren für rechtliche Grundlagen, aber auch für Identitäten darstellen (Hühn et al. 2010: 32). So schreibt Peggy Levitt zu Migranten aus Miraflores in Boston: „In Boston, Mirafloreños have re-created their premigration lives to the extent that their new physical und cultural environments allows.“ (Levitt 2001: 3) Levitt deutet hiermit an, dass die Bildung von TNS nicht losgelöst von Strukturen und Kontexten erfolgen kann, sondern immer aus ihnen heraus entsteht. Es geht letztlich nur um das, was Pries für die Forschungsperspektive der TNS auch selbst
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betont: Es können demnach „weder der Nationalstaat und die Nationalgesellschaft noch die Weltgesellschaft als Ganzes einfach als die relevanten Bezugseinheiten der Forschung vorausgesetzt werden.“ (Pries 2010: 10, Herv. i.O.) Nach Pries geht es in der Transnationalitätsforschung darum, die Bezugseinheiten und die räumlichzeitliche Entität eines TNS erst zu rekonstruieren, während bei Studien zu internationalen Vergleichen Nationalgesellschaften als Bezugseinheiten vorab existieren (Pries 2010: 27). In diesem Zusammenhang wurde verstärkt die Fokussierung auf Lokalitäten postuliert (Brickell/Datta 2011). Die Bedeutung der Lokalität für transnationale Prozesse war jüngst auch der Anlass für Erweiterungen des Transnationalitätskonzepts (Verne 2012: 16). Oßenbrügge (2004: 17) etwa schlägt vor, den Begriff Transnationalität durch PluriLokalität zu ersetzen, um sich vom Nationalstaat als vorgegebene Maßstabsebene wegzubewegen. Featherstone et al. (2007: 385) betonen, dass Transmigranten trotz ihrer Bewegung in einem TNS stets vor Ort eingebettet seien, und dass sie diesem Zustand nicht entfliehen könnten. Mehr noch seien die Lokalitäten Schauplätze einer Transnationalität, da beispielsweise Identitäten nicht nur über ein Herausgerissen-Sein oder über Mobilität definiert werden können, sondern stets irgendwo verankert sein müssen (Brickell/Datta 2011: 3 ff.). In diesem Zusammenhang erscheint auch immer wieder der Ausdruck der „global villages“, die sich über verschiedene Lokalitäten erstrecken (Pries 1997b: 17). Aus diesen Überlegungen heraus richtet das jüngst populär gewordene Konzept der Translokalität die Aufmerksamkeit auf „local-to-local spatial dynamics“ zwischen „localised lifeworlds in faraway sites“ (Ma 2002: 131, 133). Translokalität erweitert den Fokus auf immaterielle Prozesse und wird von Freitag/von Oppen daher beschrieben als „sum of phenomena which result from a multitude of circulations and transfers. It designates the outcome of concrete movements of people, goods, ideas and symbols.“ (Freitag/von Oppen 2010: 5) Der Translokalitätsansatz betont damit vor allem, dass die transnationalen Netzwerke irgendwo lokal aufgespannt und gepflegt werden (Brickel/Datta 2011: 3). Die Abkehr von der nationalstaatlichen Betrachtungsebene wird dabei als notwendig für ein besseres Verständnis von einem lokalen Leben gesehen. Nach Appadurai (1996) verläuft das lokale Leben über Räume abseits oder quer zu Grenzen und nationalstaatlichen Konstrukten. Es kann also nur erfasst werden, wenn es unabhängig betrachtet wird. Der Vorteil einer stärkeren Berücksichtigung des Lokalen wird auch darin gesehen, dass diese Betrachtungsweise offener und weniger linear ist. Sie versucht nicht alles an den starren Grenzen der Nationalstaaten festzumachen, sondern über eine multiskalare Analyse das Spannungsfeld aus Bewegung und Ordnung zu erforschen. Translokalität betrachtet nicht nur Prozesse, die nationenübergreifend stattfinden, sondern auch solche in einzelnen Staaten (zwischen Städten, Regionen etc.), die zuvor im Rahmen der Transnationalitätsdebatte untergegangen sind. Sie untersucht auch nicht unbedingt das, was am Ankunfts- und Zielort passiert, sondern auch das, was dazwischen ist. Dazu gehören die bereits
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erwähnten Übergangsräume (Flughäfen, Zwischenstopps etc.) (Freitag/von Oppen 2010: 6ff.). Zudem geht es auch um den Teil der Alltagswelt, der nicht durch Mobilität gekennzeichnet ist, aber durch sie und damit durch andere lokale Kontexte beeinflusst wird (Brickel/Datta 2011: 4). Brickel/Datta (2011: 3, 10) beschreiben den Translokalität-Ansatz daher als agency-orientiert und letztlich als Gesicht des „Transnationalism From Below“. Allerdings steckt, so Verne (2012: 17), hinter Translokalität nicht immer eine Perspektiverweiterung, sondern manchmal das, was vorher unter dem Deckmantel der Transnationalität betrachtet wurde. So führt der Ruf nach einer stärkeren Berücksichtigung der lokalen Prozesse nicht immer zu einer Abkehr von starren Nationskonstrukten (Brickel/Datta 2011: 3). Letztlich kommt es nicht so sehr auf die Begrifflichkeiten an, sondern darauf, die Forschung zu Migration und ihren Folgen offener und frei von räumlichen Vordefinitionen zu gestalten. Und genau diese Überlegung stellt einen wichtigen Grundsatz der empirischen Forschung im Rahmen dieser Arbeit dar.
3.4 Z WISCHENFAZIT In den letzten Jahrzehnten sind weltweit verstärkt ‚neue‘ Migrationsformen aufgetreten, die von den klassischen Mustern einmaliger Wanderungsbewegungen abweichen, jedoch auch nicht der Re- oder Diasporamigration zugeordnet werden können. Pluri-Lokalität kennzeichnet die Lebenswelten solcher Migranten, die ihre Bindungen zum Herkunftskontext nach der Migration nicht abbauen, sondern erhalten bzw. ausbauen. Zudem ergab sich beispielswiese durch die Pendelmigration von Arbeits- und Bildungsmigranten und das Aufkommen globaler ‚Nomaden‘ in der modernen, von Arbeitsteilung geprägten globalen Ökonomie ein völlig neuer Blick auf die Beziehung zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext, die im Fall dieser Migranten zu einem Aktionsfeld verschmelzen. Für das Erfassen alltäglicher Lebenswelten, die durch Pluri-Lokalität gekennzeichnet sind, bietet sich die Perspektive der Transnationalität an, deren Ausrichtung allerdings einiger Konkretisierungen bedarf. Transnationale Sozialräume als Forschungsobjekte müssen ohne vordefinierte physische Bezugsräume betrachtet werden. Was Transnationalität im konkreten Fall bedeutet kann nicht auf Mobilitätsprozesse zwischen zwei Nationalstaaten reduziert werden. Von diversen Autoren wird ein Perspektivwechsel gefordert. Dieser kann jedoch nicht über neue Bezeichnungen erreicht werden, sondern nur durch inhaltliche Ausrichtungen der Forschung. Diese impliziert, dass •
der Schwerpunkt einer Forschung nicht die Grenzüberschreitung (national, regional etc.) sein sollte. Migranten werden nicht erst dann zu Transmig-
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ALLTÄGLICHER
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ranten, wenn sie nationale Grenzen selbstständig, d.h. physisch und dann auch noch häufig überqueren. Nicht der Grenzübertritt an sich muss Folgen für Identitäten, Netzwerke und Integrationsfragen haben, sondern die physische und geistige Bewegung innerhalb eines TNS. Der Schwerpunkt eines TNS sollte sich daher nicht an nationalstaatlichen Gliederungen der Erde orientieren und nicht vorab physisch fixiert werden. Er wird nicht nur durch Bewegung erzeugt, sondern durch Handeln allgemein. Dazu gehören auch Denken, Sprechen und Fühlen. den lokalen Prozessen und Orten, von denen Transnationalität ausgeht, in denen sie produziert wird und ihre Folgen sichtbar werden, mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dazu müssen auch die alltagsrelevanten Handlungen betrachtet werden, die zunächst scheinbar nichts mit Transnationalität zu tun haben. Transnationalität mehr ist als eine pendelartige Bewegung und auch andere physische Bewegungen (Briefe, Paketsendungen, Geldsendungen) und immaterielle Beziehungen (Kontakte durch IuK, Identitäten und Zugehörigkeiten) umfasst. transnationale Identitäten in ihrer Komplexität untersucht werden müssen und nicht nur mit nationalen Kategorien (z.B. Deutsch-Türke, Polendeutscher) erfasst werden dürfen. Bei der Rekonstruktion von Raumbezügen geht es darum, die Ordnung von Lebenswelten aus der Migrantenperspektive herzuleiten und zu verstehen. der Bedeutung der einzelnen Stationen im TNS mehr Aufmerksamkeit zu schenken ist. Dabei gilt zum einen, dass nicht pauschal in einen Ankunftsund Ankunftsort differenziert werden soll, sondern Platz gelassen werden muss für alle anderen Orte, und zum anderen der Fokus nicht auf der Mobilität liegen sollte, sondern auf den Folgen für die lokalen Kontexte.
4. Oberschlesien: Politisches Produkt und identitätsstiftendes Phänomen
Nachdem eine Diskussionsbasis für Raumbezüge im Kontext transnationaler Lebenswelten hergeleitet wurde, wird nun das konkrete Beispiel Oberschlesiens diskutiert. Um die Einordnung von Raumbezügen in den Lebenswelten der oberschlesienstämmigen Aussiedler zu ermöglichen, ist die Rekonstruktion der ‚Region Oberschlesien‘ in historischer und aktueller Perspektive notwendig; auch weil das Geschichtsbewusstsein der interviewten Aussiedler eine wichtige Funktion für die Definition und Abgrenzung von Oberschlesien im Alltag hat. In diesem Kapitel wird aufgezeigt, wie Oberschlesien über eine Zeitspanne von hundert Jahren von verschiedenen Akteuren und auf unterschiedlichen Ebenen konstruiert und instrumentalisiert wurde. Vorab ist anzumerken: Auch wenn nicht eine ‚Realität‘, sondern ein Konstrukt vorgestellt wird, kommt der Autor nicht ohne einen begrifflichen Konsens aus. Es wird von einem Oberschlesien die Rede sein, dessen Grenzen sich verschieben, dessen Bevölkerung migriert, und dessen Geschichte für innerpolnische Konflikte sorgt. Damit orientiert sich der Forscher hier scheinbar zunächst an einem Raumverständnis, das sich an ‚objektive‘ Raumstrukturen anlehnt (Weichhart 2008: 78). Es könnte vermutet werden, dass es letztlich nur darum geht, migrantische Konstrukte mit einer ‚echten‘ Vorlage zu vergleichen. Doch beim begrifflichen Konsens ‚Oberschlesien‘ handelt es sich lediglich um eine Adressangabe (ebd.: 77). Und diese hat Relevanz, weil sie politisch und medial auch heute noch immer wieder neu konstruiert wird, weil sie Migrationsströme in ihrer rechtlichen Ausgestaltung steuerte und weil sich eine bestimmte, letztlich physisch-räumlich undefinierbare Menschengruppe dieser Adressangabe bedient, um sich selbst zu positionieren und andere auszugrenzen. Dies legitimiert die Auswahl oberschlesienstämmiger Aussiedler als Migrantengruppe und damit eine Orientierung an einem mehr oder wenigen konkreten Erdausschnitt. Entscheidend ist, auf der Subjektebene zu bleiben und nicht durch den ‚regionalen‘ Zugang den Fehler zu begehen, unreflektiert von oberschlesischen Migranten zu sprechen. Dass von Migranten aus Oberschlesien ge-
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sprochen wird, heißt nicht, dass dieses auf historischen Grenzen basierende Herkunftsgebiet das im Einzelnen subjektiv konstruierte Herkunftsgebiet sein muss. Auf der anderen Seite sind politisch motivierte Raumkonstrukte häufig identitätsstiftend, indem sie die Basis für (kollektive) Phänomene innerhalb raumbezogener Identitäten darstellen. Es geht daher nicht um den Vergleich zwischen der ‚Realität Oberschlesien‘ mit ‚realen‘ Grenzen, Kulturen und Eigenschaften und dem subjektiv wahrgenommenen Oberschlesien in den Köpfen der Migranten, sondern um die Produktion des Raumes in migrantischen Alltagswelten. Es gibt keine ‚natürlichen‘ Grenzen oder ‚natürliche‘ Attribute. Oberschlesien ist damit, wie Weichhart allgemein für Raum1-Konstrukte festhält, eine sprachliche Konvention (vgl. Weichhart 2008: 90f.). In historischen Werken wird Oberschlesien im Allgemeinen mit dem Regierungsbezirk Oppeln in der preußischen Provinz Schlesien1 gleichgesetzt. Damit meinen viele Autoren eine ‚wirkliche‘ und verlässliche Ausgangsbasis für Analysen sozialer Prozesse in diesem heutigen Teil Polens gefunden zu haben. Die Provinz Schlesien bestand ab 1816 als eine von neun Provinzen im Königreich Preußen (Lesiuk 1995: 27). Nach dem Plebiszit 1921 kam es zu der bedeutenden Teilung des bis dahin verwaltungstechnisch vereinten Oberschlesiens, das seitdem raumordnerisch nur noch in Übergangsphasen als administrative Einheit existierte. Dennoch ist Oberschlesien als Begriff nicht gänzlich verschwunden, sondern hat in Polen sogar eine Renaissance erfahren. Allerdings zeigt er sich in seinem semantischen Umfang zunehmend diffus und hat häufig nicht mehr allzu viel mit einem historischen Regierungsbezirk aus preußischer Zeit zu tun. Oberschlesien ist damit ein gutes Beispiel für die Konstruktion und Konstitution einer Region über mehrere hundert Jahre. Das historische Oberschlesien2 war zum einen im östlichen Teil von einer intensiven Industrialisierung geprägt (vgl. Exkurs „Industrialisierung in Ost-Oberschlesien“) und bildet seit langer Zeit das industrielle Zentrum Polens – mit all den ökologischen und sozialen Folgen. Der westliche Teil des historischen Oberschlesiens ist landwirtschaftlich und kleinstädtisch geprägt.
1
Je nach Kontext wird Österreichisch-Schlesien, das nach der Teilung Schlesiens 1742 bei Österreich verblieb, entweder zum historischen Oberschlesien hinzugezählt oder nicht berücksichtigt.
2
In Folge wird für das Konstrukt ‚Oberschlesien als Regierungsbezirk in Preußen‘ die Bezeichnung ‚historisches Oberschlesien‘ verwendet, wobei Österreichisch-Schlesien mit eingeschlossen ist.
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Exkurs: Industrialisierung in Ost-Oberschlesien „53 Kohlegruben – von ehemals 67 – und 24 Hütten, die Eisen, Stahl und Buntmetalle kochen, geben der ganzen Woiwodschaft ein spezielles schwerindustrielles Gepräge. Hunderttausende Kumpel und Industriearbeiter leben hier mit ihren Familien. Die Fördermengen an Steinkohle […] betrugen die ganzen 1990er Jahre hindurch jährlich 130 Millionen Tonnen. […] Neben dem gesamten Steinkohlebedarf Polens stammen von hier auch 100% der Zink- und Bleiproduktion; 70% des benötigten Kokses und 55% des Stahls werden im Revier erzeugt.“ (Bartosz/Hofbauer 2000: 176f.) Bereits Ende des 18. Jahrhunderts setzten in und um die Stadt Kattowitz herum erste Industrialisierungstendenzen ein, insbesondere durch die breiten Kohlevorräte, aber auch Blei- und Zinkerze sowie Eisenerze. 1851 arbeiteten bereits 25.000 Personen im Bergbau und Hüttenwesen, bis 1911 stieg die Anzahl auf 191.000 (Walerjański 2010; Rajman 1992: 13; vgl. auch Pakuła 1996). Die Kohle aus Oberschlesien war stets und unabhängig von der politischen Zugehörigkeit der Region die wichtigste Energiequelle und zudem Devisenbringer. Aufgrund ihres hohen Brennwertes und der geringen Tiefe der Flöze war sie besonders attraktiv. Nach 1870 entstanden große Wohnquartiere nahe der Industrieanlagen, welche die Siedlungsstrukturen bis heute prägen (Welfens 1989: 360) (vgl. Abb. 2, Bergbausiedlung Nikiszowiec in Kattowitz). Das oberschlesische Industriegebiet rund um Kattowitz, was nach 1945 auch als Górnosląski Okręg Przemysłowy (GOP, deutsch= Oberschlesisches Industrierevier) bezeichnet wurde, war auch nach 1945 das wichtigste Industriegebiet Polens. Nach der Verstaatlichung der Betriebe wurden diese einer zentralen Planungsstelle unterworfen. Auf Kosten der Lebensqualität und vor allem der Umweltverträglichkeit wurde die Produktion im GOP immer stärker ausgebaut. Die Bevölkerung wuchs von 1946-1988 von 1.908.000 auf über vier Mio. Einwohner. Die Folge dieser starken Verdichtung waren starke Umweltschäden. Der Umweltschutz wurde zwar offiziell gesetzlich verankert, aufgrund der damit verbundenen Kosten jedoch häufig nicht umgesetzt. Die Luft- und Wasserverschmutzung erreichten ein hohes Niveau. Die Säuglingssterblichkeit und das Auftreten von Lungen- und Krebserkrankungen im GOP lagen weit über dem Landesdurchschnitt. Bemerkbar machten sich auch fehlende Investitionen in Innovationen und wenig nachhaltige Wirtschaftsweisen. Dort wo Kohle unterhalb von Wohngebieten gefördert wurde, wurden die leeren Stollen nach dem Abbau oftmals nicht adäquat mit Versatz gefüllt. Aufgrund von Bodenabsenkungen wurden bis Ende der 1980er Jahre 37.000 Wohnungen zerstört (Rogall 2004: 197; vgl. auch Kühne 2003: 58). Was die Luftverschmutzung angeht, war das GOP bereits 1950 die am stärksten belastete Industrieregion Europas (Kühne 2003: 54). Die starke Konzentration von industrieller Produktion und das daraus
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folgende Umweltproblem verliehen dem oberschlesischen Industriegebiet ein negatives Image. So wurde vom „schmutzigen Dreieck Zabrze-ChorzówSiemianowice-Bytom-Ruda Śl.“ gesprochen (Rajman 1992: 17). Abbildung 2: Bergbausiedlung in Nikiszowiec
Quelle: Eigene Aufnahme, Juni 2011
Paradoxerweise fehlte es in Polen nach 1945 vor allem in Oberschlesien an Kohle. Dies lag daran, dass ein nicht unbedeutender Teil der Abbaumenge an den „großen Bruder“ in der Sowjetunion exportiert werden musste (Bartosz/Hofbauer 2000: 130f.). Oberschlesien blieb in der kommunistischen Ära Polens in vielerlei Hinsicht rückständig, vor allem was Infrastruktur und Ökologie anging. Der Diskurs von der vermeintlichen ‚Ausbeutung‘ Oberschlesiens durch die Zentralregierung und die ‚Freunde‘ in Russland basiert vor allem auf der starken Förderung der Kohle nach dem Zweiten Weltkrieg. Kohle blieb bis 1989 der Standortfaktor Oberschlesiens. Wie in der DDR und anderen ehemaligen Ostblockstaaten brach dieser Wirtschaftszweig 1989 zusammen. Der Strukturwandel, wie er in westeuropäischen frühindustrialisierten Regionen angekurbelt wurde, kam in Oberschlesien aufgrund fehlender Investitionen zunächst nicht in Gang (ebd.: 133). Im Jahr 2000 wurden nur noch 75 Prozent der Fördermenge aus dem Jahre 1995 und 53 Prozent aus dem Jahr 1980 produziert. Die Anzahl der Zechen und Hütten- sowie Stahlwerke ging somit zurück, im Bergbau wurden zudem viele Standorte modernisiert, was ins-
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gesamt einen Abbau der Arbeitsplätze zur Folge hatte. Dennoch waren Ende der 1990er Jahre immer noch 285.000 Arbeiter im Bergbau tätig (Kühne 2003: 54; Rajman 1992: 14; Pakuła 1997: 3). Mit dem Rückgang der Produktion veränderte sich auch die Umweltprobleme. Vor allem die Staubemissionen konnten reduziert werden, das Niveau der industriellen Gasemissionen ist jedoch hochgeblieben. Eine Folge der veränderten Emissionsstruktur ist eine starke Versauerung der Niederschläge, was eine Mobilisierung bereits absorbierter Schwermetalle zur Folge hat. Diese gelangen nun wieder in die Nahrungskette und in das Grundwasser. Daher kann auch nicht von einer Verringerung der Umweltprobleme die Rede sein (Kühne 2003: 59; vgl. auch Welfens 1989: 360). Umfangreiche Sanierungen und Gegenmaßnahmen sind nötig, die jedoch teuer und aufwendig sind. Das verringerte Staubproblem ist für die Bevölkerung in jedem Fall ein Zeichen der Besserung, auch weil sich andere, ‚unsichtbare‘ Umweltprobleme leichter ignorieren lassen (Kühne 2003). Im Rahmen des Strukturwandels versucht die Wojewodschaft Schlesien (poln.= śląskie) seit einigen Jahren die Entwicklungen im Ruhrgebiet nachzuahmen und die industrielle Geschichte zu vermarkten. Flächenrevitalisierungen und museale Nutzungen von Industrieanlagen werden mehr und mehr zu einem Thema. Zum anderen gilt Oberschlesien aus historischer, aber auch aktueller Perspektive als politischer Problemfall. Die langjährige politische Zugehörigkeit zum Deutschen Reich schuf nach der etappenartigen Angliederung an Polen Minderheiten und soziale Spannungen. Separatistische Bewegungen prägen die Region seit vielen Jahrzehnten; heute ist das Thema aktueller denn je. Bei den vergangenen Kommunalwahlen in Polen zog die „Bewegung für die Autonomie Schlesiens“ erstmals in das Regionalparlament der Wojewodschaft Schlesien ein (Waszak/Zbieranek 2011: 5). Oberschlesien wird hierbei einerseits politisch instrumentalisiert sowie als eigenständiger ‚Kulturraum‘ und identitätsstiftendes Phänomen gepriesen. Andererseits ist Oberschlesien für alle Beteiligten nur schwer greifbar, was bei der Abgrenzung der Region zu Missverständnissen führt. Durch die raumordnende Zersplitterung und Heterogenität fällt die ganzheitliche Erfassung Oberschlesiens als Raumeinheit schwer. So sind in der Literatur zum einen häufig unterschiedliche Grenzziehungen zu beobachten, so dass sich Forschungsergebnisse für Oberschlesien häufig auf Teile des historischen Oberschlesiens beziehen (Tambor 2011: 28). Zum anderen herrscht bei der Bezeichnung ‚Oberschlesien‘ oftmals Verwirrung, besonders im alltäglichen Gebrauch und vor allem in der deutsch-polnischen Übersetzung. Das polnische „Górny Śląsk“ (= Oberschlesien) wird eher selten verwendet und durch „Śląsk“ (= Schlesien) ersetzt, das aber mit dem Industriegebiet um Kattowitz assoziiert wird, während im Deutschen ‚Schlesien‘ eher als Summe von Ober- und Niederschlesien gilt. In Polen orientiert sich zudem heute ohnehin vieles an den Be-
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zeichnungen der Wojewodschaften, wie es beispielsweise beim Regionalmarketing der Fall ist. Einige Autoren sprechend daher von einer räumlichen „Undefinierbarkeit“ Oberschlesiens (vgl. Nawrocki 1993) und führen diese auf die Entwicklungen der letzten einhundert Jahre zurück. Das Gebiet wurde in dieser Zeit mehrfach unter den Nachbarstaaten aufgeteilt. Ganze Bevölkerungsgruppen – und damit sind je nach Phase mehrere 100.000 Menschen gemeint – wurden infolge politischer Veränderungen umgesiedelt oder vertrieben. Ständige Grenzverschiebungen, politische Propaganda im Zuge der Nationalitätenpolitik auf deutscher sowie polnischer Seite und eine Durchmischung verschiedener Bevölkerungsgruppen prägten Oberschlesien über viele Jahrzehnte (Tambor 2011: 28). Bohmann (1969: 116) spricht aufgrund der besonderen Lage und kulturellen Entwicklung Oberschlesiens von der Herausbildung eines „schwebenden Volkstums“, das sich zwischen den beiden nationalen Kategorien „Deutschland“ und „Polen“ befindet. Vor allem die Teilung im Jahr 1922, bei der ein Teil Oberschlesiens beim deutschen Staat blieb und ein anderer Polen zugesprochen wurde, prägte das Gebiet in hohem Maße. In Polen wurde Oberschlesien ab diesem Zeitpunkt mit dem in Polen verbliebenen Teil gleichgesetzt, in der deutschen Literatur wurde dieses Gebiet Ost-Oberschlesien genannt. Der im Deutschen Reich verbliebene Teil wurde vor allem als Oppelner Schlesien bezeichnet. Die neu geschaffenen Verwaltungsgrenzen in der VR Polen im Jahr 1950 orientierten sich an dieser Differenzierung.
4.1 H ISTORISCHER ABRISS
BIS
1945
Spätestens seit dem Ende des letzten vorchristlichen Jahrhunderts war Schlesien3 geprägt durch Germanen (Gruppe der Lugier bzw. Wandalen, ab dem 3. Jhd. bis zum 6. Jhd. vor allem durch den Namen der Silingen). Ab dem 6. Jhd. wanderten Slawengruppen nach Schlesien. Es kam zu einer Durchmischung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Noch bevor sich eine ernsthafte Gebietsorganisation ausbilden konnte, setzten andauernde, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den angrenzenden Mächten Polen und Böhmen um die Vormachtstellung in Schlesien ein. Diese befanden sich im 10. Jhd. auf dem Weg der Staatsbildung (Bahlcke 2004: 22). Teile von Schlesien gerieten dabei immer wieder zum Spielball der Auseinandersetzungen und wurden erobert. 1137 wurden die Kämpfe mit dem Pfingstfrieden von Glatz beendet. Böhmen verzichtete auf die Hoheit über Schlesien. Nach dem Tod des polnischen Herzogs Bolesław III. 1138 zerfiel Polen in einzelne Teile. Schlesien löste sich schließlich von Polen und wurde unabhängiges Herzogtum (1202). Im Anschluss wurde Schlesien immer stärker an Böhmen angeschlossen
3
Hier am ehesten als Summe von Ober- und Niederschlesien zu fassen.
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und durch die deutsche Ostkolonisation sowie innerschlesische Spaltungen4 geprägt (ebd.: 22ff.). Im weiteren Verlauf fiel Schlesien nach dem Ersten Schlesischen Krieg 1742 größtenteils an Preußen (ebd.: 74ff.). Oberschlesien wurde hier zum Regierungsbezirk Oppeln innerhalb der Provinz Schlesien (ab 1815, vgl. Abb. 3). Polen wurde derweil ab 1772 unter den Nachbarmächten aufgeteilt. Abbildung 3: Provinz Schlesien in Preußen
Quelle: Eigene Darstellung
4
Hier wird in der Geschichtsschreibung auch schon ein eigener Weg Oberschlesiens beschrieben: „Doch schon im gleichen Jahr [1202, Anm. M.O] führten neue innerschlesische Machtkämpfe […] zu einem Teilungsvertrag, der das Erbrecht zwischen der Breslauer und der Ratiborer Fürstenlinie aufhob. Der Vertrag legte den Grundstein für eine eigenständige Entwicklung des oberschlesischen Raumes. Seine Fürsten, die sich bis in das 14. Jahrhundert hinein Herzöge von Oppeln […] nannten, entwickelten ein eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl. Von den in Mittel- und Niederschlesien regierenden Piasten, die den Titel Herzöge von Schlesien […] führten, grenzten sie sich deutlich ab.“ (Bahlcke 2004: 23)
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Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erlangte Polen nach fast 120 Jahren seine eigene Staatsexistenz zurück und stellte erhebliche territoriale Forderungen, wohlwissend, dass die drei Teilungsmächte Deutschland, Russland und auch Österreich zu den Verlieren des Ersten Weltkrieges zählten (Hager 1980: 32). Sowohl Deutschland als auch Polen beanspruchten das oberschlesische Gebiet für sich. Oberschlesien verfügte über wichtige Ressourcen und war bereits ein wichtiger Standort für die Industrialisierung Preußens gewesen (Fuchs 1985: 7). Große Teile der Bevölkerung in Oberschlesien setzen sich indes für die Unabhängigkeit ein (Lubos 1974: 193). Das nach 1918 gegründete „Oberschlesische Komitee“ wehrte sich gegen eine Aufteilung des Territoriums zwischen Deutschland und Polen. Aus dem „Oberschlesischen Komitee“ entwickelte sich der „Bund der Oberschlesier“, der sich nach seiner Gründung für eine oberschlesische Nation aussprach und die Oberschlesier als eigenblütiges Volk mit slawo-germanischer Blutmischung beschrieb. Dieser Versuch scheiterte jedoch rasch, obwohl diese Bewegung kurzzeitig ca. 350.000 Anhänger hatte. Die Alliierten, Polen und Deutschland stimmten derweilen einem weiteren Freistaat (neben Danzig) nicht zu (Irgang et al. 1998: 210f.; Ther 2002: 175f.). Die Frage nach der Zugehörigkeit sollte schließlich durch die Bevölkerung selbst entschieden werden. Infolge des Versailler Vertrages veranlassten die Alliierten eine Abstimmung über die nationale Zugehörigkeit (Thomsen 1992: 9). Auf den ersten Blick schien diese Option ein demokratischer Fortschritt zu sein. Allerdings ist auch klar, dass eine Grenzziehung, die Staaten mit einer – was die Wahlentscheidung angeht – homogenen Bevölkerung hätte entstehen lassen können, unmöglich war (Dralle 1991; vgl. Campbell 1970). In Anlehnung an den historischen Wendepunkt des Plebiszits wird von Historikern oftmals die Frage gestellt, zu welcher Nation Oberschlesien eigentlich gehörte (vgl. Hauser 2000; Michalczyk 2008). Die polnische und deutsche Historiographie wiesen in der Vergangenheit Interpretationsunterschiede auf und schufen so jeweils mehr oder weniger ein eigenes Konstrukt der oberschlesischen Geschichte. Die deutsche Geschichtsschreibung verweist darauf, dass Oberschlesien seit 1335 zu Böhmen gehörte und damit auch zum Römischen Reich deutscher Nation. In Polen wiederum wurden stets die Beziehung Oberschlesiens zum polnischen Piastenstaat und die Bedeutung der slawischen Komponente in der kulturellen Entwicklung Oberschlesiens dargestellt (Hawranek 1989: 43; Graus 1975: 43ff.; Schlesinger 1975: 15; vgl. Bździach 1995). Nach polnischem Verständnis war die Mehrheit der oberschlesischen Bevölkerung slawischer Herkunft und von einem langanhaltenden Germanisierungsprozess betroffen (Hager 1980: 19). Tatsächlich haben sich über Jahrhunderte ‚kulturelle‘ slawische Komponenten erhalten, was Bohmann (1969: 116) zum Begriff des „schwebenden Volkstums“ führt, also einer Bevölkerung die sich sprachlich, ‚kulturell‘ und identitätsbezogen zwischen verschiedenen Volkstümern befindet. In der Literatur werden der Eintritt in die Geschichte und die Meilensteine der weiteren Entwicklung gerade
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so gewählt, wie es für die jeweilige Argumentation passt (Bździach 1995: 12). In polnischer Standardliteratur zur Entwicklung Oberschlesiens finden sich oft gravierende Lücken zwischen dem Ende der Piasten und dem Jahr 1939, die 200 Jahre andauernde preußische Herrschaft wird zudem als „Besatzungszeit“ deklariert. Auf deutscher Seite beginnen einige Historiker mit der Aufarbeitung erst bei der mittelalterlichen Ostkolonisation und blenden slawische Elemente in der Weiterentwicklung des Gebietes aus (ebd.: 12). Auch die Sprache wurde sowohl auf deutscher als auch auf polnischer Seite lange Zeit im 19. und 20. Jahrhundert in die jeweilige Argumentation mit einbezogen. Ob der oberschlesische Dialekt nun eine slawische bzw. polnische oder doch eine deutsche Mundart ist, wurde je nach Standpunkt sehr unterschiedlich bewertet (Lasatowicz 2003: 51). Vor dem Plebiszit führten beide Seiten – die deutsche und die polnische – einen intensiven Wahlkampf, der nicht selten auch in Gewaltakten ausartete (Thomsen 1992: 9f.; vgl. auch Popiołek 1972: 384ff.). Długoborski (1996: 37) spricht von einem „Propagandakrieg“, in dem alle Unentschlossenen bekehrt werden sollten (vgl. Propagandaplakate in Abb. 4 und 5). Abbildungen 4 und 5: Propagandaplakate zur Zeit des Plebiszits (links: „Wir geben Schlesien nicht her“ / rechts: „Ich stimme polnisch“)
Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin / I. Desnica (beide)
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Von der Regierung in Warschau unterstützte paramilitärische Verbände versuchten, die Bevölkerung, die sich zur deutschen Seite bekannte, durch gewalttätige Aufstände einzuschüchtern (Irgang et al. 1998: 213f.; Opitz 1985). Ferner gab sich die polnische Seite optimistisch, war doch nach polnischen Einschätzungen im Abstimmungsgebiet ein Großteil der Personen ethnisch als polnisch zu bezeichnen. Es zeigte sich jedoch im weiteren Verlauf, dass Sprache als Indikator für eine Wahl im Plebiszit nur mit Einschränkungen taugte. Historiker verweisen darauf, dass ein Großteil der Menschen in Oberschlesien als Polnisch sprechende Preußen bezeichnet werden konnten (Bartosz/Hofbauer 2000: 98). Andererseits – so geben Bartosz/Hofbauer (2000: 98) zu bedenken – sei bis Kriegsende auch eine Zuwendung einiger Oberschlesier zu Polen zu beobachten gewesen. Dafür sei jedoch vor allem die deutsche Politik verantwortlich, die bis dato für Verwaltungsaufgaben evangelische Beamte entsandte, die für das Volk in Oberschlesien durch fehlende Sprachkompetenzen und auch aufgrund der verschiedenen Glaubensbekenntnisse fremd blieben. Ähnlich war es auch bei eingewanderten Arbeitern oder Unternehmern, die sich von den Bewohnern in Oberschlesien weitestgehend distanzierten (Ulitz 1971: 27). Oberschlesien galt in Preußen im 18. Jahrhundert als ein rückständiges Gebiet, die Bevölkerung litt unter einer sozialen und geographischen Randlage, gerade weil es in Oberschlesien eine große Anzahl Polnisch sprechender Menschen gab. Von preußischer Seite wurde eine Unterdrückungs- und Germanisierungspolitik gegenüber der Polnisch sprechenden Bevölkerung entwickelt. Die Unterdrückung und auch die konfessionellen Unterschiede ließen bei Teilen der Bevölkerung eine anti-preußische Stimmung aufsteigen. Nationalpolnische Bewegungen formierten sich, auf der anderen Seite führte der Druck auf die Polnisch sprechende Bevölkerung zu Namensänderungen und Verdrängungsprozessen der polnischen Sprache, da ein sozialer Aufstieg für diese Gruppe nur durch eine Zuwendung zum Deutschtum möglich war. Insgesamt blieb jedoch eine widerstandsfähige pro-polnische Gruppe über die Jahre hinweg erhalten (Hager 1980: 25ff.). Zudem erreichte die preußische Germanisierungspolitik in vielen Fällen lediglich ein Scheinbekenntnis bei den betroffenen Menschen, das schnell rückgängig gemacht werden konnte (Lubos 1974: 199). Eine wichtige Funktion nahm auch die katholische Kirche ein: „Die östliche Volkskirche katholischer Konfession war zugleich eine Nationalkirche. Sie vertrat nicht nur eine Glaubenslehre, sondern stellte zugleich auch eine nationale Gemeinschaftsform dar. […] Aufgrund der politischen Teilungen des Landes und der Gleichsetzung von Protestantismus und Preußentum bzw. russisch-orthodox und Russifizierung war die Institution der polnischen katholischen Kirche der stärkende und verbindende Faktor in den Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit. Dadurch, daß die polnische katholische Kirche die polnische Sprache lebendig hielt, verteidigte sie das wesentliche Element der polnischen Kultur überhaupt.“ (Hager 1980: 30)
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Im März 1921 kam es schließlich zu dem Plebiszit, in dem sich die Bevölkerung Oberschlesiens für eines der beiden Länder entscheiden musste. Für Deutschland sprachen sich 707.554 Bürger aus, für Polen lediglich 478.820 (Bohmann 1969: 18). Ther gibt jedoch zu bedenken, dass aus diesem pro-deutschen Votum nicht auf die Anzahl von Deutschen in Oberschlesien geschlossen werden darf. In der Abstimmung sprachen sich etwa ein Sechstel der Oberschlesier mit polnischer oder polnisch-oberschlesischer Muttersprache für einen Verbleib in Deutschland aus. „Ökonomische Erwägungen und die Loyalität zu dem Staat, dessen Bürger sie waren, wogen schwerer als scheinbar ‚objektive Kriterien‘ der Nationszugehörigkeit wie die Sprache und die Abstammung.“ (Ther 2002: 176; vgl. auch Długoborski 1995: 28) Welche Sprache gesprochen wurde, war nicht eine Frage der empfundenen nationalen Zugehörigkeit, sondern vielmehr als Folge der beruflichen Stellung zu sehen. Keitsch (1977: 12ff., 79) kategorisierte die Bevölkerung in Oberschlesien vor dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs wie folgt: Zum einen gab es zugewanderte Deutsche mit hohem sozialen Status und keinerlei Kenntnissen der polnischen Sprache, zum anderen die Polnisch sprechenden Bauern, die keine Deutschkenntnisse besaßen. Neben diesen Hauptgruppen existierten eine Mischbevölkerung, die ein polonisiertes Deutsch sprach, und die Gruppe von Polnisch sprechenden Arbeitern, die deutsch sprechen konnten. Der oberschlesische Dialekt war in dieser Zeit vor allem bei den Bauern und Arbeitern verbreitet – oder anders formuliert vor allem Haussprache auf dem Land. Das Plebiszit führte allerdings nicht zu einem reibungslosen Verbleib Oberschlesiens auf deutschem Gebiet. Die Polen und auch die enttäuschten Alliierten beriefen sich nach der Wahl auf Unstimmigkeiten im Versailler Vertrag (Irgang et al. 1998: 214ff.). Parallel zu einsetzenden Diskussionen auf politischer Ebene kam es zu Gebietseroberungen durch die bereits erwähnten polnischen paramilitärischen Verbände. Ein sogenannter oberschlesischer Selbstschutz, der durch Freikorps aus dem Deutschen Reich unterstützt wurde, führte Gegenangriffe durch. Beide Seiten stellten auf Eingreifen der Franzosen und der Reichsregierung die Übergriffe ein (ebd.: 214ff.). Die Frage nach der Gebietsaufteilung wurde indes an den Völkerbund in Genf abgegeben. Dieser beschloss die Teilung Oberschlesiens – ungeachtet der Ergebnisse des Plebiszits. Die neue, willkürliche Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Polen verlief fortan quer durch das Industriegebiet Oberschlesiens, übrigens ohne auf wirtschaftliche oder soziale Aspekte Rücksicht zu nehmen. Das Deutsche Reich verlor so ein Drittel des Abstimmungsgebietes und mehr als 40 Prozent der Bevölkerung. Polen erhielt zwar offiziell den Teil, der mit einer leichten Mehrheit für eine Angliederung an Polen gestimmt hatte, aber die Teilung orientierte sich mehr an wirtschaftlichen Interessen. Polen erhielt das wirtschaftlich interessante Gebiet rund um Kattowitz. Deutschland verlor über 90 Prozent des Kohlevorkommens (ebd.: 214ff.; Bartosz/Hofbauer 2000:105). Ohne Abstimmung wur-
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de ein kleiner Teil Oberschlesiens der Tschechoslowakei überlassen (das Hultschiner Ländchen südlich von Ratibor; Lesiuk 1995: 27). In dem beim Deutschen Reich verbliebenen Teil Oberschlesiens – bezeichnet als West-Oberschlesien oder als Oppelner Schlesien – übernahmen im Juli 1922 wieder die Deutschen die Verwaltung. Aus dem Teil, der zu Polen fiel und im Folgenden als Ost-Oberschlesien bezeichnet werden soll, wurde die polnische Wojewodschaft Schlesien (poln.= Województwo Śląskie) mit 1,3 Mio. Einwohnern. Kattowitz – und damit der Kreis, der sich bei den Wahlen zu 85 Prozent für den Verbleib im Deutschen Reich ausgesprochen hatte – wurde Hauptstadt. Hier setzte infolge einer repressiven Politik der Polen eine Abwanderung von über 110.000 Deutschen ein, die z.T. in das Oppelner Oberschlesien abwanderten oder weiter ins Deutsche Reich migrierten. In den Zuzugsgebieten wie beispielsweise in Breslau setzte rasch ein Wohnungs- und Arbeitsplatzmangel ein, in dem geteilten Oberschlesien ergaben sich durch die Zerschneidung des Industriegebiets Verkehrsprobleme. Letztlich brachte der Versailler Vertrag einen bedeutenden historischen Einschnitt in der oberschlesischen Geschichte mit sich (Pysiewicz-Jędrusik et al. 1998: 34; Irgang et al. 1998: 216ff.). Umgekehrt wanderten ca. 100.000 Menschen aus dem im deutschen Gebiet verbliebenen Oppelner Teil in die neue polnische Wojewodschaft rund um Kattowitz (Bartosz/Hofbauer 2000: 150). Nach der Teilung Oberschlesiens gab es in beiden neu entstandenen Teilen große Minderheiten. Viele Familien reagierten auf die neuen Strukturen orientierungslos, die Frage, wer sie eigentlich de facto waren und wo etwa die Kinder zur Schule gehen sollten, gaben viele an den Völkerbund weiter (Palenga-Möllenbeck 2007: 230). Ther (2002: 177) schätzt die Größe der Minderheit im deutschen Teil auf 600.000, auch wenn die Definition von Minderheiten in diesem Fall schwierig ist. Diese Gruppe, die zumeist in polnischsprachigen Familien aufgewachsen ist, konnte nicht ohne Bedenken als polnische Bevölkerung bezeichnet werden, da mit der Sprache kein klar formuliertes Nationalbewusstsein einherging. Als deutsch lässt sich diese Bevölkerungsgruppe ebenfalls nicht beschreiben. Sie hatte lediglich die deutsche Staatsangehörigkeit (Ther 2002: 177). Das Verhältnis dieser Gruppe zu den Deutschen wurde in der Folgezeit als angespannt und von Diskriminierungen geprägt beschrieben, vor allem weil ein beruflicher Aufstieg dieser Gruppe erschwert wurde. Die Situation im deutschen Teil Oberschlesiens führte dazu, dass sich viele Oberschlesier aus karriereorientierten Gründen der deutschen Sprache zuwendeten. In den Schulen verbargen viele Kinder ihre slawische Herkunft, was zur Folge hatte, dass sich immer weniger Menschen in Volkszählungen als polnischsprachig bezeichneten (ebd.: 177f.). In Ost-Oberschlesien blieben derweil 260.000 Deutsche (Bartosz/Hofbauer 2000: 106). Nach der Genfer Konvention wurden politische Schutzmaßnahmen für Minderheiten festgelegt. Im Plebiszitgebiet sollte beispielsweise entsprechender Schulunterricht für die Minderheit gewährleistet werden (Falęcki 1965: 495). Be-
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sonders dieser Punkt wurde zu einem Symbol für den Identitätskampf in Oberschlesien nach 1922, wobei sich die einzelnen Seiten gegenseitig die Nicht-Einhaltung der Vorgaben vorwarfen (Falęcki 1965; Keitsch 1977). Für Ost-Oberschlesien werden in der Geschichtsschreibung vor allem die Gründe für ein vermeintlich ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland thematisiert. Auf diese Phase beziehen sich auch die häufig diskutierte Identitätenvielfalt der Oberschlesier. Als Grund für das scheinbar große Bekenntnis zum Deutschtum wurde der Missmut in Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes gesehen. Ther beschreibt die Stimmung in Ost-Oberschlesien wie folgt: „Eine ‚deutsche Option‘ blieb also auch innerhalb Polens bestehen und war je nach den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mehr oder weniger anziehend. Die Wahlergebnisse von 1926 und von 1930 [Deutsche Parteien erreichten einen hohen Stimmanteil, Anm. M.O] waren jedoch weniger ein Ausdruck ‚ungebrochenen Deutschtums‘ […], sondern vielmehr ein Beleg für die Vitalität der oberschlesischen Identität.“ (Ther 2002: 183; vgl. auch Wanatowicz 1982: 345ff.)
Diese Bekenntnisse wurden auch als „pragmatische Assimilation“ (Ther 2002: 183) aus berufs- und karriereorientierten Gründen gesehen, was das Phänomen deutlich besser umschreibt als der Verweis auf Identitäten. Das Problem liegt darin, dass in der Literatur häufig die Meinung vertreten wird, „Oberschlesier“ würden zwischen verschiedenen Identitäten wechseln, statt anzunehmen, dass es eine vielseitige Identität geben kann. Ther nähert sich einem komplexeren Identitätsverständnis an und beschreibt ein Pendeln zwischen Sprachen und „Kulturen“: „Ein wichtiger Faktor war dabei die Attraktivität der jeweiligen Identitätsangebote. Die Oberschlesier verglichen die wirtschaftliche und politische Situation in Deutschland und Polen in aktueller und historischer Perspektive und wandten sich entsprechend mehr einer deutschen Seite, deutsch-oberschlesischen, polnisch-oberschlesischen oder polnischen Identität zu. Allerdings waren auch das in den Augen vieler Menschen keine Alternativen, sondern verschiedene Bestandteile der eigenen Kultur und Person, die man je nach dem Kontext aktivierte, pflegte oder auch verschwieg.“ (Ther 2002: 184)
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich die Situation im deutschen Teil Oberschlesiens schlagartig. Grund hierfür war das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Kirche und die Auflösung der Zentrumspartei (Czapliński 2007: 424ff.; Ther 2002: 180ff.). Die Zentrumspartei, die in Oberschlesien ihre Hochburg fand, wehrte sich bis dato sehr lang gegen den Nationalsozialismus. Die Gründe für den Bedeutungsgewinn der NSDAP in ganz Schlesien unterschieden sich nicht von den des übrigen Reiches. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Folgen des Vertrags von Versailles waren die wesentlichen Inhalte der Propaganda der Na-
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zis in Schlesien (Irgang et al. 1998: 216ff.). Die oberschlesische Bevölkerung wandte sich im weiteren Verlauf polnischen Minderheitsorganisationen zu, die das Polentum zu verteidigen versuchten. Zugespitzt hat sich die Situation dann auch durch den offen kommunizierten Rassismus gegenüber den Oberschlesiern, die als minderwertig deklariert wurden. Die Tatsache, dass sich ein Teil der deutschen Staatsbürger einer „Zwischengruppe“ und damit weder den Deutschen noch den Polen zugehörig fühlte, fand keine Anerkennung. Die Nationalsozialisten vermuteten sogar verschwörerische Aktivitäten in der Bevölkerung und sahen in ihr eine unzuverlässige Volksgruppe. Infolgedessen radikalisierten sich die Assimiliationsstrategien der Nationalsozialisten. Orts- und Personennamen wurden zwangsgermanisiert und Minderheiten verfolgt. Teile der lokalen Bevölkerung verlagerten ihre verbliebenen kulturellen Praktiken ins Private. Lediglich einige Gottesdienste in polnischer Sprache waren noch verbreitet, bis sie später während des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs verboten wurden (Ther 2002: 180f; Popiołek 1964: 122ff.). Die Nationalsozialisten hatten das Ziel, Oberschlesien von jeglichem Polentum zu befreien oder zumindest die als polnisch geltende Bevölkerung zu isolieren (Hager 1980: 40; Bartosz/Hofbauer 2000: 113). 1938 wurden die beiden bis dato getrennten Provinzen (Niederschlesien und Oberschlesien) wieder vereint, Oberschlesien verlor hierdurch Kompetenzen der Selbstverwaltung, das niederschlesische Breslau wurde wieder zur Provinzhauptstadt ernannt. Diese Zusammenführung währte allerdings nur drei Jahre. Im Zuge der Eroberung Polens durch die Deutschen wurde nun auch wieder der östliche Teil Oberschlesiens an das Deutsche Reich angegliedert. Ost-Oberschlesien wurde nun zum großen Regierungsbezirk Kattowitz (Irgang et al. 1998: 232f.). Mit der Eroberung Polens begann die Bestandsaufnahme durch die NaziDeutschen. Dies bedeutete – wie bereits beim Plebiszit – erneut eine Einteilung der Bevölkerung in Kategorien. Anders als beim Plebiszit wurden diesmal ‚objektive‘ Merkmale der Bevölkerung herangezogen. Betrachtet wurden Familiennamen, Sprachgebrauch oder Abstammung (Rogall 2004: 158f.). Eingeführt wurde eine sogenannte Deutsche Volksliste unter Berücksichtigung von Fahndungslisten aus der Vorkriegszeit (Bohmann 1969: 117). Die sogenannten Großpolen (Aktionisten in polnischen Organisationen) wurden sofort verhaftet. Darüber hinaus wurden vier Klassen gebildet: Gruppe 1 und 2 wurden als deutsche Reichsbürger identifiziert, mit der Unterscheidung, dass unter die erste Gruppe sogenannte aktive Volkstumskämpfer fielen und unter die zweite Gruppe nicht aktive, aber als deutschstämmig eingestufte Personen. Zur Gruppe 3 gehörten Personen, die Verbindungen zum Polentum aufwiesen, und die „oberschlesische Zwischenschicht“. Sie galten als „Staatsangehörige auf Widerruf“. Die vierte Gruppe bestand aus „Schutzangehörigen mit beschränkten Inlandsrechten“. Diese wurden in der Folgezeit verfolgt und diskriminiert, hatten jedoch offiziell die Möglichkeit, sich zu einem späteren Zeitpunkt um die Aufnahme in die Deutsche Volksliste zu bemühen. Zu den ersten bei-
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den Gruppen zählten in Oberschlesien 360.000 Menschen, zur dritten Gruppe 875.000 und der letzten Gruppe wurden insgesamt 1,1 Mio. Personen zugeordnet (Bartosz/Hofbauer 2000: 115, 118; vgl. Breyer et al. 1996). Die Art und Weise, wie Polen in Nazi-Deutschland behandelt wurden, hatte große Auswirkungen auf die Zeit nach 1945 und die späteren Aussiedlungsprozesse. Zum Symbol dieser Geschichte wurde Lamsdorf, wo bereits 1871 ein Lager für Kriegsgefangene errichtet wurde. Nach dem Polenfeldzug 1939 wurden dorthin Polen, später auch andere Gefangene transportiert. Viele Gefangene starben dort infolge von Exekutionen oder unwürdigen Haftbedingungen. Nach 1945 wurden deutsche Gefangene nach Lamsdorf gebracht (Bartosz/Hofbauer 2000: 120).
4.2 H ISTORISCHER ABRISS
NACH
1945
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderten sich die politischen Rahmenbedingungen in Oberschlesien schlagartig. Aus Angst vor den Umbrüchen und vor dem Einmarsch der Roten Armee migrierte ein Teil der Bevölkerung in Richtung Westen (Miształ 1991:27). „Deutsch zu sein war nun plötzlich, im Angesicht des Vormarsches der Roten Armee, eine riskante Sache geworden […]. ‚Eins, zwei … u ciekaj (hauen ab), drei vier … bleiben hier‘, lautete in Anlehnung an die von Hilter eingeführte Volksliste der wohl bekannteste Spruch in den April- und Maitagen des Kriegsendes.“ (Bartosz/Hofbauer 2000: 151) Nachdem die Rote Armee eingerückt war, erfolgte die Bildung einer polnischen Verwaltung. Im Rahmen der polnischen Nationalitätenpolitik setzte die Zuwanderung von Polen nach Oberschlesien ein. (Ther 2002: 184f.; vgl. auch Münz 2000: 179). Die polnische Verwaltung setzte sich in den neugewonnen Gebieten das Ziel, die deutsche Bevölkerung auszusiedeln5 und die Gebiete zu repolonisieren. Für diese Aufgaben wurde anfangs ein eigenes Ministerium geschaffen. Eine Aufgabe bestand darin, die „polnisch autochthone Bevölkerung“ zu verifizieren (Miształ 1991: 27; Irgang et al. 1998: 246ff.). Dazu gehörten für die polnischen Behörden Reichsdeutsche mit slawischen Wurzeln und sogenannte „Gruppen schwebenden Volkstums“. Gewöhnlich reichten für eine Verifizierung Sprachkompetenzen oder polnisch klingende Nachnamen. Viele Oberschlesier, die keine aktiven und bekennenden Polen waren, wählten aufgrund möglicher Diskriminierungen und des Wunsches, bleiben zu dürfen, den Weg der Verifizierung – oftmals entgegen eigener Überzeugungen. Auch für die zweite Wahlphase – nach dem Plebiszit – gilt, dass
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Es folgte eine Vertreibung aller als deutsch eingestuften Schlesier. Schätzungsweise verließen 1-3 Millionen Menschen ihren Wohnsitz (Bartosz/Hofbauer 2000: 152; vgl. Buchhofer 1975; Linek 1997).
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die Entscheidung zwischen zwei Nationszugehörigkeiten eher als Last und nicht als demokratische Wahlmöglichkeit gesehen werden muss. Der Bevölkerung in Oberschlesien wurde Pragmatismus nachgesagt und Opportunismus vorgeworfen. Die „oberschlesische Identität“ galt auf beiden Seiten als eine, die sich nach wirtschaftlichen Bedürfnissen richtet. Ehepaare sicherten sich z.B. ab, indem beide Partner verschiedene Deklarationen machten. Später kam genau dieses Thema bei der Auswanderung der Aussiedler auf. Auch hier wurde differenziert zwischen „echten Aussiedlern“ und den Migranten, die sich nach Wohlstand sehnten. Dabei wurde jedoch außer Acht gelassen, dass die auf zwei Nationen beschränkte Wahl einfach nicht das widerspiegeln konnte, was die Identität der Menschen tatsächlich ausmachte. „Tatsächlich [...] besteht für Menschen wenig Grund, mit Kategorien, die ihnen von außen aufoktroyiert werden und persönlich irrelevant erscheinen, anders als ‚opportunistisch‘ umzugehen“, so Palenga-Möllenbeck (2007: 230). Esch deutet an, worauf es der Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich ankam: „Diese Menschen […] waren zu allererst an dem interessiert, was sie tatsächlich anging: daran, auf ihrem Besitz oder mit ihrer Arbeit möglichst unbehelligt und sicher leben zu können.“ (Esch 1998: 183f.) Die Verifizierung, die anfangs auf ‚objektiven‘ Kriterien wie Sprache und Religion aufbauen sollte, entwickelte sich letztlich wie bei entsprechenden Entscheidungsprozessen auf der deutschen Seite zu einer aufgezwungenen Pro-PolenEntscheidung vieler Oberschlesier, denn das Recht auf Arbeit und der Zugang zu Lebensmittelkarten hingen davon ab. Hinzu kam, dass für viele Oberschlesier eine Ausreise in das stark zerstörte Deutschland keine Alternative war. So wurden in Oberschlesien insgesamt 850.000 Menschen verifiziert. Offiziell wurden sie polnischen Bürgern gleichgestellt (Irgang et al. 1998: 246ff.; Bartosz/Hofbauer 2000: 122). Die polnische Regierung war interessiert daran, so viele Personen wie möglich verifizieren zu können, um eine größtmögliche Rechtfertigung der Inbesitznahme Oberschlesiens zu erreichen (Bahlcke 2004: 201). Im Zuge der Propaganda hoffte sie auf eine schnelle Integration der sehr heterogenen Bevölkerung in Oberschlesien mit Ausrichtung auf eine „polnische Tradition“ bzw. ein „polnisches Kulturgut“. Eine Orientierung an der oberschlesischen Region und die Pflege des Dialekts, der zudem Elemente der deutschen Sprache enthielt, passte in jedem Fall nicht zum Plan der Regierung, eine homogene polnische Nation aufzubauen (Tambor 2011: 9). Gleichzeitig wurden Menschen aus anderen Teilen Polens in Oberschlesien angesiedelt. Bei den eingewanderten Polen handelte es sich z.T. um Bürger aus dem überbevölkerten Zentralpolen und um Repatrianten aus den russischbesetzten polnischen Ostgebieten (Irgang et al. 1998: 246ff.). Nach Oberschlesien
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migrierten bis 1947 etwa 500.000 Polen. Die „Einheimischen“ machten daraufhin noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus6 (vgl. Wanatowicz 1982). In der ersten Phase dieser Ansiedlungen kam es zu Plünderungen und Konflikten, da viele der eingewanderten Polen an einem Verbleib nicht interessiert waren, sondern nur eine materielle Bereicherung im Sinne hatten. Im Chaos dieser Wanderungsprozesse blieben kriminelle Akte oftmals unbestraft. Die in Oberschlesien lebende Bevölkerung setzte sich unmittelbar nach Kriegsende ohnehin vor allem aus Frauen, Kindern und älteren Personen zusammen, die den räuberischen Aktivitäten einiger Zugezogener ausgeliefert waren. Das Verhältnis der Familien in Oberschlesien zu den zugezogenen Polen war aufgrund dieser Vorkommnisse von Anfang an angespannt, auch im Fall polnisch gesinnter Familien. Hinzu kam, dass einige Gebiete durch die Ansiedlung der Polen rasch überbevölkert waren und die Konkurrenz um Wohnraum und Güter das Zusammenleben erschwerte (Rogall 2004: 187f.). Diese Migrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg stellten die Ausgangsbasis für die in der Folgezeit immer wieder thematisierte Diskriminierung der Oberschlesier durch die neu zugezogenen Polen oder Polen allgemein dar. Auf diese Phase und die Jahre danach bezieht sich der immer wieder thematisierte Diskurs des ‚oberschlesischen Unrechts‘ (vgl. Tambor 2011). Die Literatur zu diesem Thema ist häufig einseitig auf die Perspektive der ‚Einheimischen‘ fokussiert, zudem durch pauschalisierende Feststellungen geprägt. Unabhängig davon, von welchem ‚Unrecht‘ gesprochen werden kann, gehört dieses Thema zum Konstrukt der Region. Es wird vor allem davon ausgegangen, dass die allgemeine negative Einstellung gegenüber Deutschen auch die Teile der Bevölkerung zu spüren bekamen, die keineswegs als deutsche Aktivisten in Erscheinung traten, jedoch bestimmte Einstufungen in der Deutschen Volksliste besaßen. Hierauf wird der langanhaltende Konflikt zwischen ‚Einheimischen‘ und ‚Neuzugezogenen‘ zurückgeführt. Das ‚Unrecht‘ wird vor allem auf privilegierte Behandlung der Zugezogenen zurückgeführt, die oft hochrangige Positionen in der Verwaltung einnahmen (Wódz/Wódz 2006: 29ff.; Bartosz/Hofbauer 2000: 117). Der Gebrauch der deutschen Sprache war nach dem Zweiten Weltkrieg verboten, Verstöße gegen das Verbot wurden mit Gefängnis oder später auch mit Arbeitsentzug bestraft. In Oberschlesien verbliebene und deutschsprachige Familien mussten daher im Interesse der Kinder in der Öffentlichkeit polnisch sprechen und auch zuhause mit Kontrollen rechnen (Bartosz/Hofbauer 2000: 153). Für die einheimische Bevölkerung wird beschrieben, dass sich diese aufgrund der Diskriminierung stärker isolierte und enger zusammenschloss.
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Allerdings ist hier anzumerken, dass sich der Begriff ‚Einheimische‘ an dieser Stelle nur bedingt eignet und hinterfragt werden muss. Vermischungsprozesse und Zuzüge nach Oberschlesien aus anderen Teilen Preußens gehörten bereits seit der Industrialisierungsphase zum Alltag der Region.
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Zudem sei selbst bei den Einheimischen, die sich nach 1945 eher dem polnischen Staat verbunden fühlten, eine distanzierte Einstellung gegenüber der politischen Führung und den Zugezogenen zu beobachten gewesen (vgl. Tambor 2011: 72f.). Es wird beschrieben, dass der Umgang mit der Deutsch sprechenden Bevölkerung seitens der neuen Regierung die Menschen in Oberschlesien verband, unabhängig davon, welche nationalstaatliche Orientierung sie hatten bzw. ob sie überhaupt eine aufwiesen. Der Soziologe Jonderko (2002) hat sich mit der Beziehung von Zugezogenen und Einheimischen in Oberschlesien nach 1945 beschäftigt und die Gründe für den Konflikt zwischen beiden Gruppen aufgearbeitet. Für den Autor war die positive Entscheidung über die Verifizierung und die damit verbundene Verleihung der polnischen Staatsangehörigkeit nur eine formelle Aufwertung der jeweiligen Personen. In der Praxis waren die Einheimischen weiterhin ein „verdächtiges Element“ (Jonderko 2002: 212) und von Diskriminierung betroffen. Dieses Schicksal teilten auch die Einheimischen, die eine pro-polnische Einstellung aufwiesen, was zu einer Abwendung vom polnischen Staat führen konnte. Dies lag daran, dass ‚Oberschlesien‘ für die polnische Regierung stets einen „deutschen Geist“ hatte und beim sich als „Oberschlesier“ deklarierenden Bevölkerungsteil stets einen Drang zum Deutschtum vermutet wurde. Jonderko ist dabei der Auffassung, dass je größer die Distanz zum polnischen Staat wurde, desto größer die gefühlte Verbindung oder die Bewunderung für den deutschen Nachbarstaat war, was wiederum Migrationsdynamiken verstärken konnte (ebd.: 213). Die privilegierte Situation der Zugezogenen wird vor allem auf ihre Bedeutung für den neu aufgebauten Verwaltungsapparat zurückgeführt. Der Diskurs des ‚oberschlesischen Unrechts‘ basiert daher vor allem auf der Annahme, dass die einheimische Bevölkerung in Verwaltungseinrichtungen oder anderen Institutionen selten vertreten war und durch Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, falsche Informationen in Ämtern oder formale Hindernisse, z.B. bei der Kreditvergabe, schikaniert wurde. Da die Auffassung herrschte, Namen und auch der Gebrauch des Dialekts bzw. der deutschen Sprache verrieten eine Herkunft bzw. die Gesinnung, waren die Chancen, so Jonderko, diesen Schikanen zu entgehen, gering. Am Arbeitsplatz werden für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem ungerechte Prämienauszahlungen oder Barrieren in der Karriereentwicklung beschrieben (ebd.: 220). Jonderko (2002: 214) spricht dabei zwar von gegenseitiger Abneigung, argumentiert jedoch auch, dass aufgrund der privilegierteren Stellungen der zugezogenen Polen eine Abneigung lediglich einseitig demonstriert und ausgelebt werden konnte. Diskriminierungen in die andere Richtung müssen, diesem Schema entsprechend, eher im Alltag stattgefunden haben, was jedoch schwieriger zu dokumentieren war. Im weiteren Verlauf, vor allem als die Verifizierung für abgeschlossen erklärt wurde, wurden Personen, die Ausreiseanträge stellten, oder deren Angehörige zum Ziel der Diskriminierungen. Ihnen wurde ein illoyales Verhalten gegenüber ihrem
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Staat vorgeworfen, da sie offiziell in der Verifikationsaktion die polnische Staatsangehörigkeit annahmen. Ausreisepläne blieben somit immer öfter geheim. Reiste ein Familienmitglied aus, konnte Verwandten der Aufstieg im beruflichen Bereich verweigert werden (ebd.: 217f.). Besonders häufig werden auch die Diskriminierungen in den Schulen thematisiert. Hier basiert das ‚oberschlesische Unrecht‘ vor allem auf der Annahme, dass Schüler aus ehemals deutschen Familien von Lehrern, die ihre Abneigung nicht verbergen konnten, benachteiligt wurden oder durch die Dominanz des oberschlesischen Dialekts im Elternhaus, Probleme hatten, die Unterrichtssprache zu beherrschen. Diese persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit den in der Familie aufrechterhaltenen Vorurteilen und Stereotypen über „die Polen“, so Jonderko, ließen die Konfliktpotentiale weiter aufleben (ebd.: 25). Allerdings gibt der Autor zu bedenken, dass auch hier die entsprechende Gruppenstärke ausschlaggebend war. So war es ebenso möglich, dass in einer Klasse, die überwiegend von Kindern mit örtlicher Herkunft besucht wurde, Kinder von Zugezogenen unter Diskriminierung litten. Hinzu kam, dass im weiteren Verlauf die allgemeine Ablehnung des kommunistischen Systems zu einer allgemeinen Ablehnung des Staates führte. Für Jonderko (2002: 212) verhinderte die ausgeprägte Religiosität und soziale Kontrolle unter der Bevölkerung in Oberschlesien die Integration in politische Organisationen. Beruflichen Aufstiegschancen, die an parteiliche Aktivitäten gekoppelt waren, standen weite Teile der oberschlesischen Bevölkerung distanziert gegenüber. Die Ablehnung politischer Aktivität konnte wiederum zu Benachteiligungen führen – insbesondere bei Karriereplanungen. In Analysen sozialer Strukturen in Oberschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es genau an dieser Stelle Ungereimtheiten. Es stellt sich die Frage, worauf die vermeintliche Diskriminierung der örtlichen Bevölkerung eigentlich basierte – auf der Ablehnung des kommunistischen Systems, auf dem Gebrauch der deutschen Sprache oder auf der Zugehörigkeit zu Oberschlesien? In der allgemeinen Differenzierung zwischen „Wir“ (Oberschlesier) und „Sie“ (Polen), so Jonderko, ordneten viele Oberschlesier politische und vor allem wirtschaftliche Fehlplanungen der „polnischen Wirtschaft“ als Unterkategorie von „Sie“ zu. Verschwendung, ineffektive und schlechte Organisation von Produktion und Absatz wurden zum Stereotyp von polnischem Handeln, von dem sich die „Oberschlesier“ wiederum klar abgrenzten (ebd.: 221). Aus diesem Konflikt heraus erfuhren zwei bereits im 19. Jh. geläufige Begriffe eine Renaissance. Die Abgrenzung zwischen „Wir“ und „Sie“ erhielt in Oberschlesien bereits in Folge von Migrationsprozessen aus den damaligen polnischen Teilungsgebieten nach Oberschlesien einen Namen. So wurden zugwanderte Polen, aber auch generell Polen außerhalb Oberschlesiens
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als „gorole“ 7 bezeichnet (Długoborski 1996: 34f.; vgl. Kłosek 1993). Oberschlesier hingegen wurden von den zugezogenen Polen häufig „hanysy“, in Anlehnung an den deutschen Namen „Hans“, genannt (Jonderko 2002: 221f.). Da der Sprachgebrauch neben der Herkunft das entscheidende Abgrenzungsmerkmal war, haben die beiden Wörter „godać“ (oberschlesisch für „sprechen“ oder auch „oberschlesisch sprechen“) und „mówić“ (polnisch für „sprechen“ oder auch „(Hoch-)polnisch sprechen“) hier eine besondere Bedeutung (Tambor 2011: 152). Nach der Verifizierungsaktion vertrat die polnische Führung die Meinung, dass die ethnischen Umstrukturierungen eine reine polnische Volksgemeinschaft hervorgebracht hätten (Grabe 2000: 240). Nationale Minderheiten gab es nach Auffassung der Regierung nur von unbedeutender Größe (Stoll 1971: 496). Mit dieser Ansicht blieb die politische Führung allerdings allein. In der Literatur wird von einer nicht unbedeutenden Zahl (5% der Gesamtbevölkerung Ende der 1970er Jahre) ausgegangen (vgl. Hager 1980: 48). Ohnehin war es so, dass im Rahmen der Repolonisierungsaktionen jeder als Pole eingestuft wurde, der gegenüber der VR Polen Loyalität bekannte (Strobel 1964: 9). 1951 wurden schließlich auch die Personen offiziell zu polnischen Staatsbürgern, die sich zuvor geweigert hatte, an der Verifizierungsaktion teilzunehmen. Für die verbliebenen Reichsdeutschen in den Westgebieten wurde eine Zwangsumsiedlung angeordnet (Hager 1980: 48ff. Rogall 2004: 202). In der Folgezeit versucht die Regierung das polnische ‚Kulturelement‘ in der Geschichte Oberschlesiens für propagandistische Zwecke zu nutzen. Sie blendete dabei die deutsche Vergangenheit aus. Die Geschichtsforschung war im weiteren Verlauf selektiv und unterlag politischen Vorgaben (Rogall 2004: 194). Der Propagandazweck historischer Aufarbeitung blieb in der Bevölkerung nicht unerkannt. Zu stark war auch die Diskrepanz zwischen offiziell kommunizierter polnischpatriotischer Grundeinstellung der oberschlesischen Bevölkerung und den massiven Aussiedlungswünschen innerhalb der Bevölkerung (ebd.: 194). Für Rogall (2004: 194) führte die politische Pro-Polen-Propaganda einerseits zu einem immer stärker werdenden Desinteresse innerhalb der Bevölkerung für die Regionalgeschichte, andererseits auch dazu, dass die ‚Verzerrung‘ der Geschichte Oberschlesiens bei einigen Bewohnern zur Frustration und Unzufriedenheit führte. Denn nicht nur die Masse an Ausreiseanträgen deutete an, dass die Verifizierungsaktionen ihr Ziel verfehlt hatten. In einer 1952 durchgeführten Volksbefragung deklarierten in der Wojewodschaft Oppeln 70.000 und in der Wojewodschaft Kattowitz 13.000 Personen ihre deutsche Zugehörigkeit. Die Regierung reagierte mit der Unterdrückung deutscher ‚Kulturelemente‘. Traditionen und Bräuche, die eine Verbindung zum Deutschen aufwiesen, wurden zurückgedrängt, der Gebrauch der deutschen Sprache
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Im Oppelner Teil etablierte sich der Begriff „chadziaj“ in Anlehnung an das russische Wort für „Bauer“ (Jonderko 2002: 222).
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verboten und deutsch klingende Namen in polnische umgewandelt (ebd.: 202). Bemerkenswert ist, dass durch die Bekämpfung der deutschen Sprache letztlich auch der oberschlesische Dialekt in den Fokus rückte, da dieser auch deutsche Elemente aufweist (Kaszuba 2007: 509ff.). Besonders die Migration von Aussiedlern bedeutete für die Regierung eine Niederlage im Kampf um eine nationale Identität. Vor diesem Hintergrund wurde den Oberschlesiern „Gier nach Wohlstand“ nachgesagt (Bartosz/Hofbauer 2000: 124). Viele Historiker, Soziologen oder Sprachforscher argumentieren hier jedoch erneut mit dem ‚oberschlesischen Unrecht‘ und verweisen darauf, dass Migration eine Folge von Diskriminierungen sein konnte. Tambor (2011: 50) spricht sogar von einem „Verschmähen“ Oberschlesiens durch die Zentralregierung. Die Autorin schreibt zu den Motiven der Ausreise: „Viele, die heute nach Deutschland ausreisen, haben erst im Erwachsenenalter ihre Zugehörigkeit zu den Deutschen entdeckt. Einen solchen Wandel sollte man keinesfalls in Kategorien eines ‚nationalen Verrats‘ betrachten. Das Leben in einem Grenzland bedeutet gemischte nachbarschaftliche, freundschaftliche und familiäre Beziehungen. Sie können die Identifikation beeinflussen und verändern. Nachvollziehbar wird die nationale Konversion einiger Oberschlesier, wenn man die gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt: die verworrene Geschichte Oberschlesiens, die permanent wechselnde staatliche Zugehörigkeit, Zeiten, in denen Schlesien von den Polen regelrecht verstoßen wurde oder sein Schicksal auf Ignoranz stieß […]. Geht man vom egozentrischen Standpunkt der Polen aus und bedenkt dabei, dass gewisse Vereinfachungen und Stereotype einem Urteil immer innewohnen, stellt sich alles etwas anders dar. Jemand, der in Polen geboren ist, in Polen aufwächst, in Polen ausgebildet wird und hier sein Zuhause hat, muss sich als Pole fühlen, auch wenn seine Großeltern oder Eltern zum Teil Deutsche waren“ (Tambor 2011: 83f.; vgl. auch Wódz 1993b: 30f.).
Unstrittig dürfte in jedem Fall sein, dass eine Aussiedlung nicht zwangsläufig eine Zuwendung zu Deutschland bedeutete. Auch die vieldiskutierten Diskriminierungen, die partiell Ausreisegründe sein mochten, müssen nicht zwangsläufig ‚deutsche‘ Identitäten gefördert haben. Sie haben primär den Alltag in Polen erschwert. Parallel zu den Aussiedlerwellen, setzten sich ab den 1980er Jahren zudem in vielen Teilen Oberschlesiens Gruppen für die Einrichtung von deutschen Minderheitenorganisationen ein. 1984 beantragte eine kleine Gruppe die Registrierung einer Gesellschaft der Deutschen in Polen. Die Regierung lehnte diesen wie auch weitere Anträge in der Folgezeit ab. Somit existierten bis 1989 lediglich illegal tätige Zusammenschlüsse dieser Art (Beispiel: Deutsche Freundschaftskreise – DFK). Erst nach 1989 wurden Minderheitenrechte für Deutsche in Polen beschlossen. In Kattowitz wurde 1990 mit der „Sozial-kulturellen Gesellschaft der Bevölkerung deutscher Herkunft der Wojewodschaft Kattowitz“ erstmalig eine Minderheitenorganisation offiziell registriert. Nachdem sich weitere Organisationen formierten, be-
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trug 1994 die Mitgliederzahl der deutschen Minderheitenorganisationen in der Wojewodschaft Oppeln 180.000 und in der Wojewodschaft Kattowitz 80.000. Hier muss berücksichtigt werden, dass mit diesen Mitgliederzahlen nicht alle Deutschgesinnten bzw. sich als deutsch bezeichnenden Einwohner Oberschlesiens erfasst werden. Nicht alle, die ein deutsches Nationalgefühl formulierten, erwogen den Eintritt in eine Minderheitenorganisation (Rogall 2004: 203). Insgesamt entwickelte sich nach dem Ende der sozialistischen Ära eine bis heute andauernde Diskussion um die deutsche Minderheit in Oberschlesien. Auf etwa 300.000-500.000 Menschen wurde die Gruppe der Deutschen in Schlesien geschätzt (Wanatowicz 2004: 134f.). 1990 wurde mit dem „Zentralrat der Deutschen in Polen“ ein Dachverband für die Minderheitenorganisationen gegründet, der jedoch kurze Zeit später geteilt wurde. Entscheidend für die Rechte der deutschen Minderheit war der deutschpolnische „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ von 1991. Hier wurde festgehalten, was im kommunistischen Polen über Jahrzehnte bekämpft wurde: Polnische Staatsangehörige, die sich zur ‚deutschen Kultur‘ oder Sprache bekennen, sollen ihre Identität ausleben dürfen. Ferner wurde vereinbart, dass Bildungs- oder andere Kultureinrichtungen für die deutsche Minderheit aufgebaut werden und die Polonisierung deutsch klingender Namen rückgängig gemacht werden durfte (Rogall 2004: 204). Die nun rechtlich anerkannte und organisierte deutsche Minderheit wurde fortan auch zur politischen Kraft – vor allem im Oppelner Teil8 (Wanatowicz 2004: 136). Im weiteren Verlauf etablierte sich auch eine deutschsprachige Presse für die deutsche Minderheit. In vielen Orten konnten mit deutscher Hilfe Begegnungszentren errichtet werden, in denen kulturelle Veranstaltungen und Sprachunterricht stattfanden und auch deutschsprachige Gottesdienste organisiert wurden (Rogall 2004: 206ff.). Doch so sehr die Rechte der deutschen Minderheit wuchsen, die Einstellung der polnischen Bevölkerung gegenüber der politischen Anerkennung des Minderheitenstatus war zu Beginn eher zurückhaltend. Die Jahrzehnte andauernde Propaganda der kommunistischen Regierung hatte ihre Spuren hinterlassen.9 Allerdings hat sich das Verhältnis der deut-
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Letztlich ist der politische Erfolg der deutschen Minderheit nur deswegen möglich, weil auch nicht-deutsche Wahlberechtigte Vertreter der deutschen Minderheit wählen. Auf etwa 25% wird die deutsche Bevölkerung in der Wojewodschaft Oppeln geschätzt (Bartosz/Hofbauer 2000: 139).
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Politische Extremisten heizten die Stimmung gegenüber den vermeintlich illoyalen Deutschen auf, sodass sich die Minderheit ihrerseits zurückzog. Streitpunkte waren die Tätigkeit deutscher Rechtsextremisten in Oberschlesien und die Frage nach deutschsprachigen Ortsschildern sowie der Aufstellung deutscher Kriegerdenkmäler (Rogall 2004: 212).
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schen Minderheit zur polnischen Bevölkerung trotz einiger Anlaufschwierigkeiten gebessert (ebd.: 211f.). In den ersten Jahren stellte die plötzliche Formierung der deutschen Minderheit in der Bevölkerung eine Überraschung dar, wurde doch im kommunistischen Polen propagiert, dass nur noch Polen im Land lebten. Die Frage nach möglicher Illoyalität der Deutschen keimte auf (Bartosz/Hofbauer 2000: 148). Wie es zu der plötzlichen Deklaration tausender Deutscher in Schlesien kam, versucht Wanatowicz (2004: 138ff.) zu begründen. Für einen Teil der Bevölkerung Oberschlesien, so die Autorin, sei das Bekenntnis zu Deutschland ein Protest gegenüber der gesellschaftlichen und kulturellen Dominanz der Polen in Oberschlesien gewesen. Die Bekenntnis zu Deutschland stelle dabei einen gemeinsamen Nenner, eine einheitliche Repräsentationsmöglichkeit und Grundlage für politische Aktivitäten einer Gruppe dar, deren Zugehörige nicht in jedem Fall eine deutsche Vergangenheit aufweisen mussten, sondern eben auch aus ihrer Zugehörigkeit zu Oberschlesien, die Abgrenzung zu Polen suchen konnten. Daneben bekannten sich jedoch auch die Menschen zu Deutschland, denen die polnische Staatsangehörigkeit in den Verifikationsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgedrängt wurde. Doch die Entwicklungen rund um die deutsche Minderheit waren nur ein Teil der dynamischen Gruppierungen in Oberschlesien nach 1989. Nicht nur Deutschgesinnte organisierten sich. Auch die Bevölkerungsteile, die sich regional verankert sahen und sich als Oberschlesier betrachteten, begannen sich zu organisieren (Simonides 1995: 77). Wanatowicz (2004: 140f.) spricht von einer „Revitalisierung der oberschlesischen Identität“ nach 1989 als Folge der früheren Zentralisierung und Unterdrückung regionaler Identitäten. Dabei traten auch einige Intellektuelle in Erscheinung, die sich während der kommunistischen Ära nach außen polonisieren ließen und nun ihre oberschlesischen Wurzeln betonten. Zu den drei bedeutendsten Organisationen gehört die „Autonomiebewegung Schlesiens“ (Ruch Autonomii Śląska). Sie ist in den letzten Jahren immer wieder aufgrund ihrer separatistischen Politik in die polnischen Schlagzeilen geraten (Rogall 2004: 212).
4.3 D AS OBERSCHLESISCHE K ONSTRUKT I – O BERSCHLESIEN UND DAS B EGRIFFSCHAOS Nach dem historischen Abriss sollte in jedem Fall deutlich geworden sein, dass genauso wie andere politische Räume auch Oberschlesien ein sich fortwährend wandelndes Konstrukt ist. Die Besonderheit Oberschlesiens liegt darin, dass es aktuell, anders als beispielsweise Nordrhein-Westfalen oder Flandern, keine gültigen Grenzen aufweist. Das historische Oberschlesien (Regierungsbezirk Oppeln, vgl. Abb. 6, S. 79) feiert bald seine hundertjährige Auflösung und wurde zudem mehrfach über-
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prägt, was insgesamt ein großes Begriffschaos hinterlassen hat. Im Folgenden wird ein Überblick über das Begriffschaos und die Probleme der Abgrenzung Oberschlesiens im Forschungskontext gegeben. Nach dem Plebiszit (1922, vgl. Grenze 1922-1939 in Abb. 6, S. 79) lag das nun geteilte Oberschlesien in drei Ländern. Das zu Polen angegliederte Ost-Oberschlesien wurde zur autonomen Wojewodschaft Schlesien, auf deutscher Seite wurde die Provinz Oberschlesien entsprechend verkleinert. 1939 wurde Ost-Oberschlesien nach dem Einmarsch der Nazis wieder an Deutschland angegliedert. Aus OstOberschlesien entstand der Regierungsbezirk Kattowitz, der gemeinsam mit dem Regierungsbezirk Oppeln (verlor seinen Provinzstatus) in die Provinz Schlesien eingegliedert wurde. Ab 1941, in der deutschen Besatzungszeit, existierte erneut eine Provinz Oberschlesien mit den Regierungsbezirken Kattowitz und Oppeln (vgl. Abb. 7, S. 79). Nun war Kattowitz Hauptstadt. Allerdings wurden der Provinz auch Teile der Gebiete um Krakau und Kielce zugeordnet, weshalb sich hinter der Provinz Oberschlesien nun mehr verbarg als vorher (Lesiuk 1995: 28). Nach 1945 änderten sich die Verwaltungsgrenzen – nun in der VR Polen – erneut. Grob zusammengefasst orientierte sich die administrative Gliederung ab 1950 an dem geteilten Oberschlesien (Abb. 9, S. 80). Gegründet wurden die Wojewodschaft Oppeln und die Wojewodschaft Kattowitz (später unter der Bezeichnung „Schlesien“). Konstant blieb das Verwaltungskonstrukt damit nicht. Es kam immer wieder zu Gebietsänderungen, indem beispielsweise einzelne Kreise aus der Wojewodschaft Oppeln herausgelöst wurden und indem der Einzugsbereich der Wojewodschaft Schlesien verändert wurde. Die räumliche Ausdehnung der Wojewodschaften und damit auch der Bezeichnung „Schlesien“ änderte sich daher fortwährend (vgl. Abb. 8-11, S. 79-81). Der aktuelle Stand (Abb. 11, S. 81) ist der, dass es die Wojewodschaften Oppeln und Schlesien gibt, die jedoch mehr umfassen als das historische Oberschlesien. Im Osten der Wojewodschaft Schlesien wurde z.B. das Industriegebiet um Sosnowiec (Dombrowaer Kohlebecken) integriert, das zwar nicht zum historischen Oberschlesien und Preußen gehörte, allerdings eng verknüpft ist mit dem Industrierevier um Kattowitz und parallel auch in das Oberschlesische Industrierevier (GOP) als wirtschaftsbezogene Raumeinheit integriert wurde. Die Bezeichnung ‚Oberschlesien‘ wurde bei der Wojewodschaftsgliederung nicht berücksichtigt. Damit existiert es explizit in keiner raumordnenden Verwaltungseinheit mehr.
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Abbildungen 6-11: Entwicklung der Grenzverläufe in Oberschlesien
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Quelle: Eigene Darstellungen
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Oberschlesien – Śląsk – Górny Śląsk: Viele Namen und viele Grenzen Den ständigen Grenzverschiebungen und Gebietsreformen entsprechend gibt es eine große Begriffskonfusion um Oberschlesien, die es den Forschern eigentlich verwehrt, ohne Bedenken von Oberschlesien zu sprechen. Der semantische Umfang des Begriffs ‚Oberschlesien‘ unterlag fortwährend Änderungen und wurde zudem durch andere Bezeichnungen überprägt. Chmiel (2009: 167) sieht ab Mitte des 19. Jahrhunderts – zumindest in der polnischsprachigen Literatur – ein immer deutlicheres Verblassen des Begriffs ‚Oberschlesien‘ und eine zunehmende Konfusion bei polnisch-deutschen Übersetzungen. Erst im westlichen Teil Oberschlesiens, dann auch im Osten wurde der Begriff ‚Oberschlesien‘ zunehmend durch ‚Schlesien‘ (Śląsk) abgelöst, was nicht bedeutet, dass hiermit eine Ausweitung Oberschlesiens auf das niederschlesische Gebiet gemeint war. Es wurde schlichtweg das „Ober“ weggelassen: „Immer häufiger wird das von der polnischsprachigen Bevölkerung bewohnte und von Polen beanspruchte Gebiet als Schlesien bezeichnet, sodass es spätestens nach der Teilung Oberschlesiens zur Regel wird. […] Die drei polnischen Aufstände in den Jahren 1919-1921 sind allgemein als powstania śląskie bekannt und die oberschlesische Volksabstimmung als plebyscyt śląski. Die gesamten polnischen Verwaltungs- und Machtstrukturen im an Polen gefallenen Teil Oberschlesiens tragen von nun an in sämtlichen Bezeichnungen den amtlichen Namen Schlesien/schlesisch. Das fängt mit der neuen Woiwodschaft als województwo śląskie an und erstreckt sich fast ausnahmslos auf alle anderen staatlichen Instanzen und Amtsträger.“ (Chmiel 2009: 168)
Auch andere Institutionen und kirchliche Organisationsstrukturen folgten diesem Beispiel. Der Begriff ‚Oberschlesien‘ verschwand allmählich aus der Alltagssprache. So ist auch zu erklären, warum der oberschlesische Dialekt in Polen als „śląska gwara“ (schlesischer Dialekt) bezeichnet wird und „oberschlesische Identitäten“ über ein „być ślązakiem“ (Schlesier-Sein) ausgedrückt wurden/werden (ebd.: 168). Im deutschen Sprachgebrauch blieb die Bezeichnung ‚Oberschlesien‘ jedoch bestehen. So erhielt die selbstständige Provinz nach 1919 den Namen „Oberschlesien“. Der Polen zugesprochene Teil Oberschlesiens wurde in der deutschen Sprache ab diesem Zeitpunkt Ost-Oberschlesien genannt (ebd.: 168). In Polen wurde Oberschlesien (Śląsk) derweilen in zunehmendem Maße auf das Industriegebiet im Osten reduziert (Bartylla-Blanke 2004: 31; Smolorz 2012: 60) und dann im weiteren Verlauf sogar weiter in das angrenzende Industriegebiet um Sosnowiec, Dąbrowa Górnicza und Będzin ausgedehnt, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger kontinuierlich zur Wojewodschaft Schlesien dazugehört (Smolorz 2012: 309). „Śląsk“, das sich auch in der gleichnamigen Wojewodschaft wiederfindet, wurde somit immer häufiger als Äquivalent zu Oberschlesien verwendet, jedoch
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mit enger Fixierung auf das Industriegebiet bzw. das Wojewodschaftskonstrukt (Tambor 2011: 40). „Jade na Śląsk“ („Ich fahre nach Schlesien“) meint dann „Ich fahre in das oberschlesische Industriegebiet“ (Smolorz 2012: 59). Abgegrenzt hiervon werden „Śląsk Opolski“ (= Oppelner Schlesien) und „Dolny Śląsk“ (= Niederschlesien). Damit wird einerseits der historische Begriff ‚Schlesien‘, der zuvor Ober- und Niederschlesien umfasste, aus diesem größeren Zusammenhang herausgerissen und auf einen sehr kleinen Teil bezogen und andererseits das historische Oberschlesien mental aufgespalten. Chmiel fasst die heutige Begriffsverwirrung wie folgt zusammen: „Wer heutzutage den Gebrauch des Namens Schlesien in der polnischen Sprache verfolgt, wird ständig auf Missverständnisse stoßen. Zwar hat Breslau einen bekannten und durchaus erfolgreichen Sportverein Śląsk Wrocław, […] die heutige Universität nimmt aber, anders als im Fall der früheren Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität, keinen Bezug auf Schlesien. Schlesische Universitäten gibt es dafür in Kattowitz (Uniwersytet Śląski) und in Troppau (Slezska Universiteta). Das Schlesische Institut (Instytut Śląski), eine der ersten wissenschaftlichen Adressen in Oberschlesien, betreibt seine Forschungen in Oppeln. Die Schlesische Bibliothek (Biblioteka Śląska) hat ihren Sitz in Kattowitz, genauso wie das Schlesische Museum (Muzeum Śląskie), während das Oberschlesische Museum (Muzeum Górnośląskie) in Beuthen ansässig ist. Das Oppelner Regionalmuseum nennt sich wiederum Muzeum Śląska Opolskiego. Die deutschsprachige Sendung von Radio Opole heißt Schlesien aktuell, und die Zeitschrift der deutschen Minderheit erscheint in Oppeln unter dem Namen Schlesisches Wochenblatt, obwohl sich diese beiden Medien fast ausschließlich mit oberschlesischen Themen beschäftigen. Die Oberschlesier selbst bezeichnen sich seit Langem als ‚Schlesier‘ und nennen ihren polnischen Dialekt ‚schlesisch‘ (po śląsku). […] Die oberschlesische Autonomiebewegung heißt offiziell Ruch Autonomii Śląska (RAŚ), was leicht missverstanden werden kann, denn sie entfaltet ihre Aktivitäten nur auf dem Gebiet des historischen Oberschlesiens.“10 (Chmiel 2009: 170f.)
Neuere Entwicklungen: Die Metropolregion „Silesia“ Das Repertoire an konstruierten Raumangeboten rund um Oberschlesien und Śląsk wird aktuell noch erweitert. Wie bereits erwähnt, wurde in den 1950er Jahren in der polnischen Raumordnung der Górnosląski Okręg Przemysłowy (GOP, Oberschlesi-
10 Der Autor schreibt jedoch auch, dass vor allem im Kattowitzer Teil eine Renaissance des Begriffs „Oberschlesien“ zu beobachten ist. Sowohl innerhalb kirchlicher Strukturen als auch bei der Neugründung von Vereinen wurde auf den Begriff „Oberschlesien“ zurückgegriffen (Chmiel 2009: 171). Allerdings dürfte klar sein, dass der Alltagsgebrauch eines Begriffs einer starken Persistenz unterliegt und die jahrzehntelange Bedeutungslosigkeit des „Górny Śląsk“ (Oberschlesien) im Polnischen bestehen bleibt.
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sches Industrierevier) implementiert (Welfens 1989: 359), der das Indsutriegebiet um Kattowitz umfasst. Zu diesem Städtebund gehören allerdings auch Sosnowiec, Jaworzno und Dąbrowa Górnicza im Dombrowaer Kohlebecken, die historisch gesehen nicht zu Oberschlesien gehörten, aufgrund der räumlichen Nähe und ähnlicher Strukturen allerdings ebenfalls unter dem Mantel des Oberschlesischen Industriereviers gefasst wurden – zumal sie ohnehin auch in die Wojewodschaft Schlesien integriert wurden (Pakuła 1996: 491). Da die Raumeinheit des GOP eher eine administrative Bedeutung hatte und die Vernetzung im Industriegebiet zum Ziel hatte, ist fraglich, inwieweit sie von den Bewohnern wahrgenommen wurde. Für Außenstehende, so Tambor (2011: 40), hatte diese Vermischung des historischen Oberschlesiens mit anderen Gebieten (GOP, Wojewodschaft) allerdings zur Folge, dass mit Oberschlesien zunehmend großräumigere und vor allem neue Gebietskörperschaften assoziiert wurden. Aktuell wird diese Idee der 1950er Jahre wieder aufgegriffen. Auch in Polen sind Regional- und Lokalpolitiker auf die Idee der Metropolregionen aufmerksam geworden. Die neuste Idee ist die Etablierung einer Metropolregion „Silesia“, die sich in ihrem Namen an dem Begriff ‚Schlesien‘ orientiert. Der Ursprung der Metropolregion liegt im GOP, dessen Städte, wie Chmielewska/Szajnowska-Wysocka (2010: 5) bemerken, nie Metropolfunktionen besaßen und daher nicht mit Städten wie Warschau und Krakau auf nationaler Ebene konkurrieren konnten. Ende 2005 wurde der „Górnośląski Związek Metropolitalny“ (GZM) mit 14 Mitgliedsstädten gegründet. Die Ziele des GZM für die nächsten Jahrzehnte sind typisch für derartige Verbände: Das Industriegebiet soll durch Heranziehen von Investitionen und Förderung von Innovationen konkurrenzfähiger gemacht werden, wirtschaftliche Probleme und Herausforderungen sollen interkommunal angegangen werden11, und ein einheitliches Marketing sowie Touristikkonzept soll erarbeitet werden. 2009 wurde schließlich ein Strategieplan für die Entwicklung der Metropolregion bis zum Jahre 2025 vorgelegt (siehe Abb. 11, S. 81; Chmielewska/Szajnowska-Wysocka 2010: 6ff.). Interessanterweise gehört zu den Zielen auch die Etablierung einer ‚schlesischen Marke‘, was partiell auf Wiederstand stößt. Fragen des Verlustes von Eigenständigkeit und einer vermeintlichen regionalen Identität wurden laut (ebd.: 8). In
11 Im Industriegebiet um Kattowitz sind die Städte in vielen Bereichen ähnlich strukturiert (v.a. durch den Industrialiserungsprozess) und durch zahlreiche institutionelle und pendlerbezogene Beziehungen miteinander verknüpft. Durch die Folgen der raschen Industrialisierung und des Strukturwandels nach 1989 sind die lokalen Herausforderungen in allen Kommunen ähnlich (Chmielewska/Szajnowska-Wysocka 2010: 8). Die östliche Grenze des historischen Oberschlesiens verläuft durch das ‚Herz‘ dieses Industriegebiets, zwischen Kattowitz und Sosnowiec.
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Foren von Nachrichtenagenturen verdeutlichten Beiträge, dass der Deckmantel einer schlesischen Wojewodschaft für einen Teil der Bevölkerung eben doch nicht ausreicht, um alle Städte unter dem Mantel ‚Schlesien‘ zusammenfassen zu können. Historische Grenzen in den Köpfen der Einwohner und die Verbundenheit mit einem der vielen regionalen Konstrukte haben zumindest die emotionale Implementierung der neuen Marke erschwert. Für Chmielewska/Szajnowska-Wysocka sorgt vor allem der Name „Silesia“ für Konfusion, weil er sich auf das oberschlesische Industriegebiet bezieht und die nicht-schlesische Vergangenheit der restlichen Städte ausblendet. Zudem wird in den Städten des Dombrowaer Kohlebeckens in den Medien darüber diskutiert, ob die Angliederung der Städte an die Metropolregion mit einem Kompetenzverlust verbunden sein könnte. „Die anderen Oberschlesier“: Folgen der administrativen Teilung des historischen Oberschlesiens Durch die Teilung Oberschlesiens 1922 ergaben sich alternative Bezeichnungen, um die verwaltungstechnisch getrennten Räume auch begrifflich voneinander unterscheiden zu können. Zudem führte die Aufteilung Oberschlesiens unter zwei Nationalstaaten zu einer divergierenden sozialen und politischen Entwicklung in beiden Teilen. Für den westlichen Teil etablierte sich im Alltagsgebrauch, aber auch in Politik und Wissenschaft das „Oppelner Schlesien“. In den Nachkriegsjahren hat sich das „Oppelner Schlesien“ als identifikativ bedeutsame Bezugskategorie des WirKonzepts seiner Bewohner etabliert. Die Tatsache, dass dieses Oppelner Schlesien auch als Verwaltungseinheit (Wojewodschaft Oppeln) existieren konnte und auch bis heute existiert, verstärkte den Prozess zusätzlich. Spätestens 1998 wurde deutlich, wie bedeutsam diese oberschlesische Subregion für ihre Bevölkerung ist und wie politische Machtstrukturen zu ihrem Erhalt geführt haben. 1998, im Zuge einer großen Verwaltungsreform in Polen, wurde die Gesamtanzahl der Wojewodschaften in Polen von 49 auf 16 reduziert. Die Verwaltungsreform sah vor, auch die Wojewodschaft Oppeln aufzulösen und an die Wojewodschaft Schlesien anzugliedern. Dieses Vorhaben wurde allerdings nach massiven Protesten im Oppelner Teil verworfen, obwohl hierdurch das historische Oberschlesien – wenn auch unter anderen Voraussetzungen – vereint gewesen wäre. Für Oppeln zeigte sich, dass das Oppelner Schlesien als Bezugskategorie für Teile der Bevölkerung wichtiger war als der Mythos eines vereinten Oberschlesiens. Parteien, Verbände, Vereine, wissenschaftliche Institute und Gruppierungen von Bürgern sammelten Erklärungen für den Wunsch nach einer eigenständigen Wojewodschaft. Ob nur die Angst vor dem Anschluss an das von wirtschaftlichen und ökologischen Problemen betroffene Industriegebiet in Ost-Oberschlesien ausschlaggebend war, ist zu hinterfragen. Der ‚Oppelner Regionalismus‘ wird jedenfalls auch immer wieder mit der deutschen Minderheit im Oppelner Teil in Verbindung gebracht, die sich ebenfalls für eine eigenständige Wojewodschaft aussprach.
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Ohne Zweifel würde die politisch starke deutsche Minderheit der Wojewodschaft Oppeln in einer großen Wojewodschaft an Bedeutung verlieren, da ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sinken würde (Bartosz/Hofbauer 2000: 143). Zu beobachten waren allerdings auch Diskussionen um ‚kulturelle‘ Unterschiede zwischen beiden Teilen des historischen Oberschlesiens, die dem Postulat einer einheitlichen ‚oberschlesischen Kultur‘ scheinbar im Wege stehen. Der Chefredakteur einer großen Tageszeitung in der Wojewodschaft differenzierte zwischen beiden Oberschlesien-Teilen hinsichtlich ‚kultureller‘ Aspekte: Oppelner seien ruhig und sauber und hätten nichts mit der Großstadtkultur, pöbelnden Hooligans und sozialen Problemen zu tun. Das Oppelner Oberschlesien – so betonte der Redakteur – sei schon kultiviert gewesen als im östlichen Teil Oberschlesiens noch Wald war (ebd.: 143). Für Bartosz/Hofbauer (2000: 143ff.) sind es vor allem diese strukturellen Unterschiede, die zu einem starken (Sub-)Regionalbewusstsein im Oppelner Teil geführt haben und damit zu einer Abkopplung von der Oberkategorie ‚Oberschlesien‘.12 Es stellt sich nun also die Frage, wo überhaupt noch ein historisches Oberschlesien Relevanz hat. Sinnvoll erscheinen in jedem Fall die Analysen, die sich auf Wojewodschaften beziehen und sich so von der ‚Undefinierbarkeit‘ Oberschlesiens lösen. Allerdings werden immer wieder aus wojewodschaftsbezogenen Analysen missverständliche Rückschlüsse auf einen Gesamtraum ‚Oberschlesien‘ gezogen. Eine Abkehr von diesen Missverständnissen scheint nicht möglich, da die sozialen Phänomene scheinbar zu komplex sind. Komplex sind sie, weil sie sich in den alltäglichen Lebenswelten nicht immer an politische Grenzen halten und weil ihr subjektbezogener Ausdruck im Handeln nicht politischen und historischen Entwicklungen folgt, sondern sie durchquert und überlagert. Der Zugehörigkeit zu einem ‚Śląsk‘ oder dem Gefühl, ein (Ober-)Schlesier zu sein, liegen kognitive Prozesse zugrunde, an denen simple Kategorisierungen und räumliche Einteilungen scheitern. Weil ‚Śląsk‘ oder ‚Oberschlesien‘ räumlich diffus immer wieder zu hören sind, wird angenommen, dass es doch noch Phänomene gibt, die die historischen Gebiete vereinen. Die Hintergründe sind jedoch komplexer, weil die Wahrnehmung Oberschlesiens auf individueller Ebene durch subjektive Angrenzungsprozesse erfolgt. Die Teilung Oberschlesiens und die Etablierung der Oppelner Wojewodschaft haben nicht dazu geführt, dass sich die Bewohner des Oppelner Schlesiens nicht zu ‚Oberschlesien‘ oder ‚Śląsk‘ zugehörig fühlen können. Vielmehr wird das identifi-
12 In der Wojewodschaft Schlesien, die zum größten Teil Ost-Oberschlesien umfasst, leben rund um die Hauptstadt Kattowitz ca. vier Mio. Menschen. Dieser Teil ist auch weiterhin das industrielle Zentrum Oberschlesiens. 90% der Bevölkerung lebt in Städten. Die Wojewodschaft Oppeln, die mit wenigen Ausnahmen das Oppelner Schlesien darstellt, hat eine Bevölkerung von etwas mehr als einer Mio. und ist durch leichte Industrien sowie Landwirtschaft geprägt (Jonderko 2002: 208; Bartosz/Hofbauer 2000: 142).
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kative Raumangebot ‚Oppelner Schlesien‘ genutzt, um sich vom Industriegebiet zu distanzieren. Nur kann es eben passieren, dass sich sowohl ein ‚Oppelner‘ als auch ein ‚Kattowitzer‘ als ‚Ślązaki‘ bezeichnen, jedoch ‚Śląsk‘ als ein Konstrukt rund um das Oppelner Schlesien13 oder als das oberschlesische Industriegebiet definieren. Wenn ein ‚Oppelner‘ und ein ‚Kattowitzer‘ sich gleichzeitig als ‚Oberschlesier‘ bzw. ‚Schlesier‘ sehen, heißt das zudem noch lange nicht, dass sich beide gegenseitig als solche bezeichnen würden und an das ‚eine‘ Oberschlesien denken. Und genau hier liegt das Problem in vielen Forschungsansätzen zu oberschlesischen Identitäten: Es wird häufig von einem räumlichen Konsens ausgegangen, also einem fix abgegrenzten Erdausschnitt als Gesprächsgrundlage. Im Ruhrgebiet lassen sich gut Prozesse des Strukturwandels und in der Öresund-Region Pendlerbeziehungen analysieren, in Oberschlesien aber stoßen die Forscher bei der Verknüpfung von sozialen Phänomenen und Raumbezügen an Grenzen. Ein folgenschwerer Fehler ist, Ergebnisse auf einen ‚Raum‘ zu beziehen, ohne wirklich den ‚Raum‘ untersucht zu haben. So werden Untersuchungen im Industriegebiet um Kattowitz gemacht und dann ‚oberschlesische‘ Identitäten präsentiert, ohne den Raumbezug dieser Oberschlesienwelten zu reflektieren. Parallel werden oberschlesische Identitäten 120 km westlich nahe Oppeln erforscht und ebenfalls auf einen gedachten räumlichen Konsens bezogen. Vielfach werden Untersuchungen auch auf Teilräume des historischen Oberschlesiens bezogen – kommentarlos oder mit dem Verweis auf die Heterogenität der Gesamtregion. Diese Aufspaltung des Forschungsraums ‚Oberschlesien‘ lässt sich deutlich zwischen dem ländlich geprägten Oppelner Schlesien und dem industriellen Ost-Oberschlesien feststellen (vgl. Ullmann 1992: 222). Andererseits bemühten sich Autoren wie Rykiel (1989, 1995) oder Chmiel (2009) um einen Überblick über den „Gesamtraum Oberschlesien“ und über die Umstände der „kulturellen Aufspaltung“ der Region. Chmiel gibt dabei einen Überblick über das Begriffschaos um Oberschlesien und „Górny Śląsk“. Die Diskussion um das Kattowitzer und Oppelner Schlesien führte Anfang der 1990er Jahre zu einer Kritik an der Aufrechterhaltung des historischen Oberschlesiens. Der Soziologe Nawrocki stellte hier die folgende Frage: „Warum schlägt man
13 Auch das Oppelner Schlesien ist kein fixer Erdraumausschnitt. Ursprünglich war das Oppelner Schlesien gängige Bezeichnung für den Teil Oberschlesiens, der nach 1922 bei Deutschland verblieben ist. Heute ist das Oppelner Schlesien gleichbedeutend mit der Wojewodschaft Oppeln in Polen. Die Frage von individuellen Zugehörigkeiten ergibt sich dann etwa für die Städte Gliwice und Zabrze. Nach dem Plebiszit 1921 gehörten diese zu dem in Deutschland verbliebenen Gebiet „Oppelner Schlesien“. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie in die Wojewodschaft Kattowitz bzw. später Schlesien integriert, gehören damit administrativ nicht zum Oppelner Schlesien.
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eine Einbeziehung der Oppelner Region vor, die in 60 der vergangenen 70 Jahre das historische Los Oberschlesiens nicht geteilt hat?“ (Nawrocki 1993: 161, Übersetzung M.O) Nawrocki plädiert einerseits dafür, die beiden Teile gesondert zu betrachten, andererseits hierarchisiert er mit seiner Aussage beide Teile Oberschlesiens und differenziert in das „wahre Oberschlesien“ und das, was von diesem „abgekoppelt“ werden sollte. Diesem Vorschlag entsprechend sind viele Forschungsarbeiten mit Fokus auf die Wojewodschaftsgrenzen entstanden. Allerdings präsentieren diese nicht selten als Ergebnisse „oberschlesische Identitäten“. Kazimiera Wódz und Jacek Wódz (2006) haben die „Dimensions of Silesian Identity“ in ihrem Sammelband vollständig auf Kattowitzer Gebiet beschränkt und verweisen lediglich in einem Nebensatz auf die Nachbarregion „Oppelner Schlesien“. Sie beziehen ihre Ergebnisse jedoch explizit auf ein ‚Oberschlesien‘ und nicht auf die Wojewodschaft Schlesien (vgl. auch die Arbeit von Tambor 2011), was die Problematik des Umgangs mit dem vermeintlich einen Oberschlesien in der Forschung verdeutlicht.
4.4 D AS OBERSCHLESISCHE K ONSTRUKT II – S YMBOLISCHE AUFLADUNG EINER R EGION So diffus die Diskussion um die Grenzen Oberschlesiens ist, so vielschichtig ist auch die symbolische Aufladung der Region. Eines der vielen Argumente in der Politik für die Eigenständigkeit und Besonderheit Oberschlesiens ist die vermeintliche ‚Regionalkultur‘. In Wissenschaft und Medien wird in den letzten Jahren verstärkt die Frage diskutiert, was eigentlich noch von der ‚regionalen Kultur‘ in Oberschlesien geblieben ist – manchmal ohne genau zu definieren, was diese eigentlich ausmacht oder ohne kritisch zu hinterfragen, ob es sie überhaupt gibt. Sozialwissenschaftler bemühen sich, die ‚Oberschlesier‘ in Oberschlesien zu quantifizieren. Es ist vom Verblassen der ‚Kultur‘ die Rede, vom Verschwinden des Dialekts, von Polonisierung einer (im politischen Sinne) polnischen Region und vom europäischen Gedanken, der ohnehin alles überdecken werde. Es ist aber auch von Autonomiebewegungen die Rede, von Schlesisch-Unterricht in vielen Schulen, von der Metropolregion „Silesia“ und von der massenhaften Deklaration zum ‚Oberschlesier-Sein‘.14 All diese Prozesse und Phänomene finden parallel statt, sie schließen einander nicht aus. Anders als vor 1989 findet nun die politische Konstruktion von Oberschlesien über sehr viele und teils konträre politische Plattformen statt (z.B.
14 Im Jahr 2002 deklarierten in einer Volkszählung in den Wojewodschaften Oppeln und Schlesien bei insgesamt 5.807.917 Einwohnern 138.737 Menschen eine deutsche und 172.743 eine oberschlesische Nationalität (im Original „schlesisch“/„śląska“) (Lis 2010: 45).
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Autonomiebewegung, Regierung, Wojewodschaften). Zudem ist eine große Medienlandschaft entstanden, die eine ‚oberschlesische Perspektive‘ eingenommen hat. So werden verschiedene ‚oberschlesische Kulturen‘ produziert, widerlegt und gefördert. Für die subjektive Wahrnehmung und Konstruktion von Oberschlesien hat sich die Anzahl identitätsstiftender Angebote erhöht. Es kann daher von verschiedenen Oberschlesien-Regionen gesprochen werden. Oberschlesien wird ständig und immer wieder anders produziert, und gerade weil die Regionaldebatte in Polen politisch brisant ist, wird Oberschlesien auch für verschiedene Ziele instrumentalisiert. In der wissenschaftlichen Diskussion um die Rolle Oberschlesiens und die Eigenständigkeit der Region fiel und fällt auch weiterhin sehr häufig der Begriff der ‚Kultur‘ bzw. ‚Regionalkultur‘. Letztere wird auf unterschiedliche Art und Weise hergeleitet und abgegrenzt. Ab den 1980er Jahren wurde diese vermeintliche ‚Regionalkultur‘ in vielen Arbeiten konstruiert, hier vor allem aus einer essentialistischen Perspektive und in Anlehnung an den klassischen Kulturbegriff. Diese Sichtweise wurde seit einigen Jahren aufgebrochen. Stärker auf die Rekonstruktion Oberschlesiens ausgerichtete Arbeiten beschäftigen sich mit der diskursiven Produktion von Oberschlesien und individuellen Oberschlesienwelten. Sie werfen die Frage auf, was Oberschlesien und eine vermeintliche oberschlesische Bevölkerung nach den zahlreichen Grenzverschiebungen, nationalen Germanisierungs- und Polonisierungspolitiken, der Vertreibung von zehntausenden Menschen und der Ansiedlung verschiedenster Gruppen überhaupt noch bedeuten können. Die Suche nach ‚der oberschlesischen Kultur und Identität‘ in Anlehnung an den alten Kulturbegriff Ab Mitte der 1980er Jahre haben sich einige Autoren aus der Ethnographie, Soziologie und Geschichte zum Ziel gesetzt, eine vermeintliche homogene ‚oberschlesische Kultur‘ zu erfassen bzw. die Existenz eines Oberschlesiertums bzw. einer oberschlesischen Ethnizität zu diskutieren. Sehr häufig erfolgte die Oberschlesienforschung aus einer Innenperspektive, d.h. durch Wissenschaftler, die selbst in Oberschlesien geboren sind und an den dortigen Universitäten arbeiten. Besonders die Arbeiten von Simonides ragen hier heraus. Die Ethnographin hat sich in zahlreichen Werken mit Oberschlesien und „den Oberschlesiern“ beschäftigt (vgl. Simonides 1995). Simonides hat in ihrem breit angelegten Sammelwerk von 1989 versucht, Oberschlesien und seine Geschichte, Traditionen, Bräuche und den Dialekt zu ‚homogenisieren‘ und das Besondere der ‚Region‘ und seiner ‚Subregionen‘ herauszuheben (Simonides 1989). In vielen Arbeiten wird als zentrales Charakteristikum die Rand- und Zwischenstellung Oberschlesiens als Grenzgebiet herausgestellt, in dem sowohl deutsche als auch polnische Einflüsse seit Hunderten von Jahren bestanden haben. Dabei wird betont, dass obwohl Oberschlesien seit dem 14. Jahrhundert zu Böhmen, den Habsburgern und später zu Preußen gehörte, die slawische Komponente jedoch nie ver-
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loren gegangen sei (vgl. Simonides 1995: 72, 1989). Der beste Beweis dafür sei der Erhalt der polnischen Sprache. Als Konstanten in der Entwicklung Oberschlesiens werden daher die Grenzlage und eine spezifische „Grenzkultur“ gesehen (Chmielewska/Szajnowska-Wysocka 2011). Soziologen in Polen sprechen hier von einer Vermischung verschiedener ‚kultureller‘ Elemente und der Formung einer auf das Grenzgebiet bezogenen ‚kulturellen‘ Eigenart (Szczepański et al. 1994), die in einigen Arbeiten auch spezifiziert wird. Simonides (1995: 74) sieht in der Bindung an die „Heimat“, im Familienzusammenhalt und in der Religiosität charakteristische Merkmale eines „Oberschlesiers“. Weiterhin benennt die Autorin ein ausgeprägtes ethnisches Bewusstsein bei gleichzeitig niedrigem Nationalbewusstsein. Damit meint die Autorin, dass Oberschlesier stark in ihrer vermeintlichen „oberschlesischen Kultur“ verankert seien und ein auf die oberschlesische Gruppe ausgerichtetes, subjektives Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, das sich auf eine gemeinsame Herkunft und gefühlte Andersartigkeit im Vergleich zu anderen Gruppen beziehe. Durch dieses starke Zugehörigkeitsgefühl zu einer regional verankerten Gruppe sei das Nationalbewusstsein der Oberschlesier gering. Die verschiedenen Einflüsse von deutscher und polnischer Seite fasst die Autorin unter „kulturelle Doppelorientierung“ zusammen (Simonides 1995: 70ff.). Ein wichtiger Diskussionspunkt ist die Nationalität und nationale Zugehörigkeit in Oberschlesien (vgl. Lis 2001). Die Grenzverschiebungen Anfang der 1920er Jahre, aber auch nach dem Zweitem Weltkrieg veränderten die Zugehörigkeit zu einer Nation unter politischen Aspekten. Besonders der mehrfache Wechsel der objektiven Zugehörigkeit zu einer Nation lässt es für einige Autoren plausibel erscheinen, die Region als räumliche Basis von Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukten hervorzuheben. Die „Unsicherheit“ über die nationale Zugehörigkeit wird als eine wichtige Voraussetzung der Herausbildung oberschlesischer Identitäten und der Festigung einer vermeintlichen ‚oberschlesischen Kultur‘ gesehen. Es wird betont, dass die Option „oberschlesisch“ oder „schlesisch“ zahlenmäßig sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell nicht zu verachten sei (Tambor 2011: 51). Von einer Revitalisierung der „oberschlesischen Identität“ und einer neuen Regionalisierung in Polen seit 1989 ist zudem die Rede (Wódz 1993b; vgl. Glimos-Nadgórska 1995), obwohl zu hinterfragen ist, was letztlich der Hintergrund dieser „regionalen Option“ ist (vgl. Gorzelak/Jałowiecki 1993). Śmiełowska interpretiert dies so, dass der Bezug zu Oberschlesien als regionale Kategorie das einzige Zugehörigkeitsangebot war/ist, das als beständig und sicher empfunden wurde/wird, während die Geschichte die Menschen lehrte, dass die objektive nationale Zugehörigkeit immer wieder Änderungen unterworfen war. Oberschlesien als Boden unter den Füßen könne den Menschen, anders als die objektive nationale Zugehörigkeit, nicht weggenommen werden (Śmiełowska 1998: 225f.). Ohne Zweifel war die Frage der gefühlten Nationalität in Oberschlesien nicht notwendigerweise an das Geburtsland gebunden. Folgen der individuellen Wirkungen der Nationalisierungspolitik, Familienstruktu-
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ren, aber auch persönliche Erfahrungen bestimmten die Wahl, die durchaus mehrmals im Leben wiederholt werden konnte (Simonides 2004: 158ff.). Grabe sieht die Ergebnisse von Befragungen zu Zugehörigkeiten pragmatisch: Die Bevölkerung in Oberschlesien sei in der jüngeren Geschichte (Plebiszit, zur Zeit des Nationalismus, nach dem 2. WK, nach ihrer Aussiedlung) immer wieder nach ihrer Zugehörigkeit gefragt worden. Sie hätten dabei gelernt, die entsprechende Antwort strategisch an die jeweilige Situation anzupassen (Grabe 2000: 241). In der quantitativ ausgerichteten Oberschlesienforschung wurde vor diesem Hintergrund versucht, die „oberschlesische Identität“ in Zahlen zu fassen. Um ein allumfassendes Bild der Situation zu erzeugen, wurden gerne Kategorisierungen der Bevölkerung vorgenommen (vgl. Reiter 1960; Kneip 1999: 48). Solche Unterteilungen, die vorwiegend auf sprachlichen Kriterien beruhen, wurden dabei für einzelne Gemeinden oder für Teile Oberschlesiens vorgenommen. Regionale Zugehörigkeiten wurden vor allem durch die Frage „Wer bist du?“ konstruiert, sehr häufig auch mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (ethnische/nationale Kategorien). In den Ergebnissen wurde dann eine dominante Zahl von Oberschlesiern bzw. sich als oberschlesisch/schlesisch deklarierenden Personen präsentiert (Grabe 2000: 240; Ergebnisse vgl. Simonides 1995: 75; Berlińska et al. 1994). Jasiński (2009) etwa diskutiert eine Schülerbefragung im Oppelner Schlesien aus dem Jahr 2007, in der sich zwar die Hälfte der Schüler als Polen beschrieben haben, jedoch auch viele gemischte Angaben (Schlesier und Pole, Schlesier und Deutscher) bzw. die Wahl der Kategorie „Schlesier“ zu beobachten waren. Bartosz/Hofbauer (2000: 143) bilden beispielsweise drei Gruppen: zunächst die autochthonen Schlesier mit deutscher Muttersprache bzw. Großmuttersprache, die polnisch-sprachigen autochthonen Schlesier und die neu Hinzugezogenen, die sich wenig bis gar nicht auf schlesische ‚Kulturelemente‘ beziehen. Die Kategorisierung auf der Basis von (Mutter-) Sprache ist vor allem aktuell zu hinterfragen, da sie kein ausreichendes Kriterium für Identitäts- und Zugehörigkeitsmuster darstellt. Die hybriden Sprachmuster in Polen sind zu komplex, um aus ihnen Zugehörigkeiten oder ‚kulturelle‘ Ausrichtungen rekonstruieren zu können. Dialekte und Hochpolnisch schließen sich nicht aus. Mit ihnen kann auch nicht zwischen sog. ‚Einheimischen‘ und Zugezogenen (zugewanderte Polen nach 1950 und ihre Nachfahren) unterschieden werden. Den Zugezogenen der 1950er, 1960er und 1970er Jahre ohne ‚oberschlesische‘ Abstammung kann eine Zugehörigkeit zur Region nicht einfach pauschal abgesprochen werden. Alternative Oberschlesienkonstrukte können eben nur aufgedeckt werden, wenn der Forschungszugang nicht über vordefinierte Gruppen und Räume erfolgt. All diese stärker quantitativen und auf einen homogenen und existierenden Kulturbegriff ausgerichteten Arbeiten haben gemeinsam, dass sie davon ausgehen, eine ‚oberschlesische Identität‘ und eine ‚Regionalkultur‘ seien ‚real‘ und wählbar. Sehr häufig wird auch von der oberschlesischen Identität gesprochen und kein Platz für
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die individuelle Perspektive gelassen (vgl. Gawrecki 2009). Damit wird die Komplexität der Fragestellung ausgeblendet und es wird höchstens ein Hinweis gegeben, dass ein Ort, der als ‚Oberschlesien‘ bezeichnet wird, eine Bedeutung für eine bestimmte Anzahl an Menschen hat. Unklar bleibt, warum sich die Befragten für bestimmte Raumbezüge entscheiden. Denkbar ist, dass sie ihre Zugehörigkeiten nicht anders ausdrücken können, weil es an ausdrückbaren Alternativen fehlt. Zudem sollte bei einer ‚Bindung‘ an ‚Oberschlesien/Schlesien‘ nicht vorschnell von einer ‚regionalen Bindung“ ausgegangen werden, weil es auch durchaus denkbar ist, dass diese über einen ausgeprägten Lokalpatriotismus entsteht. Außerdem sind die Ergebnisse aufgrund der Begriffsverwirrung um Schlesien/Oberschlesien/Śląsk/Górny Śląsk und das Abgrenzungsproblem zu hinterfragen. Oberschlesien 2.0 – Die Rekonstruktion der Region In den letzten Jahren wird nun von verschiedenen Forschern und Journalisten der Versuch unternommen, das Phänomen ‚Oberschlesien‘ zu fassen und seine Bedeutung herauszustellen. Der erste Schritt hierfür liegt in der Erkenntnis, dass die Deklaration zum ‚Oberschlesier-Sein‘ zunächst sehr viele unterschiedliche Positionierungen implizieren kann: Smolińska (2009: 200) sieht in einer Deklaration als „Oberschlesier“ erst mal nur eine Abgrenzung von nationalen Kategorien. PalengaMöllenbeck sieht verschiedene Bedeutungsebenen: „In manchen Fällen dient es dazu, Elemente sowohl deutscher als auch polnischer Kultur zusammenzufassen; in anderen Fällen dient es dazu, sich sowohl von Deutschen als auch von Polen mit ihren jeweiligen ethnischen Alleinvertretungsansprüchen und Vereinnahmungsversuchen zu distanzieren.“ (Palenga-Möllenbeck 2006a: 2101) Genauso verhält es sich mit der vermeintlichen ‚Regionalkultur‘. Dass sie als Identitätsbaustein kommuniziert wird, macht sie diskussionswürdig, allerdings nur als sprachlichen Konsens für sehr unterschiedliche Wahrnehmungsprozesse. ‚Kultur‘ kann nicht als ordnende, flächenhaft abgrenzbare Ausprägung von Phänomenen wie Sprache oder Traditionen gesehen werden, die homogene Einheiten (Länder, Regionen) produziert. Sie entsteht vielmehr in den Köpfen einzelner Individuen. Die eigene Zugehörigkeit zu einer oder mehrerer ‚Kulturen‘ und die Abgrenzung anderer ‚Kulturen‘ ist ein Konstrukt. Es entstehen Kulturformen, die verschiedenen Einflüssen, unabhängig von nationalen und regionalen Grenzen, unterliegen. Wenn die Identität oder Zugehörigkeit eines Menschen durch eine ‚Region Oberschlesien‘ ausgedrückt wird, können damit keine exakte Adressangabe und auch kein klar definierter Inhalt gemeint sein. Oberschlesien kann eine Stadt und ihr Umland, das Industriegebiet oder Südpolen sein. Seine Konstruktion bezieht sich auf Erinnerungen, Erfahrungen, Wahrnehmungen, also auf Emotionen und persönliches Wissen. Aus diesem Grund ist es nicht so, als spielten physische Räume keine Rolle. „Sie können dies nur nicht […] in ihrer (vermeintlich) ‚objektiven‘ physisch-materiellen Struktur und in Form quasi kausaler Wirkungsmechanismen tun“, wie Reuber (2012: 66) festhält. Sie sind als
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gesellschaftliche Produkte zu sehen, weil ihre diskursive Aneignung stets mit Sinnund Bedeutungszuschreibungen verbunden ist (Miggelbrink 2012: 74). Bei der Aussage „Oberschlesien gefällt mir, weil die Leute und die Kultur einmalig sind“, ist also nicht klar, welche Eigenschaften den Leuten oder der Kultur zugeschrieben werden. Diese konstruktivistische Perspektive auf ‚Raum‘ und ‚Kultur‘ zeigt sich partiell seit einigen Jahren auch in der Oberschlesienforschung. Auch hier treten sehr häufig lokale Akteure aus Wissenschaft und Medien auf. Die Frage, ob es so etwas wie die eine oberschlesische Identität geben kann und was einzelne Symbole einer vermeintlichen ‚Kultur‘ bedeuten, hat bereits Rzymełka im Jahr 1995 (1995: 90ff.) gestellt (vgl. auch der Sammelband von Wódz aus dem Jahr 1990 mit dem Titel „Oberschlesien in den Augen der Oberschlesier“; Wódz 1993a). Auch Zgorzelska (1994) stellt in ihrem gleichnamigen Aufsatz die Frage „Was ist Oberschlesien?“ In einigen Forschungen findet dabei eine Abkehr von der Analyse historischer Fakten zu Gunsten einer stärker auf subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeiten und Diskursen basierenden Betrachtungsweise statt. Dabei gibt es grob gegliedert zwei Richtungen: Zum einen werden oberschlesienbezogene Diskurse analysiert. Zum anderen werden in qualitativen Ansätzen oberschlesische Identitäten auf individueller Ebene rekonstruiert. Mit der diskursiven Produktion von Oberschlesien hat sich Michał Smolorz, ein Publizist und Fernsehproduzent, in seinem 2012 erschienen Buch „Śląsk wymyślony“ beschäftigt. Der Autor diskutiert das „erfundene Schlesien“ durch die Medienlandschaft. Er kommt zu der Erkenntnis, dass Oberschlesien heute auf einer konstruierten Folklore und Tradition beruht und die in der Literatur verbreitete Definition einer authentischen „Urkultur“ ein Produkt der Medien ist (Smolorz 2012). Smolińska (2009) hat sich mit Printmedien zu Oberschlesien und „oberschlesischer Kultur“ beschäftigt. In diversen Büchern, Radiobeiträgen und TV-Sendungen findet seit einigen Jahren eine Aufarbeitung von Oberschlesien statt, z.T. mit dem Ziel des Erhalts der „Regionalkultur“. Von engagierten lokalen Akteuren erscheinen Bücher mit der Aufarbeitung lokaler und regionaler Spezifika in ‚Kultur‘ und Sprache, in der Schule wird mittlerweile Regionalkunde implementiert. Smolińska (2009: 207) sieht in diesen Entwicklungen ein festes Beharren auf Stereotypen (Fleiß des Mannes, Religiosität etc.) und historischen Ereignissen, die aktuellen Perspektiven nicht gerecht werden. Die Autorin fragt nach der Aktualität und Bedeutung der neuen Kulturproduktion in Oberschlesien, die nun das Besondere und Eigene in Sprache, Geschichte und ‚Kultur‘ hervorzuheben versucht. Nach den Migrationsdynamiken der letzten Jahrzehnte ist unklar, wessen Eigenes hier überhaupt gemeint ist. Einen anderen Zugang wählten Odoj (2009) und Gerlich (2009), die sich mit dem Image Oberschlesiens vor dem Kontext des Strukturwandels beschäftigen. Odoj (2009: 171ff.) beobachtet im industriellen Oberschlesien durch den Strukturwandel weitreichende sozio-ökonomische Veränderungen und einen tiefgreifenden
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Imagewandel (vgl. auch Gerlich 2009: 191). Durch die Veränderungen in den Arbeitsmarktstrukturen sei eine deutliche Verstärkung sozialer Ungleichheit zu beobachten. Segregation lässt sich in freiwilliger Form in neuen Wohngebieten erkennen und eben auch in ehemaligen und unsanierten Arbeitersiedlungen. Nach Odoj entsteht nun eine neue Heterogenität durch ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Adressen. In den Vierteln gehen durch die Schließung von Industrieanlagen die zentralen Funktionen verloren, die Viertel verlieren Arbeitsplätze, soziale Kontrolle und ihr eigentliches Zentrum. Dass prägende Elemente wie Industrieanlagen verschwinden, führe zudem bei der Bevölkerung zu einer Angst um das Verblassen der „sichtbaren“ oberschlesischen Tradition (vgl. Gerlich 2009: 191). Odoj (2009: 176ff.) nimmt an, dass sich, befreit vom Stigma einer Zechen- und Kohleregion, die kollektive Identität der Einwohner Oberschlesiens ändern wird. So würde vor allem das Bild der Bergbaustädte mit ihren „familokis“15 revidiert und nun von neuen Konsummustern und neuen Lebensstilen geprägt werden. Aus den Arbeiten zur Rekonstruktion oberschlesischer Identitäten soll nun die Monographie von Tambor aus dem Jahr 2011 vorgestellt werden. Die Autorin, selbst bekennende Oberschlesierin, hat sich mit der Frage beschäftigt, wie das, was als „echt ślońskie“ (Gerlich 2009: 181) bzw. als „oberschlesisch“ gesehen wird, auf der Subjektebene konstruiert wird. Die Autorin hat auf Basis von Gesprächen mit Einwohnern der Wojewodschaft Schlesien versucht, das subjektiv bzw. kollektiv konstruierte Oberschlesiertum der Bevölkerung zu rekonstruieren.16 Die Autorin hat dafür ein autostereotypisches und autoprototypisches Bild ermittelt. Eine wichtige Grundlage für beide sieht Tambor im Diskurs des ‚oberschlesischen Unrechts‘ als kollektiv erlebte ‚Ungerechtigkeit‘ der Bewohner Oberschlesiens. Auch wenn es individuell unterschiedlich empfunden oder erlebt wird, wird in den Interviews stets eine Randposition Oberschlesiens betont. „Von keiner Nation wertgeschätzt und stets ausgebeutet sowie unterdrückt“ sei das häufig konservierte Schicksal der Oberschlesier in diesem durch Politik, Medien und Wissenschaft vermittelten Diskurs, der dann die Grundlage für ein Gemeinschaftsgefühl bildet. Diese Ungerechtigkeit sei zwar nicht allen konkret widerfahren und von Generation zu Generation von unterschiedlicher Bedeutung, befinde sich jedoch im individuellen Bewusstsein (Tambor 2011: 75). Die Ungerechtigkeit, die Oberschlesiern nach 1945 durch empfundene Diskriminierung widerfahren ist, sei in der Folgezeit an die nächsten Generationen weitergegeben worden. Hierzu passt der Begriff des „kollektiven Gedächt-
15 Wohnhäuser, die vor allem in Arbeitersiedlungen der Industriestädte errichtet wurden. Sie sind zwei- bis dreigeschossig. Häufig bildeten mehrere „familokis“ Innenhöfe, in denen sich das semi-öffentliche Leben dieser kleinen Quartiere abspielte. 16 Das Oppelner Schlesien blendet die Autorin aus, was die Untersuchung auf das Industriegebiet zentriert.
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nisses“, in dem „jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum in eine Lehre, einen Begriff, ein Symbol übertragen [wird], wenn sie bzw. es in das kollektive Gedächtnis eintritt und Sinn erhält, indem sie/es ein Element des Ideensystems der Gesellschaft wird“ (Hein-Kircher 2008: 13). Die gefühlte Zugehörigkeit zu diesem Ideensystem kann dann eine kollektive Identität aufbauen. Für diese sind gedächtnisbasierte Erzählungen relevant, die letztlich Kollektiverfahrungen in Form von Fremderzählungen sind. Und diese Erzählungen sind aus der konstruktivistischen Perspektive immer selektiv und vereinnahmen die Vergangenheit. Die Kollektiverfahrungen sind damit an ein Subjekt gebunden, das vergisst, behält und verdrängt. Sie werden durch gemeinsame Werte, Meinungen und Mentalitäten geprägt (ebd.: 14; vgl. auch Gerlich 2009: 181). Raumbezug entsteht hier in Form von Erinnerungsorten, die Kristallisationspunkte von Erinnerungsprozessen sind. Sie können materieller oder immaterieller Form sein, also mythische Gestalten, Ereignisse oder Gebäude darstellen. Jedoch sind sie – wie schon in Kapitel 2 hergeleitet – nicht wegen ihrer Materialität, sondern ihrer symbolischen Aufladung wichtig für ein kollektives Gedächtnis oder ein Geschichtsbewusstsein. Sie können symbolhaft für Gemeinsames oder Typisches stehen (Hein-Kircher 2008: 16ff.). Vor allem das Bild der „Ausbeutung der Region und der Arbeitskräfte“ ermittelt Tambor in ihren Interviews als wesentliches Element des Geschichtsbewusstseins und als ein gruppenspezifisches Abgrenzungsmerkmal, auch wenn sich in Erinnerung gebliebene negative Erlebnisse häufig auf das Schicksal von Eltern oder Großeltern beziehen. Die empfundene Ungerechtigkeit gegenüber Oberschlesien hat dabei drei Dimensionen: eine geistige (der Zugang zu wichtigen Positionen bleibt verwehrt), eine ökonomische (Rohstoffe und Kapital fließen ab, ökologische Probleme) und eine körperliche (Schwerstarbeit in der Montanindustrie) (Tambor 2011: 79f.). Die Autorin sieht jedoch auch einen Wandel dieser Proto- und Stereotype, und zwar insofern als diese teilweise nur noch eine geringe Bedeutung für persönliche Lebensentwürfe haben. Vieles vom Stereotyp wird durch die Befragten nun stärker auf die Vergangenheit bezogen und oftmals relativiert. Zudem distanzieren sich die interviewten Personen häufig von diesen „alten Konflikten“ (ebd.: 210f.). Es gibt häufig Erinnerungen an familiäre Situationen, in denen die Beziehung zwischen den „gorolen“ und „hanysy“ eine mehr oder weniger starke Rolle gespielt hat, beispielsweise, wenn sich die Eltern gegen die Heirat ihrer Tochter mit einem Nichtoberschlesier ausgesprochen haben. „Das ‚äußere‘ Wissen um den Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden wird dem ‚inneren‘ Wissen, d.h. dem eigenen Empfinden klar gegenübergestellt. […] Frühere Haltungen anderer Familienangehöriger stehen im Gegensatz zum eigenen Empfinden.“ (ebd.: 210f.) Ganz ausgestorben sieht die Autorin den Konflikt allerdings nicht: „Die Aussagen beziehen sich auf die Vergangenheit und dennoch rufen sie viele Emotionen hervor. Selbst nach anfänglichen Bekundungen der Toleranz und Achtung jeglicher Andersartig-
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keit [...] führen derartige Erinnerungen zu extrem negativen Urteilen gegenüber den Zugezogenen.“ (ebd.: 217) Im Falle selbst erlebter Diskriminierung als Oberschlesier spielt der Konflikt auch nach wie vor eine Rolle, und es zeigt sich, dass Abneigungen oder negative Bilder von „echten Polen“ aufrechterhalten werden (ebd.: 218ff.). Neben dem kollektiven Schicksal der Bevölkerung hat die Autorin als weitere Elemente des oberschlesischen Stereotyps Fleiß, Reinlichkeit und eine Art „Dusseligkeit“ ermittelt. Letzteres führen die interviewten Personen auf einen niedrigeren Bildungsstatus, die Unfähigkeit, die polnische Sprache korrekt zu sprechen, aber auch auf eine fehlende Durchsetzungsfähigkeit bzw. Strebsamkeit zurück. Dabei sind diese Eigenschaften nicht unbedingt negativ konnotiert, vielmehr mit einer Art Bescheidenheit belegt. Weiterhin dienen diese Merkmale als Abgrenzungskriterien zu Nicht-Oberschlesiern bzw. Polen, da diesen in den Interviews z.T. eine gegenteilige Ausprägung der Merkmale zugesprochen wird. Weiterhin hat die Autorin durch ihre Interviews Religiosität und Familiensinn als Bausteine des Stereotyps festhalten können. Dabei werden der regelmäßige Kirchenbesuch und die Bedeutung von Wallfahrtsorten betont. Das Thema „Familiensinn“ wird auch im Zusammenhang mit einer vermeintlich begrenzten territorialen Mobilität der Oberschlesier diskutiert. Jonderko schreibt hierzu: „Räumliche Bewegungen gingen in der Regel nicht über die allernächste Umgebung hinaus und blieben auf Oberschlesien begrenzt.“ (Jonderko 2002: 218) Der Autor sieht diese Charakteristik im engen Zusammenhang mit der für ihn typischen Beschränkung auf das familiäre Umfeld. Das persönliche Netzwerk bestand vor allem aus Nachbarn, Familienmitgliedern und Kontakten aus dem näheren Wohnumfeld. Gerlich (2009: 192) sieht in der starken lokalen und regionalen Verwurzelung ein Problem bei der Orientierungsfähigkeit in anderen Kontexten. Die starke Fokussierung auf das Wohnumfeld wurde nach Meinung von Jonderko im Wesentlichen durch die starke Homogenität der Viertel begünstigt. Kontakte außerhalb dieser Netzwerke ergaben sich dann im Schul- und Arbeitsplatzumfeld. Insgesamt sieht Jonderko, dass die enge Fokussierung auf das Wohnumfeld und den familiären Kontext die Distanzierung von anderen Gruppen, insbesondere den Zugwanderten verstärkte: „Man muß an dieser Stelle aber betonen, daß die Tendenz, gesellschaftliche Kontakte auf den eigenen Kulturkreis zu beschränken, auch auf die zugewanderte Bevölkerung zutraf. Die kann als ein Indikator für die gegenseitige Distanzierung von Mitgliedern beider Gemeinschaften gewertet werden. […] Aufgrund der Abgeschlossenheit der jeweiligen Milieus waren gegenseitige Stereotype besonders stabil und wurden durch die wenigen Kontakte angereichert. So hielten sich Einstellungen und Verhaltensweisen, die auf Vorurteilen beruhten.“ (Jonderko 2002: 219)
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Zum Prototypen eines Oberschlesiers aus Sicht der Interviewpartner bei Tambor (2011: 174ff.) gehören die Sprache, Herkunft, eine spezielle Berufsausrichtung und die hier als „Hausfrauenphänomen“ bezeichnete berufliche Rollenverteilung von Mann und Frau. Der oberschlesische Dialekt wird zudem häufig als das zentrale Merkmal gesehen (vgl. Tambor 2011: 68). Die Sprache dient dabei der Abgrenzung zu anderen Gruppen und der Identifikation Gleichgesinnter. Tambor beobachtet in ihren Interviews, dass die Sprache schnell zu einem Ausschlussmechanismus führt: Ein „echter Oberschlesier“ muss eben auch schlesisch sprechen können (ebd.: 68, 196). Die Sprache ist, wie so oft in Regionalsierungsdebatten, auch hier das am effektivsten nutzbare Differenzierungsmoment in der Definition der eigenen WirGruppe (vgl. Gerlich 2009: 189; vgl. Exkurs „Die Bedeutung des Dialekts in Oberschlesien“). Exkurs: Die Bedeutung des Dialekts in Oberschlesien An die Diskussion um die Eigenständigkeit und Existenz einer ‚oberschlesischen Kultur‘ ist häufig die Frage nach der Eigenständigkeit des oberschlesischen Dialekts gekoppelt. Die Autonomiebewegung in Oberschlesien verweist beispielsweise in ihrer Argumentation gerne auf die Eigenständigkeit des Oberschlesischen (Tambor 2011: 26). Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass Oberschlesisch nicht so spezifisch und daher für Polen in den übrigen Regionen zu verstehen ist (Simonides 1997: 8). Chmiel spricht hier vom „Polnisch der Oberschlesier“ und einer „urpolnischen Mundart“ (Chmiel 2001: 180; vgl. Olesch 1978: 33). Auch Mak (1935: 45) hat bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jh. von einem oberschlesischen Polnisch als Mundart gesprochen. Prinzipiell ist der Begriff des „oberschlesischen Dialekts“ irreführend. Der Dialekt, oder besser gesagt die Dialekte, die in Oberschlesien gesprochen werden, werden im Polnischen als „gwara śląska“ und im Dialekt selbst als „ślońsko godka“ bezeichnet. Damit bezieht sich die Namensgebung im Polnischen auf ‚Schlesien‘, meint aber explizit das historische Oberschlesien. Ein Schlesisch, aus einem deutschen Verständnis heraus, bezieht sich auf den deutschen Dialekt in Niederschlesien (in dem Gerhard Hauptmann teils geschrieben hat). Seltener wird für den oberschlesischen Dialekt die Bezeichnung „Wasserpolnisch“ benutzt (vgl. Reiter 1985). Dieser Begriff ist eher negativ konnotiert, weshalb er sich in dieser Arbeit nicht als Bezeichnung eignet. Um Konfusionen zu vermeiden, soll im Folgenden der gesprochene Dialekt in Oberschlesien als „oberschlesisch“ bezeichnet werden. Auch wenn es der Übersetzung ins Polnische (po śląsku) nicht gerecht wird, ist diese Alternative sinnvoller als die Bezeichnung „schlesisch“.
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Der oberschlesische Dialekt17 wird seit Jahrhunderten verwendet und damit nicht erst, seit Oberschlesien schrittweise ab 1922 an Polen angegliedert wurde (Chmiel 2001: 180). Er existierte ursprünglich nicht als Schriftsprache. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde an einigen Stellen versucht, eine solche zu etablieren, doch letztlich blieb das Oberschlesisch ein gesprochener Dialekt. In letzter Zeit wurden viele Kodierungen veröffentlicht. Oberschlesisch-Polnische Wörterbücher erschienen im Buchhandel, genauso wie im Dialekt verfasste Geschichten, Lexika oder Lieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel das Oberschlesisch zunächst den Repolonisierungsabsichten der Regierung zum Opfer, da es eine Verbindung zur deutschen Sprache aufweist und damit als „störendes Element“ eingestuft wurde. Die deutsche Sprache musste aus Sicht der Regierung vollständig verbannt werden, da nur so der Nationalstaat mit seiner einheitlichen Sprache vermittelbar war (Lis 2010: 37; Kurcz 1991: 81).18 Andererseits wurde der Dialekt auch erforscht, um Nachweise für die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen zu erhalten. Letztlich war nach Ansicht der Regierung der Erhalt des Dialekts über all die Jahre der beste Beweis dafür (Kneip 1999: 244; Chmiel 2001: 183). Doch es war eben auch so, dass das Oberschlesische für den Teil der Bevölkerung, dem verboten wurde, Deutsch zu sprechen und der die deutsche Sprache später über einen Generationenwechsel verlernt hatte, zum Ersatz für die deutsche Sprache wurde (Kneip 1999: 254). Daraus darf allerdings nicht abgeleitet werden, dass der Gebrauch des Dialekts zwangsläufig Zugehörigkeiten zu Deutschland implizierte (ebd.: 255). Aktuell gibt es kontroverse Ansichten darüber, was die Bedeutung des Dialekts angeht. Zum einen wird von einer Renaissance gesprochen. Der Dialekt kann nicht nur problemlos gesprochen werden, er wird sogar partiell in den Schulen im Rahmen von Kulturkursen gelehrt (Michalewski 2010). Mit „TV Silesia“ gibt es sogar einen eigenen Fernsehsender, wo zumindest weitgehend Dialekt gesprochen wird. Internetseiten, Zeitungen und auch Radiosender sind entstanden, die sich des Dialekts bedienen. Im oberschlesischen Industriebezirk wird Ober-
17 Wenn von Dialekt gesprochen wird, sind damit auch diverse Subformen dieses Dialekts in den verschiedenen Kreisen gemeint. 18 Die Nationalsozialisten hatten ebenfalls dieses Ziel in Oberschlesien, nur ein paar Jahre zuvor. Nur galt es in dieser Zeit, das Polnische zu beseitigen. Das Oberschlesische wurde mit Misstrauen beäugt. Diesen „Kultur-“ und „Sprachkampf“ fasst Kneip wie folgt zusammen: „Nach der Besetzung Gesamtoberschlesiens durch die Nationalsozialisten galt 1939 die Parole ‚Hinweg mit den letzten polnischen Buchstaben! Hinweg mit allem, was uns an die furchtbaren Jahre der Herrschaft des polnischen Untermenschtums erinnert!‘. Sechs Jahre später ordnete der Wojewode Zawadzki an: ‚Reinigt eure Städte und Dörfer von allen Spuren der germanischen Herrschaft!‘“ (Kneip 1999: 291)
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schlesisch nun als ‚regionales Kulturgut‘ präsentiert. In einem Shopping Center in Bytom etwa wurden als Wandbemalung oberschlesische Ausdrücke zusammen mit ihrer Übersetzung ins Polnische aufgemalt (vgl. Abb. 12). In Chorzów gibt es den „blauen Laden“, der nicht nur Fanartikel des Sportclubs „Ruch“ verkauft, sondern auch Fahnen, Schals und Aufkleber mit Oberschlesienfarben. Einige Autoren verweisen darauf, dass der Dialekt auch für Kinder und Jugendliche (wieder) von Bedeutung ist und auf zahlreichen Internetplattformen wie „nasza klasa“19 als Kommunikationsbasis genutzt wird (Nowakowska-Kempna/Chęciek 2009). Abbildung 12: Wandgestaltung in einem Einkaufszentrum in Bytom
Quelle: Eigene Aufnahme, Juni 2011
Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, inwieweit der Dialekt nach den starken Zuzügen nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine Alltagsrelevanz hat. Zum Teil herrscht die Auffassung, Oberschlesisch sei die Sprache der Ungebildeten, der Arbeiter und derjenigen, die Probleme mit dem Polnischen hätten. Zudem wird der Dialekt auch heute noch in politischen Diskussionen instrumentalisiert. Die Autonomiebewegung stützt sich bei der Darlegung ihrer Argumente und Ziele auf die Eigenständigkeit des Oberschlesischen. In Fußballstadien werden Ober-
19 Kommunikationsplattform im Internet, auf der ehem. Schulfreunde gesucht werden können.
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schlesien-Banner gehisst und gleichzeitig wird die Arbeit der polnischen Regierung kritisiert. Der Gebrauch des Dialekts ist auch heute noch nicht frei von dem ständigen Verdacht eines politischen Bekenntnisses. Chmiel etwa (2001: 183) bezweifelt, dass der Dialekt jemals wieder den Status einer Umgangssprache erreichen wird. Fraglich ist aber, von wem dies überhaupt gewünscht wird. Für Chmiel ist Oberschlesisch keine Mischsprache, sondern richtet sich mit allen Untersystemen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Vokabular, Semantik) nach dem Polnischen. „Sie gilt eindeutig als ein selbstständiges polnisches Idiom mit mehr oder weniger ausgeprägten Lehnstrukturen deutscher Provinienz.“ (Chmiel 2001: 184) Genauso sieht es der wohl bekannteste Forscher der oberschlesischen Mundart, Reinhold Olesch (1978). Der Einfluss der deutschen Sprache kommt vor allem im Wortschatz zum Tragen. Viele deutsche Wörter sind in ihrer phonetischen Form im Dialekt integriert und werden in die polnische Grammatik eingegliedert. Sie erhalten entsprechende Endungen und werden der polnischen Morphologie entsprechend dekliniert (siehe Tab. 1). Es existieren auch Lehnübersetzungen, die gegen die polnische Sprachnorm verstoßen. Bei „jada z cugiem“ ist die Präposition „z“ enthalten. Im Polnischen steht das Substantiv im fünften Fall und hat keine Präposition (Chmiel 2001: 185). Tabelle 1: Beispiele aus dem oberschlesischen Dialekt Oberschlesisch
Deutsch
Oberschlesisch
Deutsch
banka
Bahn
waszbret
Waschbrett
rolada
Roulade
żymła
Semmel
dałerwela
Dauerwelle
Jada z cugiem.
Ich fahre mit dem Zug.
farorz
Pfarrer
Widza ta dziołcha.
Ich sehe das Mädchen.
Quelle: Eigene Darstellung, nach Chmiel 2001: 184f.
Das Oberschlesische zeichnet sich jedoch nicht nur durch den Einfluss deutscher Strukturen aus. Auch andere Regelmäßigkeiten lassen sich beobachten, die auf Abweichungen zur polnischen Sprache basieren: Aus einem „a“ wird häufig ein „o“, wie etwa bei „trowa“ (Gras) statt „trawa“. Weitere Regelmäßigkeiten sind: • • •
Häufig findet ein Übergang von der Endung „-aj“ zu „ej“, wie etwa bei „dej sam“ (gib mal her) statt „daj sam“ Die Endung der 1. Pers. Sg. Prät. lautet häufig „-ech“ statt „-em“, wie etwa bei „bouech“ (ich war) statt „byłem“. Die einzelnen Ausprägungen des Dialekts unterliegen allerdings lokalen Spezifika und sind z.T. nicht nur auf Oberschlesien beschränkt (Reiter 1985: 188ff.).
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Chmiel (2001: 185) geht ferner davon aus, dass jeder „Oberschlesier“, der im Dialekt spricht, problemlos (aber nicht unbedingt akzentfrei) ins Polnische wechseln kann. Für den Autor ist das Oberschlesische vor allem ein Soziolekt20, also „eine Gruppensprache, die mit der sozialen Stellung ihrer Sprecher eng zusammenhängt und mit dieser identifiziert wird“ (ebd.: 185). Chmiel (2001: 185) bringt damit zum Ausdruck, dass das Oberschlesische als Abgrenzungskriterium für Nicht-Oberschlesier fungiert und wichtig für das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe ist. Der Autor (2001: 186) spricht hier von einem „Identitätsbeweis“. Auch Tambor argumentiert in eine ähnliche Richtung: Sie stellt fest, dass der Unterschied zwischen der polnischen Sprache und dem Oberschlesischen eher im Bewusstsein der Oberschlesier haftet und nicht faktisch von der Dialektforschung ermittelt wurde: Die Autorin kommt zu der Auffassung, „dass die Unterschiede in der Tat so stark empfunden werden, so stark im Bewusstsein der Sprachbenutzer verankert sind, dass sie durchaus als ein trennendes Element angesehen werden können. Die Schlesisch Sprechenden nehmen diese Unterschiede aber auch eindeutig als ein integrierendes Element wahr, das einen emotionalen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe schafft“ (Tambor 2011: 26, Herv. i.O.). Die Sprache stellt, nach Meinung von Tambor, Diskriminierungserfahrung, Provokationselement und auch eine Abgrenzungsmöglichkeit dar. Problematisch ist die Diskussion des Oberschlesischen, weil verschiedene Subdialekte existieren (Nowakowska-Kempna/Chęciek 2009). Es kann daher nicht von einer einheitlichen oberschlesischen Mundart gesprochen werden. Zaręba (1961, zit. in Nowakowska-Kempna/Chęciek 2009: 90) hat versucht die Subdialekte zu kategorisieren und ist auf zwölf Einheiten gekommen. Dies relativiert zumindest die Aussagekraft des ‚einen‘ oberschlesischen Dialekts. Die Bedeutung des Oberschlesischen im Alltag wird etwa in der Komik deutlich. Viele Witze werden erst durch die Verwendung bestimmter oberschlesischer Wörter „witzig“, oder sie werden erst verständlich, wenn man sich über den Kontext einiger Wörter („gorol“, „hanys“) bewusst ist. Oftmals liegt die Komik auch in der deutsch-polnischen Dichotomie (Reiter 1985: 199), aber auch in der Verwendung oberschlesischer Wörter, die weder exakt ins Deutsche noch ins Polnische übersetzt werden können. Ein Beispiel ist das Wort „pieronie“, das ein Ausdruck des Fluchens ist, allerdings auch ein Adjektiv sein kann, das z.B. das Wort „groß“ ersetzt (pieronskie szczęście= großes Glück). Zudem kann es ein Ausdruck der Überraschung sein oder eine Charakterzuweisung implizieren („pieronski gist“), die nicht klar definiert und von dem jeweiligen Kontext abhängig ist.
20 Der Ausdruck „po naszemu“ kann übersetzt werden mit „in unserer Sprache“.
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Zurück zum Prototyp des Oberschlesiers nach Tambor (2011): Neben der Sprache identifizierte Tambor auch die Herkunft, also das Geborensein in Oberschlesien, als ein Inklusions- bzw. Exklusionskriterium. Daneben hat die Autorin als weitere Elemente des Prototyps die Arbeit im Bergbau des Mannes und die Rolle der Frau als Hausfrau ermittelt, was sich an die Stereotypenbeschreibung orientiert. Der Soziologe Jonderko (2002: 216) hat sich aus historischer Perspektive mit diesem Stereotypbaustein beschäftigt. Für ihn ist vor allem die Struktur des Schulwesens nach 1945 verantwortlich für eine monotone Bildungsstruktur der Bevölkerung vor Ort. Das Bildungssystem sei vor allem darauf ausgerichtet gewesen, genügend Nachwuchs für den dominanten Industriesektor zu gewährleisten. Weiterführende Schulen seien vor allem mit berufsorientierten Schwerpunkten ausgestattet gewesen, Alternativen seien wenig verbreitet gewesen. So sei die Arbeiterlinie in der Familie häufig weitergeführt worden. Weiterhin sind für den Autor die Diskriminierungserfahrungen in der Schule zur Hemmschwelle für die Wahl weiterer schulischer Qualifikationspfade geworden. Was diese Argumentation jedoch nicht erklärt, ist, warum offensichtlich Zugezogene und deren Nachfahren weniger unter diesen vorgegebenen Strukturen litten. Jonderko schreibt hierzu: „Obwohl die Defizite des Bildungswesens auf einer individuellen Ebene alle Einwohner Oberschlesiens gleichermaßen trafen, so litten die zugewanderten Einwohner doch weniger unter dessen einseitiger Ausrichtung. Sie machten einerseits in einem größeren Ausmaß von den bestehenden Bildungsangeboten Gebrauch, andererseits wurden sie laufend durch Personen ergänzt, die aus anderen Regionen Polens kamen und höchste Qualifikationen mitbrachten.“ (Jonderko 2002: 217)
Jonderko führt neben diesen Argumenten auch die Tatsache an, dass die häufigere Abneigung gegenüber der an die parteiliche Aktivität gekoppelte Karriereentwicklung unter den Oberschlesiern weiter verbreitet war und die selektive Abwanderung von „dynamischen und [...] am besten ausgebildeten Menschen“ die Struktur der einheimischen Bevölkerung maßgeblich beeinflusste (Jonderko 2002: 217). Der Autor kommt daher zu folgendem Schluss: „Aufgrund der zahlreichen Einschränkungen konnte die einheimische Bevölkerung keine Elite bilden und besaß damit auch nicht die Möglichkeit, ihre Gruppeninteressen nach außen zu artikulieren. Somit blieb sie am Rande des gesellschaftlichen Lebens.“ (Jonderko 2002: 217)
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4.5 Z WISCHENFAZIT Oberschlesien ist ein gutes Beispiel für ein politisch geschaffenes Raumkonstrukt, das durch sein Auf- und Abtauchen auf der politischen Karte, die ständigen Grenzverschiebungen und die verschiedenen nationalstaatlichen Einflüsse ein diffuses Bild der Identitäten seiner Einwohner hinterlassen hat. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kämpften polnische sowie deutsche nationale Bewegungen um die ‚Seelen‘ Oberschlesiens. Dieser Kampf intensivierte sich mit dem auferstandenen polnischen Staat nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bevölkerung sollte hier nicht zum letzten Mal über ihre nationale Zugehörigkeit entscheiden. Oberschlesien wurde geteilt, 1939 durch die Nazis wieder vereint. Für ein paar Jahre wurde jedes Anzeichen eines Polentums gejagt, nach der Angliederung an die neue VR Polen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wiederum das Deutschtum zum nationalen Feind erklärt. Durch eine Repolonisierung sollte es nur noch Polen in Oberschlesien geben. Ein großer Teil der Bevölkerung in Oberschlesien migrierte jedoch als Aussiedler nach Deutschland. Insgesamt passte die hybride und multilinguale „Grenzlandkultur“ zu keinem Zeitpunkt in die jeweiligen Nationskonstrukte (Palenga-Möllenbeck 2006a: 2095). Sowohl in Preußen, als auch in Nazi-Deutschland und dann in Polen wurde dieser regionalen ‚Kultur‘ und Identität stets etwas Verschwörerisches unterstellt. Im polnischen Staat war der Status der Oberschlesier aufgrund ihrer deutschen Abstammung gefährdet, in Deutschland aufgrund der slawischen Komponente. Diskriminierungen von beiden Seiten ließen dieses regionale Phänomen nach außen durch Scheinbekenntnisse verblassen, nach innen wurde es dadurch erst recht stärker. Um es mit den Worten von Heinrich Böll auszudrücken: „Ständig hin- und hergerissen zwischen zwei anspruchsvollen, total humorlosen Nationalismen, waren̕ s die Leute einfach leid, ständig ‚bekennen‘ zu müssen.“ (zit. in Palenga-Möllenbeck 2005: 230) Heute werden parallel die Auflösung der Region und ihrer ‚Kultur‘ sowie eine Renaissance des Oberschlesiertums diskutiert. Geprägt durch die Teilung Oberschlesiens, die Existenz von zwei „Śląsk“ (Oppelner Schlesien und Kattowitzer Industriegebiet), den Strukturwandel im Osten, neue Verwaltungsreformen, ein diffuses Angebot an Literatur, TV-Produktionen, Musik und politischen Kampagnen, die um den Erhalt der ‚oberschlesischen Kultur‘ kämpfen, kann ohne Bedenken von einer Existenz zahlreicher unterschiedlicher Oberschlesienkonstrukte ausgegangen werden. Oberschlesien wurde und wird auf unterschiedlichen Ebenen (Politik, Medien, Wissenschaft) wieder neu produziert. Selbst für manche Historiker hat die vermeintliche geographische Basis, der Regierungsbezirk Oppeln, kaum noch Relevanz. Die individuellen Oberschlesienwirklichkeiten der Bewohner schwanken zwischen alten Proto- und Stereotypen und einem ‚neuen‘ Oberschlesien, das jedoch bislang nur in Ansätzen beleuchtet wird.
5. Aussiedlerintegration in Deutschland – Forschungsergebnisse und neue Perspektiven im Kontext transnationaler Lebenswelten
Lange Zeit wurde die Integration von Aussiedlern aus der klassischen Perspektive der Assimilierung betrachtet. Integration wurde hierbei als Prozess der Anpassung gesehen. Da sich die Integration der Aussiedler als unerwartet schwierig herausstellte, suchten die Aussiedler- und Integrationsforscher nach den Ursachen in den mitgebrachten sozio-ökonomischen und kulturellen ‚Paketen‘ der Aussiedler. Beeinflusst durch die Idee des Multikulturalismus kamen sie schließlich zu der Erkenntnis, dass Aussiedler keine ‚zurückkehrenden‘ Deutschen, sondern, ihrer spezifischen Sozialisation aus den Herkunftsländern entsprechend, gewöhnliche Migranten seien. Diese Sozialisation sollte, nach Meinung der Forschung, zu einem gegenseitigen kulturellen Austausch beitragen. Beeinflusst durch immer wieder neu ermittelte statistische Kennziffern kamen die Aussiedlerforscher allerdings wiederholt zu dem Schluss, dass die Aussiedler große Schwierigkeiten hätten, sich sozial und strukturell in ihrem neuen Wohnumfeld zurechtzufinden. Die großen finanziellen Aufwendungen des Bundes für die Aussiedlerintegration wurden auf Basis ernüchternder Ergebnisse, speziell ab Ende der 1980er Jahre, immer stärker kritisiert. Wie die Integrationsforschung insgesamt, war und ist auch die Aussiedlerforschung stark auf den Zielkontext der Migranten konzentriert. Im Kontext transnationaler Lebenswelten scheint eine solche Perspektive wenig zweckmäßig. Es stellt sich daher die Frage, wie Integrationsprozesse in pluri-lokalen Lebensentwürfen gedacht werden können. Hier scheint eine Abkehr von der klassischen Aufteilung in Herkunfts- und Ankunftskontext sinnvoll, da nur so die Relevanz einer alltäglichen Integration in verschiedenen, unabhängig von politischen Konstrukten existierenden und für den Migranten bedeutenden Kontexten erfahrbar wird.
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5.1 I NTEGRATION , E INGLIEDERUNG UND E INLEBEN – M IGRANTEN ZWISCHEN H ERKUNFTS - UND ANKUNFTSKONTEXT „Wir haben uns erfolgreich integriert! Arbeit. Deutsche Freunde. Wir haben keine Probleme hier!“ – So könnte das Resümee einer erfolgreichen Integration aus Sicht eines Migranten oder einer Migrantin aussehen, wenn er bzw. sie so manchem medialen oder politischen Integrationsdiskurs folgt. In welche Gesellschaft integriert sich jedoch ein Migrant aus Rumänien in einem Viertel einer deutschen Stadt, das einen Ausländeranteil von 80 Prozent aufweist? Und wo integrieren sich ein deutscher Rentner mit Altersruhesitz in Málaga oder ein Manager, der fünf Tage in der Woche in einem Hotel und in drei verschiedenen Städten übernachtet? Der Begriff ‚Integration‘ eignet sich für diese komplexeren Fälle wenig, weil er zu diffus und vorbelastet ist. Er ist wenig trennscharf und extrem vielschichtig, da er sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache für sehr unterschiedliche normativ und/oder analytisch ausgerichtete Konzepte benutzt wird. Ackermann (1990: 14) spricht daher von einem „abgenutzten Begriff“. Treibel (2003: 115, 140) schlägt aus diesem Grund für die Darstellung der unterschiedlichen Konzepte den Begriff der „Eingliederung“ als neutraleren Oberbegriff für die gesellschaftlichen Folgen von Migration vor. Begriffe wie ‚Einpassen‘ oder ‚Eingliedern‘ implizieren allerdings eine Richtung des Prozesses; nämlich das ‚Passen‘ oder das ‚Eingliedern‘ in Etwas. Im Allgemeinen steht Integration für die Herstellung eines Ganzen, bei dem einzelne Teile (wieder) eine Einheit formen sollen (Ackermann 1990: 14). Dies ist jedoch nur dann eine zweckmäßige Auffassung der Folgen von Migration, wenn von vorneherein klar ist, was das Ganze sein soll. Grundlegend für die heutige Integrationsforschung ist die Assimilationstheorie, die von Park und Burgess (1921) im Kontext der Chicagoer Schule der Stadtsoziologie entwickelt wurde (Han 2006: 9; Treibel 2003: 96). In ihrem Modell vom racerelation cycle endet das Zusammentreffen zweier ‚Kulturen‘ (als homogene Inseln, vgl. Kapitel 2.4) in einer Assimilation, in der sich die ‚Kulturen‘ vermischen und ihre Unterschiede verschwinden lassen.1 In Deutschland wurde diese Theorie u.a. von Esser (1980, 2001) aufgegriffen. Er differenzierte die bis heute als Analysekategorien genutzten vier aufeinander aufbauenden Dimensionen: die kognitive (Sprache, Normenkenntnis, Habitus), die strukturelle (Einkommen, Arbeitsmarktposition, räumliche Segregation), die soziale (Kontakte, Beziehungen, Partizipation) und schließlich die identifikative Dimension (identitäres Zugehörigkeitsgefühl) von Integration (Esser 2001: 22).
1
In dem in den 1940er Jahren auftretenden Begriff der „Akkulturation“ wurde deutlicher auf das Angleichungsbedürfnis der Migranten hingewiesen (Richter 2006: 50).
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Die Kritik an den klassischen Assimilationstheorien bezieht sich zum einen auf deren ethnozentristische Komponente: Integration wird zu stark als eine auf die Migranten projizierte Herausforderung gesehen. Die postulierte Eingliederung ausschließlich in einen als weitgehend homogen und unveränderlich angesehenen mainstream wird jedoch der gesellschaftlichen Realität ebenso wenig gerecht, wie die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung der Integrationsdimensionen (Esser 2008: 83ff.). Daher plädierten Vertreter des Multikulturalismus dafür, Assimilation durch ein gleichwertiges Nebeneinander verschiedener ‚kultureller‘ Ausprägungen zu ersetzen (Han 2006: 63). Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde dieser Begriff auch zum „Reklamefeldzug für die bereichernden Qualitäten von Ausländern“ (Frank 1995: 108), was später kritisch gesehen wurde: „‚Ausländer‘ als gleichberechtigte Menschen anzuerkennen, darf keine Frage von Gewinn oder Verlust, sondern muß als nicht-begründungsbedürftige, unmittelbar evidente Selbstverständlichkeit vorausgesetzt sein.“ (Frank 1995: 108) Zudem wurde bemängelt, dass die grobe Einteilung in ethnische oder kulturelle Gruppen die großen Unterschiede innerhalb der Gruppen ausblendet. „Strukturelle Probleme“ von Migranten würden so schnell zu „kulturellen Problemen“ (Richter 2006: 50f.). Der Multikulturalismus scheiterte sowohl auf politischer als auch auf wissenschaftlicher Bühne. Aktuell wird versucht, die Schwächen des auf dem Assimlierungskonzept aufbauenden Integrationsbegriffs einzudämmen. Die Idee der Assimilierung ist zwar aus dem heute häufig benutzten Integrationsbegriff nicht gänzlich verschwunden, allerdings umfasst dieser heute ein differenzierteres Verständnis der Assimilation. Brubaker (2003) etwa unterscheidet eine generelle und abstrakte Assimilation von einer spezifischen und organischen. Während sich letztere Variante auf den alten Assimilationsbegriff bezieht, erfolgt in der ersten Variante zwar eine Anpassung an gesellschaftliche Strukturen, jedoch ist hierfür eine Aufgabe der kulturellen Identität nicht notwendig. Integration wird in heutigen Debatten zudem als ein lebenslanger Prozess und nicht als mehrjährige Aufgabe für Migranten mit einem erfolgreichen oder erfolglosen Abschluss gesehen. Fokussiert wird heute die Partizipation innerhalb der Gesellschaft und nicht das ‚mitgebrachte Paket‘, das Migranten abzulegen hätten. Was ‚Kultur‘ und Integration betrifft, geht es nun auch nicht mehr um die allgemeine Annahme einer vorschnell definierten ‚Gesamtkultur‘ (z.B. in nationalen Kontexten), sondern es werden vielmehr lokale Kontexte und hier verankerte Lebenswelten betrachtet (Richter 2006: 60f.). Im Kontext von Transnationalität und dem Aufspannen Transnationaler Sozialräume muss für Transkulturalität und die Vermischung, Durchdringung und Überlagerung von Kulturen in entgrenzten migrantischen Wirklichkeiten auch in der Integrationsfrage die notwendige Offenheit der Forschungsperspektive garantiert werden. Aus einem veralteten Assimilationsverständnis heraus, müssten alle Transmigranten zwangsläufig scheitern.
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Für das Konzept der Transnationalisierung ist anzunehmen, dass die verschiedenen lokalen Kontexte innerhalb des Transnationalen Sozialraums zu Schauplätzen von Integration werden. Integration im Transnationalen Sozialraum bedeutet dann auch nicht eine einseitig fokussierte Integration auf eine Ankunftsgesellschaft, sondern eine Integration in der pluri-lokalen Lebenswelt mit unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und Strukturen. Integrationsherausforderungen stellen sich dann nicht exklusiv für den Rahmen eines Zielgebiets (z.B. Nationalstaat), sondern im gesamten Transnationalen Sozialraum. Empfundene Grenzen, die einzelne Integrationssphären trennen, können dann ganz unterschiedlich und losgelöst von nationalen Grenzen existieren. In diesem Zusammenhang greifen Goebel/Pries (2003) auf das Konzept der gesellschaftlichen Inkorporation zurück. Die Grundüberlegung ist, dass auf lokaler Ebene eine zunehmende Heterogenisierung der Gesellschaft erfolgt, diese Vielfalt auf globaler Ebene jedoch ähnlicher wird. Integration wird hierdurch vielschichtiger und folgt keinen genauen Assimilierungsphasen. Durch die Berücksichtigung verschiedener Maßstabsebenen wird die Dominanz der nationalstaatlichen Perspektive aufgebrochen (Glorius 2007: 44f.), während die klassischen Modelle zur Eingliederung von Migranten nach Taft (1953) und später Esser (1980) von einem Prozess ausgehen, an dessen Ende ein Ergebnis steht und der sich auf einen abgegrenzten ‚Raum‘ (zumeist Nationalstaaten) mit klaren Trennungen zwischen Ankunfts- und Herkunftsgesellschaft bezieht. Während diese auf den Zielkontext fokussierte Perspektiven auf eine vollständige Sozialisation als Ergebnis abzielen und im Prinzip lediglich ‚Entweder-Oder-Entscheidungen‘ für möglich halten (Goebel/Pries 2003: 42), plädiert Pries (2007: 114ff.) für eine differenziertere Betrachtung und eine Berücksichtigung multilokaler Verflechtungszusammenhänge. Bindungen können zu verschiedenen Kontexten bestehen, was jedoch nicht den Erfolg eines Migranten im ‚Zielgebiet‘ verhindern muss. Pries betont, dass vor allem für transnationale Migrationsmuster eine Aufteilung in Herkunfts- und Zielgebiet wenig sinnvoll ist: „Die ethnische Identität und die sozio-kulturelle Selbsterfahrung ist in diesem Falle von Mehrdeutigkeit und vielfältigen Bezugsrahmen gekennzeichnet, Lebensstrategien basieren auf pluri-lokalen ‚mentalen Landkarten‘ Transnationaler Räume.“ (Pries 2007: 127) Goebel/Pries greifen anstelle des Integrationsbegriffs auf die „gesellschaftliche Inkorporation“ als Terminus zurück und wollen hiermit vor allem einen offenen Zugang zu Eingliederungsprozessen ermöglichen: „Mit diesem Begriff ist der ergebnisoffene soziale Prozess der ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Eingliederung von Migranten auf der lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebene gemeint, also sowohl in der (bzw. den) Herkunftsregion(en) […] [als auch] der (bzw. den) Ankunftsregion(en). […] Wenn ‚Bastelbiographien‘ […] real einen größeren Stellenwert erlangen, dann muss auch die Vorstellung relativ einheitlicher Integrationsräume differenziert werden.“ (Goebel/Pries 2003: 42f.)
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Durch eine Abkehr vom klassischen Assimilierungsdruck, wollen die Autoren Platz machen für partielle, segmentierte und multiple Formen einer Inkorporation zwischen Migranten und verschiedenen Gruppen. Inkorporation beinhaltet „einen vielschichtigen und dialektischen Prozess der Selbst- und Fremdwahrnehmung, in dem kollektive Identitäten und Subjektpositionen konstruiert werden“ (Goebel/Pries 2003: 43). Die gängigen Analyseeinheiten politischer, kultureller und ökonomischer Eingliederungsprozesse folgen bei Goebel/Pries (2003) nicht der Logik aufeinanderfolgender Phasen, sondern weisen unterschiedliche Wirkungszusammenhänge auf. Zur Terminologie: Im Hinblick auf das Ziel, den Integrations- oder Inkorporationsprozess aus einer Migrantenperspektive heraus zu definieren und eine von vorneherein offene, wahrgenommene subjektive Integration zu fassen, scheinen die Begriffe ‚Integration‘ und ‚Eingliederung‘ nicht brauchbar, da sie die Fokussierung auf eine Herkunftsgesellschaft implizieren. Anstelle des Inkorporationsbegriffs ist der etwas greifbarere Begriff des (transnationalen) Einlebens gut zu gebrauchen. Er eignet sich für die Erfassung transnationaler bzw. translokaler Lebenswelten, wo es zunehmend schwieriger wird, in Ankunfts- und Herkunftsgesellschaft zu differenzieren und die Richtung bzw. das Ziel einer Integration vorab zu definieren. ‚Einleben‘ bezieht sich begrifflich auch stärker auf die alltäglichen Lebenswelten, um die es letztlich geht. Für die Aussiedler in Deutschland, die nun seit 20 bis 30 Jahren in Deutschland leben, kann die Frage aufgeworfen werden, inwieweit und in welchen Kontexten sie sich aus ihrer Sicht eingelebt haben, welche Bereiche (Arbeit, Vereine, Sprache, Netzwerke) für das Einleben entscheidend sind und wie Fremdzuschreibungen bzw. ein wahrgenommener Assimilierungsdruck von außen diesen Prozess mitbestimmen. Anders als in klassischen Ansätzen der Assimilierungsforschung und in Anlehnung an die Transnationalisierung von Lebenswelten soll es beim Einleben nicht um den deutschen Kontext oder einen polnischen Herkunftskontext gehen, sondern um ein ständig neu erlebtes (Wieder-)Einleben in den vom Migranten als relevant eingestuften transnationalen Kontext. Denn nicht nur der Ankunftskontext bestimmt das Handeln der Migranten, sondern auch der Herkunftskontext sowie alle anderen relevanten Kontexte (z.B. Urlaubsorte). Im Kontext von Transnationalen Sozialräumen stellt sich berechtigterweise die Frage, wo Einleben stattfindet und was eigentlich Herkunfts- und Zielgebiet ist. Die Aussiedlerforschung, die vor allem in den 1980er und 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, ist geprägt von einem normativen und statischen Integrationsbegriff, aber auch von einem veralteten Kulturbegriff. Nur selten sind hier Ansätze zu erkennen, die weniger auf dem Assimilierungsziel und mehr auf einer hiervon losgelösten Perspektive aufbauen.
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5.2 M IGRATION ZWISCHEN P OLEN
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Migrationsbewegungen zwischen Deutschland und Polen2 haben eine lange Tradition. Die Zahl der Menschen in Deutschland mit polnischer Herkunft beträgt nach Schätzungen zwei Millionen. Diese Gruppe ist jedoch höchst heterogen, was die Voraussetzungen ihrer Migration angeht. Die Komplexität des deutsch-polnischen Migrationssystems liegt darin, dass es nicht nur stark durch Wanderungen geprägt ist, sondern eben auch durch Verschiebungen nationaler Grenzen und unterschiedliche Phasen des nation-buildings auf beiden Seiten. Ein großer Teil des heutigen Polens hat seine offizielle nationale Zugehörigkeit mehrfach gewechselt, der polnische Staat wurde zeitweilig sogar aufgelöst. Dies hat zur Folge, dass das nation-building in Polen ein Produkt eines über Jahrhunderte andauernden Prozesses ist und die Wanderungen zwischen Deutschland und Polen nicht einfach auf Migrationsströme zwischen zwei Raumeinheiten reduziert werden können (Glorius 2007: 79; vgl. auch Müller 2009: 17ff.). Eine Folge der komplizierten nation-building-Prozesse in Polen ist, dass das Nationalbewusstsein als Konstrukt stark durch Elemente wie Sprache, Traditionen und die Bindung an die katholische Kirche geprägt ist, und sich weniger auf Geburtsorte oder einen ‚Raum‘ mit fest definierten Grenzen bezieht, was auch nur schwer möglich ist, da der Nationalstaat in seiner heutigen Form ein junges Konstrukt ist (Glorius 2007: 80ff.). Wanderungen in der Zeit verschiedener nation-building-Prozesse Erste größere Wanderungen zwischen den heute deutschen und polnischen Gebieten stellten sich im Hochmittelalter ein, im Rahmen der deutschen Ostkolonisation. In Pommern und Schlesien (damals Herzogtum) beispielsweise stellten die deutschen Siedler daraufhin die Mehrheit. Diese Gebiete wurden damals durch die Migrationsprozesse zusätzlich vom polnischen Verbund entfremdet, welcher ohnehin in einem Auflösungsprozess steckte (Glorius 2007: 80). Ab Ende des 14. Jahrhunderts bildete sich ein litauisch-polnischer Unionsstaat, der bis zum 18. Jahrhundert Einfluss und Macht im östlichen Europa hatte. Das Ende des Unionstaates führte zur Aufteilung der Territorien unter den Nachbarstaaten Preußen, Österreich und Russland (der an Russland angegliederte Teil wurde fortan als „Kongresspolen“ bezeichnet). Die Teilung Polens war ein langer Prozess, in dem der Einfluss der benachbarten Großmächte immer größer wurde und Polen immer mehr Territorien verlor. 1772 erfolgte die erste Teilung Polens (Verlust von 4,5 Millionen Einwohnern), 1793 kam es zur zweiten Teilung (3,5 Millionen Bevölkerungsverlust). Nach
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„Zwischen Deutschland und Polen“ ist nur eine grobe Beschreibung für die erdräumlichen Fixierungen der Migrationsprozesse. Letztere beziehen sich hier auf die physischen Räume, die heute zu diesen Staaten gehören.
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einem gescheiterten Volksaufstand wurde Polen 1795 zum dritten Mal unter den Nachbarstaaten aufgeteilt und verschwand damit von der Karte (Alexander 2005: 164f.; Bingen 2001: 5). In der Zeit der Teilungen kam es zu Wanderungsbewegungen in Richtung Westen, die durch die Hocharistokratie getragen wurden (Hoensch 1998: 202). In der Folgezeit wanderten bis 1914 aufgrund eines hohen Bevölkerungswachstums und verstärkter Armut in den Teilungsgebieten Polens 3,5 Millionen Menschen aus. In der Zwischenkriegszeit folgten weitere 1,5 Millionen. Das damalige Deutsche Reich war hier neben den USA, Frankreich und Kanada wichtige Anlaufstelle (Korcelli 1996: 245). Zum Teil kam es zur saisonalen Migration von Menschen aus Kongresspolen3, die, bekannt als „Sachsengänger“, zeitweilig in den Sommermonaten in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches arbeiteten und dann wieder in die Herkunftsgebiete zurückkehrten. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wanderten aus den preußischen Ostprovinzen zudem Bergarbeiter in den Rhein-Ruhr-Raum aus. Diese Migrantengruppe wird auch als „Ruhrpolen“ bezeichnet. Es handelte sich dabei um mehrere hunderttausend Menschen, von denen allerdings im weiteren Verlauf ein großer Teil zurück bzw. weitergewandert ist. Im Ersten Weltkrieg wurden zudem aufgrund von Arbeitskräftemangel etwa 500.000700.000 Arbeiter aus Kongresspolen angeworben (Glorius 2007: 86ff.). Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der polnische Staat nach langen Auseinandersetzungen um Grenzfragen neu gegründet. Allerdings setzte sich dieser Staat aus Teilregionen zusammen, die über Jahre hinweg unterschiedliche Verwaltungsstrukturen sowie ökonomische und soziale Entwicklungen erfahren hatten, was die Nationenbildung erschwerte. Von den 27 Millionen Einwohnern bekannten sich nur 19 Millionen zur polnischen Nationalität. 1939 wurde der polnische Staat nach dem Einmarsch der deutschen und sowjetischen Armee aufgeteilt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden etwa 1,7 Millionen Arbeiter aus Polen zwangsrekrutiert. Im Rahmen der Neugründung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg verschoben sich die polnischen Grenzen westwärts, was dann die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten und die Zuwanderung von Polen aus ehemaligen polnischen Ostgebieten zur Folge hatte. Diese Grenzen wurden erst nach dem Kalten Krieg von den Nachbarländern Ukraine und Deutschland anerkannt, was hierdurch einen Schlusspunkt hinter die langanhaltende polnische Grenzentwicklung setzte (Glorius 2007: 81ff; Hoensch 1998: 257; vgl. auch Jäger-Dabek 2006: 43ff.). Ab 1944/45 übernahm die „Polnische Arbeiterpartei“ die Macht in Polen und leitete den Weg Polens in die sozialistische Ära ein. Nachdem die Vertreibung Ende der 1940er Jahre abgeschlossen war, bestimmte vor allem die Migration der Aussiedler aus Polen das Migrationssystem zwischen Deutschland und Polen. Parallel
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„Ein aus den polnischen Zentralgebieten gebildetes ‚Königreich Polen‘ (Kongresspolen) wurde in Personalunion Russland unterstellt.“ (Bingen 2009)
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hierzu kam es vor allem in den Krisenjahren ab Mitte der 1980er Jahre zur Migration politischer Flüchtlinge aus Polen, die in Deutschland Asyl beantragten. In den Jahren 1988 und 1989 waren es über 55.000 Personen. Die Privilegien für diese Gruppe wurden schon bald gekürzt, zudem sank die Anerkennungsrate bis 1990 stark (Glorius 2007: 101).4 In den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime im Osten Europas und der Veränderungen in der deutschen Aussiedlerpolitik, entstanden neue Formen der Migration aus Polen nach Deutschland. Arbeits- und Bildungsmigranten wanderten aufgrund der schwierigen Bedingungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt aus, zudem wurden vor allem neue Pendelmigrationen beobachtet, was den polnischen Emigrationsprozess schnell in Verbindung zur Idee der Transmigration brachte (Palenga-Möllenbeck 2006a; Bingen 2001: 5ff.; Zernack 2007: 21).5 Migration von Vertriebenen und Aussiedlern nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Deutschland Deutschstämmige aus osteuropäischen Staaten aufgenommen. Zunächst waren es die Vertriebenen, mit Gründung der Bundesrepublik wurde von Aussiedlern gesprochen. Seit 1993 werden diese im Rahmen des neuen Bundesvertriebenengesetzes offiziell als Spätaussiedler bezeichnet. Mit der Änderung des Terminus gingen auch Änderungen in der Aufnahmeregelung und der Eingliederungshilfen einher (Koller 1997: 767). Zunächst jedoch bestimmten nach dem Zweiten Weltkrieg die Vertriebenenbewegungen die Wanderungssalden in Deutschland. Aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien kamen im Zeitraum 1945-49 ca. zwölf Mio. Menschen nach West- und Ostdeutschland6 (Münz et al. 1999: 28; vgl. auch Parak 2009: 38). In Deutschland ergaben sich durch den Zustrom von Vertriebenen vielfältige Probleme. Der große Wohnungsmangel wurde durch die Errichtung von Notunterkünften beseitigt. Seit 1952 wurde ein Lastenausgleichsverfahren eingeführt, das materielle Schäden der Vertriebenen kompensierte (Irgang et al. 1998: 243). Mit Abschluss der Vertreibungen Anfang der 1950er Jahre änderten sich die Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern. Ausreisen wurden von den Regie-
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Das Migrationssystem zwischen der ehemaligen DDR und Polen sah deutlich anders aus als das zwischen Westdeutschland und Polen. Es war durch ein Arbeitskräfteabkommen zwischen beiden Ländern sowie durch die Arbeitsmigration bestimmt worden (Glorius 2007: 104).
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Auf die Aussiedlerbewegungen und neuere Migrationsformen wird im weiteren Verlauf noch ausführlicher eingegangen.
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Zunächst in die sowjetische Besatzungszone, dann in die DDR.
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rungen erschwert bzw. nicht erlaubt, weil sie nicht zur jeweiligen Nationalisierungspolitik passten. Trotz der restriktiven Politik kam es durch politische Verhandlungen zwischen Deutschland und den Regierungen der Aussiedlungsländer immer wieder zu Ausreisewellen. Im Rahmen von Familienzusammenführungen kam es zu Aussiedlungen, wobei die kurzzeitigen Liberalisierungen der Auswanderungsregelungen in den Herkunftsländern der Aussiedler stets eine Folge von politischen bzw. wirtschaftlichen Zugeständnissen seitens der Bundesrepublik waren (Münz et al. 1999: 32). In den 1980er Jahren wurden die Ausreisebedingungen in den meisten Ländern dann gelockert (Koller 1997: 767). Insgesamt sind zwischen 1950 und 1998 etwa 3,8 Mio. Aussiedler nach Deutschland gekommen. Bis 1989 handelte es sich dabei vor allem um Aussiedler aus Polen (vgl. Tab. 2). Von den 1.948.175 Aussiedlern, die im Zeitraum 1950-1989 nach Deutschland migriert sind, stammten fast zwei Drittel aus Polen. Durch die Liberalisierung der Auswanderungspolitik kamen vor allem in den 1980er Jahren und insbesondere 1988-1990 viele Aussiedler nach Deutschland. 1990 fand diese Aussiedlerbewegung mit 397.000 Migranten ihren Höhepunkt (hiervon waren noch 28% polenstämmig). Bis zur Wende dominierten somit polenstämmige Aussiedler das Wanderungsgeschehen und entwickelten sich letztlich zum „Spielball zwischen der deutsch-polnischen politischen Entwicklung“ (Ploch 2011: 195). Es ging dabei um die Frage der Nationalität der Ausreisewilligen. Dabei existierte nach polnischer Auffassung keine deutsche Minderheit, oder es wurde postuliert, dass die nach der Vertreibung Verbliebenen polnische Staatsangehörige seien und nun eher Wirtschaftsflüchtlingen zugeordnet werden könnten. Die deutsche Politik und auch die Vertriebenenverbände waren der Meinung, es handele sich dabei um Deutsche, die zu Deutschland gehörten (Grabe 2000: 240; Ploch 2011: 195).7 Der Herkunftsschwerpunkt der Aussiedler verschob sich mit der Wende. Im Zeitraum 1988-1998 kamen 68 Prozent der fast 2,5 Mio. Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. den GUS-Staaten (Münz et al. 1999: 32ff.). Wie viele Aussiedler Polen verlassen durften, hing vom politischen Klima und den außenpolitischen Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen ab. In den 1950er Jahren kam es durch deutsch-polnische Verhandlungen zu einer Auswanderung von etwa 292.000 Menschen aus Polen in die Bundesrepublik, in den 1960er Jahren waren es lediglich 110.618. In den 1970er Jahren stiegen die Zahlen dann deutlich, nachdem sich auch die politischen Beziehungen verbesserten. Die Migra-
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Mit Bezug zu Oberschlesien fällt häufig der Begriff „Autochthone“, d.h. die in Oberschlesien lebende Bevölkerung ohne klare nationale Zugehörigkeit. Von polnischer Seite wurden dieser Gruppe durchaus eine eigene Tradition und ein eigener Dialekt anerkannt, allerdings hatte sie nach der Regierungsauffassung trotzdem eine polnische Nationalität (Ploch 2008: 92).
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tion war nun eingebettet in die Entspannungspolitik zwischen Ost und West (Neue Ostpolitik Deutschlands unter Brandt). Im Verhältnis zur polnischen Regierung ging es hierbei vor allem um die Anerkennung des Grenzverlaufs, Kredite für Polen und die Ausreiseerlaubnisse für deutschstämmige Polen. Der Moskauer Vertrag von August 1970 schuf neue Grundlagen für die bilateralen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland und ermöglichte schließlich auch den Warschauer Vertrag von Dezember 1970, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens regelte. Brandt legte am Tag der Vertragsunterzeichnung einen Kranz vor dem Ehrenmal im Warschauer Ghetto nieder und fiel dabei auf die Knie (Görtemaker 2003: 36f.). Im Rahmen der Entspannungspolitik erklärte sich die polnische Regierung bereit, eindeutige deutsche Volkszugehörige ausreisen zu lassen, was jedoch zunächst neue Probleme schuf, da über die Eindeutigkeit der Zugehörigkeit die polnische Regierung zu entscheiden hatte. Die Ausreisewilligen standen vor hohen Hürden, es kam zu Schikanen, in der Regel mussten mehrere Ausreiseanträge eingereicht werden, zwischen Antragsstellung und Ausreise vergingen Jahre (Grabe 2000: 234f.; Ploch 2011: 179ff.). Der Reisepass war in der Regel bei der örtlichen Polizeibehörde gelagert worden und wurde nur für genehmigte Reisen ausgehändigt (Glorius 2007: 88). Als die Zahl der Ausreisegenehmigungen ihren Tiefpunkt erreichte, wurden im Jahr 1975 eine Reihe von bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und Polen („Schmidt-Gierek-Vereinbarung“) unterzeichnet. Darunter fielen ein Finanzkredit für die VR Polen und eine Ausreisegenehmigung für 120.000-125.000 Antragssteller (Hager 1980: 93). Auf diese Art von Handel sollte auch in Zukunft zurückgegriffen werden. Allerdings reisten viele der Aussiedler aus Polen ohnehin über ein Touristenvisum und nicht über eine offizielle Aussiedlung aus. Tabelle 2: Aussiedlermigration nach Deutschland 1950-1989 davon aus Phase
195059 196069 197079 198089 ∑
Aussiedler insgesamt
Polen
Sowjetunion
Rumän.
Tschechoslowakei
Jugoslaw.
Sonst.
395.445
292.181
13.580
3.454
20.361
59.006
6.863
216.267
110.618
8.571
16.294
55.733
21.108
3.943
353.097
202.711
56.592
71.415
12.278
6.205
3.896
983.366
632.800
176.565
151.157
12.727
3.282
6.835
1.948.175
1.238.310
255.308
242.320
101.099
89.601
21.537
Quelle: Eigene Darstellung, nach Blaschke 1991: 39
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Die Entwicklung der hohen Ausreisezahlen setzte sich fort, auch nach Einsetzen des Ausnahmezustandes in Polen 1981. In den 1980er Jahren reisten ca. 633.000 Aussiedler aus Polen aus (Grabe 2000: 236; Ploch 2011: 194ff.; Borodziej/Lemberg 2007: 55). Statistiken für die Zeit bis 1976 zeigen, dass von den insgesamt 795.084 Aussiedlern über 230.000 aus Oberschlesien kamen, was die Bedeutung dieses Migrationsstromes für Deutschland zeigt (Bohmann 1978: 19). Insgesamt sind in den Jahren 1950-1994 etwa 600.000 Aussiedler aus Oberschlesien nach Deutschland migriert (Irgang et al. 1998: 243). Ohne Zweifel unterscheiden sich die Aussiedler aus den 1970er und 1980er Jahren oder aus späteren Wanderungswellen deutlich von den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, da sie z.T. Jahrzehnte in Polen verbracht haben oder zu der Gruppe der Folgegeneration gehören, die in Polen geboren wurde und Eltern bzw. Großeltern mit entsprechender deutscher Vergangenheit hat. Die jüngeren Aussiedler haben entsprechend eine indirekte deutsche Vergangenheit. Genauso ist es bei Ehen, bei denen lediglich ein Partner über die entsprechenden deutschen Wurzeln verfügt. Es konnte somit sein, dass auch Migranten mit dem Status eines Aussiedlers nach Deutschland kamen, die gar keine deutsche Vergangenheit aufwiesen, jedoch in eine solche Familie eingeheiratet hatten (Rogall 2004: 183; vgl. auch Hager 1980: 5). Zudem muss ergänzt werden, dass die häufig als „deutsche Rückkehrer“ beschriebenen Aussiedler ihre deutsche Staatsangehörigkeit erst nach der Aussiedlung erhalten haben, vorher waren sie Staatsbürger des jeweiligen Herkunftslandes (Gugel 1991: 110). Oftmals werden die durch die Aussiedler getragenen Migrationswellen nach 1950 durch den Aspekt der Freiwilligkeit von der Migration der Vertriebenen unterschieden (vgl. Hager 1980: 4). Mit der Bezeichnung ‚freiwillig‘ sollte allerdings vorsichtig umgegangen werden. Es soll damit nur verdeutlicht werden, dass kein politischer Druck in Form der Vertreibung existierte. Inwiefern die Migranten ihre Ausreise als notwendig ansahen und ihre Versorgungslage als unzureichend empfanden bzw. sich unter Druck gesetzt fühlten, muss im Einzelfall bewertet werden.8 „Zwar wurden in Polen, Rumänien und der ehemaligen UdSSR lebende Angehörige der deutschen Minderheiten auch nach 1950 in vielen Fällen diskriminiert. Im Vordergrund stand nun aber die individuelle Nutzenabwägung auf Seiten derer, die einen Antrag auf Anreise in die Bundesrepublik Deutschland […] stellten.“ (Münz et al. 1999: 31) Die Besonderheit der Aussiedler liegt in ihrer rechtlichen Stellung in Deutschland. Nach Art. 116, Abs. 1 des Grundgesetzes haben sie die deutsche Volkszugehörigkeit: Deutscher ist, „wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als
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Schumann betont, dass viele Aussiedler gerne in Polen geblieben wären, wenn sie nicht dem Assimilierungsdruck der Regierung ausgesetzt gewesen wären (Schumann 2009: 44).
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Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“ Damit werden Aussiedler in Deutschland nach geltendem Recht als Deutsche behandelt (Nuscheler 2004: 130). Die deutsche Volkszugehörigkeit besitzt jedoch nach §6 (1) aus dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) auch, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“. Dies ist vor allem für Aussiedler aus Ost-Oberschlesien entscheidend, da dieses Gebiet bereits nach dem Ersten Weltkrieg an Polen abgetreten wurde (vgl. Malchow et al. 1993: 56). Das BVFG ging bis zu seiner Neufassung von einem bestehenden Vertreibungsdruck nach dem Zweiten Weltkrieg in den jeweiligen Ländern aus und legitimierte damit die Aufnahme der Aussiedler, auch lange nach den eigentlichen Vertreibungsaktionen. Damit verbunden waren deren Anerkennung als deutsche Staatsbürger und die Implementierung zahlreicher Integrationsprogramme (Gugel 1991: 111). Ein interessanter Punkt ist, dass auch die Aussiedler ihren Status als Vertriebene erhielten. Dies war insofern nicht selbstverständlich als nach deutscher Auffassung die Vertreibung9 1950 abgeschlossen war (Ploch 2011: 176). In der Phase, als Autoren noch mehrfach von den deutschen „Rückkehrern“ sprachen, schrieb Kudlich, dass Aussiedler „zu Recht zu den Vertriebenen [gehören], denn Aussiedlung ist nichts anderes als eine Variante der Vertreibung, ein durch versuchte Entnationalisierung und Assimilierung erzwungener Heimatverlust“ (Kudlich 1978: 36). Diese Sichtweise in der Aussiedlerforschung sollte sich jedoch noch ändern (vgl. auch Münz et al. 1999: 30). Als 1989/90 der Zustrom an Aussiedlern seinen Höhepunkt erreichte, wurde eine Verschärfung der Zuwanderungsregeln auf politischer Ebene und beim Bundesverfassungsgericht diskutiert. Die damalige Bundesregierung versuchte in der Folgezeit den Zustrom durch das Aussiedleraufnahmegesetz zu regulieren. Der Personenkreis, der für die Aussiedlung in Frage kam, wurde so eingeengt. Ferner engagierte sich die Bundesregierung mit Finanzhilfen und versuchte einen Verbleib im Herkunftsland zu fördern (Treibel 2003: 36f.). Im weiteren Verlauf wurden der Zustrom durch das neu formulierte Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (1992) und die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (1993) auf ein Maximum von 225.000 Personen im Jahr festgelegt und Sprachtests als Eignungstests eingeführt. Beson-
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Im Polnischen müsste für Aussiedler eigentlich „wysiedlency“ verwendet werden, doch dieser Terminus wird für „Vertriebene“ benutzt , was erklärt, warum das deutsche Verständnis von Aussiedlung, das sich auf die Migrationsströme nach 1950 bezieht, aus dem polnischen Verständnis heraus auf Ablehnung trifft, weil hier eine zwanghafte Migration impliziert ist (vgl. Ploch 2011: 176; Grabe 2000: 233).
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ders letzteres drosselte den Zustrom, genauso wie die Tatsache, dass sich die Aussiedler nun vom Herkunftsland aus um ihre Aufnahme bemühen mussten und die Eingliederungshilfen reduziert wurden (Nuscheler 2004: 131; Koller 1997: 767). Seit 1993 besteht nur noch für „Volksdeutsche“ in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein unbedingter Anspruch auf die Einwanderung nach Deutschland. Migrationswillige aus anderen Staaten müssen nachweisen können, dass sie wegen ihrer Volkszugehörigkeit benachteiligt sind (Münz et al. 1999: 34; Silbereisen et al. 1999b: 15). Aus dieser Entwicklung heraus entstand auch die Differenzierung der Begriffe „Spätaussiedler“ und „Aussiedler“. Nach dem BVFG werden Aussiedler, die bis zum 31.12.1992 nach Deutschland migriert sind, rechtlich mit Vertriebenen gleichgestellt. Spätaussiedler als Volkszugehörige, welche die ehemaligen Republiken der Sowjetunion erst nach diesem Stichdatum verlassen haben, erhalten die entsprechenden Rechte nicht (Ploch 2011: 178).
5.3 M IGRATIONSVERLAUF
DER
AUSSIEDLER
Der Migrationsverlauf der Aussiedler wurde – wie allgemein bei Migrationsprozessen – stark durch soziale Netzwerke mitbestimmt. Durch die hohen Aussiedlerzahlen und durch die Tatsache, dass einzelne Familienmitglieder häufig getrennt und zeitlich entzerrt aussiedelten, waren Familiennetzwerke in der Regel Auslöser weiterer Wanderungsprozesse und erste Anlaufstellen bzw. räumliche Orientierungspunkte. Die Migration verlief häufig in Etappen, da den Aussiedlern zunächst in Aussiedlerlagern Unterkünfte zur Verfügung gestellt wurden. Die spätere Wohnstandortwahl orientierte sich dann vor allem an den Wohnorten der bereits migrierten Familienangehörigen (Zurhausen 1978: 70f.). So kam es zu räumlichen Konzentrationen von Aussiedlern. Koller (1997: 772) beschreibt für Aussiedler aus Polen und für einen Erhebungszeitraum von 1991-1993, dass über 70 Prozent der Befragten (n= 2.495) den Wohnort von bereits migrierten Familienangehörigen favorisierten und sich somit 60 Prozent der „Polenaussiedler“ in Nordrhein-Westfalen niedergelassen haben. Entsprechend gaben hier auch drei Viertel der Befragten an, zu Beginn Hilfe von Verwandten erhalten zu haben. Blaschke (1991: 44) hat für die Jahre 1988 und 1987 ermittelt, dass 42 bzw. 33 Prozent der Aussiedler nach Nordrhein-Westfalen migriert sind. Wichtige Anlaufstelle für die Aussiedler, die nach Nordrhein-Westfalen migrieren wollten, war hierbei das Aussiedlerlager in Friedland. Hierhin kamen vorwiegend Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und Polen. Hier erfolgte die Registrierung. Zudem wurden erste Hilfeleistungen materieller und geistig-seelischer Art sowie die Weiterleitung in weiterführende Einrichtungen organisiert. Verschiedene karitative Verbände waren dort vor Ort, genauso wie die katholische sowie
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evangelische Kirche und die Dienststellen des Bundes und der Länder für die Durchführung der Verteilungen. In der Regel verbrachten Aussiedler in Friedland ein paar Tage, um alle bürokratischen Prozesse einzuleiten (Krafczyk 1978: 28f.). „Kernpunkt des Aufenthalts in Friedland ist das Registrierungsverfahren mit Aushändigung des Registrierscheins […] als Grundlage für weitere Maßnahmen […], insbesondere für die Bereiche des Melde- und Ausweise- sowie des Vertriebenen-, des Namens- und des Staatsangehörigkeitsrechts.“ (Krafczyk 1978: 29f.) Nach dem Aufenthalt folgte für viele Aussiedler der Weg zu Übergangswohnheimen oder -lagern in ihrem Aufnahmebundesland (Krafczyk 1978: 30). In NordrheinWestfalen war die „Landesstelle für Aufnahme und Weiterleitung von Aussiedlern, Flüchtlingen und Zuwanderern“ in Unna die zentrale Anlaufstelle, die direkt dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales unterlag. Alle dem Land Nordrhein-Westfalen zugewiesenen Aussiedler wurden dort aufgenommen und weiter in Städte und Gemeinden übermittelt. Ende der 1970er Jahre gab es in den Gemeinden des Landes rund 240 Übergangseinrichtungen mit über 6.300 Räumen, wo ein Aufenthalt bis zu zwei Jahren möglich war. Zur Landesstelle in Unna gehörte ein Durchgangswohnheim, in dem ebenfalls karitative Verbände und diverse Beratungsstellen integriert waren. Hier betrug die Aufenthaltsdauer ca. vier Wochen. Mit Hilfe von Mitarbeitern, die slawische Sprachen beherrschten, wurden bürokratische Prozesse erledigt, es wurden Papiere ausgehändigt (Personalausweis, Vertriebenenausweis etc.), Übersetzungsservices angeboten und Beratungsleistungen zur Verfügung gestellt (Bildungsweg, Arbeitssuche, Wohnstandortwahl, medizinische Versorgung) (Stöcker 1978: 33ff.). Die unterschiedlichen Verbände und die Kirche (u.a. Caritas, das Rote Kreuz) versorgten die Aussiedler derweil mit Kleidung oder Haushaltswaren, nach Einzug in die eigene Wohnung auch mit Möbeln (Malchow et al. 1993: 62ff.). Die Zeit in den Wohnheimen betrachtet Röh (1982: 151ff.) sehr kritisch. Die Autorin beschreibt, wie alltägliche Lebensmuster durch die z.T. langen Aufenthaltsdauern aufgebrochen wurden und der über einen längeren Zeitraum andauernde Mangel an Privatsphäre im Zusammenhang mit strapaziösen Wohnbedingungen zu familiären Krisen führte. Der Mangel an Netzwerken und fehlende Beschäftigung sorgten für Langeweile, für die Kinder waren in den kleinen Wohneinheiten die Lernbedingungen schlecht. Die Autorin schreibt als Fazit zum ersten Aufenthaltsjahr der Aussiedler folgendes Resümee: „Dem provisorischen Wohnen mehrerer Personen in einem Zimmer, Ablauf verschiedener Lebensvorgänge, wie Essen und Schlafen, in einem Raum, haftet der Geruch des Asozialen an. […] Das erste Jahr des Aufenthalts in der BRD ist von den äußeren Bedingungen her als Übergangssituation zu sehen. Ein bestimmendes Moment dieser Phase sind die reduzierten Lebensmöglichkeiten: provisorisches Wohnen, keine Bekannten, keine Berufstätigkeit, z.T. mangelhafte oder keine Sprachkenntnisse.“ (Röh 1982: 152)
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Die Herausforderungen während dieser Zeit setzten sich aus Wohnung- und Arbeitsplatzsuche sowie Spracherwerb zusammen. Zudem musste die schulische Integration der Kinder und Jugendlichen organisiert werden. Wie gut die ersten Aufgaben gelöst werden konnten, hing von der Art und dem Umfang der Hilfestellungen durch die bestehenden Netzwerke (Familie, Freunde) ab (Blaschke 1991: 43). Allerdings war die institutionelle Hilfestellung unmittelbar nach der Aussiedlung sehr umfangreich und kein freiwilliges Angebot. Die Hilfestellungen umfassten vor allem finanzielle Zuweisungen, Unterkünfte und Spracherwerb. Aussiedler wurden kostenfrei in den Durchgangswohnheimen untergebracht. Von dort aus wurden ihre Weiterreisen zum künftigen Wohnort finanziert, wo sie erneut in Wohnheime bzw. Notwohnungen aufgenommen werden konnten. Während der Eingliederungshilfe erhielten sie eventuell Leistungen aus dem Lastenausgleichsgesetz (Ausgleich für Vermögensverluste), Eingliederungsgeld, Verpflegung und Verpflegungsgeld sowie eine Überbrückungshilfe. Zudem fielen sie in die sozialen Sicherungssysteme und hatten Anspruch auf Arbeitslosengeld, Krankenversicherung, Sozialhilfe und Rente, wobei Anrechnungsjahre aus den Herkunftsgebieten berücksichtigt wurden. Der Spracherwerb wurde durch einen Sprachkurs gefördert, der ebenfalls kostenlos war, zudem gab es vergünstigte Kredite und Wohnungsraumvermittlung (Malchow et al. 1993: 58ff.; Gugel 1991: 112). Zur Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt spricht Blaschke (1991: 52) von einem idealtypischen Verlauf: Zunächst traten die Aussiedler als Arbeitslose auf, in der Regel folgte ein Sprachkurs, der bis zu zehn Monate dauern konnte. Eventuell wurden danach Umschulungs- bzw. fachinterne Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt, die ebenfalls ein halbes Jahr dauern konnten. Während des Sprachkurses wurde ein Unterhaltsgeld gezahlt. Im Rahmen der beruflichen Eingliederung wurde in schwierigen Fällen ein Lohnkostenzuschuss in Höhe von 80 Prozent für Betriebe zur Verfügung gestellt, die Aussiedler einstellten.
5.4 I NTEGRATION VON AUSSIEDLERN : F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN UND - ERGEBNISSE Das Einleben der Aussiedler in Deutschland erhielt in der Aussiedlerforschung erst zu einem späten Zeitpunkt – etwa ab Mitte der 1970er Jahre – einen hohen Stellenwert. Die Politik ging von Beginn der Aussiedlerströme in den 1950er Jahren bis zu diesem Zeitpunkt noch von einem sanften Integrationsprozess aus. „Dank ihres Status als Deutsche und der staatlichen Eingliederungsmaßnahmen wurde davon ausgegangen, dass sich Aussiedler im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen in einer privilegierten Lage bzw. in einem integrationsfördernden Kontext befinden würden.“ (Rabkov 2006: 9ff.) Ihre rechtliche Stellung sollte es den Aussiedlern er-
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möglichen, Integrationsprobleme, wie sie Ausländer hätten, zu umgehen. Rabkov (2006: 17ff.) sieht in der Aussiedlerforschung einen Wandel der Forschungsschwerpunkte und der jeweils postulierten Integrationskonzepte bzw. -anforderungen. Bis Ende der 1980er Jahre konzentrierte sich die Forschung vor allem auf soziale Aspekte des Einlebens, da die Eingliederung in den Arbeitsmarkt in dieser Zeit als unproblematisch angesehen (vgl. Kudlich 1978: 35) und das Anpassen an die neuen Strukturen durch verschiedene Maßnahmen gefördert wurde. Tatsächlich gab es zur beruflichen Eingliederung von Aussiedlern einige positive Forschungsergebnisse.10 Zur sozialen Integration wurde einerseits angenommen, dass sie reibungslos verlaufen müsste, da die Migranten mit einer deutschen Identität (vgl. Schwab 1990: 231) und mit einem Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Volk ausgesiedelt seien. Die Anpassung, welche als Ziel des gesamten Migrationsprozesses gesehen wurde, sollte durch die deutsche Identität und auch durch den vermeintlichen Integrationswillen erleichtert werden (vgl. Joppe 1978: 48). Passend hierzu lautet der Artikel zum Durchgangswohnheim in Unna von Stöcker im Jahr 1978 „Auf dem Weg in die neue Heimat“ (Stöcker 1978: 33). Einige Autoren vertraten die Meinung, die Motivation, ein Deutschtum frei ausleben zu können, sei für viele Aussiedler der ausschlaggebende Migrationsgrund gewesen: „Die Freude, verbunden mit Dankbarkeit und Zufriedenheit, endlich in der Heimat eingetroffen zu sein […], strahlt aus den Augen vieler Aussiedler. […] Bangen und Sorgen um die Zukunft sind kaum bemerkbar. Sie sind frohen Mutes und ohne Illusionen. Sie wollen baldmöglichst Arbeit aufnehmen. Sie wollen keine Almosen und kein Mitleid […]. Materielle und wirtschaftliche Motivationen sind sekundär. So mancher Aussiedler hat es in seinem bisherigen Herkunftsland zu Wohlstand und Ansehen gebracht, so daß er davon überzeugt ist, auch hier durch Fleiß und Sparsamkeit das bereits Erreichte zu übertreffen.“ (Krafczyk 1978: 31)
Als Push-Faktoren für die Migration wurden vor allem Diskriminierungsprozesse in den Herkunftsländern gesehen. Das deutsche Volkstum sei nicht ungehindert gepflegt worden können und daher sei die Aussiedlung die einzige Möglichkeit gewesen, den Verlust des Volkstums zu verhindern (Kudlich 1978: 36; vgl. auch Münz et al. 1999: 31). Oftmals wurde die Komplexität des Aussiedlungsprozesses und der Migrationsmotive auf ein bloßes „Zurückkehren“ und den Wunsch, als Deutsche unter Deut-
10 Watrinet (1983: 218ff.) beschreibt das Ergebnis einer Befragung von Aussiedlern, die Mitte der 1970er Jahre nach Deutschland migriert sind. Die Autorin stellt drei Jahre nach Ankunft keine Abweichung der Erwerbsquote bei den Aussiedlern im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung fest.
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schen zu leben reduziert (Ludwig 1978: 9; Kudlich 1978: 36). Daraus ergaben sich ein normatives Verständnis von Integration und eine vorschnelle Deklaration der Aussiedler als „rückkehrende Deutsche“.11 Pfundtner (1979: 42f.) formulierte dies folgendermaßen: „Da die Spätaussiedler von sich subjektiv überzeugt sind, nicht nur formal, sondern auch emotional Deutsche zu sein […], haben sie auch die verständliche Erwartung […] ihre Vorstellung von Deutschsein erfüllt zu sehen. Diese Erfüllung wird dann ein befriedigendes Ergebnis für den einzelnen haben, wenn er sich in dieser nun endlich deutschen Umwelt von den ansässigen Deutschen nicht mehr unterscheidet, weder in der Sprache noch im Verhalten.“12 (vgl. auch Hager/Wandel 1978b: 200) Rabkov (2006: 22) fasst die Sichtweise der frühen Aussiedlerforschung wie folgt zusammen: „Migration wurde somit als ‚Stunde Null‘ begriffen. Die bisherige Persönlichkeit sollte ersetzt werden.“ Auf der anderen Seite wurde in vielen Studien ernüchternd festgestellt, dass die Integration aus Sicht der Autoren nicht erfolgreich war und die vermeintlich deutsche Identität doch nicht ausreichte, um einen nahtlosen Übergang der Aussiedler in die Ankunftsgesellschaft zu ermöglichen (Rabkov 2006: 19). Die Ursachen hierfür wurden auf Seiten der Aussiedler identifiziert (Zurhausen 1983: 15). Es wurde erkannt, dass die Aussiedler z.T. über Jahrzehnte hinweg durch ein anderes politisches, wirtschaftliches und soziales System beeinflusst worden sind und ihre eigene Mentalität, die durch starke soziale Systeme, konservative Wertemuster sowie ein konservatives Geschichtsbewusstsein geprägt war, nicht einfach beim Grenzübertritt von sich gestoßen haben (Hager/Wandel 1978b: 197ff.). Trotzdem wurde stets die deutsche Identität bzw. Zugehörigkeit zum deutschen Volk betont. Aussiedler seien in ihrem sozialistischen Herkunftsland lediglich dem „Mehrheitsvolk“ näher gekommen und hätten die Sprache sowie verschiedene Kulturelemente angenommen (Zurhausen 1983: 15). Es wurde zudem erkannt, dass die Aussiedler über Jahre hinweg von der Entwicklung Deutschlands abgekapselt waren und ein „unsichtbares Gepäck“ mit sich führten, das durch bestimmte Verhaltensweisen, Praktiken und Einstellungen geprägt war und den Integrationsprozess deutlich beeinflusste (Wagner 1983: 111; vgl. Pfundtner 1979: 20ff.). Insbesondere das sozialistische Gedankengut zählte zu diesem „Gepäck“, das vor diesem Hintergrund als Ballast angesehen wurde. Als Integrationshemmnis wurde zudem die Sprachbarriere gesehen. Die
11 Auf polnischer Seite war die Perspektive eine andere, beispielsweise wurde von Vertretern seitens der katholischen Kirche gepriesen, die Heimat auf polnischem Terrain nicht einer Wohlstandserhöhung unterzuordnen. Die Frage von plötzlich auftretendem Deutschtum wurde diskutiert, Schlagwörter wie „Volkswagendeutschtum“ fielen (Ploch 2011: 197). 12 Pfundtner räumt allerdings im weiteren Verlauf ein, dass wirtschaftliche Gründe ebenso wichtig und manchmal ausschlaggebend waren.
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Sprachkompetenzen wurden je nach Untersuchungsgruppe und Befragungszeitpunkt unterschiedlich bewertet, insgesamt wurden die mitgebrachten Sprachkompetenzen jedoch als unzureichend gesehen (vgl. Joppe 1978: 48; Röh 1982: 148). Unterstützung sollten die Aussiedler nach Meinung des Innenministeriums von den „Einheimischen“ erhalten, weshalb beispielsweise von der Bundeszentrale für politische Bildung Anregungen zur Unterstützung von Aussiedlern im Alltag publiziert worden sind (Abb. 13). Abbildung 13: Appell der Bundeszentrale für politische Bildung an die deutsche Bevölkerung
Quelle: Fuchs 1978: 42, 43; Joppe 1978: 50
Gleichzeitig deuteten einige empirische Befunde an, dass die Aussiedler trotz ihres „unsichtbaren Gepäcks“ neuen Kontakten in Deutschland offen gegenüberstanden und diese durchaus suchten. Aufschlüsse über die lokale Netzwerkentwicklung liefert beispielsweise Krieg (1986: 50ff.) für die 1980er Jahre. Seinen Beobachtungen nach sei zwar auch nach der Eingliederungsphase die Familie wichtigster Ankerpunkt für Aussiedler gewesen, allerdings lagen beispielsweise Arbeitskollegen bereits an zweiter Stelle und damit noch vor anderen Aussiedlern. Die meisten neuen Bekanntschaften mit Deutschen wurden dabei, nach Krieg, am Arbeitsplatz gemacht. Nur schwache Netzwerkentwicklung ging von Vereinen und Nachbarschaf-
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ten aus. Für das Freizeitverhalten, schreibt der Autor, waren Aktivitäten außerhalb der eigenen Wohnung aufgrund von mangelnden Kontakten, Zeitknappheit und finanzieller Engpässe zwar schwach ausgeprägt, wenn dann wurden diese vor allem mit Familienmitgliedern oder Deutschen durchgeführt. Auch hier waren andere Aussiedler unbedeutend, was für diesen Zeitraum darauf hindeutete, dass die Netzwerkentwicklung von Aussiedlern nicht zwangsläufig durch das Suchen von ‚Gleichgesinnten‘ bestimmt wurde. Insgesamt wurde von der Aussiedlerforschung bis Ende der 1980er Jahre postuliert, dass sich die Aussiedler nicht nur äußerlich anzupassen, sondern sich auch von dem mitgebrachten „Paketen“ zu lösen und an Normen, Werte und Lebensmuster in Deutschland zu orientieren hätten. Andersartigkeit wurde demnach als „integrationshemmend“ angesehen. Die zwangsläufige Identitätssuche der Aussiedler zwischen unterschiedlichen nationalen, regionalen oder anderen Kategorien wurde ebenfalls als nicht förderlich gesehen und sogar als Auslöser von Abgrenzungserscheinungen und Isolation identifiziert. „Das Mittel, das hier am nächsten liegt, ist der bewußte Entschluss zu einer Alternative auf Kosten der anderen. So läßt sich nationale Marginalität durch ein entscheidendes Bekenntnis zu einer Nation überwinden, wobei die durch Sozialisation und kulturelle Prägung erworbene Zugehörigkeit zur anderen verdrängt und abgeleugnet wird“ schreiben Hager/Wandel (1978b: 43) bezüglich der Identitätsunsicherheit vieler Aussiedler. Dass die Aussiedler in Befragungen Zufriedenheit äußerten und diese Ergebnisse so gar nicht zu den kommunizierten Integrationsproblemen passten, verwunderte einige Autoren (z.B. Hager/Wandel 1978b), dieser Umstand wurde jedoch auch darauf zurückgeführt, dass Aussiedler ihre Migrationsentscheidung vor sich selbst rechtfertigen müssten und dies gelänge eben durch „eine unkritische beschönigende Verarbeitung und Darstellung der westdeutschen Realität“ (Langnickel 1978: 1020). In den 1990er Jahren13 änderten sich, beeinflusst durch neue Ansichten in der Integrationsdebatte, die Botschaften, die von der Aussiedlerforschung ausgingen, deutlich (Rabkov 2006: 23). Die ethnozentrische Komponente der bisherigen Forschung und der normative Charakter des Integrationskonzepts wurden kritisiert. In den nun veröffentlichten Studien und Beiträgen distanzierten sich die Autoren vor allem von der Vorstellung, das Einfinden in Deutschland sei nur durch das Ablegen der bisherigen Identität und Persönlichkeit und durch die vollständige Adaption deutscher Normen, Werte und Verhaltensmuster möglich. Zudem wurde darauf aufmerksam gemacht, Aussiedler nicht per se als „wiedergefundene Deutsche“ anzusehen (Kossolapow 1992). Die Bedeutung von wirtschaftlichen Motiven wurde
13 Die in den 1990er Jahren entstandenen Untersuchungen zur Eingliederung von Aussiedlern wiesen einen deutlichen Schwerpunkt auf Aussiedler aus dem GUS-Raum auf (vgl. Bade/Oltmer 1999a; Dietz 1995; Dietz/Hilkes 1992).
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deutlich gemacht, genauso wie der häufig auftretende Migrationsdruck durch Ausreisewellen innerhalb von Familiennetzwerken (Malchow et al. 1993: 53; Bade/Oltmer 1999b: 31). Angefacht durch die ‚Multi-Kulti‘-Debatte plädierten viele Autoren auch im Falle der Aussiedlerintegration auf ein gegenseitiges Durchdringen verschiedener Kulturmerkmale und die Abkehr von der Idee einer Mehrheitsgesellschaft, die als Integrationsvorgabe für eine Minderheitsgesellschaft fungiert (Hinrichs 1992: 109; Bausinger 1991: 24). So schreibt Schwab bereits 1990: „Integration bedeutet nicht kulturelle Anpassung oder Ausgrenzung, sondern kulturelle Bereicherung. […] Es ist wichtig, das kulturelle Erbe des Herkunftslandes zu fördern und zu bewahren, damit sich die Aussiedler auch in ihren kulturellen Traditionen verstanden und als Bestandteil der gesamtdeutschen Kultur aufgenommen wissen.“ (Schwab 1990: 231) Ackermann betont, Aussiedler seien „vom Stigma des passiven Objekts zu befreien und beide, Alt- und Neubürger, als Subjekte zu begreifen“ (Ackermann 1990: 28; vgl. auch Koller 1997: 771). Parallel hierzu wurden jedoch weiterhin Integrationsprobleme in den nun häufig auf Großstudien basierenden Werken14 thematisiert. Allerdings wurde die Debatte nun stärker auf die strukturelle Integration im Esser´schen Sinne ausgeweitet (Rabkov 2006: 28; vgl. hierzu Gugel 1991: 114ff.). Wie in den 1970er und 1980er Jahren gingen die Forscher davon aus, dass durch den rechtlichen Status der Aussiedler und ihre Förderung durch unterschiedliche Maßnahmen und Programme gute Rahmenbedingungen für die Integration in den Arbeitsmarkt gegeben waren (vgl. Koller 1997: 770). Trotzdem musste festgestellt werden, dass Aussiedler auch in Zeiten konjunktureller Hochphasen einen schweren Stand auf dem Arbeitsmarkt hatten (Min. für Arbeit, Gesundheit u. Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1992: 50). Koller hat für Deutschkurs-Teilnehmer der Jahre 1991-1993 Erhebungen zur strukturellen Integration ausgewertet und festgestellt, dass zwar die Arbeitslosenzahlen unter den Aussiedlern nicht dramatisch seien bzw. die Aussiedler vor den gleichen Hürden stünden wie Einheimische, jedoch unter den Aussiedlern häufiger berufliche Abstiege zu beobachten seien, und zwar insofern als Aussiedler häufig nicht ihren Qualifikationen entsprechend arbeiten könnten. Nur 30 Prozent der Befragten der Untersuchungsgruppe waren zu dieser Zeit in einer Beschäftigung, die dem Berufsfeld aus dem Herkunftsland entsprach. Darüber hinaus kommt die Autorin zu dem Schluss, dass der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt vom Alter, den Sprachkenntnissen, der Familiensituation und der beruflichen Qualifikation abhängig war, was allerdings mit Ausnahme der Sprachkompetenzen auch für alle übrigen deutschen Arbeitsuchenden gelten muss. Einleuchtend ist daher Kollers Fazit, in dem
14 Das Ergebnis einer Großstudie zur Akkulturation von Aussiedlern wurde von Silbereisen et al. (1999a) herausgegeben.
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die Autorin die Position der Aussiedler auf dem Arbeitsmarkt mit der der Ausländer gleichsetzt (Koller 1997: 766ff.; vgl. auch Blaschke 1991: 61).15 Schwab (1990: 229ff.) identifizierte vor allem sprachliche Barrieren, Qualifizierungsmängel und die Ablehnung von Stellen mit hohen Anforderungen an die Selbstständigkeit als Ursache für Integrationsschwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Diskutiert wurde auch eine vermeintlich fehlende Bereitschaft zur Mobilität, die für den Eintritt in das Arbeitsleben als erschwerend gesehen wurde. Konkret hieß es, Aussiedler seien zu stark auf ihren Wohnort und das familiäre Netzwerk fixiert und entschieden sich im Zweifelsfall für die Arbeitslosigkeit (Dietz 1995: 128ff.). Gugel (1991: 113ff.) spricht Anfang der 1990er Jahre von einer Arbeitslosenquote unter den Aussiedlern von 30 Prozent, was die Quote der Einheimischen zu der Zeit um das Vierfache überstieg.16 Den Aussiedern, die nach 1989 nach Deutschland gekommen sind, attestierten die Aussiedlerforscher nun insgesamt ein schlechteres Integrationsergebnis im Vergleich zur Gruppe vor 1989, was auf die günstigeren Qualifizierungs- und Altersstrukturen dieser Migrantengruppe und die positivere ökonomische Situation vor 1989 zurückgeführt wurde (Münz et al. 1999: 141). Aus den Problemen auf dem Arbeitsmarkt heraus wurde letztlich erneut das „Gepäck“ thematisiert, das die Aussiedler aus ihren jeweiligen Herkunftsländern nach Deutschland mitgebracht hätten. Zum einen wurden inadäquate berufliche Qualifikationen thematisiert, die auf veraltete Produktions- und Arbeitssysteme zurückgeführt wurden. Hier hieß es dann auch, das Umstellen auf das westliche Produktions- und Arbeitssystem sei deswegen schwierig, weil das wirtschaftliche System der ehemals sozialistischen Länder andere Ziele, Normen und Ideale formulierte. Probleme entstünden hier vor allem durch die fehlende Bereitschaft zum selbstständigen Arbeiten, Entscheiden und Denken sowie die Gewöhnung an sehr bürokratische und hierarchische Organisationsmuster (Rabkov 2006: 30; Malchow et al. 1993: 70). Zum anderen wurde postuliert, dass sich Aussiedler in einem „Spannungsfeld zweier unterschiedlicher Kulturen, Werte und Normen“ befinden würden (Schwab 1990: 226) und Sitten sowie Bräuche, beispielsweise im religiösen Bereich, mitbrächten, die sie auch mit großer Beharrlichkeit beibehalten würden. In Deutschland stießen sie dann auf neue Le-
15 Greif et al. (1999: 100) kommen in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass vor allem Akademiker unter einem beruflichen Abstieg gelitten hätten. 16 Zunächst ausgeblendet, im weiteren Verlauf separat thematisiert, wurde die Rolle des Geschlechts in der beruflichen Integration in Deutschland. Anfang der 1990er Jahre wurden vor allem die Rolle der Frau im System ‚Familie‘, der niedrige Anteil von weiblichen Aussiedlern mit Facharbeiterausbildung und die Segregationstendenzen der Arbeitsmärkte in den Herkunftsländern als Erklärung herangezogen (Quack 1994: 251ff.; für dezidierte Ergebnisse zur Integration von Aussiedlerinnen siehe Westphal 1999).
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bensstile und Einstellungen, besonders auf das konkurrenzorientierte Leistungsstreben und den ausgeprägten Individualismus. Generationenkonflikte konnten dann zu Problemen werden, so die Meinung vieler Forscher, wenn Kinder neue Normen und Einstellungen entgegen dem Willen der Eltern adaptieren (Schwab 1990: 226f.; Silbereisen et al. 1999b: 18). Nun war es jedoch keinesfalls so, als wären alle Aussiedler in ein völlig unbekanntes Terrain migriert. Viele haben sich durch die Kontakte zu Familienmitgliedern oder durch eigene Besuche ein Bild von Deutschland machen können, das allerdings selektiv und von der westlichen Konsumgesellschaft bzw. den materiellen Vorteilen gegenüber dem Herkunftsland überprägt war (vgl. Bausinger 1991: 33). Interessanterweise gingen verschiedene Autoren auch davon aus, dass gerade bestimmte konservierte Tugenden, welche die Aussiedler als „deutsch“ und daher als hilfreich angesehen hätten, im Rahmen des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses in Deutschland durch andere Anforderungen abgelöst wurden. Eigenschaften wie „Pflicht“, „Fleiß“ oder „Ordnung“ seien für das Arbeitsleben nicht mehr so wichtig gewesen wie „Kreativität“ oder „Selbstständigkeit“ (Rabkov 2006: 30; Schwab 1990: 226). Dazu Malchow et al.: „Während sie ein sehr positives, fast idealistisches Deutschlandbild pflegen und Begriffe wie Heimat, Vaterland, Gemeinschaft hochhalten, gilt dies der Mehrzahl der Bundesbürger inzwischen als überholt, antiquiert und gefährlich konservativ. Das Nationalgefühl der Aussiedler will nicht so recht in die Zeit des internationalen Zusammenschlusses und der Europäisierung passen.“ (Malchow et al. 1993: 72; vgl. hier auch Hager/Wandel 1978b: 197) Das Geschichtsbewusstsein und -bild waren durch die Verhältnisse der Nachkriegszeit geprägt; westliche, oder als kapitalistisch empfundene Entwicklungen wurden häufig erst nach der Aussiedlung wahrgenommen, vorher stand Deutschland aus ökonomischer Perspektive lediglich für Wohlstand (vgl. Hager 1980: 159). Eine Distanz spürten Aussiedler daher, nach Münz et al. (1999: 147), vor allem gegenüber der weitestgehend säkularisierten, und durch Konsumorientierung geprägte Gesellschaft, wohingegen sie selbst stark an religiösen Aspekten und der Integration in familiären Netzwerken hingen. Thematisiert wurde daher auch die Gefahr einer „Überanpassung“, d.h. einer äußerlichen „Integration“, die ohne die Verinnerlichung der neuen „Kulturelemente“ erfolgt. Auch hier gab es erneut eine Orientierung an normativen und ethnozentrischen Vorstellungen von Integration. „Das Neue muss eben nicht nur gelernt, sondern auch internalisiert werden; es darf nicht einfach Wissen bleiben, sondern muss ein Teil der Persönlichkeit werden. […] Deshalb braucht man zuerst und wenigstens parallel zur Akkulturation eine Dekulturation aus der bisherigen Kultur, jedenfalls bei den Elementen, die im Widerspruch zu den Elementen der deutschen Kultur stehen.“ (Endruweit 1991: 25f.; vgl. Gugel 1991: 115) Weiterhin wurde angenommen, dass die als Integrationshilfe angesehene rechtliche Stellung der Aussiedler auch zu einer gefühlten Desintegration führen konnte, weil eben das rechtlich anerkannte Deutsch-Sein auch als Anforde-
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rung interpretiert werden konnte. Probleme enstünden dann, wenn die Aussiedler von den Deutschen nicht als Deutsche angesehen wurden und auf Abgrenzung und Unverständnis stießen (Rabkov 2006: 33; Dietz 1995: 140ff.). Was die soziale Dimension der Integration angeht, waren die Forschungsergebnisse ebenfalls ernüchternd. Letztlich wurde auch in dieser Phase die Anpassung an deutsche Verhaltensmuster als zwingend notwendig gesehen, da „die kulturelle Integration der Aussiedler, […] als eine der grundlegenden Bedingungen für die strukturelle und soziale Integration angesehen wurde“ (Rabkov 2006: 32). Die Unterschiede zwischen den ‚Kulturen‘ wurden als gravierend angesehen, von „Rückkehrern“ war nun nicht mehr die Rede (vgl. Dietz 1999: 160), sondern vielmehr von Mitbürgern, die deutsch und fremd zugleich seien (Bausinger 1991: 21), was jedoch auch immer stärker daran lag, dass die deutsche Vergangenheit der Aussiedler nun immer „indirekter“ wurde. Ein typischer Fall für Oberschlesien war der, dass eine Familie nach Deutschland zog, die eine deutsche Herkunft der Eltern oder Großeltern aufweisen konnte, jedoch selbst kein Deutsch sprach und auch nicht oder nur in Kindesjahren auf deutschem Territorium gelebt hat (Ogiolda 2009: 63). Durch ihre „Andersartigkeit“ in verschiedenen Bereichen waren Aussiedler, aus Sicht der Aussiedlerforschung, in ihrer Wahrnehmung durch die deutsche Bevölkerung letztlich, wie andere Migranten, Angehörige fremder Ethnien (Mammey/Schiener 1998: 16f.). Schwab (1990: 216ff.) beschreibt, dass vor allem durch die fehlenden Sprachkompetenzen Schwierigkeiten bestanden hätten, der deutschen Bevölkerung die Aussiedler als Deutsche zu präsentieren. Unmut über die finanziellen Zuweisungen an Aussiedler sowie Konkurrenzdenken auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt waren beobachtbar, wofür, nach Meinung des Autors, Medienberichte („Reden nix Deutsch, kriegen aber alles“), aber auch die zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage verantwortlich gewesen seien. Fakt ist, dass sich die Frage nach den Zuwendungen für Aussiedler kurz nach dem Umbruch 1989 recht gut in die allgemeine mediale Debatte um die ökonomische Zukunft des Staates eingliedern ließ. So stellte der „Spiegel“ 1991 die Frage, ob sich Deutschland mit der Wiedervereinigung nicht übernehme (vgl. Abb. 14). Im Jahr davor zeigte das Cover einer Spiegelausgabe den „Ansturm“ von Migranten nach Deutschland. Die Aussiedler wurden zusammen mit Asylbewerbern und Ausländern als „Arme“ dargestellt (vgl. Abb. 15). Grundsätzlich lag der Unterschied zwischen Debatten um Ausländer und Aussiedler in Deutschland in der rechtlichen Stellung der Aussiedler, deren vermeintliches Deutschtum und den daraus folgenden Erwartungen an ihre aktive Eingliederung in Deutschland (vgl. auch Grabe 2000: 236). Dazu äußert sich Bausinger wie folgt:
128 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT „Man hat immer wieder versucht, eine Art Rangfolge der kulturellen Faktoren aufzustellen, also zu bestimmen, welche objektiven Merkmale am meisten, welche am wenigsten maßgebend sind für die Ausgrenzung durch die anderen und für die Selbstausgrenzung. Die Sprache wird bei solchen Versuchen fast immer an die erste Stelle gerückt. Dies liegt deshalb nahe, weil sie von allen kulturellen Elementen mit die größte Reichweite hat. Sie modifiziert bis zu einem gewissen Grad auch alle anderen kulturellen Äußerungsformen.“ (Bausinger 1991: 25)
Abbildungen 14 und 15: Spiegelcover zu den Folgen der Wiedervereinigung 1991 (links) und zur Migration 1990 (rechts)
Quelle: Spiegel Online GmbH 2014a; Spiegel Online GmbH 2014b
Blaschke (1991: 66ff.) verweist weiterhin darauf, dass Konkurrenzdenken und Angst vor Engpässen auf dem Arbeitsmarkt nicht nur unter den Einheimischen auftreten konnten, sondern auch unter der Gruppe der Ausländer und unter den Vertriebenen und Aussiedlern, die bereits länger in Deutschland wohnten. Andererseits wurde politisch gewollt eine positive Propaganda betrieben, um die positiven Effekte der Aussiedlerbewegung zu betonen (u.a. Ankurbelung von Konsum, Steigerung des BSP, Auswirkung auf Altersstruktur) und ihr Alleinstellungsmerkmal als Abgrenzung gegenüber anderen Migranten hervorzuheben (Bausinger 1991: 22; Blaschke 1991: 49; vgl. auch Gugel 1991: 116ff.). Gugel (1991: 118f.) beschreibt, dass die Sichtweisen auf die Aussiedlermigration in politischer Hinsicht von der Maßstabsebene abhingen. So hätte die Bundesregierung vor allem auf die wirtschaftlichen und demographischen Vorteile durch die Migration hingewiesen, während Kommunalpolitiker vor allem auf die Ent-
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wicklung von sozialen Brennpunkten nahe der Aussiedlerunterkünfte, starke Haushaltsbelastungen und die sozialen Folgen hingewiesen hätten. Aber auch auf nationaler Ebene wurde die Frage diskutiert, ob Aufnahme von verfolgten und bedrohten Menschen aus anderen Teilen der Welt nicht Vorrang haben sollte vor der großzügigen Aufnahme „deutscher Rückkehrer“. Die Eingliederungshilfen für Aussiedler wurden schließlich – auch weil einige politische Lager die Rechtmäßigkeit der Förderung in Frage stellten – Anfang der 1990er Jahre gedrosselt (Gugel 1991: 113; Übersicht bei Münz et al. 1999: 134). Was die breite Anzahl an Untersuchungen zu Aussiedlern der 1970er bis 1990er Jahren verbindet, sind eine übergeordnete Perspektive auf eine erfolgreiche Assimilierung und der Schwerpunkt quantitativer Untersuchungsmethoden. Stärker auf der Migrantenperspektive aufbauende Untersuchungen mit qualitativen Methoden stellen eine Seltenheit dar, obwohl gerade die Wahrnehmung des viel diskutierten „mitgebrachten Paketes“ durch die Aussiedler selbst von großem Interesse gewesen wäre. Nicht verwunderlich ist daher, dass den vorangegangenen Diskussionen z.T. Forschungsergebnisse gegenüber stehen, die eine recht hohe Zufriedenheit der Aussiedler mit ihrer Situation in Deutschland offenbaren. Koller (1997: 773) hat in ihrer Untersuchung festgestellt, dass die Zufriedenheit von Aussiedlern mit ihrem Leben in Deutschland positiv ausfällt und nur wenige Befragte ihre Entscheidung für die Aussiedlung bereuten. Die Autorin führt an, dass für sie ein anderes Ergebnis allerdings kaum zu erwarten war, da für die Aussiedler eine Rückkehr nur schwer zu realisieren war und die Wirtschaftssituation Anfang der 1990er Jahre in Deutschland trotz aller Eingliederungsschwierigkeiten signifikant besser war als in den Herkunftsgebieten der Aussiedler. Zudem war eine Rückkehr stets mit einem Versagen oder einem Scheitern verbunden, das sich die Migranten einerseits selbst nicht eingestehen, andererseits nicht ihren Familien oder Freunden im Herkunftsgebiet offenbaren wollten. „Die Einsicht, hier eventuell nicht beliebt zu sein, würde zwangsläufig die Aufgabe der jahrelang gehegten Vorstellung bedeuten, in der Bundesrepublik endlich zufrieden, glücklich und in Ruhe als ‚Deutsche/r unter Deutschen‘ zu leben. Dieses Ideal aufzugeben, könnte für viele den Verlust ihrer Hoffnungen bedeuten.“ (Min. für Arbeit, Gesundheit u. Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1992: 155) In der Regel war jegliches Hab und Gut vor der Ausreise verkauft oder verschenkt worden, was die Rückkehr fast unmöglich machte. Besuche waren daher der Kompromiss, auch wenn diese bis 1989 nicht ohne weiteres organisiert werden konnten. In jedem Fall konnten Besuche der Herkunftsgebiete die Unterschiede zwischen den zwei ökonomischen Welten wieder deutlicher machen, was wiederum die Zufriedenheit erhöhen konnte (Röh 1982: 154ff.; vgl. auch Mammey/Schiener 1998: 124). Dieser komplexe Zusammenhang von Zufriedenheit, Rückkehrmöglichkeiten und struktureller Eingliederung lässt sich in adäquater Form nur über qualitative Ansätze erfassen. Erst dann können komplexe Identitätskonstrukte und Integrati-
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onsstrategien sowie das Ausdrücken von Zufriedenheit als Strategie verstanden werden. Bausinger plädierte daher schon früh (1991) für eine stärkere Fokussierung auf die Betroffenen und deren Selbsteinschätzung, damit komplexe Fragen von Integration und Identität beantworten werden können. Der Autor distanzierte sich in der Aussiedlerforschung davon, „das Etikett ‚deutsch‘ an irgendwelchen ganz bestimmten objektiven Merkmalen festzumachen“ (Bausinger 1991: 26). Weiterhin plädiert er für ein moderneres Verständnis von Identität, das die bloße Frage „deutsch oder nicht“ ablösen soll: „Die moderne Gesellschaft ist durch ein hohes Maß an horizontaler Mobilität charakterisiert, durch weltweite Kontakte und Kommunikation. Dadurch entstehen in den wirtschaftlichen, politischen und auch gesellschaftlichen Strukturen so rasante Veränderungsschübe, daß dadurch die festgefügten ‚Identitäten‘ erschüttert werden. Während in abgeschlosseneren Kulturen und bei beständigerer Entwicklung objektive und subjektive Identitätsfaktoren sehr viel eher zur Deckung kamen und Identität deshalb kaum problematisiert werden mußte, ergeben sich jetzt immer wieder Wünsche und Bestrebungen von Individuen und Gruppen, äußere Grenzen zu überschreiten und neue Zugehörigkeiten zu suchen.“ (Bausinger 1991: 26)
So entstanden einige interessante Arbeiten, die sich stärker der Aussiedlerperspektive gewidmet haben: Röh hat bereits in den 1980er Jahren Beispiele aus ihrer qualitativen Forschung zu Aussiedlern und ihrer Integration veröffentlicht. Sie beschreibt ein Schamgefühl bei Aussiedlern, die als solche „entlarvt“ wurden. Sie beschreibt aber auch, wie die neue Lebenswelt der Deutschen als fremd und unvorteilhaft wahrgenommen wurde. Dies betraf etwa die Freizügigkeit bei Werbeaufnahmen oder die Förmlichkeit von Kontakten (Röh 1982: 140ff.). Malchow et al. (1993: 72) schreiben hierzu, dass besonders die Art und Weise, wie das Miteinander und die Nachbarschaften in Deutschland funktionierten, zu Irritationen geführt hat. Röh (1982: 172) führt dies vor allem darauf zurück, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für soziale Netzwerke in den Herkunftsländern ganz andere waren. Der Wohnungsmangel führte dazu, dass junge Menschen häufig lange bei ihren Eltern lebten, z.T. auch noch mit der eigenen gegründeten Familie. Die mangelhafte Versorgung mit Gütern führte zur Tauschwirtschaft. In Engpassphasen, als Lebensmittelkarten ausgestellt wurden, mussten mehrere Stunden Wartezeit in Schlangen in Kauf genommen werden. Wurden Einkäufe in Gemeinschaften organisiert, liefen solche Prozesse effizienter ab. Kontakte waren daher nicht nur nützlich, sondern notwendig. Interessante Ergebnisse liefert auch die qualitative Studie des Min. für Arbeit, Gesundheit u. Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (1992: 106ff.) auf lokaler Ebene, die Aufschluss darüber gibt, wie Aussiedler ihre Situation selbst beurteilten und sich im Verhältnis zu Einheimischen und Ausländern positioniert sahen. Auf Basis von Interviews innerhalb dieser drei Gruppen wurde die gegenseitige Wahr-
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nehmung und Beurteilung in den Blick genommen. In der Gruppe der Einheimischen herrschte vor allem Skepsis bezüglich der Gründe für die Bevorzugung der Aussiedler in ihrer rechtlichen Stellung und der großen materiellen Hilfsleistungen. Aussiedler hätten zu hohe Erwartungen an das Leben in Deutschland, ohne sich selbst gesellschaftlich einzubringen. Die gleichen Vorbehalte haben auch die interviewten Ausländer geäußert. Zudem wurde in der Studie ermittelt, dass private Kontakte zwischen Aussiedlern und Einheimischen selten waren (vgl. auch die Ergebnisse der Studie von Dietz 1995), da aus Sicht dieser Gruppe die wahrgenommene kulturelle Distanz und die distanzierte Haltung der Aussiedler zu groß gewesen seien.17 Die interviewten Aussiedler selbst sahen sich vor allem einem starken Konkurrenzkampf ausgesetzt. Dieser bezog sich allerdings nicht nur auf die Einheimischen und Ausländer, sondern insbesondere auf die anderen Aussiedlergruppen. Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung ist damit, dass Aussiedler keine homogene Gruppe darstellen. In der Studie bestätigen sich gegenseitige Abgrenzungen und das gegenseitige Vorwerfen von geringem Integrationswillen. So zweifelte eine Aussiedlergruppe die Rechtmäßigkeit der Aufnahme anderer Aussiedlergruppen an. Ausgrenzungsprozesse ermittelten die Autoren der Studie auch innerhalb von Aussiedlergruppen eines Herkunftslandes, besonders wenn es um Neid und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geht. Die Frage lautete dann: „Wer ist deutscher?“. So kam es dann zu Abgrenzungstendenzen von deutschstämmigen Aussiedlern aus Polen gegenüber polenstämmigen Migranten. Was die Wahrnehmung der Einheimischen durch die Aussiedler angeht, äußerten sich die Interviewten positiv, betonten die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Einheimischen, was im Kontrast zu den Äußerungen der Einheimischen steht. Die Autoren begründen dies damit, dass Aussiedler die institutionelle Hilfe, die sie erhalten haben, auf die Wahrnehmung der allgemeinen Aufnahme durch die Einheimischen übertragen hätten. Gegenüber der Gruppe der Ausländer existierte eine solche Haltung allerdings nicht. Viele Aussiedler kamen aus Ländern, in denen die ausländische Bevölkerung nur eine marginale Rolle gespielt hat und waren dementsprechend verwundert über die Anzahl der Ausländer, zudem stießen sie auf neue Religionszugehörigkeiten, Praktiken und Verhaltensmuster. Abgrenzungen und z.T. ausländerfeindliche Haltungen waren die Folge (Min. für Arbeit, Gesundheit u. Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen 1992: 106ff.).
17 Auch Malchow et al. (1993: 71) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Anfang der 1990er Jahre hätten 73% der Deutschen keinen Kontakt zu Aussiedlern gehabt und nur 17% fänden den Zuzug der Aussiedler gut. Mit zunehmender Anspannung der Wohnungs- und Arbeitsmärkte sei zudem die ablehnende Haltung gegenüber den hohen finanziellen Zuweisungen an die Aussiedler gestiegen.
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5.5 J UGENDLICHE AUSSIEDLER Die Situation von Kindern und Jugendlichen unter den Aussiedlern erhielt in der Aussiedlerforschung besondere Beachtung (vgl. Dietz et al. 1998). Sie wurden als besonders benachteiligt gesehen, da sie in der Regel nicht an den Entscheidungsprozessen zur Aussiedlung beteiligt waren und den Eltern ohne persönliche Gründe in ein „fremdes Land“ folgten. Dabei wurden sie in sehr wichtigen und prägenden Phasen aus ihrem gewohnten schulischen und sozialen Umfeld herausgerissen. Bildungswege oder Ausbildungsphasen wurden unterbrochen, die in Deutschland nicht ohne weiteres fortgeführt werden konnten, da zum einen das Sprachproblem bestand, zum anderen Umorientierungen in der Ausbildung vorgenommen wurden – dies sowohl in der beruflichen Ausbildung als auch im Rahmen von Studiengängen (Blaschke 1991: 45f.; vgl. auch Junker 1978: 55). Verbindungen zu Deutschland bestanden, wenn überhaupt, dann über Verwandte in Deutschland oder durch Erzählungen über die deutsche Vergangenheit der Eltern bzw. Großeltern. Das ‚Deutschtum‘ war eher etwas, was Stammbäume und alte Familiengeschichten betraf, jedoch keine direkten Erfahrungen. Allerdings war Deutschland, im Allgemeinen der Westen, etwas, das für Wohlstand und Konsummöglichkeiten stand. Denn das bekamen Kinder und Jugendliche bei Besuchen von Verwandten aus dem Westen immer wieder zu hören und zu sehen (Dittrich 1991: 91f.). Zunächst wurde davon ausgegangen, dass Probleme bei Kindern und Jugendlichen lediglich mehr Zeit bräuchten und die besonderen Hilfsleistungen18 der Regierung ihre Wirkung zeigen würden. Slawatycka (1991) gibt zu bedenken, dass Aussiedlerkinder der 1980er Jahre die dritte oder gar vierte Generation der Deutschstämmigen bildete. Die Autorin warf die Frage auf, weshalb immerzu das vermeintliche Deutschtum der Aussiedler debattiert werden sollte, wenn es hierbei um Migranten geht, deren „Identitätsentwicklung mit der Sprache, der Kultur und der realen sozialen Wirklichkeit ihres Herkunftslandes (Polen) auf engste verbunden“ gewesen ist. Die Autorin schreibt weiter: „Was die Kinder und Jugendlichen anbelangt, so wurden sie vorwiegend auf Wunsch der Eltern und viel zu oft gegen ihren
18 Das Konzept sogenannter Jugendgemeinschaftswerke wurde durch den Bund und andere Träger implementiert. Dabei wurden Aussiedler bis 25 Jahre beraten und betreut. Themen waren Bildung und Beruf, deutsche Geschichte und Kultur, Politik und Freizeitmöglichkeiten. 1976 wurden beispielsweise ca. 19.000 Jugendliche betreut. Zusätzlich gab es einen Garantiefonds, der Gelder für Studien- oder Ausbildungsvorbereitungsmaßnahmen zur Verfügung stellte und die Basisunterstützung (BaföG etc.) aufstockte. Für Studieninteressierte war vor allem die Otto-Benecke-Stiftung aktiv (Junker 1978: 56f.). Sie gewährte neben finanzieller Unterstützung auch moderne Intensiv-Sprachkurse (Dannbeck 1978: 95).
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Willen in die Bundesrepublik Deutschland gebracht. Bei den meisten von ihnen hat die deutsche Herkunft keinen wesentlichen Anteil an ihrer psychosozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung gehabt.“ (Slawatycka 1991: 95) Slawatycka (1991: 101ff.) sieht die Kinder und Jugendlichen im Fall der polnischen Aussiedler de facto als Polen an, Deutsche seien sie nur de jure. Hager/Wandel (1978a: 41) schreiben, dass die Jugendlichen häufig eine starke nationale Bindung an das Herkunftsland hatten, was bei der Elterngeneration nicht unbedingt der Fall sein musste. In Deutschland wurden dann plötzlich ihre Namen eingedeutscht und es folgten Anforderungen an den Spracherwerb unmittelbar nach der Ausreise. Damit drängte sich eine neue Komponente in die Identität der Kinder und Jugendlichen, die aufgrund der Sprachbarriere und der völlig neuen Umgebung zunächst einmal fremd war. Sie waren von Beginn an mit einer Situation konfrontiert, die sie weder begreifen noch überschauen konnten, dabei hatten sie erst vor kurzem unter Berücksichtigung der Wertvorstellungen, kultureller Praxis und des erworbenen Geschichtsbewusstseins ein Selbst-Ideal aufgebaut. Röh (1982: 149) beschreibt für jugendliche Aussiedler, dass sich bei Sprachkursen eine regelrechte Apathie gegenüber dem Erlernen der neuen Sprache zeigte. Andere Autoren in der Aussiedlerforschung sahen gerade bei Kindern und Jugendlichen einen besonders großen Anpassungsdruck und den Willen, in den neuen Umgebungen nicht als andersartig auffallen zu wollen (vgl. Gugel 1991: 115). Krieg (1986: 64) spricht von tiefen Identitätskrisen bei jungen Aussiedlern, da sie sich in intensiver Form den Leistungs- und Konsumzwängen anpassen wollten, um ihre hohen Erwartungen erfüllen zu können. Hier ist allerdings zu betonen, dass dieser Umstand genauso für viele Erwachsene zählen dürfte, wenn es um die Aussiedler der 1970er und 1980er Jahre geht. Daran ändert sich auch nicht unbedingt etwas, wenn berücksichtigt wird, dass die Erwachsenen in der Regel selbst über ihre Migration entscheiden durften. In jedem Fall standen die Kinder jedoch aufgrund der Eingliederung in deutsche Schulen vor einem stärkeren sprachlichen Umbruch, da die Eltern durch Teilnahme an Sprachkursen eine Art Zwischenphase durchlebten, in der sie mit ‚Gleichgesinnten‘ zusammen waren. In den 1990er Jahren wurde in der Aussiedlerforschung dann der Problemfall der „mitgenommenen“ Jugendlichen diskutiert, denen in Untersuchungen verminderte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Ausgrenzungserfahrungen und häufig auch ein überdurchschnittliches Auftreten in den Kriminalstatistiken zugesprochen wurde (Nuscheler 2004: 131; vgl. auch die Dissertation von Rabkov 2006). Der Kontakt zu Gleichaltrigen, so wurde betont, sei deswegen nur schwer aufzubauen, da die Aussiedlerkinder und -jugendlichen die Verhaltensmuster der Einheimischen als befremdlich sehen würden und vor allem mit dem konsumorientierten Freizeitverhalten überfordert seien. Eine Folge daraus sei der ausgeprägte Rückzug in Gruppen von Gleichgesinnten (vgl. Gugel 1991: 115f.; Dietz 1999: 171; Silbereisen/Rodermund 1999: 260). Die Aussiedlerkinder wurden so zu den „Verlierern“ der Aus-
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siedlung gemacht, obwohl ihre Perspektive paradoxerweise häufig der entscheidende Aussiedlungsgrund für Familien gewesen ist.
5.6 AUSSIEDLER
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In der Aussiedlerforschung der 1970er bis 1990er Jahre wurden des Öfteren herkunftsspezifische Untersuchungen durchgeführt, bei einigen breiter angelegten Studien wurde zumindest nach Herkunftsländern differenziert. Da Aussiedler aus Polen und vor allem aus Oberschlesien bis 1989 noch die Träger der Aussiedlerströme nach Deutschland waren, kristallisieren sich spezielle auf Oberschlesien bezogene Analysen heraus. Eine größere Studie legte Hager 1980 vor, in der er die Situation der oberschlesienstämmigen Aussiedler und ganz besonders der Jugendlichen darlegte (Hager 1980; vgl. auch Hager/Wandel 1978a, 1978b, 1978c). Für Aussiedler aus Oberschlesien sehen Hager/Wandel (1978b) aufgrund der besonderen politischen Entwicklung nach 1945 spezifische Rahmenbedingungen für die Aussiedlung. Besonders das „regionale Phänomen“ (Dialekt, Identität, Abgrenzung vom Staat) sahen Hager und Wandel vor allem für Jugendliche als besonders nachteilig an. Jugendliche aus Oberschlesien brachten, nach Meinung der Autoren, kein eindeutiges nationales Bekenntnis mit, sondern gehörten zu einer schwer abgrenzbaren regionalen Gruppe, die jedoch klar durch polnische Einflüsse geprägt war (Hager/Wandel 1978b: 204ff.). In Deutschland sahen die Autoren daraus implizierte Integrationsschwierigkeiten: Das Problem „liegt in den vielfältigen Lern- und Anpassungssituationen des Alltags und vor allem in der Notwendigkeit, auch affektiv eine Beziehung zu dieser Gesellschaft herzustellen, hier das Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln, das dem Herkunftsland gegenüber fehlte. […] Sozialisiert für die Mitgliedschaft in einer nicht voll integrierten und in ihrer Identität unsicheren Minderheit soll ihnen hier unter erschwerten Bedingungen – mit Sprachschwierigkeiten und ohne soziale und politische Kenntnisse – gelingen, woran sie schon in ihrer Heimat gescheitert sind“ (Hager/Wandel 1978b: 207). Gerade das „schwebende Volkstum“, das die Oberschlesier ausmacht(e), und ihre Position zwischen zwei ‚nationalen Kulturen‘ führte, nach Meinung des Autors, zu einem marginalen Bewusstsein, das „eine gewisse Unfähigkeit zu einer eindeutigen Identifikation mit den jeweilig konkurrierenden ‚kulturellen‘ Traditionen und gesellschaftlichen Ordnungen zur Folge haben“ konnte (Hager 1980: 171). Die stark patriarchalischen Familienstrukturen boten, nach Meinung von Hager, den zentralen Rückhalt. Kinder und Jugendlichen hätten jedoch zusätzlich die Schwierigkeit, dass sie die Einstellung der Eltern gegenüber dem polnischen Staat nicht nachvollziehen könnten, da sie in einer anderen Umwelt aufgewachsen seien, was auch ihre Bereitschaft zur Migration gemindert hätte (Hager 1980: 105).
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Hager (1980) reduziert die Komplexität der Ausgangssituation in Oberschlesien deutlich, da er davon ausgeht, ältere Aussiedler aus Oberschlesien empfänden grundsätzlich kein Gemeinschaftsgefühl mit der gesamtpolnischen Bevölkerung. Zudem geht der Autor vorschnell davon aus, dass alle aus Oberschlesien stammenden Aussiedler zwangsläufig unter einer Zerrissenheit litten, und es letztlich nur eine Wahl zwischen zwei identitätsstiftenden nationalen Kategorien gäbe. Die Möglichkeit, dass gerade die ‚regionale‘ Option der Ausweg für viele Identitätsprobleme darstellen konnte, berücksichtigte Hager nicht (vgl. auch Grabe 2000: 237ff.). Schmidt (2000: 347ff.) führt hier an, dass die Zugehörigkeit zu der diffusen Gruppe der Oberschlesier nicht zwangsläufig als marginale Position wahrgenommen werden musste, sondern vielmehr Anknüpfungspunkte in den als deutsch wahrgenommenen Elementen der Tradition oder Sprache existierten. Wie andere Autoren für andere Gruppen, stellte Hager (1980: 112) auch für Aussiedler aus Oberschlesien fest, dass diese mit ihrem speziellen „Paket“ nach Deutschland kamen und sich schwer taten mit der Umstellung auf die neue pluralistische Gesellschaft. Dass die Kontakte zu Einheimischen gering ausfielen und die Tatsache, dass das Misstrauen gegenüber den Aussiedlern und ihren Motiven seitens der deutschen Bevölkerung stiegen, waren für den Autor allerdings deutliche Zeichen einer gescheiterten Integration. Den jungen Aussiedler attestierte Hager eine starke Passivität, fehlende Motivation und ein geringes Interesse am persönlichen Aufstieg (Hager 1980: 132ff.). Andererseits sei auch ein starker Versuch zu beobachten gewesen, den Erfolg der Integration mit materiellem Aufstieg zu demonstrieren. Die schnelle Ausstattung mit statusbildenden Dingen wie Autos oder Möbeln sei der Versuch gewesen, die Zugehörigkeit zu den Einheimischen über Besitz zu erzwingen. Zudem sei dies eine Kompensationsmöglichkeit für die migrationsbedingten Verluste gewesen. Dazu gehörte die Aufgabe beruflicher Positionen, Eigentümer oder sozialer Kontakte (Hager 1980: 157). Hagers ernüchternde Arbeit blieb für längere Zeit die einzige ausführliche Analyse der Situation der oberschlesienstämmigen Aussiedler. Ab Mitte der 1990er Jahre gewann diese Gruppe wieder mehr Beachtung, vor allem auch auf polnischer Seite. In Polen nahmen sich Forscher dieses Themas an, nachdem die Situation der Aussiedler lange Zeit unbeleuchtet blieb. Es ist anzumerken, dass bei einigen Beiträgen (Ploch 2008, 2011; Grabe 2000; Ogiolda 2009) interessante Ergebnisse erkennbar sind, die jedoch z.T. keine empirischen Ansätze zur Grundlage haben bzw. nur am Rande anderer Fragestellungen behandelt werden. Spätestens hier wird deutlich, dass ein Bedarf an einer grundlegenden empirischen Arbeit besteht. Trotzdem erschienen interessante Thesen vor allem im Sammelband von Kalczynska (2009), genauso wie bei Grabe (2000) und Schmidt (2000). Mit den Identitätsproblemen der oberschlesienstämmigen Aussiedler, die Hager thematisiert hat, beschäftigte sich auch der Historiker Gregor Ploch (2011: 203ff.). Ploch spricht mit Blick auf die Zeit unmittelbar nach der Aussiedlung von soge-
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nannten „Flüsterern“, die sich bemühten, ihre Herkunft geheim zu halten. Untereinander hätten die Aussiedler vor 1989 im Dialekt gesprochen, jedoch stets leise und mit einem abrupten Wechsel der Sprache oder Abbruch des Gesprächs, wenn sich jemand näherte. Dieses Phänomen sei auch noch bis Ende der 1990er Jahre zu beobachten gewesen. Das „Nicht-Auffallen-Wollen“ führte, nach Meinung des Autors, zu einem Drang, Deutsch zu sprechen, auch wenn es zu einem spontanen Treffen mit anderen Aussiedlern oder Besuchern aus Oberschlesien kam. Ploch beobachtete vor allem bei jungen Familien die Strategie, dass mit den Kindern nur deutsch gesprochen wurde, was dazu führte, dass diese die polnische Sprache oder auch den Dialekt verlernten und diesen Kompetenzverlust dann während ihrer schulischen und beruflichen Karriereplanung bereuten. Grabe (2000: 235) schreibt, dass sich in der Zeit des hohen Assimilierungsdrucks, die entsprechend ab der Verfestigungsphase beginnt, Aussiedler aus Oberschlesien bemüht hätten, diesem gerecht zu werden, obwohl diese Umstellung aufgrund der ‚kulturellen‘ Differenz große Anstrengungen kostete. Die Anpassung konnte so weit gehen, dass die polnische Sprache, Kontakte zu anderen Migranten aus Polen und die Kontakte nach Polen vollständig vermieden wurden (Schmidt 2000: 349f.). Das Bemühen um Integration und der nicht selten fast übertriebene Drang zum „hundertprozentigen“ Deutsch-Sein, ist für Grabe (2000: 241ff.) allerdings in vielerlei Hinsicht nachvollziehbar. Es war einerseits mit Dankbarkeit für die Aufnahme verbunden, andererseits durch das Ziel bedingt, dazuzugehören und nicht „anders zu sein“. Zudem war es, nach Meinung der Autorin, häufig auch die Reaktion auf die langjährige Diskriminierung in Polen, im Rahmen derer die Aussiedler als „Deutsche“ beschimpft wurden. So ist für die Autorin die seltene Weitergabe der polnischen Sprache an die Kinder und Enkelkinder durch das Bedürfnis entstanden, einen Schlussstrich zu ziehen. Schmidt (2000: 350) hat festgestellt, dass es allerdings auch konträre Entwicklungen gab, wo aus der Unsicherheit im neuen Umfeld heraus starke Kontakte zu Polen bestanden und am Ankunftsort durch die Suche Gleichgesinnter, Pflege der polnischen Sprache (oder Dialekt) und das Eintauchen in die polnische Community versucht wurde, Halt und Wohlbefinden zu finden. Nach Schmidt (2000) kam es unter den oberschlesienstämmigen Aussiedlern vor allem dann zu Frustrationen, wenn die Migration einen sozio-ökonomischen Abstieg zur Folge hatte. Dies setzte dann auch allen Assimilierungsbemühungen einen Dämpfer auf. Seit dem Fall der Mauer, der Demokratisierung und EU-Integration Polens und der neuerlichen Ereignisse, wie der Fußball-WM 2010, sieht Ploch (2009, 2011) eine deutliche Steigerung des Selbstbewusstseins bei den Aussiedlern aus Oberschlesien, die nun mit Stolz behaupten könnten, Verbindungen zu beiden Ländern zu haben. Den Dialekt oder die polnische Sprache zu beherrschen würde nun als Vorteil wahrgenommen werden und nicht als Ballast. Ein neues „Wir-Gefühl“ sei auch durch die gemeinsame Identifikation mit oberschlesienstämmigen Fußballern ent-
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standen (Miroslav Klose, Lukas Podolski). Der Autor beschreibt, dass durch eine fortwährende beidseitige Abgrenzung zu Deutschen und Polen das „Wir-Gefühl“ über eine Zugehörigkeit zu der Gruppe der Oberschlesier aufrechterhalten wird. Diese „oberschlesische Identität“ in Deutschland beschreibt Ploch als etwas Spezifisches, das sich durch die neuen Prägungen in den Ankunftskontexten von den Kontexten im Herkunftsgebiet abhebt (Ploch 2011: 213ff.).19 Damit bewegt sich Ploch auf die Idee transnationaler Welten zu, ohne dies jedoch explizit zu formulieren. Ogiolda (2009: 63ff.) argumentiert in eine ähnliche Richtung. Aussiedler aus Oberschlesien seien in ihrer ersten Zeit einem starken Assimilierungsdruck ausgesetzt gewesen und hätten sich bemüht, diesem gerecht zu werden. Heute würden viele Aussiedler bereuen, dass ihre Kinder durch den starken Anpassungswillen beispielsweise die polnische Sprache nicht gelernt bzw. verlernt hätten. Die „Rückkehr zu den Wurzeln“ macht der Autor an der selbstbewussteren Verwendung der Muttersprache und der Ausweitung der Infrastruktur für Polen- und Schlesienstämmige in Deutschland fest. Zudem würden Aussiedler ihre interkulturellen Kompetenzen entdecken und zunehmend beruflich nutzen. Ein stärkeres Bekenntnis zur Herkunftsregion, entsteht für Ogiolda jedoch auch durch ein verändertes Bild von Polen in den deutschen Medien, das vom sozialistischen Niemandsland zum modernen EU-Mitglied wurde (vgl. auch Schumann 2009).
5.7 Z WISCHENFAZIT Bodo Hagers Resümee zur Eingliederung der Aussiedler aus Polen und speziell Oberschlesien fasst die Aussiedlerforschung der 1970er und 1980er Jahre, die lange Zeit eine reine Integrationsforschung war, wohl am besten zusammen: „Infolge weitgehend fehlender Kommunikationsmöglichkeiten sowie fast einer Mauer von Indifferenz und Gleichgültigkeit, der die deutschen Übersiedler in der Bundesrepublik Deutschland sich gegenübersehen, wird es ihnen erschwert, eine neue Identität herauszubilden. Diese Erfahrung verstärkt ihre Unsicherheit und schafft eine Situation der Ohnmacht und allgemeinen Orientierungslosigkeit. Stabilisierend wirkt in dieser schwierigen Phase vorerst noch der Familienverband.“ (Hager 1980: 8)
19 Für Grabe (2000: 242ff.) ist diese Entwicklung auch darauf zurückzuführen, dass für viele Aussiedler klar wurde, dass sie trotz aller Bemühungen „anders“ seien, und sie sich ihre Differenzen nun auch einstehen konnten, da Polen nun Nachbarland oder Urlaubsland und nicht der „kleine Bruder der Sowjetunion“ war. Stärkere Beziehungen zum Herkunftsgebiet und auch neue Sehnsüchte nach der „Heimat“ seien die Folgen gewesen.
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Die Aussiedlerforschung der 1970er und 1980er Jahre mit Bezug zu Polen und Oberschlesien orientierte sich weitestgehend an einem normativen und starren Verständnis einer Integration. Aussiedler als „deutsche Rückkehrer“, so die Auffassung vieler Forscher, hätten sich lediglich ihres „mitgebrachten Paketes“ entledigen müssen, um erfolgreich zu sein. Ihr Ziel sei ohnehin gewesen, als „Deutsche unter Deutschen“ zu leben, was den Integrationsprozess wesentlich erleichtern sollte. Den komplexen Hintergründen der Migrationsbewegungen in den Herkunftsländern wurde z.T. wenig Beachtung geschenkt. Erst nachdem sich zeigte, dass die Integration schwieriger verlaufen würde als angenommen, wurden die Herkunftskontexte der Aussiedler stärker berücksichtigt und eine gegenseitige Durchdringung von Kulturen im Zuge der Aussiedlerintegration statt einer Assimilierung postuliert. Trotzdem blieb Integration ein auf Deutschland und ein erfolgreiches Ergebnis (berufliches, soziales und kulturelles Ankommen) ausgelegtes Desiderat. Während sich die Aussiedlerforschung in den 1990er Jahren zunehmend auf die Aussiedler aus dem GUS-Raum fokussierte und eklatante Integrationsschwächen aufzeigte, öffneten vor allem polnische Forscher neue Türen zu Fragen der Netzwerkentwicklung und Aktionsräumen der Aussiedler aus Polen und speziell Oberschlesien. Stärker auf einen Gesamtkontext ausgerichtet, deuten die Beiträge neue Vernetzungen zu Herkunftsgebieten und die Etablierung einer Community an, die eine neue Verbindung zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext schafft. Die Ergebnisse deuten an, dass die Aussiedler nun, befreit vom Druck der Assimilierung und im Zuge neuer innereuropäischer Verflechtungen sowie der Modernisierungsprozesse in Polen, ihrem Migrationshintergrund stärker positiv entgegenstehen und versuchen, ihn gewinnbringend einzusetzen. Diese interessanten Ansätze in der neueren Aussiedlerforschung machen deutlich, dass das Thema des Einlebens bei der Erfassung transnationaler Lebenswelten berücksichtigt werden muss. Was in den bisherigen Beiträgen fehlt, ist die Rekonstruktion dessen, was eine Rückbesinnung in Richtung des Herkunftskontextes für die Lebenswelten bedeutet. Warum entstehen neue Beziehungen zum Herkunftskontext? Und welche Lebensbereiche umfassen diese? Um die Umstände eines transnationalen Einlebens in verschiedenen Kontexten und die Folgen hieraus verstehen zu können, muss Einleben aus einer Migrantenperspektive betrachtet werden. Nur so kann der Blick auf alle relevanten Kontexte des Einlebens ausgeweitet werden. Losgelöst vom einseitigen, auf das Zielgebiet beschränkten Integrationsbegriffs, muss Einleben im transnationalen bzw. translokalen Kontext gedacht werden. Für die Herausbildung Transnationaler Sozialräume vor dem Hintergrund der Aussiedlermigration ist das Thema des Einlebens zudem aufgrund seiner politischen Bedeutung diskussionswürdig. Die Frage ist dann, wie der politisch und medial auferlegte Anspruch der erfolgreichen ‚Integration‘ und des ‚Deutsch-Seins‘ Lebensstrategien beeinflussen konnte.
6. Die Transnationalen Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen: Leitidee für eine Analyse Szene in einem Geschäft mit dem Namen „Schlesische Spezialitäten“ in einer Stadt in NordrheinWestfalen: Einkäufer 1 (spricht Polnisch): (schaut sich um) Polnische Produkte sind doch die besten (betont). Einkäufer 2 (im Dialekt): Polnische (betont)? Gehen Sie mal raus und schauen Sie, was da steht! Schlesische Spezialitäten. Und nicht polnische!
„Es gibt sie noch!“ würde so mancher Beobachter dieser Szene vielleicht denken: „Die echten Oberschlesier“. Zumindest deutet diese Szene darauf hin, dass eine polnische Community differenzierter zu betrachten ist. Einkäufer 2 ist eine Abgrenzung „schlesischer“ Produkte zu „polnischen“ Produkten wichtig. Die Aussage ist Ausdruck einer Art ‚Reviermarkierung‘. Einkäufer 2 vermutet eine Vereinnahmung durch den Polen, so wie er es vielleicht auch schon in Oberschlesien immer erlebt hat. Sie ist aber auch eine Offenbarung bzw. ein Bekenntnis zum OberschlesierSein. Einkäufer 2 verwendet den Dialekt, auch auf die Gefahr hin, dass er vielleicht nicht ganz verstanden wird. Zumindest macht er seine Position deutlich. Oder wird hier etwa zu viel in die Aussage hineininterpretiert? Fest steht nur, dass es in diesem Geschäft nicht nur (ober-)schlesische Produkte gibt, wobei sich hier generell die Frage stellt, ob es überhaupt welche gibt. Werden die Produkte tatsächlich aus (Ober-)Schlesien oder von Produzenten bzw. Großhändlern polen- bzw. europaweit bezogen? Die Rekonstruktion Transnationaler Sozialräume erfolgt durch das Einfühlen in migrantische Lebenswelten und -konzepte und das Verstehen hier auffindbarer Zu-
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sammenhänge zwischen dem Handeln und seinen Ursachen, Folgen und seiner Bedeutung. Transnationale Sozialräume sind Konstrukte, die in erster Linie durch Emotionen, Beziehungen und wahrgenommene Zwänge erschaffen werden. Physische Mobilität beispielsweise ist lediglich eine Folge dieser Phänomene. Wenn der haitianische Arzt – um beim Beispiel aus Kapitel 3 zu bleiben – von New York aus nach Haiti zu einer Hochzeit fährt oder Geld an Verwandte schickt, dann ist dies die Folge einer emotionalen Bindung an den Herkunftskontext oder einem Gefühl der Verpflichtung geschuldet. Folglich ist die erste Überlegung für die Betrachtung eines Transnationalen Sozialraums, dass nicht nur die physische Mobilität an sich relevant sein kann, sondern vielmehr ihre Hintergründe und Folgen betrachtet werden müssen. Eine zweite Überlegung ist, dass der Transnationale Sozialraum als migrantisches Konstrukt erst durch das Handeln des Transmigranten erzeugt wird – ganz im Sinne von Werlens Grundannahme, dass „das Räumliche [...] als Dimension des Handelns gesehen [wird], nicht umgekehrt“ (Werlen 2000: 309). Erst durch die Bedeutung, die ein Migrant erdräumlichen Ausschnitten durch sein Denken, Sprechen oder seine physische Mobilität zuweist, entsteht das, was als Transnationaler Sozialraum bezeichnet wird. Er existiert daher nicht unabhängig vom migrantischen Handeln. In Anlehnung an ein relativistisches Raumverständnis ist der Transnationale Sozialraum mit einer eigenständigen Struktur nicht denkbar und ergibt sich aus der relativen Lage von Objekten zueinander (Seebacher 2012: 54). Diese Objekte sind aus einer konstruktivistischen Perspektive nur Bedeutungsträger, sie selbst haben keine Bedeutung. „Sie sind als Mittel der Symbolisierung immer nur das Vehikel von Bedeutung/Bedeutungen“ (Werlen 2000: 334), die von Subjekten generiert werden. Für die Forschung bedeutet eine solche Perspektive, dass nicht auf ‚Raum‘ verzichtet werden soll, sondern dass ‚Raum‘ nicht der zentrale Forschungsgegenstand sein kann. Erst menschliches Handeln erzeugt eine gesellschaftliche Wirklichkeit. „Die erdräumlich lokalisierbaren materiellen Gegebenheiten werden als Bedingung, Mittel und Folge von Handlungen verstanden, deren Bedeutung sich nur über den jeweiligen Handlungskontext bzw. dessen Rekonstruktion erschließt. Raum kann also verstanden werden als eine Ordnungsbeschreibung materieller Objekte. Eine Beschreibung und Analyse der Ordnung handlungsrelevanter Artefakte kann in räumlichen Kategorien erfolgen, allerdings bloß insofern, als sie mittels eines räumlichen Ordnungsrasters jeweils nur für einen bestimmten Handlungskontext und in einer konkreten Situation Gültigkeit beanspruchen kann.“ (Miggelbrink 2009: 88)
Aus diesen Überlegungen folgt, dass nicht unreflektiert mit Kategorien wie ‚oberschlesische Heimat‘ oder ‚Herkunftsland‘ umgegangen werden sollte. Was sich hin-
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ter diesen Ausdrucksmitteln räumlicher Bindungen verbirgt, sind Konstrukte basierend auf individuellen Biographien, Erfahrungen und Weltanschauungen. Der Aktionsradius eines Migranten orientiert sich dabei nicht zwangsläufig an Raumkonstrukten wie Stadtgemeinden, Regionen oder Nationen. Er durchdringt diese und verläuft quer zu raumordnerischen Gliederungen der Erde. Die Existenz von Transnationalen Sozialräumen ist zudem als frei von ‚räumlichen‘ Beschränkungen zu verstehen. Ohne Zweifel steuert eine Grenzpolitik vielfach Mobilitätsmuster und kann Mobilitätsbeziehungen auch gänzlich verhindern. Allerdings können auch Orte, die einer Mobilitätseinschränkung unterliegen und nicht erreichbar sind, eine ganz entscheidende Komponente alltäglicher Lebenswelten sein. Sie können zentral sein für die Ebene der Identitäten und Zugehörigkeiten und somit das Handeln des Migranten beeinflussen (Sehnsucht, Unzufriedenheit, Pflege von Traditionen). Soziale Beziehungen in diesen Orten können zudem über verschiedene Kommunikationsformen erreichbar gemacht werden. In diesem Sinne ist ein Transnationaler Sozialraum als frei von Beschränkungen zu verstehen, weil Grenzen oder politische Gliederungen der Erde nur die physische Mobilität und u.U. die Kommunikation (Barrieren im Internet) verhindern können, aber nicht das Denken, Sprechen oder Fühlen.1 Transnationale Sozialräume werden somit vorwiegend durch physische Mobilität (Migration) konstruiert, jedoch nicht unbedingt durch physische Mobilität konstituiert. Transnationalität ist schließlich mehr als eine pendelartige Bewegung. Die dritte Überlegung ist, dass es nicht den einen Transnationalen Sozialraum für eine Migrantengruppe gibt. Jeder Migrant hat seine eigene alltägliche Lebenswelt. Diese kann in einem größeren Zusammenhang eingebettet sein: Unternehmen oder Institutionen spannen beispielsweise durch Transportnetze oder virtuelle Kommunikationsplattformen transnationale Plattformen auf. Die Bezugspunkte der Transmigranten in diesen Plattformen sind allerdings subjektiv und individuell ausgestaltet. Denken wir nur an die Telefonie-Software Skype. Wird das ‚Skypen‘ als eine hervorragende Innovation angesehen, die es ermöglicht Netzwerke effizienter zu pflegen oder nur als eine unbefriedigende Kompensation fehlender face-to-faceKontakte? Ein Transnationaler Sozialraum ist zudem durch seine Abhängigkeit von Emotionen und Beziehungen ein dynamisches Konstrukt und ein mentales Gebilde, das nie vollständig ausdrückbar ist. Für den Forscher gilt, dass eine hermeneutisch orientierte Forschung und der Versuch dieses Konstrukt zu rekonstruieren letztlich zu neuen Konstrukten führen. Es ist nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern es kommt (höchstens) zu einer „Einfühlung“ (Gebhardt et al. 2004: 300).
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Allerdings besteht kein Zweifel daran, dass Distanzen und Grenzen selbstverständlich Auswirkungen auf das Befinden der Migranten haben können.
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Die vierte Überlegung ist das Postulat, die Forschung zur Transnationalität offener zu gestalten. Die Betrachtung von Lebenswelten oberschlesienstämmiger Aussiedler sollte nicht zu einer vorschnellen Definition des Transnationalen Sozialraums über das erdräumliche Spektrum ‚Deutschland-Oberschlesien-Polen‘ führen. Die Bezugspunkte eines Transnationalen Sozialraums sollten nicht unreflektiert an nationalstaatliche oder andere Gliederungen der Erde angelehnt werden und vorab erdräumlich fixiert werden. Nur dann ist eine offene Annäherung an das Konstrukt möglich. Der Schwerpunkt der Forschung sollte auch nicht die Grenzüberschreitung (national, regional etc.), sondern die physische und mentale Bewegung innerhalb des transnationalen Aktionsfelds sein. Ein Transnationaler Sozialraum kann aus migrantischer Perspektive durch ganz andere Grenzen (z.B. Wohlstandsgrenzen) gegliedert sein kann. Hierzu müssen auch – in Anlehnung an die Idee der Translokalität – stärker lokale Prozesse berücksichtigt werden. Transmigranten und ihre Sozialräume sind, wie Pries (2010) betont, nicht deterritorialisiert, sondern plurilokal verankert. Jeder Transnationale Sozialraum braucht lokale Ankerpunkte. Eine fünfte Überlegung bezieht sich auf die veränderte Perspektive auf ‚Kultur‘ und Integration. ‚Kultur‘ kann nicht als ordnende, flächenhaft abgrenzbare Ausprägung von Phänomenen wie Sprache oder Traditionen gesehen werden, die auf homogene Flächeneinheiten bezogen ist. In den pluri-lokalen Verflechtungen von Transmigranten entsteht sie auf individueller Ebene und quer zu politischen Grenzziehungen. Sie kann auch nicht als Summe aller Kontexte im Transnationalen Sozialraum aufgefasst werden, sondern sie ist etwas Neues, das durch diese Gemengelage entsteht. Es existieren jedoch auch Schnittstellen, an denen eine Kollektivierung von ‚Kultur‘ vollzogen wird. Die Frage ist dann, ob es Wir-Konzepte für Transmigrantengruppen geben kann und wie diese ausgestaltet sind. In jedem Fall hat die Pluri-Lokalität von Lebenswelten Folgen für die Integration bzw. für das Einleben (Pries 2010). Das Einleben kann nicht als Ende eines Prozesses in einem Zielgebiet gesehen werden, sondern muss auf den gesamten Transnationalen Sozialraum bezogen werden. Einleben ist daher kein Zustand, sondern ein Prozess, der gleichzeitig in verschiedenen Kontexten abläuft. Für die Aussiedler aus Oberschlesien muss die Frage des Einlebens offener gestellt werden. Wo findet Einleben in einer langfristigen Perspektive statt? Was sind die Ziele des Einlebens aus Migrantenperspektive? Und wie findet ein Einleben vor einem transnationalen Kontext, eventuell bei gleichzeitigem Assimilierungsdruck statt? Aus diesen Überlegungen heraus erfolgt die Analyse der Transnationalen Sozialräume, in Anlehnung an die Ausführungen von Pries (1996a, 1997b), über fünf Analyseebenen: Hierzu gehören die Ebene der Mobilität, die materielle Infrastruktur, die Netzwerkstrukturen, die Ebene der Zugehörigkeiten und Identitäten sowie das transnationale Einleben. Zu den einzelnen Analyseebenen bestehen folgende Grundannahmen:
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Mobilität (Kapitel 8): Hier wird untersucht, welche Bedeutung physische Mobilität (Mobilität der Migranten und Bewegung von Gütern, wie Pakete oder Briefe) für die Konstruktion und Konstitution der Transnationalen Sozialräume hat und wie diese Mobilität organisiert ist. Welche Beweggründe liegen für verschiedene Formen von Mobilitätsbeziehungen vor? Und vor allem: Wie hat sich die Mobilität in Abhängigkeit von der Entwicklung von IuK-Technologien entwickelt? Im Fall der Aussiedler dürfte vor allem der Umbruch um 1989 zu Veränderungen von Mobilitätsmustern geführt haben. Vor 1989 war eine Reise nach Polen mit großem Aufwand verbunden. Nach 1989 kamen nicht nur regulative Erleichterungen, sondern auch die neuen Transport- und Kommunikationsmittel hinzu. Netzwerkstrukturen (Kapitel 9): Die migrantischen Netzwerke stellen wohl die wichtigste Analyseebene für die Entwicklung Transnationaler Sozialräume dar. Bei Netzwerken handelt es sich um dynamische Strukturen, die sich stetig zusammen mit Erwerbs- und Lebensbiographien verändern. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine lokale Verankerung maßgeblich an soziale Beziehungen geknüpft ist. Für die oberschlesienstämmigen Migranten stellen sich vorab verschiedene Fragen: Welche räumlichen Kontexte umfassen die Netzwerke und welche Rolle spielt hierbei der Herkunftskontext? Zudem ist zu klären, inwieweit eine Differenzierung in ‚polnisch‘ und ‚oberschlesisch‘ relevant ist und die Netzwerkentwicklung mitbestimmt. Spielen die breit diskutierten Konflikte um Oberschlesier und ‚Fremde‘ (‚Gorole‘) auch eine Rolle für die Transnationalen Sozialräume der Aussiedler? Materielle Infrastruktur (Kapitel 10): Die materielle Infrastruktur umfasst die Einrichtungen, durch die herkunftsbezogene Bedürfnisse von Migranten im Ankunftskontext gedeckt werden können. Sie bietet als Grundlage für eine Community zahlreiche Angebote und soziale Begegnungsmöglichkeiten. Die materielle Infrastruktur kann auch Mobilitätsbedürfnisse obsolet machen, indem sie herkunftsbezogene Produkte und Dienstleistungen bereitstellt, aber auch die Pflege herkunftsbezogener Praktiken erleichtert. In der Analyse geht es auch um die ‚regionalen‘ Angebote (‚oberschlesische‘ Radiosender, Geschäfte oder Treffen), deren Wahrnehmung und Bedeutung innerhalb der Community herausgestellt werden sollen. Zugehörigkeiten und Identitäten (Kapitel 11): Hier geht es um die Positionierungen und Selbstkonzepte der Aussiedler und um die Frage, wie sich die Pluri-Lokalität von Lebenswelten auf Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte auswirkt. Dabei steht vor allem im Fokus, welche Rolle ‚Raum‘ als Identitätsstifter spielt. Dieser Analysebereich gibt vor allem
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Aufschluss über das gedankliche bzw. emotionale Aufspannen der Transnationalen Sozialräume. Transnationales Einleben (Kapitel 12): Diese Analyseebene widmet sich der noch recht jungen Perspektive auf pluri-lokale Integrationsprozesse. Es soll aufgezeigt werden, wie ein in mehreren Kontexten parallel ablaufendes Einleben aus Sicht der Migranten funktioniert und wie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen wahrgenommen werden. Wo findet Einleben statt? Und wie wurde bzw. wird mit dem ‚Integrationsauftrag‘ als ‚deutsche Rückkehrer‘ aus Sicht der Aussiedler umgegangen?
Folgende übergeordnete Fragen begleiten diese differenzierte Analyse transnationaler Phänomene: •
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• •
In welchen Bereichen können die Lebenswelten der Aussiedler als transnational bezeichnet werden und welche Prozesse und Phänomene sind hier maßgebend? Wie haben sich die Lebenswelten der Aussiedler langfristig entwickelt und wie wurden sie durch politische (Wende 1989, EU-Beitritt Polens) und technologische (IuK, Transportentwicklung) Ereignisse bzw. Fortschritte beeinflusst? Welche Bedeutung hat die physische Mobilität für die Konstitution transnationaler Lebenswelten? Wie können Transnationale Sozialräume im Fall der Aussiedler konzeptualisiert werden?
Ein besonderes Anliegen der Arbeit ist es, die Bedeutung von räumlichen Bezügen transnationaler Lebenswelten bzw. Sozialräume zu erfassen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Aussiedler ihre Lebenswelten zumeist über räumliche Kategorien ausdrücken. Es stellt sich hier die Frage, wo die transnationalen Lebenswelten lokal eingebettet sind und wie Raumbezüge ausgedrückt werden? Wie werden im Fall der oberschlesienstämmigen Aussiedler Räume durch transnationale Lebenskonzepte konstruiert? Insbesondere der Umgang mit dem Raumkonstrukt ‚Oberschlesien‘ ist aufzuarbeiten. Hierfür sollen die Raumbezüge der Aussiedler (z.B. Oberschlesien, Polen oder ‚Heimat‘) rekonstruiert und auf ihre Bedeutungszuweisungen reduziert werden. Am Beispiel oberschlesischer Raumbezüge soll aufgezeigt werden, wie einerseits politische und gesellschaftliche Prozesse der vergangenen Jahrzehnte die Wahrnehmung von Oberschlesien beeinflussen und andererseits, wie Oberschlesien in die Lebenswelten der Aussiedler eingeht und somit immer wieder neu und anders produziert wird. Jedes Subjekt, das sich in seiner alltäglichen Lebenswelt auf Oberschlesien bezieht, ist letztlich an der alltäglichen Er-
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schaffung verschiedener Oberschlesienrealitäten beteiligt. Die Arbeit ist daher auch bemüht, einen Beitrag zur Oberschlesienforschung zu leisten, indem die bisher dominierende Perspektive aufgebrochen wird. Es geht folglich nicht darum festzustellen, ob Aussiedler aus Oberschlesien anders sind als andere Aussiedler, sondern um die Frage, welche Bedeutung das Phänomen ‚Oberschlesien‘ als Raum, Symbol oder Gesellschaftskonstrukt für die Aussiedler hat. Die Kritik, mit der Auswahl der oberschlesienstämmigen Aussiedler würde der Forscher selbst ein Konstrukt von Oberschlesien reproduzieren – nämlich das des historischen Oberschlesiens – ist sicherlich nicht ganz unberechtigt. Beim Eintritt in das Forschungsfeld und bei der Auswahl der Interviewpartner werden Grenzen reproduziert, die für die Aussiedler selbst vielleicht keine Rolle spielen. Genauso wenig wie hierdurch die ‚Natürlichkeit‘ der Grenzen bestätigt werden soll, ist die Orientierung an Grenzen auch kein Versuch, ein historisches Oberschlesien (Raum1 nach Weichhart) mit einem wahrgenommenen Oberschlesien (erlebter Raum) zu vergleichen. Das historische Oberschlesien wird als Adressangabe gebraucht – bei der Definition des Forschungsfeldes und bei der Zuordnung von Migranten. Dies ist insofern legitim, als ‚Oberschlesien‘ und ‚oberschlesisch‘ als Kategorien der Zugehörigkeit für eine undefinierte Gruppe von Menschen ganz offensichtlich wichtig sind und das eigene Selbstverständnis, die Strukturierung von Netzwerken, aber auch das Einleben in Deutschland prägen. Wichtig ist dabei nur, diese Adressangabe ‚Oberschlesien‘ stets als Konstrukt aufzufassen und das zu ergründen, was tatsächlich entscheidend ist: Im Fall der Adressangaben bei der Rekonstruktion von Netzwerken stellt sich beispielsweise die Frage, ob bei einem auf Oberschlesien ausgerichteten Freundes- und Familienkreis tatsächlich Oberschlesien als Raumbezug eine Rolle spielt oder nicht vielmehr entscheidend ist, dass ein bedeutender Netzwerkteil ‚weit weg‘ ist und damit zur Pluri-Lokalität der Lebenswelt beiträgt? Aus diesen Überlegungen heraus ergeben sich für den Bereich der Raumbezüge die folgenden Fragen: • •
Welche Raumbezüge bestehen in den transnationalen Lebenswelten der Aussiedler? Welche Bedeutung hat Oberschlesien für die Aussiedler und wie wird die regionale Herkunftskategorie für das eigene Selbstverständnis und die eigene Positionierung instrumentalisiert?
7. Angewandte Methodik
Für die Annäherung an alltägliche Lebenswelten von Migranten bieten sich vor allem qualitative Methoden der Sozialforschung an. Denn es geht um komplexe Wahrnehmungen, Einstellungen und Handlungen in einem langfristigen Entwicklungskontext (Kindheitserfahrungen bis zu Erfahrungen im hohen Alter) und daher um gesellschaftliche Vielfalt und Differenzierung (Mattissek et al. 2013: 127ff.), die nur über verstehende Ansätze erfasst werden können. Zudem ermöglichen qualitative Verfahren die notwendige Offenheit, um sich dem vorliegenden Themenfeld anzunähern. Offenheit ist dabei das zentrale Kriterium der zugrunde liegenden Methodik dieser Arbeit. Nur eine offene, flexible und verstehende Forschung ermöglicht es, Vielfalt, Differenzierung und Ambivalenz zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist eines der wichtigsten Kriterien bei der Annäherung an alltägliche Lebenswelten der oberschlesienstämmigen Aussiedler und ihre räumlichen Bezugspunkte, dass Schlagworte wie ‚Heimat‘, ‚Zuhause-Sein‘, aber auch ‚Oberschlesien‘ nicht vorab und durch den Interviewer, sondern durch die Interviewten selbst ins Gespräch gebracht und eingeordnet werden. Die Frage: „Was bedeutet Ihnen die Region Oberschlesien“ birgt die Gefahr, dass sich die Interviewpartner verpflichtet fühlen, ein Thema anzureißen und diesem Bedeutung beizumessen. Auch wenn es nicht vollständig zu verhindern ist, sollte in der Vorbereitung von Interviews darauf geachtet werden, die Gefahr, Bedeutungen und Meinungen durch den Forschungsakt an sich zu konstruieren, zu minimieren. Genauso wenig wie die Frage „Sind sie Oberschlesier, Deutscher oder Pole?“ lauten darf, kann auch nicht von vornherein von einer (emotionalen) Beziehung zu Oberschlesien ausgegangen werden. Die Auswahl von Themen und Fragen muss dieser Problematik gerecht werden. In diesem Sinne wird bei der Arbeit immer wieder auf die Idee der Grounded Theory zurückgegriffen, deren wichtigstes Merkmal Offenheit ist. Aus der Notwendigkeit heraus, „Forschung als kreatives Konstruieren von Theorien zu betreiben, die gleichzeitig fortlaufend an den Daten kontrolliert werden“ (Wiedemann 195: 440), wurden die geführten Interviews offen gestaltet und eine permanente Rückkopplung zwischen Empirie und Theoriebildung durchgeführt. Aus diesem Grunde ist die zu-
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grundeliegende Forschung induktiv und theoriegeleitet. Die Fragestellung war möglichst offen und wurde während des Forschungsprozesses konkretisiert. Die Theoriebausteine (Kapitel 2-5) und insbesondere der Transnationalitätsansatz waren dementsprechend nicht forschungsleitend, sondern wurden parallel zur Datenauswertung entwickelt. Die Interviews wurden in der von den Interviewpartnern präferierten Sprache geführt. Neben der deutschen und polnischen Sprache konnte dies auch der oberschlesische Dialekt sein. Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des Forschers eine besondere, da dieser nicht nur einen spezifischen Zugang zum Forschungsfeld kreiert, sondern auch ein Angehöriger dieser speziellen Migrantengruppe ist. Er kennt die sprachlichen Codes und wird hierdurch entsprechend anders wahrgenommen als ein Forscher ohne diesen entsprechenden Hintergrund. Hierbei stellt sich allerdings nicht das Problem einer fehlenden ‚Objektivität‘. Eine solche kann es nicht geben, da Forscher ihr Forschungsfeld nie ohne Vorannahmen, persönliche Einstellungen bzw. Erfahrungen und Sympathien bzw. Antipathien betreten. Eine schwedische Forscherin, die Spanisch durch Auslandsaufenthalte in Peru während der Studienzeit gelernt hat und im Anschluss an ihr Studium über Segregationsprozesse in Mittelamerika promoviert, bringt ohne Zweifel ihre speziellen Erfahrungswerte, aber auch ihre politische Orientierung in die Forschung mit ein. Und durch ihre Herkunft, ihr Aussehen und die Art, wie sie Spanisch spricht, wird sie durch ihre Interviewpartner in einer spezifischen Weise wahrgenommen. Was für den vorliegenden Forschungsfall vielmehr entscheidend ist, ist die Einordnung der Ergebnisse. Der Forschungsprozess und die gewonnenen Erkenntnisse müssen als ein spezifisches Konstrukt aufgefasst werden, das sich aus der speziellen Konstellation und der besonderen Beziehung zwischen Forscher und Untersuchungsgruppe ergibt. Auf der einen Seite ermöglicht die sprachliche Kompetenz einen Zugang zu Phänomenen, die in Interviews auf deutscher Sprache womöglich nicht zum Vorschein gekommen wären, auf der anderen Seite kann der Einfluss der ‚Nähe‘, in Bezug auf einen gemeinsamen Herkunftskontext, nur schwer ausgemacht werden. Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, Effekte dieser ‚Nähe‘ zu verringern. Genauere Angaben zum Background des Forschers sollten, wenn überhaupt, erst im Anschluss an das Gespräch offenbart werden. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch der offene Charakter der Interviews. Insbesondere Begriffe, die Aufschluss über soziale und räumliche Ordnungen geben, wurden durch die Interviewten selbst eingebracht (vgl. Ausführungen unter Interviewdurchführung) und nicht vorab durch den Forscher offengelegt. Die Eingangsfrage kann daher nicht lauten: „Was bedeutet Ihnen Oberschlesien heute noch? Und wie ist Ihr Verhältnis zu Polen?“ Die Untersuchung basiert in erster Linie auf qualitativen Interviews mit insgesamt 44 Aussiedlern in Nordrhein-Westfalen, die im Zeitraum 1970-1989 nach Deutschland migriert sind. Darunter befinden sich sieben Ehepaare, die gemeinsam interviewt wurden. Die Auswahl des Zeitraums 1970-1989 wird damit begründet,
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dass es sich hier zum einen nicht um die Vertreibungen nach 1945, sondern um ‚geplante‘ und von den Migranten selbst in Gang gesetzte Aussiedlungsprozesse handelt, und zum anderen, weil für die vorliegenden Fragestellungen eine Migrationsentscheidung vor 1989 sinnvoll ist, um den Einfluss der Ereignisse um und nach 1989 (Öffnung der Grenzen, EU-Erweiterung) für die alltägliche Lebenswelt der Aussiedler herausarbeiten zu können. Die Fokussierung auf NordrheinWestfalen wird damit begründet, dass hier die größte Anzahl polenstämmiger Aussiedler lebt. Nordrhein-Westfalen hat in allen Aussiedlungsphasen den größten Teil der Migrantenströme aufgenommen. Laut dem statistischen Bundesamt leben von 585.000 zugezogenen Aussiedlern mit früherer polnischer Staatsangehörigkeit allein 263.000 in Nordrhein-Westfalen (Statistisches Bundesamt 2010: 119f.). In der Interviewphase wurde das Prinzip des theoretischen Samplings verfolgt, kombiniert mit Ansätzen des Snowball-Samplings und des statistischen Samplings. Letzteres war vor allem zu Beginn wichtig. Es wurden Grundkriterien definiert, nach denen eine gewisse Bandbreite innerhalb der Interviewtengruppe erreicht werden sollte, um unterschiedliche Rahmenbedingungen der Migration und des weiteren Einlebens im Zielkontext abzudecken. Angestrebt wurden Variationen im Alter der Interviewpartner, in den Migrationszeitpunkten, in den Herkunftsstädten, in der Aufenthaltsdauer und in den Zielgebieten. Bei der Rekonstruktion des Migrationsprozesses wurde angestrebt, ein breites Spektrum verschiedener Lebensphasen (Migration im Kindes-, Jugendlichen-, Erwerbs- und Seniorenalter) betrachten zu können. Je nach Alter zum Migrationszeitpunkt wurden die Aussiedler aus unterschiedlichen Netzwerken, Bildungswegen oder Arbeitssituationen herausgerissen, und je nach Alter hatten die Aussiedler ein unterschiedliches Mitbestimmungsrecht bei der Migration. Bei der Suche nach Interviewpartnern wurde zudem darauf geachtet, verschiedene lokale Kontexte in Nordrhein-Westfalen zu berücksichtigen. Es wurden sowohl stärker verdichtete, städtische Räume als auch weniger dicht besiedelte Gebiete betrachtet, da davon auszugehen ist, dass in den dicht besiedelten Räumen, beispielsweise im Ruhrgebiet, aufgrund der hohen Konzentration an Angeboten der Zugang zur polnischen Community einfacher ist. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete somit ein statistisches Sampling. Die weitere Datenerhebung orientierte sich an einem theoretischen Sampling. „Der Grundgedanke dabei ist, dass ein Sample nicht – wie es häufig der Fall ist – gleich zu Beginn der Untersuchung festgelegt wird, sondern nach den theoretischen Gesichtspunkten, die sich im Verlauf der empirischen Analyse herauskristallisieren, erst nach und nach zusammengestellt wird.“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 177) In der Praxis bedeutet dies, dass jede Konfrontation des Interviewers mit Sichtweisen und Handlungsmustern seiner Interviewpartner Impulse für die andauernde Weiterentwicklung seiner „Theorien“ liefert und die weitere Suche nach Interviewpartnern steuert.
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Mit dem Erreichen einer gewissen Bandbreite „statistischer Variation“ im Sinne des statistischen Samplings wird somit die theoretische Durchdringung bedeutsamer. Interviewpartner werden dann vor allem gesucht, um vertiefende Beispiele für Erkenntnisse zu sammeln oder Gegenpositionen kennenzulernen. Es kann auch Hinweisen der Interviewpartner nachgegangen werden, beispielsweise, wenn diese auf konkrete Personen verweisen, die nach einem bestimmten Muster handeln oder bestimmte Ansichten haben (Beispiel: „Es gibt ja welche, die tun gar nichts für die Sprache und isolieren sich“) (vgl. auch Strauss 1998: 70). Hier ist die Herangehensweise des Snowball-Samplings nützlich, indem die Interviewpartner selbst weitere Kontakte vermitteln können. Interviewpartner können dabei sowohl Personen vermitteln, die aus dem unmittelbaren selbst erlebten Kontext stammen, aber auch „Kontrastbeispiele“ benennen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 180f.). Das statistische Sampling eröffnet somit die Feldforschung und bleibt als Rahmen erhalten, das theoretische Sampling steuert jedoch im weiteren Verlauf immer stärker die Fallauswahl und treibt die Theoriebildung voran, die im Wesentlichen an der Empirie entlang entwickelt wird (Schirmer 2009: 114f.). Dies setzt jedoch voraus, dass – wie es in der Grounded Theory verankert ist – nach jedem Zugewinn an empirischem Material Zwischenauswertungen gemacht werden, um die weitere Forschungsrichtung und Fallauswahl voranzutreiben1 (Hildenbrand 2010: 34; Meier Kruker/Rauh 2005: 78). Die Suche nach weiteren Fällen ist dann beendet, wenn eine Sättigung der gebildeten Theorien stattgefunden hat. So lange neue Erkenntnisse möglich sind und die bestehenden theoretischen Überlegungen erweitert werden können, lohnt sich die Suche nach neuen Fällen (vgl. Wiedemann 1995: 443). Interviewdurchführung In der Regel und je nach Zeitbudget der Interviewpartner wurden jeweils zwei Gesprächstreffen vereinbart. Hierdurch konnte eine insgesamt längere Gesprächsdauer erzielt werden, ohne dass die einzelnen Gespräche zur Ermüdung der Interviewpartner führten oder das Zeitbudget zu stark strapazierten. Auf die zeitliche Splittung der Interviews wurde dann verzichtet, wenn die Interviewpartner ohnehin wenig Zeit aufbringen konnten oder eine Bündelung der Termine favorisierten. Besonders ältere, nicht berufstätige Gesprächspartner bevorzugten einen längeren Termin. Prinzipiell wurde jedoch angestrebt, die Interviews auf zwei Termine zu legen. So konnten nach dem ersten Gespräch bereits erste Erkenntnisse zusammengefasst, offene Fragen gesammelt und das zweite Gespräch auf eine bestimmte Problematik hin vorbereitet werden. Für die Rückkopplung zwischen Empirie und Theoriebildung war diese zeitliche Entzerrung der Gesprächstermine von großem
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In dieser Untersuchung war die Zwischenauswertung ohnehin unabdingbar, da in der Regel mit jedem Interviewpartner zwei separate Gespräche geführt wurden.
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Vorteil. Um einen Einblick in das alltägliche Umfeld der Interviewpartner zu erlangen und um die Interviewsituation so natürlich wie möglich zu gestalten, wurden die Interviews bei den Befragten zu Hause oder am Arbeitsplatz durchgeführt, was auch den Wünschen der Interviewpartner entsprach. Die Interviews folgten dem Prinzip der Offenheit, d.h. die Aussiedler sollten die Möglichkeit erhalten, selbst Schwerpunkte zu setzen, den Gesprächsverlauf mit zu gestalten und eigene Themen einzubringen. Nicht die reine Informationsgewinnung war das Ziel, sondern „eine Form der gemeinsamen sozialen Produktion sozialer Wirklichkeit durch Interviewer und Befragten“ (Rosenthal 2011: 141; vgl. auch Lamnek 2010: 319). Nicht unbedingt das „was“, sondern vor allem das „wie“ und „warum“ haften als Fragewörter an den zentralen Fragestellungen und bedürfen einer transparenten und offenen Gesprächsführung. Durch die Offenheit der Gesprächsführung und die Einbeziehung der Interviewten bei der Schwerpunktsetzung im Gesprächsverlauf sollten „Ausschnitte der Konstruktion und Reproduktion von sozialer Realität“ durch die Befragten erarbeitet werden (Lamnek 2010: 319). Die vor der Empirie formulierten Fragen hatten einen einleitenden Charakter, der im Zuge der Untersuchung zur Modifizierung anregen sollte (vgl. Mayring 2002: 104). Im Grunde sollte, wie in der Grounded Theory postuliert, ein „Prozess des Entdeckens von Konzepten und Hypothesen“ (Lamnek 2010: 91) in Gang gesetzt werden, ohne allerdings die grobe Richtung zu vergessen. So wurden für die Annäherung an die alltäglichen Lebenswelten Themenblöcke definiert, die eine gewisse Struktur der Gespräche, eine Beantwortung der übergeordneten Fragestellungen und eine fallübergreifende Vergleichbarkeit ermöglichen sollten. Zu den übergeordneten Themen gehörten Mobilität, der Migrationsverlauf, das Einleben nach der Migration, die Netzwerkentwicklung und die Zugehörigkeits- bzw. Identitätskonstrukte. Von besonderem Interesse war, wie es zur Migration kam und wie sich das Leben nach der Aussiedlung entwickelt hat. Hier standen das Einleben in Deutschland und die Beziehungen zum Herkunftskontext im Vordergrund. Insgesamt können die geführten Interviews den problemzentrierten Interviews zugeordnet werden (Lamnek 2010: 332ff.). Sie konzentrieren sich auf übergeordnete Themenblöcke, lassen jedoch auch viel Spielraum für Schwerpunkte und Themen: „Wie im narrativen wird auch in dem problemzentrierten Interview das Erzählprinzip herausgestellt: Die Bedeutungsstrukturierung der sozialen Wirklichkeit bleibt dem Befragten allein überlassen. Mit den völlig offenen Fragen wird lediglich der interessierende Problembereich eingegrenzt und ein erzählgenerierender Stimulus angeboten.“ (Lamnek 2010: 333) Es ergab sich daher folgende Interviewstruktur: Narrativer Teil: Die Offenheit der Interviews wurde durch narrative Sequenzen ermöglicht. Offene, erzählgenerierende Fragen ermöglichten den Interviewpartnern, Schwerpunkte zu setzen und Themen anzusprechen, die sie als wichtig erachten. Erzählungen wurden im Hinblick auf die Prä- und Postmigrationszeit angeregt (Tab. 3). In den Erzählungen gab es dann in der Regel genügend Anknüpfungsmög-
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lichkeiten, um die vorab definierten Themenbereiche anzusprechen bzw. zu vertiefen. Zudem fielen in den Erzählungen der Aussiedler bestimmte Kernbegriffe wie ‚Oberschlesien‘, ‚Gorol‘, ‚Heimat‘ oder ‚die Deutschen‘, die Hinweise auf die jeweilige begriffliche Strukturierung und Differenzierung räumlicher und sozialer Phänomene aus Sicht der Aussiedler gaben. Diese konnten im weiteren Verlauf thematisiert werden, ohne sie vorher selbst einwerfen zu müssen. Das bedeutet jedoch auch, dass beispielsweise ‚Oberschlesien‘ auch nur dann thematisiert wurde, wenn es von den Interviewpartnern auf irgendeine Weise erwähnt wurde. Tabelle 3: Interviewstruktur Interviewbausteine
Fragen/Stichworte
Narrative Sequenzen
Erzählgenerierende Fragen
Leben vor der Aussiedlung
„Erzählen Sie bitte, wie war Ihr Leben vor der Aussiedlung?“ „Wie hat sich Ihr Leben nach der Ausreise entwickelt?“
Leben nach der Aussiedlung Vorab definierte Themenblöcke
Stichworte
Netzwerkentwicklung
z.B. Wohnort wichtigster Freunde, Kontakt zu Deutschen, Bedeutung des familiären Kontextes
Identität und Zugehörigkeit
z.B. alltägliches Handeln, Sprachgebrauch
Einleben in verschiedenen Kontexten
z.B. Einleben im Wohn- und Arbeitsumfeld, Gefühl des Angekommen-Seins, Bedeutung der polnischen Community
Mobilität
z.B. Urlaube
Abrufbare Leitfragen Bilder und Vorstellungen von Oberschlesien
„Wenn Sie an Oberschlesien denken, was fällt Ihnen spontan ein?“
Bedeutung von Oberschlesien im Alltag
„Welche Bedeutung hat Oberschlesien heute für Sie konkret?“
Beziehungen zwischen ‚Polen‘ und ‚Oberschlesiern‘
Wie können Sie das Verhältnis zwischen Zugezogenen und Einheimischen beschreiben? Hat oder hatte die Beziehung für Sie eine Bedeutung?
Quelle: Eigene Darstellung
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Leitfadenunterstützung: Für die vorab definierten Themenblöcke wurde ein Leitfaden erstellt. Dieser bildete nicht das Grundgerüst des Interviews, allerdings half er das Interview dort zu strukturieren, wo Erzählungen schwer in Gang kamen, und stellte zudem den groben Orientierungsrahmen für die Aspekte dar, die in jedem Fall angesprochen werden sollten (vgl. Rosenthal 2011: 142). Der Leitfaden stellt einen Kompromiss aus dem Bedarf an Offenheit und thematischen Vorüberlegungen dar. Anknüpfend an die Erzählungen wurden zu den vorab definierten Themenblöcken bestimmte Fragstellungen abgearbeitet, die jedoch flexibel in ihrer Formulierung und dem Zeitpunkt ihres Einsatzes waren. Die Leitfragen sollten auch zur Vergleichbarkeit der Fälle beitragen. Um der Gefahr einer „Leitfadenbürokratie“ entgegenzuwirken und ein starres Beharren auf vorformulierten Fragen und Unteraspekten zu vermeiden (vgl. Rosenthal 2011: 143), wurden bei den Themen, die im Leitfaden integriert waren, keine Fragen formuliert, sondern lediglich Stichworte notiert, die je nach Gesprächskontext in unterschiedlicher Art und Reihenfolge thematisiert wurden. Diese Art der Leitfadenkonstruktion führte schließlich dazu, dass in der Regel alle relevanten Themen besprochen werden konnten, die Gewichtung der Teilaspekte jedoch sehr unterschiedlich ausfiel. In Ergänzung wurden im Laufe der Interviewphase ‚abrufbare Leitfragen‘ entwickelt, auf die bei Bedarf zurückgegriffen werden konnte. Abrufbare Leitfragen standen für Themenfelder bereit, die erst dann behandelt wurden, wenn sie vom Interviewten ins Gespräch gebracht wurden. Vor allem für das Themenfeld ‚Oberschlesien‘ wurden solche Leitfragen entwickelt. Sie ermöglichen die fallübergreifende Vergleichbarkeit. Hierzu ein Beispiel: Wurde von einem Interviewpartner das Themenfeld ‚Oberschlesien‘ durch eine Bemerkung wie „Oberschlesien ist mir immer wichtig“ angesprochen, wurde diese Bedeutung und das Konstrukt von Oberschlesien mehr oder weniger nach einem bestimmten Muster rekonstruiert. Abrufbare Leitfragen bezogen sich dann auf Aspekte wie Mobilität nach Polen/Oberschlesien, Identität oder die stereotypischen Imaginationen von Oberschlesien (vgl. Tab. 3). Auswertung der Interviews Für die Kodierung wurden das Programm MAXQDA und die literarische Umschrift verwendet, die auch den Dialekt im gebräuchlichen Alphabet wiedergibt. Die Transkription stellte insofern ein Problem dar, als die für den oberschlesischen Dialekt verfügbaren Kodierungen nur ansatzweise helfen konnten. Die Fülle an unterschiedlichen Aussprachen, Wörtern und Sprachkombinationen führte dazu, dass eigene Kodierungsmuster erstellt werden mussten. Dabei wurde für Wörter, für die keine Kodierungen bekannt sind, in pragmatischer Form eine dem Wortlaut entsprechende Schreibweise gewählt und beibehalten. Eine direkte Übersetzung wäre als problematisch anzusehen, da hier wertvolle Informationen verloren gingen.
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Über die Wahl der Ausdrücke ergab sich z.T. eine ganz spezifische Analyseebene. Das Gesprochene wurde im Original transkribiert, lediglich grobe Fehler, die das Verständnis behindert hätten, wurden korrigiert. Dokumentiert wurden spezielle Gesten, Lachen, längere Pausen und Betonungen (vgl. Mayring 2002: 91f.). Folgende Abkürzungen und Hinweise sind zu beachten (Tab. 4): Tabelle 4: Abkürzungen und Hinweise in den Transkripten Hinweis
Bedeutung
(..)
Pause beim Sprechen
[…]
Auslassen größerer Textmengen bzw. ganzer Absätze
..
Satz wird abgebrochen
„Gott sei Dank (betont) bin ich fast tausend Kilometer weit weg.“
Betonung
(lacht)
besondere Reaktion/Aktion
Am Ende des Zitats: (ü)
Zitat wurde aus dem Polnischen oder Oberschlesischen übersetzt
Quelle: Eigene Darstellung
Der Umgang mit dem Interviewmaterial erfolgte in einer Kombination aus theoretischer und thematischer Kodierung. Durch die spezifischen Bedingungen der vorliegenden Untersuchung (Anspruch der Offenheit, Umfang des Materials, übergeordnete Themenstruktur) kann die Form der angewendeten Kodierstrategie nicht als mustergültige Kopie eines Verfahrens angesehen werden. Aufgrund der großen Menge an Material stellte sich eine konsequent betriebene theoretische bzw. offene Kodierung als wenig sinnvoll heraus, da diese eher für vollständig narrative Interviews geeignet ist (Mattissek et al. 2013: 202). Dennoch gab die Idee des offenen Kodierens die grobe ‚Marschroute‘ vor, da die Interviewten selbst Schwerpunkte in der Auswahl der Themen, biographische Bezüge und auch den Detailgrad bestimmten. Gänzlich befreit von Vorüberlegungen waren die Interviews nicht, sodass im Hinblick auf thematische Schwerpunkte wie Netzwerke oder Migration eine übergeordnete Struktur entstand. Es handelte sich allerdings um thematische und nicht um theoretische Schwerpunkte, die Theorieentwicklung erfolgte parallel zur Auswertung. Im Sinne der „gegenstandsbegründeten Theorieentwicklung“ (Flick 2007: 387) erfolgte somit eine stärker theoretische Form des Kodierens, wobei entweder zeilenweise oder absatzweise kodiert wurde. Das theoretische Kodieren setzt sich aus dem offenen, dem axialen und dem selektiven Kodieren zusammen (Rosenthal
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2011: 225ff.). Diese einzelnen Schritte sind zwar voneinander abzugrenzen, in der Praxis vermischen sich diese jedoch. Das offene Kodieren ermöglicht, den Text aufzubrechen und unter Berücksichtigung verschiedener Blickwinkel (Themen, Begriffswahl, Sprache) zu konzeptualisieren. Es soll „zur Entwicklung von Theorien führen. Dabei werden dem empirischen Material Begriffe bzw. Kodes zugeordnet, die zunächst möglich nahe am Text und später immer abstrakter formuliert sein sollen“ (Flick 2007: 388). Zunächst werden Textpassagen einzeln behandelt, die Codes orientieren sich stark am Inhalt der Aussagen. Im zweiten Schritt, dem axialen Kodieren, werden die Codes weiter zusammengefasst und auf eine höhere Ebene gebracht. Die Codes werden allgemeiner, d.h. sie passen nun zu verschiedenen, auch fallübergreifend erarbeiteten Textstellen, ihre Anzahl wird reduziert, um einen Überblick und eine Struktur zu schaffen. Es kommt auch zu einem Selektionsprozess: Das axiale Kodieren ist dazu da, „aus der Vielzahl entstandener Kategorien diejenigen […] [auszuwählen], deren weitere Ausarbeitung am vielversprechendsten erscheint“ (Flick 2007: 393). Ein einfaches Beispiel für diesen Vorgang ist in Tab. 5 aufgeführt. Es bezieht sich auf die Erzählsequenzen zum Leben in Polen. Den Zitaten wurden zunächst textnahe Codes zugeordnet. Bei ähnlichen Aussagen („Zu Polen spüre ich Distanz“), Einstellungen (Negative Einstellung zu Polen) und Begrifflichkeiten („Die Polen“) wurden die vergebenen Codes in einem oder mehreren Schritten zusammengefasst und somit mit Kategorien der nächst höheren, abstrakteren Ordnung versehen. Das Ziel der Zusammenfassung war, Phänomene (in diesem Fall allgemeinere Erkenntnisse/Beobachtungen) festzuhalten. Diese Phänomene bilden in einem weiteren Schritt der Zusammenfassung ein Set von allgemeinen Kategorien, die als Theoriebausteine (z.B. Transkulturalität im Alltag) bezeichnet werden können. Sie sind allgemein formuliert. Der Unterschied zwischen Phänomenen und Theoriebausteinen liegt im Fortschreiten der Interpretation: Einzelne Beobachtungen bilden zusammengefasst Phänomene, d.h. wiederkehrende Handlungen, Wahrnehmungen oder Einstellungen. In Theoriebausteinen werden ähnliche bzw. zusammenhängende Phänomene zusammengefasst und enthalten durch ihre Bündelung Erklärungsansätze, die zusätzlich in Memos festgehalten werden. An den Theoriebausteinen orientiert sich das weitere Kodieren, indem weitere passende Stellen gesucht werden. In diesem Beispiel sind die Aussagen zur Beziehung zwischen Polen und Oberschlesiern dem Theoriebaustein „Alltagsrelevanz polnisch-oberschlesischer Differenzierung“ zuzuordnen. Die gebildeten Theoriebausteine oder „Achsenkategorien“ (Flick 2007: 395) werden zur Betrachtungsebene, d.h. sie werden weiter mit Textstellen angereichert und dadurch vielfältiger und breiter im Inhalt. Beim axialen Kodieren werden nun auch verstärkt Beziehungen zwischen Kategorien herausgearbeitet. Der letzte Schritt, das selektive Kodieren, setzt hier an: Es wird eine Kernkategorie gebildet,
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um die sich andere, untergeordnete Kategorien gruppieren lassen. Diese Kernkategorie bildet letztlich den theoretischen Rahmen der Untersuchung. In diesem Fall war die Transnationalisierung der alltäglichen Lebenswelten die Kernkategorie, um die sich nachgeordnete Kategorien herum gruppieren, die sich in Richtung nachgeordneter Ebenen immer weiter ausdifferenzieren (Rosenthal 2011: 227). Tabelle 5: Beispiel für den Kodierungsprozess Textnahe Codes
Phänomen
„Bei Polen muss man aufpassen.“
Negative Einstellung zu Polen/Vorsicht
Abwertende Einstellung zu Polen
„Wenn ich das Polnische höre, dann wende ich mich sofort ab.“
Abneigung gegenüber polnischer Sprache/Meiden im Alltag
Abwertende Einstellung zu Polen
„Die Distanz zwischen Polen und Oberschlesiern war früher einfach da. Und die bleibt. Ich halte auch nix von den Polen“
Distanz zwischen Polen und Oberschlesiern/hält an
Überdauern polnischoberschlesischer Konflikte
„Das war schon eine Diskriminierung damals, keine Frage. Immer zählten nur die Polen. Naja, das ist jetzt Geschichte“
Diskriminierung der Oberschlesier in Polen/Vergangenheit
Polnisch-oberschlesische Konflikte als Teil der PräMigrationszeit
Theoriebaustein Relevanz polnisch-oberschlesischer Differenzierung
Zitat
Quelle: Eigene Darstellung
Mit zunehmendem Voranschreiten der Analyse ergibt sich eine Abkehr von der Ebene des Individuums zur Ebene des Phänomens und später der Kernkategorie. Zunächst werden die Passagen einzelner Interviews noch stark im Rahmen der individuellen Handlungen, Wahrnehmungen und Einstellungen, die sie offenbaren, kodiert und analysiert. Individuelle Perspektiven werden aufgedeckt und innerhalb einzelner Fälle zu ersten Phänomenen und Theoriebausteinen zusammengefasst. Mit zunehmender Zusammenfassung individueller Perspektiven rückt die fallübergreifende Analyse ins Zentrum, weil nun einzelne Phänomene (z.B. Pendelmobilität, Abneigung gegenüber „den Deutschen“) im Vordergrund stehen. Die individuelle Perspektive wird dann wieder bedeutsam, wenn es darum geht, einzelne Handlungen und Einstellungen zu verstehen. Hier kann eine „Feinanalyse“ (Mattissek et al. 2013: 202), in der einzelne Passagen untersucht werden, eingesetzt werden, um bestimmte Phänomene besser verstehen zu können. Der Bedarf solcher „Feinanaly-
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sen“ kann auch später, in der Ausarbeitung der Ergebnisse, entstehen. Insgesamt ergibt sich damit folgendes Auswertungsmuster: Tabelle 6: Vorgehen bei der Kodierung und Interpretation der Interviews
Inhalt
Fall- bzw. fallübergreifende Ebene
1 Kodieren
Offenes
zeilen- oder abschnittsweise Sichtung des Materials und textnahe Kodierung
textnahe Kodierung auf Fallebene
Axiales Kodieren
Zusammenfassung textnaher Codes und Umformulierung in abstraktere, allgemeinere Codes. Bildung von Achsenkategorien (Theoriebausteine) mit Unterkategorien (Phänomene). Beziehungen von Achsenkategorien werden bestimmt.
Schritt
2
Selektives
3 Kodieren
4 (Feinanalyse)
Bildung einer Kernkategorie: Das zentrale Phänomen der Untersuchung wird bestimmt. Beziehungen zu Unterkategorien werden konkretisiert. Es entsteht ein Kategoriebaum mit dem zentralen Phänomen als oberster Kategorie. Um bestimmte Phänomene oder Inhalte besser verstehen zu können, werden längere Passagen betrachtet und dazugehörige tiefergehende Interpretationen erstellt.
Mit Bildung von Theoriebausteinen intensiviert sich die fallübergreifende Analyse. Durch das theoretische Sampling bestimmen die gewonnenen Erkenntnisse (Theorien) das Vorgehen bzw. die Auswahl neuer Interviewpartner.
textnahe und phänomenbezogene Analyse auf Fallebene
Quelle: Eigene Darstellung
Netzwerkstrukturen und Mental Maps An einigen Stellen wurden ergänzende methodische Hilfsmittel angewendet. Zum einen betrifft dies die Rekonstruktion der Netzwerkstrukturen, durch die sehr viele Aspekte der alltäglichen Lebenswelt erklärt werden können. Für die Ausarbeitung der individuellen Netzwerkstrukturen wurden die Interviewten gebeten, Netzwerkkarten zu zeichnen. Es handelt sich dabei um ego-zentrierte Netzwerke, die Beziehungen und Kontakte einer bestimmten Person aufzeigen (Schnell et al. 2005: 260). Eingezeichnet werden sollten Personen, die dem Interviewten nahestehen bzw. eine wichtige Bedeutung haben. Angelehnt an Kecskes/Wolf (1996: 40f.; vgl. auch Wolf 2010: 473) wurde ein Namensgenerator bestehend aus drei Hilfsfragen entwickelt, der sich auf konkrete Interaktionen bezieht:
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Mit wem besprechen Sie in der Regel wichtige Angelegenheiten, also positive und negative Dinge in Ihrem Leben? Wer hilft Ihnen und wem helfen Sie im Alltag, also beispielsweise bei der Betreuung von Kindern oder beim Einkaufen etc.? Mit wem verbringen Sie Ihre Freizeit?
Im Anschluss wurden die Interviewten gefragt, ob nach Beantwortung dieser Fragen noch Menschen fehlen, die als ‚wichtig im Leben‘ erachtet werden. Als Informationen zu jeder Person im Netzwerk wurden das Geburtsland, der Wohnort und die Sprache, in der kommuniziert wird, festgehalten. Zudem wurde notiert, ob die jeweils eingetragene Person ein neuer Kontakt, d.h. nach der Migration zum persönlichen Netzwerk hinzugekommen ist oder bereits vor der Aussiedlung bekannt war. Die detaillierte Zeichnung von Netzwerkkarten gab Aufschluss über den Sprachgebrauch, die Bedeutung der Familie für den Alltag und die Entwicklung der Netzwerke nach der Migration. In der Diskussion des Konstrukts ‚Oberschlesien‘ wurde zusätzlich die Methode der Zeichnung von Mental Maps genutzt. Die Mental Maps sollten dabei helfen, das migrantische Konstrukt und die Hintergründe der Abgrenzung Oberschlesiens besser verstehen zu können. Es ging hierbei nicht um die Frage der Transformation der ‚Realität‘ in eine subjektive Wahrnehmungswelt, sondern um die Einflüsse historischer und politischer Raumkonstrukte auf subjektive oder kollektive Vorstellungsbilder (vgl. Weichhart 2008: 171). In der Regel sind es jedoch häufig gar nicht die Vorstellungsbilder, auf die es bei Mental Maps ankommt, sondern vor allem die graphischen Fähigkeiten (Weichhart 2008: 177). Da die Abgrenzung im Fokus stand und genau dieses Problem umgangen werden sollte, wurde eine vorlagenbasierte Methode gewählt. Eine solche Herangehensweise führt allerdings ebenfalls viele Probleme mit sich. Durch die Vorlage für die Mental Maps (Abb. 16) schafft der Forscher sein eigenes Konstrukt und kann keine absolute Offenheit garantieren. Grundsätzlich ist zu kritisieren, dass durch die Wahl eines mehr oder weniger großen Maßstabs eine gewisse Fokussierung auf einen ‚Raum‘ vorgenommen wurde. Als graphisches Grundgerüst wurde ein Kartenausschnitt vorgelegt, der einen weiträumigen Ausschnitt Südpolens darstellt und lediglich Städte und einige Flüsse als Orientierung bietet. Die Fokussierung auf Städte erlaubt letztlich nur die Rekonstruktion der Zuordnung von Städten zur gedachten Region. Das Ergebnis muss daher richtig eingeordnet werden: Es ist eine Annäherung an ein Konstrukt, das wahrscheinlich an den Zeitpunkt des Verfassens gebunden ist. Aber es ermöglicht Aufschlüsse darüber, wie politische Ereignisse die Konstruktion von Oberschlesien als Region beeinflussen und die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden steuern. Die Mental Maps halfen auch dabei, das Begriffschaos um Oberschlesien zu durchdringen. Es geht hierbei nicht um die ‚Realität‘ und ihre verzerrte Wahrnehmung,
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wie es Weichhart (2008: 174) für die Wahrnehmungsgeographie formuliert, sondern um individuelle Raumproduke, die den Raum als etwas, worüber gesprochen wird, erst erschaffen. Abbildung 16: Vorlage für die Mental Maps
Quelle: Eigene Darstellung
8. Oberschlesienstämmige Aussiedler: Treiber von Transmobilität?
Die erste Annäherung an die Frage, ob die alltäglichen Lebenswelten der Aussiedler transnationale Komponenten aufweisen und sogar mit der Idee der Transnationalen Sozialräume in Verbindung gebracht werden können, erfolgt über den Aspekt der Mobilität. Dabei soll es nicht grundsätzlich um eine Betrachtung von Mobilitätsprozessen zwischen Herkunfts- und Zielgebiet gehen, sondern um die generelle Frage, ob und wie Mobilität die alltäglichen Lebenswelten mitbestimmt und welche Kontexte hier bedeutsam sind. Für den Herkunftskontext drängt sich die Frage auf, inwieweit die veränderten politischen Rahmenbedingungen nach 1989 und die Innovationen im Transport- und IuK-Bereich zu einer Ausweitung von Mobilitätsprozessen in Richtung des Herkunftskontextes geführt und Formen transnationaler Mobilität begünstigt haben, nachdem die Aussiedler zunächst in ihrer Mobilität nach Polen eingeschränkt waren. In diesem Kapitel wird daher aufgezeigt, unter welchen Umständen die oberschlesienstämmigen Aussiedler Mobilitätsbeziehungen zu ihrem Herkunftskontext aufgebaut haben und inwieweit diese in eine Transmobilität übergehen.
8.1 D IE M OBILITÄT
UNMITTELBAR NACH DER
AUSSIEDLUNG
Für die Aussiedler aus Oberschlesien, aber auch für andere Aussiedlergruppen, gilt, dass die Migration nach Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren zunächst kein Auslöser größerer Mobilitätsbeziehungen zwischen Herkunfts- und Zielgebiet war. Der wichtigste Grund hierfür waren rechtlich-formale Hindernisse: Besuche der Herkunftsländer stellten einen bürokratischen Aufwand dar, zudem herrschte gerade bei den Aussiedlern, die ihr Land nicht offiziell verlassen hatten, Unsicherheit darüber, inwieweit ein Besuch oder eine Rückkehr zu rechtlichen Schwierigkeiten führen konnte. Obwohl viele der interviewten Aussiedler zugeben, dass sie keine wirkliche Vorstellung von möglichen Konsequenzen eines Besuchs in Polen
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hatten, führte die Angst vor möglichen Schikanen oder Verhaftungen häufig dazu, dass Besuche des Herkunftsgebietes ausgeschlossen wurden. Ilse Matysek (1941 geb.) beispielsweise, die im Jahr 1981 mit ihrer Tochter auf inoffiziellem Weg nach Deutschland gekommen ist, wartete bis zu ihrem ersten Besuch fünf Jahre. Sie erhielt zunächst keine Erlaubnis zur Einreise in Polen, bemühte sich jedoch auch nicht mehrfach um eine Genehmigung, da sie in Polen Konsequenzen befürchtete: Ilse Matysek: Das erste Mal war ich nach fünf Jahren dort. Ich habe kein Visum bekommen und hatte auch Angst. Sie hätten mich ja in Polen festhalten können, oder? (ü)
Da sie als Pionierin ausgereist war und ihr Mann noch mehrere Jahre in Polen bleiben musste, stellten in der ersten Zeit Briefe und Paketsendungen die einzigen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Eheleuten dar, da Herrn Matysek aufgrund der illegalen Ausreise seiner Frau die Aussiedlung zunächst verwehrt wurde. Neben rechtlich-formalen Hindernissen und der Angst vor der Rückkehr gab es jedoch auch andere Gründe für das Ausbleiben von Mobilität. Die Aussiedler waren unmittelbar nach ihrer Migration in komplexe Aufnahme- und Integrationsprogramme eingebunden. Die erste Zeit war geprägt durch häufige Standortwechsel. Anlaufstellen waren die Standorte bereits migrierter Bekannter bzw. Verwandter, zudem verteilte sich auch der Prozess der Aussiedleraufnahme auf verschiedene Stationen (Aussiedlerlager, z.T. mehrere Notwohnungen). Danach folgten die Arbeitsmarkteingliederung und die Wohnungssuche. Viele Aussiedler beschreiben, dass in dieser Zeit stärker die Aufgabe der „Integration“ und weniger Rückkehrgedanken oder Sehnsucht nach der „Heimat“ im Vordergrund stand. Die Aussiedler entwickelten teilweise konkrete Integrationsstrategien, die zunächst alltagsprägend waren.1 Richard Feldmann (1940 geb.), der 1978 aus Zabrze migriert ist, beschreibt seine Integrationsstrategie, für deren Erfolg er vor allem die Notwendigkeit sah, sich voll auf den neuen Lebensabschnitt in Deutschland zu konzentrieren. Dass er und seine Frau erst nach sieben Jahren zum ersten Mal wieder in Polen gewesen sind, führt er auf die rechtlich-formalen Hindernisse, aber auch auf seine Fokussierung auf eine erfolgreiche Integration in Deutschland zurück: Richard Feldmann: Zweitens es gab ja noch – wenn man so will – die Barriere mit Arbeit, mit Eingliederung und so weiter. Wir sind jetzt hierhin gekommen und uns hat hier niemand gewollt in dem Sinne. Niemand gerufen, wir wollten es. Also bist du hier, dann musst du dich jetzt anpassen, einleben und so weiter. Nicht warten, bis dir jemand was gibt. Nein. Du musst das selber machen. Also haben wir uns erst mal gekümmert, wie gesagt, die Sprache zu ler-
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Hierzu mehr im Kapitel 12 zum Einleben der Aussiedler.
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nen, einigermaßen zu beherrschen, dass die Kinder weiterkommen, Arbeit zu kriegen. Arbeiten. Richtig einleben. Nach zwei Wochen in Deutschland hab ich im Prinzip entschieden, es wird gebaut. […] Auf jeden Fall wir waren keine fünf Jahre in Deutschland, da haben wir begonnen, hier zu bauen.
Die Mobilitätseinschränkungen und die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten zu Beginn führten dazu, dass die Migration für viele Aussiedler einen Bruch darstellte und die Verbindungen zum Herkunftskontext zunächst auf ein Minimum beschränkt waren. Die Kommunikation beschränkte sich auf seltene Anrufe, Briefe und Pakete. Besonders für Familien, die durch Pionierwanderungen für länger als vorgesehen auseinandergerissen wurden, stellte diese Situation eine Herausforderung dar. Aus der Retrospektive wird diese Anfangszeit jedoch in den wenigsten Fällen als problematisch beschrieben, was sicherlich mit der zeitlichen Distanz zwischen Erlebtem und heutigen Erfahrungen, Einschätzungen und Wahrnehmungen zu tun hat. Sehnsucht nach der „Heimat“ oder Rückkehrgedanken werden selten und wenn, dann vor allem für die unmittelbare Anfangszeit beschrieben. Hier berichten einige Aussiedler von phasenweisem „Heimweh“ und von erlösenden ersten Besuchen ihrer Herkunftsstädte als Folge der anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten. Allerdings sind in den Erzählungen zu der Zeit nach der Aussiedlung erste Errungenschaften und positive Erlebnisse sowie die gut organisierte Aufnahme durch die „Deutschen“ besonders dominant. Einige Aussiedler beschreiben, dass durch die neuen Möglichkeiten in Deutschland – in Bezug auf Konsum und Reisefreiheit – Abschiedsschmerzen und Sehnsucht schnell beiseitegelegt werden konnten und der ständige Vergleich der neuen und alten Situation die Richtigkeit der Migrationsentscheidung bestätigte. Ungeachtet der Entbehrungen in der ersten Phase und zahlreicher Umstellungsschwierigkeiten (Umschulungen, berufliche Abstiege, Anpassungen in der Schule) wird in den Erzählungen die Zufriedenheit betont. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Migration im gesamten Familienbund stattgefunden hat. Roman Kasprzyk beschreibt beispielsweise, dass ihn besonders die neuen Freiheiten in Deutschland begeisterten, welche auch für erste Entbehrungen und partielle soziale Abstiege2 entschädigten: Roman Kasprzyk: Ich komm von ziemlich armen Verhältnissen von zuhause, wir hatten wie gesagt ein Zimmer. Wir wohnten da mit Bruder, Mama, Papa. Das war insgesamt.. ich weiß nicht wie viel Quadratmeter, vierzig oder keine Ahnung. Ohne Toilette, ohne Dusche. Also gut, wir haben Sport gemacht, da hab ich mich immer im Stadion geduscht, aber was man alles so später gehört hat und man hat das gecheckt, wie das woanders sein kann (betont). Das
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Roman Kasprzyk war in Polen Lehrer und musste in Deutschland zunächst Aushilfsjobs annehmen. Er arbeitete u.a. als Küchenhilfe und Fensterputzer.
164 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT war mir dann schon irgendwie Wurscht dann, einfach weg. […] Am langen Wochenende haben wir ein Auto genommen, zack nach Holland. Scheveningen. Da konnte man in Scheveningen.. haben wir gepennt im Auto, haben wir irgendwas gegessen. War picobello.
Wie Roman Kasprzyk beschreiben viele Aussiedler in ihren Schilderungen der Anfangszeit erste Urlaube oder kleinere Reisen als erste Erfolgsbelege. Mobilität war damit zur Anfangszeit nicht auf Besuche des Herkunftsgebietes, sondern vielmehr auf die Erkundung des neuen räumlichen Umfelds und das Ausleben der „neuen Freiheit“ ausgerichtet. Jan Bula etwa, der mit 34 Jahren im Jahr 1981 nach Essen migriert ist, war von Beginn an trotz aller Umstellungsschwierigkeiten von der neuen Reisefreiheit überwältigt. Er verwendet während des Interviews viel Zeit darauf, Fotos und Souvenirs aus seinen bisher erlebten Reisen zu präsentieren. Für ihn stellen die Reisen ein Erfolgsbeleg für seine Migration dar – gerade jetzt, da er seit kurzem von Hartz IV leben und eine Verschlechterung seiner finanziellen Situation feststellen muss. Besonders stolz zeigt sich Herr Bula über seinen ersten Urlaub, den er kurz nach der Aussiedlung nach Gran Canaria unternommen hat: Jan Bula: Ja weil es dort [Polen, Anm. M.O] nicht diese Freiheit gab, ne? Da war es nicht so, dass ich hätte.. Als ich hier ankam, konnte ich sofort nach Gran Canaria fliegen. Das war mein erster Urlaub. Ich bin Januar einundachtzig gekommen. (ü)
Auch Herr und Frau Steiner, die bereits in den 1970er Jahren ausgesiedelt sind, beschreiben, wie die neue Reisefreiheit und die Einbindung in Integrationsprogramme Heimweh und Sehnsucht nach der „Heimat“ beiseitegeschoben haben: Maria Steiner: Wir waren hier so beschäftigt und so eingebunden und hat uns gut gefallen, dass wir vielleicht gar nicht das Verlangen so hatten. Lothar Steiner: Also wir waren sehr zufrieden. […] Man wollte aber auch die Welt besuchen, zweimal sind wir zu Beginn mit dem Auto gefahren nach Italien, in die Toskana.
Diese Erfahrungen in der Zeit unmittelbar nach der Aussiedlung hatten darüber hinaus auch einen großen Einfluss auf die langfristige Entwicklung der Mobilität. In verschiedenen Urlauben bzw. durch das Ausleben der „neuen Freiheit“ sind für die Aussiedler neue ‚Lieblingsorte‘ entstanden. Seitdem stehen diese in einem ‚Wettbewerb‘ mit dem ‚Heimaturlaub‘. Oftmals wird die Attraktivität eines Urlaubs oder bestimmter Urlaubsorte bewusst mit dem Aufenthalt in Oberschlesien/Polen verglichen. Eine wichtige Funktion unmittelbar nach der Migration nahmen Paketsendungen ein, die zum wichtigsten Bindeglied zwischen Herkunfts- und Zielkontext wurden. Wird der Mobilitätsbegriff weiter gefasst und damit die Bewegungen von Gütern mit einbezogen, wurde die Mobilität zunächst vor allem durch Bewegung von
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Nahrungsmitteln, Textilien und Haushaltswaren getragen. Die Bedeutung der Warensendungen nach Oberschlesien ist dabei schwer zu bewerten, jedoch nicht zu unterschätzen. Viele Interviewpartner berichten von regulären Paketsendungen, die übrigens bis heute aufrecht gehalten werden. Die Motivation ergab sich vor allem aus dem Wunsch, die verbliebene Familie oder Freunde an den neuen Möglichkeiten und Zugängen „im Westen“ teilhaben zu lassen. Näher betrachtet waren Pakete jedoch auch Ausdruck des eigenen Erfolgs und damit eine Belohnung für die auf sich genommenen Mühen. Frau Ilse Matysek sieht die zahlreichen Paket- und Geldsendungen, die sie seit ihrer Aussiedlung nach Polen organsiert hat, als Genugtuung an. In Polen litt sie stets an dem Mangel an verschiedenen Gütern und war auf die Hilfe Anderer angewiesen. Nicht immer erhielt sie dabei die erhoffte Hilfe durch Familienangehörige. In Deutschland sparte sie stets Geld, um Angehörige in Oberschlesien mit diversen Gütern versorgen zu können. Heute beschreibt sie ihr damaliges Handeln als „Angeben“. Die Paketsendungen nach Polen waren für sie eine Demonstration ihres Migrationserfolgs und ein Aufbrechen der alten Versorgungsstrukturen innerhalb der Familie. Zum ersten Mal fühlte sich Frau Matysek als „Versorgerin“: Ilse Matysek: Oder ich packte fünf Mark in den Umschlag. Den Kolleginnen, mit denen ich zusammen gearbeitet habe. Ich weiß, dass die alle ärmer sind als ich. Oder ich hab ein Paket an eine geschickt und in diesem waren dann Pakete für drei, vier andere Freundinnen. Solche mit denen ich Jahre gearbeitet habe. Da hab ich dann ein Paket Kaffee, Bonbons.. Die haben da Enkel. Daher Gummibärchen oder Kaugummi. Damals konnte man noch Pralinen für zwei neunzig bei Aldi kaufen. So große, mit Blumen. Heute nicht mehr. Für sie war das viel. Ich hatte damals eine Terrasse, da war eine Schaukel, schöne Möbel. Ich hab dafür hart gearbeitet, aber ich wollte etwas haben. Da hab ich Fotos gemacht und nach Polen geschickt. Damit sie es wussten. Dass es mir gut geht hier. Und Pakete auch.. meiner Schwester (betont) habe ich auch Pakete geschickt. Zu Weihnachten. Das war schon etwas für sie. Frische Ananas, Kokos, solche Pakete. Aber wir haben geschuftet und nicht gearbeitet. Das war meine Satisfaktion. Als ich die Fotos geschickt habe, die konnten sich meine Wohnung gar nicht vorstellen. Dass ich so eine große Wohnung habe. Das war meine Satisfaktion. Und alle wussten es, ne?
8.2 ‚H EIMWEH ‘ – M OBILE K INDER UND J UGENDLICHE IHRE P OLEN - BZW . O BERSCHLESIENWELTEN
UND
Während die physische, aktive Mobilität in Richtung des Herkunftskontextes für die Eltern- und Großelterngeneration nach der Aussiedlung kaum eine Rolle spielte, können viele der interviewten Kinder und Jugendlichen von damals als erste Trei-
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ber von Transmobilität bezeichnet werden. Ihre Mobilität war in erster Linie eine Folge der abrupten Entwurzelung und der Sehnsucht nach dem vertrauten (sozialen) Umfeld in den Herkunftsstädten und vor allem dann ausgeprägt, wenn die Migration Ende der 1980er Jahre stattgefunden hat. In diesem Zeitraum waren die politischen Blockaden deutlich gelockert worden. Nach 1989 war die Mobilität nach Polen dann schließlich unproblematisch. Die spezifische Situation der Aussiedlerkinder wurde in der Aussiedlerforschung vielfach diskutiert (vgl. Slawatycka 1991 und Rabkov 2006) und oftmals mit Integrationsschwierigkeiten, Kriminalität und langfristiger Orientierungslosigkeit in Verbindung gebracht. In dieser Untersuchung stehen vor allem die Schwierigkeiten im Einleben und ihre Auswirkungen auf die Mobilität im Fokus. Die Umstände der Migration waren bei Aussiedlerkindern aus verschiedenen Gründen anders als bei den Eltern: Die Eltern waren in der Regel nicht nur Entscheidungsträger, sondern migrierten mit wichtigsten familiären Bezugspersonen oder in Absprache mit Freunden und Bekannten, was das Einleben vor Ort erleichterte. Zudem blickten sie sehr häufig aus einer anderen Perspektive auf die Zeit in Polen zurück. Für sie waren Mangelsituation, Korruption und die Anstrengungen des Alltags präsent. Diese Perspektive war bei Kindern und Jugendlichen weniger ausgeprägt, da diese in der Regel nicht so stark in die alltäglichen Versorgungsaufgaben eingebunden waren, keinen direkten Einblick in politische Machtstrukturen hatten und vor allem sehr häufig eine geringere Verbindung zu Deutschland als ihre Eltern aufwiesen (vgl. Blaschke 1991; Slawatycka 1991). Für sie bedeutete die Aussiedlung häufig ein abruptes Ende freundschaftlicher Beziehungen und der Schullaufbahn in Polen. Dies führte letztlich dazu, dass insbesondere die Aussiedlerkinder von damals die Aussiedlung heute deutlich kritischer beschreiben und die Anfangszeit häufiger als schwierig bewerten als die damalige Elterngeneration. Auch wenn der materielle Aufstieg auch von den Aussiedlerkindern wahrgenommen wurde, bewirkte die Migration nach Deutschland z.T. ein Gefühl des Herausgerissen-Seins, Unzufriedenheit und Schwierigkeiten im Einleben. Die Reaktion hierauf war bei einigen Aussiedlerkindern eine verstärkte Mobilität in die Herkunftsorte.3 Viele Jugendliche von damals beschreiben eine hohe Mobilität in den ersten Jahren, die vor allem auf die Unzufriedenheit mit dem neuen sozialen Umfeld und eine Sehnsucht nach alten Freunden/Familienangehörigen (Cousins/Cousinen) zurückgeführt wird.
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Die Ausrichtung der Mobilität verlief unterschiedlich. Es sind enge Ausrichtungen auf den lokalen bzw. regionalen Herkunftskontext zu beobachten, genauso wie systematische Erweiterungen der Mobilitätsbeziehungen auf Gesamt-Polen. Welche Rolle der regionale Herkunftskontext für die Ausgestaltung der Transnationalen Sozialräume spielt, wird in Kapitel 11 diskutiert.
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Transmobilität war damit vor allem unter den jüngeren Aussiedlern ausgeprägt und fand ihr Ende mit dem Eintritt ins Berufsleben oder der Gründung einer Familie. Sie war jedoch prägend für weitere Lebensphasen und bereitete andere Formen transnationaler Phänomene, wie Transkulturalität, vor. Am Beispiel von Martin Kluczek lässt sich diese Entwicklung besonders gut verdeutlichen. Martin Kluczek ist im Alter von sechs Jahren zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder im Jahr 1988 nach Deutschland migriert. Seine Schilderungen der ersten Zeit an seinem neuen Wohnort Bochum sind durch Probleme, Ängste und Sehnsucht gekennzeichnet. Vor allem das Einleben in der Schule und im neuen Wohnumfeld hat er in negativer Erinnerung. Er schildert insbesondere Konflikte mit anderen Kindern, Fremdheitserfahrungen in der Schule und im heterogenen Wohnumfeld sowie die Probleme der schulischen Eingliederung: Martin Kluczek: War schon ein Abenteuer, aber ich bin sehr schnell doch auf den Boden der Tatsachen hier auch als Kind gekommen. Wir haben relativ schnell ne Wohnung gefunden. Mag vier, fünf Monate gedauert haben. Ich kann mich erinnern, am ersten Tag kam ich runter, da war ein anderer Junge. Und der hat mir gleich die Faust ins Gesicht geschlagen. Bin ich nach oben gelaufen. Kam ich nachmittags nochmal runter, wollt nochmal spielen oder irgendwie sowas. Das war in Bochum Steinkuhl hier. So ein kleines Spielfeld. Kam der wieder, hat mich schon wieder geschlagen. Und am Abend hat er das nochmal gemacht. Da war ich natürlich voll fertig. Als Kind schon. Das kannte ich gar nicht. Man hat sich auch gerauft in Polen mit den Kindern, aber irgendwie.. ich kann mich erinnern, da waren so viele Kinder, waren ja nur junge Familien da. In dieser Siedlung, wo wir gewohnt haben. Das war einfach nur super. Und hier war’s irgendwie so. Naja am nächsten Tag hab ich ihm eine über die Rübe verpasst, aber so dermaßen, dass der dann heulend nachhause gelaufen ist. Und was passierte? Sofort mit Mutter und Schwester kam der hoch zu meinen Eltern. Und die fangen an, deutsch zu schimpfen. Und ich wusste nicht, was los ist. Und mein Vater hat die nicht verstanden. Ne also, auch diese Sache. Der schlägt mich zweimal. Mein Vater sagt: „Dann geh ihm aus dem Weg“ oder so. Aber dann macht man das selber einmal, und dann kommen die direkt hochgelaufen und machen Panik. Also auch diese andere Wahrnehmung. Die haben vielleicht auch die Angst, sich dann mit den Leuten auseinanderzusetzen, seitens meiner Eltern, weil die Sprache noch nicht da war. Ne aber, das war auch so ne Erfahrung am Anfang. Die war.. naja. Und in der Schule dann natürlich auch. Ich hab auch im März oder April, ich hätte, weil ich im Juni geboren bin, hätte ich ab Sechs in Deutschland zur Schule gehen müssen. Hatte in Polen aber nur die Vorschule gemacht, das halbe Jahr. Dann bin ich aber trotzdem irgendwie in die Schule gekommen, im März oder so. Und hab dann natürlich überhaupt nichts geschnallt. Weil ich da überhaupt die Sprache nicht kannte. Und dann wurde das auch wieder schnell abgebrochen. Bin dann erst mit Sieben dann halt zur Schule gegangen. Aber naja, die Erfahrung dort war auch so.. ich kann Dir nicht sagen, dass ich hier ne super Kindheit hatte. Vor allem in Steinkuhl, das ist eher so ne Migranten.. ein Migrantenstadtteil. Wir sind auch 97, sind wir dann auch da weg gezogen. Und in der Schule hatte ich auch ganz vie-
168 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT le ausländische Mitschüler, ganz viele andere Kulturen. Und man sagt zwar, als Kind, ein Kind schafft es, sich schnell zurechtzufinden. Aber ich glaube, wenn man aus so einer homogenen Gegend kommt.. also auch Kindergarten in Polen und man kommt hierhin, dann.. es war schon ein kleiner Kulturschock für mich. Da dran kann ich mich schon erinnern. Ja.
Die Erzählung von Martin Kluczek steht in einem großen Kontrast zu Erzählungen älterer Aussiedler, die aus der Retrospektive oftmals einen reibungslosen Übergang mit einigen Anpassungsschwierigkeiten beschreiben. Hürden und Probleme gehen in diesen Erzählungen in der insgesamt positiv wahrgenommenen Gesamtsituation unter. Für Martin Kluczek bleibt seine Kindheit in einer negativen Erinnerung zurück („Ich kann dir nicht sagen, dass ich hier ne super Kindheit hatte“). Seinen damaligen schulischen Werdegang sieht er heute begleitet von einem andauernden Gefühl der Distanz und Fremdheit, auch wenn er sich parallel und mit Blick auf seine Aktivitäten in einem Fußballverein als gut integriert beschreibt. Als Auslöser dieses Fremdheitsgefühls und damit als Defizit in seinem damaligen Wohnumfeld sieht er vor allem das Fehlen eines starken Klassenverbandes und eines guten Freundeskreises. Mit zunehmendem Vergleich zwischen „hier“ (Deutschland, Schule, deutsche Freundeskreise) und „dort“ (Polen, Familie, polnische Freundeskreise) sehnte sich Martin Kluczek im Jugendlichenalter zunehmend nach der Art des Zusammenlebens, die er in seinem Familienkreis und später in seinem Freundeskreis in Polen kennengelernt hat. Diese für ihn entscheidende vermeintlich „polnische“ Art des Zusammenlebens war für ihn im Jugendlichenalter der entscheidende Treiber seiner zunehmend auf Polen ausgerichteten Lebenswelt. Zu bemerken ist, dass Martin Kluczek diese für ihn „polnische“ Art des Zusammenseins erst in Deutschland, und später durch regelmäßige Aufenthalte in Polen kennengelernt und als typisch „polnisch“ konserviert hat. Das, was für Martin Kluczek als „normaler“ und gewünschter zwischenmenschlicher Umgang gilt, leitete er zunächst aus seinen Erfahrungen im familiären Umfeld und später immer stärker aus den Beziehungen in seiner (transnationalen) Lebenswelt ab. Mit zunehmendem Aufspannen eines transnationalen Freundeskreises bewertete er seine Beziehungen in seinem engeren Wohn- und Schulumfeld in Deutschland immer mehr als unzureichend oder unbefriedigend: Martin Kluczek: Mag sein, dass es auch Zufall war, weil wir vielleicht eine sehr spezifische Klasse hatten in der Realschule. Aber danach in der Berufsschule ist man ja eh nicht so oft mit den anderen da irgendwie zusammen. Aber in der Realschule, wir hatten keine gute Klasse. Also wir hatten auch keinen Klassenzusammenhalt. Vielleicht war das einfach nur ne Reaktion auf diese.. auf diesen Mikrokosmos der Schule. Der Klasse. Aber insgesamt hab ich schon gemerkt, da spielt die Mentalität schon ne Rolle. Das würd ich wirklich ganz stark unterschreiben. Ja es ist ganz anders. Wenn man.. wenn ich jetzt so zurück denke, da [in Polen, Anm. M.O] ist man ja nicht nur mit diesen Kollegen irgendwo zusammen, man ist da irgend-
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wo auch mit deren Familien in irgendeiner Weise zusammen. Ja. Der Kollege ist nicht zuhause, man schellt an der Tür. Und „Komm rein. Trink einen Kaffee". Oder „trink mal ein Bier". Auch mit dem Vater vom Kollegen. Das ist schon eine Mentalität, würde ich behaupten. Ja und dann findet man ganz einfach Zugang, wenn man so viele positive Erfahrungen macht, dann sieht man erst das Negative vielleicht. Könnt ich mir so erklären.
Aus seiner Unzufriedenheit im Schul- und Wohnumfeld heraus und aufgrund der Tatsache, dass er keine „echten“ Freunde in Deutschland finden konnte, verlagerte sich sein Freundeskreis ab Mitte der 1990er Jahre immer stärker in den polnischen Kontext. Zunächst ist Martin Kluczek noch regelmäßig mit seinen Eltern nach Oberschlesien gereist. Im Alter von dreizehn Jahren fand er jedoch während eines Besuchs in Polen Anschluss an eine Gruppe von Jugendlichen, was er heute als „Schlüsselerlebnis“ bezeichnet. In dieser Gruppe fühlte er sich fortan aufgehoben und unter „Gleichgesinnten“. Nach diesem „Schlüsselerlebnis“ fuhr Martin Kluczek auch immer häufiger allein nach Polen und seine dortigen Kontakte intensivierten sich. Parallel fand er in seinem Wohnumfeld in Deutschland ähnlich gesinnte Freunde, mit denen er regelmäßig zusammen nach Polen fuhr. Das Bindeglied dieses polnischen Freundeskreises an seinem Wohnort in Deutschland waren ähnliche Erfahrungen und die Sympathie für Polen. Für Martin Kluczek wurden diese Erfahrungen und die Suche nach dem „normalen“ und „richtigen“ Zusammenhalt zur Grundlage seines gesamten transnationalen Netzwerks. Dieses Netzwerk gab ihm das Gefühl, trotz seines Unbehagens im direkten Schulumfeld, ersatzweise in einem anderen, transnationalen Umfeld integriert zu sein. Seine häufigen Reisen waren für ihn auch ein aktives Bekenntnis zu diesem neuen Netzwerk auf der „anderen Seite“, auf das er zudem stolz war: Martin Kluczek: Ich hatte hier halt Freunde, hab Fußball gespielt. Also man hatte Kollegen, aber so richtig Freunde nicht. Und dann hatte ich jetzt ein Schlüsselerlebnis, so 95, 96 hab ich in Polen, da in Tworóg, auch ein paar Kollegen kennengelernt. Also einen kannte ich, und der hat mich in so eine Gruppe mehr so mit hineingebracht. Und dann hab ich ein paar Leute kennengelernt, mit denen hab ich mich sehr gut verstanden. Und ich fand das besser, ich fand den Umgang miteinander in Polen, fand ich besser. Ich hab gesehen, die Leute, wenn es Probleme, du kennst das Alter, vielleicht so sechzehn, siebzehn, achtzehn, waren auch ein paar Fußballverrückte. Wir sind auch dann zu Fußballspielen in Polen gefahren oder so. Und wenn ich da im Urlaub war, grad.. hab ich so gemerkt, die Leute stehen auch hinter dir, wenn irgendwas ist. Das hab ich hier in Deutschland nicht gemerkt. […] Hab allerdings dann auch in Deutschland im gleichen Zeitraum ein paar Leute durch den Fußball kennengelernt, die aus Polen kamen. Die allerdings aus Olsztyn kamen, aus Elbląg, also eher aus nördlichen Gebieten Polens. Und mit denen hab ich mich super verstanden. Und das heißt, mein Bekanntenkreis hat sich so spätestens so 95, 96 so eher auf ein polnischsprachiges Umfeld verschoben. […] Wir waren Gleichgesinnte. Also die Jungs, die ich kennengelernt hab, die sind auch dann
170 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT mit fünfzehn, sechzehn ganz oft nach Polen auch gefahren. Teilweise sind wir dann zusammen nach Oberschlesien gefahren, oder wir sind zusammen dann nach Masuren gefahren oder so. Also das hat sich dann doch sehr.. ich weiß nicht, ob das so ein Abgrenzungsdrang war. Dass man sich jetzt als Pole verstanden hat und jetzt diesen.. diesen Bekanntenkreis, oder diesen Kreis von Menschen in der Schule, mit denen man nicht so wirklich innig war. Sag ich mal. Das man das jetzt so demonstrativ auch noch zur Seite gedrängt hat und jetzt stolz gesagt hat: „Ich bin jetzt Pole und jetzt hab ich hier meine polnischen Kollegen und mit denen verbring ich jetzt meine Zeit“. […] Nachdem ich dann so achtundneunzig, neunundneunzig habe ich meinen Führerschein gemacht. (überlegt) Teilweise war ich dann acht- bis neunmal im Jahr in Polen. Auch mit den Kollegen. Wir sind dann teilweise übers Wochenende nach Polen gefahren. Bisschen feiern oder so. Aber das haben wir gemacht. […] Und ich hab dann auch einen Freund gehabt in Polen, den hab ich, der hatte auch einen deutschen Pass. Der hat seinen Job verloren mehr oder weniger, oder hat selber gekündigt. Weil er da glaub ich vier Złoty fünfzig irgendwie pro Stunde verdient hat. Hatte der den Pass. Dem hab ich dann angeboten „Komm, versuch mal hier, vielleicht kriegst du irgendwas“. Und dann war der auch zwei Monate bei uns hier. Und meine Mutter hat ihm dann ne Wohnung nebenan besorgt. Und.. dann hat er auch einen Job gefunden. Und ist bis heute hier. […] Aber das war halt dann auch noch so ne Verstärkung dieser Intensität, weil er hatte seine ganze Familie da. Hat einen Onkel hier irgendwo in Osnabrück, aber.. und dann hatte man wieder jemanden, mit dem man nach Polen fahren konnte. „Du fährst, dann fahr ich gleich mit“. Und dann ist das. Es war schon sehr intensiv. Und dann hatte ich noch ne Freundin in Polen, und dann ist es.. dann ist es eh.
Mit zunehmender Ausrichtung auf Polen und seine Transmobilität spannte Martin Kluczek einen Transnationalen Sozialraum auf, dessen Konstitution im weiteren Verlauf allerdings nicht mehr auf die bloße Mobilität zwischen Deutschland und Polen reduziert werden kann. Martin Kluczeks Alltag im deutschen Kontext wurde immer stärker durch Erlebnisse, Erfahrungen und Beziehungen aus dem polnischen Kontext beeinflusst. In Deutschland fand Martin Kluczek zunehmend Anschluss an einen polnischsprachigen Bekanntenkreis. Prägend war zudem seine Beziehung zu einem Mädchen in Polen, aber auch seine Hilfeleistung für einen Bekannten aus Polen, dem er bei der Job- und Wohnungssuche in Deutschland geholfen hat. Martin Kluczek ist bzw. war damit ein Paradebeispiel für einen ‚klassischen‘ Transmigranten, der sich pendelartig zwischen verschiedenen räumlichen Kontexten hin und her bewegt und dessen alltägliche Lebenswelt unterschiedliche räumliche Kontexte durchdringt und verbindet. Derartige Erfahrungen in ihrer Jugendzeit beschreiben auch andere damalige Aussiedlerkinder. Thomas Krawczyk (1971 geb.) beispielsweise kam 1989 mit seinem Vater aus Świętochłowice nach Deutschland. Zunächst fiel es ihm schwer, seinen alten Freundeskreis in Oberschlesien aufgeben zu müssen. Schnell fand er an seinem neuen Wohnort Freunde mit einem ähnlichen Hintergrund. Da Thomas
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Krawczyk 1989 nach Deutschland kam und zu diesem Zeitpunkt auch schon achtzehn Jahre alt war, konnte er seine transnationale Mobilitätsbeziehung zu Polen leicht aufbauen. Mit seinen „neuen“ Freunden fuhr er oft nach Oberschlesien oder zu anderen Urlaubsorten und traf dort seine „alten“ Freunde. Aus heutiger Perspektive sieht Thomas Krawczyk seine damalige Situation weniger als Folge der Unzufriedenheit mit dem neuen sozialen Umfeld in Deutschland, sondern beschreibt die plötzliche Entwurzelung und die anfängliche Überforderung als Ursachen für sein Handeln. Thomas Krawczyk kam nach einer Übergangszeit in einem Aussiedlerlager und Notunterkünften zunächst in ein Internat für Aussiedler, um dort sein Abitur beenden zu können. Hier war er von Anfang an in ein polnischsprachiges Umfeld eingebunden. Heute sieht er die damaligen Umstände seines Ankommens in Deutschland als schwierig und integrationshemmend an. Die anfänglichen Umstellungsschwierigkeiten verstärkten zunächst seinen Wunsch, den Kontakt zum vertrauten Umfeld (Freundeskreis in Oberschlesien), in dem er sich „integriert“ fühlte, aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig genoss er auch seinen neuen „Übergangsstatus“ in Oberschlesien, den er durch seinen neuen „Wohlstand im Westen“ erhielt. Damit prägte Thomas Krawczyk anfangs vor allem ein Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen neuen finanziellen sowie konsumorientierten Perspektiven und einer Orientierungslosigkeit sowie der Sehnsucht nach vertrauten Bezugspersonen: Thomas Krawczyk: Damals gab es ja keine Flieger, beziehungsweise nicht bezahlbar, ne? Also musste man immer mit dem Auto hinfahren, die Straßen waren katastrophal. […] Also wir haben schon mal, das weiß ich auch, mit hier Kumpels schon, die natürlich auch ihre Kumpels da hatten, saßen wir schon mal am Freitagnachmittag, haben wir gesagt: „Ist langweilig, komm wir fahren nach Polen“. Dann haben wir uns ins Auto gesetzt und.. sind dann mal eben für zwei Tage rüber gedüst. […] Das war relativ viel. Das war vor allen Dingen, war das cool. Das muss ich mal sagen. Man war schon der Boss. Du bist da, weiß ich nicht, damals mit hundert Mark, haste da regiert. Hatte man ein West-Auto, war man total cool. Aber das war auch nicht das Wichtigste. Das war ein angenehmer Nebeneffekt, ne? Und.. da hatte man viele. Also ich bin auch in Urlaub gefahren mit den anderen, mit den Kumpels. Da hab ich schon hier gelebt und die da, und da haben wir uns dann getroffen und sind zusammen in Urlaub gefahren. Masuren oder sonst irgendwas. Und.. das war viel. Das war ganz viel. Und das war, damals war das Gefühl auch da, dass man eigentlich hier kaum irgendwie Freunde findet, weil ne? Man hatte quasi so einen festen Bestand und die waren auf einmal weggebrochen alle. So mit einem Tag, ne?
Für einige Jugendliche von damals stellten somit vor allem alte Freundeskreise Ausgangspunkte für intensivere Beziehungen nach Polen/Oberschlesien dar. Durch diese fanden sie Anschluss an neue Netzwerke oder bauten parallel Kontakte zu gleichaltrigen Familienmitgliedern aus. Diese Beziehungen wurden dann im Vergleich zu den Beziehungen im unmittelbaren Wohnumfeld in Deutschland als „an-
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ders“ oder wie bei Martin Kluczek als „besser“ wahrgenommen und z.T. präferiert. Vor allem Jugendliche, die selbstständig und allein reisen konnten, hatten durch die Schulferien regelmäßig freie Zeit zur Verfügung und konnten daher häufig nach Polen/Oberschlesien fahren, zumal sie bei Verwandten wohnen konnten. Jedoch musste das Handeln der Jugendlichen nicht immer im Einklang mit den Vorstellungen und Praktiken der Eltern stehen, wie bei Johanna Jasko deutlich wird: Johanna Jasko: Das kam dann später. Neun oder zehn war ich da. Da hat es mich dann gezogen. Aber deshalb, weil ich da Cousinen hatte. Es war dort schön auf dem Land. So.. Ich mochte es einfach, dahin zu fahren. Deswegen. Und Fernsehen, immer waren bei mir polnische Sender angemacht. Oder irgendwelche Bücher.. einfach.. weil ich es wollte. So lernte ich dann. Aber ich hatte das schon immer. Als Kind sowieso. Als Teenager da hat es mich dann total gezogen. Obwohl es Papa und Mama nicht wollten. Aber ich wollte polnisch lernen, ich wollte alles, was mit Polen zu tun hatte. (ü)
Ähnlich wie Martin Kluczek beschreibt auch Johanna Jasko, die 1989 mit sieben Jahren migriert ist, ein Wohlbefinden während ihrer Aufenthalte in ihrer Herkunftsstadt in Polen. Vor allem die positiven Erfahrungen mit den dortigen Freunden und Familienmitgliedern sind hierfür ausschlaggebend. Diese Erfahrungen wirken sich auch auf ihr Handeln außerhalb des oberschlesischen Kontextes aus. Rückblickend sieht sie hier den Ursprung ihrer Entwicklung zum „Polen-Fan“, als der sie, geprägt durch die positiven Eindrücke in Polen/Oberschlesien, auch in Deutschland jeden Kontakt zu allem vermeintlich „Polnischen“ suchte. Mit ihrem Vater, der ihrer Meinung nach wiederum alles Deutsche verherrlicht und eine schwierige Beziehung zum polnischen Nationalstaat hat, gerät sie hierdurch des Öfteren in Meinungsverschiedenheiten, gerade wenn es um die Frage „Wer bin ich?“ und damit um Identitäten und Zugehörigkeiten geht: Johanna Jasko: Papa hat immer gesagt „Sag überall, dass du Deutsche bist“. Ich sage „Nein, ich werde das nirgends sagen, dass ich das fühle, das sind meine Wurzeln und Schluss“. Ich werde nicht lügen. […] Er ist Deutscher. Aber er hat so einen Akzent. Ich sag manchmal: „Papa, du kannst niemandem sagen, dass du Deutscher bist“ (lacht). „Wenn du den Mund aufmachst“. Obwohl er über zwanzig Jahre hier ist. Du weißt sofort, dass er ein Schlesier ist. Das hört man. Pole, Schlesier. Man sieht es, man hört es. (ü)
Die transnationalen Mobilitätsphasen der jüngeren Aussiedler endeten langfristig mit dem Einsetzen neuer Lebensphasen, vor allem durch Heirat oder den Eintritt ins Berufsleben, dauerten jedoch z.T. mehrere Jahre. Vor allem der plötzlich eintretende Zeitmangel reduzierte die Möglichkeiten zur Mobilität. Ungeachtet dessen waren diese transnationalen Mobilitätsphasen für einige der damaligen Aussiedlerkinder prägend für die weitere Entwicklung ihrer Lebenswelten. Auswirkungen dieser
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Mobilitätsphasen können auch heute in ihrem alltäglichen Handeln beobachtet werden. Während Thomas Krawczyk sich bewusst von der „anderen Seite“ (Polen/ Oberschlesien) abgewendet hat und sich nach dem Ende seiner intensiven Beziehungen zu Oberschlesien stärker auf Deutschland (Studium, Beruf, Familie) konzentriert hat, zeigt sich bei Martin Kluczek und Johanna Jasko auch heute noch eine starke Multikontextualität ihrer Netzwerke und Identitäten sowie eine große Bedeutung des polnischen/oberschlesischen Kontextes in ihren alltäglichen Lebenswelten. Martin Kluczek beispielsweise betont, dass heute beide Kontexte – sowohl der polnische als auch der deutsche – für ihn von großer Bedeutung sind. Die aus Zeitgründen weniger gewordenen Reisen nach Polen kompensiert Martin Kluczek heute durch eine stärkere Transkulturalität im Alltag. Dieses Erbe seiner langjährigen Ausrichtung auf Polen sieht er zudem äußerst positiv. Er betont, dass er nun nicht zwischen den zwei Welten „Polen“ und „Deutschland“, sondern vielmehr in den zwei Welten lebt, wobei er sich in beiden integriert fühlt und beiden ihre spezifische Bedeutung zuweist. Hier wird das „vielfache Involviertsein“ deutlich, das Han (2006) als wesentliches Merkmal eines Transnationalen Sozialraums ansieht: Martin Kluczek: In zwei Welten. Nicht zwischen zwei Welten. Ich hab zwei soziale Räume, kann man so sagen. Ich hab und dadurch, dass ich da gute Freunde hatte oder auch ne Freundin in Polen hatte, die dann auch zur Schule gegangen ist, dann hat man auch das ganze Drumherum mitbekommen. Wie die Schule abläuft, wie in Polen auch Familienfeiern jetzt heute ablaufen, wie aber auch irgendwie amtliche Dinge funktionieren und so weiter. Also so, als ob man sich in zwei Räumen, die zwar tausend Kilometer voneinander entfernt sind, aber man bewegt sich wie selbstverständlich in beiden Räumen. Nach einer gewissen Zeit. Und man hat keine Angst mehr, irgendwo ins Amt zu gehen, mal irgendwas nachzufragen. […] Man nimmt das an und es bereichert einen. Ja?
Martin Kluczek lebt heute in einem Transnationalen Sozialraum, in dem alle Kontexte zu einem Aktionsraum verschwimmen. Den einzelnen Kontexten fügt Martin Kluczek unterschiedliche Bedeutungen zu. In Deutschland lebt ein großer Teil seiner Familie, hier hat er sein Abitur gemacht und ist zur Bundeswehr gegangen. Besonders letzteres führt er mehrfach als Beleg für seine erfolgreiche Integration in Deutschland an. In Deutschland hat er zudem eine wichtige Bezugsgruppe in seinem Fußballverein gefunden und in Bochum erfolgreich studiert. In Polen hat er wiederum wichtige Freunde und darüber hinaus für längere Zeit eine Freundin gehabt. Zudem hat er großes Interesse daran, Polen zu erkunden und verbringt seine Urlaube ausschließlich dort und in angrenzenden slawisch geprägten Ländern. Dass jedoch beide Kontexte nicht isoliert betrachtet werden können, sondern einen alltäglichen Lebensraum bilden, in dem unterschiedliche Wechselwirkungen bestehen, wird deutlich, wenn die Bedingungen für das Handeln an einzelnen Orten betrachtet werden. Viele seiner Entscheidungen in Deutschland, auch alltägliche
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Praktiken, werden durch die Erfahrungen aus dem polnischen Kontext mitbestimmt. Für Martin Kluczek kam beispielsweise nur eine Ehefrau aus Polen infrage, genauso wie seine Entscheidung für ein Slawistik-Studium mit anschließender Promotion zu einem regionalen Thema in Polen aus seinen Erfahrungen in Polen heraus entstanden ist. Aber auch seine Vorliebe für polnisches Bier, seine Sympathie für die polnische Fußballnationalmannschaft („Egal was Polnisches spielt, da bin ich immer dafür“) und die Wahl der Sprache im Alltag gehen auf diese Erfahrungen und Erlebnisse zurück. Viele Phänomene, die er im polnischen Kontext schätzt, sieht er zudem als räumlich ungebunden an. In gewisser Weise lassen sie sich seiner Meinung nach „mitnehmen“. „Polen“ und das, was er mit dem dortigen Aufenthalt verbindet, werden für ihn dadurch auch ohne Mobilität erlebbar: Martin Kluczek: Das fängt mit kleinen Sachen an, wie Essen, wie Tyskie trinken. Wie polnisches Fernsehen gucken ab und zu. Dann auch Musik hören und solche Dinge. Aber auch mit Interesse für Politik, eben dann natürlich auch für Geschichte. Irgendwo auch beruflich bedingt. Aber natürlich auch so. Und für diverse Dinge des kulturellen Lebens auch, und das vereint sich so insgesamt, glaub ich. Damit hat man so ein weites Spektrum, was man eigentlich abdeckt, glaub ich.
Martin Kluczeks Transnationaler Sozialraum als sozialer Verflechtungszusammenhang kann nicht als Summe aus Herkunfts- und Zielland gesehen wird, sondern wie Pries (2001a: 40) allgemein festhält, als „Neuschöpfung aus identifikativen und soziostrukturellen Elementen der Herkunfts- und Ankunftsregion“. In seinem transkulturellen Alltag sieht Martin Kluczek vor allem durch neue Möglichkeiten im IuK-Bereich und das breite Angebot für die polnischsprachige Bevölkerung in NRW genügend Möglichkeiten, die „polnische Seite“ seiner Lebenswelt auszuleben. Dies erfolgt für ihn vor allem über den Konsum polnischer Produkte, das regelmäßige Abrufen von Informationen rund um Polen, die Pflege des transnationalen Netzwerks und das Aufrechterhalten bestimmter Traditionen (z.B. Kirchengang in polnischsprachigen Gemeinden). Transkulturelle Erfahrungen machte Martin Kluczek auch durch sein Slawistik-Studium und die Entscheidung zur Promotion in diesem Bereich. Hierdurch ist er nun in eine Forscher-Community eingebunden, die sich mit Polen und seiner Geschichte beschäftigt. Um seinen Transnationalen Sozialraum aufrechtzuerhalten war für Martin Kluczek die Wahl einer polnischstämmigen Ehefrau unabdingbar. Wichtig ist ihm, dass seine Ehefrau seine Werte und Vorstellungen in zentralen Bereichen teilt und er dadurch vor bestimmten vermeintlich „deutschen“ Werten und Normen geschützt bleibt. Diese Entscheidung, aber auch seine Wahl des Studiums und die Pflege bestimmter alltäglicher Praktiken zeigen die Wechselwirkungen in Martin Kluczeks Transnationalem Sozialraum. Erfahrungen in dem einen Kontext haben Auswirkungen auf den anderen. Dies gilt für alle relevanten Aspekte des Lebens und damit
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„für die alltägliche Lebenspraxis, das Normen- und Wertesystem, die Arbeitsmarktund Berufsstrategien, die politischen Einstellungen und Aktivitäten [...] [und] die persönlichen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen“ (Pries 2010: 15): Martin Kluczek: 2004 habe ich meine Frau kennengelernt. Kommt aber aus Olsztyn. Die hab ich hier kennengelernt. Zuvor hatte ich hier auch eine Freundin, die hat hier studiert, die war aus Bielawa. Aus Niederschlesien. Also.. die war halt hier. […] Aber es ist total auffällig, die [Polnische Freunde in Deutschland, Anm. M.O] haben alle polnische Frauen. Die haben alle, da kenn ich keine Ausnahmen. Da ist schon dieser Drang dazu sehr stark gewesen. Dass man da explizit sich entweder ein polnisches Mädel sucht. Sogar in Polen. […] Es ist so gekommen. Ich würde schon sagen, Mentalität spielt da ne große Rolle. Erziehung spielt da glaub ich ne große Rolle. Sind vielleicht so diese klassischen Dinge. Dieses Familiäre. Was man selber kennt. Bei vielen deutschen Mädchen. Vor allem in diesem Ballungsraum, wo es so viele Lebensformen gibt und so weiter. Scheidungen und so weiter. Das kennt man aus seiner Familie nicht. Und trifft da drauf auf einmal wieder. Ich glaub, das ist etwas was man dann bewusst auch dann abgrenzt und sagt „Ne, so will ich das nicht“!
Betrachtet man nun die Lebenswelten von Johanna Jasko oder Martin Kluczek, könnte die Vermutung aufkommen, dass die Kinder, die vor der Migration nur wenige Jahre in Polen verbracht haben, einen stärkeren Polen- bzw. Oberschlesienbezug aufgebaut hätten als ihre Eltern. Tatsächlich scheinen die Umstände der Migration und die Startbedingungen für Aussiedler in unterschiedlichen Lebensphasen sehr wohl einen Einfluss auf die Kontaktintensitäten zum Herkunftsgebiet ausgeübt zu haben, auch wenn hier die Erziehung und das Handeln der Eltern als früher Orientierungsrahmen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.4 Transmobilität der damaligen Kinder und Jugendlichen war kein automatisch eintretender Prozess, sondern gebunden an die von den Eltern geschaffenen Rahmenbedingungen. So beschreiben andere damalige Aussiedlerkinder, wie die Beziehung zu Oberschlesien und Polen nie entstanden oder mit den abnehmenden Besuchen der Eltern schwächer geworden sei. Nicht alle haben in Polen während der Aufenthalte einen Bezugspunkt finden können, wie es beispielsweise bei Martin Kluczek war. Alexandra Hurdalek, die 1988 mit fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen ist, erlebte zunächst eine ähnliche Situation wie Martin Kluczek. Sie war mit ihrem neuen sozialen Umfeld in Deutschland unzufrieden und hatte vor allem Schwierigkeiten, sich im Schulumfeld zurechtzufinden. Daraus ergab sich für sie eine starke Sehnsucht nach ihrem alten Freundeskreis in Polen. Kurze Zeit nach der Aussiedlung ist sie daher für ein paar Wochen allein in ihre Herkunftsstadt gefahren. Hier machte sie allerdings andere Erfahrungen als Martin Kluczek: Ihr erster Besuch in Polen
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Hierzu mehr in Kapitel 11 zu Identitäten.
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kurz nach der Aussiedlung relativierte ihr Bild der „vertrauten Heimat“. Sie erlebte eine Form der Entfremdung, die ihr deutlich machte, dass ihr Herkunftskontext nicht der Zufluchtsort war, nach dem sie sich sehnte: Alexandra Hurdalek: Ja, im ersten Jahr war die Sehnsucht groß. Bis meine Eltern gesagt haben „Weißt du was? Soll sie fahren. Lass sie zu Besuch fahren. Soll sie fahren“. Da bin ich damals alleine gefahren, mit der Schwester meiner Mutter. Und das hat mir die Augen geöffnet, weißt du? Ja weil das Leben dort läuft weiter. Du denkst, du kommst an und es ist so früher. Sie waren auch.. es ging um meine Bekannte. Sie waren alle in der Schule. Aus der Grundschule sind wir alle in eine andere Richtung gegangen. Sie haben untereinander auch nicht mehr zusammengehalten. Und diese Nostalgie.. das hat mich dann davon geheilt, weißt du? Ich bin später.. ich bin dahin gefahren, da hab ich gesagt „Mann, man fühlt sich hier irgendwie fremd“. In Polen. […] Die Leute waren da ganz anders. Immer hat man gedacht „Du kommst und alles wird so wie früher“. Nein. Sie leben auch. Und das Leben.. es geht auch weiter. Du hast gesehen, dass es keine gemeinsamen Themen gab. Oder nicht so viele wie früher. Es gab Erinnerungen und so weiter, aber du hast gesehen, dass sie ihr eigenes Leben haben. [...] Und gerade das hat mir später geholfen, hier, als ich zurückkam, mich stärker zu akklimatisieren. Man könnte sagen, dass ich mich nach eineinhalb Jahren hier akklimatisiert habe. (ü)
Alexandra Hurdaleks Reaktion auf diese Erfahrung war der Versuch, sich stärker auf den neuen Lebenskontext einzulassen, aber auch die stärkere Einbindung in ihr polnisches Netzwerk an ihrem neuen Wohnort Mönchengladbach. Hier fand sie eine Gruppe „Gleichgesinnter“ mit ähnlichen Problemlagen, Erfahrungen und Bedürfnissen. Andere ehemalige Aussiedlerkinder berichten wiederum, wie das Ausrichten der Eltern auf den neuen Lebenskontext auch auf sie übergegangen ist und der Herkunftskontext zur abgeschlossenen Vergangenheit wurde. Dies ist vor allem bei sehr jungen Aussiedlern und besonders dann der Fall gewesen, wenn die Eingliederung in das Schulumfeld reibungslos verlief. Wiederum eine andere Entwicklung der Beziehungen zum Herkunftskontext weisen Aussiedlerkinder auf, die zunächst mit den Eltern regelmäßig nach Polen gefahren sind, jedoch mit zunehmender Selbstständigkeit andere Prioritäten entwickelt haben. Die Mobilität nach Polen wurde unregelmäßiger oder kam gar ganz zum Erliegen, wie beispielsweise im Fall von Michael Winiarski, der 1988 im Alter von drei Jahren zusammen mit seinen Eltern nach Deutschland ausgesiedelt ist. Zunächst war die Familie Winiarski noch regelmäßig zu Besuch in Polen (Opole und Kołobrzeg). Später kapselte sich Michael Winiarski von diesen Besuchen ab. In den letzten fünfzehn Jahren fuhr er nur selten nach Polen, das letzte Mal vor allem, um seinen erkrankten Großeltern zu helfen. Anders als bei Johanna Jasko oder Martin Kluczek war für ihn von Anfang an sein deutsches Netzwerk entscheidend und sein Wohnumfeld in Deutschland der
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zentrale Punkt seiner alltäglichen Lebenswelt. Polen blieb die Heimat seiner Großeltern und einiger Verwandter, mit denen die Kommunikation aufgrund seiner sprachlichen Defizite zudem schwierig war (Familie Winiarski sprach in Deutschland fast ausschließlich Deutsch). Heute nimmt er sich fast jedes Jahr vor, eine Reise nach Polen zu unternehmen, auch um sein Herkunftsland Freunden vorstellen zu können. Doch letztlich fehlen immer wieder ein Anlass und die Zeit für dieses Vorhaben: Michael Winiarski: Also das ist halt so, sobald man selbstständiger wird, hängt es von einem selber ab, ob man nun fährt oder nicht. Meine Mama fährt jedes Jahr glaub ich zwei Mal. Aber zu ihren Eltern einfach auch, ne weil die werden ja auch älter und können nicht mehr so viel. Und dann kommt sie auch dahin, um ein bisschen was zu machen. Aber mir passt es meistens nicht, sonst würde ich mitfahren, einfach vom Zeitpunkt her. Studium und so. Aber.. ich bin auch vor zwei Jahren dahin gefahren, weil mein Opa war im Krankenhaus. Meine Oma war alleine. Und die kann halt auch nicht mehr so viel machen, und dann war auch irgendwie Not am Mann, ne? Und dann war mir auch klar, wenn keiner da hin fahren kann, dann fahr ich einfach. Das war auch echt gut. Und eigentlich ärger ich mich immer. Weil ich würde gerne jedes Jahr.. würde ich am liebsten hinfahren zu meinen Großeltern. Und.. jetzt wollte ich dieses Jahr im Herbst auch wieder fahren, hab ich aber auch nicht mehr geschafft. Und das wieder. Es ist schon so, dass ich das so ein bisschen vor mir her schiebe. Weil der Zeitpunkt eigentlich, wenn man es schaffen würde, man könnte sich einen Zeitpunkt festsetzen. Man könnte dahin fahren. Aber so schiebt man´s schon bisschen vor sich her. Aber trotzdem, der Wunsch ist immer, dahin zu fahren.
8.3 Z WISCHEN P FLICHT UND S EHNSUCHT : (T RANSNATIONALE ) M OBILITÄT DER E LTERNGENERATION Anders als bei den damaligen Aussiedlerkindern war für die Elterngeneration die Zeit unmittelbar nach der Aussiedlung geprägt durch die Fokussierung auf den neuen Lebenskontext in Deutschland. Im weiteren Verlauf haben sich jedoch auch Formen transnationaler Mobilität mit Bezug auf den Herkunftskontext entwickelt. Auf die Frage, wann von transnationaler Mobilität gesprochen werden kann, gibt es keine eindeutige Antwort. In dieser Arbeit geht es jedoch auch nicht um die Quantifizierung von Transmobilität, sondern um die Bedeutung von Mobilität für die Lebenswelten der Aussiedler. Wenn der ‚klassische‘ Transmigrant, der pendelartig regelmäßig und häufig Grenzen überschreitet, als Bezugsrahmen genommen wird, bleibt Transmobilität unter den Aussiedlern ein Randphänomen. Doch es zeigt sich, dass Mobilität für einige Aussiedler eine wichtige Rolle spielt und bestimmten
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Mustern folgt. Sie bildet häufig einen wichtigen Baustein in der Konstruktion und Konstitution Transnationaler Sozialräume. Auch wenn Transmobilität innerhalb der Elterngeneration nur ein Randphänomen darstellt, wird sie zuallererst diskutiert, da hier deutliche und homogene Strukturen zu erkennen sind, während die Mobilitätspläne abseits der Transmobilität (Kapitel 8.4) deutlich diffuser sind und ein breites Feld zwischen regelmäßiger und vollständig ausbleibender Mobilität aufspannen. Transmobilität tritt bei der Elterngeneration unter bestimmten Rahmenbedingungen ein und erfolgt häufig phasenweise. Eng damit verknüpft sind die neuen politischen Rahmenbedingungen und die neuen Transportmöglichkeiten nach 1989. Auslöser einer neuen Mobilität nach Oberschlesien/Polen sind häufig berufliche Veränderungen, eine langfristig auftretende Unzufriedenheit mit der persönlichen Situation, aber auch der Eintritt ins Rentenalter bei gleichzeitiger Ausrichtung der Netzwerke auf den polnischen/oberschlesischen Kontext. Dabei ist es so, dass durch die neuen technischen Möglichkeiten neue Kontakte in Polen aufgebaut oder bestehende Kontakte aufgefrischt (z.B. alte Klassenfreunde im Portal ‚nasza klasa‘5) bzw. intensiviert werden. Auch die günstiger gewordenen Transportmöglichkeiten (v.a. die Billigairlines) spielen hier eine Rolle, weil sie Mobilität vereinfachen. Dieses in der Aussiedlerforschung als „Rückbesinnung“ oder neue „Sehnsucht nach der alten Umgebung“ (Ploch 2011) bezeichnete Phänomen ist jedoch differenzierter zu betrachten. Die Hintergründe für eine Intensivierung der Mobilitätsbeziehungen reichen vom Ausschöpfen neuer beruflicher Möglichkeiten (was nicht unbedingt eine emotionale Rückbesinnung implizieren muss) bis hin zu einer Rückorientierung auf alte Netzwerke als Folge schlechter Erfahrungen in Deutschland. Zusammenfassend resultieren transnationale Mobilitätsformen aus den folgenden Lebensumständen: (1) Beruflich bedingtes Pendeln (2) Pendeln aufgrund der Unzufriedenheit mit der Lebenssituation in Deutschland (3) Immobilienbesitz in Oberschlesien/Polen Darüber hinaus beschreiben einige Aussiedler Phasen transnationaler Mobilität (4), die in besonderen Situationen auftreten (Krankheit von Familienangehörigen in Polen), einem bestimmten Zweck folgen und in der Regel abrupt enden. Sie werden eher als Belastung gesehen. Eine solche Phase hat beispielsweise Jan Bula erlebt, der über einen längeren Zeitraum jedes zweite Wochenende mit dem Pkw nach Oberschlesien gefahren ist, als sein Vater krank wurde:
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Internetplattform, auf der Kontakt zu ehemaligen Klassenkameraden aufgenommen werden kann.
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Jan Bula: Als mein Vater.. ich hab damals gearbeitet, ich hatte jedes zweite Wochenende ein langes Wochenende, ne? Als mein Vater.. mein Vater ist an Krebs gestorben. Als er in Ligota in der Onkologie lag, da war ich jedes zweite Wochenende in Polen. Mit dem Auto. Nach der Arbeit bin ich nach Polen gefahren, weil Mama aus Świetochłowice über zwei Stunden brauchte. Da gibt es keine Direktverbindung. Sie musste mit der Straßenbahn aus Świetochłowice nach Katowice und von Katowice nach Ligota. Und als ich da war, da war ich in fünfzehn Minuten da. [...] Da haben sich alle gewundert. Ich nach der Arbeit nicht nachhause. Ja nachhause, einen starken Kaffee trinken, etwas packen, waschen und nach Polen. Aus Polen bin ich zurückgekommen, nachhause, waschen und zur Arbeit. [...] Nach Polen brauchte man damals.. die DDR gab es ja nicht mehr. Aber elf Stunden. Mein Rekord lag bei acht Stunden, als mein Vater starb. Nach Świetochłowice. (ü)
Jan Bulas Mobilität hing nach seiner Aussiedlung vollständig von seinen Eltern ab. Sie wurde ihretwegen überhaupt ausgelöst, intensiviert, wenn beide Hilfe benötigten, und fast vollständig beendet, als beide verstarben. Nun zu den drei Hauptformen von Transmobilität und zunächst zum beruflich bedingtem Pendeln (1): Ein häufiges Hin-und-Her über die Grenzen hinweg, wie es für die polnischen Arbeitsmigranten der 1990er Jahre beschrieben wird, kommt bei den interviewten oberschlesienstämmigen Aussiedlern äußerst selten vor. Am ehesten tritt die Vorstellung eines klassischen Transmigranten noch im Fall beruflicher Umstände auf, wie es bei Martin Hirsch (1965 in Zabrze geb. und 1980 migriert) der Fall ist. Er pendelt zwischen Oberschlesien und seinem Wohn- bzw. Arbeitsort in Deutschland. Herr Hirsch arbeitet in der Nähe von Bonn und ist aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit verpflichtet, zu verschiedenen Veranstaltungen nach Polen und insbesondere Oberschlesien zu fahren. Auch seine Ehefrau ist durch eine starke Multikontextualität ihrer Arbeitswelt geprägt. Frau Hirsch arbeitet an der Universität in Opole, kann jedoch durch die Bündelung ihrer Tätigkeiten auch von zuhause aus in Deutschland arbeiten. Durch eine Kombination aus Homeoffice und der Bündelung von Lehrveranstaltungen kann sie ca. die Hälfte des Monats in Deutschland bei ihrem Mann verbringen. Herr Hirsch wiederum reist mitunter mehrmals im Monat nach Oberschlesien. Das Ehepaar hat für seine multikontextuale Lebens- und Arbeitswelt kontinuierlich und in mehreren Schritten eine ‚transnationale Strategie‘ erarbeitet, die den häufigen Ortswechsel so angenehm wie möglich machen soll. Nachdem beide zunächst vorwiegend in Hotels übernachtet haben, entschieden sie sich für den Kauf einer Wohnung in Zabrze und für den Erwerb eines zweiten Pkw in Polen. Diese Entscheidungen fielen nach Lernprozessen in ihrem hochmobilen Alltag. Von der Immobilie erhoffen sie langfristig einen ökonomischen Vorteil, während der Pkw mit polnischem Kennzeichen als „bequemer“, weil unauffälliger wahrgenommen wird:
180 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Martin Hirsch: Und wir haben uns dann auch entschlossen ein Auto zu kaufen. Wenn ich dahin fahr, dann fahr ich nur noch auf polnischem Kennzeichen. Da brauch ich mir um mein Auto keine Gedanken zu machen. Und Sie werden auch anders angeschaut, wenn Sie mit polnischem Kennzeichen im Straßenverkehr unterwegs sind, im Vergleich zu einem deutschen Kennzeichen.
Der vor allem über die berufliche Multikontextualität entstandene Transnationale Sozialraum des Ehepaars ist fest durchorganisiert. Auf die Wohnung in Zabrze gibt regelmäßig ein befreundeter Nachbar und Polizist Acht. Der Pkw wird aus Kostengründen nicht auf dem Flughafenparkplatz abgestellt, sondern bei einer Familie in einer angrenzenden Kleinstadt, die den Wagen gegen eine geringe Bezahlung bewacht, vor der Ankunft von Herrn oder Frau Hirsch zum Flughafen bringt und später auch wieder abholt. Frau Hirsch pendelt, während sie in Oberschlesien ist, von Zabrze nach Opole, was ca. eine Fahrstunde ausmacht. Ändern sich plötzlich Wetterbedingungen, übernachtet sie in Opole bei einem Bekannten. Auch die Reisephasen sind fest organsiert. Hierfür hat Herr Hirsch bestimmte Praktiken entwickelt, die ihm das Pendeln erleichtern. Der Transport zum und vom Flughafen ist organisiert und die Flugzeit nutzt Herr Hirsch vor allem zur Erholung: Martin Hirsch: Vielleicht, weiß ich nicht, also wie gesagt ich fahr jetzt so oft, ne ich fahr jetzt fast.. dreimal teilweise jetzt in den letzten Monaten dagewesen, übers Wochenende oder so. Und manchmal weiß ich selber nicht mehr, wo ich bin. Ich wunder mich über das Kennzeichen mit Polen, weil wenn Sie noch mit dem Flugzeug fliegen, dann schlafen Sie lange, Sie wachen auf. Also mir macht das nix aus, sich umzustellen wo ich gerade bin und auch sprachlich. […] Und bei Wizzair, ich werde hier von Bekannten abgeholt oder in Bonn abgeholt, der bringt mich zum Flughafen, ich steig aus, checke ein, entweder mit Gepäck oder ohne, ich setz mich. Ich hab immer hier priority boarding. Dann bin ich als erstes, damit ich mich nicht mit den ganzen Mamas mit den Taschen herumschlagen muss. Also nicht, dass ich arrogant wirken will, nur ich brauch oder will immer einen Fensterplatz. Auch nicht deswegen, weil ich mehr nach unten schaun kann, sondern ich schlafe. Für mich ist es eine Zeit, wo ich ausschlafen kann. Ich setze mich hin, schnall mich an, ich krieg gar nicht mit, wann die Maschine voll ist. Irgendwann werd ich wach, gucke ich, weil mir schon mein Nacken weh tut. „Achso wir sind schon in der Luft“. Dann wechsele ich und dann mein Wecker ist: Welcome to entweder to Cologne oder welcome to Katowice. Ne Stunde, Viertelstunde.. zwanzig Minuten und dann bin ich an Ort und Stelle.
Mit der Aussage „Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wo ich bin“ bringt Martin Hirsch eine ähnliche Empfindung zum Ausdruck wie zuvor Martin Kluczek. Seine einzelnen Lebenskontexte verschwimmen und sind nicht einfach in einen Herkunfts- und Zielkontext zu trennen, weil es auch keinen definierten Start- und Zielpunkt für die Mobilität gibt. Grenzen in dieser transnationalen Lebenswelt werden
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zwar wahrgenommen, jedoch nicht in ihrer politischen und raumordnenden Bedeutung, sondern vielmehr in praktischen Dimensionen. Grenzen werden durch Unterschiede der Qualität von Internetverbindungen oder als Sprachgrenzen wahrgenommen, haben jedoch keine trennende Wirkung. Durch die häufigen Ortswechsel werden bei Herrn Hirsch Mobilität und damit auch alle hier betroffenen räumlichen Kontexte zum Alltag. Gleichzeitig verschwimmen alle Kontexte zu einem Transnationalen Sozialraum, in dem zwischen einzelnen Räumen nicht ständig unterschieden und die alltägliche Lebenswelt durch die Kombination verschiedener kontextabhängiger Vorteile konstituiert wird. Die räumlichen Kontexte werden dabei durch transkulturelles Handeln miteinander verknüpft und beeinflussen sich so gegenseitig. In Zabrze beispielsweise geht Herr Hirsch konsequent zum deutschsprachigen Gottesdienst und engagiert sich aktiv. Er spricht von einer Trotzhandlung, einem Bekenntnis zum Deutschtum in Polen, aber auch von Mitleid für die schrumpfenden deutschen Kirchengemeinden: Martin Hirsch: Ich gehe grundsätzlich nur zu deutschsprachigen Gottesdiensten. Und ich weiß, in welcher Kirche wo was stattfindet, dann geh ich da auch hin. Ja. Und wenn ich in die eine bestimmte Kirche gehe, dann kenn ich den alten Pfarrer; der wird dieses Jahr achtzig. Und wenn er mich sieht, dann werde ich immer von ihm angesprochen. Zieh ich mich dann auch an als Messdiener und dann geh ich mit ihm zum Altar und dann mach ich noch Messdiener. Aber gut ich guck dann immer, dass da kleine Kinder sind. Die dann mit dem Schälchen also hier und so weiter. Ich mach dann Kelchaufdeckung und so weiter. Und die erste Lesung mach ich dann, die Fürbitten und sowas, nich? Weil mir tuts leid, da sind auch meistens jedes Mal weniger und die werden immer älter.
Gleichzeitig muss er sich bestimmten alltäglichen Einschränkungen in Polen hingeben, wie z.B. einer langsameren Internetverbindung, die ihm wiederum die Vorteile im deutschen Kontext aufzeigen. Er nutzt jedoch auch die Vorteile des oberschlesischen Kontexts und präferiert diese dann im Vergleich zum Bonner Kontext. Er freut sich beispielsweise stets auf weiße Weihnachten in Polen und kauft dort auch gerne bestimmte Produkte. Herr Hirsch beschreibt seinen durch häufige Ortswechsel geprägten Alltag äußerst positiv. Seiner Meinung nach gelingt es ihm, von den Vorteilen beider räumlicher Kontexte zu profitieren. Ähnlich wie Martin Kluczek, sieht er sich nicht ‚zwischen den Stühlen‘, sondern in zwei Welten integriert. Martin Hirsch: Ich bin da schon so oft und wie gesagt das ist so wie, ich stell mich dann um und ich weiß genau, da gibt es bestimmte Sachen, die es nicht hier gibt. Zum Beispiel Internetverbindung ist grade da, wo wir wohnen sehr langsam, da krieg ich Zustände, bis da manchmal ne Seite aufbaut. Aber ansonsten, da hab ich meinen Bekanntenkreis auch, dann gibts ne Gastwirtschaft wo wir immer gehen. Da kenn ich schon die Kellner und umgekehrt. Die wissen auch nicht, dass ich vom Westen komme. Die denken, ich bin einer aus Zabrze. Ja
182 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT ich komm da nich rein und zeig meinen Ausweis oder sowas, sondern die denken: „Och der kommt dann in unregelmäßigen Abständen und dann feiert er drei Tage hintereinander zum Beispiel oder drei Tage hintereinander ist er da. Joa und dann ist er wieder zwei drei Wochen nicht da und dann kommt der wieder“. Ja gut ich hab da keine Pflicht. […] Und grundsätzlich versuche ich.. jetzt weiß ich nicht wie das mit meinem Vater, weil der ist auch immer älter, versuch ich immer Weihnachten da zu verbringen, weil erstens die Wahrscheinlichkeit, dass es weiße Weihnachten geben wird dort viel größer ist als hier in Bonn.
Auch Roman Mainz hat diese berufsbedingte Erfahrung transnationaler Mobilität gemacht. Herr Mainz ist mit 23 Jahren im Jahr 1988 aus Kattowitz migriert und hat zunächst versucht, seine sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen beruflich einzusetzen. Er arbeitete als Berater bei einer Versicherung mit Schwerpunkt auf polnischsprachige Kunden und eröffnete daraufhin ein Beratungsbüro für Polen in Deutschland. Er verkaufte Flugtickets, fertigte Übersetzungen an und half bei bürokratischen Vorgängen. Vernetzt war er zu dem Zeitpunkt beispielsweise mit polnischsprachigen Juristen, denen er Kunden weitervermittelte. Daraufhin wechselte er die Branche und auch den Arbeitsort und ging nach Polen, als sich dort eine lukrative Stelle anbot: Roman Mainz: Und kam Angebot.. weil ich als Übersetzer bei der Metro war. Polen kamen. Private Kontakte. „Roman, wenn du so viel tust, warum gehst du nicht nach Polen? Da will Metro jetzt Geschäfte aufbauen. Und da verdienst du Gehalt“. Und mit neununddreißig hab ich erste Mal in meinem Leben Gehalt bekommen. Ging ich nach Polen, bin ich.. offiziell nennt man das GL: Geschäftsleiter. Und war ich fast zwei Jahre in Polen. Hab ich mehr verdient als Ministerpräsident in Polen. Ich hab Dienstwagen, hab ich Handy und hab ich ca. dreihundert Mitarbeiter unter mir.
Für Roman Mainz begann damit eine Phase häufigen Pendelns zwischen Südpolen und dem Wohnstandort seiner Familie. Seinen Karrieresprung und die Verdienstmöglichkeiten waren hier das entscheidende Kriterium für die Entscheidung zum Pendeln. Dass hierbei Polen zu seinem neuen Arbeitsort wurde, spielte nur insofern eine Rolle, als er dort seine sprachlichen Kompetenzen nutzen konnte und einen beruflichen Vorteil sah. Diese Phase, in der er regelmäßig zwischen Polen und Deutschland pendelte, endete jedoch nach zwei Jahren, als seine Frau ihm ein Ultimatum stellte und er sich zwischen seiner Karriere und seiner Ehe entscheiden musste. Heute arbeitet Herr Mainz als Vertreter eines polnischen Unternehmens für den Bereich Nordrhein-Westfalen und hält den Kontakt zu der Unternehmensbasis vor allem durch Telefon und E-Mail aufrecht. Er hätte seine Karriere gerne weiter verfolgt. Sein Verzicht auf eine Karriere und die Schwierigkeiten, die mit dem Pendeln verbunden waren, sind ein Beispiel für die unterschiedlichen Migrationsumstände der Aussiedler im Vergleich zu den polnischen Arbeitsmigranten der 1990er
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und 2000er Jahre: Während die Arbeitsmigranten häufig mit der Strategie des Pendelns migrieren und Entbehrungen sowie häufige Distanz von vorneherein einkalkulieren, war die Aussiedlung ein einmaliger Prozess, der ein nachgelagertes Pendeln nicht vorsah. Trotzdem ist der Alltag von Roman Mainz auch ohne regelmäßiges Pendeln weiter durch Transnationalität geprägt. Kontakte zu seinem Arbeitgeber hält er durch moderne IuK-Technik aufrecht. Einen anderen Hintergrund hat die Transmobilität infolge der Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld oder den allgemeinen Lebensbedingungen im deutschen Kontext (2). Auch wenn bei den Aussiedlern, die zu dieser Gruppe gehören, nicht von ‚transnationalen Pendlern‘ gesprochen werden kann, ist Mobilität nach Polen/Oberschlesien hier dennoch entscheidend, weil sie den Alltag maßgeblich prägt und den Hauptteil der gesamten Mobilität ausmacht. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise die Eheleute Feldmann aus dem Kreis Düren. Bei Familie Feldmann haben sich eine Transnationalisierung ihrer alltäglichen Lebenswelt und eine damit verbundene zunehmende Transmobilität erst nach vielen Jahren eingestellt. Sie sind geknüpft an die subjektive Interpretation des Erfolgs ihres Einlebens in Deutschland. Diese hat folgenden Hintergrund: Mit ihrer deutschen Vergangenheit im Hinterkopf (beide sind zu deutschen Zeiten in Oberschlesien geboren) kamen Herr und Frau Feldmann 1978 mit dem Ziel einer erfolgreichen ‚Integration‘ in allen Belangen nach Deutschland. Beruflich wollten beide an die ehemalige Beschäftigung anknüpfen, zudem formulierten sie das Ziel, schnellstens materiellen Wohlstand zu erreichen. Über die strukturelle Eingliederung hinaus hegte das Ehepaar den großen Wunsch, zu „den Deutschen“ dazugehören zu können. Dies sollte vor allem durch die Integration in deutsche Netzwerke und vor allem in die lokale Dorfgemeinschaft erfolgen. Für dieses Ziel nahmen beide bewusst einen gewissen Bruch mit ihrer Vergangenheit in Kauf. Die polnische Sprache vermieden sie konsequent und brachten die Kinder eine Zeit lang getrennt bei bereits migrierten Verwandten unter, damit diese ebenfalls schnell die deutsche Sprache erlernen sollten. Frau und Herr Feldmann sahen sich für ihr Ziel gut aufgestellt: Sie waren und fühlten sich als Deutsche und waren bereit, sich bis zu einem bestimmten Grad zu assimilieren. Nach vielen Jahren wurde beiden klar, dass sie ihren selbstformulierten ‚Integrationsauftrag‘, zumindest was das Berufliche und Materielle belangt, erfolgreich abgeschlossen hatten. Was ihr Zugehörigkeitsgefühl zu „den Deutschen“ angeht, zeigen sie sich allerdings resigniert und enttäuscht. Zwar fühlen sich beide akzeptiert – an ihren Arbeitsstellen haben sie gute Arbeitskollegen gefunden und erfahren in ihrer intakten Nachbarschaft Hilfe und Sympathie – zu „den Deutschen“ fühlen sie sich dennoch nicht zugehörig, was sich für sie vor allem durch das Fehlen „echter Freunde“ bemerkbar macht. In ihren eigenen Ansprüchen an soziale Netzwerke bemängeln sie vor allem die Distanziertheit „der Deutschen“ und das Fehlen eines intakten Freundeskreises. Diese Erfahrungen haben schließlich dazu geführt, dass sich das Netzwerk der Eheleute Feldmann mehr und mehr auf mitmigrierte Freunde
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aus Polen und auf den Freundes- und Bekanntenkreis in Polen ausgerichtet hat. In Deutschland verstreute ehemalige Klassenkameraden und die „besten Freunde“ in Oberschlesien sind nun neben den Kindern die wichtigsten Kontakte, die sie seit einigen Jahren, und vor allem seit beide nicht mehr arbeiten, intensiv pflegen. Zu diesen Freunden, die sie als „Gleichgesinnte“ mit ähnlichen Werten und Ansprüchen an Freundschaften definieren, halten Frau und Herr Feldmann vor allem telefonisch Kontakt. Allerdings sind aus dieser Rückbesinnung auf alte Netzwerke auch neue Muster transnationaler Mobilität entstanden, die Herr Feldmann zudem auf die neuen infrastrukturellen Möglichkeiten zurückführt. Erfreut sind Frau und Herr Feldmann über die Spontanität und Herzlichkeit ihrer Beziehungen in Oberschlesien, aber auch über die gemeinsamen Themen und Gesprächsgrundlagen: Sofie Feldmann: Und jetzt fahren wir mindestens zweimal im Jahr. Ja. Einmal fliegen wir, einmal mit Auto. Richard Feldmann: Manchmal zweimal mit Auto und einmal fliegen. [...] Am Anfang war das Grab von ihrem Vater und von meinem Vater.. Und wir sind in der Familie fast die Jüngsten, ich der Jüngste, sie die Zweitjüngste. Und da sind wir einmal im Jahr auf die Gräber gefahren. Und dann.. ja dann wurde das zur Gewohnheit auch. Und es wurde immer einfacher und leichter. Und jetzt mit dem Fliegen noch leichter. […] Das ist jetzt so günstig mit den Hotels, das sind ja so viele Hotels mittlerweile entstanden. Und für uns ist das spottbillig. Wenn man so will. Also deswegen. Und wir hatten da dicke Freunde. Aber richtig Freunde, nicht Bekannte. Sondern Freunde. Die bis heute, die noch leben, bis heute geblieben sind. Sofie Feldmann: Wir melden uns bei keinem da, wir sind plötzlich in Polen. Und da rufen wir bei denen an oder stehen vor der Tür und sagen „Wir kommen euch besuchen“. Ganz einfach so. Also wir fahren ganz einfach, weil wir Lust haben wieder die alten Ecken zu sehen.
Diese verstärkte Rückbesinnung auf alte Netzwerke in Oberschlesien hat zudem auch zu neuen Denk- und Wahrnehmungsprozessen geführt. Frau Feldmann beschreibt, wie sich mit der Zeit auch eine Sehnsucht nach den „alten Ecken“ ergeben hat. Aus der Sehnsucht nach dem ‚sozialen Paradies Oberschlesien‘ ist auf den ersten Blick auch eine Sehnsucht nach Orten entstanden. Genauer betrachtet sind diese Orte, wie das ehemalige Wohnviertel oder die ehemalige Arbeitsstätte, allerdings nichts anderes als die Bedeutungsträger der Sehnsucht nach sozialem Zusammenhalt und den alten Freundeskreisen. Es sind Erinnerungsorte, die vor allem als Raum-Emotion-Kombinationen für gute Freundschaften oder den Zusammenhalt in Schulklassen stehen. Hier ist auch die ‚Wiederentdeckung‘ ehemaliger Urlaubsziele in Polen einzuordnen. Seit einigen Jahren fahren Herr und Frau Feldmann mit ihren Enkeln zu ihrem damals bevorzugten Urlaubort an der polnischen Küste. Diesen „Urlaub“ grenzen sie zwar von den „Besuchen“ in Oberschlesien ab – der Aufenthalt an der Küste dient zur Erholung und substituiert andere europäische Urlauborte – er ist jedoch auch eine Folge der Rückbesinnung auf Oberschlesien.
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Zudem wird deutlich, wie durch das neue Bedürfnis nach Mobilität und den „alten“ sozialen Netzen auch die eigenen Positionierungen im Identitätsaufbau und damit im Transnationalen Sozialraum überdacht und modifiziert werden. Während Herr und Frau Feldmann als Migrationsgründe noch ihr Deutsch-Sein und ihre Abstammung als wesentliche Argumente hervorbringen und damit ihre Zugehörigkeit zu Deutschland legitimieren, ändert sich ihre Argumentation und Positionierung, wenn es um die aktuelle Perspektive geht. Herr Feldmann betont seine Ernüchterung über die soziale Situation, die nur über seinen materiellen Erfolg kompensiert und durch die Leichtigkeit der Mobilität erträglich wird. Seine Zugehörigkeit hat er in diesem Zusammenhang überdacht. In seinen Erzählungen zur Situation in Polen verwendet er noch häufig die Kombination der Wörter „Wir“ und „Dort“/„Da“ mit Bezug auf seine Zugehörigkeit zu Deutschland („Wir gehörten dorthin, nach Deutschland“). In seinen gegenwartsbezogenen Schilderungen tauchen diese Wortkombinationen nun ausgerichtet auf Oberschlesien auf: Richard Feldmann: Wir bewegen uns da praktisch auf unserem Terrain. Wir sind da geboren, wir gehören dahin.
Während beide für die Anfangsphase noch sehr nüchtern von ihren Beziehungen zum Herkunftskontext sprechen und den ‚Integrationsplan‘ in den Vordergrund stellen, sprechen sie auf die Gegenwart bezogen sehr häufig von der „Heimat Oberschlesien“ und auch von Heimweh: Sofie Feldmann: Er kommt immer: „Komm, fahren wir wieder". Und weil das Fliegen jetzt so billig ist, und im Hotel zu wohnen ist auch nicht so teuer, und wir haben zwei Renten, die nicht schlecht sind. Na da fliegen wir, fahren wir. Ganz einfach. Und Heimat bleibt Heimat.
Das was in der neueren Aussiedlerforschung als „Rückbesinnung“ auf Oberschlesien umschrieben wird, kann bei den Eheleuten Feldmann somit noch am ehesten nachvollzogen werden. Ähnliche Erfahrungen machen auch andere Aussiedler. Barbara Zając, die sich in Deutschland von ihrem Ehemann scheiden ließ und deren Kontakte zu ihren Kindern abgenommen haben, fühlt sich in ihrer nun verstärkten Einsamkeit mehr und mehr zu ihren Freunden in Polen hingezogen. Ihre besten Freunde und wichtigsten Bezugspersonen leben ihrer Aussage nach dort. Für sie hat sich im Zuge der familiären Probleme zudem eine „neue Sehnsucht“ nach ihren alten Schulkameraden eingestellt. Rückkehrgedanken hat Frau Zając nicht, aber die Qualität ihrer Beziehungen in Opole und Umgebung – im Vergleich zu ihren eher losen Kontakten in Deutschland – weckt in ihr den Wunsch, beim Eintritt ins Rentenalter eine pendelartige Beziehung zwischen Mönchengladbach und Opole aufzubauen:
186 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Barbara Zając: Ja. Ich fühle mich dort mehr.. so hingezogen. Aber nicht für immer dort zu leben. Weil für bestimmte Zeit und ab. Weil so leben kann ich dort nicht, ne? Also ich kann zu Besuch fahren. Wenn man sich trifft, alles bespricht und das wars. Ich hab gesagt, wenn ich in Rente werde, ich komme vielleicht da zu.. der Theresa [Freundin in Polen, Anm. M.O], so für paar Wochen, ne? So immer hin und her, wenn ich nicht im Rollstuhl lande.
Eine pendelartige Beziehung zwischen Polen und Deutschland und einen sehr stark auf den Herkunftskontext gerichteten Transnationalen Sozialraum hat Maria Kwiatkowska aufgebaut. Frau Kwiatkowska ist 1987 aufgrund privater Probleme in Polen nach Essen ausgesiedelt. Ihr Leben in Deutschland schildert sie in einer langen Erzählung auf zwei Ebenen: Erfreut und stolz erzählt sie von ihren Reisen, die sie nach der Aussiedlung realisieren konnte. Deutschland, wie sie sagt, habe ihr die Möglichkeit gegeben, ihren kosmopolitischen Charakter auszuleben. Sie fühlte sich nach der Aussiedlung durch die staatlichen Hilfsleistungen gut versorgt und genoss das Leben mit den neuen Freiheiten. Auf einer anderen Ebene schildert sie ihr „leidendes Dasein“ in Deutschland. Trotz aller finanziellen Vorteile zu Beginn verspürt sie gegenüber Deutschland und „den Deutschen“ in erster Linie eine Abneigung. Frau Kwiatkowska betont, dass die Aussiedlung eigentlich nie ihr Wunsch gewesen ist und sie ihr Heimatland Polen von Anfang an vermisst hat. Die Abneigung gegenüber Deutschland resultiert zum einen aus ihrer Sehnsucht nach ihrem Herkunftsland und zum anderen ist sie eine Folge ihres Deutschlandbildes und der damit verbundenen Vermeidungsstrategien in ihrem sozialen Umfeld. Mit der Gruppe, die sie als „die Deutschen“ definiert, möchte sie keinen intensiven Kontakt und verurteilt die Polen und Aussiedler in Deutschland, die enge Kontakte zu „den Deutschen“ aufbauen und daher ihrer Ansicht nach ihr Heimatland verraten. Sie bedient sich in ihrer Argumentation häufig des Kulturbegriffs, indem sie in hierarchisierender Form die „polnische Hochkultur“ über das „kulturlose Deutschland“ stellt. Die „Deutschen“ und „Polen“ passen ihrer Ansicht nach aufgrund der „kulturellen“ Unterschiede (die sie nicht genau erklären kann) nicht zusammen, weshalb sie sich auch über „Mischehen“ wundert. In ihrer leidenden Situation bewegt sich Frau Kwiatkowska mit ihrem Lebenskonzept und ihrer eigenen Positionierung zwischen Transmigration und Diaspora. In ihren Alltag versucht sie alles „Polnische“ zu integrieren, was sie in Deutschland finden kann. Sie beschreibt dahingehend ihre eigene „polnische Insel“ mit polnischen Zeitungen, polnischen Festen und Freunden, polnischem Essen, polnischen Filmen und ihrer Polenflagge im Flur ihrer Wohnung. Sie sieht sich als Patriotin und grenzt sich offensiv von Deutschland und „den Deutschen“ ab. Das Zentrum, auf das sich ihre „Insel“ bezieht, ist dabei das Land Polen, das sie in Bezug auf Geschichte, „Kultur“, Attraktivität und vor allem in Bezug auf die Bevölkerung glorifiziert. Warum sie in ihrer Leidenssituation nie zurückgefahren ist, ist für sie eine Frage der finanziellen und infrastrukturellen Unterschiede zwischen beiden Ländern. Sie sieht
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einen Neuaufbau in Polen als nicht möglich an, zudem hat sie sich an bestimmte Vorteile in Deutschland gewöhnt und möchte diese nicht mehr missen. Hierzu gehört vor allem die Gesundheitsversorgung, die sie in Polen als den Hauptgrund für viele ‚Re-Re-Migrationen‘ sieht. Damit bezieht sie sich auf Aussiedler, die in ihrer Unzufriedenheit in Deutschland zurück nach Polen gefahren sind und aufgrund von gesundheitlichen Problemen erneut nach Deutschland gekommen sind. Sie beschreibt sich selbst als Nutznießerin, betont jedoch auch häufig, dass die Entscheidung zur Aussiedlung keine freiwillige war. Zu ihrer alltäglichen Lebenswelt gehören regelmäßige Fahrten (mehrmals im Jahr) nach Polen seit ihrer Aussiedlung dazu. Anders als bei vielen anderen Aussiedlern konzentriert sich ihre Mobilität nicht auf Fahrten in das Herkunftsgebiet Oberschlesien, sondern ist auf das ganze Land bezogen. In verschiedenen Regionen besucht sie Bekannte und Freunde oder unternimmt Reisen in verschiedene polnische Städte. Obwohl sie auch andere, europa- und weltweite Reisen unternommen hat (stets mit polnischen Freunden und Bekannten), stellen für sie die Reisen nach Polen die wichtigste Zeit in ihrem Leben dar. Einzelne Räume in Polen hebt sie immer wieder hervor und glorifiziert diese als ihr „Paradies“, an das keine anderen Räume weltweit herankommen. Polen beschreibt sie als „Zuhause“ und „Heimat“. Anders als viele andere Aussiedler bezieht sie sich dabei räumlich nicht auf den lokalen Herkunftskontext, sondern spannt ein weites Netz unterschiedlicher polnischer Regionen und Städte, in denen sie sich wohlfühlt, wo sie Freunde hat und die sie regelmäßig besucht: Maria Kwiatkowska: Niemals wird Deutschland meine Heimat sein. Ich fühle mich nicht so, als wäre das mein Zuhause. Wenn ich nach Ustka fahre, nach Słubsk.. wow (betont). Ich bin in Polen (erleichtert). Wenn ich nach Poznań fahre, dann fühle ich mich wohl. Ich fahre nach Ustka. An jedem Geburtstag. Hotel direkt am Strand. Für mich war mein Geburtstag immer Ustka. Ich liebe Słubsk. Oder nach Gdynia, nach Sopot oder Lublin. Dort habe ich keine Familie, nur ein paar Bekannte, aber ich bin dahin gefahren. Das Baltikum ist für mich das Baltikum. Ich lasse mich nicht für diese Meere begeistern. Dominikanische.. und sie alle nach Griechenland, hier und hier. Ich bin auch die Touristenorte abgefahren. Aber sie fahren dorthin, um sich zu erholen. Für mich, wenn ich am polnischem, baltischem Meer liege.. besonders wenn ich nach Kołobrzeg fahre, mich an den Patriotismus erinnere, an den Krieg. Dort erhole ich mich. Ja, Urlaube, sogar ohne Bekannte. Für mich ist Polen Urlaub. Das ist mein Land. Wunderschöne Berge haben wir, was für ein tolles Meer haben wir. Unsere Seen. Polen ist doch wunderschön. (ü)
Die Bedeutung der Polenreisen geht jedoch über ein bloßes Wohlfühlen an Urlaubsorten hinaus. Indem sie ihre Erinnerungsorte aufsucht, versucht sie ihr Leiden in Deutschland zu mindern und die Folgen ihrer Abneigung gegenüber Deutschland abzuschwächen. Zeitweise geht ihre Unzufriedenheit und Abneigung gegen alles
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„Deutsche“ so weit, dass sie sogar von der deutschen Sprache gestört fühlt. Aufenthalte in Polen bezeichnet sie als Phasen, in denen sie Kraft tanken und ihren Diasporaalltag in Deutschland erträglicher machen kann: Maria Kwiatkowska: Wenn ich schon die deutsche Sprache im Bus höre, passiert etwas mit mir. Ich muss aussteigen. Und wenn ich aus Polen zurückkomme geht das Gefühl vorbei. Ich hatte das schon immer. […] Im Moment hab ich das auch wieder. Im September war ich in Polen, nicht wahr? Jetzt ist schon November und wenn ich mir vorstelle, ich muss Weihnachten hier verbringen, soll mich der Schlag treffen. Weil ich kann nicht.. das tut weh. Das Schönste ist die Jugend, wo hab ich sie verbracht? In Polen. Im guten Polen. Ich hatte es sehr gut. Das sind doch wunderbare Erinnerungen. Die Schule. Bytom. Die Leute. Das liebe ich. Kindheit. Das ist sehr wichtig. Das ist die Basis. Wenn man Probleme hat. Wenn nicht die Rückkehr zu der Basis, zu den Grundlagen. Wo soll man Energie auftanken für die Probleme hier? Darum kehre ich immer wieder zurück zu meiner wunderschönen Villa. Zu diesen wunderbaren Zeiten, Freunden. Ohne Probleme. Eine sich liebende Familie. Und wenn ich so die Augen schließe, und stelle mir alles auf einem Bild vor, dann denke ich mir „Nein, ich gebe nicht auf! Ich lasse mich von den Deutschen hier nicht unterkriegen.“ Und dann baue ich mich wieder auf. Dann regeneriere ich mich wieder. Deshalb fahre ich nach Polen, überall höre ich die polnische Sprache. Hier rede ich auch polnisch, klar. Es ist auch nicht so, dass ich dort bleiben möchte oder sonst was. Aber es tut mir gut. Ich komme zurück und nichts nervt mich mehr. (ü)
Deutlich wird an diesem Zitat die Bedeutung von Raum-Zeit-Beziehungen. Frau Kwiatkowska sieht in ihren Besuchen in Polen stets eine Rückkehr zu glücklichen Zeiten, besonders bezogen auf ihre Kindheit. Ihre auf Polen ausgerichtete Lebenswelt basiert damit primär auf einem glorifizierten Polen aus der Zeit vor ihrer Migration. Hier deutet sich auch zum ersten Mal an, dass Transnationale Sozialräume sehr unterschiedliche Raum-Zeit-Konstellationen als Basis haben können und es daher nicht den einen Transnationalen Sozialraum der oberschlesienstämmigen Aussiedler geben kann. Dies wird besonders im Vergleich der beiden Transnationalen Sozialräume von Frau Kwiatkowska und Herrn Hirsch deutlich (Abb. 17): Herr Hirsch differenziert nicht zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext, sondern nimmt diesen als integrierten Raum wahr. Frau Kwiatkowska teilt ihren Sozialraum in ihren Erzählungen streng in einen Ankunfts- und einen Herkunftskontext. In Deutschland genießt sie zwar bestimmte Vorteile (z.B. Gesundheitsversorgung), führt jedoch insgesamt eine Art Diaspora-Dasein. Räumlich getrennt von ihrem Herkunftsland ist sie unzufrieden und verspürt daher eine große Sehnsucht nach verschiedenen Orten in Polen. Zurückgehen möchte sie allerdings nicht, da sie auf bestimmte Vorteile des Ankunftskontextes nicht verzichten möchte und auch nicht bereit ist, ein neues Leben anzufangen. Ihr Ankunftskontext ist geprägt durch ihre
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Zugehörigkeit zu einer Minderheit, die als ihre spezifische imagined community von patriotisch eingestellten Polen bzw. Gleichgesinnten gesehen werden kann. Abbildung 17: Grundstruktur zweier Transnationaler Sozialräume
Quelle: Eigene Darstellung
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Ihr Herkunftskontext Polen stellt für sie die Basis jeglichen Handelns dar und wird von ihr über ein Kultur- und Nationalkonstrukt deutlich abgegrenzt vom Ankunftskontext. Hier findet Frau Kwiatkowska alles vor, was ihr in Deutschland fehlt. Für sie ist Polen (als Nationalstaat und Heimatland) Zufluchtsort und ihr „soziales Paradies“, wo gute Freunde leben und zu dessen Bevölkerung sie im Allgemeinen Sympathie empfindet. Ihre starke Ausrichtung auf Polen führt zur häufigen Mobilität, jedoch auch zu einer Ausrichtung ihres Alltags in Deutschland auf Polen und eine vermeintliche „polnische Kultur“. Hier baut sie ihre eigene „polnische Insel“ (Medien, Kontakte, religiöse Praktiken) auf und konzentriert sich vollständig auf ein polnischsprachiges Netzwerk. Hierdurch vermischen sich allerdings die beiden strikt voneinander getrennten räumlichen Kontexte, indem vor allem die Sehnsucht nach dem Herkunftskontext das alltägliche Handeln im Ankunftskontext bestimmt. Die Bedeutungsaufladung des Herkunftskontextes bei Frau Kwiatkowska erfolgt dabei vor allem aus einer reflektierenden Perspektive. Häufig spricht sie in der Vergangenheit, wenn sie von ihren Beziehungen zu Orten und Personen erzählt („Mich zieht es dorthin, wo ich glücklich war.“). Dies drückt sich auch in ihrer Sichtweise auf ihre Herkunftsstadt Bytom aus, die im medialen Diskurs als die am stärksten vom Strukturwandel und Verfall getroffene Stadt im oberschlesischen Industriebezirk ist. Frau Kwiatkowska spricht in ihren Schilderungen jedoch ihr altes Viertel an, in dem sie gelebt hat. Die Bedeutungsaufladung des Ortes erfolgt über Vergangenes und weniger über aktuelle Entwicklungen. Frau Kwiatkowskas Bezugsräume im Transnationalen Sozialraum sind daher einerseits Erinnerungsorte, die Vergangenes symbolisieren, andererseits jedoch auch Polens neue Aushängeschilder: Die sanierten Innenstädte in den Großstädten sowie Schlösser- und Seenlandschaften: Maria Kwiatkowska: Und Polen im Moment, uahh, und Gdansk in diesem Moment, so wie es jetzt aussieht. Ich wusste nicht, wo ich bin. Jeden Sonntag, wenn ich so eine Sendung schaue, weil ich hab Polonia. […] Bei manchen Städten schaue ich hin und sage: „Mein Gott, wo ist das? Wo ist es so wunderschön?“ Das sind Städte, die ich früher kannte und ich bin regelrecht geschockt. Wenn da nicht die alten Kirchen oder irgendein Kloster wären, dann würde ich nicht wissen, dass dies diese Städte sind. Jetzt kann man so ein schönes Polen erkunden. Und vor allem wenn ich zum Beispiel in Szczyrk bin. In Wisła, überhaupt in den polnischen Bergen. Ich war hier in den Alpen. Mir gefällt die polnische Tatra und ich hab da niemanden. Es reicht mir, dorthin zu fahren. Ich hab dort keine Freunde. Es reicht, dort zu sein. Das ist.. das ist mein Polen, das liebe ich, den Raum. (ü)
In diesem Zitat wird auch deutlich, dass anders als andere Aussiedler (z.B. Eheleute Feldmann), deren Transnationale Sozialräume vor allem über soziale Beziehungen konstruiert und konstituiert werden, Frau Kwiatkowska vor allem das Vor-Ort-Sein
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als notwendig für sich erachtet. Aufenthalte in Polen sind für sie dabei nicht zwangsläufig an Besuche von Bekannten und Freunden gebunden. Die starke Beziehung zu Polen hat sich für Frau Kwiatkowska mit zunehmendem Alter verstärkt. Allerdings liegt der Grund für ihren zunehmend kritischen Blick auf Deutschland und die gleichzeitige Ausrichtung auf ihr „Paradies Polen“ auch an der Verschlechterung ihrer finanziellen Situation. Vor kurzem musste Frau Kwiatkowska Privatinsolvenz anmelden, was sie in ihrer Reisefreiheit einschränkt und ihren Blick auf den finanziellen Vorteil in Deutschland deutlich trübt. Herr Hirsch hingegen (Abb. 17) trennt prinzipiell nicht zwischen zwei Kontexten, sondern sieht diese vielmehr verschmolzen zu einer Lebenswelt. Durch seinen plurilokalen Alltag und seine ‚transnationalen Strategien‘ hat er Rahmenbedingungen geschaffen, um das Pendeln und seine Aufenthalte in Zabrze so angenehm wie möglich zu machen. Für ihn spielt die Grenzüberschreitung keine Rolle. Der Hauptgrund für die Mobilität bleibt für ihn seine beruflichen Verpflichtungen. Gleichzeitig führt er jedoch an, dass er sich auf bestimmte Nebensächlichkeiten in Oberschlesien/Polen immer wieder freut. Er führt in seinem hochmobilen Alltag die Vorteile beider Kontexte zusammen und bildet hierdurch seinen Transnationalen Sozialraum, in dem er sich unabhängig von Ort und Zeit stets wohlfühlt. Wahrgenommene Grenzen existieren, wenn überhaupt, dann vor allem in Bezug auf bestimmte Phänomene, die er dem einen oder dem anderen Kontext zuschreibt und die für ihn die Unterschiede aufzeigen (Schnelle Internetverbindung in Deutschland; weiße Weihachten in Polen). Zudem differenziert er in seinem Transnationalen Sozialraum zwischen Lebensmittelpunkt und Nebenschauplätzen oder zwischen „Familienraum“, der den Schwerpunkt seines Netzwerks ausmacht, und „Geburtsort“. Diese Differenzierungen spalten den Transnationalen Sozialraum insofern, als einzelne Teile mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen sind. Der Vergleich der Lebenswelten von Frau Kwiatkowska und Herrn Hirsch zeigt, dass zwar beide ihre Transmobilität als Bewegung zwischen Deutschland und Polen beschreiben, ihre Transnationalen Sozialräume jedoch nicht einfach zwischen diesen nationalen Raumeinheiten aufgespannt werden. Sie werden nicht über politische Grenzen definiert, sondern über subjektive Bedeutungszuweisungen einzelner Orte/Phänomene, an denen der Sozialraum verankert ist. Hier spielt auch die Zeitkomponente eine Rolle. Frau Kwiatkowskas Bild von Polen basiert vor allem auf ihren Erinnerungen an vergangene Zeiten, insbesondere an Erlebnisse vor ihrer Migration. Bei Herrn Hirsch wird der Transnationale Sozialraum fortwährend durch neue Erlebnisse und Erfahrungen modifiziert. Der polnische bzw. oberschlesische Kontext des Transnationalen Sozialraums wird primär durch Ereignisse konstituiert, die mit der jüngsten bzw. aktuellen beruflichen Entwicklung zusammenhängen und weniger mit Erfahrungen aus der Zeit vor der Migration. Ähnlich ist es auch bei Martin Kluczek. Seiner Meinung nach sehen viele ältere Aussiedler das Leben in Polen/Oberschlesien als prägende, aber vergangene Phase an. Er selbst braucht seiner Ansicht nach seine
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Beziehung zu Polen nicht durch Erinnerungen an Vergangenes zu emotionalsieren, sondern erfährt diese ständig und immer wieder neu durch sein Handeln im plurilokalen Sozialraum: Martin Kluczek: Es ist schon sehr zentral für mich auch gewesen, prägend auf jeden Fall. Nicht nur weil ich dorther komme und von dort nach Deutschland ausgesiedelt bin, sondern weil ich da immer wieder zurückgekehrt bin, ne? Das war also auch zentral in meinem privaten Leben. Auch da. Und.. ja diese enge Heimat, die vielen Leute so in den Erinnerungen schwelgt, das wird jetzt beispielsweise auf mich nicht zutreffen, weil ich da, immer wieder da bin. Viele Leute, die das immer wieder betonen, sind ja Leute, die da nicht mehr hingefahren sind, seit vielen Jahren. Oder da irgendwelche ganz andere Erinnerungen mit assoziieren. Aber für mich ist das wie gesagt, ein zentraler Punkt in meinem Leben, immer noch. Und da ich da immer wieder dort bin, ist das auch immer sehr nah. Und muss nicht irgendwie emotionalisiert werden auf eine Weise wie mit Kindheitserinnerungen oder so was, ne?
Dieser grundsätzliche Unterschied in der Konstitution von Transnationalen Sozialräumen hinsichtlich zeitlicher Aspekte wird in Abb. 18 am Beispiel der Lebenswelten von Maria Kwiatkowska und Martin Kluczek dargestellt. Während Frau Kwiatkowska an ihre (Erinnerungs-)Orte zurückkehrt, um die Vergangenheit und das Vertraute (wieder) erlebbar machen zu können, trennt Martin Kluczek in seiner transnationalen Lebenswelt nicht zwischen zeitlichen Kontexten, weil für ihn alle Kontexte und damit auch der Herkunftskontext fortwährend und mit ständig neuen Erfahrungen Bedeutung erhalten. Seine transnationale Lebenswelt wird, ähnlich wie bei Herrn Hirsch, durch Bedeutungszuweisungen strukturiert. Das Verschmelzen zu einem transnationalen Aktionsraum, in dem alle Kontexte gleichzeitig bedeutsam sind, ist letztlich darauf zurückzuführen, dass das Handeln in einem Kontext von den gemachten Erfahrungen im jeweils anderen Kontext abhängig ist. Eine letzte Form transnationaler Mobilitätsbeziehungen ist gebunden an Immobilienbesitz (3). In der Regel handelt es sich dabei um Immobilien, die bereits vor der Aussiedlung zum Besitz der Aussiedler gehörten. Grundsätzlich stellen sie Bindeglieder zwischen Ankunfts- und Herkunftskontext dar und werden vor allem während der Urlaubsaufenthalte genutzt. Bei älteren Aussiedlern werden sie bei Eintritt ins Rentenalter auch zu Treibern transnationaler Mobilität. Familie Wawrzyczek z.B. besitzt ein Ferienhaus nördlich des oberschlesischen Industriegebiets und verbringt seit Rentenbeginn drei Sommermonate dort. Frau und Herr Wawrzyczek verbinden die Autoreise nun regelmäßig mit einem Kurzurlaub im Osten Deutschlands, um die lange Anreise erträglicher zu machen, und unternehmen von ihrem Ferienhaus in Siewierz Fahrten ins oberschlesische Industriegebiet, um Bekannte und Familie zu treffen. Für sie stellen die drei Monate einen kostengünstigen Urlaub dar, der an einem bekannten Ort stattfindet, wo sie sich problemlos bewegen und verständigen können. Es zeigt sich jedoch auch, dass diese Immobilie
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auch Probleme und Zwänge mit sich bringt. Herr und Frau Wawrzyczek haben mehrfach überlegt zu verkaufen, können aber keinen zufriedenstellenden Preis erzielen. Zudem haben sie viel Geld in die Instandhaltung investiert, was sie nun dazu veranlasst, ihre Investitionen zu nutzen. Abbildung 18: Grundstruktur zweier Transnationaler Sozialräume (2)
Quelle: Eigene Darstellung
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Auch Familie Kubitza besitzt ein Einfamilienhaus in ihrem Heimatdorf, das sie jahrelang während ihrer Besuche genutzt haben. Jetzt, da ihr Ehemann krank geworden ist, würde Frau Kubitza (1939 geb. und 1987 migriert) das Haus am liebsten verkaufen, findet aber seit Jahren keinen geeigneten Käufer. Zudem bereut sie die bereits geleisteten, hohen Investitionen. Ihr Vorhaben, das Haus an die Kinder weiterzugeben, hat sie ebenfalls verworfen, da sie bezweifelt, dass ihre Kinder das Haus in einer ländlichen und peripher liegenden Gegend nutzen wollten. Sie kommt letztlich zu dem Schluss, dass ein Verkauf vor der Aussiedlung besser gewesen wäre: Christina Kubitza: Jaja, für dieses Haus. Weil es war ja noch nicht so richtig fertig. Jetzt ist alles vom feinsten zu Ende gebracht. Die Freude war groß, das Eigene so. Ich war nie daran gewöhnt, irgendwo zu übernachten, oder irgendwo am Strand zu schlafen, sondern etwas zu haben. Etwas zu haben. Interviewer: Und Sie sind immer zu Ihrem Haus gefahren? Christina Kubitza: Ja, viermal. Immer. […] Dann hat man die Tür neu gemacht, neue Fenster, Badezimmer neu, neues Licht, dann neue Heizung von Buderus. Und das immer jedes Jahr, so haben wir es gemacht, jedes Jahr. Und jetzt wo alles fertig ist, ist er krank. Und die Kinder sind hier. Was sollen wir jetzt da machen? Einen Käufer gibt es nicht. Kinder sind wie Kinder. Die [Enkel, Anm. M.O] sind hier geboren. Die wollen nicht mehr dahin fahren. Die haben schon.. das sind schon Deutsche. Warum sollen sie aufs Land fahren? So eine Jugend. Und jetzt weder hier noch da. Und mich regt das auf. Ich bereue das. Als wir rausgefahren sind, da hätten wir das so lassen sollen. Nicht mehr dahin fahren. So wäre es am besten gewesen. Du musst dich hier niederlassen. So richtig. Was bringt mir das dort jetzt? (ü)
Andere Überlegungen stellt Andreas Orlowski an. Der im Jahr 1988 migrierte Arzt hatte erst, nachdem er nach Deutschland kam, ein Grundstück in Polen gekauft. Gebaut hat er noch nicht. Dazu fehlte ihm bisher die Zeit. Zudem haben sich seine Prioritäten mit zunehmend knapper Freizeit verschoben: Andreas Orlowski: Kajaks, Ruhe. Stille. Schön ist es da. So, dass das Grundstück da ist. Zweitausend Quadratmeter. Wenn ich will, kann ich bauen. Im Moment baue ich nicht, weil ich keine Zeit habe, um da zu sitzen. Im Moment ist noch nix gebaut. Ob ich dort was baue, weiß ich nicht. Im Moment habe ich andere Träume. Wenn ich was baue, dann muss da jemand aufpassen. Jemand muss da alles pflegen. Und ich bin hier jeden Tag zwölf Stunden in meiner Praxis. Wenn ich gegen Ende des Quartals frei habe, fahre ich in die Welt. Ich möchte bisschen etwas von der Welt sehen. (ü)
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8.4 „E INMAL IM J AHR FAHR ICH SCHON HIN “ – M OBILITÄTSPLÄNE ABSEITS TRANSMOBILER B EZIEHUNGEN Auch wenn einige Lebenswelten der interviewten Aussiedler durch umfassendere Mobilitätsbeziehungen zwischen Deutschland und Polen bzw. Oberschlesien gekennzeichnet sind, kann die Mobilität nach Polen/Oberschlesien für die meisten der interviewten Aussiedler nicht als Transmobilität bezeichnet werden, auch wenn sie bestimmten Regelmäßigkeiten folgt. In den weiteren Kapiteln zu Netzwerken, Identitäten und zum Einleben wird allerdings noch deutlich werden, dass die Transnationalisierung der Aussiedler-Lebenswelten nicht zwangsläufig an eine Transmobilität gebunden ist. Zunächst soll allerdings noch kurz aufgezeigt werden, wie die Mobilität der Aussiedler außerhalb der oben dargestellten transmobilen Beziehungen ausgestaltet ist. Neben den Aussiedlern mit transmobilen Beziehungen zum Herkunftskontext gibt es auch einige Interviewpartner, die keine bis sehr schwache Mobilitätsbeziehungen nach Polen/Oberschlesien aufweisen. Zum einen wirkt sich hier die lange Zeit ohne größere Kontakte zum Herkunftskontext nach der Aussiedlung aus, zum anderen auch das beschränkte Zeitbudget im Zusammenhang mit der oben erwähnten Entdeckung neuer „Lieblingsorte“ aus neuen Urlaubskontexten. Hier spielt auch die Wahrnehmung und Konstruktion von Polen und insbesondere Oberschlesien hinsichtlich der Attraktivität und des Erholungsfaktors eine entscheidende Rolle. Insbesondere dann, wenn Aussiedler keine wichtigen Bezugspersonen mehr in Polen haben, werden diese Raumkonstrukte bedeutsam. Dies ist besonders im Fall von Reinhold Tomaschek zu beobachten. Herr Tomaschek (1960 geb.) ist 1986 aus Bytom nach Deutschland gekommen. Zur Aussiedlung veranlasst sah er sich, weil ihm sein Wohnumfeld und die Lebensumstände in Polen nicht gefallen haben. Er betont, sich bereits damals für die Migration aufgrund seiner Abneigung gegenüber den Lebensumständen und der Wohnqualität entschieden zu haben. Vor diesem Hintergrund sieht Herr Tomaschek auch heute keinen Grund, seine knappe Urlaubszeit in Polen und insbesondere in seiner Herkunftsregion zu verbringen. In seinen Erzählungen greift er oft auf ein Oberschlesienbild einer hässlichen und unattraktiven Region zurück. Aus seiner Abneigung gegenüber Oberschlesien als Wohnort hat sich eine Abneigung gegenüber Oberschlesien als Urlaubs- und Besuchsort entwickelt. Für Herrn Tomaschek hat sich trotz der letzten städtebaulichen Entwicklungsschübe und der Entwicklungsimpulse durch die Integration in die EU nichts an der Attraktivität der Region und des Landes verändert. Bestätigung für seine Vermutungen fand er während eines Kurzbesuchs vor vier Jahren. In dieser Zeit war Herr Tomaschek für ein paar Tage in Bytom und zeigte sich geschockt vom Zustand der Stadt. Zudem verweist er des Öfteren auf ein neueres Youtube-Video, das
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er zufällig im Internet entdeckt hat. Es zeigt die Fahrt in einer Straßenbahn in Bytom (vgl. Abb. 19, Screenshot aus diesem Video). Abbildung 19: Screenshot aus einem youtube-clip (Fahrt einer Straßenbahn in Bytom 2012)
Quelle: www.youtube.de, hochgeladen von Sławomir Bochenek
Herr Tomaschek sieht sich durch dieses Video an seine Vergangenheit erinnert. Die im Video sichtbaren Straßen und Menschen (bezogen auf Kleidung, Verhalten) erinnern ihn an das Oberschlesien, wie er es verlassen hat. Dies bestärkt ihn in seiner Ansicht, dass sich in Oberschlesien und Polen wenig verändert habe: Reinhold Tomaschek: Ich bin aus Bytom. Was soll mir da gefallen? Das ist alles scheiße. Das ist Dreck. Gestern habe ich durch Zufall mit dem Laptop auf dem Schoß youtube aufgemacht. Und hab da Bytom gesucht. Ein paar Filme gibt es da zu sehen. Und da war ein Film, wie einer mit der Straßenbahn gefahren ist und alles aufgenommen hat. Aus dieser alten Straßenbahn heraus. Wie man da auf den Śikorski-Platz fährt. Und dieser Platz wird gerade renoviert. Und ich sehe diese Leute. Die Frauen mit diesen weißen Mützen. Die Jacken, solche Röcke. Die Tüten. Alles so wie es vor dreißig, vierzig Jahren war. Da hat sich nichts verändert. Und die laufen mit diesen Tüten. Von dieser Straßenbahn. Immer in Eile. Bürgersteige gibt es keine, nur Löcher. Die sind da dran gewöhnt. Der dahin und bloß nicht in die Pfütze treten. Die sind an diese Scheiße gewöhnt. Ja jetzt haben sie gebaut, also das Ausland. Irgendwelche amerikanischen, französischen oder deutschen Firmen. So Real oder so. Die haben diesen Supermarkt gebaut und denken schon, sie hätten Amerika. (ü)
Mit Voranschreiten des Gesprächs wird zunehmend deutlich, dass Herrn Tomaschek besonders der letzte Punkt dieses Zitats („Sie denken schon, sie haben Amerika“) ärgert und ihn gleichzeitig anspornt, seine Sicht der Dinge bzw. die „Wahrheit“ zu erklären. Dies tut er während des Gesprächs umfassend und energisch. Ihn
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irritiert vor allem die „neue Euphorie“, mit der andere Aussiedler über Oberschlesien sprechen und sich damit vor allem auf die neuen Einkaufszentren, Straßen und Gebäude in den Städten beziehen. Herr Tomaschek sieht nur sehr wenige Verbesserungen und zeigt sich vor allem von ständigen Vergleichen einiger Aussiedler zwischen Polen und Deutschland bzw. von der Debatte über das „Aufholen“ Polens verärgert. Bilder, die er von seinem Besuch in Bytom im Kopf trägt, aber auch das Youtube-Video bestätigen ihn in seiner Sicht auf die Entwicklung Oberschlesiens und Polen. Seiner Meinung nach würde aufgrund von „einigen neuen Supermärkten“ vorschnell von Aufschwung gesprochen. Während seines Aufenthalts in Bytom war Herr Tomaschek vom desolaten Zustand seiner Herkunftsstadt geschockt. Seine „alten Ecken“, die er bewusst aufsuchte, empfand er als fremd. Die Distanz zu seinen „alten Ecken“ resultiert hier vornehmlich aus einer sozialen Entfremdung. Die Bewohnerschaft hat sich verändert und alte, aktuell relevante Kontakte bestehen in Oberschlesien kaum. In den folgenden Erläuterungen einiger Fotos (Beispiel in Abb. 20, Foto zeigt ein ehemaliges Kino in Bytom), die Herr Tomaschek während seines Aufenthalts gemacht hat, beschreibt er dieses Entfremdungsgefühl: Reinhold Tomaschek: Ich war in Bytom.. drei, oder vier Jahre ist das her. Ich war dort, um ein paar Fotos zu machen. Die Stadt bin ich in fünfzehn Minuten durchgelaufen. Obwohl man immer sagt „das ist meine Heimat“ (betont). Bytom. Hier bin ich damals gegangen, hier ist der Sandkasten, in dem ich gespielt habe. Ich schau mir das so an und sage „Gott, wo bin ich hier hingekommen?“ Das ist nichts. Bytom ist scheiße. Bytom fällt auseinander. Hier, die Fotos, die ich Ihnen gezeigt habe. Hier. Dieses Bałtyk. Das war früher ein Kino. Was ist da schön? Dieser Kiosk hier. Was ist das? Schauen Sie sich diesen Kiosk an. Wie dieser Kiosk aussieht. Wie der letzte Scheiß. Das sind alles neue Sachen. Was soll denn da schön sein in Bytom? […] Sie renovieren das nicht. Es gibt einfach kein Geld dafür. Und ich kenne da niemanden. In unserem ehemaligen Haus wohnen zwölf Familien in jedem Treppenhaus, also achtundvierzig Familien. Vielleicht wohnen noch acht Leute da von damals. Die sind alle über siebzig. Den Rest kenne ich nicht. (..) So bin da angekommen, ich stand da. (überlegt) Nichts. Keine Gefühle. Nichts hat mich interessiert. Für mich war das alles so.. kalt. Verstehen Sie? Ich wollte da nichts sehen. Das Zentrum bin ich in fünfzehn Minuten abgelaufen. Und ich sage Ihnen ehrlich, dass ich da bis zum Ende meines Lebens nicht nochmal hinfahren muss. Mich zieht da nichts hin. (ü)
Gleichzeitig ergibt sich Herrn Tomascheks kritisches und negatives Polen- bzw. Oberschlesienbild auch durch seinen ständigen Vergleich Oberschlesiens mit anderen Urlaubszielen. Vor allem positive Erlebnisse in Urlaubsorten in Frankeich und auf der Iberischen Halbinsel prägen seinen Blick auf das Urlaubsland „Polen“. Die französische Mittelmeerküste beschreibt er als sein „kleines Paradies“; den Urlaub stattdessen in Polen zu verbringen, kann er sich daher nicht vorstellen. Hier zeigt sich der Einfluss der Urlaubsmobilität außerhalb Polens auf die Beziehungen zum
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Herkunftskontext sehr deutlich. Die Strandpromenade von Kołobrzeg (Küstenstadt in Polen) vergleicht Herr Tomaschek mit den Palmen von San Sebastián und kommt durch diesen Raumvergleich auf sein Bild des überschätzten und hässlichen Polens. Warum andere Aussiedler jedes Jahr nach Polen fahren, kann er sich nicht erklären und verweist auf andere, für ihn deutlich attraktivere Reisemöglichkeiten: Reinhold Tomaschek: Und jetzt ist man nach Deutschland geflüchtet und hat die Möglichkeit, überall hinzufahren. Auf der ganzen Welt sagen wir mal. Und sie fahren nach Polen. Ich verstehe das nicht. Es gibt Leute, die fahren zu diesem beschissenen.. ich sage beschissen, weil als ich das letzte Mal da war, da war ich dort eineinhalb Tage. In Kołobrzeg. Dort ist so langweilig. Da ist nix. Das ist es hässlich und langweilig. Der Strand ist hässlich, weil er sehr klein ist. Das ist ein kurzer Strandabschnitt und da sind eine Menge Leute. Ich sagen Ihnen, also in Frankreich muss man auch einen schönen Strand suchen. Es gibt auch viele hässliche Strände. Aber es ist insgesamt wunderschön. Wir sind zu diesem Kołobrzeg gekommen und da ist so ein löchriger Fußweg. Und alle laufen auf diesem Fußweg. Als es zum Beispiel kein Wetter gab und sie nichts zu tun hatten. Da sind sie da langgelaufen. Dann war Ende. Wieder zurück. Und dann gehst du da wieder lang. Nach einem Kilometer ist der Weg zu Ende. Wieder einen Kilometer zurück. In San Sebastián haben nicht mal zwei Wochen ausgereicht, um alles zu sehen. Das war so schön. Die Häuser. Was da für Hotels waren. Aus den siebziger Jahren. So runde. Solche gibt es in Miami. Wunderschön. Die Palmen. So hohe, dünne. (ü)
Abbildung 20: Straßenszene in Bytom 2012
Quelle: Aufgenommen und zur Verfügung gestellt von Herrn Tomaschek
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Abseits der zwei bisher vorgestellten Gruppen – die der ‚Pendler‘ und die der Aussiedler ohne ausgeprägte Mobilitätsbeziehungen – folgt die Mobilität der Aussiedler bestimmten Regelmäßigkeiten und reicht von häufigeren (zweimal im Jahr) bis hin zu seltenen Reisen (alle paar Jahre einmal). Es sind vor allem die Beziehungen zu Familie und Freunden, die regelmäßige Mobilitätsbeziehungen aufrechterhalten. In den Fällen, wo noch ein großer Teil der Familie in Polen/Oberschlesien verblieben ist, ist die Mobilität an bestimmte Feste bzw. Familienfeiern gebunden. Wichtig hierbei ist, dass Aufenthalte im Herkunftskontext in der Regel als „Besuche“, jedoch fast nie als „Urlaube“ bezeichnet werden. Die „Besuche“ werden auch nicht immer als uneingeschränkt positiv und freiwillig gesehen. Vielmehr entstehen durch die familiären Netzwerke auch Zwänge und Pflichten, die im Laufe der Zeit auch mehr und mehr als solche wahrgenommen werden. Nicht selten beschreiben die Aussiedler die Besuche als „anstrengend“ und erklären, wie sich nach wenigen Tagen in Oberschlesien der Wunsch nach Rückkehr einstellt. Isa Kasprzyk beschreibt eine solche „Belastungssituation“. Sie und ihr Mann besuchen hin und wieder Teile der Familie in Zabrze. Beide empfinden die häufigen Besuche verschiedener Leute, das viele Essen und vor allem den fehlenden Komfort während des Aufenthalts als anstrengend. Bei ihrem letzten Aufenthalt kam es sogar zu einem kleinen Konflikt mit den Angehörigen, als sich beide für einen Aufenthalt im Hotel entschieden haben: Isa Kasprzyk: Familie besuchen. Das ist immer. Ein bisschen einkaufen gehen und Familie. Ich hab sehr viel Familie, Roman [Ehemann, Anm. M.O] hat wenig Familie. Wenn du alle besuchen möchtest, schaffst du gar nicht, ne? Dann sagst du schon: „Da fahren wir dieses Jahr nicht hin.“ Und wenn du zu dem einen gehst, dann sagt der: „Ja, aber ihr kommt morgen nochmal zum Kaffee trinken“. Und dann ist das immer essen, essen, essen, ne? Und erzählen. Ist auch schön so, aber ist anstrengend. Wir haben sogar das letzte Mal, als wir zu der Hochzeit von meinem Patenkind gefahren sind, haben wir uns ein Hotelzimmer genommen. Und das fanden wir so angenehm. Kannst du abschalten. Dann fährst du in dein Hotelzimmer mit Klimaanlage, es war so heiß. Wir waren froh. Die waren natürlich alle todbeleidigt, ne? Klar. Wir waren froh, wir hatten eigenes Zimmer, mit eigenem Badezimmer, musst du nicht warten bis die drei Leute fertig sind. War super angenehm, ne? Und das werden wir jetzt nicht anders machen und jetzt haben wir eine tolle Ausrede, weil das Hotel ist direkt in der Nähe seiner Mutter.
Die Zwänge der Mobilität sind dann besonders ausgeprägt, wenn Elternteile in Oberschlesien geblieben sind und hilfsbedürftig werden. In diesem Fall kommt es häufig zu Aushandlungsprozessen mit Geschwistern um die Betreuungskonstellation. Manchmal versuchen die Aussiedler die Eltern davon zu überzeugen, einen Teil ihrer Zeit in Deutschland zu verbringen, um so einen Teil der Betreuung übernehmen, gleichzeitig jedoch vor Ort bleiben zu können. Dies war beispielsweise bei
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Rita Peschke der Fall. Frau Peschke (1952 geb.) verließ Polen 1989 und ließ ihre Eltern und einen Bruder zurück. Im Laufe der Zeit war es ihr stets ein Anliegen, die Eltern sowie den Bruder zu unterstützen. Bis vor kurzem war ihre Mutter in Oberschlesien noch mobil und verbrachte zweimal drei Monate in Deutschland bei ihr. Jetzt da sie nur noch eingeschränkt mobil ist und die Reisen nicht mehr auf sich nehmen möchte, wird Frau Peschke, die in naher Zukunft in Rente geht, wieder öfter nach Polen fahren. Sie plant eine pendelartige Beziehung zu Świetochłowice, wo ihre Mutter lebt. Gleichzeitig betont sie, dass diese Mobilitätspläne einzig und allein an die Beziehung zu ihrer Mutter gebunden sind und sie ansonsten keine Bedürfnisse verspürt, nach Polen zu fahren. Sie beschreibt, wie sie sich während ihrer Aufenthalte in Polen schnell wieder nach ihrem „Zuhause“ in Deutschland sehnt. Ein wenig bedauert sie daher, dass sich ihre Mutter nicht dazu entschieden hat, zu ihr nach Deutschland zu ziehen: Rita Peschke: Hier wollte sie nicht mehr wohnen, weil sie festgestellt hat, dass sie zu alt dafür war. Obwohl sie perfekt deutsch spricht. Also es gefällt ihr schon, aber.. aber sie müsste alle Formalitäten erledigen, da hat sie gesagt, dass sie dafür nicht mehr gemacht ist. Sie hat ihre Rente in Polen. Ihre Wohnung. So werde ich nun öfter fahren müssen. Weil sie da ist. Jeden Tag telefonieren wir, wir sind in Kontakt. Nun werde ich öfter fahren müssen. Aber ich muss sagen, mich persönlich zieht es nicht dahin. Weil ich bin über zwanzig Jahre hier. Und wenn ich da hinfahre, dann sehe ich das als Besuch an. Zudem kann ich mir nicht vorstellen, da zu wohnen. Ich hab da nichts mehr verloren. Somit fahre ich dahin und nach einer Woche zieht es mich schon zurück. Ich sehe das hier als mein Zuhause. Das heißt, ich habe keine Sentimente für Polen. Dass mich da irgendwas anzieht. (ü)
Schwieriger wird eine solche Situation, wenn zurückgelassene Eltern plötzlich nicht mehr mobil sind oder nicht mobil sein wollen und die Aussiedler ihrerseits ebenfalls nicht häufig nach Polen fahren können oder möchten. Einerseits rechtfertigen die betroffenen Interviewpartner die Situation mit ihrer knappen Zeit oder anderen Verpflichtungen, andererseits belastet das Verantwortungsgefühl und die scheinbar vernachlässigte Pflicht das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern bzw. zwischen den Geschwistern. Besuche werden auch im Fall von Familienfeiern oder bei der Pflege von Grabstätten als Pflichterfüllung wahrgenommen. Besonders die Pflege von Gräbern führt bei älteren Aussiedlern zu regelmäßigen Mobilitätsbeziehungen (z.B. zu Allerheiligen). Bei Familienfeiern wird die eigene Rolle oftmals als sehr wichtig interpretiert – besonders was die finanziellen Zuwendungen an Familienmitglieder angeht. Frau Nowak beispielsweise weiß, dass ihre Familie in Polen bei Hochzeiten oder Geburtstagen besonders auf die „Tante aus dem Westen“ wartet. Diese Erwartung nimmt sie an und trägt sie mit Stolz:
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Maria Nowak: Wenn da zum Beispiel irgendein Jubiläum ist. Oder der Schwager wird siebzig. Oder was anderes. Da sind jetzt viele in so einem Alter, wo geheiratet wird. Jedes Jahr ist eine Hochzeit. Als erstes werden wir eingeladen. Die Tante aus Deutschland ist eingeladen. Weil wir bringen sowieso die größten Geschenke. Den dicksten Briefumschlag. Weil was geben die sich da schon? Zweihundert, dreihundert Złoty? Mehr geben sie nicht zur Hochzeit. Und ich darf gar nicht verraten, wie viel ich immer gebe. Weil das ist nur einmal im Leben. Die Braut hat letztens geweint. Als sie zu mir kam und mich gepackt hat. Da hat sie gesagt „Tante, du hast dich, glaub ich, vertan?“ Ich sag „Womit? „Na, du hast dich mit dem Geld vertan.“ Ich sag „Worum geht es? Halt den Mund und sag nix. Und wenn dir was nicht gefällt, dann behalts´ für schwere Zeiten“. (ü)
Insgesamt strukturieren Familienfeiern die Mobilitätsbeziehungen in hohem Maße und stellen manchmal ebenfalls Zwänge dar („Das kann ich nicht machen, dort nicht hinzufahren“). Andere Gründe für Mobilität sind außerfamiliäre Ereignisse wie Klassentreffen. Hier hat sich durch neue Formen der Kommunikation auch eine Reaktivierung alter Netzwerke ergeben. Die Internetplattform ‚nasza klasa‘ beispielsweise ermöglicht es, alte Klassenkameraden zu suchen, zu kontaktieren und Treffen zu organisieren. Aber auch andere Aktivitäten können die Mobilität strukturieren, so wie es bei Ilse Matysek der Fall ist. Frau Matysek nimmt regelmäßig an Pilgerfahrten in Oberschlesien teil. Zusätzlich wird ihre Mobilität ebenfalls durch Familienfeiern strukturiert: Ilse Matysek: Im Oktober war ich das letzte Mal dort. Ich fahre ein, zwei Mal im Jahr. Im Juli, weil dann meine Schwester Geburtstag hat. Und ich mache immer bei einer Wallfahrt von Tychy nach Częstochowa mit. Von der Kirche der Heiligen Jadwiga aus. Wir gehen zu Fuß. Ich bin schon das zehnte Mal dabei. Und im Oktober findet wieder eine Hochzeit statt. (ü)
Um den „Besuch“ in Oberschlesien weniger „anstrengend“ zu gestalten, versuchen einige Aussiedler auch andere Aktivitäten in die Reiseplanung zu integrieren. Dazu gehören vor allem Ausflüge in die umliegenden Gebiete (v.a. Krakau oder TatraGebirge). Andere Aussiedler und vor allem solche, deren Beziehungen zu Oberschlesien aufgrund von Kontaktverlusten geringer geworden sind, verändern die Art und Ausrichtung ihrer Mobilität. Sie verlagern ihre Aufenthalte z.B. in die Küstenstädte. Hier verbinden sie die Möglichkeit zur Erholung mit den Vorteilen eines Aufenthalts in Polen. Zu diesen gehören für viele ältere Aussiedler vor allem Sprachkompetenzen und Kosten. Insgesamt unterliegt die Mobilität nach Polen/Oberschlesien in den letzten Jahren zahlreichen Veränderungen. Nach 1989 und den Veränderungen der Transportinfrastruktur wurde die Mobilität nach Polen massiv vereinfacht. Heute deutet sich bei vielen Aussiedlern an, dass neue Rahmenbedingungen entstehen, die nun zu einer Abnahme der Mobilitätsbeziehungen führen. Zum einen verringern sich für einige Aussiedler die Kontakte in Polen/Ober-
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schlesien, die häufig den wichtigsten Mobilitätsgrund darstellen. Familienmitglieder sterben oder migrieren ebenfalls, und Freundschaften bzw. Bekanntschaften verlieren an Bedeutung oder werden vollständig abgebrochen. Einige der Kontakte werden nun verstärkt über die neuen IuK-Möglichkeiten aufrechterhalten, was dazu führt, dass Mobilitätsbeziehungen obsolet werden. Für die älteren Aussiedler ergeben sich im Alter zudem gesundheitliche Einschränkungen. Reisen werden strapaziös und dadurch vermieden oder reduziert. Auch ökonomische Faktoren spielen eine Rolle. Obwohl das Reisen insgesamt einfacher geworden ist, verändern sich durch die Anpassung des Preisniveaus in Polen an die europäischen Verhältnisse die ökonomischen Bedingungen vor Ort. Der Erwerb von Waren oder Dienstleistungen wird zwar immer noch als lohnend angesehen, jedoch beklagen einige Aussiedler auch die ansteigenden Preise. Ein Polen-Besuch wird so teurer und ökonomisch weniger vorteilhaft. Zudem besteht seit vielen Jahren auch in Deutschland die Möglichkeit, polnische Produkte zu erwerben.
8.5 Z WISCHENFAZIT Mobilität nach Polen bzw. Oberschlesien hat insgesamt eine sehr unterschiedliche Bedeutung für die Lebenswelten der Aussiedler und reicht von pendelartigen Beziehungen bis hin zu seltenen und zweckgebundenen Besuchen. Es kann die Frage aufgeworfen werden, inwieweit (Trans-)Mobilität und das Aufspannen von Transnationalen Sozialräumen in Verbindung gebracht werden können. Berücksichtigt man zunächst lediglich die Mobilitätsbeziehungen, wären wohl nur Herr Hirsch (beruflich bedingt) und Frau Kwiatkowska (aus einer großen Unzufriedenheit heraus) als transmobil und ihre Lebenswelten als transnational zu bezeichnen. Dass die Betrachtung von Mobilitätsbeziehungen nicht ausreicht, um diese Frage umfassend zu beantworten, hat sich jedoch schon an mehreren Stellen gezeigt. Zum einen ist Mobilität nicht immer ohne weiteres möglich. Sie hängt von der gesundheitlichen Verfassung, Zeitbudgets und finanziellen Möglichkeiten ab. Einige Aussiedler haben angedeutet, dass sie gerne öfter fahren würden, wenn es die Lebensumstände ermöglichten. Zum anderen hat sich angedeutet, dass die Transnationalität von Lebenswelten nicht unbedingt durch Mobilität konstituiert werden muss. Der Herkunftskontext hat für viele Aussiedler auch unabhängig von ihrer Mobilität eine alltagsprägende Bedeutung und zeigt sich im alltäglichen Handeln und insbesondere in den Netzwerkstrukturen und Identitätskonstrukten. In den folgenden Kapiteln geht es daher verstärkt um das transkulturelle Handeln.
9. Die transnationalen Netzwerke der oberschlesienstämmigen Aussiedler: Von Abgrenzungen und imagined communities
Wie bereits im vorangegangenen Kapitel zur Transmobilität angedeutet werden konnte, kommt den Netzwerken der Aussiedler eine wichtige Funktion in der Konstruktion und Konstitution Transnationaler Sozialräume zu. Der Herkunftskontext wird dabei auf zweifache Weise bedeutsam: Einerseits werden die Netzwerke der Aussiedler durch grenzüberschreitende Beziehungen geprägt, was sich in einer oft zu beobachtenden Multilokalität von Familienverbünden und Freundeskreisen niederschlägt. Andererseits sind der Herkunftskontext und in ihm erfahrene Muster sozialer Interaktion maßgebend für die Entwicklung von Strategien in der Netzwerkentwicklung in Deutschland. Das frühere bzw. aktuelle Zusammenleben in Polen/Oberschlesien – wie es von den Aussiedlern wahrgenommen und rekonstruiert wird – ist die Grundlage für die individuelle Konstruktion von Wir- und SieGruppen (imagined communities), welche die sozialen Netzwerke strukturieren. Letztere sind daher geprägt durch verschiedene alltägliche Abgrenzungs- und Differenzierungsprozesse, die mit Erfahrungen aus verschiedenen räumlichen Kontexten und einem daraus abgeleiteten Verständnis des Eigenen und Fremden bzw. der hier gewonnen Sicht auf ‚Kultur‘ und soziale Interaktion in Verbindung stehen. In diesem Kapitel geht es damit auch darum, den bisherigen Blick auf transnationale Netzwerke, der in der Aussiedlerforschung bislang hauptsächlich auf grenzüberschreitende Verbindungen und die Partizipation in ethnic communities gerichtet war, zu erweitern. Um die Komplexität der transnationalen Netzwerke im Fall der Aussiedler aufarbeiten zu können, ist zunächst eine reflektierende Perspektive notwendig, in der Muster sozialer Interaktion im Herkunftskontext auf Basis der Interviews rekonstruiert werden.
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9.1 S OZIALE N ETZWERKE
IN
P OLEN VOR
DER
M IGRATION
Für die Transnationalisierung der Aussiedlernetzwerke in Deutschland hat die Art und Weise, wie Netzwerke in Polen/Oberschlesien ausgestaltet waren, großen Einfluss. Konserviert haben die Aussiedler vor allem drei Aspekte des Zusammenlebens, auch wenn diese im Einzelnen unterschiedlich bewertet werden können. Zum einen wird die vermeintliche soziale Kohäsion (1) thematisiert. Hervorgehoben werden die Bedeutung materieller Austauschbeziehungen und die Intensität sozialer Interaktionen. Letztere wird vor allem mit ausgelassenen Feierlichkeiten, guten Freundschaften und einer „besonderen Herzlichkeit“ in Verbindung gebracht. Betont werden zudem die intakten Strukturen und das solidarische Grundprinzip in familiären Netzwerken. In Erzählungen zur Prä-Migrationszeit werden, wie auch im folgenden Zitat deutlich wird, die Spontanität von Treffen und die Tatsache, dass Beziehungen auch ohne moderne Kommunikationsmittel aufrechtgehalten werden konnten, betont. Das soziale Miteinander führen viele Aussiedler als positiv wahrgenommenes Gegenstück zu den negativen Aspekten des Lebens in Polen an, wie Versorgungsengpässen, Diskriminierungen oder wirtschaftspolitischen Problemen: Roman Mainz: Und die Hoffnung gab´s in Polen nicht. Also ich weiß, viele meiner Studienkollegen, in Gesprächen waren wir alle so bisschen unten. Weil du hast gesehen, wie die Geschäfte ausgesehen haben. Nur unter Kumpels, das war immer so gute Atmosphäre. Menschen verstehen sich gut und die Polen, wenn die feiern. Egal ob das die Schlesier sind oder die Polen sind, es ist gemütlich. Alle bringen etwas und kannst du dir vorstellen, wie das war. Also ich denke.. weißt du, damals, wenn du zu Jemandem gingst.. [...] Ging man hin und wenn man schon eine Flasche mitgebracht hat, das war schon viel. So hat man sich besucht, ohne telefonisch Termine zu vereinbaren. Einfach so.
Über den Aspekt der sozialen Interaktion wird Polen bzw. Oberschlesien als „soziales Paradies“ rekonstruiert und glorifiziert, was z.B. bei Frau Peschke deutlich wird. Für sie lebten in Polen „alle wie in einer großen Familie“. Frau Peschke erklärt zudem, dass die engen Beziehungen zu Verwandten, Bekannten und auch Berufskollegen wichtig bzw. nützlich waren, um persönliche Versorgungslücken schließen zu können. Ein anderer Aspekt ist der grenzüberschreitende Charakter damaliger Netzwerke (2). In der Regel bestanden in den familiären Netzwerken gute Kontakte zu bereits migrierten Verwandten in Deutschland. Damit waren die in Polen lebenden Familienmitglieder einerseits mit migrantischen Erfolgen und Misserfolgen konfrontiert, andererseits kompensierte die materielle Hilfe durch die bereits migrierten Familienmitglieder einen Teil der Versorgungsengpässe. Sie ermöglichte sogar einen als luxuriös empfundenen Lebensstandard:
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Barbara Zając: Meine Eltern sind hier in Mönchengladbach gewesen. Also eigentlich uns ging es sehr gut. Wir hatten Pakete. Wir haben alles gehabt. Damals. Achtziger Jahre. Bananen. Da konnte man sich nicht richtig da vorstellen. […] Wir hatten alles. Dominica [Tochter, Anm. M.O] war damals klein. Wir hatten alles für das Kind. Alles aus Westen.
Ein weiteres Charakteristikum der Netzwerke in Polen vor der Migration ist die angespannte und z.T. konfliktreiche Beziehung der ‚Einheimischen‘ zu den ‚zugewanderten‘ Polen, also das Zusammenleben der „Gorole“ und „Hanysy“ (oftmals synonym für Oberschlesier) (3). Da dieses Phänomen auch aktuell Folgen für die Netzwerkentwicklung hat und bei der Definition des Eigenen und Fremden in den alltäglichen (transnationalen) Lebenswelten der Aussiedler eine Rolle spielt, muss auf die Situation der Prä-Migrationszeit genauer eingegangen werden. Die polnische Nationalitätenpolitik nach 1945 und die Konflikte, die sich aus der systematischen Ansiedlung von Polen in Oberschlesien ergaben, spielen eine wichtige Rolle bei der Reflexion des Lebens in Polen vor der Aussiedlung. Die Abgrenzung und Bildung von sozialen Gruppen in Oberschlesien erfolgt(e) sehr häufig über die Differenzierung von „Gorolen“ und „Hanysy“/„Oberschlesier“. Was sich im Einzelnen hinter der Zuschreibung „Gorol“ aus Sicht der Migranten verbirgt, hängt von individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen ab. Das semantische Feld von „Gorol“ ist diffus und variiert sogar innerhalb der Erzählungen einzelner Interviewpartner. Grundsätzlich werden als „Gorole“ – aus einer eher historischen Perspektive – die zugewanderten Polen in Oberschlesien nach 1945 und ihre Nachfahren bezeichnet, manchmal jedoch auch die „Polen außerhalb Oberschlesiens“ im Allgemeinen. Des Weiteren wird der Begriff zur Abgrenzung aller Personen polnischer (bzw. nicht oberschlesischer) Herkunft und damit als begriffliches Gegenstück zum Oberschlesier gebraucht. „Gorol“ kann jedoch auch eine abwertende Bezeichnung für die damaligen politisch Verantwortlichen, also Mitglieder der kommunistischen Partei und insbesondere Regierungsbeamten in Warschau sein, die als diejenigen angesehen werden, die Polen „heruntergewirtschaftet“ und Oberschlesien „ausgebeutet“ haben. Mit Blick auf das Polen vor der Wende 1989 hat sich für viele Aussiedler vor allem das Bild der „privilegierten Gorolen“ im Vergleich zu den „benachteiligten Oberschlesiern“ eingeprägt. Den Oberschlesiern wird in dieser reflektierten Rollenaufteilung vor allem der Part des ungeliebten und ausgenutzten Arbeiters zugewiesen. Ewald Mazur (1941 geb.) beispielsweise kehrt im Interview immer wieder zur vermeintlichen Unterdrückung der Oberschlesier durch die zugezogenen Polen und die Regierung zurück und identifiziert sich dabei mit diesem „oberschlesischen Schicksal“, an dem seiner Meinung nach die „Gorole“ schuld seien. Das ‚oberschlesische Unrecht‘ wird, wie bei Herrn Mazur deutlich wird, zum kollektiven Phänomen und die „Gorole“ als Sie-Gruppe zu den Verursachern des „Unrechts“:
206 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Ewald Mazur: In Polen zählten nur die Gorole. So [...] Die haben über das ganze Oberschlesien regiert. Und die Oberschlesier immer an den Rand gedrängt. Das Oberschlesische sollte raus. [...] Und weil auf den Zechen zu wenig Arbeiter waren, haben die Leute aus Polen angeworben. Aus Zentralpolen. Und die haben sich so reingedrängt, dass die alle Plätze eingenommen haben. Und alle waren natürlich gebildet. Die haben nicht gearbeitet, sondern sofort höhere Positionen eingenommen. Und die Oberschlesier an den Rand. Und die, die nicht gebildet waren, haben zwar normal gearbeitet, aber direkt auf besseren Stellen. Es war schon anders. Die kamen direkt ins Büro. Da hatten die Kontakte, und da hatten die Kontakte. Die waren so zusammen. Und Wohnungen haben die auch direkt gekriegt. Und Oberschlesier haben nix gekriegt. (ü)
Nach Meinung von Ewald Mazur seien die Polen nach ihrem Zuzug in Oberschlesien in systematischer Weise sozial aufgestiegen und bei der Besetzung machtvoller Positionen bevorzugt worden, was er als systematische Diskriminierung der Oberschlesier empfunden hat. „Gorole“ seien zudem ausnahmslos Parteimitglieder gewesen, was ihnen den Zugang zu Privilegien und Positionen erheblich erleichterte oder erst möglich machte. Die Oberschlesier hingegen hätten allein schon aufgrund ihrer starken Bindung an die Kirche Skrupel gehabt, Parteimitglieder zu werden und diesen Weg nur dann gewählt, wenn sie dazu gedrängt wurden. Die beiden Gruppen (Oberschlesier und „Gorole“), die in der Regel auch die Grundlage für zahlreiche Formen von Wir- und Sie-Konstrukten darstellen, werden wie folgt charakterisiert: Als wiederkehrende soziale Zuschreibungen für „Gorol“ oder „Pole“ treten Überheblichkeit, Faulheit, Falschheit, Arroganz, Humorlosigkeit aber auch sicheres Auftreten auf. Einige Interviewpartner verbinden mit der Art von „Gorolen“ auch unehrliches Handeln (vom leichten Täuschen bis hin zum Betrügen). In Bezug auf die vermeintliche Faulheit wird der „typische Gorol“ auch häufig mit dem Begriff „kombinator“, im Deutschen am ehesten mit „Schlitzohr“ zu übersetzen, umschrieben. Dabei ist eine Person gemeint, die stets den leichtesten Weg sucht, körperliche Arbeit umgeht und dabei lieber Andere arbeiten lässt, wie es beispielsweise Roman Mainz formuliert: Roman Mainz: Polen arbeiten öfter weniger, aber überlegen, wie kann man Geschäfte machen? Und ein Oberschlesier muss immer pünktlich um sechs Uhr da sein und diese acht Stunden arbeiten, damit er gute Rente hat.
Die Überheblichkeit und Arroganz werden vor allem auf einen vermeintlich ungerechtfertigten Patriotismus und Stolz gegenüber dem polnischen Staat zurückgeführt. „Gorole“ würden demnach positive Entwicklungen in ihrem Land überbetonen, nicht hinterfragen und gleichzeitig negative Entwicklungen ausblenden, wie Jan Wawrzyczek (1942 geb. und 1989 migriert) anführt:
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Jan Wawrzyczek: Weil Polen sind wirklich.. ich will niemanden beleidigen, aber jedes Volk hat so seine charakteristischen Merkmale. Die sind überheblich. Das ist das eine. Die sind hochnäsig. Die können alles, sie sind die Besten. Und so weiter und sofort. [...] Wirtschaftlich belegen die Platz sechzig auf der Welt, aber die Polen meinen, die hätten sonst was. Und so ein Plus oder Netto. Das haben wir doch auch. Die wissen nicht, dass das nicht deren Geschäfte sind. Die zahlen nur Steuern. Und Gewinne? Wer hat Gewinne? Die sind.. also das ist ein anderes Volk. (ü)
Den Oberschlesiern werden in Äquivalenz hierzu zumeist die entgegengesetzten Attribute zugesprochen: vor allem Fleiß, Humor, Geselligkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit und „Einfachheit“. Diese mentale Gruppenbildung ist gut bei Frau Ilse Matysek zu beobachten. Auch sie kommt im Interview immer wieder auf die vermeintliche Ungerechtigkeit gegenüber den Oberschlesiern zu sprechen und betont, dass die Überlegenheit der „Gorole“ in Oberschlesiern nicht auf deren Fähigkeit, sondern auf die politischen Machtkonstellationen zurückzuführen sei. Die vermeintlich ungerechte Verteilung der privilegierten Arbeitsplätze kommentiert sie mit einem ironischen Witz, in dem ein zugewanderter Pole in Oberschlesien einen Schreibtischjob erhält, obwohl er nicht schreiben kann. Die Lösung dieses Problems ist, dass er lediglich Stempel setzen muss. Dieser Witz wird im Übrigen zu Erläuterung ähnlicher Argumentationsgänge auch von anderen Aussiedlern angeführt: Ilse Matysek: Schlitzohr. Schwindler. Unehrlich. So was würde ich sagen. Schlitzohr. Wir Polen, wir Schlitzohren. Über den Schlesier kann man so was nicht behaupten. [...] Weil da kam dann so ein chadziaj1, dann der zweite. Direkt in die Schule. Dann haben die die Familien nachgeholt. „Jasiu, wo wirst du denn arbeiten? Du kannst doch nicht schreiben!“ „Ich bekomme einen Stempel, Mama! Dann gehts!“ (macht Polnisch abfällig nach) (ü)
Die empfundene Diskriminierung führen die Interviewpartner auf verschiedene alltägliche Situationen an den Arbeitsplätzen, bei der Wohnungsvergabe, der Versorgung mit Waren und in den Schulen zurück. Für den Arbeitsalltag wird von verweigerten Prämien, längeren Arbeitszeiten oder fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten berichtet. Jan Wawrzyczek, der 1989 aus Świętochłowice nach Deutschland ausgesiedelt ist, sieht seine Entscheidung zur Migration fest an die Situation der Oberschlesier gekoppelt. Seiner Meinung nach war ein „normales“ Leben als Oberschlesier in Oberschlesien nur für diejenigen möglich, die nicht nach höherer Bildung und einer entsprechenden Position strebten. Er empfindet das Schicksal Oberschlesiens insgesamt als Tragödie:
1
Alternativer Begriff zu „Gorole“.
208 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Jan Wawrzyczek: Der Schlesier zur Arbeit. Und nur die Gorole auf die Positionen. Fast.. eigentlich keine höhere Position wurde zu meiner Zeit durch einen Schlesier besetzt. Keiner wurde Direktor. Die höchste Position, die er besetzen konnte, war der Stellvertreter. Und in Polen war das ein Riesen-Unterschied zwischen Direktor und seinem Stellvertreter. Das war undenkbar. Schlesier und Direktor. [...] Dass wir degradiert wurden.. das würde ich nicht sagen. Aber man hat nicht zugelassen, dass der Schlesier zu etwas kommt. Es war schwer, wenn man etwas erreichen wollte. Wenn man etwas anstrebte, etwas wollte. Wenn man normal zur Arbeit ging, auf ein Bier.. so normaler Schlesier war. Tauben züchten und so. Dann ging das. (ü)
Grundsätzlich lassen sich derartige Schilderungen aufteilen in stärker auf eigenen Erfahrungen aufbauende und eher auf den Erzählungen von Familienangehörigen basierende bzw. diskursbezogene Argumentationen. Letztere sind an Wahrnehmungen und Einstellungen gebunden, die sich auf ein kollektives Schicksal der Oberschlesier beziehen. Dieses wird durch die eigene Zugehörigkeit zu Oberschlesien als Teil der eigenen Identität interpretiert. Verstärkt ist dies im Gespräch mit Ewald Mazur zu beobachten, der immer wieder eine Gesamtsituation reflektiert und die Oberschlesier als „ausgebeutete Arbeiter“ ansieht. Eigene Einschränkungen oder Probleme im Alltag in Polen erwähnt er nicht. Trotzdem sieht er sich als Zugehöriger zur Gruppe der Oberschlesier als Betroffener an. Fast ausschließlich auf persönlichen Erfahrungen basieren die Schilderungen des Ehepaars Feldmann. Beide beschreiben, wie ihre deutsche Vergangenheit (beide sind zu deutscher Zeit geboren), aber auch die Kontakte zu Familienmitgliedern in Deutschland zu Schwierigkeiten am Arbeitsort führten: Sofie Feldmann: Ja ich würde allgemein sagen, als Kind, nach 45, in einer deutschen Familie war streng verboten, deutsch zu reden. Und.. überhaupt sich dazu bekennen, dass man ein Deutscher ist. Also wir wurden so erzogen, dass ich wusste, draußen darfst du nicht zugeben. Zuhause sprach man Deutsch. Meine Eltern konnten ja nicht polnisch. Die sprachen ja nur schlesisch. [...] Und ja, und immer wenn überhaupt, dann warst du ein Nazimensch oder ein Hitlermensch, also Hitlerowcy.. beschimpft. In der Arbeit war das gleiche. Mein Chef hat mir gesagt: „Hätte ich gewusst, dass du die Ausreise bekommst, hättest du nie eine Gehaltserhöhung bei mir gekriegt“. [...] Und seitdem er [Ehemann, Anm. M.O] seine Familie in Deutschland hatte, waren wir beobachtet. Also wir wissen es haargenau. Das UB wusste mehr über uns als wir selber. Und das haben sie uns immer, wenn wir einen Antrag gestellt haben zu Besuch oder so, das wurde uns sofort auf den Teller serviert. Dies oder jenes. Und sonst, die Kinder hab ich ja nur polnisch erzogen.
Die von Frau Feldmann angesprochenen Abhöraktionen beziehen sich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als insbesondere der als UB (Urząd Bezpieczeństwa) bekannte polnische Nachrichtendienst der Geheimpolizei die Aufgabe hatte, ‚deut-
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sche Verhaltensweisen‘ in der Gesellschaft aufzuspüren. Frau Feldmann beschreibt, wie Personen unter Verdacht gerieten, die Kontakte zum Westen aufrechthielten, sich auf Deutsch unterhielten oder beispielsweise verbotenerweise deutsche Radiosender hörten. Als Folge der Unterdrückung deutscher Elemente sieht sie zudem eine Scheinassimilierung, die sich im Verzicht auf den Gebrauch der deutschen Sprache ausdrückte. Auch Ilse Kukawka (1940 geb.) erzählt davon, wie sie aufgrund des deutschen Hintergrunds ihrer Familie in der Schulzeit unter Diskriminierung litt: Ilse Kukawka: Ich bin in die Grundschule gegangen, da waren ja nur polnische Lehrerinnen. Da weiß ich noch, es ging um Stalin oder so. Und ich wusste da irgendwas nicht. Da musste ich nach vorne und musste meine Hand hinhalten. Die wurde dann mit einem Federmäpchen geschlagen. Und dann sagte die Lehrerin noch: „Wenn es um Hitler gegangen wäre, dann hättest du es gewusst, stimmt´s?“ Weil ich halt von einer deutschen Familie abstamme. Und daher, so etwas bleibt haften. An sowas erinnert man sich immer. Weil die anderen Kinder wussten es auch nicht, und das war ok. Aber wenn ich.. ich hab immer gespürt, dass ich anders behandelt wurde. (ü)
Bei Peter und Gabi Piontek, die ebenfalls von Schwierigkeiten in Polen vor der Migration berichten, vermischen sich allerdings verschiedene Argumentationsebenen. So deuten sie einmal an, dass vor allem Nicht-Parteimitglieder benachteiligt waren, auf der anderen Seite sehen sie die Oberschlesier allgemein als von einer systematischen Diskriminierung Betroffene an. Das Ehepaar bezieht sich, anders als das Ehepaar Feldmann, in seiner Argumentation nicht auf die Diskriminierung des „Deutschtums“, sondern auf eine Unterdrückung regionaler (= hier oberschlesischer) Identitäten. Peter Piontek geht zunächst auf seine Schulzeit ein, in der ihm seine gewünschte berufliche Laufbahn verwehrt blieb. Hier sagt er zum einen, alle Oberschlesier seien benachteiligt gewesen, zum anderen wird deutlich, dass die Frage, ob sein Vater Parteimitglied war, eine entscheidende Rolle bei der Vergabe des begehrten Schulplatzes spielte: Peter Piontek: Die haben uns immer unterdrückt. Die meisten Lehrer in Schlesien waren Polen. Und die haben die Schlesier unterdrückt. Noten schlechter. Zum Beispiel hab ich mich vorbereitet für die technische Fachschule, weil das war so mein Bereich. Naja und dann hieß es: „Und von wo stammt dein Vater? Ist er in der Partei?“ Und das war schon so ein Gerede aus Sosnowiec. Das waren Gorole, da wusste ich, ich würde es schwer haben. Erst mal in der Schule haben die mir meine Physiknoten verschlechtert. Da hat mein Vater einen Brief geschrieben, dann wurden die Noten angehoben und ich konnte mich bei der technischen Fachschule bewerben. Das war in Tychy. Das war Fernsehen und Elektrik. Aber ich wurde ohnehin abgewiesen, wegen Platzmangel. So war das. Das war so das Drastische. Wie alt war ich? Vierzehn? Da hat man das in dem Moment ganz stark gespürt. Du wolltest hier Mathe, Physik, und da kriegst du eine verpasst (schlägt auf den Oberschenkel). (ü)
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An anderer Stelle schildern beide die Diskriminierung ihres oberschlesischen Dialekts in der Schule. Als Strafe für die Verwendung oberschlesischer (nicht deutscher!) Wörter erhielten sie schlechtere Noten. Bei Herrn Piontek führte dies zu einer vollständigen Aufgabe seines Dialekts, um der Diskriminierung entgegenzuwirken. Gleichzeitig beschreibt er, wie sich aus diesen Erfahrungen eine Abneigung gegenüber den „Gorolen“ und dem polnischen Staat ergab, die er für seine persönliche Tragödie verantwortlich macht: Gabi Piontek: Es genügte ein Wort. Man ging zur Tafel, in die Mitte und wurde abgefragt. Man wurde was gefragt. Es genügte ein Wort auf schlesisch und dann nix. „Danke, ungenügend.“ Deswegen mussten wir Polnisch lernen. Peter Piontek: Ich hab stuchnąc gesagt. Da hat sie gesagt, ich solle mich hinsetzen. [...] Das war schon im Gymnasium. Vater hat uns dann gesagt, dass wir die diese Sprache [oberschlesischer Dialekt, Anm. M.O] komplett vergessen müssen. So was hat er gesagt. Vergessen. Nonstop wurden wir unterdrückt. [...] Das sind so Momente gewesen, wie andere auch. Das verletzt einen sehr. Nicht, dass man weint, aber man hat es gemerkt. (ü)
Insgesamt vermischen sich in den Erzählungen der Aussiedler zur vermeintlich systematischen Diskriminierung der Oberschlesier somit unterschiedliche Erzählebenen, da als ‚Betroffene‘ unterschiedliche vorgestellte Gemeinschaften2 konstruiert werden. Einige Aussiedler sehen in der Diskriminierung der Bevölkerung in Oberschlesien vor allem eine Diskriminierung vermeintlich deutscher Elemente (z.B. deutsche Sprache und Medien, Diskriminierung ‚deutscher‘ Familien), andere hingegen projizieren die Situation auf die gesamte ‚regionale Bevölkerung‘, unabhängig von individuellen Biographien und nationalen Zugehörigkeiten. In manchen Fällen werden diese beiden Ebenen gleichgesetzt; vor allem dann, wenn die Auffassung besteht, Oberschlesier seien zwangsläufig ‚deutschorientiert‘ und die Diskriminierung ‚oberschlesischer‘ Elemente sei auf ihre Zuordnung zu einem ‚Deutschtum‘ bzw. auf die deutsche Geschichte Oberschlesiens zurückzuführen. Am häufigsten wird die vermeintliche Diskriminierung auf ein regionales ‚Oberschlesiertum‘ bzw. die Oberschlesier allgemein bezogen. Zwar führen viele Aussiedler die Situation der Oberschlesier auf den Groll gegenüber der deutschen Vergangenheit der Region zurück, die imaginierte Gruppe der ‚Diskriminierten‘ wird jedoch in der Regel über die alteingesessenen Oberschlesier (in Oberschlesien geboren) gebildet, die mal mehr und mal weniger ‚deutschorientiert‘ gewesen seien bzw. Elemente der ‚deutschen Kultur‘ gepflegt hätten, jedoch insgesamt unter dem Einfluss zweier Nationalitäten ihre eigene, regionale Spezifik herausgebildet hätten. Diese Oberschlesier stehen den „Gorolen“ (Nicht-Oberschlesiern) gegenüber.
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Hier aufzufassen als von einer vermeintlichen Diskriminierung betroffene Gruppen.
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In einigen Interviews, wie auch bei Herrn und Frau Piontek, wird mit zunehmender Gesprächsdauer deutlich, dass Unklarheit darüber besteht, ob sich die vermeintliche Diskriminierung gegen die ‚Oberschlesier‘ oder gegen ‚Nicht-Parteimitglieder‘ richtete. Zwischen den Argumenten „Alle Nicht-Parteimitglieder wurden benachteiligt“ und „Oberschlesier wurden benachteiligt“ wird häufig nicht scharf getrennt. Dies ist z.B. auch bei Michael Kukawka der Fall. Er argumentiert zunächst vor allem mit der Diskriminierung der Oberschlesier (vgl. ‚oberschlesisches Unrecht‘) durch die polnische Regierung. Er erzählt von seinen eigenen Erfahrungen am Arbeitsort, wo er seiner Meinung nach stets mehr arbeiten musste als manche seiner Kollegen, dafür jedoch den gleichen Lohn erhielt. Im Laufe seiner Argumentation korrigiert er sich jedoch selbst und kommt zu der Ansicht, dass letztlich gar nicht alle Oberschlesier benachteiligt wurden, sondern diejenigen, die den Eintritt in die Partei ablehnten: Michael Kukawka: Aber Fakt war, dass er die Bescheinigung hatte, dass er in der Partei war. Er war sowieso besser, ob Schlesier oder nicht. Letztlich hat der Kommunismus viel vermasselt, ne? (ü)
Für Josef Kaluza, der mit 23 Jahren im Jahr 1985 ausgesiedelt ist, war die damalige vermeintliche Diskriminierung der Oberschlesier3 vor allem in der Ablehnung regionaler Elemente begründet. Herr Kaluza bemerkt, dass sprachliche Differenzen das entscheidende Konfliktpotential ausmachten. Sowohl am Arbeitsplatz bzw. in der Schule als auch an öffentlichen Plätzen und in Geschäften waren seiner Meinung nach die sprachlichen Merkmale das entscheidende und manchmal einzige Differenzierungsmerkmal, nach dem die Einordnung Unbekannter erfolgte und Prozesse von Inklusion und Exklusion aus der jeweiligen Perspektive gesteuert wurden. Für Josef Kaluza führte vor allem das sprachliche Outing zu Konflikten. Tatsächlich wird in den Interviews deutlich, dass die alltäglichen Abgrenzungen von Oberschlesiern und „Gorolen“ primär über die Zuordnung sprachlicher Merkmale erfolgt(e).4 Vor allem durch die Unterscheidung zwischen Dialekt und „Hochpolnisch“ wurden/werden Wir- und Sie-Gruppen gebildet und mit sozialen Eigenschaften belegt:
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Oberschlesier sind für Josef Kaluza die aus Oberschlesien stammende Bevölkerung, die mehrheitlich eine deutsche Prägung in Sprache und „Kultur“ aufweist.
4
Hier gibt es durchaus Ausnahmen. In einigen Fällen werden beispielsweise auch Personen aus dem eigenen Familiennetzwerk abgegrenzt (v.a. angeheiratete Familienmitglieder), die zwar im Dialekt sprechen, jedoch aufgrund ihrer Herkunft (nicht Oberschlesien) als „Gorole“ bezeichnet werden.
212 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Josef Kaluza: Jaja, das war so, das war alltäglich, kann man sagen. Ob in der Schule oder in der Abeit. Egal wo. Auf der Straße. Ein Beispiel fällt mir ein. Ich stand in der.. in der Schlange im.. im Gemüseladen. Und so wie das bei uns im Viertel war, in Załęże, ich bin dahin, man kannte sich ja dort. Und als ich da zu einer Frau ein Wort auf Schlesisch gesagt hab, da stand so eine andere Frau hinter mir und fing an zu schreien. Ich solle doch endlich polnisch lernen. Was geht die das an, wie ich rede? Sie als Gast in Oberschlesien, kann man sagen.. ich hätte sagen sollen: „Lern du Schlesisch“. Ne? Und nicht zu jemandem fahren und ihm in die Suppe spucken. (ü)
Interessant ist die Idee kollektiver Erinnerungen bzw. Erfahrungen im Hinblick auf die generationsübergreifende Fortführung dieses Konflikts. In den Gesprächen mit jüngeren Aussiedlern zeigt sich, dass der Diskurs des ‚oberschlesischen Unrechts‘ und die Beziehungen des „Oberschlesiers“ zum „Gorol“ nicht zwangsläufig über Generationswechsel an Bedeutung verlieren mussten. Soziale Abgrenzungen und Differenzierungen wurden über familiäre Netzwerke und Freundeskreise weitergetragen, modifiziert und sind schließlich erhalten geblieben. Jüngere Aussiedler erzählen oft lebhaft von diesem aus ihrer Sicht wichtigen Baustein ihrer Zugehörigkeit zu Oberschlesien, auch wenn sie den Ursprung dieses Bausteins häufig nur vage oder gar nicht einordnen können. Oberschlesier-Sein definiert sich für sie über das kollektive (nicht unbedingt selbst erfahrene) Erlebnis von Ungerechtigkeit und die Abgrenzung der schlechten „Gorole“ von den guten Oberschlesiern. Sie greifen dann explizit auf Erzählungen der Eltern oder anderer Bezugspersonen zurück und rechtfertigen so ihre eigene Einstellung. Für Thomas Krawczyk beispielsweise spielte die Abgrenzung zu Polen und den „Gorolen“ in Oberschlesien stets eine wichtige Rolle. Seine patriotische Einstellung zu Oberschlesien baute stark auf der Wir- und Sie-Differenzierung in Oberschlesier und Polen auf. Er erzählt von seinem Alltag in Oberschlesien, den er mit Fremdheit, Konflikten und einer Ausrichtung auf Deutschland verbindet und schildert enthusiastisch seinen aktiven Einsatz für die Region: Interviewer: Warum der Unterschied? Dass man Oberschlesien sagt und nicht Polen? Thomas Krawczyk: Weil man uns das ja schon immer hat spüren lassen. Schon als Kind, ne? Ne du hast komisch gesprochen, du hast deutsche Wörter benutzt (..) unbewusst. Du hast im Stadion deutsche Fahne gehisst. Du hast [...] Verwandtschaft in Deutschland gehabt. Das war einfach anders. Das war nie Polen. Also für mich. Aber auch für viele, ne? Das war aber nicht so ganz bewusst, das war einfach so, ne? Das war so. Dann kennt man die Geschichten von Opa, der ja gesagt hat, dass der nie nach Deutschland will, weil Oberschlesien ja wieder deutsch wird. Im Laufe der Zeit. Und solche Sachen. Und so setzt sich das, glaub ich dann, fest im Kopf. […] In der Schule gab´s Theater, weil man auf Schlesisch gesprochen hat, nee? Man sollte ja hochpolnisch reden so. Dann biste in Urlaub gefahren.. dann haste auch schon wieder auf die Nase bekommen. Man war weder.. polnisch noch deutsch, man war irgendwie
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so dieser un.. dieser nicht gemochte Schlesier überall. Und das ist das war nicht einfach find ich. [...] Also so ne ganz deutliche Trennung war zu spüren. Noch mehr als jetzt hier zum Beispiel. Also ganz deutlich. [...] Diese Differenzen waren viel deutlicher als wenn man jetzt, also wenn ich jetzt hier lebe und wenn ich mich mit jemandem unterhalten würde, dass ich aus Polen oder Oberschlesien kommen. Oder aus Russland oder Vietnam, scheißegal. Dann sind die Differenzen kleiner fast schon als damals. Interviewer: Würdest du sagen, dass du dich in anderen Teilen Polens früher fremder gefühlt hast als hier? Thomas Krawczyk: Ja sicher. Hundertprozentig. Aber hundertprozentig. Ja.
Gleichzeitig macht Thomas Krawczyk deutlich, dass er sein damaliges Handeln und vor allem seinen Patriotismus gegenüber Oberschlesien nicht begründen kann. Für ihn war seine Einstellung in seinem damaligen sozialen Umfeld, bestehend aus Familie und Freunden, entstanden. Sein Verhältnis zu den „Gorolen“ hat er nicht eigenständig aufgebaut, sondern vielmehr übermittelt bekommen. Seine gefühlte Andersartigkeit und die Zugehörigkeit zu Oberschlesien beschreibt er selbst als erzieherisches Produkt und Ergebnis einer Gruppendynamik. Sein Bild von den „Gorolen“ ist damit gebunden an das kollektive Gedächtnis und die Überlieferungen der Eltern- und Großelterngeneration: Thomas Krawczyk: Das Problem ist für mich, dass ich mein Erwachsenenleben hier gelebt hab. Ich kann das kaum einschätzen. Ich weiß, es [...] ich weiß es nicht. [...] Also man hat ja immer gesagt: „Trau nie einem Gorol“. [...] Das war so oder weiß ich nicht. Das hat man einem eigentlich eingepflanzt irgendwo. So ein bisschen. Also selber hab ich mir dieses Bild jetzt nicht erarbeitet, aber das hat man dann so „Musst du aufpassen“. So. „Ein Gorol ist ok, aber zwei auf einmal geht schief“.
Grundsätzlich jedoch verliert/verlor der Konflikt um Oberschlesier und „Gorole“ für viele jüngere Aussiedler an Bedeutung und Ernsthaftigkeit. Hier kann wie folgt differenziert werden: Einem Teil der jüngeren Aussiedler ist der Konflikt zwar bekannt – da er innerhalb familiärer und freundschaftlicher Netzwerke kommuniziert wurde – er beeinflusst jedoch nicht das Handeln, z.B. im Hinblick auf die Netzwerke. Hier zeigt sich, dass die Differenzierung in Polen und Oberschlesien als Angelegenheit der Eltern und Großeltern angesehen wird und für die eigene Perspektive nie eine Rolle gespielt hat. In diesem Fall bringen die damaligen Aussiedlerkinder und -jugendlichen zwar ein Verständnis für die Problematik mit – vor allem bezogen auf die Konflikte unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs – jedoch sehen sie letztere als beendet an. Sie kritisieren die fortwährenden ‚regionalistischen‘ Diskussionen und plädieren für einen Schlussstrich, der unter die gesellschaftlichen Spaltungen in Polen gezogen werden sollte.
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Bei einem anderen Teil der jüngeren Aussiedler zeigt sich, dass die sozialen Abgrenzungen in einer milden Form weiterhin Bestand haben. In Erzählungen werden beispielsweise Stereotype (Der Pole als „Schlitzohr“) aufgegriffen und Differenzierungen in „Gorole“ und „Oberschlesier“ rekonstruiert. „Gorol“ wird hier allerdings nicht als strikte Abgrenzung gedacht, sondern vielmehr humorvoll gebraucht, um gelegentlich die Andersartigkeit (Herkunft, Sprache) von Freunden und Bekannten hervorzuheben. Es entstehen keine Barrieren in der Entwicklung persönlicher Netzwerke. Verglichen wird die Situation der Oberschlesier dann häufig mit der der „Bayern“ in Deutschland: Oberschlesier sind nach Auffassung vieler jüngerer Aussiedler eine regional verankerte Gruppe, die etwas anders spricht, z.T. andere Traditionen hat, jedoch insgesamt unter dem großen Mantel des polnischen Staates zu fassen ist. Diese Perspektive nehmen die Eheleute Kasprzyk ein. Für sie war die Differenzierung in „Gorole“ und Oberschlesier nur ein „Spaß“. Sie zeigen Unverständnis für „ernsthafte“ Konflikte und betonen die guten Kontakte zu Polen in Oberschlesien: Roman Kasprzyk: Man hat drüber gelacht und Späßken gemacht, keine Frage. Ja, vielleicht auch mal geprügelt deswegen, aber ich hatte nichts persönlich gegen die Leute. In der Zeche, wo ich gearbeitet habe, in Makoschau, da waren jede Menge. Wie heißt das nochmal? Wolcoki. [...] Ja, so Hotels, Arbeiterhotels. Da waren nur solche aus Warschau oder wo auch immer. Ich hab schlesisch gesprochen, die polnisch. Isa Kasprzyk: Ich hatte an der Uni auch ganz viele Frauen. Und das waren so Super-Frauen. Also für mich hat das.. irgendwie immer ganz komische Geschichte, dass die Leute so gegeneinander.
Darüber hinaus zeigen die Interviews, dass das ‚oberschlesische Unrecht‘ und die Abgrenzung von Polen und Oberschlesiern nur eine von vielen konstruierten Realitäten darstellt. Dabei ist zu betonen, dass das Bewusstsein für die ‚kollektive Ungerechtigkeit‘ nicht zwingend notwendig für die Definition der eigenen Zugehörigkeit zu Oberschlesien ist. Grundsätzlich ist bei einigen Interviews eine Relativierung des viel diskutierten ‚oberschlesischen Unrechts‘ zu erkennen. Mit Abschluss der Vertreibung sehen einige Aussiedler die Zeit der Diskriminierung und Ungerechtigkeit als beendet an. Fortan sehen sie nicht die Oberschlesier als diskriminierte Gruppe an, sondern diejenigen, die sich gegen das politische System auflehnten und etwa ‚nahegelegte‘ Eintritte in die Partei verweigerten. Zum Teil wird das vermeintliche ‚Unrecht gegenüber Oberschlesien‘ belächelt, relativiert und als absurd angesehen. Katharina Musiol beispielsweise vertritt eine solche Sichtweise. Sie kann die Aussiedler nicht verstehen, die sich in Polen schlecht behandelt fühlten, und verweist darauf, dass alle Oberschlesier trotz der z.T. schwierigen Lebensbedingungen eine gewisse Dankbarkeit gegenüber dem polnischen Staat haben sollten. Katharina Musiol erzählt von einer Begegnung mit einer Aussiedlerin in Mannheim wie folgt:
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Katharina Musiol: Ich sag „Mädchen, du hast die Schule in Polen absolviert, umsonst! Du hast umsonst studiert. Und du fühltest dich verfolgt?“ Ich war damals noch die große Patriotin, also polnisch. „Du hast dich verfolgt gefühlt?“ „Ja, weil sie mich“.. Ich hab „Nein“ gesagt. „Wahrscheinlich weil du kein Polnisch kannst.“ (lacht) Ich wollte sie nicht beleidigen. Aber das war so eine Gruppe aus Polen, die so eine Einstellung hatte. Aber das hängt davon ab, was man so Zuhause mitbekommt. (ü)
Herr Tomaschek vertritt sogar die Meinung, dass nicht Oberschlesier diskriminiert wurden, sondern umgekehrt, die Zugezogenen unter der ablehnenden Haltung der Einheimischen litten: Reinhold Tomaschek: Ich spreche ja nicht so richtig schlesisch. So früher als Kind in den Höfen, da mussten wir richtig schlesisch reden. Wenn da jemand gesagt hätte „choc tutaj“ [poln. „komm hierhin“, Anm. M.O], dann hätte er sofort auf die Fresse gekriegt. So war das. Ich weiß noch als die Mutter eines Kollegen gerufen hat: „Jurek, Achim, na objat, do domu!“ [poln. „Jurek, Achim, Mittagessen, nachhause!“, Anm. M.O]. Da hatten die verkackt. Da haben wir die diskriminiert. So wars. [...] Wie konnte in Schlesien jemand diskriminiert werden? Da gab es doch nur Schlesier. Die paar Gorolen. Es waren zu wenige. [...] In Schlesien haben die Schlesier alle diskriminiert. (ü)
Nach Herrn Tomascheks Auffassung5 basiert der Konflikt in Oberschlesien letztlich nur auf den unkontrollierten Zuzügen von Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier sei eine untragbare Gruppe nach Oberschlesien gekommen, die das Stereotyp des „Gorol“ begünstigt hätte. Dieses Stereotyp hätte sich dann festgesetzt und eine unnötige Spaltung der Bevölkerung bewirkt. „Gorole“ bezieht Herr Tomaschek explizit auf die Zuwanderungswellen aus Zentralpolen nach der Machtübernahme der kommunistischen Regierung: Reinhold Tomaschek: Ich muss sagen, in den fünfziger Jahren, da kamen die wegen der Arbeit nach Schlesien. Klar, da konnten die zwei.. dreimal so viel verdienen. Da kamen dann so Pfeifen. Solche Schlitzohren. Deswegen mochten die Schlesier sie auch nicht, nannten sie Gorole. Weil als die arbeiten kamen, da sagte der Schlesier: „Pack mal an.“ Da haben die dann was gehoben, das dreihundert, fünfhundert Kilo wog. Und der Gorol dann mehr so „Vielleicht so, oder.“ Der hat dann rumgetüftelt. Und bis der was ausgetüftelt hat. Er hat dann auch nix ausgetüftelt.. da musste man einfach nur anpacken. Da haben die Schlesier das schon erledigt. Deswegen mochten die die Gorole nicht.
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Dieser Ansicht sind vor allem Aussiedler, deren näheres Familienumfeld sich aus Zugezogenen zusammengesetzt hat oder die selbst nach Oberschlesien zugezogen sind.
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Auch Martin Kluczek beschreibt die gesellschaftlichen Barrieren aus einer alternativen Perspektive. Er sieht die Oberschlesier als diejenigen an, die sich abkapselten und die Distanz zu den Zugezogenen erst erzeugten. Martin Kluczek kommt aus einer Familie, in der der in Oberschlesien geborene Vater eine zugezogene Polin heiratete, die fortan durch eine ablehnende Haltung der anderen Familienmitglieder litt. Für Martin Kluczek ist der Diskurs des ‚Unrechts gegenüber Oberschlesien‘ ein Mittel zur Rechtfertigung der Ausreisewünsche vieler Aussiedler, auch wenn er ebenfalls von einer Diskriminierung Oberschlesiens im Ganzen spricht: Martin Kluczek: Und meine Mutter hatte da wirklich Schwierigkeiten in den siebziger Jahren. Als sie dann meinen Vater kennengelernt hat Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Und sie hatte da Schwierigkeiten da Fuß zu fassen, weil sie ja aus Polen kam. Sie kam aus Zentralpolen. Und diese Abgrenzung zu den.. also die Oberschlesier haben sich selber abgegrenzt gegenüber den Neuankömmlingen, das hat man schon gemerkt. [...] Und da hab ich auch gemerkt, selbst die haben gemerkt, dass viele Oberschlesier auch solche Sachen wie „da durfte man ja nicht aufsteigen“ sehr stereotyp verwendet haben. Weil wieder im Kopf war, man muss.. die erwarten das ja. „Wieso kommt ihr denn hier hin?“ „Ja weil wir Deutsche waren, wir durften da nicht aufsteigen“. Das ist immer so schwierig, diese Erwartungshaltung. Was sagt ein Mensch, was tatsächlich geschehen ist oder was interpretiert er so um, dass es in diesen Gesamtkontext der Aussiedleraufnahme passt? Als Deutscher nach Deutschland zu kommen. Also ne. Das fand ich auch immer schwierig. Und wie gesagt, mein Vater hat es anders erzählt.
Einige Aussiedler erzählen auch, dass nach den schwierigen Umständen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg letztlich beide Gruppen (Polen und Oberschlesier) zu einer Einheit verschmolzen sind, auch wenn sie sich hinsichtlich Sprachgebrauch oder einiger Gewohnheiten weiterhin unterscheiden konnten. Aus einer solchen Perspektive wird die eigene Positionierung häufig mit dem Ausdruck „są ludzie i ludziska“ (poln.= „Es gibt solche und solche“) ausgedrückt und betont, dass nicht zwischen „guten“ und „schlechten“ Gruppen getrennt werden sollte, da es letztlich auf den einzelnen Menschen ankomme. Josef Kaluza gibt allerdings zu bedenken, dass negative Erfahrungen, Vorurteile und die Einstellung der eigenen Familie Hemmnisse in der Netzwerkentwicklung darstellen konnten, auch wenn die eigene Einstellung vielleicht tolerant und offen war: Josef Kaluza: Ich sag immer.. es gibt solche und solche. Ne? Das ist.. es gab auch normale Leute. Oder wenn man die schon kannte, wenns da schon Kontakt gab. Da hat man gesehen, es ist normal. Man kann sich verständigen, miteinander reden. Aber es gab dieses.. so von vorneherein.. Vorurteile. Das ist ein Oberschlesier.. zack der ist schlecht. Oder das ist ein Gorol.. zack der ist schlecht, ne? (ü)
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Auch Ilse Kukawka gingen der Konflikt und die Abkapselungen zu weit. Sie verurteilt das starke Misstrauen, das ihre Familie (v.a. Eltern) den Zugezogenen entgegenbrachte, obwohl sie selbst auch eine eher ablehnende Haltung gegenüber den „Gorolen“ entwickelt hat: Ilse Kukawka: Und Papa überhaupt. Der war komisch. So ganz ehrlich, als ich jung war, ich mein, man kam ja auch schon mal mit einem Jungen nachhause. Wenn das ein echter Pole gewesen wäre. Dann hätte ich den nicht nachhause bringen dürfen. Papa hätte gesagt: „Hast du nicht deine eigenen Leute?“ Bisschen blöd das Ganze, weil meiner Meinung nach gibt es solche und solche Leute. So wie es gute und schlechte Schlesier gibt. (ü)
Das Entscheidende an der subjektiven Reflexion der sozialen Ordnungen und Bedingungen der Prä-Migrationsphase ist, dass diese – in unterschiedlicher Form – auch aktuell die eigene Positionierung und Netzwerkgestaltung prägen. Der Herkunftskontext bleibt damit in gewisser Hinsicht als Basis netzwerkrelevanter Handlungen bestehen. Wie diese ausgestaltet sind und durch neue Erfahrungen im Ankunftskontext modifiziert werden, wird im Folgenden dargelegt.
9.2 „W IR BLEIBEN UNTER UNS “ – ALLTÄGLICHE ABGRENZUNGEN IN DEN TRANSNATIONALEN AUSSIEDLERNETZWERKEN Was haben die Rahmenbedingungen der Netzwerkentwicklung in Polen vor der Migration mit den aktuellen Netzwerken der Aussiedler zu tun? Und weshalb kann von einer Transnationalität der Netzwerke ausgegangen werden? Beide Fragen hängen miteinander zusammen. Die heutigen Netzwerke der Aussiedler sind nicht nur durch grenzüberschreitende Beziehungen geprägt, sondern auch durch individuelle Hierarchisierungs- und Differenzierungsprozesse im Zielkontext. Diese Prozesse sind dabei an die Erfahrungen aus dem Oberschlesienkontext geknüpft und damit Folgen transnationaler Perspektiven. Die individuellen Ordnungen der Gesellschaft, ausgedrückt über vorgestellte Gemeinschaften (‚Sie‘ und ‚Wir‘) und wirksam durch Inklusion und Exklusion, bilden für einige Aussiedler auch in Deutschland eine wichtige Leitlinie ihrer Netzwerkentwicklung. Insgesamt sind drei alltagswirksame Abgrenzungsebenen zu beobachten: gegenüber „Polen“6,
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Gruppen wie „Oberschlesier“, „Polen“ und „Deutsche“ sind stets als subjektiv und daher unterschiedlich abgegrenzte Sie-Gruppen zu verstehen. Im Folgenden wird, mit Ausnahme besonderer Hervorhebungen, zwecks besserer Lesbarkeit auf die Anführungszeichen verzichtet.
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„Deutschen“ und „anderen Oberschlesiern“. Sie können einzeln oder in unterschiedlichen Kombinationen kumuliert auftreten. Dabei kann aus zwei Gründen von einer Transnationalität der Netzwerke ausgegangen werden: Zum einen verschmelzen in den Netzwerken unterschiedliche lokale Kontexte, wobei der Herkunftskontext bzw. Kontakte aus der Zeit vor der Migration eine entscheidende Rolle spielen können. Zum anderen wird die lokale Netzwerkentwicklung am neuen Wohnort durch Erlebnisse der Prä-Migrationszeit beeinflusst oder durch den ständigen Vergleich zwischen verschiedenen lokalen Kontexten mitbestimmt. Die Vorstellung eines gesellschaftlichen ‚Idealzustands‘ vor 1989 prägt die Netzwerkentwicklung auch heute noch und dient als Grenzziehung zwischen einzelnen Lebenskontexten. So verschmelzen unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungen, Stereotype und daraus produzierte Sie- und Wir-Konzepte in einem Transnationalen Sozialraum. Die aktuellen Netzwerke werden entsprechend solchen imagined communities strukturiert und entwickelt. 9.2.1 Erste Abgrenzungsebene: Die fremden Polen Anknüpfend an die Diskussion um soziale Abgrenzungsprozesse in Oberschlesien bzw. die Beziehungen zwischen Oberschlesiern und Polen haben in diesem Zusammenhang gemachte Erfahrungen auch heute eine Bedeutung, wenn es um Strategien der Netzwerkentwicklung geht. Dies ist vor allem, jedoch nicht ausschließlich, bei älteren Aussiedlern zu beobachten. Konkret geht es hier um die räumliche Übertragung des regionalen Konflikts. Die Abgrenzung von Polen/„Gorolen“, aber auch die distanzierte Beziehung zum polnischen Nationalstaat können wichtige Leitlinien sozialer Differenzierungsprozesse im Zielkontext darstellen. Einige Aussiedler betonen, dass sie nach der Migration und auch heute noch, aufbauend auf ihren schlechten Erfahrungen in Oberschlesien, Kontakte zu den „Gorolen“ sowohl in Polen als auch in ihrem Wohnumfeld in Deutschland meiden. Sie argumentieren primär mit einem Mangel an Vertrauen und dem Gefühl von Fremdheit. Die Zuordnung unbekannter polenstämmiger Migranten zu einer Wiroder Sie-Gruppe und die Identifikation von „Gorolen“ erfolgt, wie auch schon im Herkunftskontext, fast ausschließlich über sprachliche Aspekte und über die Angaben zur Herkunft, wobei das Wissen um die Herkunft tiefergehender Informationen zum Gegenüber bedarf. Von der Verwendung der polnischen bzw. „hochpolnischen“7 Sprache und den Angaben zur Herkunftsstadt (außerhalb Oberschlesiens) wird auf das Attribut „polnisch“ bzw. „Gorol“ geschlossen, das dann mit stereotypbasierten sozialen Eigenschaften in Verbindung gebracht. In erster Linie findet da-
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Sehr häufig verweisen die Interviewpartner darauf, dass „Gorole“ „hochpolnisch“, also ein „reines“ und „melodisches“ Polnisch sprechen.
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mit eine Abgrenzung von Hochpolnisch sprechenden Menschen statt, die auf der Vorstellung beruht, dass solche keine „echten“ Oberschlesier sein können, obwohl durchaus reflektiert wird, dass nicht alle aus Oberschlesien migrierten Aussiedler im Dialekt sprechen müssen. Spontane Kontakte auf der Straße oder neue Bekanntschaften werden entlang dieser Differenzierung spontan mit Sympathie oder Antipathie belegt. Die in Oberschlesien bedeutsame Frage „Was wollen die hier?“ wird dabei in ihrem Raumbezug modifiziert. Früher galt sie zugezogenen Polen in Oberschlesien. Heute wird diese Frage auf polnische Migranten oder andere Aussiedler bezogen und deren Status bzw. ihr rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland angezweifelt. Jan Wawrzyczek beispielsweise stellt sich diese Frage jedes Mal, wenn er jemanden (Hoch-)Polnisch sprechen hört. Er ist mit seiner Familie 1989 nach Deutschland gekommen, weil er einerseits nicht mehr unter den politischen Gegebenheiten arbeiten und leben wollte und sich andererseits stets zu Deutschland zugehörig fühlte. Für ihn hatte die polnische Regierung alles „Deutsche“ und damit auch „Oberschlesische“ aufzulösen versucht. Verärgert zeigt er sich nun, dass Polen, die nie eine „ernste“ Verbindung zu Deutschland gehabt hätten und die finanziellen Zuweisungen der Bundesregierung ohnehin nicht zu schätzen wüssten, nun in Deutschland leben und arbeiten können. Für ihn sind eine „echte“ Überzeugung und ein „deutscher Geist“ die wichtigste Legitimierung der Migration nach Deutschland. Polen oder besser gesagt Polnisch sprechenden Personen ordnet Herr Wawrzyczek pauschal eine ablehnende Einstellung gegenüber Deutschland und eine „Ausbeutermentalität“ zu. Sie sind für ihn die damaligen Unterdrücker deutscher Elemente in Oberschlesien, die nun in Deutschland auf Kosten der Deutschen leben. Die eigene Wir-Gruppe der Oberschlesier stellt Herr Wawrzyczek gleichzeitig als die „deutschere“ dar. Sie hätte es im Gegensatz zu den Polen verdient, in Deutschland zu sein, da sie in Polen aufgrund ihrer Verbindungen zu Deutschland ohnehin ungewollt gewesen sei: Interviewer: Warum ist es anders, wenn Sie Polnisch hören? Jan Wawrzyczek: Ja ein anderes Gefühl, ne? „Warum bist du hierhin gekommen?“ [...] Die haben gar nicht dieses Gefühl, denke ich. Vielleicht tue ich ihnen Unrecht manchmal, weil der redet polnisch, aber hat eine deutsche Abstammung und spricht vielleicht super Deutsch und ist ein guter Mensch. Das weiß ich nicht. Aber, wenn ich diese Sprache höre, dann denke ich sofort: „Warum bist du hierhin gekommen?“ Du müsstest dort sein. Und wenn nicht, dann halt den Mund, rede nicht laut polnisch. Schlesisch, das geht noch. Das kann ich ertragen. Aber die Polen haben.. die reden dann laut und fühlen sich unheimlich sicher. Egal, wo die sind. Ob im Geschäft oder sonst wo, die reden immer laut. Die sind unverschämt. (ü)
Herr Wawrzyczek differenziert in seine imagined community der „echten“ Oberschlesier, zu der er seine Zugehörigkeit betont und eine Gruppe der Polen („Goro-
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le“), denen er negative Eigenschaften (Dreistigkeit, Überheblichkeit) zuschreibt, welche für ihn bereits in Polen Bestand hatten. Interessanterweise setzt Herr Wawrzyczek den Gebrauch der polnischen Sprache mit einem nicht-deutschen Status gleich, obwohl er an anderer Stelle betont, viele Kinder oberschlesischer Familien hätten in Polen den Dialekt aufgrund seines niedrigen Status verlernt und wären „Oberschlesier ohne Kenntnisse des Dialekts“. Insgesamt sind die Folgen der (räumlichen) Übertragung des regionalen Konflikts für die Netzwerkentwicklung unterschiedlich. Grob lassen sich zwei Gruppen ausmachen: In der ersten Gruppe beschreiben die Aussiedler, wie sich aus ihren Einstellungen und Erfahrungen aus dem oberschlesischen Kontext heraus auch in Deutschland Fremdheit und Distanz gegenüber Polen bzw. „Gorolen“ eingestellt hat. Dabei kristallisieren sich konkrete Vermeidungsstrategien im Alltag heraus. Die Aussiedler erzählen, wie sie „Gorolen“ aus dem Weg gehen und Kontakte entweder nicht zulassen oder auf einem flüchtigen Niveau halten. Die wiederkehrende Argumentation ist dabei, dass aufgrund eigener negativer Erfahrungen, aber auch durch das Bewusstsein für das kollektive Schicksal der Oberschlesier keine Freundschaften zu Polen entstehen könnten und beide Gruppen – Oberschlesier und Polen – auch außerhalb des polnischen Kontexts nur schwer zusammenpassen würden. Um die Differenzierung zu verdeutlichen, stützen sich einige Aussiedler auf den Kulturbegriff, der in hierarchisierender und differenzierender Form benutzt wird. Er wird zur symbolischen Grenze bei der Ausgrenzung von Polen, besonders wenn nicht richtig klar ist, worin eigentlich die Unterschiede zwischen Oberschlesiern und Polen bestehen. Frau Maria Nowak beispielsweise argumentiert vor allem mit ‚kulturellen‘ Differenzen. Sie plädiert zwar für gegenseitige Toleranz, hält jedoch Freundschaften zwischen Polen und Oberschlesiern für unmöglich. Frau Nowak grenzt die Oberschlesier essentialistisch als eigenes Volk mit eigener „Kultur“ und „besonderem Blut“ von den „Chadzajen“ (äquivalent zu „Gorole“, im Oppelner Gebiet verbreitet) ab. Die Zuordnung der Personen zu den einzelnen Gruppen erfolgt bei ihr über sprachliche Merkmale, die für sie ein Symbol der Andersartigkeit darstellen. An Frau Nowaks Aussagen kann die ‚räumliche Ungebundenheit‘ und zeitliche Persistenz des regionalen Konflikts gut verdeutlicht werden. Interessanterweise hat sie gegenüber anderen Gruppen in Deutschland (anderen Migranten oder Deutschen) eine derartige distanzierte und abweisende Haltung nicht aufgebaut: Maria Nowak: Ich erkenne das an der Sprache. Und wenn ich das schon höre, so die Sprache aus Polen, dann ist das schon kein Freund für mich. Ich kann ihm zuhören. Ich hab nichts dagegen, dass er so ist, aber mein Freund wird er nicht. Ich kann mich nicht anfreunden. Ich will nicht. Nein. [...] das sind für uns Chadzaje, einfach ein anderes Volk. Die haben eine andere Mentalität. Sie waren.. wir waren für sie Nichts. Und jetzt denke ich mir, wir waren Nichts für Euch, dann soll es auch so bleiben. Das sind für mich zwei Welten. Schlesier sind unsere
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Leute und die anderen sind Chadzaje, das sind Polen. Die haben ein anderes Blut als wir es haben. (ü)
Auch Ewald Mazur offenbart eine deutlich ablehnende Haltung gegenüber Polnisch sprechenden Menschen in seiner alltäglichen Lebenswelt und meidet von ihm als „Gorole“ eingestufte Menschen konsequent. Neue Bekanntschaften zu polenstämmigen Migranten gehen bei ihm durch einen Sprachfilter und werden durch die Frage nach der Herkunft eingeordnet: Ewald Mazur: Wenn ich schon jemanden polnisch sprechen höre [im Orig. „mówić“ für „polnisch sprechen“, Anm. M.O], dann wende ich mich direkt von dieser Person ab. Es reicht, wenn ich frage: „Weißt du, was eine Klopsztanga ist?“ Und wenn er das nicht weiß, dann „hau ab!“ [...] Als ich jetzt im Krankenhaus war, da lief einer neben mir her. Immer wieder. Und dann so „Ich bin auch.. Sie sind aus Polen?“ Ich sag: „Ja, fast! Und woher kommen Sie?“ Und er „Aus Wrocław.“ Ich denk mir „Ah, ok.“ Und ich bin abgehauen. Wenn du aus Wrocław bist. Und dann kommt so: „Ja, aber ich hab auch Papiere!“ Ich sag dann: „Ja, von den Deutschen. Erst habt ihr sie kaltgemacht und jetzt habt ihr noch ihre Papiere.“ (ü)
Ewald Mazur stützt sich in der Inklusion und Exklusion von neuen Kontakten vor allem auf sein Geschichtsbewusstsein: Er ordnet Herkunftsstädte bestimmten Kategorien („oberschlesisch“, „polnisch“) und zudem historischen Ereignissen zu.8 Sympathien und damit Inklusion werden bei Ewald Mazur zudem über einfache Differenzierungen von sprachlichen Merkmalen (Weiß derjenige oder diejenige, was der oberschlesische Begriff „Klopsztanga“ bedeutet?) und Herkunft (Oberschlesien) erzeugt. Anders als bei Jan Wawrzyczek, der ausführlich seine persönlichen Konflikte mit „Gorolen“ beschreibt, argumentiert Ewald Mazur vor allem über die kollektive Erfahrung des ‚oberschlesischen Unrechts‘. Er sieht sich selbst nicht unbedingt als Opfer des Systems, sondern knüpft an die vermeintliche Diskriminierung der Oberschlesier im Allgemeinen und die „Ausbeutung“ der Region an. Die Verantwortung für das Schicksal der Oberschlesier tragen für ihn alle „Gorole“ weiter und bewegen ihn zu seinen Vermeidungsstrategien im sozialen Umfeld. In seinem eng auf die Familie bezogenen Netzwerk treten noch einige wenige Bekannte auf (vgl. Abb. 21), die allesamt einen oberschlesischen Hintergrund haben (d.h.
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Im Fall von Wrocław (Breslau) argumentiert Herr Mazur damit, dass ein Großteil der dort lebenden deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg migriert ist (bzw. vertrieben wurde). Seinen spontanen Kontakt ordnet er infolgedessen und aufgrund des Sprachgebrauchs (hochpolnisch) als „zugezogen“ ein. Damit fällt dieser nicht in Ewald Mazurs imagined community der Oberschlesier, sondern bildet einen Teil der anderen, ungeliebten „Gorole“.
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sie sprechen vor allem im Dialekt) und ihm bereits vor der Migration bekannt waren. Neue Kontakte sind für Ewald Mazur seit der Aussiedlung kaum dazugekommen, was auch mit seiner strikten Abgrenzung im Alltag zusammenhängt. Die polnische Sprache spielt für Herrn Mazur in seinem Netzwerk keine Rolle; er betont, dass er mit wenigen Ausnahmen (Deutsch mit seinen Nachbarn) ausschließlich „po naszemu“ (= im eigenen Dialekt) kommuniziert. Sein Beharren auf alltäglichen Abgrenzungen sieht er entsprechend als „Erfolg“ an. Bei Ilse Matysek wirkt sich die ablehnende Haltung gegenüber Polen auch auf ihr Urteil über die Partnerentscheidung ihrer beiden Töchter aus. Sie erklärt zwar, sie würde sich nie in die privaten Angelegenheiten ihrer Töchter einmischen, deutet jedoch gleichzeitig an, dass sie und ihr Mann über die Entscheidung ihrer jüngsten Tochter, einen „Polok“ (= Polen) zu heiraten, wenig erfreut waren und die Kommunikation mit dem zweiten Schwiegersohn besser verlaufe, da dieser auch aus Chorzów und damit ein Gleichgesinnter sei. Hier wird besonders deutlich, dass die konstruierten sozialen Ordnungen (Oberschlesier/Pole) im gesamten Transnationalen Sozialraum wirksam werden und nicht an den Herkunftskontext gebunden sind. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Abgrenzungen zu Polen und daraus resultierende Vermeidungsstrategien nicht ausschließlich an die Erfahrungen aus der PräMigrationsphase gebunden sein müssen. Einige Aussiedler berichten davon, wie der regionale Konflikt auch im Zielkontext auflebt und erlebbar wird. Peter Piontek beispielsweise beschreibt, wie ihn ein „Pole“ an seiner Arbeitsstelle aufgefordert hat, endlich „vernünftig“ Polnisch zu lernen, was Herrn Piontek wütend machte, da er eine sprachliche Dominanz des Polnischen im deutschen Kontext für absurd hält und nach der Migration auf ein Ende der vermeintlichen sprachlichen Unterdrückung gehofft hatte: Peter Piontek: Ich hab hier eine Zeit lang gearbeitet.. Da waren dann auch so Polen. So normale Polen, Und.. da waren aber auch ein paar Schlesier. Mit denen hab ich dann schlesisch gequatscht. Und dann sagt so ein Gorol: „Könntest du nicht endlich mal vernünftig Polnisch lernen?“ (macht Polnisch übertrieben nach) Ich sag: „Du Mistkerl, hau ab!“ So kommt er mir dann. „Du kommst hierhin, du Gorol, und belehrst mich, wie ich reden soll. Ich rede besser als du, wenn du es wissen willst.“ Solche Dinge erlebt man dann. Unfassbar. (ü)
Andere Aussiedler berichten, wie sie im Rahmen größerer Feierlichkeiten oder Zusammentreffen immer noch aufgrund von Unzulänglichkeiten in der polnischen Sprache als Oberschlesier entlarvt und belächelt werden. Die oberschlesischpolnischen Spannungen werden hier auf den gesamten Transnationalen Sozialraum ausgeweitet.
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Abbildung 21: Netzwerk Ewald Mazur9
Quelle: Eigene Darstellung
Für die zweite Gruppe hat die kollektive Erfahrung des ‚oberschlesischen Unrechts‘ ebenfalls eine Bedeutung, sie steht jedoch einem durch die Migration eingeleiteten Wandel der eigenen Einstellungen gegenüber, v.a. im Hinblick auf die Netzwerkentwicklung. Zum einen macht sich eine zeitliche Komponente bemerkbar: Der regionale Konflikt und die daraus folgende Abgrenzung sozialer Gruppen werden als
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Die Ebene für NRW meint hier alle Gebiete des Bundeslandes außerhalb des Wohnstandortes (Stadt). Deutschland bezieht sich entsprechend auf das gesamte Bundesgebiet mit Ausnahme von NRW. Die Differenzierung zwischen Oberschlesien und Polen verfolgt nicht das Ziel der Regionalisierung Oberschlesiens, sondern ist notwendig, um die Bedeutung des engeren Herkunftskontextes für die Netzwerke zu bestimmen. Oberschlesien ist hier das Konstrukt aus der Sicht des jeweiligen Interviewpartners.
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veraltet und, unter den neuen Lebensumständen nach der Migration, als irrelevant angesehen. Mit dem Verblassen der Erinnerungen an die Situation in Oberschlesien setzt ein Abbau wahrgenommener und konstruierter Abgrenzungen und Vorurteile ein. Die Abgrenzung von „Gorolen“ verliert für diese Gruppe dennoch nicht ganz an Relevanz. Sie wird jedoch verstärkt für freundschaftliche Sticheleien oder als sprachlicher Konsens für kollektive Erlebnisse und Erfahrungen gebraucht. So werden auf Familienfeiern oder während sonstiger Treffen Witze über „Gorole“ erzählt und die ‚alten‘ Konflikte thematisiert. Dies geschieht jedoch auf einer humorvollen Ebene und ist vom gewohnten Handeln (z.B. in der alltäglichen Kontaktanbahnung) losgelöst. Martin Hirsch aus Bonn beschreibt, wie aus dem „Gorol“-Begriff als Abgrenzungskategorie und Schimpfwort ein scherzhafter Begriff geworden ist. Für ihn hat er auch seine semantische Basis verloren: nämlich die Abgrenzung von Polen und Oberschlesiern. Vielmehr sei dieser Begriff nun eine Anspielung auf eine stereotypenbasierte Andersartigkeit, die jedoch universell einsetzbar ist: Martin Hirsch: Also früher war es halt wirklich ein abwertendes Schimpfwort, nich? Mittlerweile ist es teilweise schon als Scherz, nich? Selbst mein Bruder.. sag ich manchmal, wenn er mich ärgern will: „Du bist der größte Gorol, den es gibt!“ nich? Und dann lacht er. Aber wie gesagt, vieles, vieles hat sich bei mir so sag ich mal.. ist milder. [...] Und wenn ich jetzt nach Hindenburg fahre, ich habe keine Verwandten oder sowas, aber ich hab sehr gute Freunde, und das sind alles Polen, nich? Und dann scherzen wir auch schon mal, nach dem zweiten oder dritten Bier, da sag ich ihm: „Andrzej du Gorol“ und so weiter, nich? Und dann sagt er mir: „Du Hanys“ und so weiter. Aber das ist jetzt nich so irgendwann bösartig oder so das ist eher so scherzhaft gemeint, nich? [...] Also der Begriff als solcher ist geblieben, aber diese starke Abgrenzung und ne gewisse Abneigung gegenüber der Person, bei dem man diesen Begriff benutzt, ist bei mir jedenfalls nicht mehr gegeben wie früher. Früher war es ein Gorol also.. brauchste dich nicht lange mit ihm zu unterhalten. [...] Mittlerweile ist es eher so als Scherz gedacht. Aber ein Gorol kann auch ein Netter sein. Es gibt noch den Ausdruck, den hab ich jetzt auch kennen gelernt. Oswojone Gorol. Also gezähmter Gorol oder sowas.
Doch auch eine räumliche Komponente hat Einfluss auf die veränderte Einstellung zur Differenzierung von Oberschlesiern und Polen, indem die Migrationserfahrung zur Wahrnehmung einer neuen Minderheitenrolle aller polenstämmigen Migranten führt. Hierdurch verändern sich individuelle Konstrukte von ‚Wir‘ und ‚Sie‘. Die Wir-Gruppen werden häufig auf alle polenstämmigen Migranten ausgeweitet, wobei vor allem, wie bei Johanna Jasko im folgenden Zitat deutlich wird, argumentiert wird, dass auf der Suche nach dem Eigenen und Bekannten regionale Differenzierungen nun keine Rolle mehr spielen könnten. Vielmehr erhalte das in Oberschlesien als anders wahrgenommene „Polnisch“ nun eine vertrautere Komponente:
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Johanna Jasko: Ich denke, hier ist alles auf einem Haufen und dann sucht man nur.. wenigstens ein bisschen von dem Eigenen. Das differenzierst du nicht mehr so. Das war vielleicht früher. (ü)
Besonders unmittelbar nach der Aussiedlung ist bei einigen Aussiedlern diese Verschmelzung einstig getrennter Wir- und Sie-Gruppen zu einer imagined community eingetreten. Hier standen alle polenstämmigen Aussiedler vor ähnlichen Problemen und Herausforderungen, die dann als Gemeinsamkeiten interpretiert wurden. Die einstigen sprachlichen Differenzierungen verloren an Bedeutung, weil die polnische Sprache nun dem Dialekt näher stand als die deutsche Sprache. Dies führte wiederum zum Verblassen wahrgenommener Unterschiede und Stereotype. Jan Bula etwa, der in Oberschlesien noch eine deutliche Distanz zu den „Gorolen“ empfand, sieht sein Netzwerk nach der Migration vor neue Bedingungen gestellt. Seine Einstellung wird daher stark durch eine Raum-Zeit-Komponente differenziert. Für die Prä-Migrationszeit berichtet Herr Bula noch von Abneigung gegenüber den „Gorolen“ und greift hierbei auf die bereits erläuterten Stereotype zurück. Im Hinblick auf sein aktuelles Netzwerk plädiert er für Toleranz („są ludzie i ludziska“/„Es gibt solche und solche“) und betont seine guten Kontakte zu Polen in seinem nahen Wohnumfeld – übrigens auch aufgrund schlechter Erfahrungen mit anderen oberschlesienstämmigen Aussiedlern. Während er sich von anderen Oberschlesiern zeitweise im Stich gelassen fühlte, zählt er einige „Gorole“ nun zu guten Freunden. In seinem Netzwerk, das nur aus wenigen Familienangehörigen und Freunden besteht, zeigt sich, dass Nicht-Oberschlesier eine wichtige Rolle spielen. Die Bezeichnung „Gorol“ verliert daher auch für Herrn Bula ihre Bedeutung: Jan Bula: Ich hab viele. Der Andrzej ist aus Krakau. Ein Zbygniew. Der ist auch aus Krakau. Aus Nowa Huta. Dann.. so ein Edmund aus Wrocław. Ich sag zu ihm: „Du Gorol“. Und er sagt „Hanys“ zu mir. Aus Spaß. So locker. Wir sind nicht böse (lacht). Weil.. das ist normal. Ich hab viele. [...] Ich sag Ihnen, der Schlesier ist neidischer als der Pole. Manchmal habe ich lieber zwei Gorole statt einem Schlesier. Wenn ich da so einen Schlesier hab, der gerne stichelt. Weil davon gibt es viele, die so gerne sticheln (betont). Und mit den Gorolen hab ich keine Probleme. Weil hier sind die Gorole irgendwie anders. Hier sind die nicht so fies wie in Polen. Weil als die so aus dem Osten nach Schlesien kamen. Na ja, das weißt du, so ein Gorol aus dem Osten. (ü)
Ähnlich wie Martin Hirsch nutzt Jan Bula den Begriff „Gorol“ trotzdem zur Differenzierung bzw. Strukturierung seines sozialen Umfelds. „Gorol“ hat hierbei für Jan Bula verschiedene kontextspezifische Bedeutungen. Im polnischen Prä-Migrationskontext ist er vor allem negativ konnotiert und steht für die „Belagerer“ Oberschlesiens. Im deutschen Kontext reduziert ihn Herr Bula auf sprachliche Merkmale und
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verwendet ihn um genauere Herkunftsangaben zu machen; der Begriff verliert sein Konfliktpotential. Dieses Phänomen tritt vor allem auch bei den jüngeren Aussiedlern, die im Kindes- und Jugendlichenalter nach Deutschland migriert sind, in Erscheinung. Wie bereits erläutert, haben diese oftmals eine andere Einstellung zur Regionalisierungsdebatte als die Elterngeneration, was nicht heißen muss, dass Oberschlesien zwangsläufig keine Bedeutung für ihre Lebenswelten hat. Allerdings distanzieren sich jüngere Aussiedler in der Regel vom polnisch-oberschlesischen Konflikt und können seltener nachvollziehen, wie auf Basis vergangener bzw. historischer Ereignisse auch heute noch Vorurteile und ablehnende Haltungen bestehen können. Sie haben in der Regel selbst auch Bekannte in ihren Netzwerken, die aus anderen polnischen Gebieten stammen. Entsprechend schildern sie eine andere Wahrnehmung und Bewertung hinsichtlich der polnischen Sprache, des Dialekts oder der Herkunftsorte. Sie sehen die Überbetonung der Herkunftsregion ‚Oberschlesien‘ kritisch. Eine solche Entwicklung ist z.B. bei Martin Kluczek zu beobachten, der über sein lokales, zunächst familiäres Netzwerk in Oberschlesien kontinuierlich ein polenweites Netzwerk aufgebaut hat. Ähnlich ist es bei Johanna Jasko, die über dieses Thema oftmals in eine Meinungsverschiedenheit mit ihren Eltern gerät: Vor allem für ihren Vater spielt die Differenzierung in „Gorole“ und „Ślonzoki“10 eine große Rolle. Johanna Jasko distanziert sich deutlich von den Einstellungen ihres Vaters, auch wenn sie Verständnis für die Problematik hat. Für sie ist der regionale Konflikt eine Angelegenheit der Elterngeneration. Sie selbst sieht eine antipolnische Haltung verbunden mit einem starken Beharren auf dem Diskurs des ‚oberschlesischen Unrechts‘ als nicht zeitgemäß an: Johanna Jasko: Papa hat immer gesagt, dass es in Polen nix Gutes gibt. Weil die hatten immer Hass gegenüber Schlesien. Also die Polen. Da gab es zwischen denen immer so was. Dass das ein Gorol ist. Oder der ein Gorol ist. Und in der Arbeit und so. Für uns gibt es sowas nicht mehr. Wir haben das nicht mehr. Wir haben Bekannte, die polnisch sprechen und auch welche, die schlesisch sprechen. Es gibt da keinen, wenn wir uns treffen, keinen Kampf oder so. Das gibt es nicht. Wir kommen mit allen klar, wenn die Leute in Ordnung sind. Interviewer: Und bei deinen Eltern? Johanna Jasko: Mich nervt das. Manchmal. Weil ich mir denke, es gibt solche und solche Menschen. Und Schlesier sind so wie Polen. Es gibt gute und schlechte Seiten. Mich nervt das, weiß nicht. (ü)
10 Im Dialekt entspricht „Ślonzoki“ dem deutschen Wort „Schlesier“, kann sich jedoch auch explizit auf Oberschlesien beziehen. Hier wurde eine der Aussprache der Interviewpartner entsprechende Verschriftlichung gewählt.
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Johanna Jasko, die in ihrem Wohnzimmer die polnische Nationalflagge aufgehängt hat, sieht in ihrem Netzwerk alle polnischsprachigen Migranten und ihre Familie in Polen als wichtige Bezugspunkte an. Parallel fühlt sie sich sehr stark an ihre Herkunftsregion, also ihr Oberschlesien, gebunden und sieht sich selbst als „Ślonzoczka“ (= Schlesierin), die familiäre und regionale Traditionen bewahren und an die Kinder weitergeben möchte. Ihr Netzwerk beschreibt sie daher an anderer Stelle auch als stark durch die „Ihren“ geprägt und bezieht sich hiermit explizit auf Oberschlesien. Dennoch bleiben die Polen im Allgemeinen ihr wichtigster sozialer Anknüpfungspunkt in Deutschland, weil sie außerhalb des polnischen Kontextes eine regionale Differenzierung als unnötig empfindet. Vielmehr sieht sie alle polenstämmigen Migranten – auch beeinflusst durch ihre eher distanzierte Beziehung zu den Deutschen – vereint in einer homogenen Gruppe, die sich mal mehr und mal weniger in Tradition und Sprache ausdifferenziert. Für Johanna Jasko fließen nationale und regionale Bezugskategorien zusammen. Obwohl sie selbst vor allem im Dialekt spricht und selbst große Defizite in ihrem Polnisch sieht, möchte sie beispielsweise ihre beiden Kinder vor allem in der polnischen Sprache erziehen. Es ist jedoch zu beobachten, dass auch jüngere Aussiedler ihre Netzwerke unter Berücksichtigung oberschlesischer/polnischer Kategorien strukturieren, wobei wiederum sprachliche Aspekte zum Tragen kommen. In diesem Fall werden oberschlesische Kontakte grundsätzlich als „näher“ oder „wichtiger“ empfunden, obwohl die Ansicht vertreten wird, dass die Herkunft bei der Netzwerkentwicklung keine Rolle spielt. Dies lässt sich beispielsweise bei Alexandra Hurdalek (1974 geb. und 1989 migriert) beobachten. Spontane neue Kontakte, die sie vor allem im Rahmen ihrer Tätigkeit in der sozialpädagogischen Familienhilfe macht, teilt sie hinsichtlich sprachlicher Merkmale ein und empfindet verschiedene emotionale Reaktionen: Alexandra Hurdalek: Ich betreue da so eine Familie aus Polen. Eine war aus Schlesien, eine aus.. jetzt hab ich eine Familie.. weiß gar nicht woher. Aber die reden echtes Polnisch. Das hört sich dann doch irgendwie anders an für mich. Das heißt, man macht doch irgendwie.. das läuft aber unbewusst ab bei mir. (ü)
Ähnlich ist es auch bei Anja Klinz, die mit zwölf Jahren im Jahr 1989 aus Olesno nach Unna migriert ist. Sie betont zwar, dass die automatische Differenzierung polenstämmiger Migranten anhand sprachlicher Merkmale wertfrei sei. Am Netzwerk von Frau Klinz (vgl. Abb. 22) wird jedoch deutlich, dass ihre „wichtigen“ Kontakte fast ausschließlich Personen mit einem oberschlesischen Hintergrund sind. Folglich hat der Dialekt eine sehr wichtige Stellung in ihrer alltäglichen Lebenswelt, da er die grundlegende Kommunikationsbasis darstellt und Familien- sowie Bekanntenkreise durchdringt. In der Reflexion ihres Netzwerks kommt Frau Klinz schließlich zu der Erkenntnis, dass es mit Oberschlesiern „doch irgendwie anders und vertrauter sei“.
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Abbildung 22: Netzwerk Anja Klinz
Quelle: Eigene Darstellung
Ferner gibt es unter den jüngeren Aussiedlern auch Fälle einer hohen Alltagsrelevanz der Diskussion um „Gorole“, die sich auch in Netzwerkstrategien ausdrückt. Dies ist vor allem bei Thomas Krawczyk zu beobachten. Seine Erfahrung von eigener Andersartigkeit und der Distanz zu Polen als Nationalstaat und sozialer Gruppe bestimmen seine Wahrnehmung von sozialen Interaktionen in hohem Maße. Thomas Krawczyks Abgrenzungen zu den „Gorolen“ basieren primär auf sprachlichen Merkmalen, die er mit sozialen Bedeutungen kombiniert. Polnisch sprechende Personen ordnet er der Kategorie „nicht-oberschlesisch“ zu und damit einer Vielzahl sozialer, zumeist negativer Attribute wie Übermut, Arroganz und übermäßigen Patriotismus. Seiner Meinung hätten Nicht-Oberschlesier bzw. Polen den Status als Aussiedler in Deutschland nicht erhalten dürfen, da sie überwiegend eine antideutsche Grundeinstellung aufwiesen. „Typische“ Polen in Deutschland assoziiert er mit Undankbarkeit in Bezug auf ihre privilegierte Position in Deutschland. Sie ver-
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hielten sich seiner Meinung nach „extrem patriotisch“ gegenüber ihrem Herkunftsland und seien nicht mit einem „deutschen Geist“, den er bei seiner Familie immer wieder betont, migriert. Auswirkungen dieser Wahrnehmung und Konstruktion von imagined communities sind bei Thomas Krawczyk alltäglich: Er arbeitet als Berufsbetreuer und deutet an, dass ihn seine Vorbehalte gegenüber Polen in seinen (beruflichen) sozialen Interaktionen beeinflussen: Interviewer: Aber sagen wir mal, wenn du jetzt jemanden Polnisch sprechen hörst. Thomas Krawczyk: Krieg´ ich einen Anfall. Ja. Ja. Also ich hab die Betreuungen. Ich hab zwei, die kommen nicht aus Schlesien, die sind typische Polen, ich weiß nicht, wie die hierhergekommen sind. Ich hab da totale Schwierigkeiten mit, darf ich gar nicht laut sagen beim Gericht oder sonst wo, sonst gibt’s Theater. Aber das ist, weiß ich nicht. Da ist die Mentalität anders, da ist alles anders. Da kann ich nix mit anfangen. Also dann hab ich lieber einen asozialen Deutschen hier, der irgendwie seinen Schnaps da säuft unten. Ganz andere Geschichte.
Thomas Krawczyks Polenbild hat viel mit der Reflexion des ‚oberschlesischen Unrechts‘ zu tun, für das er vor allem durch die Gespräche mit seinem Vater sensibilisiert wurde. In Deutschland sieht er seine Einstellung und das Stereotyp ‚des Polen‘ immer wieder bestätigt. Als Beispiel führt er die polnischen Nachbarn seiner Eltern an, die für ihn genau diesem Stereotyp entsprechen. Nach seiner Ansicht sind sie Gutverdiener und hätten einen hohen Lebensstandard in Deutschland erreicht. Trotzdem würden sie stets ihr Herkunftsland glorifizieren und ihre Urlaube ausschließlich dort verbringen, was dazu führe, dass sie ihr in Deutschland verdientes Geld in Polen ausgeben würden. Für Thomas Krawczyk besitzt dieses Ehepaar eine regelrechte Abneigung gegenüber Deutschland, weil sie die meisten Produkte in Polen oder in polnischen Geschäften kaufen und ihr Herkunftsland systematisch über ihren jetzigen Wohnort und Deutschland stellen. Für dieses Handeln zeigt Thomas Krawczyk Unverständnis. Es wird deutlich, dass für ihn vor allem die Einstellung gegenüber Deutschland zu einem entscheidenden Kriterium und damit zu einem Anspruch an Freunde und Bekannte wird. So haben Herr Krawczyk und seine Frau Kontakt zu einem polnischen (= nicht oberschlesischen) Ehepaar, das Thomas Krawczyk aus der Sie-Gruppe der „Gorolen“ herausnimmt, weil es seiner Meinung nach nicht zu den „typischen“ Polen gehört. Die Bedingung für die Inklusion polenstämmiger Migranten in seinem Netzwerk ist offensichtlich die vermeintlich deutsche Erziehung der Kinder und ein „pro-deutsches“ Denken: Thomas Krawczyk: Also mein Vater hat solche Nachbarn. Die leben hier jahrelang als Bauingenieure bei der Stadtverwaltung angestellt. Für irgendwelche Bereiche da. Das ist unglaublich. Wenn die die Grenze überschritten haben, dann merken die die schlechtere Luft in Deutschland. Die Milch schmeckt anders und das Fleisch schmeckt anders. Und dies kannst du nicht machen und das. Das verbind´ ich wahrscheinlich mit diesem Hochpolnischen,
230 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT schätz ich mal einfach. Ich hab mir da noch nie Gedanken drüber gemacht. Aber das hat mich schon in Polen gestört. Weil die uns das immer verboten haben und hier stört mich das, glaube ich, weil die eben hier [...] andersrum. Wer darf denn hier in Deutschland dauerhaft leben, der Polnisch spricht? Das ist eigentlich jemand, der deutsche Abstammung hat, muss eigentlich. Weil es gibt doch keine Asylanten mehr. Das heißt also, das nervt mich, glaub ich. Weil die diese Idee nicht mehr hatten. [...] Aber es gibt auch Bekannte, die sprechen auch hochpolnisch. Das stört mich nicht, weil ich die kenne und weil ich weiß, dass die anders denken, als dieser typische Pole. Ja? Also die sind sehr, sehr pro-deutsch sag ich mal. Die erziehen auch die Kinder auf Deutsch und so Geschichten. Und die sprechen aber auch perfektes Hochpolnisch. Ja.
Ein interessanter Ausnahmefall ist der sechzehnjährige Matthias Iciek. Er beschreibt während des Interviews sehr lebhaft seinen Konflikt mit den „Gorolen“, den er seiner Ansicht nach als „Ślonzok“ zwangsläufig austragen muss. Zu seinem Hintergrund: Matthias Iciek ist nicht in Polen, sondern 1995 in Deutschland geboren. Er ist das jüngste Kind einer fünfköpfigen Familie, die 1989 aus Oberschlesien nach Deutschland ausgesiedelt ist. Matthias Iciek erschien zum Interview in einem gelb-blauen Oberschlesien-Shirt und sieht sich selbst als Oberschlesier. Seine starke Verbundenheit zu Oberschlesien, die vor allem in den letzten Jahren entstanden ist, führt er auf Besuche in der Herkunftsstadt seiner Familie und die Erziehung seines Vaters zurück. Er erklärt, er habe in Oberschlesien seine eigentliche „Heimat“ kennen- und die Besonderheit der Oberschlesier schätzen gelernt. Vor allem über die Beziehung zu seinem Vater und dessen Bemühen, seine Zugehörigkeit zu Oberschlesien weiterzugeben, hat Matthias Iciek ein wachsendes Interesse für die Geschichte seiner Familie entwickelt. Seine „oberschlesische“ Erziehung sieht Matthias Iciek vor allem in der Weitergabe des Dialekts und historischer Fakten sowie in der alltäglichen Diskussion von Oberschlesien. Er beschreibt sich selbst als angesteckt von der „oberschlesischen Euphorie“ seines Vaters und findet Gefallen daran zu dieser Gruppe der „stolzen Oberschlesier“ dazuzugehören. Er hört Rapmusik im oberschlesischen Dialekt, interessiert sich für oberschlesische Sportvereine und beschreibt das Essen, die ausgeprägte Religiösität und vor allem den Dialekt als Anker seiner „oberschlesischen Kultur“. Freude bereitet es ihm vor allem, sich mit seiner Heimat aus historischer Perspektive zu beschäftigen. Erkennbar ist bei Matthias Iciek ein starkes Geschichtsbewusstsein, das auf den Erzählungen des Vaters, aber auch eigenen Recherchen im Internet basiert. Per Smartphone zeigt Matthias Iciek stolz die Oberschlesienflagge, die in seinem Zimmer hängt (Abb. 23) und einen Aufkleber, den er in einem Freizeitpark entdeckt hat. Letzterer stellt eine Zeche in Oberschlesien und das oberschlesische Wappen dar. Für Matthias Iciek sind dies Zeichen für das Bestehen einer imaginierten Gemeinschaft von Oberschlesiern außerhalb Oberschlesiens:
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Matthias Iciek: Und ich war letztens im Phantasialand, da war ein Sticker bei einer Achterbahn. Da stand drauf: „Erzogen mit schlesischen Traditionen". Ja. Ich war richtig voller Freude, dass ich da so was gefunden hab. Hab ich hier abfotografiert. Denkste Schlesien ist schon längst tot, aber dann blüht es doch wieder auf. Das sind so Kleinigkeiten. Aber finde ich gut.
Abbildung 23: Oberschlesienflagge im Zimmer von Matthias Iciek
Quelle: Aufgenommen und zur Verfügung gestellt von Matthias Iciek
Seine Zugehörigkeit zu Oberschlesien interpretiert er als alltäglich wirksame Andersartigkeit. Aus dem Bewusstsein heraus, zu einer „anderen Kultur“ zu gehören, ergibt sich für ihn in seinem lokalen Umfeld ein Alleinstellungsmerkmal. Es bereitet ihm Freude, andere „unwissende“ Mitschüler über seine Heimat aufzuklären und seine interkulturellen Kompetenzen zu beweisen. Das „kulturelle Paket“ zu tragen und diesem gerecht zu werden, sieht er zudem als Schicksal an. Durch die Herkunft seiner Familie fühlt er sich verpflichtet, auch die Teile des „kulturellen Paketes“ zu tragen, die er als wenig attraktiv bezeichnet. Oberschlesien liegt ihm, wie er sagt, im Blut, weshalb Oberschlesier-Sein für ihn letztlich nicht auf einer Entscheidung beruht, sondern einen zwangsläufigen Charakter besitzt: Matthias Iciek: Also ich finds schön, also andere Leute sehen da vielleicht blöde Häuser, hässlich. Ich hab selber mal gedacht „Scheiß Hochhäuser“, ganz kaputt alles. Da war ich noch dieser Anti-Pole, wollte nix davon wissen. [...] Ja und irgendwann durch dieses Armband, was ich gekauft hab von Oberschlesien, die erste Sache, dann kam das so langsam. Das ist Kultur, das ist unsere Heimat, das muss man so hinnehmen wie es ist. [...] Ich wurde so erzogen mit der schlesischen Sprache und ich bin auch Fan von Ruch Chorzów, ein richtig schlesischer Verein. Und dann bist du auch schon Schlesier von der Mentalität.
Durch das Tragen des „kulturellen Paketes“ fühlt sich Matthias Iciek auch dazu verpflichtet, seine Abgrenzung zu den „Gorolen“ zu betonen. Matthias Iciek benutzt den Begriff „Gorol“ im Interviewverlauf häufig und abwertend. Er verbindet damit
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vor allem den Rest Polens, der nicht zu Oberschlesien dazugehört und eine „andere“ soziale Gruppe, mit der er aus oberschlesischer Perspektive nur wenige Gemeinsamkeiten sieht. Matthias Iciek fühlt sich dazu verpflichtet, das kollektive Schicksal der Oberschlesier zu reflektieren. Diese Reflexion gehört für ihn, genauso wie das Abgrenzen der Region vom übrigen Polen, fest zu seinem OberschlesierSein dazu. Letzteres schlägt sich auch in seiner Wahrnehmung von sozialen Interaktionen nieder. In diesem Zusammenhang berichtet Matthias Iciek von einer Familienfeier: Matthias Iciek: Wir waren da und wir haben da Gorole gehabt, Gäste ne? Und die waren, wie die gesungen11 haben. Ich saß da mit meiner Schwester. [...] Und wir haben da geredet. Und da war ich auch schon so radikal. Gorole, ne? Scheiß Gorole. Ja. Ich bin schlimm. Was sowas angeht, bin ich schlimm. Wir saßen da in so einem Kreis, und meine Schwester, ich saß auf so einem kleinen Hocker, meine Schwester über mir. Die guckt zu mir runter, wo die gerade so gesungen haben. Die guckt so runter, ich guck so hoch. Und die sagt so: „Gorole“ (leise). Und ich voll am lachen. „Ich weiß, was du denkst“. Ja.
Auch innerhalb der engeren Familie beschreibt er kleinere Spannungen, die er auf die Beziehungen zwischen Oberschlesiern und „Gorolen“ zurückführt. Zu seinem Schwager, der zwar in Oberschlesien geboren ist, aber nach Matthias Icieks Meinung kein Oberschlesier ist, weil er nicht im Dialekt spricht, beschreibt er ein angespanntes Verhältnis. Er führt dies auf den Status seines Schwagers als „Pole“ und die Geschichte seiner Familie zurück. Seinem Schwager attestiert er eine „polnische Mentalität“, während er die Beziehung zum Lebenspartner seiner jüngeren Schwester als positiv wahrnimmt, da dieser eben auch überzeugter Oberschlesier sei. Matthias Iciek: Ne, mit dem kommt eigentlich keiner zurecht. Womit kann das zusammenhängen? Der ist kein Schlesier. Der ist in Schlesien geboren. Seine Mutter ist aus Schlesien, aber die wollte nicht, dass die schlesisch reden. Der Vater kam wieder aus der Ecke von Toruń. Der ist wegen der Arbeit in der Zeche gekommen. Wie alle Gorole.
9.2.2 Zweite Abgrenzungsebene: Die fremden Deutschen Die Reflexion gesellschaftlicher Strukturen in Polen/Oberschlesien führt zu einem weiteren Phänomen sozialer Abgrenzung im Zielkontext. Die favorisierten und als ‚normal‘ empfundenen Normen und Werte in Bezug auf den Aspekt der sozialen
11 „Śpiewać“ (poln.= singen) wird des Öfteren von Interviewpartnern abfällig als Synonym für „(hoch-)polnisch sprechen“ verwendet. Es soll den („übertriebenen“) melodischen Klang des Polnischen ausdrücken.
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Kohäsion und Interaktion stehen häufig nicht in Einklang mit den wahrgenommenen Strukturen im Wohnumfeld. Die Art des Zusammenlebens in Deutschland wird aus der Perspektive der Aussiedler häufig als „fremd“ und „anders“ gesehen und mit einer vermeintlich „typisch deutschen“ Art gleichgesetzt. Die wahrgenommene Andersartigkeit führt derweilen zu Barrieren in der Netzwerkentwicklung und letztlich dazu, dass in den Netzwerken der Aussiedler mit wenigen Ausnahmen kaum Deutsche oder Zugehörige anderer Nationalitäten zu den engeren Freunden bzw. wichtigsten Bezugspersonen gehören. Auch wenn ein Teil der Aussiedler durchaus Freundschaften knüpfen und das Netzwerk in Deutschland erweitern konnte, beschreiben auffällig viele Aussiedler auch nach zwanzig bis dreißig Jahren Aufenthalt in Deutschland ein Distanzgefühl, Barrieren und teilweise eine Parallelität von Freundes- und Bekanntenkreisen, wobei in polnische/oberschlesische und deutsche Netzwerkteile differenziert wird. Mit Blick auf die Einbindung im lokalen Umfeld und die Beziehungen zu den Deutschen kommt es daher zu einer weiteren Form von transnationalen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozessen. Aus der gefühlten Distanz zur vermeintlich „typisch deutschen“ Art sozialer Interaktion darf jedoch nicht unbedingt auf ein Gefühl von Ausgeschlossenheit, Diskriminierung oder eine verwehrte gesellschaftliche Partizipation geschlossen werden. Vielmehr ergibt sich eine Parallelität individueller Handlungskontexte: Arbeitskollegen, Lehrer der Kinder oder Nachbarn werden häufig als „nett“ beschrieben bzw. es wird betont, dass es keine Schwierigkeiten im Zusammenleben bzw. in der Zusammenarbeit mit diesen deutschen Kontakten gibt. Allerdings entstehen aus diesen Beziehungen selten Freundschaften oder intensivere Bekanntschaften. Der Grund hierfür liegt im ständigen Vergleich dieser deutschen Kontakte mit bestehenden polnischen/oberschlesischen Kontakten. Aus dem Vergleich sozialer Interaktionsmuster entwickeln viele Aussiedler ein eher negatives Bild des „Deutschen“, was die Motivation für neue Kontaktanbahnungen beeinflusst. Kontakte zu Deutschen werden als nützlich, nett und unproblematisch beschrieben, jedoch wird ihnen eine nachrangige Bedeutung zugewiesen. Das frühere Zusammenleben in Polen/Oberschlesien als konservierte positive Grundstimmung, das in dem Raumkonstrukt eines Oberschlesiens als „sozialen Paradieses“ mündet, steht dabei dem Bild eines zwar hilfsbereiten und netten, aber dennoch kühlen, humorlosen und distanzierten Deutschen gegenüber. Über die Kontakte zu Deutschen zeigen sich die Aussiedler z.T. ernüchtert – und das unabhängig von Alter und Aufenthaltsdauer im Zielkontext. Häufigere und intensivere Kontakte zu Deutschen wurden vor allem in der Anfangsphase nach der Migration geknüpft. Dies gilt sowohl für die personifizierte institutionelle Hilfe in den Aussiedlerlagern und Zielstädten als auch für die Hilfe von neuen Nachbarn oder anderen Bekannten (Pfarrer in der neuen Gemeinde, Kontakte in Behörden oder Hilfswerken) in der Orientierungsphase. Letztere haben bei der Suche nach Arbeit geholfen, Möbel verschenkt oder bei bürokratischen Angelegen-
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heiten geholfen. In diesem Sinne ist das Bild des Deutschen das eines hilfsbereiten und toleranten Gastgebers, dessen Hilfe im Großen (Aufnahme durch den Staat) und Kleinen (z.B. Hilfe durch Nachbarn) geschätzt wird. Diese positive Reflexion der Anfangszeit schließt auch die Zeit in den Aussiedlerlagern ein, obwohl diese Zeit für Entbehrung stand. Diese Erfahrungen hatten jedoch langfristig anscheinend kaum Auswirkungen auf die weitere Netzwerkentwicklung. Deutsche Freunde spielen in den Netzwerkkarten der Aussiedler kaum eine nennenswerte Rolle. Über die Hilfsbereitschaft und ein paar Bekanntschaften hinaus haben sich nur bei einem kleinen Teil der interviewten Aussiedler Freundschaften und intensivere Kontakte ergeben. Häufiger erwähnt werden Nachbarn und Arbeitskollegen, zu denen mehr oder weniger zwangsläufig Beziehungen – und hier meistens positiver Art – aufgebaut wurden, wie beispielsweise im Netzwerk von Paul Kudela deutlich wird (Abb. 24). Herr Kudela, der 1976 im Alter von 26 Jahren aus Kędzierzyn-Koźle nach Mönchengladbach migriert ist, sieht seine Arbeitskollegen und Nachbarn als gute Kontakte an, grenzt diese jedoch gleichzeitig von seinen besten Freunden (oberschlesisch), seiner Lebensgefährtin (oberschlesisch) und der Familie ab, denen er eine deutlich bedeutendere Stellung innerhalb des Netzwerks zuweist. Es kommt zu einer Hierarchisierung des Netzwerks, obwohl Herr Kudela bereits deutlich über 30 Jahre in Deutschland lebt. Eine Abgrenzung der deutschen Kontakte von „echten“ und „engen“ Freundschaften verdeutlicht auch das folgende Zitat von Alexandra Hurdalek, die ihre deutschen Bekanntschaften im Umfeld ihres Arbeitsplatzes bewusst von der Gruppe der „Freunde“ trennt: Alexandra Hurdalek: Zum Beispiel mit meinen Arbeitskolleginnen. Ich komme mit denen sehr, sehr gut zurecht. Wir treffen uns auch regelmäßig. Nicht nur irgendein Stammtisch in der Kneipe, sondern auch richtig zuhause. Und dann ist das wirklich herzlich. Aber dass ich irgendeine deutsche Freundin hätte? Ich hab keine deutsche Freundin.[...] Ich denke, die Mentalität ist eine andere. Zum Beispiel (überlegt) ich kann das nicht in Worte fassen. Mit den Arbeitskolleginnen, ich weiß ich kann denen alles sagen. Aber ich hab keine deutsche Freundin. Ich hab nur Freundinnen aus Polen oder Schlesien. (ü)
Wie viele andere Aussiedler, argumentiert Alexandra Hurdalek mit Mentalitätsunterschieden bzw. einer ‚kulturellen‘ Andersartigkeit. Diese Mentalitätsunterschiede werden häufig aus einer essentialistischen Perspektive als gegeben angesehen („Die Deutschen sind zwangsläufig so“) und in hierarchisierender Weise interpretiert („Wir machen es besser“). Konkret werden die Unterschiede in einer vermeintlich unterschiedlichen Vorstellung von zwischenmenschlicher Interaktion und den Sprachbarrieren gesehen: Mit Deutschen ließe es sich zwar gut zusammenarbeiten, sie seien jedoch für gegenseitige Besuche oder einen intensiveren Kontakt nicht zu begeistern bzw. lebten für sich.
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Abbildung 24: Netzwerk Paul Kudela
Quelle: Eigene Darstellung
Obwohl die Situation insgesamt nicht zu Unzufriedenheit oder dem Gefühl der Exklusion führen muss, zeigen sich einige Interviewte dennoch ernüchtert von ihrer Beziehung zu den Deutschen; insbesondere dann, wenn ‚Integration‘ und die damit verknüpfte Zugehörigkeit zu den Deutschen ein Ziel der Aussiedlung war. Besonders deutlich wird dies beim Ehepaar Feldmann. Zahlreiche Versuche, Kontakte im deutschen Umfeld zu knüpfen, sehen sie als gescheitert an. Auch wenn beide ein paar Bekannte finden konnten, zeigen sie sich vor allem durch den Vergleich ihres alten Netzwerks in Polen mit dem heutigen Freundschaftskreis unzufrieden. Über ein nachbarschaftliches Hilfsnetzwerk hinaus haben sie keine Freundschaften knüpfen können. Frau und Herr Feldmann halten vor allem Kontakt zu Freunden in Oberschlesien und zu ebenfalls ausgesiedelten Freuden und Bekannten, die in Deutschland verstreut sind. In Bezug auf die Kontakte zu Deutschen argumentieren beide mit Andersartigkeit und Mentalitätsunterschieden:
236 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Sofie Feldmann: Ich fahre heute noch zu meiner Firma, zu meinen Arbeitskolleginnen, die besuchen, die dort noch arbeiten. Oder die Männer, mit denen ich gearbeitet habe, die noch da sind. Aber nicht so ein Kontakt, dass wir uns gegenseitig besuchen zuhause. Die sind anders, ich bin auch anders. Und ich.. mit Gewalt versuch ich das nicht zu machen. Und.. ich versteh mich ganz gut, und ich hab keine Probleme damit.
Herr Feldmann betont, dass sich beide stark bemüht hätten, Kontakte zu knüpfen und die gefühlten Barrieren zu durchschreiten. Dass es mit den Deutschen trotzdem nicht funktioniert hat, führt er zum einen darauf zurück, dass es nach der Migration und im fortgeschrittenen Alter schwierig war, Anschluss an bestehende Netzwerke zu erhalten, zum anderen problematisiert er die „neuen“ gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Vor allem durch den allgemeinen hohen Wohlstand in der Gesellschaft nehme die Notwendigkeit intensiver Kontakte ab. Die Situation in Polen vor der Migration mit Blick auf das soziale Miteinander (häufige, spontane und intensive Kontakte), die er im Übrigen als „normal“ und „richtig“ ansieht, vermisst er bei den Deutschen. Das soziale Miteinander in Polen sehen Herr und Frau Feldmann gebunden an die intensive Tauschwirtschaft und Lebensmittelknappheit vor 1989. Beide deuten an, dass das „soziale Paradies“ nun auch in Polen durch neue gesellschaftliche Entwicklungen verloren geht: Richard Feldmann: Wobei wir haben schon versucht, uns hier zu integrieren. Wir sind auf die Leute auch zugegangen. Wir haben hier einen sehr guten Kontakt gehabt, zum Beispiel zu einem Arzt, der hier gewohnt hat. Wobei im Alter von vierzig, Mitte vierzig, ist es schlecht Kontakt aufzunehmen, erst recht hier in Deutschland, denn hier, der Wohlstand, das ist meine persönliche Meinung, und auch mein persönliches Erlebnis, der Wohlstand macht die Leute einerseits egoistisch, andererseits auch mehr gleichgültig oder so was Ähnliches. Auf jeden Fall isoliert. Die Leute halten hier nicht viel vom Nachbarn oder was. Wir haben zum Beispiel hier einen sehr guten Kontakt zu allen Nachbarn, aber nur „Guten Tag“, „Guten Morgen“ und „Auf Wiedersehen“ und so was Ähnliches. Da gibt es keine gegenseitigen Besuche. Wie da in Schlesien waren. Dass man sich da einmal in der Woche oder zwei Mal im Monat oder was getroffen hat. Oder ein Fußballspiel gemeinsam angeschaut hat vor dem Fernseher oder was. So was haben wir hier nicht erlebt. Hier lebt jeder praktisch für sich. Er braucht den Nächsten nicht, er ist für sich.. er hat alles, er braucht keinen. Und da endet das. Sofie Feldmann: Wo einer den anderen nicht mehr braucht, dass er mir ein Stück Butter gekauft, ich hab ihm Apfelsinen gekauft, weil ich gerade gekriegt habe, in den Zeiten, als wir dort gelebt haben. Also das ist nicht vorhanden. Und das kann es nicht geben, auch nicht in Polen.
Letztlich kommt das Ehepaar Feldmann zu einem ernüchternden Resümee, das auf einer hierarchisierenden Wir- und Sie-Differenzierung aufbaut. Deutschen und hier
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vor allem „Rheinländern“ ordnen sie die Attribute „Distanz“ und „Abschottung“ zu und grenzen sich von der Art ihres Feierns und Zusammenlebens ab: Richard Feldmann: Das hat gefehlt. Und manchmal fehlt das noch bis heute. Denn gerade jetzt wenn man so alleine sitzt, man hat Zeit, man ist im Rentenalter, man ist noch fit, da fehlt das schon. Sofie Feldmann: Jedes Land, jedes Gebiet hat solche Eigenschaften, die nicht immer andere akzeptiert, oder die nicht irgendwie zueinander passen, oder sind ganz einfach anders. Und der Rheinländer ist zwar ein sehr gastfreundlicher, ist ein netter Mensch, aber naja, er ist nicht so, weil (wird unterbrochen vom Ehemann) Richard Feldmann: Fürs Feiern auf der Straße. Aber nicht zuhause. [...] Und so der Kontakt hier mit den Nachbarn, wenn wir fahren in Urlaub, Schlüssel geben wir ab, sollte was sein, auch Post nehmen sie uns. Und wir gegenseitig. Sofie Feldmann: Da haben wir gar keine Probleme. Aber auch keine Freunde.
Durch die Abgrenzungen der anderen, „deutschen“ Eigenarten vom Eigenen und die Strukturierung von Netzwerken im Hinblick auf diese Unterscheidung kommt es in einigen Fällen zu einer strikten Parallelität von Netzwerkteilen. Dies drückt sich beispielsweise in der terminlichen Aufspaltung von Geburtstagsfeiern aus. Roman Mainz und Katharina Musiol organisieren grundsätzlich zwei Geburtstagsfeiern – eine für die polenstämmigen Freunde inklusive der Familie und eine für die deutschen Bekannten und Freunde. Versuche, „gemischte“ Feiern durchzuführen, sehen beide als wenig gelungen an, wobei beide mit Sprachbarrieren und ‚kulturellen‘ Differenzen argumentieren. Für Roman Mainz ist eine gelungene Feier mit Oberschlesiern und Polen nur dann möglich, wenn alle ausgelassen feiern und vor allem in der ihnen vertrauten Sprache sprechen können. Mit „gemischten“ Feiern assoziiert er vor allem Übersetzungsprobleme bei den ihm so wichtigen oberschlesischen Witzen und Unverständnis seitens der deutschen Gäste. Das ständige Übersetzen nehme der Feier ihren „natürlichen“ Lauf. Bei den Übersetzungen entstünden darüber hinaus Missverständnisse, was nach Meinung von Roman Mainz auch daran liegt, dass einige oberschlesische und polnische Witze „rassistisch“ seien. Für viele Deutsche sei dies nicht tragbar, was jedoch auch daran liege, dass die Witze in der Übersetzung ins Deutsche an Milde verlieren würden. Die Missverständnisse sieht er damit als Folge von Übersetzungs- und Kommunikationsbarrieren an: Roman Mainz: Als wir am Anfang versucht haben, mit Deutschen und diese Übersetzungen am Tisch, das hat mich total verwirrt. Manche haben sich erlaubt, den ganzen Abend polnisch zu reden. Und da saß ich als der gute Freund bei jemand, den ich nicht ganz gerne gehabt habe, weil das war beispielsweise der Freund einer Kollegin. Und ich kann.. der Mann war für mich nichts Besonderes, aber die alle haben gelacht und ich musste immer übersetzen und das Ganze. Sagte ich: „Nein, das macht mir das kaputt, die ganze Übersetzung“. Oder spricht
238 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT man.. klar können wir jetzt auch sprechen Deutsch, dann wieder ist das viel langsamer und der Witz kommt nicht so gut an, wenn du das direkt übersetzt. [...] Hat sich einfach bestätigt, dass wenn ich eine nette Runde, eine lustige Runde, da sind Leute, die Polnisch sprechend sind. [...] Weil diese Übersetzung das nimmt sehr viel Zeit und das kann sein, dass wir lachen und die anderen lachen nur „hähä“. Aber kapieren nicht, warum das so lustig sein sollte. Und du verstehst diese zwei Mentalitäten, sind manchmal Sachen, du sagst, das ist lustig, aber die anderen sagen: „Was ist dabei lustig?“ Und schon die Einstellung manchmal bei den Deutschen gegen beispielsweise.. wir haben, sag ich jetzt, im Polnischen auch rassistische Witze. Und die: „Ach, das ist lustig“. Und in Deutschland „Wie kannst du sowas sagen? Das ist aber schlecht“.
Auch das Netzwerk von Roman Mainz ist transnational geprägt (Abb. 25). Sein Netzwerk spannt sich über verschiedene Länder und lokale Kontexte, allerdings sind alle wichtigen Bekannt- und Freundschaften polnischsprachig. Sein Blick auf die Deutschen und ihre „soziale Kompetenz“ ist eher negativer Art: Der „typische Deutsche“ ist nach Roman Mainz „steif“ und muss zu sozialen Aktivitäten „gepusht“ werden. Diese Erfahrung hat Herr Mainz in seiner Nachbarschaft gemacht, in der seiner Meinung nach bei Nachbarschaftsfesten oder -feiern vor allem die polnischsprachigen Nachbarn aktiv waren und die Deutschen eher teilnahmslos waren bzw. wenig bereit waren, mitzuorganisieren und zu gestalten. Gegenüber den Barrieren zu Deutschen zeigt er kein Bedauern. Seiner Meinung müsse nichts passend gemacht werden, was nicht zusammenpasst. Die „kulturellen“ Unterschiede als entscheidende Trennlinie zwischen Polen und Deutschen sieht er als unüberwindbar an, wobei er auch in einer hierarchisierenden Form in die „aktiven“, „fröhlichen“ Polen/Oberschlesier und die „inaktiven“, „steifen“ Deutschen differenziert. Auch Katharina Musiol differenziert in eine Wir- und Sie-Gruppe (Polen/Oberschlesier und Deutsche) und bezieht sich auf vermeintlich unterschiedliche Auffassungen von Humor, Geselligkeit, Spontanität, Gastfreundlichkeit, aber auch unterschiedliche Werte und Gesprächsthemen. Besonders die Form der Treffen stößt bei ihr auf Unverständnis und z.T. auf Abneigung. Das eigene Handeln innerhalb der Wir-Gruppe beschreibt sie als gastfreundlich und herzlich und grenzt dieses von einem gegensätzlichen Deutsch-Sein ab. Ihre eigene Oberschlesien-Welt versucht sie entsprechend ihrer Erfahrung aus dem Prä-Migrationskontext zu gestalten. Die Pflege der „polnischen“/„oberschlesischen“ Werte und Traditionen sieht sie als wichtiges Element ihres Alltags an und zählt alle, die ebenfalls in dieser Art handeln, zu ihrer engen polnischen/oberschlesischen Wir-Gruppe hinzu. In ihrem großen familiären und freundschaftlichen Netzwerk (Abb. 26) zeigt sich, wie bereits bei Roman Mainz, weitgehend ein Fehlen deutscher Kontakte.
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Abbildung 25: Netzwerk Roman Mainz
Quelle: Eigene Darstellung
Bei Frau Musiol wird die Oberschlesien-Gruppe, zu der sie sich zugehörig fühlt, nicht lediglich durch Herkunft und Sprache bestimmt, sondern durch die aktive, wahrnehmbare Pflege bestimmter Praktiken, die sie als „polnisch“ bzw. „oberschlesisch“ definiert. Hierzu gehören die Pflege des Dialekts, eine bestimmte Atmosphäre bei Feiern sowie eine entsprechende Bewirtung von Gästen. Die Definition dessen, was „polnisch“ bzw. „oberschlesisch“ ist, leitet Frau Musiol allerdings stets aus einer Differenz zum vermeintlich „typisch Deutschen“ ab: Katharina Musiol: Warm, herzlich.. bei reichlich gedecktem Tisch. Und nicht bei drei Salzstangen, wie bei den Deutschen. (ü)
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Abbildung 26: Netzwerk Katharina Musiol
Quelle: Eigene Darstellung
Bei jüngeren Aussiedlern – und vor allem solchen, die eine Phase von Transmobilität im Kindes- und Jugendlichenalter erfahren haben – basieren derartige Differenzierungen (deutsch/polnisch/oberschlesisch) in der Netzwerkentwicklung nicht auf der Reflexion der Prä-Migrationsphase, sondern auf den Erfahrungen, die nach der Migration und während hochmobiler Phasen sowie im familiären Umfeld gemacht wurden. Gut lässt sich dies am Beispiel von Martin Kluczek und Johanna Jasko aufzeigen. Die Erfahrungen im Transnationalen Sozialraum (z.B. durch den Anschluss an neue Freundeskreise in Polen) führten nach der Transmobilitätsphase zu einer bewussten Selektivität bei der Suche nach Freunden und Bekannten. Gesucht wurden Bekannte und Freunde, mit denen die vertraute und bevorzugte Form sozialer Interaktionen aus dem polnischen bzw. oberschlesischen Kontext auch in Deutschland ausgelebt werden konnte. Das wiederholte Vor-Ort-Sein im Herkunftskontext hat beide entscheidend geprägt, weil es die Wahrnehmung und Kon-
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struktion ‚kultureller‘ Differenzen sowie der eigenen andersartigen Identität in Gang gesetzt hat. Für die Definition dessen, wie ‚normale‘ soziale Interaktionen in der Wahrnehmung der Aussiedler ablaufen müssen, waren und sind die Erfahrungen im Herkunftskontext maßgebend. Die Netzwerke jüngerer Aussiedler zeichnen sich allerdings nicht unbedingt durch ein Fehlen deutscher Bekannt- und Freundschaften aus. In der Schule oder in Vereinen wurden durchaus wichtige Freunde gefunden, jedoch zeigt sich eine bewusste Differenzierung und Abgrenzung verschiedener Freundeskreise hinsichtlich ihrer Bedeutung und der empfundenen Zugehörigkeit. Martin Kluczek betont immer wieder die parallele „Integration“, sowohl im polnischen als auch im deutschen Kontext. Er sieht sich durch die Einbindung im Fußballverein oder im universitären Umfeld auch in Deutschland sozial verankert. Dennoch zeigt sich ganz deutlich die Priorität des polnischen Netzwerkteils – sowohl mit Blick auf die Netzwerkkarte (Abb. 27, deutsche Kontakte bestehen hier lediglich im Umfeld des Fußballvereins), die fast ausschließlich durch Familienangehörige und polnische Freunde geprägt ist, als auch an Martin Kluczeks Äußerungen. Während er begeistert von der Mentalität der Polen und seinen polnischen Kontakten berichtet, weist er seinen deutschen Kontakten eine nachrangige Bedeutung zu. Dies ist beispielsweise an der Beschreibung seines schulischen Umfelds zu sehen: Martin Kluczek: Also ich hatte viele Kontakte, aber keine wirklich engen Kontakte, es waren Kollegen, es waren keine Freunde. Ich würd jetzt wirklich ganz stark diese Abgrenzung machen. Man hatte mit den Leuten zu tun, man hat sich da auch manchmal besser verstanden, manchmal schlechter. Man hatte Fussball gespielt. Aber es waren Leute, mit denen man jetzt nicht unbedingt irgendwo weggehen wollte. Oder mit denen man.. so ein Empfinden hatte ich.
Für Johanna Jasko, die ihre alltägliche Lebenswelt stark auf das Herkunftsland Polen ausrichtet und dort von Beginn an fast ihre gesamte Urlaubszeit verbracht hat, ist die „polnische Kultur“, die sie vor allem mit einer besonderen Form des zwischenmenschlichen Umgangs verbindet, maßgebend für die Differenzierung ihres Netzwerks. Das familiäre Umfeld steht für Johanna Jasko an erster Stelle, was sie auf ihren intensiven Kontakt zu ihren Eltern und Geschwistern, aber auch auf die Überlieferung der Bedeutung von „Familie“ durch ihre Eltern – die sie als „oberschlesische Erziehung“ beschreibt – zurückführt. Ihr familiäres Netzwerk ist transnational, wobei die Kernfamilie am Wohnort lebt, während in Oberschlesien entferntere, jedoch bedeutende Familienmitglieder wohnen. Des Weiteren hat sie Freundinnen oberschlesischer bzw. polnischer Herkunft, die sie als zweitwichtigste Gruppe beschreibt. Zu Deutschen unterhält sie lediglich lose Bekanntschaften, z.B. im schulischen Umfeld der Kinder. Sie bezeichnet diese als „gute Kontakte“, aus
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denen jedoch keine Freundschaften entstehen könnten. Dies führt sie wiederum auf ihre besonderen Ansprüche an Beziehungen zurück: Johanna Jasko: Weil irgendwie.. ich weiß auch nicht. Es gibt nicht so diese Sympathie. Ich hab nix gegen sie. Ich komme klar. Aber es ist anders. Das Verhalten ist anders, die Traditionen sind andere. So die.. manche Sachen eben. Ich hatte immer Freundinnen aus Polen oder Ausländer. Niemals waren.. weiß nicht, warum das so war. Es ist keine Antipathie. Aber es gab da keine Berührungspunkte. Oder es passte einfach nicht. (ü)
Abbildung 27: Netzwerk Martin Kluczek
Quelle: Eigene Darstellung
Auch Johanna Jasko konstruiert eine Sie-Gruppe der Deutschen, die sie als „fremd“ und „anders“ wahrnimmt. Bei Kontaktanbahnungen im Alltag werden Unbekannte von ihr vorab auf der Basis räumlicher, d.h. dem Raum als charakteristisch zugewiesener sprachlicher Merkmale, als „vertraut“ und daher „interessant“ oder
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„fremd“ und daher „uninteressant“ eingestuft. Johanna Jasko differenziert in „sehr vertraute Oberschlesier“ als Gleichgesinnte, „vertraute Polen“, zu denen außerhalb Polens die Gemeinsamkeiten größer und die Unterschiede weniger werden, und die „fremden Deutschen“, zu denen der Kontakt aufgrund des Fehlens „kultureller“ Gemeinsamkeiten schwierig sei. Bei Deutschen vermisst sie beispielsweise den familiären Zusammenhang, der für sie den wichtigsten Aspekt ihres Netzwerks ausmacht: Johanna Jasko: Mir hat das gefallen in Polen. Dieser Zusammenhalt. Meine Brüder sind.. wie viel? Sechzehn und achtzehn. Sie sind.. das ist anders. Das ist mein Bruder und einen anderen will ich nicht. Und für ihn gehst du ins Feuer. [...] Mir kommt es so vor, dass bei den Deutschen dieses Familiäre fehlt. Man hört das oft. Unsere Nachbarn zum Beispiel. Familie ist an zweiter Stelle. Das Wichtigste sind die Freunde, so Bekannte. Weil dieser Spruch „eine Familie kannst du nicht aussuchen“.. ich kann mir sowas nicht vorstellen. (ü)
An ihrem Wohnort ist Johanna Jasko in Teile der polnischen Community eingebunden und beschränkt sich vor allem auf ihr polnischsprachiges Netzwerk. Während sie sich ansonsten eher abwartend und misstrauisch in Bezug auf neue, spontane Kontakte zeigt, deutet sie mit Blick auf Oberschlesien andere Handlungsweisen an: Hier betont sie die Spontanität von Gesprächen auf der Straße und die Offenheit der Menschen: Johanna Jasko: Also es ist nicht überall schön in Schlesien. Armut und Schmutz in manchen Regionen. Aber ist irgendwie anders. Eine andere Atmosphäre. Du gehst raus.. es sind viele Leute da. Du kannst mit jemandem diskutieren. Wenn du irgendwo sitzt. Weiß nicht. Wie soll ich das erklären? [...] Wir sind da immer in Urlaub gefahren. Ich hatte da einfach meine Freundinnen. Da fühlte ich mich besser. Da war meine Kindheit, das alles. Das war schön. (ü)
In Oberschlesien ergeben sich für Johanna Jasko spezifische Handlungsmuster. Hier findet sie ein vertrautes Umfeld, bestehend aus Erinnerungsorten, die sie mit ihrer Kindheit und damit Familie bzw. sozialem Zusammenhalt verbindet, wichtigen Bezugspersonen und einem spezifischen räumlichen Kontext (Dominanz des Polnischen/Oberschlesischen und vertraute bzw. mit positiven Emotionen aufgeladene Objekte wie Bebauung, Sortiment in Geschäften etc.). Ihre Offenheit gegenüber unbekannten Personen ist damit abhängig vom räumlichen Kontext, wobei nicht unbedingt in Herkunfts- und Zielkontext, sondern in „vertrautes“ und „fremdes“ Umfeld zu trennen ist. An ihrem Wohnort ist sie aufgrund ihrer Vorbehalte gegenüber den Deutschen eher passiv, freut sich jedoch über spontane Kontakte innerhalb der polnischen Community (z.B. in der polnischsprachigen Kirchengemeinde), die in ihrer Wahrnehmung letztlich eine kleine Kopie des Herkunftskontextes darstellt, in dem sie aktiv auf Menschen zugeht und dessen Gesellschaft sie als vertraut und
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eigen ansieht. Bei Johanna Jasko wird zudem deutlich, dass nicht nur die Reflexion von Strukturen aus der Prä-Migrationszeit Netzwerkstrategien bestimmen, sondern auch die immer wieder neu erlebte und wahrgenommene Zugehörigkeit im Herkunftskontext, die Differenz und die Bildung einer Wir-Gruppe im Zielgebiet determiniert. Bei Aussiedlerkindern, die nach der Migration keine Phase der Transmobilität erlebt haben, ist eine deutlich größere Heterogenität der Netzwerke zu beobachten. Die Netzwerke setzen sich aus Familienmitgliedern und Freunden sowie Bekannten verschiedener Nationalitäten zusammen. Polen oder Oberschlesien als Herkunftskategorien spielen hier insofern eine Rolle, als sie innerhalb der Familie im Zielkontext erfahrbar werden und hierüber die eigene Andersartigkeit im Vergleich zu Deutschen oder Ausländern aufgebaut werden kann. Allerdings werden hier keine Netzwerkstrategien entwickelt oder Herkunftsgruppen favorisiert. Die Produktion von Sie- und Wir-Gruppen verläuft anders. Es spielt zwar eine gewisse Zugehörigkeit zum Herkunftskontext eine Rolle, der vor allem als „Heimat“ empfunden wird, jedoch drückt sich dies nicht in einer Differenzierung zwischen den „Deutschen“ und „Polen“ aus, weil eine Zugehörigkeit zu beiden Gruppen empfunden wird.12 Aussiedler, die in dieses Raster fallen, differenzieren zwar auch in „deutsch“ und „polnisch“ bzw. „oberschlesisch“ und strukturieren mit diesen Kategorien ihr Netzwerk, weisen sich selbst aufgrund ihrer stärkeren strukturellen und institutionellen Einbindung in Deutschland (Schullaufbahn, Universität, Ausbildung) und der gleichzeitigen Erfahrung von Transkulturalität in der Familie (andere Traditionen, Zweisprachigkeit) Elemente beider Gruppen zu, was die Herausbildung von Transidentitäten fördert.13 Die Abgrenzungen zwischen „deutsch“ und „polnisch“ wird, anders als bei den älteren Aussiedlern, weniger mit einem Gegensatz von „positiv“ und „negativ“ in Verbindung gebracht, sondern mit einer Andersartigkeit assoziiert, wobei einzelne Aspekte beider Seiten favorisiert oder abgelehnt werden. Michael Winiarski beispielsweise, der mit drei Jahren nach Deutschland gekommen ist, hat außerhalb der Familie, die nur mit Ausnahme der Großeltern und entfernter Verwandten in Deutschland lebt, keine polnischen Kontakte. Er sieht sich vollständig im deutschen Kontext verankert. Dennoch werden für ihn seine polnischen „Wurzeln“ in manchen Situationen wichtig, was er am Beispiel des Medienkonsums beschreibt. In den Bereichen Politik, Medien oder Wirtschaft interessiert ihn primär die Situation in Deutschland. Von Polen kennt Michael Winiarski nur die Persönlichkeiten oder Entwicklungen, die über deutsche Medien bekannt oder populär gemacht werden. Allerdings freut er sich beispielsweise, wenn ein polnischer Film
12 Hierzu mehr in Kapitel 11 zu Transidentitäten. 13 Hierzu mehr in Kapitel 11 zu Transidentitäten.
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für einen Oscar nominiert wird. Hier lebt seine Verbindung zu den „Wurzeln“ auf, er empfindet zudem Stolz: Michael Winiarski: Es ist immer noch mein Heimatland [Deutschland, Anm. M.O], also ich sag mal, wenn ich jetzt zum Beispiel nach Australien auswandern würde, dann würde ich mich, ich würde mich darüber informieren, was in Deutschland los ist. Sei es so triviale Dinge, wie „Wetten dass“ hat einen neuen Moderator bekommen oder so. Das sind so Sachen, die man im Ausland aber trotzdem mitkriegen wollen würde, sag ich mal so. Das hab ich (..) was in Polen passiert, ne ich hab keine Ahnung, wie das Medienbild vor Ort ist, auch politisch. Klar ich kenn die Hauptpersonen in der polnischen Politik, kenn ich. Aber von daher, da merk ich schon, wenn ich auswandern würde, würde ich mich schon mit deutscher Musik auch beschäftigen, mit deutschen Filmen zum Beispiel. Aber ich schau ja auch gerne.. ich geh nach wie vor gerne ins Kino, und ich bin auch immer stolz, wenn ein polnischer Film irgendwie groß für Furore sorgt, was selten ist, aber ne, sag ich mal für die Oscars nominiert wird. Ne, dann freu ich mich und würde den gerne sehen. Auf jeden Fall. Das Interesse ist dann da.
Insgesamt erhöhen die sozialen Abgrenzungsprozesse zu Deutschen die Bedeutung der grenzüberschreitenden Beziehungen. Viele Aussiedler unterhalten auch nach zwanzig bis dreißig Jahren Aufenthalt in Deutschland Kontakte zu Freunden oder Familienmitgliedern im Herkunftskontext, die in einigen Fällen sogar als „beste Freunde“ oder „wichtigste“ Bezugspersonen eine zentrale Bedeutung haben. Als „wichtig“ werden sie gesehen, weil mit ihnen trotz der räumlichen Distanz vertrauliche und entscheidende Angelegenheiten besprochen werden und die Beziehung auf einem Fundament gemeinsamer Erfahrungen, Erlebnisse und Einstellungen basiert.14 Es handelt sich um Personen, mit denen die Aussiedler bis zur Migration prägende Phasen, wie etwa Schulzeit oder erste berufliche Etappen, erlebt haben. Nicht selten trug auch eine ökonomische Komponente in Zeiten von Versorgungsengpässen, in denen Tauschwirtschaft bedeutsam war, zur Intensität der Beziehungen bei. Letztere haben zudem mehrjährige und wiederkehrende Phasen „überlebt“, in denen die Kontaktintensität minimal war. Dies betrifft vor allem die Zeit unmittelbar nach der Aussiedlung. Grundsätzlich werden diese Kontakte in Polen/Oberschlesien selten durch häufige Mobilität15 aufrechtgehalten. Transmobilität bleibt unter den Aussiedlern ein Randphänomen und ist an andere Voraussetzungen (z.B. beruflicher Art) gebunden. Die Mobilität der Aussiedler war unmittelbar nach der Migration nach Deutschland
14 Es handelt sich dabei vorwiegend um Kontakte, die bereits vor der Migration Bestand hatten. 15 Mit „häufig“ ist hier eine mindestens mehrmals im Jahr wiederkehrende Mobilität gemeint.
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nur eingeschränkt möglich, erhielt z.T. einen Aufschwung durch die Entwicklungen nach 1989, wird jedoch vielfach durch die Möglichkeiten der IuK-Technologien substituiert. Manche Beziehungen werden nahezu ausschließlich durch moderne Kommunikationsmittel gepflegt. Das Teilen von Informationen und Erlebnissen ist nun wesentlich einfacher, was die gegenseitige Partizipation am Leben des anderen unabhängig von räumlichen Distanzen erleichtert. In den Interviews berichten die Aussiedler, wie sie Zeitungsartikel oder Links zu Internetseiten per E-Mail versenden, Renovierungen im eigenen Haus per Webcam und Skype vorführen, Fotos hochladen und ihre Freundeskreise bei Facebook pflegen. Durch Telefonflatrates gibt es ohnehin keine Beschränkungen mehr, was den zeitlichen und kostenbezogenen Rahmen der Kommunikation betrifft. Die neuen Möglichkeiten von IuK verändern zudem die Muster sozialer Interaktion. Durch Mobilitätsbeziehungen wird in der Regel nur ein kleiner, zumeist zentraler Teil des Netzwerks gepflegt (z.B. enge Familienmitglieder). Besuche im Herkunftskontext sind vor allem auf Feierlichkeiten und Treffen im familiären Umfeld oder in bedeutenden Freundeskreisen beschränkt. Über IuK-Plattformen hingegen werden vor allem „eingeschlafene“, weniger bedeutsame Kontakte gepflegt bzw. z.T. neu geknüpft. Als Plattformen sind hier vor allem Facebook, aber auch die Internetplattform „nasza klasa“ zu nennen. Letztere ist eine Kommunikationsplattform für ehemalige Schulklassen. Eingeloggt können Nutzer Fotos teilen und Nachrichten versenden. Für einige Aussiedler bietet diese Plattform die Möglichkeit, Kontakt zu ehemaligen Klassenkameraden aufzubauen und z.T. auch an organisierten Klassentreffen teilzunehmen. Für Katharina Musiol beispielsweise dient „nasza klasa“ zur effizienten Organisation von Treffen in ihrem Freundinnenkreis in Polen: Katharina Musiol: Als das Programm rauskam, war das echt toll, weil man da Kontakte zu Leuten aus der Grundschulzeit aufbauen konnte. Ich hab mit vielen Leuten geschrieben. Später hab ich mich auch mit Mädels vom Gymnasium getroffen. Durch nasza klasa. Weil in Polen gibt es eh das Problem, dass die Leute meistens nur Handys haben. Kein Festnetz. Und Gespräche auf Handy sind teuer. Daher immer, wenn ich zu Mama gefahren bin, hab ich bei nasza klasa geschrieben, dass ich komme. Die Mädels arbeiten alle im Krankenhaus. Damit wir uns treffen. Und wenn es dann ging, haben wir uns getroffen. Mit einigen hab ich.. wir haben uns dann das erste Mal getroffen, als nasza klasa rauskam. Manche habe ich zwanzig Jahre nicht gesehen. Das war sehr schön. Jede hat erzählt, was sie so erlebt hat, wie sich das Leben entwickelt hat. (ü)
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Plattformen wie „nasza klasa“ ermöglichen es, Kommunikationsbarrieren zu durchbrechen und transnationale Netzwerke zu pflegen.16 Auch Facebook hat sich für einige Aussiedler zur Pflege bestehender Kontakte sowie zur Bildung neuer Bekanntschaften etabliert. Davon erzählt beispielsweise Anna Wieczorek: Anna Wieczorek: Ja, jetzt durch Facebook hab ich viele neue, also Grundschulfreundinnen zum Beispiel gefunden. Da hat Facebook jetzt geholfen. Aus Polen. Alte Grundschulfreundin. Die Basia. Die wohnt immer noch in Tarnowskie Góry, die ist verheiratet, hat drei Kinder. Und wir schreiben uns ab und zu. Per Facebook. Man muss nicht telefonieren. Kontakt ist abgebrochen, die hat eigene Familie. Und dadurch, dass man da wenig fährt, die war einmal in Deutschland. Hat sie mich angerufen: „Ich bin gerade in Wuppertal!“ „Ja dann komm mal auf Kaffee jetzt.“
Wie in diesem Zitat deutlich wird, sind internetbasierte Kommunikationsplattformen vor allem geeignet für nicht enge bzw. flüchtige Beziehungen, die keinen intensiven Austausch benötigen. IuK ist auch im Fall größerer transnationaler Netzwerke wichtig. Maria Kwiatkowska (1951 geb. und 1989 migriert), die engen Kontakt zu ihrem polnischen Freundeskreis weltweit hält, ist durch ihre angespannte finanzielle Situation in ihrer Mobilität eingeschränkt. Über Skype fühlt sie sich in adäquater Weise mit ihren Freunden weltweit und vor allem mit dem Mittelpunkt ihres Netzwerks, Polen, verbunden. ‚Skypen‘ gehört für sie zu ihrem Alltag: Maria Kwiatkowska: Ja durch Skype. Zum Beispiel mit Kanada. Heute spreche ich mit Leuten aus Bytom und Israel. Das sind alles Polen. (ü)
Auch bei den Aussiedlern, deren Netzwerk im Herkunftskontext zunehmend an Bedeutung verloren hat und die nur wenige oder gar keine Bezugspunkte in Polen/Oberschlesien17 haben, führt IuK zu neuen, wenig intensiven, jedoch alltagsrelevanten Verbindungen zwischen Herkunfts- und Zielkontext. Hierzu gehört nicht
16 Diese ‚Kommunikationsrevolution‘ ist allerdings selten bei älteren Aussiedlern zu beobachten. Sie halten ihr Netzwerk vor allem durch Mobilität aufrecht. Mit zunehmender gesundheitlicher Einschränkung gestaltet sich die Pflege des Netzwerks schwieriger und ist auf telefonische Kontakte beschränkt. Zudem beklagen ältere Aussiedler häufig das „Aussterben“ der Freunde und Verwandten in Polen/Oberschlesien, das die Beziehungen zum Herkunftskontext abschwächt. 17 Es handelt sich hierbei um die Fälle, die im größeren Familienbund bzw. Freundeskreis ausgesiedelt sind oder aufgrund einer zunehmenden Abkapselung vom Herkunftskontext von „eingeschlafenen“ Kontakten und einer Verlagerung aller „wichtigsten“ Bezugspersonen in den aktuellen Wohnkontext berichten.
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nur das Reaktivieren „eingeschlafener“ Kontakte durch virtuelle soziale Plattformen, sondern auch das neu aufgelebte Interesse für verschiedene Themen rund um den Herkunftskontext, die nun einfacher abzurufen sind. Neue Bindungen entstehen z.B. über das regelmäßige Abrufen von lokalen/regionalen Nachrichten oder das Verfolgen der Entwicklung des ehemaligen Sportvereins. Durch das neu aufgelebte Interesse für den Herkunftskontext kann auch das Interesse für „alte“ Kontakte steigen, zumal über das Abrufen von Informationsflüssen auch gemeinsame Themen und Interessen aufgebaut werden. Allerdings werden die virtuell gepflegten, losen Kontakte in der Regel deutlich vom Hauptnetzwerk abgegrenzt, wie z.B. bei Thomas Krawczyk und seinen neuen Facebook-Bekanntschaften in Oberschlesien deutlich wird. Herr Krawczyk bemerkt, dass die Freude an den neuen Kommunikationsmöglichkeiten nicht unbedingt lange anhalten muss, vor allem wenn keine Basis für eine langfristige Kommunikation geschaffen wird: Thomas Krawczyk: Aber das ist, das sind keine Freunde in dem Sinne. Nur übers Internet, das ist jetzt nichts wo man sagt, da hab ich wirklich persönliche Kontakte, ne? [...] Das ist ja jetzt so in. Ja. Mein Facebookfreund sagt man ja, oder naszaklasa Freund aber letztendlich, weiß ich nicht. Nasza klasa war am Anfang auch viel, viel spannender. Da hat man sich mal gesehen, das Foto von, weiß ich nicht, man hatte natürlich andere Gesichter im Kopf. Aber mehr ist da eigentlich nicht passiert. Also dieses Treffen zum Beispiel, was man da organisieren wollte, ist nie zustande gekommen.
Insgesamt ist hervorzuheben, dass sich aus der Perspektive der Aussiedler ein erfolgreiches Leben in Deutschland und eine Konzentration des persönlichen Netzwerks auf Familie und europaweit verstreute polnische/oberschlesische Freunde nicht ausschließen müssen, solange die Berührungspunkte zu der Sie-Gruppe der „Deutschen“ im Schulumfeld der Kinder, im beruflichen Alltag oder in sonstigen Situationen als positiv bzw. problemlos empfunden werden. Eine gewisse „Integration“ ist dafür nötig, so wie es Martin Kluczek für sein Leben „in zwei Welten“ festgestellt hat: Er hat ein auf polnischsprachige Kontakte fokussiertes Netzwerk, das er auf seine Vorliebe für die „polnische Kultur“ bzw. „Mentalität“ zurückführt, betont jedoch immer wieder einzelne Ankerpunkte in Deutschland, wie seinen Fußballverein oder seine Zeit in der Bundeswehr. 9.2.3 Dritte Abgrenzungsebene: Die anderen Oberschlesier Die dritte Form der Abgrenzung in den Aussiedlernetzwerken zeigt, dass es nicht die eine oberschlesische Wir-Gruppe18 gibt, die den Sie-Gruppen („Deutsche“,
18 Mehr hierzu in Kapitel 11.
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„Gorole“) gegenübersteht. Statt einer in sich geschlossenen Community werden auf subjektiver Ebene durch alltägliche soziale Differenzierungen unterschiedliche imagined communities mit Bezug auf Oberschlesien kreiert. Entscheidend sind hier – anders als bei den vorangegangen Abgrenzungsebenen – die Erfahrungen im Zielkontext, welche die Wir-Konstrukte aus dem Herkunftskontext vor neue Bedingungen stellen und manchmal von Grund auf erschüttern. Dass in der Aussiedlerund Oberschlesienforschung immer wieder von den Oberschlesiern gesprochen wird, ist auf die verbale Beschränkung eigener Zuordnungen bzw. Zugehörigkeiten zurückzuführen. Dass sich beispielsweise zehn Interviewpartner als Oberschlesier sehen, heißt noch lange nicht, dass sie sich auch gegenseitig so bezeichnen würden. Bei einigen Aussiedlern deutet sich eine Abgrenzung zur eigenen Herkunftsgruppe bzw. zu „anderen Oberschlesiern“ an. Dabei kann es sein, dass sich diese Aussiedler aufgrund schlechter Erfahrungen mit Oberschlesiern vom OberschlesierSein abgrenzen. Zudem kommt es in der Definition der eigenen Wir-Gruppe zur Ausgrenzung anderer Aussiedler, deren Handeln nicht mit persönlichen Einstellungen und Werten im Einklang gesehen wird, was zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Oberschlesienrealitäten bzw. oberschlesischen Wir-Gruppen führt. Der Grund für Abgrenzungsprozesse innerhalb der regionalen Herkunftsgruppe ist die Wahrnehmung eines sich ändernden sozialen Gefüges innerhalb oberschlesischer Netzwerke in Deutschland. Mit Blick auf den Vergleich der Oberschlesier im deutschen Kontext mit den Oberschlesiern „von früher“ bzw. aktuellen Kontakten in Oberschlesien/Polen beklagen einige Aussiedler ein verändertes Miteinander vor dem Hintergrund neuer sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen. Gerade in der Zeit unmittelbar nach der Aussiedlung fühlten sich viele Aussiedler von Mitgliedern ihrer vermeintlichen Wir-Gruppe im Stich gelassen. Sie beschreiben Neid, eine neue Konkurrenzsituation und sogar bewusste Täuschungen durch bereits migrierte Aussiedler, so wie es beispielsweise Frau Zając, die mit 33 Jahren im Jahr 1987 aus Opole migriert ist, erlebt hat. Sie überraschte der plötzlich eintretende Neid anderer oberschlesienstämmiger Aussiedler und insbesondere die negativen Erfahrungen mit Personen aus ihrer Herkunftsstadt: Barbara Zając: Aber dieser Neid, dass man etwas mehr hat. Da kann ich auch nicht verstehen. Aber so ist es. Und außerdem wir sind.. nach Deutschland gekommen, die früheren Aussiedler, die haben uns auch.. wie sagt man.. über den Tisch gezogen. Die haben uns Versicherungen angeboten, Unterschriften gefälscht. Und ja das sind auch Leute aus Oppeln. Da bin ich auch ein bisschen enttäuscht. Aber Gott sei Dank nicht nur uns, aber die Familie von den Personen auch.
Gleichzeitig erhielten Aussiedler wie Frau Zając unerwartet Hilfestellungen von anderen Personengruppen. Frau Maria Kwiatkowska z.B. erzählt, wie sie sich darüber wunderte, dass niemand aus ihrem polnischen Bekanntenkreis sie darauf auf-
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merksam machte, dass ihr die Zahlung von Unterhaltsgeld zustand. Erst eine türkische Arbeitskollegin drängte sie zur Einreichung eines Antragformulars. Die negativen Erfahrungen mit anderen Aussiedlern aus Oberschlesien sind – wie auch die Abgrenzung zu den Deutschen – die Folge einer auf dem Herkunftskontext basierenden Erwartungshaltung. Diese führt(e) z.T. zu einer Sehnsucht nach alten, intakten und solidarischen Netzwerken und einer Unzufriedenheit mit dem eigenen sozialen Umfeld; vor allem, wenn die Suche nach neuen „guten“ Kontakten im Zielkontext erfolglos blieb/bleibt. Frau und Herr Wawrzyczek beschreiben, wie sich ihre Freundschaft zu einem Ehepaar unmittelbar nach der Aussiedlung und nach dem sozialen bzw. materiellen Aufstieg des bekannten Ehepaars verändert hat. Aus einer herzlichen Beziehung wurde für sie eine einseitige „Angeberei“ und „Wettbewerbssituation“: Christina Wawrzyczek: Wir hatten tolle Freunde aus Schlesien, die wir hier kennengelernt haben. Aus Piekary. Die haben etwas früher eine Stelle bekommen als wir und dann hieß es dann schon: „Du kannst dein Diplom wegschmeißen. An der Grenze hättest du es wegwerfen sollen. Aus dir wird eh nix mehr.“ So direkt. Und wo weiter. Und dann haben die uns eingeladen, wir sind hin und dann ging das die ganze Zeit so: „Guck mal, was wir uns gekauft haben!“ Und dann haben die das alles rausgeholt. Jan Wawrzyczek: „Und ihr habt das noch nicht?“ „Du kennst dich nicht mit Computern aus?“ [...] Leute aus Polen sind sehr neidisch und unehrlich. Und das ist die Wahrheit. Im Sprachkurs. Russen helfen einander. Rumänen helfen einander. Und Leute aus Polen halfen einander nicht, ne? (ü)
Solche Erfahrungen führen einerseits zu einer Distanzierung bzw. abwartenden Haltung gegenüber anderen oberschlesienstämmigen Aussiedlern oder anderen polenstämmigen Migranten, andererseits aber auch zu einer Reflexion der eigenen Wirund Sie-Konstrukte. Es findet in diesem Zusammenhang eine mentale Aufspaltung der eigenen gedachten Oberschlesienwelt statt – und zwar auf zweifache Weise: Das Oberschlesien der Prä-Migrationszeit enthält sehr häufig die konservierten Ideale einer Kohäsion und Solidargemeinschaft, während die Gruppe der Oberschlesier (bzw. der Polen) in Deutschland stärker als eine vom Streben nach materiellem Wohlstand und von Neid geprägte Gruppe wahrgenommen wird. In einigen Fällen wird daher der ‚echte Oberschlesier‘ nur noch in Oberschlesien selbst lokalisiert. Dies führt dann zu einer Sehnsucht nach den alten Strukturen in Oberschlesien, „wo alles besser war“, und zu einer stärkeren Einbindung in bestehende, etablierte und transnational verstreute Freundschafts- und Familienkreise. Barbara Zając z.B. erklärt, dass sie aufgrund der Veränderungen im Zusammenleben außerhalb des Herkunftskontextes ihre wichtigen Kontakte in Polen nicht durch polnische Kontakte in ihrem neuen Umfeld ersetzen kann. Unterstützung in wichtigen Situationen, wie etwa nach ihrer Scheidung, erhält sie stets von ihren Bekannten und Freunden in
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Polen, während sie sich in Deutschland auf sich allein gestellt fühlt. Frau Zając differenziert in die „herzlichen, echten Freunde“ in Polen und die „neidischen Polen in Deutschland“: Barbara Zając: Ich hatte ziemlich lange Probleme mir mein Leben so neu zu gestalten. Weil plötzlich man ist alleine, früher hatte man viel zu tun. Familie, Kinder. Und plötzlich man lebt für sich. Da ich konnte das nicht, ich musste das lernen. Und bis heute manchmal.. man hat solche Tiefe. Und wenn in der Woche macht mir das nichts aus, weil ich bin viel unterwegs, aber wenn ich am Wochenende nix zu tun hab, und nix vorhabe, nur zuhause, da manchmal wenn ich wach bin, da ich weiß nicht, was ich mir anfangen sollte. Da geht mir schlecht. Also richtig schlecht. Was mache ich? Da suche ich Kontakt, ich rufe nach Polen. Nicht zu meinen Kindern oder hier zu Bekannten. Ich rufe nach Polen, ich rufe zu meiner Chefin.. wir haben zusammen gearbeitet. Also ich hab viel immer noch Kontakt. [...] Und meistens rufe ich sie an. Weil sie sagte immer: „Du weißt, wenn dir schlecht geht, du kannst immer zu uns kommen“. „Du hast immer bei uns Zimmer“. Und ich weiß, das habe ich ihr auch gesagt. Ich weiß, also solche Freunde, wenn man schon so lange kennt, hier finde ich nicht. Weil die Leute, die aus Polen hier gekommen sind, die sind auch anders. Das sind.. ja weiß ich nicht, ich hab hier eigentlich nicht so viele so Leute getroffen, dass da alles mit Herzen, dass die da. Das ist ein bisschen, die sind so Neid, und so Konkurrenz, so sehe ich. Also ich sage, echte Freunde sind da.
Anders verläuft diese Aufspaltung der eigenen Oberschlesienwelt, wenn die Aussiedler ein verändertes soziales Gefüge nicht nur im Zielkontext, sondern auch in Oberschlesien selbst wahrnehmen. In diesem Fall ist Oberschlesien als „soziales Paradies“ ausschließlich auf die Prä-Migrationsphase bezogen. Die gedachte WirGruppe bezieht sich in diesem Fall auf eine gedachte Gemeinschaft, die sich aus denjenigen zusammensetzt, die den alten „sozialen“ Idealen folgen bzw. denen diese soziale Kompetenz (Hilfsbereitschaft, Herzlichkeit) attestiert wird. Die anderen oberschlesienstämmigen Aussiedler, denen diese Attribute abgesprochen werden, werden von dieser imagined community ausgeschlossen. Die negativen Erfahrungen mit anderen Aussiedlern veränderten auch Strategien des Einlebens nach der Migration. Viele Aussiedler suchten zu Beginn zunächst gezielt Gleichgesinnte mit ähnlichen Problemlagen und Hintergründen, wurden jedoch dann durch neue Muster sozialer Interaktion überrascht. Reinhold Tomaschek beschreibt, wie er nach der Aussiedlung an einem „Schlesiertreffen“ teilgenommen hat, um Kontakte zu knüpfen und sich aufgrund seiner dortigen Erfahrungen von weiteren Begegnungen dieser Art distanziert hat: Reinhold Tomaschek: Als ich vor fünfundzwanzig Jahren auf diesem Schlesiertreffen war.. und später war ich auch beim Beuthener Treffen, ne? Onkel sagte: „Komm, wir lernen da bestimmt Leute kennen.“ Naja und dann war ich da das erste Mal, als ich gerade mal zwei Mo-
252 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT nate hier war. Da kam einer: „Ich bin schon drei Jahre hier, weißt du? Ich hab ein Haus, eine super Arbeit. Verdiene Dreitausend. Arbeit nur.. wenn ich komme, dann drücke ich auf einen Knopf, und wenn ich wieder gehe und es nicht vergesse, dann drücke ich nochmal drauf. Ich kann nicht klagen. Dreitausend. Und du, hast du ein Haus?“ Ich denk: „Du Wichser! Du Arschloch. Ich bin zwei Monate hier und der fragt mich nach einem Haus.“ Welches Auto ich denn hätte? Was wollten die mich denn fragen? Als ich nach einem Jahr nochmal da war, da fragten die schon: „Hast du ein Haus? Wie viel verdienst du? Wo arbeitest du? Du hast kein Haus? Und welches Auto?“ [...] Und dann war Schluss. Wenn jetzt jemand sagt: „Lass mal dahin gehen!“.. da sag ich „Kannst alleine gehen.“ Selbst wenn die mir dafür was zahlen würden, ich fahr nicht mehr dahin. (ü)
Doch nicht nur das wahrgenommene soziale Miteinander bildet eine Abgrenzungslinie innerhalb oberschlesienbezogener imagined communities. Auch andere Differenzierungen, die bereits vor der Migration relevant waren (ähnlich wie die Diskussion um „Gorole“), spielen nach wie vor eine Rolle und haben Einfluss auf die Netzwerkentwicklung. Hier sind zum einen die Debatte um die „nationale Gesinnung“ (1) und zum anderen innerregionale Differenzierungen (2) bedeutsam. Im ersten Fall (1) kommt es durch die Wahrnehmung unterschiedlicher Strategien des Einlebens anderer Aussiedlern zu einer Heterogenisierung der persönlichen Herkunftsgruppe. Dabei geht es vornehmlich um die Frage, wie mit dem ‚Deutsch-Sein‘ bzw. dem Aussiedlerstatus umgegangen wird. Aussiedler, die versuchten, einen Neuanfang in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht zu gestalten und darüber hinaus eine Zugehörigkeit zu den Deutschen anstreb(t)en, waren von der hohen Kontaktintensität anderer Aussiedler zu ihrem Herkunftskontext irritiert. Da sie sich bemühten, dem gefühlten Assimilierungsdruck bzw. -wunsch gerecht zu werden, den sie zudem als Bedingung ihrer Migration angesehen hatten, zweifelten sie die Rechtmäßigkeit der Aussiedlung derjenigen an, die sich im Alltag am Herkunftsland orientierten. Diese wunderten sich im Gegenzug über das plötzliche „Vergessen“ der polnischen Sprache und Wurzeln auf Seiten der in ihren Augen „übertriebenen Deutschen“, die das Verlangen hätten, „deutscher sein zu wollen als die Deutschen selbst“. Frau Maria Kwiatkowska erzählt beispielsweise von den Erfahrungen kurz nach ihrer Aussiedlung, als sie zu Besuch bei anderen Aussiedlern war und dort in deutscher Sprache kommunizieren musste: Maria Kwiatkowska: Also ich hab polnische Deutsche kennengelernt. Sozusagen. Also die kamen aus Polen nach Deutschland. Und dann haben die sofort die polnische Sprache vergessen. Weil ich erinnere mich, als ich herkam, da waren wir bei Bekannten. [...] Leute, die sind vielleicht zwei Jahre vor uns rausgefahren. Und die haben die polnische Sprache vergessen. Die wussten, dass wir gerade angekommen sind und redeten trotzdem die ganze Zeit deutsch. (ü)
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Frau Kwiatkowska stellt die „Assimilierungsstrategie“ als Verrat an den eigenen Wurzeln dar. Sie kann nicht verstehen, wie die eigene „Kultur“ und vor allem Sprache nicht gepflegt und durch neue Einflüsse ersetzt werden kann. Aussiedlern, die in ihren Augen ein „anti-polnisches“ Verhalten aufweisen, geht sie bewusst aus dem Wege. Sie erwartet von ihren Freunden, Bekannten und Familienangehörigen eine ähnlich patriotische Grundeinstellung, wie sie diese bei sich selbst sieht. Ganz anders ist dies bei Herrn Wawrzyczek, der nach seiner Migration im Aussiedlerlager in Düsseldorf schockiert war, als er sah, dass sich ein Großteil der dort untergebrachten Aussiedler über ein Gegentor der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1990 freute. Für ihn sind Aussiedler, die sich nicht zu Deutschland zugehörig fühlen, unberechtigterweise zu ihrem Status gekommen: Jan Wawrzyczek: Nach meiner Einschätzung mit den Aussiedlern. Hier ist eine Masse von Leuten, die dürften gar nicht hier sein. Ich hab ja von dem Freund erzählt, zur Zeit, wo wir noch in den Wohncontainern gelebt haben, im Aussiedlerlager. Der hat die alle aus dem Zimmer geworfen, weil als Deutschland ein Gegentor kassierte bei der WM, da waren die froh und glücklich. Und von denen gibt es hier viele. (ü)
Auch die Eheleute Kasprzyk grenzen sich von der vermeintlichen „pro-polnischen“ bzw. „anti-deutschen“ Haltung einiger oberschlesischer Aussiedler ab und haben vor diesem Hintergrund auch Teile ihres Netzwerks aufgegeben. Für sie ist ein Aufenthalt in Deutschland nicht mit einer respektlosen Haltung gegenüber den Deutschen und einer ständigen Rückbesinnung in Richtung des Herkunftskontextes vereinbar. So haben sie sich aus einem Freundschaftskreis herausgelöst, der ihnen letztlich zu „polnisch“ wurde. Sie plädieren für Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat und eine unvermeidbare Entscheidung für die „eine oder andere Seite“: Roman Kasprzyk: Ich hab Tennis gespielt, da waren sehr viele aus Polen. [...] Aber ich sehe das nicht ein, mich hier so zu verhalten wie ein Türke. Ja, die haben zusammen Party gefeiert. Da waren auch viele Deutsche, aber die waren immer das Ober. Weißt du? Nur polnisch. [...] Wir waren auch im Hotel mit denen im Sylvester feiern vor fünf, sechs Jahren. [...] Haben sich auch so benommen. Verstehst du? Ich versteh das nicht. Da waren 90 Prozent Deutsche, die können doch deutsch, aber die behaupten sich. „Wir sind Polen, wir können das auch und wir haben Geld“. Und das mache ich nicht. Isa Kasprzyk: Ne, und weißt du was mich auch angekotzt hat bei den Leuten? Die leben hier in Deutschland, schimpfen immer über die Deutschen, dass das die Schlimmsten sind und jedes Wochenende fahren sie nach Polen. Fühlen sich hier total unwohl, dann sage ich wieso.. (wird unterbrochen vom Ehemann) Roman Kasprzyk: Die wollen nur das Geld hier haben. Isa Kasprzyk: Dann sollen die zurück nach Polen gehen, wenn denen das nicht so.
254 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Roman Kasprzyk: Damit haben wir keinen Vertrag, deswegen haben wir die ganzen Sachen zum Teil abgesagt.
Bei den innerregionalen Differenzierungen (2) zeigen sich Abgrenzungstendenzen mit Bezug auf die Situation im Herkunftsgebiet. Die Aspekte „Herkunft“ und „Sprache“ spielen hier erneut eine Rolle; diesmal bezogen auf die historische Aufteilung Oberschlesiens in das „Oppelner Schlesien“ und das oberschlesische Industriegebiet.19 Der Hintergrund ist folgender: Nach der Migration wurden die Aussiedler und ihre individuellen Wir-Konzepte z.T. mit anderen oberschlesienbezogenen Wir-Konzepten konfrontiert, was zur Irritation und Abgrenzungsprozessen führte. Die eigenen Mental Maps von Oberschlesien und das normative Verständnis des eigenen, ‚wahren‘ Dialekts stießen auf andere Oberschlesienkonstrukte, was zu Exklusionsprozessen vermeintlicher Nicht-Oberschlesier führt(e). Zu beobachten ist dies vor allem in der Abgrenzung der „Oppelner“ durch die Aussiedler aus Ost-Oberschlesien bzw. aus dem Industriegebiet um Kattowitz. Aussiedler aus dem Oppelner Schlesien20 werden hier z.T. aus der imagined community der („wahren“) Oberschlesier ausgegrenzt und mit bestimmten sozialen Attributen in Verbindung gebracht. Häufig werden hier ein vermeintlich übertriebener Drang zur Assimilierung, Neid und Konkurrenzdenken diskutiert. Die sprachliche Andersartigkeit wird vor allem auf den Gebrauch anderer Wörter, eine andere Aussprache oder die Verwendung eines anderen Dialekts zurückgeführt. In den Netzwerken sind in Anlehnung an diese Differenzierung z.T. Vermeidungsstrategien zu beobachten. So beschreibt beispielsweise Rita Peschke, dass sie ganz besonders mit den Aussiedlern aus Oppeln und Umgebung schlechte Erfahrungen gemacht hat und die Verantwortung für die fehlende soziale Kohäsion innerhalb der Aussiedlergruppe bei den Aussiedlern aus dem „Oppelner Raum“ sieht: Rita Peschke: Naja ich hab viele deutsche Bekannte. Und auch viele polnische Bekannte. Die einzigen, die ich nicht ausstehen kann, sind die Leute aus dem Oppelner Gebiet. Mit denen kann ich mich einfach nicht unterhalten. Von Anfang an, als ich hierhin gekommen bin.. also ich hab Einige kennengelernt, die konnten gut deutsch sprechen, nicht schreiben oder lesen, aber gut sprechen. Bei denen hat man wahrscheinlich Deutsch geredet. Und die haben einem Steine in den Weg gelegt. Weil die konnten sich besser verständigen und alles besser organsieren. Aber du durftest die zu nichts fragen, weil.. die haben zum Teil falsche Informationen rausgegeben. Ich hab drei solcher Leute kennengelernt und das reicht mir. Und ich sage, ich meide Leute aus dem Oppelner Gebiet. (ü)
19 Dieser Aspekt wird im Kapitel 11 noch ausführlicher diskutiert. 20 Das Oppelner Schlesien ist hier als subjektiv konstruiert zu verstehen. Hiermit ist kein politisches Konstrukt gemeint.
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Es ist auffällig, dass manche Interviewpartner die schlechten Erfahrungen mit anderen oberschlesienstämmigen Aussiedlern auf die „Oppelner“ zurückführen, denen neben dem Drang zum materiellen Aufstieg und Geiz auch unsolidarisches Verhalten vorgeworfen wird. Auch wenn konkrete Vermeidungsstrategien wie bei Frau Peschke nur selten offenbart werden, zeigen sich dennoch häufiger abwertende Urteile gegenüber „den Oppelnern“, so wie bei Reinhold Tomaschek, der vor allem den vermeintlichen Geiz und die Beschränktheit hervorhebt: Reinhold Tomaschek: Im Unterschied zu uns, sind die sehr sparsam. Nicht zu viel ausgeben. Und die müssen alle Häuser haben. Weil da auf dem Land hatten die alle Häuser. Und deshalb fahren die auch nicht in Urlaub. Die leisten sich gar nichts, Hauptsache das Haus. Das Leben geht vorüber und die waren nirgendwo. Im Restaurant waren die nicht einmal vernünftig essen. Wenn die mal einmal in fünf Jahren gehen, dann zu irgendeinem Chinesen. Dort, wo es Buffet gibt, für vierzehn, fünfzehn Euro kann man sich sattfressen. Und wenn die da hingehen, dann sitzen die da den ganzen Tag, weil das ist ein Riesen-Ereignis. (ü)
Interessanterweise sind aus der Perspektive der Aussiedler aus dem Oppelner Teil Oberschlesiens derartige Abgrenzungserscheinungen nicht zu erkennen. An einigen Stellen wird zwar das oberschlesische Industriegebiet als „dreckige, andere Region“ abgegrenzt oder es wird darauf verwiesen, dass Ost-Oberschlesien früher polnisch wurde (Plebiszit 1922) und daher eine andere Entwicklung erfahren hätte, jedoch impliziert diese Sichtweise und Regionalisierung selten die Abgrenzung von „anderen“ Oberschlesier- und damit Sympathiegruppen. Aus der Perspektive der Aussiedler aus dem Oppelner Schlesien herrscht im Großen und Ganzen eine Vorstellung der Wir-Gruppe in Bezug auf Gesamt-Oberschlesien, auch wenn z.T. nach sprachlichen Merkmalen oder räumlichen Attributen (ländlich/industriell) differenziert wird.21
9.3 Z WISCHENFAZIT Die Entwicklung der Aussiedlernetzwerke zeigt, dass auch bei einer geringen, rückläufigen oder gar völlig ausbleibenden Mobilität Transnationale Sozialräume konstruiert und konstituiert werden können. Zum einen hängt dies mit modernen Formen sozialer Interaktion zusammen. Grenzüberschreitende Netzwerke werden durch neue Kommunikationsmöglichkeiten gepflegt und z.T. auch heute noch mit Blick auf den Herkunftskontext erweitert. Zum Teil lokalisieren die Aussiedler
21 Das Thema der innerregionalen Differenzierung wird im Kapitel 11 (Identitäten) näher diskutiert.
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wichtige soziale Bezugspunkte in ihrem Herkunftskontext. Daneben zeigt sich, dass die Alltagswelten der Aussiedler durch transnationale Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse bestimmt werden. Die Erfahrungen, die vor der Migration in Oberschlesien prägend für das Verständnis von sozialer Interaktion und Differenzierung gewesen sind und z.T. auch heute noch im Transnationalen Sozialraum bestätigt werden, führen im Wohnumfeld in Deutschland zu wiederkehrenden Mustern in der Netzwerkentwicklung, die in gewisser Weise auch als Netzwerkstrategien interpretiert werden können: Erfahrungen aus dem Herkunftskontext drücken sich einerseits im Aufleben des oberschlesisch-polnischen Konflikts (Abgrenzung zu „Polen“) aus, aber auch in der distanzierten Positionierung gegenüber den „Deutschen“ aus. Polen bzw. Oberschlesien wird mit Blick auf die Prä-Migrationszeit als „soziales Paradies“ reflektiert, die Intensität der Freundschaften und das familiäre Zusammenleben werden im deutschen Umfeld häufig vermisst. Im Folgenden geht es nun um die materielle Infrastruktur, die bei der Transnationalisierung von Lebenswelten eine wichtige Rolle spielt, weil sie die Etablierung grenzüberschreitender Netzwerke erleichtern kann und die Auslebung transkultureller Konzepte im Ankunftskontext fördert.
10. Die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland und ihre Bedeutung für transnationale Lebenswelten der Aussiedler
In diesem Kapitel geht es weniger um eine ‚lückenlose‘ Bestandsaufnahme der polnischen/oberschlesischen materiellen Infrastruktur in Nordrhein-Westfalen, sondern vielmehr um die Bedeutung einzelner Elemente für die Aussiedler und ihre transnationalen Lebenswelten. Vorab soll allerdings ein kurzer Überblick über die Strukturen und Akteure der polnischen Community und der hieran angegliederten oberschlesischen Nischen gegeben werden. Grundsätzlich ist die unreflektierte Differenzierung in eine polnische und oberschlesische materielle Infrastruktur zu hinterfragen. Wenn ein Ladenbesitzer für sein Geschäft den Namen „Schlesische Spezialitäten“ wählt, dann ist dies eine Selbstzuschreibung des Anbieters, der für sich definiert, was hinter dieser Bezeichnung steht. Der Ladenbesitzer produziert hier seine eigene Oberschlesienwelt. Es kann lediglich festgehalten werden, dass sich der Anbieter explizit an eine potentielle Nutzergruppe richtet, die etwas mit dem Begriff anfangen kann und sich davon angesprochen fühlt. Es ist allerdings zu hinterfragen, ob die Nutzer überhaupt zwischen polnischen und oberschlesischen Angeboten unterscheiden.1 Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es offenbar spezielle Angebote für oberschlesienstämmige Migranten gibt, welche durch ein (ober-)schlesisches Label als solche zu erkennen sind. Diese Angebote sind allerdings oftmals nicht scharf trennbar von allgemeinen polnischen Angeboten. (Ober-)schlesische Radiosender oder (ober-)schlesischer Einzelhandel sind als regionsbezogene Nischen zu sehen, deren Nutzerkreis nicht pauschal festgelegt werden kann. Zudem
1
Es ist keine Seltenheit, dass das Geschäfte wie „Schlesische Spezialitäten“ von den Interviewpartnern als der „polnische Laden“ oder einfach als „der Pole“ bezeichnet werden.
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sollte vorsichtig mit Begriffen wie der „Polonia“ umgegangen werden. Als „Polonia“ werden in der Regel sämtliche Auslandspolen zusammengefasst, also sowohl solche, die als Polen im Ausland leben als auch Personen mit nichtpolnischer Staatsangehörigkeit, die jedoch aus Polen stammen und sich zur „polnischen Kultur“ bekennen (Spranger 2000: 211). Hier wird das Problem einer wenig reflektierten und essentialistischen Sichtweise auf ‚Kultur‘ und Nation deutlich. Die „Polonia“ kann erstens keine homogene Gruppe sein, die sich auf eine gemeinsame Basis, die polnische ‚Kultur‘, bezieht. Zweitens kann aus der Zugehörigkeit zu einem polnischen Verein oder dem Besuch eines polnischen Gottesdienstes nicht zwangsläufig auf eine bewusste Zugehörigkeit zu einer solchen „Polonia“Community geschlossen werden (vgl. Golomb 2007).
10.1 D IE
MATERIELLE I NFRASTRUKTUR FÜR DIE POLNISCHSPRACHIGE B EVÖLKERUNG IN D EUTSCHLAND
Die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung2 umfasst alle Aspekte des Alltaglebens und wird durch unterschiedliche Organisationen, Vereine, Unternehmen und Privatpersonen getragen. Alle von Pries (1996a, 1997b) differenzierten Bereiche der materiellen Infrastruktur sind identifizierbar. Es gibt stark ausgeprägte „soziale Netze“ (z.B. religiöse Vereine), „professionelle Organisationen“ (Arztpraxen, Anwaltbüros) und eine „sozio-kulturelle Infrastruktur“ (Sport, Musik, Essen). Alle Angebote stellen zusammen die Grundlage der polnischen Community in Deutschland dar, die durch eine Bündelung der Angebote an diversen Schnittstellen zusammengehalten wird. Der Versuch, diese Community zumindest für einige Teilbereiche zu erfassen, wurde erst in den letzten Jahren unternommen und bleibt damit weiterhin eine Aufgabe für die zukünftige Forschung (hier v.a. Nagel 2009; Sammelband von Wolff-Powęska/Schulz 2000; Kalczyńska 2009). Einen guten
2
Für dieses Kapitel wurden parallel zu den Interviews mit Aussiedlern Gespräche mit Akteuren aus verschiedenen Bereichen der polnischen Community in NRW geführt. Hierzu gehören der Einzelhandel, Vereine und die Kirche. Die Interviews wurden themenbezogen ausgewertet, da hier nicht die Personen, sondern die Inhalte im Vordergrund standen. Sie gaben einen Einblick in die Struktur der Community und die Sicht der Akteure auf die Eingliederung der Aussiedler in die Community. Zusätzlich wurden regelmäßige Beobachtungen in Geschäften und Kirchen sowie auf bestimmten Veranstaltungen wie Festen oder Schlesiertreffen vorgenommen. Ziel war es, einen Einblick in den Alltag und die Funktion dieser Angebote zu erhalten.
D IE MATERIELLE I NFRASTRUKTUR
FÜR DIE POLNISCHSPRACHIGE
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Überblick über die institutionellen Rahmenbedingungen von polnischen Vereinen und Organisationen gibt Nagel (2009). Grundsätzlich erhalten polnische Organisationen und Vereine finanzielle Zuweisungen vom polnischen Staat und von unterschiedlichen Gebietskörperschaften in Deutschland (Nagel 2009: 9). In Polen sind verschiedene Ministerien, der Senat und der Präsident mit unterschiedlichen Aufgaben in Bezug auf die Unterstützung der „Polonia“3 betraut. Seit 2002 existiert beispielsweise ein Konsultationsrat des Senats, zu dem Vertreter größerer „Polonia“-Organisationen weltweit dazugehören. 2008 beschloss dieser Senat Handlungsfelder für die Förderung der „Polonia“. Hierunter fallen der Ausbau des polnischen Schulwesens im Ausland4 und die „Popularisierung des Wissens über die historischen und gegenwärtigen intellektuellen Werke/Kulturgüter der polnischen Emigration und den Beitrag von Polen und polnischen Emigranten an der Entwicklung ihrer Aufenthaltsländer“ (Nagel 2009: 28). Auch das Außenministerium übernimmt wichtige Funktionen bei der Betreuung der „Polonia“, u.a. mit der Finanzierung des Fernsehsenders für Auslandspolen, „TV Polonia“, und der Einrichtung Polnischer Institute.5 Daneben engagieren sich Stiftungen, Vereine sowie Universitäten in der Erforschung und Förderung der weltweiten „Polonia“ (Nagel 2009: 30ff.). In Deutschland gibt es keine zusammenhängende Förderstruktur, da Polen nicht als nationale Minderheit anerkannt sind. Festgelegt ist allerdings eine Förderung nach dem Deutsch-Polnischen Vertrag von 1991 durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. 1999 wurde zudem ein bilaterales Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern unterzeichnet. Die Förderung der Bundesregierung soll dabei die Pflege der polnischen Kultur und Sprache in Deutschland unterstützen und einen Dialog zwischen beiden Ländern eröffnen. Bereitgestellt werden Gelder für kulturelle Projekte (u.a. Literatur, Kunst
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Der Begriff „Polonia“ als Bezeichnung für die polnischsprachige Bevölkerung außerhalb Polens, zu der je nach Quelle und Standpunkt auch die Aussiedler gezählt werden, wird hier verwendet, weil er in der politischen Förderstruktur explizit gebraucht wird.
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Im Hinblick auf die Polen in Deutschland sieht die polnische Regierung eine Asymmetrie im Vergleich zur deutschen Minderheit in Polen. Vor allem der Ausbau des muttersprachlichen Polnisch-Unterrichts an deutschen Schulen sowie die Anerkennung der Polen als nationale Minderheit werden gefordert (Nagel 2009: 35).
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Das Polnische Institut in Düsseldorf (gegründet 1993) ist eines der weltweit gegründeten Institute und hat das Ziel, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen durch die Präsentation der polnischen ‚Kultur‘, Politik, Geschichte, Gesellschaft und Bildung in Düsseldorf zu fördern. Neben der Organisation von Ausstellungen, Seminaren, Workshops und Vorträgen nimmt das Institut auch an Aktivitäten verschiedener Museen und Hochschulen aktiv teil (Polnisches Institut Düsseldorf 2014).
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und Film), die sich auf einen polnischen oder deutsch-polnischen Kontext beziehen. Auf Länder- und Kommunalebene gibt es ebenfalls Anstrengungen, die jedoch vom Engagement der jeweiligen politischen Akteure abhängen. So werden verschiedene Vereine oder Organisationen unterstützt (z.B. das Polnisches Theater in Kiel durch das Land, der Verein Polregio e.V. in Aachen durch den Kulturbetrieb der Stadt). Auf kommunaler Ebene werden zudem des Öfteren Schirmherrschaften über spezielle Events übernommen. Hinzu kommt die nicht zu verachtende Förderung durch Stiftungen (v.a. Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit) (Nagel 2009). Den in Deutschland existierenden polnischen Vereinen und Organisationen wird insgesamt eine geringe Bedeutung zugesprochen. Nagel (2009: 43ff.) beobachtet bei den polnischen Vereinen und Organisationen Mitgliederschwund und finanzielle Engpässe, zudem sieht der Autor das Interesse für ein Engagement von „Kulturpflege“ außerhalb der familiären Netzwerke als gering an (vgl. auch Spranger 2000: 216). Nagel identifiziert lediglich 20-30 Vereine, die regelmäßige Projektarbeit, Mittelwerbung und eine regelmäßig aktualisierte Außendarstellung betreiben. Der Autor geht bei den 100 registrierten Polonia-Organisationen in Deutschland von ca. 25.000 Mitgliedern aus, von denen jedoch nur ein kleiner Teil aktiv ist. Zu den Tätigkeitsfeldern dieser Organisationen und Vereine gehören Sprachunterricht (Polnisch als Mutter- und Fremdsprache), Musik/Theater/Kunst, Sport und soziale Fürsorge (Nagel 2009: 43; Spranger 2000: 213). Zu den Vereinen gehören beispielsweise polnische Tanzgruppen, Chöre, Theatergruppen oder Fußballvereine. 1998 haben sich vier Dachverbände polnischer Organisationen und Vereine zum „Konvent Polnischer Organisationen“ zusammengetan, der nun als Vertreter der Polen in Deutschland anerkannt ist, wobei nicht alle Organisationen und Vereine zu diesen Dachverbänden gehören (Nagel 2009: 10; Golomb 2007). Dem Konvent gehören seitdem an: •
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Der „Bund der Polen »Zgoda« in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“, der beispielsweise Kinderferienlager, Veranstaltungen („Andrzejki“), Konzerte und Wallfahrten organsiert und die Zeitschrift „Głos Polski“ („Stimme Polens“) herausgibt. Der „Polnische Kongress in Deutschland e.V.“, dem verschiedene Berufsvereinigungen, Kulturvereine und Sportvereine angehören. Das „Christliche Zentrum zur Förderung der polnischen Sprache, Kultur und Tradition in Deutschland e.V.“, das im Umfeld der polnischsprachigen Kirchengemeinden tätig ist und vor allem den Polnisch-Unterricht fördert. Zudem besitzt der Verein ein Schulungs- und Erholungszentrum, wo verschiedene Veranstaltungen durchgeführt werden. Der „Bundesverband Polnischer Rat in Deutschland e.V.“, der die deutsch-polnische Zusammenarbeit fördert und an einem positiven Image
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von Polen in Deutschland arbeitet. Zudem organisiert der Rat Kulturveranstaltungen (Nagel 2009: 44ff.). Außerhalb dieses Konvents und der Dachverbände ist noch der „Bund der Polen in Deutschland e.V.“ (gegründet 1922) zu erwähnen, der zwar die längste Tradition aller polnischen Vereine in Deutschland aufweist, jedoch auch stetig an Bedeutung verloren hat. Waren es 1988 noch 6.500 Mitglieder6, so schrumpfte diese Zahl auf gegenwärtig etwa 150. Im religiösen-institutionellen Bereich ist die Polnische Katholische Mission in Deutschland (kurz PKM) zu nennen, die sich aus 65 Missionen in fünf Dekanaten zusammensetzt. Sie übernimmt die Seelsorge, die sich aus der Sakramentenspendung, Katechese und einer karitativen Arbeit zusammensetzt. 2007 fanden deutschlandweit in 377 Kirchen/Kapellen heilige Messen in polnischer Sprache statt (Polnische Katholische Mission in Deutschland 2007; Nagel 2009: 46ff.). Einen wichtigen Aspekt der materiellen Infrastruktur stellt die Medienlandschaft dar. Hier hat es in den letzten Jahren eine große Ausweitung des Angebots gegeben, vor allem durch die zunehmende grenzüberschreitende mediale Vernetzung. Heute lassen sich polnischsprachige Informationen, Nachrichtenbeiträge und Berichte einfach im Internet abgreifen, was die Möglichkeiten zum Informationsaustausch grundlegend verändert und den Zugang zu polnischen Medien für die Auslandspolen stark vereinfacht hat. Bis zu der massenhaften Verbreitung leistungsfähiger Internetzugänge und deren Akzeptanz waren es vor allem Printmedien und Radio- bzw. Fernsehsendersender, die für die Informationsgewinnung genutzt werden konnten. Hier kann unterschieden werden in die allgemeine polnische Medienlandschaft, zu der auch in Deutschland ein Zugang besteht, und in spezifische Formate, die explizit auf die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland ausgerichtet ist. Zu ersteren: Eine große Bandbreite an Printmedien ist über den polnischen Einzelhandel oder auch über größere Buchhandlungen beziehbar, zudem gibt es Händler, die sich auf die Einfuhr von Printmedien spezialisiert haben und ihren Vertrieb direkt vom Pkw aus z.B. im Umfeld polnischsprachiger Gottesdienste organisieren. Manche polnische Fernsehsender lassen sich über Satellit empfangen, „TV Polonia“ ist sogar in einige Kabelnetze eingespeist. Neuerdings kommt es auch häufiger vor, dass polnische Pay-TV-Pakete in Deutschland installiert und die vertraglichen Angelegenheiten über Verwandte in Polen abgewickelt werden. Bei den speziell auf die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland ausgerichteten medialen Angeboten sind zunächst Radiosender zu erwähnen. Sie erweitern entweder das Programm deutscher Radiosender für einige Stunden in der Wo-
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Eine Mitgliedschaft bedeutete vor der Wende vor allem eine erleichterte Mobilität nach Polen (Nagel 2009: 50).
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che oder bieten über das Internet ein eigenständiges Angebot an. „Radio Atut“ beispielsweise spielt mitunter Musik von in Deutschland lebenden Polen und wird seit 2006 mit einigen Sendungen u.a. in das Programm von „Antenne Düsseldorf“ integriert. Häufig entstehen auch grenzüberschreitende Redaktionsteams wie beim Internetradiosender „Radio Pl“, an dem sowohl Redakteure aus Deutschland als auch aus Polen beteiligt sind (vgl. Nagel 2009). Bei den Printmedien ist vor allem „info&tips“ etabliert und überregional bekannt. „info&tips“ (Beispieltitelseite Abb. 28) greift sowohl deutsche als auch polnische Ereignisse und Themen auf und bietet zudem einen großen Anzeigeteil, der über Angebote für die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland informiert. Auch die überregionale Zeitung „Samo Życie“ informiert über polenbezogene Veranstaltungen und „Polonia“-Aktivitäten. Etabliert haben sich daneben auch Anzeigen- und Werbeblätter, die in polnischen Geschäften oder über die Polnische Katholische Mission vertrieben werden und Anzeigen polnischer bzw. polnischsprachiger Dienstleister anbieten. Hierzu gehören „PL-Markt“ oder „Polonez – kwartalnik europejski“ (vgl. Łakomy 2009). Stärker lokalen bzw. regionalen Bezug haben von polnischen Vereinen herausgegebene Printmedien. Der Aachener Verein „Polregio e.V.“ etwa bringt viermal jährlich eine Zeitschrift heraus, in der Artikel in polnischer und deutscher Sprache enthalten sind. Die Zeitschrift bezieht sich vor allem auf die Euregio Maas-Rhein und hat hier eine Anzeigenbörse für alle polnischsprachigen Angebote eingerichtet. Die Polnische Katholische Mission hat mit „Nasze Słowo“ ihre eigene Kirchenzeitung. Die Anzeigenseiten in Zeitungen und Zeitschriften deuten bereits an, dass die Vereins- und Organisationsstrukturen nicht die ‚Hauptschlagadern‘ der polnischen Community sind. Vielmehr schaffen private Unternehmen bzw. Dienstleister ein dichtes Netz an Serviceleistungen, das es ermöglicht, einen großen Teil der Bedürfnisse im Alltag über polnischsprachige Anbieter abzuwickeln. Services und Dienstleistungen werden für alle Bereiche angeboten; Polnischsprachige Handwerker, Automechaniker, Anwälte, Ärzte, Pflegekräfte, Friseure, Bestatter, Reiseveranstalter, Restaurantbetreiber und Versicherungs- oder Bankvertreter werben mit ihren Diensten und profitieren von der Bündelung der Angebote in Magazinen und Zeitschriften. Für Hamburg gibt es beispielsweise die polnische Variante der „gelben Seiten“ mit einem Branchenverzeichnis („Żółte Strony“, Abb. 29) für Polen in der Region. Besonders der Einzelhandel für ‚polnische‘/‚(ober-)schlesische‘ Produkte hat sich in vielen Städten sehr stark entwickelt. ‚Polnische‘ oder ‚(ober-)schlesische‘ Spezialitäten werden sowohl im stationären Einzelhandel (Supermärkte, Bäckereien) als auch durch rollende Versorger angeboten. Letztere fahren feste Routen ab und kooperieren mit ergänzenden Anbietern. So fahren beispielsweise Metzger und Bäcker gemeinsame Routen, um von der Kundenbündelung zu profitieren. Sie sind auch fester Bestandteil des Umfelds von polnischen Gottesdiensten (Abb. 30), wo auch Verkäufer von polnischen Zeitungen/Zeitschriften ihre Ware anbieten. Hinzu
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kommt hier ein an die Jahreszeit angepasstes Angebot. Vor Allerheiligen beispielsweise werden polnische Grablichter verkauft (Abb. 31). Abbildungen 28 und 29: Polnischsprachige Zeitung „info&tips“ (links) und das polnische Branchenbuch „Żółte Strony“ (rechts)
Quelle: Stanislaus Wenglorz Info&Tips Verlag 2014; DR Druck Dominik Rybak 2012
Im Einzelhandel hat sich in den letzten Jahren ein großer Wettbewerb entwickelt, aus dem auch größere Unternehmen hervorgegangen sind (z.B. „Lazar“ im Lebensmitteleinzelhandel). Neu ist jedoch, dass auch Lebensmittelhändler wie „Edeka“ mit ‚polnischen‘ Ecken auf diese Nachfrage reagieren und polnische Unternehmen mit gezielter Werbung in Deutschland auftreten. So ist beispielsweise die Brauerei des „Tyskie“-Bieres mit einer Werbekampagne in Deutschland aufgetreten, in der versucht wurde, die deutsch-polnischen Beziehungen in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig wurden mit der Kampagne jedoch vor allem die in Deutschland lebenden Polen/Aussiedler angesprochen. In die Werbeslogans wurden Wörter integriert, die aus dem Deutschen entlehnt sind. Die Schreibweise dieser Wörter ist dabei offensichtlich angelehnt an die Betonung und Aussprache der polnischsprachigen Bevölkerung (z.B. „Majstersztyk“ und „Fajer-Abend“, vgl. Abb. 32, S. 265). Die großen Player der polnischen Community wie das Unternehmen „Lazar“ oder die Herausgeber von „info&tips“ treten in den letzten Jahren auch als Sponsoren oder Organisatoren von Veranstaltungen auf. Veranstaltungen für Polen in Deutschland finden dabei ganzjährig statt. Hierzu gehören „polnische Nächte“ in
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Discotheken, größere von Sponsoren mitgetragene Großveranstaltungen und kleinere Veranstaltungen aus privater Initiative heraus. Zu den größeren Veranstaltungen gehören beispielsweise Konzerte polnischer Interpreten oder auch die LiveÜbertragung von Sportereignissen in Veranstaltungshallen (z.B. während der Fußball-Europameisterschaft 2012). Kleinere Veranstaltungen, die von Privatleuten organisiert werden, finden in angemieteten Sälen oder kleineren Hallen statt und sind oft an bestimmte Feste gebunden. Hierzu gehört beispielsweise die „Andreasnacht“ („andrzejki“) am 30. November. Des Weiteren bietet auch die Polnische Katholische Mission mehr als nur polnischsprachige Gottesdienste an: Im Umfeld der polnischsprachigen Gemeinden werden Bibelkreise, Wallfahrten, Polnisch-Unterricht, Religionsunterricht für Kinder und Chöre organisiert. Abbildungen 30 und 31: Gottesdienst in polnischer Sprache in Mönchengladbach (links) und Verkauf von Grablichtern und rollender Versorger (Backwaren) im Umfeld des polnischsprachigen Gottesdienstes in Mönchengladbach (rechts)
Quelle: Eigene Aufnahmen, Dezember 2013
Einen anderen Bereich der materiellen Infrastruktur bilden die Unternehmen, die auf die Mobilität von Personen und Gütern nach und von Polen ausgerichtet sind. Lange Zeit dominierten vor allem Busunternehmen den Markt. Eine Hin- und Rückfahrt von Nordrhein-Westfalen zu verschiedenen Zielen in Polen und insbesondere Oberschlesien kostet zwischen 70 und 90 Euro und wird von allen mittelgroßen und großen Städten in NRW aus angeboten. Daneben haben sich nun auch verstärkt Flugverbindungen etabliert, besonders die der Billig-Fluglinie „Wizz Air“, die von Köln und Dortmund polnische Ziele (u.a. auch Kattowitz) anfliegt. Auch Air Berlin wirbt mit Flügen in die „Heimat“ (Abb. 33). Daneben treten in vielen Städten private Paketdienste auf, die auf stationäre Annahmestellen verzichten und die Waren an festen Orten und zu festen Zeiten direkt an den Transportern annehmen. Sie beliefern die Kunden in wenigen Tagen direkt zuhause.
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Nun stellt sich noch die Frage nach den oberschlesischen Elementen der materiellen Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung. Letztlich wird mit der (ober-)schlesischen Marke versucht, eine Nische in der polnischen Community zu besetzen. Im Einzelhandel etwa wird mit ‚schlesischen Spezialitäten‘ geworben, obwohl die Produkte häufig entweder in Deutschland hergestellt (z.B. bei Backwaren) oder aus anderen Teilen Polens bezogen werden. Oftmals handelt es sich um Produkte, die in allen polnischen Supermärkten verfügbar sind und selbst keinen regionalen Bezug aufweisen. Beim Vertrieb ‚schlesischer Spezialitäten‘ handelt es sich vielmehr um den Versuch, den Kauf der Produkte zu fördern, die den Kunden aus der Zeit in Oberschlesien bekannt sind und dort regelmäßig konsumiert wurden. Aus Händler- und Kundenperspektive werden aus diesen Produkten ‚schlesische‘ Produkte, obwohl sie weder in ihrer Produktion noch Verbreitung auf Oberschlesien beschränkt sind. Abbildungen 32 und 33: Tyskie-Werbung in Deutschland (links) und Air BerlinAnzeige in „info&tips“ (rechts)
Quelle: SABMiller Brands Europe a.s.; Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG
Angebote für oberschlesienstämmige Migranten treten seit einigen Jahren auch verstärkt durch neue, zumeist in Deutschland betriebene Internetradiosender auf. Zu diesen Radiosendern gehören „Śląskie Radio“, „Radio Bercik“ und „Slonsky Radio“.7 Sie produzieren wohl noch am ehesten eine separate oberschlesische Community und sind an eine grenzüberschreitende Gemeinschaft weltweit gerichtet, wie der Einführungstext auf der Seite von „Slonsky Radio“ verdeutlicht: „Mit unserem Radio versuchen wir Schlesier auf der ganzen Welt miteinander zu verbinden und
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Daneben sind über das Internet auch die (ober-)schlesienbezogenen Radiosender aus Polen empfangbar. Hier ist z.B. „Radio Piekary“ zu nennen.
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zu verhindern, dass die schlesische Sprache ausstirbt. Unser Radio ist aber nicht nur für Schlesier, sondern für alle, die die schlesische Sprache und Traditionen lieb haben. Wir laden Sie herzlich ein bei uns reinzuhören und Sie werden sehen, dass Schlesien lebt“ (Czerwionka 2014). Die Kommunikationsbasis ist der oberschlesische Dialekt. Die Redaktionsteams setzen sich in der Regel sowohl aus in Deutschland als auch in Polen lebenden Redaktionsmitgliedern zusammen und bieten vor allem Unterhaltungssendungen an. Es wird auf Veranstaltungen (v.a. die der polnischen Community) hingewiesen, Musik von oberschlesischen bzw. polnischen Interpreten gespielt und es werden „oberschlesische“ Witze erzählt. Radiosender wie „Slonsky Radio“ werden zu einem Großteil von nicht-professionellen Redakteuren betrieben, die flexibel und je nach verfügbarer Zeit Sendeslots übernehmen und das Programm mit eigenen Beiträgen und Musik ausfüllen. Oberschlesien wird vor allem über Sprache und Humor reproduziert. Manche Radiosender haben sich auch zu Kommunikationsplattformen entwickelt. Hörer machen hier von der Möglichkeit Gebrauch, andere Mithörer zu grüßen; manchmal entstehen so auch Dialoge. Interessant ist hier auch ein Blick auf die Sprache. Geworben wird mit einem Programm „po ślońsku“ (= oberschlesisch). Dabei werden z.T. Hörerkommentare, die als Textnachricht an den jeweiligen Moderator gesendet werden, korrigiert, indem bestimmte polnische Wörter durch entsprechende Wörter aus dem Dialekt ersetzt werden. Was als „po ślońsku“ gilt, entscheidet somit der jeweilige Moderator. Insgesamt lässt sich bei den Radiosendern eine deutliche Schnittstelle zur polnischen Community erkennen: Im Programm und auf den Internetseiten wird auf polnische Veranstaltungen hingewiesen und auch Werbung für polnische Dienstleister geschaltet. (Ober-)Schlesischen Bezug haben auch einige (Groß-)Veranstaltungen. Hierzu gehören beispielsweise das „Beuthener Heimattreffen“ und das „Hindenburger Heimattreffen“, mit konkretem Bezug auf bestimmte Herkunftsstädte. Das „Beuthener Heimattreffen“ fand 2013 in Recklinghausen, der Partnerstadt von Bytom (früher Beuthen), statt. Federführend bei diesem Treffen ist der „Beuthener Heimatkreis e.V.“, der in diesem Rahmen von der Stadt Recklinghausen unterstützt wird. An zwei Tagen wurde das Programm vor allem durch Musikbeiträge und einen Gottesdienst gestaltet. Die Reproduktion von Oberschlesien findet hier vor allem über die Bausteine Kirche/Glauben, Essen, Trachten und sozialer Zusammenhalt statt. Auch wenn vor Ort vor allem im Dialekt gesprochen wird, bezieht sich der Verein vor allem auf die deutsche Geschichte Oberschlesiens, d.h. er ist vor allem an Vertriebene und Aussiedler gerichtet. Informationsmaterial gibt es lediglich in deutscher Sprache und bereits die Verwendung der deutschen Bezeichnung der Stadt (Beuthen) deutet eine Abgrenzung zur polnischen Sprache an. Mit der deutschen Geschichte Oberschlesiens und den Ereignissen nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt sich auch die Landsmannschaft der Oberschlesier, die 1950 als Solidargemeinschaft von Vertriebenen und Flüchtlingen aus Ober-
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schlesien gegründet wurde. Ziel des Vereins war die Unterstützung der Integration der Vertriebenen und später der Aussiedler (v.a. bei bürokratischen Prozessen), aber auch die Pflege von Sprache und „kulturellem Erbe“. Die Landsmannschaft engagiert sich zudem für deutsch-polnische Städte- und Vereinspartnerschaften und die deutsche Minderheit in Oberschlesien. Sie bietet eine Vielzahl von Veranstaltungen an und setzt sich auf lokaler Ebene aus kleineren Netzwerken zusammen. Daneben existiert auch separat die Landsmannschaft Schlesien, Nieder- und Oberschlesien e.V., die sich sowohl auf Nieder- als auch auf Oberschlesien bezieht (Rogall 2004: 173ff.). Der Blick auf die Angebote für Oberschlesier in Deutschland offenbart damit eine heterogene Angebotsstruktur. Hinter allen Angeboten verbergen sich jeweils unterschiedliche Oberschlesienrealitäten. Mit unterschiedlichen Kultur- und Raumkonstrukten als Zugang rekonstruieren die Anbieter eine bestimmte Nachfragestruktur, die sie dann entsprechend zu bedienen versuchen. Sie sprechen damit unterschiedliche Gruppen an. Die wichtigste Trennlinie ist dabei eine politische. Die Landsmannschaften produzieren ein ehemals ostdeutsches Oberschlesien und betonen bei ihrem Ziel der „Kulturpflege“ vor allem die deutschen Komponenten der Entwicklung Oberschlesiens. In den oberschlesienbezogenen Radiosendern geht es vor allem um die Pflege des Dialekts und um die Region als solche. Hier wird verstärkt eine oberschlesische Community konstruiert und bewusst auf nationalpolitische Hintergründe verzichtet. Bei den „Schlesischen Spezialitäten“ bekommen die Kunden polnische Produkte, die VerkäuferInnen sprechen dort nicht zwangsläufig den Dialekt und es liegt Werbung für polnische Veranstaltungen polnischer Organisationen oder Vereine aus. Hier liegt die wohl auffälligste Schnittstelle zur polnischen Community. Bei der materiellen Infrastruktur für Oberschlesier kann daher nicht von einer eigenen Community gesprochen werden. Viele Angebote gliedern sich in die allgemeine polnische Community ein, gerade weil sie keine fest abzugrenzende Nutzergruppe haben. Zudem sind die Angebote für Polen in Deutschland in vielen Fällen auch für die oberschlesienstämmigen Aussiedler interessant. Am deutlichsten wird dies bei den polnischsprachigen Kirchengemeinden.
10.2 D IE MATERIELLE I NFRASTRUKTUR UND DIE T RANSNATIONALITÄT VON ALLTAGSWELTEN OBERSCHLESIENSTÄMMIGER AUSSIEDLER Die materielle Infrastruktur ist in vielen Fällen ein wichtiger Baustein in der Konstitution Transnationaler Sozialräume. Sie kann Bedürfnisse nach verschiedenen Aspekten des Herkunftskontextes decken und kompensiert z.T. Mobilitätsbedürfnisse. Sie kann jedoch auch Mobilitätsbeziehungen verstärken, indem sich die grenzüber-
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schreitende Kommunikation über neue Plattformen (z.B. im Internet) erhöht und hierdurch Mobilitätsbeziehungen – auch durch die Verbesserungen der Transportmöglichkeiten – ausgebaut werden. Mit Blick auf die Netzwerke der Aussiedler und die sozialen Abgrenzungsprozesse ist die Einstellung zur materiellen Infrastruktur jedoch auch ein entscheidendes Differenzierungsmoment innerhalb der Aussiedlergruppe. Aussiedlern, die die ‚neuen‘ Angebote der polnischen Community in ihre Alltagswelt integrieren oder selbst mitgestalten, stehen Aussiedler gegenüber, die eher eine ablehnende Haltung gegenüber diesen Angeboten haben und die Partizipation in den polnischsprachigen Kirchengemeinden und Vereinen sowie den Konsum polnischer Produkte als Ausdruck des Scheiterns bewerten bzw. nicht mit ihren persönlichen Strategien des Einlebens vereinbaren können. Die materielle Infrastruktur und die Partizipation in der polnischen Community sind in erster Linie für die Aussiedler relevant, die ihre damalige Migrationsentscheidung kritisch sehen und mit ihrer Lebenssituation in Deutschland bzw. ihrem sozialen Umfeld unzufrieden sind. Damit einher geht in der Regel ein starker Bezug auf den Herkunftskontext. Vor allem bei Frau Maria Kwiatkowska, die sich in einer diasporaähnlichen Lebenswelt befindet, prägt die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung weite Teile ihres Alltags, in dem Frau Kwiatkowska ein auf Polen und alles „Polnische“ fixiertes Lebenskonzept entwickelt hat. Die Partizipation in der polnischen Community und die neuen technischen Möglichkeiten zum Informationsaustausch sind für sie notwendig, um die ‚Brücke‘ zum Herkunftsland aufrechterhalten zu können: Maria Kwiatkowska: Ich muss die polnischen Programme haben. TV Historia.. ich lebe mit diesen Programmen. Ich brauche das. Und ich kann mir das auch nicht vorstellen, so ohne polnische Programme. Das ist der Kontakt zu dem Land. Man weiß bisschen Bescheid. Ich muss das nicht von morgens bis abends schauen, so wie andere. So nur polnisches Fernsehen, kein deutsches. Ich schau spezielle Programme, die mich interessieren. Aber wenn ich jetzt irgendwo in Deutschland leben würde, wo es diese Programme nicht gibt, wo ich keine Antenne benutzen darf, wo es keine polnischen Geschäfte gibt, kein polnisches Essen.. und jetzt müsste ich da bleiben für zwei, drei Jahre. Dann würde ich anfangen zu weinen. (ü)
Für Frau Kwiatkowska stellt die materielle Infrastruktur nicht nur eine Linderung ihrer Sehnsucht nach dem Herkunftsland bzw. Erleichterung ihrer Situation des „Leidens“, sondern auch eine Kompensation ihrer starken Mobilitätsbedürfnisse dar. Die Partizipation in der polnischen Community bzw. das Nutzen ihrer Angebote ist zudem eine Kompromisslösung: Frau Kwiatkowska schließt eine Rückkehr nach Polen aus, versucht jedoch ihre Sehnsucht nach verschiedenen Aspekten des Alltags aus der Prä-Migrationszeit in Deutschland zu kompensieren. Sie deutet da-
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bei an, dass ihr auf den Herkunftskontext ausgerichteter Alltag ohne die Angebote der polnischen Community nicht möglich wäre. Ein wichtiger Aspekt für sie ist die Partizipation an Informationsflüssen: Durch polnische TV-Sender und Internetseiten fühlt sich Frau Kwiatkowska über Themen rund um Polen informiert und damit mit ihrem Herkunftsland verbunden. Das Aufdem-Laufenden-Sein ist Frau Kwiatkowska zudem wichtig, um sich an aktuellen Debatten und Gesprächen in ihrem polnischen Netzwerk beteiligen zu können. Über zahlreiche Kommunikationsplattformen wie Facebook oder Skype bleibt sie mit ihrem Netzwerk in Kontakt. Durch ihre alltägliche Einbindung in die polnische Community und ihr polnisches Netzwerk weltweit schafft Frau Kwiatkowska bewusste Abgrenzungslinien zur „deutschen“ Welt: Sie fährt, so oft es geht, nach Polen, nutzt dort Einkaufsmöglichkeiten oder den Service von Reinigungsdiensten oder Schneidereien. In Deutschland nimmt sie am „Beuthener Treffen“ teil, besucht den „Polnischen Kreis PIAST“8 in Essen und kauft in polnischen Läden ein. Diese Aktivitäten und die dazugehörigen Orte bilden einen wichtigen Teil ihres transnationalen, auf Polen ausgerichteten Sozialraums aus. Die Partizipation in der polnischen Community stellt für Frau Kwiatkowska zudem ein aktives Bekennen zu ihrer polnischen Identität und der Zugehörigkeit zu einer imagined community dar, die sich letztlich auf das bezieht, wofür der Begriff „Polonia“ steht. Über den Erwerb polnischer Lebensmittel z.B. bringt Frau Kwiatkowska ihre große Vorliebe für polnisches Essen bzw. ihre abwertende Haltung gegenüber der deutschen Küche zum Ausdruck: Maria Kwiatkowska: Ich esse keinen deutschen Aufschnitt. Mir schmeckt nur polnisches Essen. Und den Deutschen schmeckt es auch, es ist ihnen nur zu teuer. Polnische Küche, polnisches Essen, es ist lecker. (ü)
Doch nicht nur für Frau Kwiatkowska, die mit ihrer diasporaähnlichen Lebenssituation einen besonderen Fall unter den interviewten Aussiedlern darstellt, stellt die materielle Infrastruktur einen ‚Brückenschlag‘ zu Polen bzw. Oberschlesien dar. Auch andere Aussiedler und vor allem solche, deren Netzwerke stark auf den Herkunftskontext bezogen sind, bauen verschiedene Aspekte der materiellen Infrastruktur in ihre alltäglichen Lebenswelten ein. Häufig spielt das Interesse für Entwicklungen und Ereignisse eine entscheidende Rolle, die dort stattfinden, wo wichtige Freunde und Familienmitglieder leben. Durch das Abrufen von Informationen durch diverse Internetseiten, Radio-/Fernsehsender und Printmedien wird eine
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Polnischer Verein in Essen, der polnische Veranstaltungen organisiert und regelmäßige Treffmöglichkeiten für polenstämmige Migranten anbietet.
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Kommunikationsbasis für den Herkunftskontext geschaffen, wie an der Aussage von Herrn Feldmann deutlich wird: Richard Feldmann: Man muss ja auch wissen, was da los ist. Wenn man da hinfährt, dass man da auch nicht ins offene Messer läuft.
Grundsätzlich und mit nur wenigen Ausnahmen (z.B. Frau Kwiatkowska) sind die Angebote für die polnischsprachige Bevölkerung additiv zu anderen alltagsrelevanten Kontexten (z.B. deutsche Vereine, Arbeitsumfeld) zu sehen. Das Spektrum der Einbindung der Angebote in die alltäglichen Lebenswelten reicht von gelegentlichen Einkäufen in polnischen Geschäften bis zu einer bewussten Partizipation an dem Gesamtkonstrukt der Community, bei der es nicht nur um Produkte oder Dienstleistungen, sondern um das Gefühl der Partizipation an sich geht. Der Kauf bestimmter Produkte, die Teilnahme an Gottesdiensten oder das Verfolgen polnischer Nachrichten werden häufig als ein Erleben eines Ausschnitts von ‚Heimat‘ wahrgenommen, weil sie mit Emotionen aufgeladen und mit dem Herkunftskontext verbunden werden. Das gemeinsame Feiern eines Gottesdienstes oder die Partizipation in Vereinen werden mit einem Gefühl der Geborgenheit und mit dem Kontakt zu etwas Vertrautem gleichgesetzt. Polnische Gottesdienste sind hier ein gutes Beispiel. Sie werden z.T. als ‚Kopien‘ der Herkunftsgesellschaft gesehen. Das Gefühl der Vertrautheit entsteht hier über die Art des Predigens (eventuell mit konservativeren Grundhaltungen), über bestimmte zeremonielle Abläufe, die Sprache, aber auch durch räumliche Aspekte (z.B. voll besetzte Kirche). Letzterer Aspekt deutet an, dass das kollektive Erlebnis entscheidend ist, also das Gefühl, mit eigenen Einstellungen und Bedürfnissen nicht alleine zu sein. Dies verdeutlicht Martin Kluczek, für den die Angebote der polnischen Community nach seiner transmobilen Phase im Jugendlichenalter eine ganz entscheidende Komponente im Aufbau seiner Transkulturalität darstellten. Das Bedürfnis nach polnischen Gottesdiensten sieht er außerdem als verbindendes Element in einer ansonsten heterogenen Migrantengruppe: Martin Kluczek: Und vielleicht auch in so einem gewissen Sinne, man fühlt sich einfach dann geborgener. Ich glaub, das ist schon eine Gefühlssache auch, dass man sich da geborgen fühlt in.. nicht nur aufgrund der Sprache, sondern einfach, weil auch so viele Menschen offensichtlich ähnlich fühlen und spüren. Obgleich sie hier in Deutschland wohnen, also ich glaub, Kirche das ist für den Oberschlesier.. also der Katholizismus, das ist, glaub ich, ganz zentral für den Oberschlesier. Und da ist glaub ich egal, ob es sich um einen handelt, der sich als polnischer Oberschlesier versteht oder deutsch-oberschlesisch. Aber ich kenne auch viele, die denken eher so deutsch-oberschlesisch, aber die sieht man dann auch immer wieder mal in die polnische Kirche gehen. Weil man merkt, offenbar scheint den Leuten irgendwas zu fehlen.
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Auch für Johanna Jasko ist die polnische Community an ihrem Wohnort ein wichtiger alltäglicher Bezugspunkt, weil sie hier das Gefühl hat, zu einer Gruppe von Menschen mit ähnlichen Einstellungen und Bezügen zu Polen/Oberschlesien zu gehören. Das Umfeld der polnischsprachigen Kirchengemeinde ist für sie eine wichtige Konstante im Alltag und wird von ihr mit „Heimatgefühl“ in Verbindung gebracht. In den deutschen Kirchen beobachtet sie Auflösungserscheinungen, während ihr an den polnischen Gottesdiensten die vollen Bänke, aber auch das Einhalten religiöser Praktiken (z.B. die regelmäßige Beichte) gefallen. Ihr neunjähriger Sohn besucht seit einiger Zeit einen Polnisch-Kurs, der als Zusatzleistung auf seinem Grundschulzeugnis vermerkt wird. Nun überlegt Johanna Jasko auch, ihn über eine „polnische“ Erstkommunion in die polnischsprachige Kirchengemeinde zu integrieren. Sowohl Erstkommunion als auch Firmung und Hochzeiten können in den Gemeinden der Polnischen Katholischen Mission durchgeführt werden: Johanna Jasko: Wir gehen manchmal zu meiner Mutter, zur deutschen Kirche. Aber grundsätzlich in die polnische Kirche, weil hier gibt es keine Priester, nur den Wortgottesdienst. Da geh ich lieber direkt zur polnischen Kirche. Da weiß ich, es ist ein Priester da. Nun überlege ich auch, ob ich Max [Sohn, Anm. M.O] zur polnischen Erstkommunion schicken soll. Weiß noch nicht, muss mir das überlegen. Auch wie es mit der Sprache sein wird. [...] Aber mich hat es immer zur polnischen Messe gezogen. Mich immer. (lacht) Mama hat immer gesagt: „Du bist bekloppt.“ (lacht) [...] Aber mir gefällt das. Die Lieder singen, Beichte. Dass die Leute zur Beichte gehen. Das hat mir unheimlich gefallen. Das ist so die Erinnerung. (ü)
Interessant ist hier Johanna Jaskos Strukturierung einzelner (räumlicher) Kontexte in ihrem Transnationalen Sozialraum. Auf der einen Seite beschreibt sie die Partizipation an den Gottesdiensten als Gefühl des „Zuhause-Seins“: Johanna Jasko: Ich denke, in der polnischen Kirche ist es wie.. (überlegt) dort zu sein ist wie, ne? Zuhause-Sein. [...] Meine Eltern sagen wieder, dass ich übertreibe. Dass ich hier lebe und deswegen auch zur deutschen Kirche gehen sollte. Aber.. weiß nicht, warum? Mich zieht es dahin und Schluss. (ü)
Auf der anderen Seite betont Johanna Jasko, dass ihr das Zuordnen von Begriffen wie „Heimat“ und „Zuhause“ schwer fällt: Johanna Jasko: Schwer. Schwer, weil wenn ich drei Wochen dort bin, zieht es mich zurück. (lacht) Aber hier zieht es mich dahin. Schwer zu sagen. Wir sind zweigeteilt. Heimat ist da, aber hier.. hier leben wir schon lange. (ü)
Es wird deutlich, dass sich Johanna Jasko sowohl zum Herkunfts- als auch zum Ankunftskontext hingezogen fühlt. Durch dieses Hin-und-Hergerissen-Sein zwi-
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schen verschiedenen Orten entsteht ein transnationaler Handlungskontext, wobei die Transkulturalität im Vordergrund steht und nicht, wie bei Frau Kwiatkowska, die totale Ausrichtung auf das Herkunftsland. Johanna Jasko fährt gerne nach Oberschlesien, dort fühlt sie sich allerdings auch stark zu ihrem aktuellen Wohnort in Deutschland hingezogen. Ein Leben in Polen konnte sie sich in ihrer Jugendzeit vorstellen, heute weiß sie, dass in Deutschland vieles „besser“ und „einfacher“ ist. In diesem Gefühl des Hin-und-Hergerissen-Seins stellen die Orte der polnischen Community an ihrem Wohnort Raumbezüge von „Zuhause“ dar, weil sie ein Stück Herkunftskontext erlebbar machen und gleichzeitig eingebettet sind in ihren Alltag in Deutschland, mit dem sie sehr zufrieden ist. Die polnische Community ist daher nicht als Kopie des Herkunftskontextes, sondern exklusiv und mit ihrem spezifischen Charakter im Ankunftskontext zu sehen. Entscheidend für Johanna Jasko ist nicht, wo, sondern dass sie ihre polnischen bzw. oberschlesischen Traditionen, Werte und Normen ausleben und pflegen kann. Zu ihrem transkulturellen Alltag gehören sowohl die Pflege des Dialekts, die Pflege religiöser Praktiken als auch Kleinigkeiten wie der vermeintliche traditionelle „polnische“ Kaffee (Gemahlener Kaffee wird in der Tasse ohne Filter mit heißem Wasser aufgebrüht). Allerdings gehören für sie zu ihrem Alltag auch der berufliche Erfolg und gute Kontakte im schulischen Umfeld ihrer Kinder dazu: Johanna Jasko: Es muss eben eine solche Tasse9 sein. [...] Traditionen.. wie feiert man Weihnachten, welches Essen macht man zum Beispiel? Wie.. wie bewirtet man Gäste? Tradition. Die kirchliche Tradition. Gedichte, Geschichten, weiß nicht. Alles eben. Alles. Mich interessiert das total. [...] Es sollte aber auch so sein, wenn wir hier leben, dann sollte auch die andere Seite eine Rolle spielen. Und viele Leute aus Polen interessieren sich bloß für Polen. Das ist auch falsch. (ü)
Es zeigt sich jedoch auch, dass das Vermischen unterschiedlicher Werte, Einstellungen und Handlungsmuster (Transkulturalität) bei einigen Aussiedlern dazu führt, dass bestimmte Strukturen und Angebote der materiellen Infrastruktur als nicht mehr zeitgemäß oder vor dem hiesigen Kontext als unpassend gesehen werden. Hierzu gehören beispielsweise oben erwähnte konservativere Predigten in Gottesdiensten oder traditionelle Veranstaltungen. Einige Aussiedler zeigen sich hier distanziert und suchen Angebote, die zur üblichen Lebenswelt passen und mit ihr in Einklang stehen. So entstehen transkulturelle Lebenswelten, die sich durch Elemente unterschiedlicher Kontexte zusammensetzen. Erwähnt werden hier z.B. zweisprachige Gottesdienste, die nur teilweise in polnischer Sprache abgehalten werden
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Es handelt sich um eine Tasse mit einem bestimmten Muster, Henkel und Untersetzer, die Johanna Jasko als „typisch“ polnisch beschreibt und daher favorisiert.
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oder polnische Veranstaltungen, die zwar gewissen Traditionen folgen, jedoch offener gestaltet sind und beispielsweise auch von Deutschen besucht werden. Des Weiteren ist die Einbindung in verschiedene Bereiche der polnischen Community nicht unbedingt als Abgrenzung zum ‚deutschen‘ Wohnumfeld – wie es bei Frau Kwiatkowska der Fall ist – zu sehen. Sie kann vielmehr eine Bereicherung transkultureller Lebenswelten sein und dementsprechend eine Facette des Alltags ausmachen. Frau Walus etwa ist sowohl in die lokale polnischsprachige Kirchengemeinde eingebunden, in der sie einen Bibelkreis organsiert, als auch in eine deutschsprachige Kirchengemeinde. Sie fühlt sich beiden Gruppen zugehörig. Für sie kommt es bei der Wahl für die eine oder andere Gruppe nicht auf eine Abgrenzung zum jeweils anderen Umfeld an, sondern auf das Wohlbefinden und den Kontakt zu Menschen, mit denen sie sich auf einer Wellenlänge befindet. Angebote für die polnischsprachige Bevölkerung können auch phasenweise von Bedeutung sein, wie beispielsweise bei Frau Musiol deutlich wird. Für sie ist die materielle Infrastruktur punktuell und in Phasen, in denen sie sich intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, wichtig. Solche Phasen erzeugen bei ihr eine verstärkte Sehnsucht nach vertrauten Produkten. Über ihren Konsum wird Vergangenes und Vertrautes erlebbar und lindert Gefühle von Sehnsucht nach früheren Lebensphasen: Katharina Musiol: Der Mensch, also anatomisch gesehen, verbindet viel mit den Sinnen, mit Gerüchen und Geschmack. Wenn Sie in die Vergangenheit zurückkehren, so zu Kindeszeiten. Dorthin, wo Sie sich wohl gefühlt haben. Ich hab mich zum Beispiel sehr wohl gefühlt bei meiner Oma, der Mutter meiner Mutter. Da weiß ich bis heute, wie es dort gerochen hat in ihrer Wohnung. Und ich weiß bis heute, was ich dort gerne gegessen habe. Und ich denke, dass man schon mal die Sachen aus der Kindheit sucht, die es hier in den Geschäften nicht gibt. Weil die Sachen sind doch anders gemacht. Und man kehrt so ein bisschen zurück zu diesen Dingen. Zu den glücklichen Tagen. Weil als Kind haben Sie keine Probleme, nur kleine. So kommt es mir vor. Letztlich bleibt die Sehnsucht nach.. nach dem, von dem man weggegangen ist.. man ist freiwillig gegangen. Aber nach einiger Zeit kommt das so und der Mensch sucht das. Man hat sich hier alles aufgebaut, aber es ist halt anders, ne? Und dann gibt es eben solche Tage, da kommen solche Gefühle und dann geht man eben zum Polen, um ein Stück Wurst zu kaufen und dann geht es einem besser. So kommt es mir vor. (ü)
In den Interviews zeigt sich allerdings auch, dass die Nutzung verschiedener Angebote aus der materiellen Infrastruktur bei einem kleinen Teil der Aussiedler zu einer vollständigen Ausrichtung auf den Herkunftskontext führen kann, auch wenn eine solche Entwicklung nicht intendiert ist (anders als bei Frau Kwiatkowska). Deutlich wird dies vor allem bei einigen älteren Aussiedlern und den abgerufenen Informationsflüssen. Beim Fernsehkonsum zeigt sich etwa, dass einige Aussiedler das deutschsprachige Angebot vollständig durch das polnische Programm ersetzen.
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Viele ältere Aussiedler greifen hierbei nicht nur auf das Internet, sondern auch auf polnische Pay-TV-Pakete zurück, die alle öffentlichen/privaten Sender und zusätzlich verschlüsselte Kanäle bereithalten. In den Alltag werden die regelmäßige Lektüre bestimmter Zeitungen/Zeitschriften, Lieblingsserien im polnischen Fernsehen und das regelmäßige Verfolgen polnischer Nachrichtensendungen integriert. Manchmal führt dies dazu, dass polenbezogene Nachrichten die Informationen zum deutschen Kontext nicht nur ergänzen, sondern vollständig kompensieren. In diesem Fall findet eine Auseinandersetzung ausschließlich mit Ereignissen, Entwicklungen und Problemen des Herkunftskontextes statt. Das Auf-dem-LaufendenBleiben wird zum alltäglichen Prozess und der ‚Brückenschlag‘ zur ‚Heimat‘ tendiert mehr und mehr in Richtung des Herkunftskontextes: Mit Spannung wird dann der Ausgang von Wahlen und Gerichtsurteilen oder die Fortsetzung der Lieblingsserie erwartet. Frau Ilse Matysek, die regelmäßig nach Oberschlesien fährt und in Deutschland stark in die lokale polnische Kirchengemeinde eingebunden ist, nutzt in ihrem Alltag fast ausschließlich polnische Medien: Ilse Matysek: Interessiert mich mehr. Da hab ich Familie, von dort komm ich her. Mir tun die Leute dort leid. Weil denen geschieht viel Unglück. Den Armen. Es gibt dort viele Millionäre und Reichtum. Eben bei den Leuten, die ihr Geld im Ausland verdient haben. Junge Familien fahren ins Ausland, damit sie ein Häuschen bauen können oder eine Wohnung kaufen können. Die Ehen.. gehen daran kaputt. Weil das Geld zählt. Interviewer: Was schauen Sie sich denn an? Ilse Matysek: Ach, Vieles. Clan. Plebania mochte ich. Dann Galeria und Nachrichten. Telexpress, die um 18:50 und um Drei die kleinen Nachrichten. Ich schaue alles. Ich brauche die Informationen. [...] Hier höre ich mal im Radio, was so passiert. Aber dort sind die großen Skandale. Es ist fast peinlich, dass dort so etwas passiert. Mit Smolensk zum Beispiel.10 (ü)
Frau Matysek kommt im Interview immer wieder auf Entwicklungen und Themen rund um Polen zu sprechen. Das große Interesse für den Herkunftskontext führt sie u.a. darauf zurück, dass sie dort Familie und wichtige soziale Bezugspunkte hat. Das Wissen um die Entwicklungen in Polen ist für sie wichtig, um alltägliche Beziehungen aufrechtzuerhalten, gemeinsame Gesprächsgrundlagen für ihre Kontakte in Oberschlesien zu schaffen und ihr Herkunftsgebiet durch ihr Interesse und ihre Anteilnahme im Alltag erlebbar zu machen. Die Transnationalität ihrer Lebenswelt ergibt sich hier durch eine konsequente Durchdringung des Alltags durch herkunftsbezogene Themen, Informationen und Interessen. Dabei offenbaren einige Aussiedler auch eine selbstkritische Sicht auf diese starke Ausrichtung auf den
10 2010 starben bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Smolensk zahlreiche ranghohe polnische Würdenträger, unter ihnen auch Staatspräsident Lech Kaczyński.
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Herkunftskontext: Ilse Matysek sieht sich selbst als abgekapselt von deutschlandbezogenen Informationskanälen und stößt in ihrem deutschen Umfeld deshalb auf Unverständnis. In ihrem zunehmend auf Polen ausgerichteten Alltag bemerkt sie zudem eine Verschlechterung ihrer sprachlichen Kompetenzen, was sie selbstkritisch auf die Dominanz der polnischen Sprache im Alltag zurückführt: Ilse Matysek: Mein Schwiegersohn hat bereits gesagt, dass ich, seitdem ich aufgehört hab zu arbeiten und seit ich polnisches Fernsehen habe, nicht mehr vernünftig Deutsch sprechen kann. (..) Vielleicht grammatisch. Ja. (..) Naja und wenn ich einen Polen treffe und da ist auch noch ein Deutscher dabei, dann rede ich polnisch. Das ist nicht gut. Ich sollte deutsch reden. Aber.. naja es ist irgendwie ehrlicher. (ü)
Ähnlich selbstkritisch zeigt sich Ewald Mazur. Er und seine Frau nutzen ausschließlich polnische Medien, vor allem über ihr polnisches TV-Abonnement, das sie nahezu ganztägig nutzen: Ewald Mazur: Es laufen immer Nachrichten. Interviewer: Und Sie schauen diese auch jeden Tag? Ewald Mazur: Jeden (betont). Ach die ganze Zeit. Ich springe von einem Kanal zum nächsten. Aber die sagen halt überall was anderes. (ü)
Seine einseitige Ausrichtung auf polnische Informationsflüsse rechtfertigt Herr Mazur mit seinem großen Interesse für die Geschehnisse in seiner „Heimat“ und insbesondere Oberschlesien. Da er in Oberschlesien den Großteil seines Lebens verbracht hat, fühlt er sich zu den dortigen Entwicklungen stärker hingezogen als in Deutschland, wo ihm immer noch der Bezug zur Gesamtentwicklung fehlt. Gleichzeitig bemängelt Herr Mazur seine persönliche sprachliche ‚Abwärtsspirale‘, die seine Fokussierung auf die polnische Sprache im Medienalltag mit sich bringt. Während er seine Deutschkenntnisse früher noch durch die Nutzung deutscher Medien verbessern konnte, fehlt ihm nun jegliche Sprachpraxis, da er in seinem Netzwerk ausschließlich im Dialekt kommuniziert. Einerseits sieht er die Kommunikationsbarrieren, die durch seine geringen Deutschkenntnisse entstehen, kritisch, andererseits sieht Herr Mazur keine Motivation, etwas an der Situation zu ändern: Ewald Mazur: Naja weißt du, ich rede bis heute nur schwach Deutsch. Ich hab halt Schwierigkeiten mit der Sprache. Sie zu verstehen. Naja, das macht auch das Alter. Und dann rede ich halt viel Polnisch. Und dann noch die polnischen Programme, ich hab halt die Möglichkeit. Als wir hierhin gekommen sind, da gab es sowas noch nicht, da konnte man sogar schon besser Deutsch. Und jetzt entwickelt sich alles zurück. (ü)
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Im Alltag kommt Herr Mazur gut ohne Deutschkenntnisse zurecht, da er für alle Bereiche Strategien entwickelt hat, die ihm dabei helfen, Situationen, in denen Deutschkenntnisse nötig sind, zu umgehen. Um bürokratische Angelegenheiten kümmert sich beispielsweise seine Tochter. Herr Mazur selbst greift vor allem auf die Angebote der materiellen Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung zurück, z.B. wenn es um Arztbesuche geht: Ewald Mazur: Und weil meine Frau und ich eben so schlecht deutsch sprechen.. und vor allem so medizinische Sachen. Dem Arzt zu erklären, was man hat und so. Das ist schwer für mich. Und dann gibt es eben die polnischen Ärzte. In Deutschland. Dann geh ich eben dahin. Urologe, Hausarzt. Ich hab drei Ärzte, zu denen ich hingehe. Die sind zweisprachig. Polnisch und Deutsch. (ü)
Die Nischenangebote mit Bezug zu Oberschlesien werden von den Aussiedlern vor allem im Bereich der Medien als wichtig erachtet und genutzt. Oftmals erwähnt und positiv bewertet werden Radiosender wie „Śląskie Radio“ oder „Radio Slonsky“, aber auch die Radiosender aus Polen, die oberschlesische Programme senden und ebenfalls über das Internet empfangen werden. Dabei zeigt sich eine regelrechte euphorische Bewertung dieser neuen oberschlesischen Kanäle, die vor allem auf ein Gefühl von Stolz zurückzuführen ist. Vor der Migration gab es in Polen entsprechende Medien nicht, weshalb die Verbreitung oberschlesischsprachiger Medien für einige Aussiedler die längst überfällige Freiheit in Bezug auf Auslebung regionaler ‚Kulturelemente‘ bedeutet. Stolz und froh zeigen sie sich daher über die Möglichkeit, etwas im oberschlesischen Dialekt auf „offiziellem Wege“ hören zu können. Paul Kudela, der seit den 1970er Jahren in Deutschland lebt und in Polen vor allem wegen der deutschen Vergangenheit seiner Familie Diskriminierungen erfuhr, nutzt insgesamt nur sporadisch Angebote der polnischen Community. Alles, was jedoch mit der Förderung der „Regionalkultur“ Oberschlesiens zu tun hat, verfolgt er regelmäßig. Im Internet informiert er sich ausschließlich über die Geschehnisse seiner Herkunftsstadt Kędzierzyn-Koźle und hört die Sendungen der oberschlesischen Radiosender. Zudem zeigt er sich höchst erfreut über die Einführung des Regionalsenders „TV Silesia“, der einige Programme im Dialekt anbietet: Paul Kudela: Oh, jeden Tag guck ich da bisschen. Wie lange ich gucke, weiß ich nicht. Je nachdem, was da gerade ist. Wenn da so manchmal so schöner schlesischer Film läuft, dann guck ich den. [...] Das ist ja nur alleine wegen der Sprache und so weiter. Weil das hört sich so schön an. [...] Das verbindet mich irgendwie zu der Zeit, wo ich da gelebt hab, die Erinnerung kommt ja, alte Freunde und so weiter, wie das alles so war. Das ist die Verbindung damit, ne? Interviewer: Und wenn das auf Polnisch wär? Paul Kudela: Dann wär das nicht mehr so interessant.
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Die Möglichkeit, seinen Dialekt nun über verschiedene Kanäle hören zu können, stellt für Paul Kudela nicht nur eine „Rückkehr“ in die Vergangenheit dar. Für ihn und auch andere Aussiedler stellt dies eine Bestätigung der Existenz ihrer gedachten Gemeinschaft (imagined community) von Gleichgesinnten dar, die Oberschlesien und seine regionalen Besonderheiten (v.a. Dialekt) pflegen und den Erhalt vorantreiben. Die imagined community wird über die Vorstellung gebildet, dass auch andere Menschen den Dialekt gerne verwenden und dieser durch seine mediale Verbreitung in gewisser Weise populär wird. In diesem Zusammenhang zeigen sich einige Aussiedler erfreut, wenn sie bestimmte Wörter aus dem Dialekt (wieder) hören, die sie seit langem oder seit der Aussiedlung nicht mehr gehört haben, oder wenn alte und neue „oberschlesische“ Witze erzählt werden. Vor dem gleichen Hintergrund werden auch die verschiedenen Treffmöglichkeiten wie das „Beuthener Heimattreffen“ als Plattformen für solche imagined communities genutzt. Hier sind allerdings auch kontroverse Ansichten zu erkennen. Die Erfahrungen bei „Schlesiertreffen“ sind auffällig häufig negativer Art. Neben zu starkem Alkoholkonsum werden vor allem andere Teilnehmer kritisiert, die als angeberisch und oberflächlich wahrgenommen werden. Es sind die Erfahrungen, die z.T. auch zu den Abgrenzungen gegenüber „anderen“ Oberschlesiern und der eigenen Herkunftsgruppe führen (vgl. Kapitel 9.2.3). Jan Bula beispielsweise nahm einmal an einem „Schlesiertreffen“ in der Grugahalle in Essen teil und zeigt sich enttäuscht vom Verlauf der Feier: Jan Bula: Ich weiß nicht.. dieses Schlesiertreffen in Gruga. Das ist eine Unverschämtheit. Da kommen dann solche Idioten hin. Autoschlüssel am Finger.. wie toll er doch ist. Und alle sind natürlich Direktoren. (..) In Polen hat der mit der Schaufel geackert und hier großer Direktor. Der hat nicht mal die Grundschule. Solche sind das. Und dann red mal mit so einem. (ü)
Auch von anderen polnischen Veranstaltungen zeigt sich Jan Bula enttäuscht. Hier hat er Pöbeleien und Schlägereien miterlebt, weshalb er derartige Veranstaltungen nun konsequent meidet. Jan Bula: Ne, ne. Polnische Feiern ne. Obwohl einmal so eine Silvesterfeier.. das war schön. In Essen, nicht weit von hier. Das war super. Aber ich war mal in Gelsenkirchen auf einer polnischen Feier. Da wurde schon gepöbelt und es lief Blut. (ü)
Ohnehin wird von einem Teil der interviewten Aussiedler die Partizipation an der polnischen Community eher kritisch gesehen oder gar bewusst abgelehnt. Hier kann unterschieden werden in Aussiedler, die in bestimmten Bereichen engagiert sind oder Angebote nutzen, jedoch eine zu große Ausrichtung des Alltags auf die Community vermeiden, und in Aussiedler, die sich bewusst von der Community abgrenzen. Zu letzteren gehören vor allem Interviewpartner, die (mittlerweile) nur schwa-
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che bis gar keine Beziehungen und Bindungen zum Herkunftskontext aufweisen und auch im Ankunftskontext Bindungen an polnische/oberschlesische Welten als „unnötigen Blick in die Vergangenheit“ sehen. Eng damit verknüpft ist die individuelle Sichtweise auf die Anforderungen von ‚Integration‘.11 Einige Aussiedler vertreten dabei den Standpunkt, dass die Einbindung in die polnische Community und das Zurückgreifen auf Angebote der materiellen Infrastruktur nicht mit einer erfolgreichen ‚Integration‘ in Deutschland vereinbar sind. Die Einbindung in polnische Vereine, Kirchen und Geschäfte wird hier als ein „rückwärtsgewandtes“ Lebenskonzept interpretiert und als Voraussetzung des Scheiterns gesehen. Mit Blick auf eine erfolgreiche ‚Integration‘ im Wohnumfeld wird der Kontakt zur materiellen Infrastruktur, wie es bei Frau Piontek deutlich wird, auf ein Minimum reduziert: Gabi Piontek: Wir wollten hier eigentlich schnell in das Umfeld rein. Dass man uns hier nicht abstempelt.. dass wir nicht segregiert sind. Deswegen machen wir so was auch nicht. So mal was im polnischen Laden kaufen, mehr nicht. Keine polnischen Treffen und Feste. (ü)
In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass einige Aussiedler von sich aus gelegentliche Einkäufe von polnischen Produkten rechtfertigen und in einen Gesamt-Handlungskontext einordnen, weil sie sich von der Zuordnung zu einer polnischen Community befreien und ihre Bestrebung zur ‚Integration‘ betonen wollen. Dies wird z.B. an Paul Kudelas Argumentation deutlich: Paul Kudela: Ich würde nie zu einem polnischen Arzt gehen. Oder.. gezielt irgendwelche polnische Zeitung kaufen. Nein, das tue nicht. Ich gehe schon ab und zu zum polnischen Metzger. Oder wenn die rumfahren und so weiter. So dann diese Fleischwaren, Wurstwaren. [...] Aber so nein, ich gehe nicht gezielt, nur wenn ich wirklich Appetit auf Leckeres habe, weil die haben doch anderes bisschen Gewürz als die Deutschen.
Eine zu starke Ausrichtung auf den Herkunftskontext und die materielle Infrastruktur sieht Herr Kudela als Abkapselung vom „deutschen“ Umfeld. Eine ähnliche Sichtweise vertritt Herr Mainz. Er kritisiert den starken Medienkonsum seiner Eltern, die ausschließlich polnische Sender schauen. Seiner Meinung nach verlören beide den Anschluss an deutsche Themen und Entwicklungen und befänden sich mit ihren polnischen Informationen in einer isolierten Position: Roman Mainz: Aber meine Eltern haben das. Und ich sehe, wie ihnen die polnischen Programme schaden. Mein Vater guckt polnische Sendungen. [...] Wenn wir uns treffen, sagt er: „Weißt du das, und das ist“. Und ihm fehlt ein Partner, um darüber zu sprechen. Weil wenn
11 Mehr hierzu in Kapitel 12 zum transnationalen Einleben.
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wir in Deutschland leben, dann müssen wir über die deutsche Mannschaft sprechen. Wie die gestern gespielt hat. Und nicht über die polnische Mannschaft, weil das interessiert keinen. Das ist meine Meinung. [...] Auch zum Beispiel meine Mutter sagt: „Weißt du, gestern hat in Oppeln so geregnet!“ Sag ich: „Na und?“ (betont). Was interessiert mich das? (lacht)
10.3 Z WISCHENFAZIT Die materielle Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung mit ihren oberschlesischen Nischen in Deutschland stellt für viele transnationale Lebenswelten wichtige Komponenten dar: Sie bietet ein breites Angebot an Dienstleistungen und sozialen Anknüpfungsmöglichkeiten und erleichtert auf den Herkunftskontext ausgerichtete Lebenskonzepte, wobei sie nicht als kleinräumige Kopien der Herkunftsgesellschaft verstanden werden kann. Vielmehr besitzt sie ihre eigene heterogene Struktur und Dynamik und folgt ihren eigenen Logiken, indem sie ein spezifisches Polen- bzw. Oberschlesienbild produziert. Aus der Aussiedlerperspektive ist die materielle Infrastruktur als Teil transkultureller alltäglicher Lebenswelten zu sehen, da eine einseitige Ausrichtung auf die polnische Community selten ist. Vielmehr dient sie zur Befriedigung einzelner Bedürfnisse wie der Sehnsucht nach Produkten und polnischen Gottesdiensten oder dem Interesse für herkunftsbezogene Themen. Sie ist daher in einen multikontextualen Transnationalen Sozialraum eingebettet, zu dem eben auch deutsche und andere Komponenten gehören. Zudem zeigt sich, dass die polnische Community nicht generalisierend als ‚Wohlfühl-Community‘ gesehen werden kann (vgl. Pfaff-Czarnecka 2008). Ein Teil der Aussiedler grenzt sich bewusst zur polnischen Community ab, weil die Partizipation in ihr mit Blick auf das Leben in Deutschland als „integrationshemmend“ empfunden wird. Nachdem nun deutlich geworden ist, dass nicht unbedingt Mobilität der entscheidende Faktor in der Herausbildung Transnationaler Sozialräume ist, sondern viele andere handlungsrelevante Phänomene im Ankunftskontext transnationale Lebenskonzepte ausmachen, wird im folgenden Kapitel auf die Folgen von Transnationalität für die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte eingegangen.
11. „Heimat ist, wo wir sind“: Die (transnationalen) Identitäts- und Zugehörigkeitsmuster der oberschlesienstämmigen Aussiedler
In diesem Kapitel geht es um die Frage, wie die oberschlesienstämmigen Aussiedler ihre Identitäten bzw. Selbstkonzepte ausdrücken, wie sie sich positionieren und welche Folgen die Transnationalität alltäglicher Lebenswelten für Identitätskonstrukte hat. In den Interviews mit den Aussiedlern zeigt sich ganz deutlich: Identitäten hängen stark mit der alltäglichen Konstruktion räumlicher bzw. sozialer Grenzen sowie der gedanklichen Produktion verschiedener imagined communities zusammen. Soziale Grenzen werden häufig über das subjektive Verständnis von ‚Kultur‘ konstruiert. Kulturen (z.B. ‚deutsche Kultur‘ oder ‚oberschlesische Kultur‘) sind, wie Julia Lossau (2014) beschreibt, Motoren von Differenzierungen und Hierarchisierungen, was für die Aussiedler bereits im Kapitel zu den Netzwerken aufgezeigt werden konnte. Über unterschiedliche Erfahrungen der Andersartigkeit (Differenzierung) entwickeln die Aussiedler Kultur- und Identitätskonstrukte (Ich/Wir mache(n) es anders/besser/schlechter) und ordnen diese einer eigenen Wir-Gruppe zu, die von entsprechenden Sie-Gruppen differenziert wird (Hierarchisierung). Zum Teil werden diese Differenzierungen in ‚Wir‘ und ‚Sie‘ in korrespondierenden ‚Hier‘- und ‚Dort‘-Konstellationen verräumlicht. Kulturkonstrukte wirken somit nach innen integrativ und nach außen abgrenzend (Lossau 2014), wobei sie durch Migrationserfahrungen und die Transnationalität der alltäglichen Lebenswelten fortwährend durcheinander gerüttelt und neu formiert werden. Die Selbstkonzepte der Aussiedler orientieren sich häufig an auf den ersten Blick als ethnisch und national zu bezeichnende Kategorien, überwiegend aus einer essentialistischen Perspektive. In der Regel bewegen sich die Selbstkonzepte entlang den nationalen bzw. ethnischen Kategorien ‚Deutscher-Sein‘, ‚Pole-Sein‘ oder ‚Oberschlesier-Sein‘. Zwischen Ethnizität und Nationalität muss grundlegend
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getrennt werden, auch wenn die Bezüge der Identitäten oftmals ineinander übergehen: Polnische Identitäten sind ethnische Identitäten („Wir Polen können alles“), sie sind jedoch stark auf den Nationalstaat Polen bezogen, der als grenzgebendes Element zu einer vermeintlichen polnischen Ethnie auftritt („Das arme Polen wurde immer ausgenutzt“). In diesem Fall repräsentieren nationale Identitäten, wie Gellner (1991: 69) schreibt, die Verbindung der Zugehörigkeit zum politischen Nationalstaat mit der Identifikation gegenüber der Nationalkultur, um „Kultur und Staatswesen deckungsgleich zu machen, einer Kultur ihr eigenes politisches Dach zu verschaffen, und zwar ein einziges Dach“. Deutsche Identitäten durchdringen die heutigen Nationenkonstrukte, da sie häufig auf das Überdauern eines „deutschen Geistes“, wie es von vielen Interviewpartnern ausgedrückt wird, im heutigen Polen zurückgeführt werden. Der „deutsche Geist“ wird an der deutschen Geschichte Oberschlesiens festgemacht. Es sind daher ethnische Identitätskonstrukte mit Bezug auf nicht mehr gültige Staatsgrenzen. Oberschlesische Identitäten sind komplexer, sie reichen von essentialistisch geprägten ethnischen Konstrukten, in denen Oberschlesier als eigenständiges ‚Volk‘ mit eigener ‚Kultur‘ beschrieben werden, bis hin zu Umschreibungen für Heimatbindungen oder pragmatische Abgrenzungen von den nationalen Kategorien. Interessant ist dabei besonders, dass oberschlesische Identitäten nicht eindimensional als kulturelle/ethnische oder regionale Identitäten beschrieben werden können. Vielmehr spielen auch Fragen von Gender-, Klassen- und Nationaldifferenzierungen eine Rolle. Alle nationalen oder ethnischen Identitäten weisen kollektive Elemente (= kollektive Identitäten; Hall 1999a: 87) auf und münden in der Konstruktion von WirKonzepten. Diese sind gebunden an weitergegebene Geschichten und soziale Zugehörigkeiten mit Bezug auf eine gedachte Gemeinschaft (Richter 2006). Sie weisen jedoch auch individuelle Komponenten auf, weil die Wahrnehmung der Geschichten, besonders vor dem Hintergrund unterschiedlich verlaufener (Migrations-) Biographien, ‚Spielräume‘ lässt. Im Kontext der Aussiedlermigration individualisieren sich die kollektiven Grundlagen der Wir-Konzepte zunehmend durch Prozesse der Transkulturalität und Transidentität. Wie bereits in der Analyse der transnationalen Netzwerke deutlich wurde, basieren vor allem oberschlesische Identitäten auf einer komplexen Differenzierung bzw. der gedanklichen Produktion zahlreicher imagined communities. Die oberschlesische Identität als scheinbar ethnische Identität ist dabei letztlich nur ein gemeinsamer begrifflicher Nenner für unterschiedliche Konstruktionen von Wir-Gruppen, welche wiederum auf verschiedenen sozioökonomischen, politischen und kulturellen Abgrenzungen basieren. Hinter diesen Abgrenzungen stehen Kultur- und Raumkonstrukte als Bedeutungsträger unterschiedlicher Geschichten, Traditionen und Symbole. Die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte der Aussiedler werden entweder durch eine genaue Zuordnung zu einer Kategorie (Pole-Sein) oder durch die
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Betonung von Gemengelagen („irgendetwas zwischen…“), also durch Mischkategorien ausgedrückt. Es entstehen Konstrukte, die in der Transnationalitätsforschung als Transidentitäten oder hybride Identitäten (Glorius 2007) bezeichnet werden und in die unterschiedliche räumliche und zeitliche Kontexte einfließen. Es wird deutlich, dass mit der bloßen Zuordnung zu ethnischen und nationalen Kategorien nur unzureichend beschrieben werden kann, was die Identitäten und die darin vorkommenden Ich- und Wir-Konzepte tatsächlich ausmacht. Die Komplexität und Ausdifferenzierung von Identitäten und Zugehörigkeiten, welche bei den Aussiedlern häufig bereits vor der Migration durch Hybridität gekennzeichnet waren, hat sich mit den Erfahrungen im Transnationalen Sozialraum, in dem die Aussiedler durch eine emotionale, gedankliche und z.T. physische Multikontextualität geprägt sind, noch weiter erhöht. Hier spielt nicht nur die Differenzierung in einen Prä-Migrationsund einen Post-Migrationskontext eine Rolle, sondern die alltägliche Erfahrung von Transnationalität im alltäglichen Handeln. Die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte werden in diesem Kapitel mittels einer Typologie von konstruierten Wir-Gruppen dargestellt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Wir-Gruppen basieren zu einem großen Teil auf unterschiedlichen Perspektiven auf Oberschlesien (vollständige Identifikation bis hin zur Abgrenzung). Um diese Perspektiven besser verstehen zu können, wird der Darstellung der Typologie eine Diskussion der stereotypischen Vorstellung von Oberschlesien aus Sicht der Aussiedler vorangestellt. Wenn von oberschlesischen Identitäten oder der Zugehörigkeit zu Oberschlesien die Rede ist, dann impliziert dies bereits einen begrifflichen Pragmatismus. ‚Oberschlesier-Sein‘ und ‚Oberschlesien‘ entsprechen nicht immer den Äußerungen der Aussiedler, was auf die Begriffskonfusion um ‚Oberschlesien‘ und ‚Śląsk‘ (= häufig synonym für ‚Górny Śląsk‘/‚Oberschlesien‘) zurückzuführen ist. In Interviews in polnischer Sprache oder im Dialekt beschreiben sich die Aussiedler in der Regel als „Ślonzoki“ oder „Ślązaki“. Sie übersetzen dies mal mit „Schlesier“ und mal mit „Oberschlesier“, häufig jedoch bleibt eine Übersetzung aus. Um allen Selbstkonzepten gerecht zu werden und um zu verhindern, dass mit der Kategorie ‚Oberschlesien‘ abweichende Äußerungen vernachlässigt werden, wird in diesem Kapitel besonders Wert auf die Differenzierung in ‚Schlesien‘ und ‚Oberschlesien‘ gelegt. Zur besseren Lesbarkeit dienen von nun an ‚(Ober-)Schlesier‘ und ‚(ober-)schlesisch‘ als begrifflicher Konsens für alle Positionierungen und Selbstzuschreibungen mit regionalem Bezug. Sie werden verwendet, wenn aus der Perspektive der Aussiedler argumentiert wird und die Interviewpartner zwischen verschiedenen Bezeichnungen wechseln oder unklar ist, wie sie „Śląsk“ übersetzen. Verzichtet wird darauf, wenn die Wahl einer Kategorie durch die Interviewpartner eindeutig und bewusst erfolgt. In diesem Fall wird die Kategorie verwendet, die von den Interviewten benutzt wird.
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11.1 D AS STEREOTYPISCHE B ILD (O BER -)S CHLESIENS S ICHT DER AUSSIEDLER
AUS
Unabhängig von der Bedeutung (Ober-)Schlesiens als Raumbezug für Identitätsund Zugehörigkeitskonstrukte haben alle interviewten Aussiedler eine stereotypenbasierte Vorstellung von (Ober-)Schlesien, die in den Interviews vor allem dann in den Erzählungen auftritt, wenn es um die Prä-Migrationszeit geht. Das Stereotyp (Ober-)Schlesiens wird im Folgenden erläutert anhand: • • •
stereotypischer Raumbilder, d.h. wie man sich an (Ober-)Schlesien heute erinnert, dem Bild des idealtypischen (Ober-)Schlesiers, d.h. der Vorstellung davon, was ein (Ober-)Schlesier-Sein ausmacht und der räumlichen Abgrenzung (Ober-)Schlesiens.
11.1.1 Das Stereotyp der ‚Region (Ober-)Schlesien‘ oder „Was ist (Ober-)Schlesien?“ Die stereotypische Vorstellung davon, was (Ober-)Schlesien ausmacht, weist bei den meisten Aussiedlern ähnliche Strukturen auf. Sie enthält damit eine Vielzahl kollektiver Phänomene, die von den Aussiedlern unabhängig von Alter, Migrationszeitpunkt oder beruflichem Hintergrund übereinstimmend wiedergegeben werden. Leicht differenziert werden kann nach Herkunft der Aussiedler (Oppelner Schlesien/Industriegebiet), sodass sich die folgenden Ergebnisse zunächst auf die Aussiedler aus dem oberschlesischen Industriegebiet beziehen. In dieser Gruppe dominiert das Stereotyp einer schmutzigen, verfallenen und von Industrieanlagen durchzogenen Region. Ähnlich wie Herr Krieger in folgendem Zitat, beschreiben auch viele andere Aussiedler vor allem das „Kohlerevier (Ober-)Schlesien“: Helmut Krieger: Grau, schmutzig. Wenn ich auf der Haltestelle, Straßenbahnhaltestelle Zeitung aufgemacht hab, da hab ich gehört wie der Ruß auf die Zeitung fällt. Kokerei in der Nähe. Świętochłowice oder so. Das war unheimlich, dass wir so gelebt haben in so einem.. hier sagt man „frische Luft“. Sie wollen bestimmte Straßen in Düsseldorf zumachen, weil sie überschreiten einen Schmutzwert oder so. Ich bin hierhergekommen, da dachte ich, ich bin in einem Kurort. So war die Luft.
In den Erzählungen der Aussiedler, die im Industriegebiet um Kattowitz oder in naher Umgebung gelebt haben, tauchen immer wieder Anekdoten auf, die die starke Umweltbelastung thematisieren. (Ober-)Schlesien wird vor diesem Hintergrund häufig als wenig attraktiv, schmutzig und als „Raum mit wenig Lebensqualität“
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beschrieben, was nicht selten auch als Migrationsmotiv hervorgehoben wird. Diesem eher negativen Aspekt der stereotypischen Vorstellung von (Ober-)Schlesien wird das Bild vom „sozialen Paradies“ entgegengestellt (vgl. Kap. 8), indem der soziale Zusammenhalt als Merkmal des Raumes aufgefasst wird. An vielen Stellen wird die positiv in Erinnerung gebliebene soziale Kohäsion in Familiennetzwerken und Freundeskreisen verräumlicht und als regionale Charakteristik gesehen. Alexandra Hurdalek spricht beispielsweise von einer besonderen, weil gemütlichen und familiären Atmosphäre in Schlesien: Alexandra Hurdalek: Es hat was Gemütliches. Schlesien ist für mich gemütlich, ja. Die Leute sitzen so vor den Häusern oder so. Das ist auch so familiär. Gleichzeitig dunkel, grau. (ü)
Ein weiterer Aspekt des Stereotyps ist das Bild von (Ober-)Schlesien als „ausgebeutete Region“, was sich wiederum auf die vermeintliche Bevorzugung der Polen in Oberschlesien bezieht. (Ober-)Schlesien wird hier als die verhasste und diskriminierte Region in Polen gedacht, die lediglich als Rohstofflieferant gebraucht wurde. Dabei wird (Ober-)Schlesien mal als ein von den Polen „besetztes Land“ konstruiert, d.h. die problematische Geschichte der Region wird explizit und exklusiv auf die polnische Politik nach 1945 reduziert, und mal als eine Region, die von „allen Seiten“ (von deutscher und polnischer Seite) unterdrückt wurde, verstanden. Jan Wawrzyczek beispielsweise argumentiert primär mit der Unterdrückung durch die polnische Regierung: Jan Wawrzyczek: Oberschlesien wurde ausgebeutet. Durch die polnische Regierung. Ich sag gar nicht durch die kommunistische Regierung, weil die halt damals an der Macht war. Allgemein durch die Regierung. Ausgebeutet. Und damit verbinde ich Oberschlesien. Eine große Ausbeutung. Nichts mehr. Ich bin da vielleicht radikal, aber.. ja. (ü)
Eine starke Differenzierung der stereotypischen Vorstellungen von (Ober-)Schlesien ergibt sich – wenn auch wenig überraschend – bei der Differenzierung nach Herkunftsorten: Aussiedler aus dem sogenannten „Oppelner Schlesien“ assoziieren mit (Ober-)Schlesien häufig Attribute wie „grün“, „ländlich“ oder „ruhig“. Sie beschreiben Wälder und dörfliche Strukturen. Diese Beschreibungen stehen in einem starken Kontrast zum oben aufgeführten Stereotyp der „dreckigen Industrieregion“. Dies wird beispielsweise deutlich im Vergleich der Beschreibung von Herrn Krieger (siehe oben) mit der folgenden Assoziationskette von Herrn Śliwka. Herr Śliwka, der 1988 aus dem Umland von Kędzierzyn-Koźle migriert ist, verbindet mit Schlesien vor allem sein Herkunftsdorf und das ländliche Umland und baut darauf ein Stereotyp Schlesiens als „grüner Region“ auf:
286 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Richard Śliwka: Ich denke an mein Lenartowice. Ja. An mein Dorf. Der Boden, auf dem das Dorf steht. Die ganzen Wiesen, Flüsse, die Landschaft. Bäume. Der Rest, außerhalb? Ich hatte da nicht so Bezüge. (ü)
Dass sich das Stereotyp von Oberschlesien nach den Herkunftsorten der Aussiedler ausdifferenziert, ist allerdings wenig verwunderlich, da es stark auf den Wahrnehmungen und Erfahrungen aus dem näheren Wohnumfeld aufbaut. Trivial ist dieses Ergebnis jedoch trotzdem nicht. Es zeigt, wie unterschiedlich Bilder und Vorstellungen sind, die hinter dem vermeintlichen räumlichen Konsens ‚(Ober-)Schlesien‘ stehen. 11.1.2 Der ‚idealtypische (Ober-)Schlesier‘ oder „Wie muss ein (Ober-)Schlesier sein?“ Die Vorstellung von einem idealtypischen (Ober-)Schlesier – auch hier zunächst aus der Perspektive der Aussiedler aus dem industriellen Oberschlesien – ist eng geknüpft an das Stereotyp der Industrieregion mit dem Generationen übergreifenden beruflichen Werdegang des Grubenarbeiters, der sich früh gegen Bildung und für die Arbeit entschieden hat und einfach, ehrlich sowie z.T. etwas rückständig ist. Unabhängig von der Differenzierung in ein ländliches und industrielles Oberschlesien sind die Vorstellungen von einer idealtypischen (Ober-)Schlesierin. Ihr wird die Rolle der Hausfrau zugewiesen, die sich um Familie und Haus kümmert und hier stets einen ordentlichen und sauberen Eindruck hinterlässt.1 Die stereotypische Vorstellung von den (Ober-)Schlesiern basiert zudem bei den meisten Aussiedlern auf dem Bild einer vom Glauben und Religiosität geprägten Gemeinschaft, deren fester Bestandteil die Kirche ist. Teilweise wird auch eine ‚kulturelle‘ Eigenständigkeit betont, über die das vermeintlich Besondere der (Ober-)Schlesier im Vergleich zum Rest Polens konstruiert wird. Das Kulturkonstrukt basiert dabei für die meisten Aussiedler auf dem oberschlesischen Dialekt, einer besonderen Küche (spezielle Gerichte wie Bigos und Makówki), besonderen Festen und Feierlichkeiten und einem spezifischen Humor. Diese Assoziationen beeinflussen weitestgehend die Konstruktion des idealtypischen (Ober-)Schlesiers bzw. (Ober-)Schlesier-Seins. Hinzu kommt in vielen Fällen das „Unrecht gegenüber den (Ober-)Schlesiern“ als kollektives Schicksal hinzu, das manchmal über eigene Erfahrungen und Konfliktsituationen hergeleitet, jedoch häufiger aus einer kollektiven Perspektive wiedergegeben wird. Für einige Aussiedler gehört zum
1
Zu erwähnen ist hier, dass die Aussiedler ihre Konstruktionen eines idealtypischen (Ober-)Schlesiers nicht selten auf Freunde oder Familienmitglieder beziehen, die sie als Prototypen anführen.
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idealtypischen (Ober-)Schlesier dazu, dass dieses vermeintliche Unrecht und die kollektive Erfahrung in diesem Zusammenhang reflektiert werden. Hier zählen vor allem das Wissen um den Konflikt mit den „Gorolen“ und ein Geschichtsbewusstsein im Hinblick auf die vermeintliche Diskriminierung der (Ober-)Schlesier (vgl. Ergebnisse von Tambor 2011). Darüber hinaus zeigen sich durchaus konträre Assoziationen: Manche Aussiedler beschreiben den idealtypischen (Ober-)Schlesier zwar als fleißig und körperlich hart arbeitenden Menschen und betonen seine „Einfachheit“, stellen jedoch auch seine sozialen Kompetenzen heraus. In diesem Sinne wird der (Ober-)Schlesier trotz oder gerade wegen seiner Einfachheit glorifiziert und als hilfsbereiter, ehrlicher und froher Mensch beschrieben. In diesem Zusammenhang werden auch der starke Zusammenhalt in (Ober-)Schlesien sowie rege und unkomplizierte Kontakte zwischen den Menschen hervorgehoben. Diese Ansicht schildern Frau Matysek, die die vermeintliche Einfachheit der Schlesier zudem als Verschulden des politischen Systems ansieht, und Herr Kudela, der die soziale Kohäsion unter den Oberschlesiern als zentrales Abgrenzungselement zu anderen sozialen Gruppen betont: Ilse Matysek: Weil fleißig ist der Schlesier. Und die schlesische Frau achtet darauf, dass es sauber ist, sie ist sparsam und handelt wirtschaftlich. Man sagt ja „Dumm wie ein Hanys. Blöd wie ein Hanys“. Aber der Hanys ist gar nicht so dumm. Nur ließen sie uns ja nicht studieren. Weil da kam dann ein Pole, dann der zweite. In die Schule. Und dann haben die ihre Familien nachgeholt. Gab es irgendwo Schlesier auf leitenden Positionen? Schon der Ur-Opa hat auf der Zeche gearbeitet. Mit der Schaufel. Auflader. Irgendwas. (..) Steiger? Wer war Steiger? Einer, der in der Partei war. (ü) Paul Kudela: Ja, die Leute haben mehr so zusammengehalten. Weil ich kann ja nur den Vergleich machen, [...] wo ich damals in Warschau war. Da hab ich dann gesehen, dass die Familie nicht so zusammenhält, das konnte man ja schon merken. Konnte man sehen. Und auch die Leute, die aus Russland oder aus Zentralpolen nach Oberschlesien ja umgezogen sind, die haben ja auch nicht diesen Kontakt wie die schlesischen Leute. Die haben engeren Kontakt und die haben sich besser verstanden.
Auf der anderen Seite wird der idealtypische (Ober-)Schlesier von einigen Aussiedlern auch als beschränkter, ungebildeter Arbeiter beschrieben, der schon mal gerne Alkohol trinkt und räumlich auf sein nahes Umfeld fixiert ist2, wie beispielsweise Thomas Krawczyk betont:
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Von diesem stärker negativen Bild des idealtypischen (Ober-)Schlesiers distanzieren die Aussiedler sich und ihr persönliches (ober-)schlesienbezogenes Selbstverständnis.
288 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Thomas Krawczyk: Schüchtern auch. Zurückhaltend. Schüchtern und.. manchmal auch, finde ich, ein bisschen.. um das mal jetzt so salopp zu sagen, so ein bisschen asi. Also viel saufen.
Vor diesem Kontext wird die vermeintliche Einfachheit und Beschränktheit der (Ober-)Schlesier des Öfteren auf ein Selbstverschulden zurückgeführt, wie beispielsweise bei Stefanie Fitzek (1963 geb.) deutlich wird. Die benachteiligte Position der (Ober-)Schlesier wird hier nicht auf eine systematische Diskriminierung, sondern auf eine vermeintliche Passivität zurückgeführt: Stefanie Fitzek: Das war auch unsere Schuld, weil wir so passiv waren und keine Ambitionen hatten, ja. Weil wir schon von zu Hause so aufgewachsen sind: Wir müssen uns ein bisschen zurückhalten und ducken und so. Ich wurde.. da in den meisten Familien, wurden so die Kinder, die Erziehung war schon ein bisschen in die falsche Richtung.
11.1.3 Die Grenzen (Ober-)Schlesiens oder „Wo ist (Ober-)Schlesien?“ Was die Abgrenzung (Ober-)Schlesiens betrifft, wählen die Aussiedler sehr unterschiedliche Zugänge. Die Grenzkonstrukte orientieren sich an ‚historischen Fakten‘, Netzwerkstrukturen oder administrativen Gliederungen. Ewald Mazur beispielsweise stützt sich in seiner Oberschlesienabgrenzung auf historische Ereignisse und differenziert sehr kleinräumig, teilweise sogar auf Städteebene sein persönliches Oberschlesien. Nach Westen hin grenzt Herr Mazur Oberschlesien zu Oppeln und zum Umland ab, welches er als „Mittelschlesien“ bezeichnet; nach Osten hin ist für ihn die Abgrenzung zu Sosnowiec, Jaworzno bzw. dem gesamten Dombrowaer Kohlenbecken (poln.= Zagłębie Dąbrowskie) als „Gebiet der Gorolen“ entscheidend (Abb. 34): Ewald Mazur: Opole gehörte eigentlich auch nicht dazu. Das war Mittelschlesien, verstehst du? Und Breslau, Wrocław, das war Niederschlesien. Das Kędzierzyn-Koźle das war Oberschlesien, Racibórz war Oberschlesien. Bis heute gibt es sie da. Rybnik, da sind die Oberschlesier. Da kommen sie her. Hauptsächlich. Jaworzno, das waren schon Gorole. (ü)
Alexandra Hurdalek und Johanna Jasko wiederum konstruieren (Ober-)Schlesien entlang des (ehemaligen) familiären Netzwerks. Letztlich gehören für sie alle Orte zu (Ober-)Schlesien, in denen Familienmitglieder oder Freunde/Bekannte der Familie gelebt haben. Alexandra Hurdalek definiert das Industriegebiet als Kern (Ober-)Schlesiens und erweitert es mit den Wohnorten von Familienmitgliedern und Bekannten, wie der folgende Ausschnitt aus Alexandra Hurdaleks Argumentation bei der Erstellung ihrer Mental Map zeigt:
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Alexandra Hurdalek: Krapkowice da hatten wir einen Bekannten. In Olesno auch. Da kommen wieder andere Bekannte her. [...] Tychy auch, da kommen auch Bekannte her. (ü)
Aufgrund der unterschiedlichen Zugänge zur Abgrenzung (Ober-)Schlesiens ist es wenig verwunderlich, dass sich die Mental Maps teilweise stark unterschieden, wie beispielsweise der Vergleich der Mental Maps von Ewald Mazur („historische Fakten“) und Johanna Jasko („familiärer Aktionsraum“) zeigt (Abb. 34). Abbildung 34: Mental Maps (Oberschlesien) (Mazur/Jasko)
Quelle: Zeichnungen der Interviewpartner
Ganz deutlich zeigt sich jedoch auch der Einfluss der administrativen Entwicklung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch die Wahrnehmung der dynamischen Entwicklung der Wojewodschaftskonstrukte (Schlesien/Oppeln) wird auch das eigene Verständnis von (Ober-)Schlesien variabler. (Ober-)Schlesien ist für einige Aussiedler kein festes Gebilde, sondern eine Region im stetigen politischen Wandel. Hierzu folgendes Beispiel: Die Stadt Bielsko-Biała, historische Grenzstadt in Österreichisch-Schlesien, gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zur Wojewodschaft Schlesien bzw. Kattowitz, wurde jedoch später in eine nach der Stadt benannte, neugegründete Wojewodschaft angegliedert. Seit der Verwaltungsreform 1998/1999 gehört sie wieder zur Wojewodschaft Schlesien. Frau Piontek, die aus dem Umland von Bielsko-Biała stammt, sieht die Stadt entsprechend der
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polnischen Raumordnung mal zu (Ober-)Schlesien zugehörig und mal losgelöst von der Region. Für sie hängt (Ober-)Schlesien vollständig an dem Gebilde der Wojewodschaft. Die Machtstruktur der politischen Raumpolitik ist damit für eigene Zugehörigkeitskonstrukte keinesfalls irrelevant, wie im Fall von Anja Klinz deutlich wird. Sie kommt aus Olesno, das zwischen 1975 und 1998 zur damals neu gegründeten Wojewodschaft Częstochowa gehörte: Anja Klinz: Eigentlich gehörten wir zu Częstochowa. Jetzt erst wieder gehören wir zum Oppelner Gebiet. (ü)
Andererseits wird die polnische Raumordnungspolitik durch einige Aussiedler kritisiert und als „Manipulation“ historischer „Fakten“ gesehen; und zwar insofern, als die Grenzen und damit auch das Label eines historischen (Ober-)Schlesiens durch die Bildung einer gleichnamigen Wojewodschaft nach Osten3 ausweitet wurde. Eine solche Sichtweise offenbart Herr Wawrzyczek, der die Integration dieser vermeintlich von „Gorolen“ geprägten Gebiete in die Marke „Schlesien“ nicht nachvollziehen kann: Jan Wawrzyczek: Wir sind daran gewöhnt, weil es immer so war. Wir wissen, dass das Zagłebie4 zu Schlesien gehört, aber wir wissen, dass dort Gorole leben. Und es wird immer diesen Hass geben zwischen ihnen und den Schlesiern. Warum haben sie beides in einer Wojewodschaft vereint? Ich hab keine Ahnung. Aber den Hass gab es ja schon immer. (ü)
In Anlehnung an die Aussage von Herrn Wawrzyczek zeigen sich in den Mental Maps an einigen Stellen kollektive Phänomene. Es deutet sich an, dass die Differenzierungen in Wir- und Sie-Gruppen auch an korrespondierende räumliche Differenzierung (‚Hier‘ und ‚Dort‘) gebunden sind, vor allem wenn es um Diskussion um „Gorole“ und das „Unrecht gegenüber den (Ober-)Schlesiern“ geht. Der Raumbezug sozialer Abgrenzungen ist allerdings äußerst komplex. Da die polnischoberschlesischen Konflikte und ein Gefühl der Diskriminierung vor allem im näheren Wohn- und Arbeitsumfeld wahrgenommen wurden, gab es auf lokaler Ebene bzw. innerhalb Oberschlesiens selbst keine entsprechende Differenzierung in ‚Hier‘ und ‚Dort‘ (z.B. über Viertel oder Städte). Vielmehr führte das Gefühl der vermeintlichen Vereinnahmung der Region durch die Zugewanderten bei einigen Aussiedlern dazu, dass (Ober-)Schlesien und alle zugeordneten Orte aus der Retrospek-
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Dieser Aspekt bezieht sich auf die Integration des Dombrowaer Kohlebeckens (im Osten an das oberschlesische Industriegebiet angrenzend) in die Wojewodschaft Schlesien.
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Herr Wawrzyczek benutzt den Begriff „Zagłebie“ (poln.= Kohlenrevier) äquivalent zum Begriff „Dombrowaer Kohlenbecken“.
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tive als „besetzter“ bzw. von verschiedenen Gruppen bewohnter Raum beschrieben wird, der zunehmend seine oberschlesische Eigenart verloren habe. Räumliche Differenzierungen in der Reflexion des stereotypischen (Ober-)Schlesiens werden auf der Makroebene deutlich. Hier bildet (Ober-)Schlesien ungeachtet seiner vermeintlichen sozialen Heterogenität den räumlichen Bezug eines Wir-Konzepts. Das Sie-Konzept wird mit Gebieten außerhalb (Ober-)Schlesiens gleichgesetzt, meistens mit besonderem Augenmerk auf die Hauptstadt Warschau, dem Sitz der Regierung. Für viele Interviewpartner wurde von hier aus die „Ausbeutung der Region“ vorangetrieben, die Beziehungen zur ungeliebten Sowjetunion gepflegt und die Rahmenbedingungen für die vermeintlichen alltäglichen Schikanen in (Ober-)Schlesien gelegt. Auf der Makroebene wird der „Gorol“ allgemein mit dem Polen außerhalb (Ober-)Schlesiens gleichgesetzt. (Ober-)Schlesien wird hier als homogene Einheit, die Rohstoffe, Arbeitskraft und damit die ökonomische Überlebensfähigkeit Polens sicherte, interpretiert. Eine andere Form der Differenzierung in ‚Hier‘ und ‚Dort‘ kommt entlang des gedachten Grenzverlaufs (Ober-)Schlesiens und vor allem bei Aussiedlern aus dem oberschlesischen Industriegebiet zum Ausdruck. Eine besondere Abgrenzung und damit Verräumlichung des Konflikts findet über das an das oberschlesische Industriegebiet grenzende Dombrowaer Kohlenbecken statt. Das Konfliktpotential ergibt sich hierbei durch seine Einbindung in die Wojewodschaft Schlesien (vgl. Abb. 11, S. 81). Die Zuschreibung der negativen Attribute von „Gorolen“ findet hier ihre (räumliche) Zuspitzung, wie Martin Hirsch (geb. 1965 in Zabrze) formuliert: Martin Hirsch: Noch schlimmer als „Gorol“ kann manchmal die Bezeichnung „aus Sosnowiec“ sein.
Besonders die an Kattowitz grenzende Stadt Sosnowiec wird hervorgehoben und erreicht den Status eines verräumlichten Abbilds der Sie-Gruppe („Gorole“). Historisch gehörte Sosnowiec zu Polen, war jedoch vor allem über lange Zeit indirekt und direkt in unterschiedlichen Formen in das russische Verwaltungsgebiet eingegliedert, bevor es schließlich wieder zu Polen kam. Nach 1945 wurde das Dombrowaer Kohlenbecken samt Sosnowiec in die Wojewodschaft Kattowitz (später Schlesien) eingegliedert. Verwaltungstechnisch gehörten nun der Kattowitzer Teil Oberschlesiens und das Dombrowaer Kohlenbecken zu einer Einheit, die den Namen „Schlesien“ trug. Die bewusste Abgrenzung Oberschlesiens östlich von Kattowitz hat somit viel mit der raumordnerischen Eingliederung des Dombrowaer Kohlenbeckens in das Label „Schlesien“ zu tun. Deutlich wird die Abgrenzung des Dombrowaer Kohlenbeckens bei der Erstellung der Mental Maps. Viele Aussiedler zeichnen zwischen Kattowitz und Sosnowiec die Ostgrenze ihres (Ober-)Schlesiens ein und erläutern diese detailliert und mit großer Überzeugung. In Abb. 35 sind die Mental Maps von (Ober-)Schlesien darge-
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stellt. Die linke Karte enthält die Grenzverläufe aller Interviewpartner, rechts befindet sich die Vergrößerung des Teilbereichs um Kattowitz und Sosnowiec, wo viele Grenzen ähnlich verlaufen und die Inklusion von Kattowitz und die gleichzeitige Exklusion von Sosnowiec intendieren. In den Mental Maps erhält diese Thematik eine besondere Aufmerksamkeit. Herr Krawczyk beispielsweise hebt die Grenze zwischen Kattowitz und Sosnowiec besonders hervor und streicht die Signatur für Sosnowiec scherzhaft durch. Seine Reaktion steht dabei für eine Vielzahl ähnlicher Reaktionen in den Interviews. Jan Bula etwa grenzt Sosnowiec mit den Worten „Hier nicht mehr. [...] Das ist die schlimmste Stadt (betont). Das würde ich komplett streichen. (lacht)“ ab. Peter Piontek bezeichnet die Grenze im Osten Oberschlesiens als „harte“ Grenze, während er, wie viele andere Aussiedler auch, nach Westen hin Probleme mit der Abgrenzung Oberschlesiens hat: Peter Piontek: Jaworzno nicht mehr, hier ist eine harte (betont) Grenze. Hier. Oh Mann. Sosnowiec müsste man.. hast du einen roten Stift? [...] Zawiercie sind auch Gorole. (ü)
Abbildung 35: Mental Maps von Oberschlesien.
Quelle: Zeichnungen der Interviewpartner
Besonders die Abgrenzung der Stadt Sosnowiec lässt sich in den Interviews auch an anderen Stellen, insbesondere in „Gorole-Witzen“ oder anderen Anekdoten wiederfinden. Dabei bleibt die Abgrenzung zumeist auf einer humorvollen Ebene. Sosnowiec ist häufig Bestandteil von Witzen, deren Pointen sich auf die Bedeutung von Herkunft und Zugehörigkeit beziehen: Peter Piontek: Kommt ein Junge zur Beichte, zum Pfarrer und zählt seine Sünden auf, ne? Dem eine verpasst und dem eine verpasst. Und am Schluss dann die Absolution. Dann sagt
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der Junge aber: „Ich hab noch eine Sünde.“ Der Pfarrer dann: „Welche?“ „Naja ich komme aus Sosnowiec“. Darauf der Pfarrer: „Junge das ist keine Sünde, sondern einfach nur peinlich.“ (ü)
Deutlich ernster spricht Jan Wawrzyczek über seine Beziehung zum Dombrowaer Kohlenbecken. Jan Wawrzyczek hat, anders als die zuvor zitierten Aussiedler, eigene, negative Erfahrungen von Diskriminierung in Sosnowiec während seiner Schullaufbahn gemacht. Auch heute noch empfindet er gegenüber diesem Raum, den er als „fremd“ wahrnimmt, Abneigung und ein Gefühl der Distanz. Für ihn ist die Wojewodschafteinteilung keine irrelevante Gliederung administrativer Einheiten auf politischer Ebene, sondern der gezielte Versuch, Schlesien zu modifizieren bzw. auf Gebiete auszuweiten, die mit seiner Geschichte nichts zu tun haben: Jan Wawrzyczek: [Es gehört] zur Wojewodschaft Śląsk. Aber es gibt dort keine Schlesier. Sie haben uns immer gehasst. Die Erzieherinnen damals, als ich dort gewesen bin, zu einem zehnjährigen Jungen Sachen wie „Du Szwab5, du Hanys“ und so weiter. So war es. Da musste meine Mutter.. ich hab geweint. Sie musste intervenieren. Dass es sowas gab. So war.. aber wir sind klar gekommen. Aber wenn ich so an die Ereignisse zurückdenke. Wir sind daran gewöhnt, das war immer so. Von daher es gehört zur Wojewodschaft, aber wir wissen, dass da Gorole sind. (ü)
Die Abgrenzung vom Dombrowaer Kohlebecken und insbesondere Sosnowiec kann für viele Interviewpartner als Bestandteil eines (ober-)schlesienbezogenen WirKonzepts interpretiert werden. Das Wissen um den Hintergrund dieser räumlichen Bedeutungszuweisung wird als kollektives Gedankengut angesehen, das „jeder“ (idealtypische) (Ober-)Schlesier teilt. Der ‚Raum‘ wird hier zum symbolischen Träger der allgemeinen Abgrenzung von „Gorolen“ und ist ein verbindendes Element innerhalb einer imagined community von (idealtypischen) (Ober-)Schlesiern, da davon ausgegangen wird, dass der ‚Raum‘ von „allen“ gleich bewertet wird. Jan Bula betont deutlich die kollektive Bedeutung des Phänomens, indem er seine Einschätzung als Meinung einer Gruppe („Wir“, „Alle“, „Jeder“) formuliert: Jan Bula: Niemand kann dieses Sosnowiec leiden. Ich weiß nicht. Da wohnen halt unmögliche Menschen (lacht). Aber alle reden so von Sosnowiec. Weiß nicht, woher das kommt. Aber ich hab es oft so gehört. Das lernt jeder. Jeder bekommt das irgendwie. Hinter dem Fluss Przemsza, wenn man mit Straßenbahn Fünfzehn gefahren ist, da musste man immer den Reisepass und ein Visum mitnehmen (lacht). Nach Sosnowiec. [...] Wir haben uns immer kaputt gelacht: „Wohin fährst du? Nach Sosnowiec? Hast du ein Visum bekommen?“ (lacht)
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Verächtliche Bezeichnung für einen Deutschen.
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Allerdings darf nicht vorschnell von der einen oberschlesischen Perspektive und einem (Ober-)Schlesienkonstrukt ausgegangen werden. Das Sosnowiec-Phänomen spielt nicht in allen Mental Maps eine Rolle. Für die Aussiedler aus dem Oppelner Teil beispielsweise hat der Raum „Sosnowiec“ keinerlei Bedeutung und wird häufig als Teil (Ober-)Schlesiens gesehen. Dass die Grenze nach Osten hin zudem auch nicht für alle Aussiedler aus dem oberschlesischen Industriegebiet relevant sein muss, zeigt der Vergleich zweier Oberschlesienkonstrukte: Jan Wawrzyczek betont die „östliche Grenze“ Oberschlesiens vor Sosnowiec, während Herr Kaluza Oberschlesien viel weiter nach Osten hin einzeichnet (Abb. 36). Abbildung 36: Mental Maps (Oberschlesien) (Wawrzyczek/Kaluza)
Quelle: Zeichnungen der Interviewpartner
In Kapitel 9 und der Analyse der transnationalen Netzwerke wurde zudem deutlich, dass für einige Aussiedler nicht nur die Abgrenzung (Ober-)Schlesiens nach außen hin, sondern auch eine innere Gliederung wichtig ist. Für die Konstruktion (Ober-)Schlesiens und die Identitäten der Aussiedler spielt die Teilung Oberschlesiens in ein Industriegebiet und das ländliche „Oppelner Schlesien“ z.T. eine wichtige Rolle. Dabei sind einige Regelmäßigkeiten erkennbar: Aussiedler aus dem Umland von Oppeln oder allgemeiner formuliert aus dem westlichen Teil Oberschlesiens sehen (Ober-)Schlesien bzw. „Śląsk“ häufiger weiträumiger und mit weniger festen Grenzen, die z.B. anhand symbolischer Bedeutungen von Städten abzuleiten
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sind. Sie differenzieren zwar in bestimmte Teileinheiten („Grünes“ und „sauberes“ Oppelner Umland in Abgrenzung vom „dreckigen“ Industriegebiet), gehen jedoch von einer großen räumlichen Einheit aus. In einigen Fällen wird Ost-Oberschlesien oder das Industriegebiet auch pragmatisch als „andere Region“ oder „anderes Oberschlesien“ bezeichnet, so wie im Fall von Anja Klinz aus Olesno: „Bytom, Katowice und so weiter, das war eine andere Region für uns.“ (ü) Zum Teil wird das Oppelner Schlesien auch als „Zwischenregion“, die sowohl an Ober- als auch an Niederschlesien grenzt, oder als vom Industriegebiet abgekapselter Teil Oberschlesiens angesehen. In einigen Fällen wird darauf verwiesen, dass die Unterschiede im gesprochenen Dialekt das Oppelner Land vom Industriegebiet unterscheiden, oder, dass im Kattowitzer Raum nur noch wenige „Schlesier“ wohnen würden, was auf historische Ereignisse zurückgeführt wird: Richard Śliwka: Denn das ist so zwischen (lacht). Da brauch ich nicht zu sagen, das ist Oberschlesien, das ist Niederschlesien, da sag ich Schlesien. Das ist genau zwischen den beiden. [...] Oberschlesien hat einen anderen Dialekt wie das Schlesien, wo wir wohnen. [...] Und da überhaupt, da gibt es keine Schlesier mehr. [...] Wir hatten da nicht so große Beziehungen. Klar Ruch Chorzów und so.. Fußball war mir wichtig, aber ansonsten gab es da keine Kontakte. Mehr in Richtung Opole. (ü)
Aus der Perspektive der Aussiedler aus dem industriell geprägten Oberschlesien ist die Abgrenzung des Oppelner Teils als bewusste Form der Exklusion zu sehen. Das Oppelner Schlesien wird hier in unterschiedlicher Ausdehnung vom „wahren“ Oberschlesien räumlich und begrifflich abgegrenzt. Es wird als „grünes Schlesien“, „Oppelner Schlesien“ (hier jedoch nicht Teil Oberschlesiens) oder sogar als Teil Niederschlesien abgegrenzt. Als Abgrenzungskriterien werden sprachliche Merkmale (anderer Dialekt), Mentalitätsunterschiede oder das Landschaftsbild herangezogen. Es sind jedoch auch politische Machtstrukturen, die zu einer mentalen Abgrenzung von Oppeln und Umland führen, besonders aufgrund der Existenz einer eigenständigen Oppelner Wojewodschaft, welche für Frau Kwiatkowska der Beleg für die Andersartigkeit der Oppelner ist: Maria Kwiatkowska: Niederschlesien ist für mich so Opole, Nysa, Kłodzko, Jelenia Gora, Legnica, bis Głogow. So ungefähr.. und Olesnica. Das ist alles Niederschlesien. Opole war nie Oberschlesien. Auch nicht Krapkowice oder Strzelce Opolskie. Kędzierzyn-Koźle auch nicht, weil da sprechen die Menschen einen ganz anderen Dialekt. So bisschen. Und da würde ich doch überlegen. Wenn es eine Wojewodschaft Opole gibt, dann kann dieses Gebiet nicht oberschlesisch sein. (ü)
In ihrer Mental Map grenzt Frau Kwiatkowska folglich das Oppelner Schlesien ab, wobei es sich beim letzteren nicht um das politische Konstrukt, sondern um Frau
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Kwiatkowskas individuell konstruiertes Oppelner Schlesien handelt, welches nicht mit anderen Abgrenzungen übereinstimmen muss. Herr Mainz z.B. beschränkt sich in seiner Mental Map ebenfalls auf das oberschlesische Industriegebiet. Das Oppelner Schlesien, das er vom Industriegebiet abgrenzt, ist allerdings ein anderes als das von Frau Kwiatkowska (Abb. 37). Reinhold Tomaschek sieht wiederum zwei parallel existierende Oberschlesienregionen, die nicht begrifflich, sondern nur durch ihre Strukturen zu unterscheiden sind: Reinhold Tomaschek: Man könnte sagen, dass die auch aus Oberschlesien sind. Aber so ein anderes Oberschlesien. Die können nicht zu uns, zu Katowice gehören. Das Oppelner und das Kattowitzer Oberschlesien waren zwei verschiedene Oberschlesienregionen. (ü)
Abbildung 37: Mental Maps (Oberschlesien) (Mainz/Kwiatkowska)
Quelle: Zeichnungen der Interviewpartner
Deutlich wird auch, dass Aussiedler aus dem Industriegebiet häufiger vom Begriff „Oberschlesien“ Gebrauch machen, während Aussiedler aus dem Oppelner Schlesien ihre Identitäten häufig auf ein „Oppelner Land“ oder „Śląsk“ beziehen. Die Differenzierung in Ober- und Niederschlesien spielt hier seltener eine Rolle und wird entweder nicht reflektiert oder als unwichtig erachtet, wie bei Maria Nowak deutlich wird:
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Maria Nowak: Ganz Schlesien war deutsch. Und der Rest interessiert mich nicht. Ob Oderoder Niederschlesien.
Im Folgenden werden nun die aktuellen Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte der Aussiedler diskutiert. Mit der stereotypischen Vorstellung von (Ober-)Schlesien und den (Ober-)Schlesiern wird dabei sehr unterschiedlich umgegangen. Zum einen stellt (Ober-)Schlesien das symbolische Zentrum der gedachten Wir-Gruppe dar, zum anderen dient es als Abgrenzungsfläche für das eigene Selbstverständnis und die Wir-Gruppe, zu der eine Zugehörigkeit empfunden wird.
11.2 „W IR SIND SCHON WAS E IGENES “ – T YPOLOGIE W IR -G RUPPEN OBERSCHLESIENSTÄMMIGER AUSSIEDLER
DER
Um die vielfältigen und komplexen Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte der Aussiedler strukturieren zu können, wurde für dieses Themenfeld die Methode der Typenbildung gewählt. Das Ziel war eine Typisierung der Aussiedler und ihrer Identitätskonstrukte, die die komplexen Denk- und Wahrnehmungsmuster ordnen und dennoch genügend Platz für individuelle Besonderheiten schaffen soll. Die Typologie ermöglicht eine Diskussion und den Vergleich von Gruppen anstelle von Einzelfällen, was die Ergebnispräsentation insgesamt übersichtlicher macht (Kluge 1999: 44). Die Typenbildung erfordert eine gewisse Generalisierung des Materials und daraus gewonnener Erkenntnisse. Sie orientiert sich für gewöhnlich an einem oder auch mehreren zentralen Merkmalen und gruppiert die Fälle so, dass „sich Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind (interne Homogenität) und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität)“ (Kluge 1999: 27, Herv. i.O.). In diesem Fall ist Zugehörigkeit das entscheidende und differenzierende Merkmal. Zugehörigkeiten beziehen sich nach Anthias (2008: 8f.) auf „experiences of being part of the social fabric and the ways in which social bonds and ties are manifested in practices, experiences and emotions of inclusion. [...] To belong is to share values, networks and practices“. Auch wenn grundsätzlich zwischen Identitäten und Zugehörigkeiten zu trennen ist, vermischen sich diese beiden Dimensionen spätestens beim Versuch, sich selbst zu positionieren. Bei den Aussiedlern zeigt sich, dass ihre Zugehörigkeiten zu Wir-Gruppen ganz entscheidend sind für ihr Selbstverständnis und damit ihre Identität. Das eigene Selbstverständnis orientiert sich somit an Zugehörigkeiten. Es kommt in Erzählungen über sich selbst, d.h. über die eigene Herkunft und das fokussierte (Lebens-)Ziel, zum Vorschein (vgl. Anthias 2008).
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Zugehörigkeiten werden bei den Aussiedlern überwiegend durch Wir-Konzepte ausgedrückt. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Aussiedler ihre Positionierung in erster Linie über die Zugehörigkeit zu einer gedachten Gemeinschaft ‚Gleichgesinnter‘ definieren. Solche Gemeinschaften können lediglich die Familie betreffen, sie sind jedoch meistens auf imagined communities bezogen, deren Größe unbekannt ist. In jedem Fall sind Handlungsmuster, Werte und Einstellungen stark an Gruppenphänomene (sozialer Zusammenhalt, Art des Feierns, Humor, Familienbindung) gebunden, was bedeutet, dass das eigene Handeln im Rahmen der Konstruktion einer favorisierten, eigenen ‚Kultur‘ primär als kollektives Handeln innerhalb einer Community verstanden wird. Das Zuordnen zu einer Wir-Gruppe ergibt sich durch die Erfahrung, dass das eigene Lebenskonzept nicht einzigartig ist, sondern von Familienmitgliedern oder Freunden mitgetragen wird. Zur Bildung der eigenen Wir-Gruppe gehört zudem stets die Differenz zu einer oder mehreren SieGruppen, was auch bereits im Kapitel zu den transnationalen Netzwerken verdeutlicht werden konnte (vgl. auch Weichhart 1990: 23, 94). Alle gebildeten Wir-Gruppen haben einen räumlichen Bezug, d.h. sie werden regionalen, nationalen oder anderen territorialen Gemengelagen zugeordnet und weisen daher einen bestimmten Raumausschnitt als Bestandteil des Zusammengehörigkeitsgefühls auf. Bei Berücksichtigung der Außenperspektive können einzelne Raumausschnitte auch SieKonzepte repräsentieren (Weichhart 1990: 23). Dies wurde bereits bei der Grenzziehung Oberschlesiens und der Abgrenzung der Stadt Sosnowiec deutlich. Zurück zum zentralen Merkmal der Typisierung, der Zugehörigkeit: Die Erzählungen der Aussiedler wurden auf Begriffe untersucht, mit denen sich die Aussiedler positionieren und beschreiben. Und hier geht es eben um mehr als nur um die Einteilung in „Deutscher oder Pole?“ und „Pole oder Schlesier?“. Es geht vielmehr darum zu verstehen, was sich hinter gewählten Begrifflichkeiten verbirgt und vor welchem Erfahrungskontext sie konstruiert werden. Hier spielen Fragen von Lebensstilen, Migrationsverläufen, Erfahrungen beim Einleben und der Netzwerkentwicklung eine Rolle (vgl. McHugh 2000). Bei der Typenbildung wurde hierfür das agglomerative Verfahren eingesetzt: Zunächst wurden die Einzelfälle betrachtet und im Einzelnen Erkenntnisse gewonnen. Daraufhin wurden Gemeinsamkeiten zwischen Fällen gesucht und ähnliche Fälle zusammengefasst (Mattissek et al. 2013: 213). Als immer wiederkehrende Begriffe in den Erzählungen der Aussiedler stellten sich raumbezogene Wir-Gruppen wie „Wir (Ober-)Schlesier“ oder „Wir Polen“ heraus, weshalb die Differenzierung der Typen nach Wir-Gruppen stattgefunden hat. Im nächsten Schritt wurden auf der Ebene des Typus (Kluge 1999: 28, Herv. i.O.) die zentralen Vergleichsdimensionen ermittelt, „mit deren Hilfe die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den [...] [Aussiedlern] angemessen erfasst und anhand derer die ermittelten Gruppen und Typen schließlich charakterisiert werden können“ (Kelle/Kluge 1999: 81). Hier haben sich Migrationsmotive, Alter, Bildung, Erfahrungen im Einleben, Zeitpunkt der Aussiedlung und in ganz besonderem Ma-
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ße die Einstellung und Beziehung zur ‚Regionaldebatte‘ um Oberschlesien herauskristallisiert. Alle Typen werden anhand dieser Merkmale analysiert und die zentralen Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen zwischen den einzelnen Fällen jedes Typus beschrieben. Zum Schluss erfolgt die sog. typologische Analyse, in der auf der Ebene der Typologie zusammenfassend die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Typen diskutiert werden (Mattissek et al. 2013: 213). Die einzelnen Typen werden um einen oder mehrere Interviewpartner gebildet, die jeweils prototypisch für den einen Typus stehen. Sie stehen durch ihre Charakteristik in besonderem Maße für die ermittelten Merkmale des Typus (Kluge 1999: 84). Alle weiteren Interviewpartner, die dem Typus zugeordnet werden, können in verschiedenen Merkmalen vom jeweiligen Prototyp abweichen, stehen diesem dennoch näher als den Prototypen anderer Typen. So entstehen in sich homogene Gruppen, die sich voneinander unterscheiden und damit ein heterogenes Feld verschiedener Typen bilden. An einigen Stellen entstehen allerdings fließende Übergänge zwischen den Gruppen. Manche Fälle lassen sich gar mehr als einem Typus zuordnen, was auf die Komplexität und Ambivalenz von Zugehörigkeitskonstrukten zurückzuführen ist. Im Folgenden werden die gebildeten Typen von Wir-Gruppen aufgelistet. Sie zeichnen sich insgesamt durch eine recht hohe Homogenität aus, auch wenn innerhalb einzelner Typen anhand untergeordneter Merkmale nochmals differenziert werden kann. Insgesamt konnten 38 der 44 interviewten Aussiedler einem Typus zugeordnet werden. Sechs Aussiedler ließen sich nicht einordnen, da sie ihre Zugehörigkeit in anderen, sehr unterschiedlichen Dimensionen ausdrücken, die wenig mit den ansonsten dominanten ethnischen bzw. nationalen Kategorien zu tun haben. Diese Perspektiven werden später kurz vorgestellt. Zu den gebildeten Typen gehören: (1) Wir traditionellen (Ober-)Schlesier (2) Wir neuen, modernen (Ober-)Schlesier (3) Wir Deutsch-Polen/Polendeutsche (4) Wir Deutschen (5) Wir Polen (1) Wir traditionellen (Ober-)Schlesier Für den ersten Typus spielt (Ober-)Schlesien und die damit verbundene Auffassung vom idealtypischen (Ober-)Schlesier-Sein eine große Rolle. In der Gruppe der ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ finden sich insgesamt neun, vorwiegend ältere Aussiedler, die spät, d.h. Ende der 1980er Jahre, ausgesiedelt sind. Der Bezug zu (Ober-)Schlesien drückt sich häufig in einem stark ausgeprägten Geschichtsbewusstsein aus. Zahlreiche regionalhistorische Anekdoten prägen die Interviews, genauso wie die Tatsache, dass alle Aussiedler dieses Typus während des Interviews
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im oberschlesischen Dialekt sprechen. Was den Bildungs- und Berufshintergrund angeht, ist diese Gruppe sehr heterogen. Wichtiger Faktor der internen Homogenität dieses Typus ist die Abgrenzung zu Polen als Nationalstaat und zu den Polen als Sie-Gruppe. Die Abgrenzung wird häufig über die vermeintliche Diskriminierung der (Ober-)Schlesier durch die Polen als kollektives Erlebnis oder anhand eigener Diskriminierungserfahrungen beschrieben. Die Migrationsmotive des Typus werden nicht nur auf die Ablehnung des politischen Systems, sondern auch auf eine generelle Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation zurückgeführt. Auch die empfundene Diskriminierung der (Ober-)Schlesier kann hier eine Rolle gespielt haben (v.a. bei Herrn Wawrzyczek und Herrn Piontek). Eine gewisse Nähe zu Deutschland oder den „Deutschen“ spielt für diesen Typus insofern eine Rolle, als hierüber die Abgrenzung zu Polen konstruiert wird. In der Regel gehören zu diesem Typus Aussiedler, die noch selbst zu deutscher Zeit geboren wurden oder solche, die innerhalb der Familie größeren Kontakt zu in Deutschland geborenen und daher Deutsch sprechenden bzw. deutschorientierten Verwandten hatten. Dennoch bleiben auch die „Deutschen“ eine Sie-Gruppe. Dies zeigt sich u.a. auch in den Netzwerken dieser Gruppe, die häufig sehr eng auf einen „oberschlesischen“ Bekannten- und Familienkreis beschränkt sind. Beziehungen zu Polen bzw. besser gesagt zu Polnisch sprechenden Personen werden durch die Abneigung gegenüber Polen vermieden oder zumindest auf einem losen Niveau belassen, der Kontakt zu Deutschen wird als unproblematisch, aber häufig wenig herzlich und auf einer distanzierten Ebene gesehen. Deutsche Freunde tauchen in den Netzwerken fast gar nicht auf. Argumentiert wird mit „kulturellen Differenzen“, die jedoch auch gegenüber den Polen gesehen werden. (Ober-)Schlesien wird hier somit als ‚kulturell‘ eigenständig produziert. Als wichtige Voraussetzungen für die Inklusion, d.h. die Identifikation und Zuordnung von Unbekannten zur gedachten Wir-Gruppe werden die Herkunft (aus Oberschlesien sein) und der Sprachgebrauch (Oberschlesisch sprechen) gesehen. Beide Faktoren sind auch entscheidend für das eigene, (ober-)schlesische Selbstverständnis. Die Zugehörigkeit zur imaginierten Gruppe der (Ober-)Schlesier und die Art und Weise, wie sich diese im alltäglichen Handeln widerspiegelt, wird an Aspekten wie Traditionsbewusstsein, der Pflege von Sprache und der Verbundenheit mit der Region festgemacht. Herr Feldmann beispielsweise sieht sein Oberschlesier-Sein in einer Orientierung an vermeintlich „traditionellen“ Handlungsmustern bzw. einer „Lebensweise wie früher“ begründet: Richard Feldmann: Das ist erstmal das Essen. Das tägliche Kochen. Keine Hamburger und Chips. Und so was. Kartoffeln, Fleisch, Wurst, Käse. Weihnachten feiern, Heiligabend. Jeden Sonntag zur Kirche gehen. Jetzt gehen wir am Samstag, denn hier haben wir keine Messen mehr am Sonntag. Sind wir im Urlaub, dann suchen wir eine Kirche.
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Aufbauend auf den vermeintlich (ober-)schlesischen Traditionen und vor allem der Besonderheit des oberschlesischen Dialekts wird die Eigenständigkeit der (ober-)schlesischen Region konstruiert. Der Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ argumentiert mit einer „kulturell unabhängigen (Volks-)Gruppe“, die zwar von beiden oder gar drei (inkl. Tschechien/Tschechoslowakei) Nationalstaaten geprägt wurde, jedoch insgesamt gleichwertig zu Nationalstaaten und unabhängig von ihnen existiert. Ewald Mazur beispielsweise begründet seine Zugehörigkeit zu Oberschlesien und den Oberschlesiern vor allem mit der Besonderheit und Beständigkeit des oberschlesischen Raumes, seiner „Kultur“ und der Geschichte. Nationalstaaten, die zwar Einfluss auf die Region hatten und haben, sind für ihn flüchtige Konstrukte ohne einen konstanten Charakter. Was Śmiełowska (1998) für oberschlesische Identitäten allgemein beschreibt – nämlich, dass das regionale Konstrukt häufig die einzige „räumliche Konstante“ darstellt – ist auch bei Herrn Mazur zu beobachten. Er betont, dass die formelle nationale Zugehörigkeit immer wieder Änderungen unterworfen war, während die Bindung an den lokalen/regionalen Kontext („der Grund und Boden, auf dem man steht“) hiervon unberührt blieb. Dies macht für ihn die oberschlesische „Kultur“ und ihre Eigenständigkeit aus: Ewald Mazur: Ich bin Oberschlesier. Oberschlesisch und Schluss. Und da gibt es keinen Polen und auch keinen Deutschen. Ich bin Oberschlesier. Verstehst du? Und wie derjenige das aufnimmt, dass ich aus Oberschlesien stamme, das ist seine Sache, nicht meine. Weil früher, als ich gefragt wurde, woher ich komme, da habe ich Polen gesagt. Aber da hab ich falsch geantwortet, weil ich davon ausgehe, dass ich niemals aus Polen stammen kann. (ü)
Eine Gemeinsamkeit innerhalb der Gruppe der ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ ist auch der Umgang mit wahrgenommenen Modernisierungsentwicklungen in Oberschlesien. Vor allem dann, wenn die Aussiedler während ihrer Besuche in Oberschlesien Erfahrungen machen, die sie mit dem Verblassen und allmählichen Verschwinden des (Ober-)Schlesiertums in Verbindung setzen – solche Erfahrungen werden am Bedeutungsverlust des Dialekts und einer vermeintlich propolnischen Ausrichtung der Bevölkerung festgemacht – stehen die Aussiedler der aktuellen Entwicklung in Oberschlesien kritisch entgegen. Sie plädieren für den Erhalt „oberschlesischer“ Traditionen und versuchen – quasi als Gegenreaktion zu der wahrgenommenen „Polonisierung“ der Region – aktiv ihr Bekenntnis zur „traditionellen (ober-)schlesischen Region“ nach außen zu tragen. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die räumliche Distanz zum Herkunftskontext keineswegs dazu führen muss, dass die Aussiedler von aktuellen regionalpolitischen Debatten unberührt bleiben. Einen interessanten Beleg hierfür liefert Frau Ilse Matysek, die im Interview immer wieder auf die Eingliederung des Dombrowaer Kohlebeckens in die Wojewodschaft Schlesien zu sprechen kommt.
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Frau Ilse Matysek sieht sich selbst als „Ślonzoczka“ („Schlesierin“), was für sie durch ihre Herkunft eine Zwangsläufigkeit ist. Wichtiger Baustein ihres SchlesierSeins ist die Partizipation am kollektiven Schicksal Schlesiens (‚oberschlesisches Unrecht‘), was auch generell für diesen Typus gilt. Schlesier-Sein hat für Frau Matysek viel mit der Abgrenzung von den „Gorolen“ zu tun, die die Schlesier ihrer Ansicht nach schon immer diskriminiert hätten. Auch nach mehr als fünfundzwanzig Jahren Aufenthalt in Deutschland zeigt sie ein großes Interesse für (regional-) politische Entwicklungen in Polen, das sie über den regelmäßigen Konsum von polnischen Nachrichten und Sendungen auslebt. In diesem Zusammenhang erzählt sie von ihrem „Einsatz“ für Schlesien und seine Grenzen und von einem besonderen Erlebnis: Ein Engagement bei einem Gewinnspiel des Regionalsenders „TV Silesia“, bei dem Frau Matysek versuchte, einen „Irrtum“ bezüglich der Abgrenzung Schlesiens aufzuklären. Der Hintergrund dieser Anekdote ist dabei geopolitisch interessant: Der Regionalsender „TV Silesia“ ging erstmalig 2008 in Sendung. Er bezieht sich namentlich auf „Schlesien“ bzw. „Śląsk“, das Programm ist dabei explizit auf die Wojewodschaft Schlesien ausgerichtet, zu der auch das Dombrowaer Kohlenbecken und das Gebiet um Częstochowa gehören. Dies wird bereits an den Wetterkarten während der Nachrichten deutlich (vgl. Abb. 38), die das Verwaltungsgebiet der Wojewodschaft abbilden. Interessant ist jedoch, dass Sendungen im oberschlesischen Dialekt angeboten werden, die sich paradoxerweise an die (Ober-) Schlesier, welche im Dialekt sprechen, wenden, obwohl dieser Dialekt in weiten Teilen der Wojewodschaft Schlesien nicht gesprochen wird.6 Frau Matysek empfängt diesen Sender ebenfalls und erzählt von einem Gewinnspiel während einer Sendung, in der Bilder „schlesischer“ Orte gezeigt wurden und die Zuschauer erraten sollten, um welche Orte es sich handelt. Ein Bild zeigte den Bahnhof von Sosnowiec, was Frau Matysek dazu veranlasste, diesen „Irrtum“ aufzuklären. Sie rief an, wurde auf Sendung geschaltet und letztlich aus der Leitung geworfen, als sie kritisch nachfragte, seit wann Sosnowiec zu Schlesien gehöre: Ilse Matysek: Einmal gab es so eine Sendung im Fernsehen. So ein Gewinnspiel. Ich hab da angerufen. Weil es ging um Orte in Schlesien. Und dann war das so Schlesien, zum Beispiel Sosnowiec, Katowice.. Und da gab es eine Nummer, mit der konnte man da teilnehmen und Antworten geben. Ich hab zu meinem Mann gesagt: „Ich ruf da an. Seit wann gehört Sosnowiec zu Schlesien?“ Er so: „Hör auf.“ Und ich hab so lange angerufen, bis ich durchkam. Und die haben mich aus der Leitung geschmissen. [...] Aus der Leitung raus. Weil als ich durchkam.. Sie müssen da Antworten geben, so zum Beispiel Nummer vier oder so. Dann kann man was gewinnen. Als die Frau sagte „Sie sind auf Sendung“ hab ich aber nicht
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Dafür jedoch z.B. in weiten Teilen der benachbarten Wojewodschaft Oppeln.
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auf die Frage geantwortet, sondern gefragt, seit wann Sosnowiec und das ganze Zagłebie7 zu Schlesien gehören. (ü)
Abbildung 38: Wetterkarte bei „TV Silesia“
Quelle: Screenshot, Wetterbericht auf der Homepage des Senders „TV Silesia“
Wie dieses Beispiel bereits andeutet, spielt die Differenzbildung zu Sie-Gruppen und insbesondere zu der Sie-Gruppe der Polen, die vom ‚traditionellen (Ober-) Schlesier‘ häufig als „Gorole“ bezeichnet werden, eine entscheidende Rolle (vgl. Abb. 39). Wie bereits im Kapitel zu transnationalen Netzwerkstrukturen aufgezeigt werden konnte, hat diese Form der Abgrenzung Folgen für die Netzwerkentwicklung im lokalen Wohnumfeld. Maria Nowak, Ewald Mazur, aber auch Peter Piontek sprechen von konkreten Vermeidungsstrategien, was den Kontakt zu Polen in Deutschland angeht. An der folgenden Aussage von Frau Nowak wird deutlich, dass hier nicht nur mit Diskriminierung und Konflikten, sondern eben auch mit „kultureller Distanz“ argumentiert wird. Frau Nowak betont, dass die Distanz zu den „Polen“ auch nach der Migration Bestand hat und selbst durch die gemeinsame Minderheitenerfahrung in Deutschland keine Annäherung stattgefunden hätte: Maria Nowak: Nein. [...] das sind für uns Chadziaje, einfach ein anderes Volk. Die haben eine andere Mentalität. Sie waren.. wir waren für sie Nichts. Und jetzt denke ich mir, wir waren Nichts für Euch, dann soll es auch so bleiben. Das sind für mich zwei Welten. Schlesier sind unsere Leute und die anderen sind Chadzaje, das sind Polen. Die haben ein anderes Blut, als wir es haben. (ü)
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Äquivalent zum Dombrowaer Kohlenbecken.
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Abbildung 39: Der Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘
Quelle: Eigene Darstellung
Doch auch die „Deutschen“ bilden für den ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ eine Sie-Gruppe. Die Verbindungen zu den „Deutschen“ werden oftmals als „näher“ im Vergleich zu den Beziehungen zu „Polen“ beschrieben, was am deutschen Einfluss in (Ober-)Schlesien festgemacht wird. Die Erfahrungen nach der Migration selbst führten jedoch vielfach zu Distanz und Konstruktion ‚kultureller‘ Unterschiede. Ilse Kukawka etwa kann sich, wie sie sagt, nicht als „deutsch“ beschreiben, weil sie sich mit der Art und Weise vermeintlich deutscher Lebensweisen nicht identifizieren kann und ihrer Meinung nach kaum Kontakte zu Deutschen hat. Dennoch spielt für sie die deutsche Komponente eine wichtige Rolle, weil Frau Kukawka noch „in deutschen Zeiten“ geboren wurde und hierdurch eine weitere Differenz zu Polen ableitet. Die Abgrenzung von beiden nationalen Kategorien durch eine (ober-)schlesische Identität wird verstärkt, wenn die distanzierte Haltung auch auf der entsprechenden Gegenseite (Sie-Gruppe) vermutet wird. Frau Matysek beispielsweise betont, dass sie sich keiner nationalen Kategorie zuordnen kann, weil sie sich auf keiner der beiden nationalen Seiten „willkommen“ fühlt. Für sie kommt daher nur die schlesische Identität in Frage: Ilse Matysek: Schlesierin. Weil für den Deutschen werde ich nie eine Deutsche sein. Das kann ich also nie behaupten. Schlesierin. Ich bin eine Schlesierin. Aus Katowice. Was bin ich denn für eine Polin? Da kommt so was wie: „Was bist du? Aus Polen? „Ja aus Polen.“ „Aber aus welchem Teil?“ „Aus Katowice.“ „Aus Katowice? Was hast du denn schon mit Polen zu
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tun?“ Das könnte ich zu hören bekommen. „Du bist eine Schlesierin, eine Hanyska“. Könnte mir nicht jemand so kommen? (ü)
Zu den Sie-Gruppen des Typus gehört des Weiteren die Sie-Gruppe der „polnischen Integrationsverweigerer“, hier aufgefasst als alle polenstämmigen Migranten8, die sich aus Sicht der Aussiedler dieses Typus nicht in Deutschland „integrieren“ wollen. Der Wille zur „Integration“ und die bewusste Ausrichtung auf den Lebensmittelpunkt in Deutschland stellen nämlich weitere wichtige Gemeinsamkeiten der Gruppe der ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ dar. Zu Aussiedlern oder anderen Migranten aus Polen, bei denen dieser „Integrationswille“ vermisst wird, findet eine bewusste Abgrenzung statt. Ein fehlender „Integrationswille“ wird im Alltag an unterschiedlichen Aspekten festgemacht: „Lautstarke“ Verwendung der polnischen Sprache in der Öffentlichkeit, „übertriebene Partizipation“ in der polnischen Community oder sehr häufige Mobilität in Richtung des Herkunftskontexts. Auf der anderen Seite konstruiert die Gruppe der ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ auch die Sie-Gruppe der „übertriebenen Deutschen“, worunter v.a. Personen fallen, die ihre Wurzeln (Oberschlesien) vergessen und sich vollständig auf Deutschland fokussieren. Dies wird ebenfalls abgelehnt, weil (Ober-)Schlesien als eigenständige Einheit begriffen wird, die zwar Verbindungen zur deutschen Geschichte aufweist, jedoch als eigenständige Region mit einer eigenen ‚Kultur‘ zu verstehen ist. Anknüpfungspunkte bestehen v.a. zu den „(Ober-)Schlesiern in Polen“, mit denen der ‚traditionelle (Ober-)Schlesier‘ grundsätzlich eine gedachte Solidargemeinschaft bildet. Die Abgrenzungslinie bildet hier lediglich die räumliche Distanz. Letzter Punkt ist jedoch differenziert zu sehen, was in der Abbildung angedeutet und nun näher diskutiert wird. Heterogen zeigt sich der ‚traditionelle (Ober-)Schlesier‘ mit Blick auf die Raumbezüge seiner Zugehörigkeit. Prinzipiell orientiert sich die konstruierte WirGruppe an den oben erläuterten Vorstellungen vom stereotypischen (Ober-)Schlesien, festgemacht an Dialekt, Traditionen und regionaler Einbettung. Damit ist (Ober-)Schlesien als Regionskonstrukt auf den ersten Blick der räumliche Bezug dieser Wir-Gruppe. Der tiefergehende Vergleich zwischen einzelnen Aussiedlern dieses Typus zeigt jedoch, dass einige Aussiedler ihre imaginierte Wir-Gruppe von (Ober-)Schlesiern zunehmend von der Region (Ober-)Schlesien abgrenzen. Dies hat folgenden Hintergrund: Einige Aussiedler sehen, wie bereits oben angedeutet, (Ober-)Schlesien, wie sie es aus der Prä-Migrationszeit kennen und wie sie es als stereotypische Vorstellung reflektieren, als von einem unaufhaltsamen Auflösungsprozess betroffen. Eine solche Perspektive resultiert aus Entfremdungserfahrungen in Oberschlesien, die eine Art ‚räumliche Entkoppelung‘ der gedachten Wir-Gruppe
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Auch andere oberschlesienstämmige Aussiedler können hierunter fallen.
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von (Ober-)Schlesien mit sich bringen. Die Art und Weise, wie das (Ober-)Schlesier-Sein aus subjektiver Perspektive auszusehen hat, wird in Oberschlesien zunehmend vermisst. Entfremdungserfahrungen entstehen vorwiegend durch die Wahrnehmung einer „Polonisierung“ der Region, festgemacht am Bedeutungsverlust des Dialekts, oder durch eine vermeintlich zunehmende pro-polnische Ausrichtung der Bevölkerung. Beklagt wird z.T., dass Familien den Dialekt nicht an ihre Kinder weitergeben würden, Traditionen ungepflegt blieben und der Patriotismus gegenüber der Region einem allgemeinen Patriotismus gegenüber Polen gewichen sei. Zurückgeführt wird dies auf den andauernden Einfluss von „Gorolen“, aber auch auf einen unaufhaltsamen zeitlichen Effekt. Mit Wehmut reagieren diese Aussiedler dann auf die wahrgenommene Diskrepanz zwischen der beobachteten Situation in (Ober-)Schlesien und ihrer stereotypischen Vorstellung von der Region. Dies wird z.B. bei Johanna Jasko deutlich. Sie erzählt von ihrem familiären Netzwerk und den Erfahrungen divergierender Einstellungen einzelner Familienmitglieder. Ihre Familie in Deutschland hat für sie die Bindung zu (Ober-)Schlesien erhalten, während die Netzwerkmitglieder in (Ober-)Schlesien stärkere Bindungen zum Nationalstaat Polen aufgebaut hätten. Für Frau Jasko ist weniger die Bevölkerung (Ober-)Schlesiens, sondern vielmehr ihre in Deutschland lebende Familie die Trägergemeinschaft des traditionellen (Ober-)Schlesiens, was hier auf eine zunehmende Entgrenzung des Schlesienbezugs ihrer Zugehörigkeit hindeutet. Johanna Jasko: Die Leute, die da leben, auch Schlesier, sind extrem stolz, dass sie Polen sind. Sie sind total für Polen. Nur wenige, die wir kennen, die noch hinter Schlesien stehen. (ü)
Auch Frau Wawrzyczek vermisst in Oberschlesien die Bindung an die Region. Sie sieht die ausgesiedelten Oberschlesier als letzte Generation von Oberschlesientreuen an: Christina Wawrzyczek: Die Leute haben sich total geändert. Die alten Omas, die so richtig Oberschlesierinnen waren. Die gibts ja gar nicht mehr. Wir wissen noch, was Oberschlesien wirklich war. Aber uns gibt es ja kaum noch. Viele wandern jetzt zum Friedhof. Da ist ne andere Generation. Die haben mit Oberschlesien nichts mehr zu tun. Die wohnen nur in Schlesien. Alles geht irgendwie. [...] Es gibt keine Oberschlesier mehr dort. (ü)
Es wird deutlich, dass durch die Wahrnehmung von Auflösungserscheinungen der regionalen Identität und ‚Kultur‘ z.T. räumliche Fixpunkte von Identitäten verloren gehen, wie beispielsweise bei Martin Hirsch zu erkennen ist. Herr Hirsch beobachtet eine rasche Übernahme vermeintlich westlicher Muster in Oberschlesien, was für ihn den „ursprünglichen“ Charakter der Region gefährdet:
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Martin Hirsch: Vielleicht diese Entwicklung und Sachen, wo ich sag, die vermisse ich hier im Westen. Es ist ne Zeitfrage, dass das jetzt drüben auch passiert. Und die sind sehr schnell im Nachholen bestimmter Verhaltensmuster aus dem Westen, und man nimmt teilweise alles auch den, tschuldigung, den Schrott, der hier entwickelt wurde, nich? Und vor allem hier das Übertriebene was weiß ich. [...] Also die ersten, die da drüben Fuß gefasst haben, waren Mc Donalds, nich?
Die zunehmende Abgrenzung der eigenen Wir-Gruppe von (Ober-)Schlesien wird besonders gut bei Herrn Wawrzyczek deutlich. Auch er beklagt den Verlust von regionaler Bindung in Schlesien und betont gleichzeitig, dass die „wahren“ Schlesier aussiedeln mussten, um ihre regionale Identität ausleben zu können. Er sieht die Schlesier außerhalb Polens, sich selbst eingeschlossen, als „wahre“ Schlesier an. Er grenzt damit die Wir-Gruppe der Schlesier vom räumlichen Kontext Schlesiens ab und bezieht sie auf eine transnationale imagined community. „Wahre“ Schlesier verortet Herr Wawrzyczek damit weltweit, jedoch nicht in Schlesien, das er nun als Teil Polens ansieht: Jan Wawrzyczek: Schlesier sind entweder rausgefahren oder zu Polen geworden. Wenn ich nicht rausgefahren wäre.. ich musste raus. Weil wir wären niemals Polen geworden. Und Schlesier konnte man nicht bleiben. Ja Schlesier, aber auch Pole. Interviewer: Gab es nicht diese Option? Jan Wawrzyczek: Nein, und es wird sie auch nie geben. Schlesien ist polnisch. Und das werden die immer betonen. Genau wie mit den wiedergewonnenen Gebieten. Wiedergewonnen? Welche wiedergewonnenen Gebiete? Das Gebiet war mal deutsch, mal polnisch. Zu wem das Gebiet gehört, weiß bis heute kein Mensch, ne? Deswegen sagen die [Polen, Anm. M.O]: Unser Schlesien, unser polnisches (betont) Schlesien. (ü)
Thomas Krawczyk sieht die vermeintliche zunehmende „Polonisierung“ Oberschlesiens als das Ende einer Suche nach der „richtigen Seite“ bzw. einer übergeordneten Identität, die seiner Meinung nach nur die polnische sein konnte. Oberschlesien ist für ihn nun eine „polnische“ und nicht mehr wie früher, eine dem polnischen Staat gegenüberstehende und „kulturell eigenständige Region“: Thomas Krawczyk: Ja, hat sich mal bisschen gedreht in Richtung: „Also wir suchen jetzt mal nach unserem Stühlchen.“ Und das ist jetzt, das ist jetzt die polnische Seite. Ich find, dass da ganz extrem.. dass man alles, was polnisch ist, extremst lobt. Ja und ich sag jetzt nicht, dass das Deutsche kritisiert wird, das ist mir auch egal, aber das ist auffallend. Das ist wahrscheinlich dieses Streben nach: „Guck mal, wir können es auch, wir sind auch was und wir sind super und wir sind toll.“
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Damit wird deutlich, dass es für Aussiedler wie Johanna Jasko oder Jan Wawrzyczek bei ihrer Zugehörigkeit zu (Ober-)Schlesien weniger auf die Frage der Verortung ihrer Zugehörigkeit in (Ober-)Schlesien ankommt, sondern stärker auf die Zugehörigkeit zu einer „kulturell“ homogenen Wir-Gruppe. Nicht unbedingt die Herkunft ist dann entscheidend. Das (Ober-)Schlesier-Sein wird vielmehr an politischen Einstellungen, Sprache und Religiosität festgemacht, also an räumlich unabhängigen Aspekten. (Ober-)Schlesier-Sein ist dann nicht mehr ein von der regionalen Bevölkerung getragenes Phänomen, sondern ein Bezugspunkt einer transnationalen Gemeinschaft oberschlesienstämmiger Migranten, die, losgelöst vom Raum ‚(Ober-)Schlesien‘, vermeintlich oberschlesische Praktiken und Eigenarten unter dem Einfluss verschiedener Kontexte pflegt. Die Bevölkerung in (Ober-)Schlesien wird an dieser Stelle z.T. auch als Sie-Gruppe konstruiert, was auch mit den veränderten Erfahrungen während der Besuche und Urlaube zusammenhängt. Waren in (Ober-)Schlesien vor der Migration „Sie“ vor allem die zugezogenen Polen oder „Gorolen“, und „Wir“ die autochthonen (Ober-)Schlesier, wird in einigen Aussiedlerperspektiven das „Sie“ nun auf alle Polen inklusive der Bevölkerung und der Netzwerkmitglieder in (Ober-)Schlesien ausgeweitet. Dies ist dann verstärkt zu beobachten, wenn die Aussiedler bei Begegnungen in (Ober-)Schlesien auf veränderte Einstellungen und Lebenskonzepte treffen. Letztere werden z.T. als überheblich und „extrem patriotisch“ beschrieben, also mit Attributen belegt, die vor der Aussiedlung vor allem den „Gorolen“ attestiert wurden. Der Begriff „Gorole“ wird dann aus der Aussiedlerperspektive auf die gesamte in Polen lebende Bevölkerung ausgeweitet. Insofern wird die Sie-Gruppe der „(Ober-)Schlesier in Polen“ in Abb. 39 differenziert behandelt. Sie kann dem Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ sehr nah stehen oder, wie in diesem Absatz beschrieben, zu den Sie-Gruppen gehören. Interessant ist hier der Umgang einiger Aussiedler in dieser Gruppe mit den definierten Anforderungen des (Ober-)Schlesier-Seins: In der Regel werden die Auflösungserscheinungen rund um (Ober-)Schlesien mit dem Verschwinden des Dialekts in Zusammenhang gebracht. Herr Kaluza z.B. bemängelt vor allem, dass in Oberschlesien der Dialekt nicht mehr an die Kinder weitergegeben werde: Josef Kaluza: Da gibt´s doch keine Schlesier mehr. Oder nur noch die Reste. Ich hab da eine Cousine. Sie Oberschlesierin, er auch. Und die Kinder, die können nicht oberschlesisch. [...] Ich sach: „Hey, wat spricht der hier?“ „Ja gibt´s ja nicht in der Schule“. Ich sach: „Ja für die Schule kann der so [polnisch, Anm. M.O] reden, hab ich auch gemacht. Und zuhause hab ich so [oberschlesisch, Anm. M.O] gesprochen.“ In der Schule hab ich mich angestrengt und dann ging das alles. Dann sind die vielleicht zu faul.
Gleichzeitig jedoch gibt Herr Kaluza allerdings zu, dass sein Sohn ebenfalls kein Interesse (mehr) an dem Erlernen der polnischen Sprache bzw. des Dialekts hat,
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was er im deutschen Kontext allerdings als „normal“ empfindet. Herr Kaluzas Anforderungen an ein (Ober-)Schlesier-Sein sind offensichtlich an den (ober-)schlesischen Raumkontext gebunden, da in seiner Argumentation (Ober-)Schlesien bleiben müsse, wie es immer war, während er sich selbst und seine Familie von diesem Anspruch befreit. (2) Wir neuen, modernen (Ober-)Schlesier Der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ bildet die zweite Wir-Gruppe mit Bezug zu (Ober-)Schlesien und wird aufgrund einer anderen Perspektive auf (Ober-)Schlesien und die regionale Zugehörigkeit vom Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ differenziert. Er setzt sich zwar lediglich aus vier Aussiedlern zusammen, bildet jedoch eine sehr homogene Gruppe, die von den anderen Typen klar abzugrenzen ist. Die ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesier‘ sind jüngere, zumeist Mitte der 1980er Jahre migrierte Aussiedler mit durchweg hohem Bildungsabschluss, die im Hinblick auf ihr Zugehörigkeitskonstrukt ein wesentliches Merkmal verbindet: Sie sehen sich einer Gruppe von (Ober-)Schlesiern zugehörig und beschreiben sich auch als (Ober-)Schlesier, grenzen sich jedoch ganz bewusst von den stereotypischen Vorstellungen von (Ober-)Schlesien und dem Bild des idealtypischen (Ober-)Schlesiers ab. Sie brechen bewusst mit Traditionen und als oberschlesisch deklarierten Handlungsweisen, was jedoch nicht dazu führt, dass sie ihre (ober-)schlesische Identität in Frage stellen. Vor dem Hintergrund der langen Aufenthaltszeit in Deutschland und des Vermischens verschiedener ‚kultureller‘ Kontexte besteht ein stärker transkulturelles Verständnis vom (Ober-)Schlesier-Sein, das hier neu definiert wird. (Ober-)Schlesien bleibt für diesen Typus als Herkunftsgebiet oder „Heimat“ ein Ankerpunkt der eigenen Geschichte, der aus nostalgischen Gründen (z.B. durch Kindheitserinnerungen) wichtig bleibt und auch gerne gelegentlich besucht wird. (Ober-)Schlesien ist jedoch nicht (mehr) uneingeschränkt als räumlicher und ‚kultureller‘ Ankerpunkt des eigenen Zugehörigkeitskonstrukts zu sehen. Die Abgrenzung des eigenen (Ober-)Schlesier-Seins von der Vorstellung des idealtypischen (Ober-)Schlesiers erfolgt über die Selbstreflexion des eigenen Lebenskonzepts, das im Vergleich zwar immer noch an bestimmte vermeintlich (ober-)schlesische Traditionen gebunden gesehen wird, jedoch zudem als „neu“, „moderner“ und „toleranter“ beschrieben wird, was vor allem mit einer zunehmenden Transkulturalität der Alltagswelten und auch einer bewussten Abkehr vom polnisch-oberschlesischen Konflikt in Verbindung zu bringen ist. Der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ sieht seinen Alltag durch „neue“ Gewohnheiten, Einstellungen und Handlungsmuster geprägt, was auch als Divergenz zu „alten“ Handlungsmustern und zum Idealtyp des (Ober-)Schlesiers interpretiert wird. Das Eigene wird in hierarchischer Form als „modern“ und „gut“ dem „Alten“ und daher „Schlechten“ gegenübergestellt. Diese Abgrenzung von „veralteten“ Handlungs-
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mustern wird bei Frau Zając deutlich. Sie grenzt sich und ihre Lebenswelt von einem auf alten Mustern und Traditionen verharrenden Schlesien ab und argumentiert sowohl mit veränderten Handlungsmustern (nicht mehr so viel kochen, seltener gewordene Kirchengänge) als auch mit ihren familiären Lebensumständen. Als vom Ehemann geschieden und mit nur wenig Kontakt zur Familie fühlt sie sich mit Blick auf den vermeintlich starken Familienzusammenhalt in Schlesien „anders“ und einem anderen, modernen Gesellschaftssystem zugehörig. Das Leben in Schlesien sieht sie im Stillstand, während sich ihre Lebenswelt zunehmend an neuen gesellschaftlichen Trends orientiert sieht (z.B. Patchworkhaushalte, neue Freizeittrends). In diesem Zusammenhang geht es für Frau Zając auch um ihre veränderte Rolle als Frau und Mutter. Statt zu kochen und Kinder zu erziehen, macht sie nun Sport oder geht aus: Barbara Zając: Also hier ist das Leben, ich glaube, einfacher, moderner. Und die leben noch das Leben so wie ich damals vor vierundzwanzig Jahren. Nach der alten Art, Tradition und ich glaube, so, wie die da leben, kann ich mir jetzt nicht vorstellen, weil seitdem, dass ich hier in Deutschland vierundzwanzig Jahre lebe, ich bin auch anderer Mensch geworden. Ich hab mich anderes entwickelt. Ich mache Sport. Mir macht es Spaß, Essen zu gehen und mich schick anzuziehen und raus. Da die Familie, Enkelkinder, also, wenn Weihnachten ist, die machen alles selber. Oh, da ist mir die Zeit zu schade, ne. Aber ist schön. Darum sage ich, die leben noch nach die alten Zeiten, ne. Und ich bin mehr modern. Und ich gucke jetzt... Ich bin anderer Mensch. [...] In Polen wenn wir gelebt haben, da haben wir so fett alles gegessen. Küche ist anders. Viel Fett. Darum sind meine Freundinnen.. die sind so Mamas. Und da hat, wenn wir nach Polen gefahren sind, da hat mich.. war schön, hab ich gegessen, aber hat mich genervt, weil Tisch war voll und schon zum Frühstück warme Wurst. Und alles fett [...] Aber ich kann mir nicht vorstellen, jeden Tag so richtig deftig zu essen. Und dass wir mehr Salat, alles so frisch. Hier isst man so. [...] Ja und wenn meine Tochter zu mir Weihnachten kommt mit dem Ehemann, ja dann mache ich auch Fleisch. Weil der isst anders. [...] Na ja und die sind sehr katholisch. Die gehen immer sonntags zur Kirche. Da muss ich sagen, Beichte, ne? Also aus diesem Bereich, ich glaube, bin ich total, total, ne? Weil ich versuche, ich gehe als erste.. ich bin sehr streng katholisch erzogen worden, ne? Und ich glaube aus diesem Grund, dass meine Mutter mir so immer Druck gemacht hat, wenn ich schon erwachsen, wenn ich schon meine eigene Familie hatte, da hab ich auch.. ich musste immer sonntags zur Kirche gehen. Wenn wir hier nach Deutschland gekommen sind, da versuchte ich meiner Mutter zur Liebe das weiter zu machen, weil das war so. Damals die Generation hat sich nicht so rebellisch hinter gestellt, wie heute meine Kinder. Also da waren andere Zeiten. Und da hab ich versucht immer so sonntags zur Kirche. [...] Und.. seit dem Tod von meiner Mutter hab ich, ich sage nicht.. den Glauben hab ich. Immer noch. Aber ich sehe das ein bisschen locker.
Wie das eigene (Ober-)Schlesier-Sein als Folge einer Differenz zum Idealtyp des (Ober-)Schlesiers interpretiert wird und um welche Vergleichsmomente es hier
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geht, lässt sich auch am Beispiel von Roman Mainz verdeutlichen. Roman Mainz bezeichnet sich selbst als „Schlesier“ und hebt an verschiedenen Stellen die Bedeutung „schlesischer“ Traditionen für seinen Alltag hervor. Gleichzeitig grenzt er sich als „reisefreudigen Genussmensch“, der viel Wert auf Selbstverwirklichung und immaterielle Werte legt, vom idealtypischen Schlesier ab, der für ihn lediglich nach Arbeit, materiellem Wohlstand und einer sicheren Ausbildung der eigenen Kinder trachtet: Roman Mainz: Typisch schlesisch ist Arbeiten, materiellen Wohlstand erreichen. Also ich denke, Theater oder Oper oder Museen das ist schon.. das ist schon abhängig davon, wie es die Frau empfindet. Die Frau wird den Mann schon dahinbekommen. Aber ganz wenig. Wohlstand, Investition in die Kinder. Also, dass die super Ausbildung haben. Sogar Opa und Oma haben Rente von Tausend, da geben die Dreihundert, damit der Junge studieren kann.
Herr Mainz selbst beschreibt sein Lebenskonzept als über die materielle Grundsicherung und die Förderung der Ausbildung seines Sohnes hinausgehend. Er definiere „höhere Ziele“, was er als „ungewöhnlich“ bei Schlesiern ansieht. Zudem betont er, wie wichtig ihm kulturelle Veranstaltungen sind und grenzt sich dabei vom vermeintlichen Desinteresse des idealtypischen Schlesiers für kulturelle Angebote ab. Auch im Sprachgebrauch ist eine Abgrenzung zum idealtypischen Schlesier zu erkennen. Den oberschlesischen Dialekt benutzt Herr Mainz gerne, meistens im Rahmen von Feierlichkeiten oder hin und wieder im Alltag. Maßgebend ist für Roman Mainz allerdings im (beruflichen) Alltag und vor allem im Gespräch mit seiner Frau die polnische Sprache. Den Dialekt verwendet er abhängig vom Kontext. Unbekannte würde Roman Mainz beispielsweise nicht im Dialekt ansprechen. Zudem sollte seiner Meinung nach jeder Schlesier auch Polnisch und im deutschen Kontext Deutsch sprechen können9 („So möchte ich nicht ausschließlich reden müssen“). Herr Mainz betont hier den vermeintlich „brachialen“ und „einfachen“ Charakter des Dialekts, den er zudem als wenig klangvoll und „hässlich anzuhören“ beschreibt. Der Sprachgebrauch bzw. die Einstellung zu den Sprachen sind wesentliche Merkmale, nach denen sich Roman Mainz und damit der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ deutlich vom Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ differenziert. Letzterer lehnt aufgrund der schwierigen Beziehungen zum Nationalstaat Polen auch die polnische Sprache ab. Bei Roman Mainz ist der Grund für seine Fokussierung auf die polnische Sprache seine Wahrnehmung des Dialekts, der ihm „grob“ und „einfach“ erscheint. Zudem argumentiert er mit seiner höheren
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Interessanterweise sprechen Aussiedler, die dem zweiten Typus zuzuordnen sind, während des Interviews ausnahmslos Deutsch.
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Bildung. Indirekt ist der oberschlesische Dialekt für Roman Mainz die Sprache der „einfachen Bevölkerung“: Roman Mainz: Weißt du, wir beide [Herr Mainz und seine Ehefrau, Anm. M.O].. wir mögen den schlesischen Dialekt, aber mir ist.. wir nutzen ab und zu diese schlesischen Wörter, aber wir beide sprechen schon polnisch. Aber nicht so dieses melodische Warschauer, aber wir sprechen mehr polnisch. Ich denke, das liegt auch daran, dass wir Abi haben, studiert haben. Ich kann sofort auf diesen schlesischen Dialekt wie in Ruda Śląska umschalten. Aber ich muss einen gleichen haben. Also von mir kommt das nicht aus. [...] Wenn jemand nur Dialekt spricht, der ist für mich bisschen begrenzt. Ich kann, wenn du jetzt sagst: „Komm, sprich bisschen schlesisch“. Sofort kann ich gerne sprechen. Das ist lustig. Aber wenn jemand schon telefonisch, bei Unbekannten, schon sofort diese.. [...] deswegen ist diese Masse hier.. ist für mich nicht gebildet.
Doch nicht nur in Bezug auf Sprache kommen die Unterschiede zwischen den ersten beiden Typen zum Ausdruck. Generell plädiert der Typ des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ für mehr Toleranz und eine Abkehr von alten polnischoberschlesischen Konflikten. Er sieht die Konflikte als veraltet und Angelegenheiten vergangener Generationen an, was sich auch deutlich im Vergleich der Netzwerkstrukturen zeigt. Die Netzwerke des zweiten Typus sind auffällig häufiger ‚gemischter‘, was Sprachgebrauch und Herkunft der Kontakte angeht. Es zeigen sich vor allem auch viele ‚polnische‘ Kontakte. Roman Mainz beispielsweise differenziert zwar in Schlesier und Polen, alltagsrelevant ist diese Differenzierung für ihn allerdings nicht, da er sowohl die eine als auch die andere Gruppe gleichermaßen schätzt: Roman Mainz: Wenn ich hier zehn Leute habe, meine Engsten, das sind durch Zufall Schlesier, vielleicht zwei Polen. Obwohl ich das nie, wie das früher war, von wegen: „Bist du Pole, kannst du trotzdem rein“. [...] Kein Unterschied. Es gibt bei Schlesiern so viele Arschlöcher.
Abgrenzungen vom Idealtyp des Schlesiers sieht Roman Mainz auch im Bereich der religiösen Praxis. Hier sieht er eine zunehmende Abkehr von alten Traditionen, z.B. wenn es um die Erziehung seines Sohnes geht. Der Kirchenbesuch ist Herrn Mainz nach wie vor wichtig, er würde seinen Sohn dazu aber nicht zwingen und ihn auch nicht kontrollieren, so wie er es selbst in Oberschlesien erlebt hat. Dies bringt auch Frau Dubiel zum Ausdruck, die in der Erziehung ihrer Kinder eine Aufgabe bestimmter Traditionen und Einstellungen als Folge einer unausweichlichen „gesellschaftlichen Modernisierung“ ansieht: Inge Dubiel: Es verliert sich was, so wie.. ob das hier bei uns.. man kann nicht alles übernehmen, so ich hab bestimmt auch was von Eltern verloren, was sie von ihren Eltern übernom-
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men haben. So wie gesagt, die Gesellschaft geht immer voran. Und.. alles nehmen wir nicht mit. Man sagt.. es ist out. So wie meine Tochter sagt: „Mama, das ist schon out. Das macht man nicht mehr.“ Man muss auch bisschen loslassen. Und dadurch verliert man das immer so Stückchen mehr, Stückchen mehr [...] Ich kann ja nicht verlangen, dass sie [Tochter, Anm. M.O] jeden Sonntag, was weiß ich, zur Kirche geht. Wir versuchen oder gehen überwiegend jeden Sonntag zur Kirche. Das ist ja, das hat man so übernommen, die Kinder auch. Und jetzt wenn meine Tochter kommt und sagt: „Ich geh feiern.“ Ich sag: „Du musst es wissen.“
Bei Roman Mainz führen alle Abgrenzungsebenen (Sprache, Lebensstil, Traditionen) insgesamt zu einer Abgrenzung vom stereotypenbasierten Bild Schlesiens und der Schlesier, dem er seine eigene Art Schlesier zu sein gegenüberstellt. Letztere ist nichts anderes als der Ausdruck für seine transkulturelle Lebenswelt. Selektiv führt er einige „traditionelle schlesische“ Alltagspraktiken weiter, andere werden modifiziert oder weggelassen. Im Alltag bedeutend und „typisch“ schlesisch sieht Roman Mainz einige Gerichte, seine Gastfreundlichkeit und seine Art zu feiern an. Für seinen fünfzigsten Geburtstag beispielsweise, den er separat mit seinen schlesischen/ polnischen Bekannten gefeiert hat, bereitete er eine Einladungskarte mit einem deutschen und einem im Dialekt verfassten Text vor, während der Feier wurden zudem „schlesische“ Schlager gespielt. Vor kurzem organisierte Roman Mainz zudem einen privaten „schlesischen“ Abend für seine Freunde mit Musik und Tanz. Über die Pflege bestimmter Praktiken im Alltag bleibt für ihn ein Teil des stereotypischen Schlesiens relevant. Auch für die Regionalentwicklung in Schlesien zeigt Roman Mainz Interesse. Den verstärkten Regionalismus in Oberschlesien wertet er positiv und als Fortschritt: Roman Mainz: Früher hat man nix über Schlesien, über dieses Gebiet gesprochen. Und ich hab gehört, dass jetzt das Śląski Stadion in Chorzów wird gestrichen mit blau-gelb, das sind die Farben von Oberschlesien. Und früher hat man immer gesagt: „alles polnisch, alles polnisch.“ Und jetzt sagt man: „Ok, das ist Schlesien, das ist schlesische Farbe.“ Also geht das.. die Entwicklung geht in eine gute Richtung.
Allerdings würde er sich nie als idealtypischen Schlesier bezeichnen. Er grenzt die idealtypischen Schlesier vielmehr als imagined community (in diesem Fall SieGruppe) ab. Roman Mainz fühlt sich zugehörig zu einer modernen, kosmopolitischen Gemeinschaft schlesischer und polnischer Gleichgesinnter mit dem Herkunftskontext „Schlesien“. Diese Wir-Gruppe oder imagined community ist allerdings räumlich nicht an Schlesien gebunden, sondern umfasst ein plurilokales, europaweites Netzwerk. Die verbindenden Elemente innerhalb dieser Wir-Gruppe sind ähnliche Werte, Einstellungen und auch die polnischen/schlesischen Wurzeln. (Ober-)Schlesien stellt für den zweiten Typus vor allem ein Heimatgefühl dar, das sich auf bestimmte Orte der Prä-Migrationszeit bezieht, die mit positiven Bedeu-
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tungen aufgeladen sind und den Ausgangspunkt einer persönlichen Geschichte, d.h. Identität darstellen. Dies wird bei Herrn Mainz an folgender Aussage gut deutlich: Roman Mainz: Weißt du, in der deutschen Sprache gibt´s dieses Wort „meine kleine Heimat“. Mein Platz, meine Schule, meine Klassenkollegen. Park. Ich hab dir erzählt, ich bin früher gesegelt. Also dieser See, wo ich gesegelt bin. Wo das passiert ist. Das verbinde ich mit Schlesien, also meine Vergangenheit.
Im Vergleich zum Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ existieren im Fall der ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesier‘ weniger eindeutige Sie-Gruppen (Abb. 40). Da Aussiedler in dieser Gruppe verstärkt für Toleranz und ein Beenden der oberschlesisch-polnischen Konflikte plädieren, bestehen auch hier mehr Anknüpfungspunkte zu anderen Gruppen. Die „Gorole“ als Sie-Gruppe hat hier im Unterschied zu der vorangegangenen (ober-)schlesienbezogenen Wir-Gruppe nur eine geringe Bedeutung für die Definition des Eigenen. Zu Polen werden genauso viele Kontakte gepflegt wie zu (Ober-)Schlesiern, auch wenn der regionale Herkunftskontext eine gewisse Rolle spielt und immer wieder reflektiert wird. Die Differenzbildung erfolgt mit Blick auf die eigene transkulturelle Lebenswelt vielmehr in der Abgrenzung ‚traditioneller (Ober-)Schlesier‘. Abbildung 40: Der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘
Quelle: Eigene Darstellung
Zu den „Deutschen“ bestehen deutliche Anknüpfungsmomente, allerdings werden hier, genauso wie bei den anderen Typen auch, Distanzphänomene beschrieben, weshalb die „Deutschen“ eine Sie-Gruppe bilden, von der sich der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ durch die polnische/oberschlesische Komponente seiner Lebenswelt abgrenzt. Wichtige Sie-Gruppen sind auch hier die „übertriebe-
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nen Deutschen“ und auch die „polnischen Integrationsverweigerer“, da auch der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ sowohl eine vollständige ‚Assimilierung‘ als auch eine Isolation und die fortwährende Rückbesinnung auf den Herkunftskontext ablehnt. (3) Wir Deutsch-Polen/Polendeutsche (Ober-)Schlesienbezogene Wir-Gruppen machen nur zwei der fünf Typen aus, was bereits zeigt, dass es kritisch zu sehen ist, wenn oberschlesienstämmigen Aussiedlern bzw. Migranten in unreflektierter Weise eine regionale Bindung bzw. Identität attestiert wird (vgl. Aussiedlerforschung der 1970er und 1980er Jahre, v.a. Hager 1980; Hager/Wandel 1978b). Sieben Aussiedler positionieren sich in einer Gemengelage zwischen den beiden nationalen bzw. ethnischen Kategorien „deutsch“ und „polnisch“ und fühlen sich zu einer imagined community von ‚Polendeutschen‘ bzw. ‚Deutsch-Polen‘ zugehörig. Entscheidendes Merkmal dieser Gruppe ist die Hybridität der Identität und ein plurilokales, grenzüberschreitendes Zugehörigkeitskonstrukt. Der Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ verfügt über mehrere räumliche und soziale Bezugspunkte und fühlt sich gleichzeitig sowohl in den Herkunfts- als auch Ankunftskontext eingebettet. Beide Kontexte verschwimmen in unterschiedlicher Weise zu einer transnationalen Lebenswelt mit einem eigenen transkulturellen Lebenskonzept, das auch als solches begriffen wird (vgl. Pries 2001a, 2008). Genauso wie der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘, definiert dieser Typus seine Wir-Gruppe über die Wahrnehmung einer Art Hin-undHergerissen-Seins zwischen zwei oder mehreren Kontexten bzw. zwischen einzelnen Fixpunkten der eigenen hybriden Identität. Der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ orientiert sich in der Definition des Eigenen und des Anderen jedoch strikt an (Ober-)Schlesien und den damit verbundenen stereotypischen Imaginationen. Er sieht das eigene (Ober-)Schlesier-Sein in einen Modernisierungsprozess eingebettet. Der Typ ‚Deutsch-Pole‘ bzw. ‚Polendeutscher‘ orientiert sich an dem Vermischen der beiden nationalen Kategorien. (Ober-)Schlesien spielt hier oftmals keine Rolle oder wird bewusst vollständig von der eigenen Lebenswelt abgegrenzt. Zum Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ gehören u.a. Aussiedler mittleren Alters, die recht spät, häufig mit überdurchschnittlich hohem Bildungsabschluss (Ende der 1980er Jahre) und vor allem aufgrund wirtschaftlicher Motive ausgesiedelt sind. Sie haben zwar des Öfteren eine ablehnende Einstellung gegenüber der damaligen Regierung, jedoch nicht gegenüber dem polnischen Nationalstaat und der polnischen Gesellschaft als politisches bzw. soziales Konstrukt. Sie waren bis auf karrierebezogene oder wirtschaftliche Aspekte zufrieden mit ihrer damaligen Situation und blicken daher z.T. auch mit Dankbarkeit auf die Vergangenheit zurück. Sie haben jedoch auch eine positive Einstellung gegenüber ihrem Zielkontext, in dem sie sich wohlfühlen und den sie als Lebensmittelpunkt definieren. Das Zuordnen zu einer Wir-Gruppe der ‚Deutsch-Polen‘ bzw. ‚Polendeutschen‘ ergibt sich
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durch eine pluri-lokale Einbettung, wobei jeder einzelne Handlungskontext eine bestimmte Bedeutungsaufladung erfährt. Das lokale Wohnumfeld in Deutschland ist der Lebensmittelpunkt, da hier der Wohn- und Arbeitsplatz, aber auch das enge familiäre Umfeld verortet werden. Der deutsche Kontext ist zudem aus der Perspektive dieses Typus eine Art ‚verräumlichter Erfolg‘: Der Typus des ‚DeutschPolen/Polendeutschen‘ ist sehr zufrieden mit der Migrationsentscheidung und der Lebenssituation, wobei er beides im Zusammenhang sieht. Es besteht somit die Auffassung, dass der erreichte Lebensstandard und die Lebensqualität nur durch die Migration nach Deutschland möglich waren. Der Herkunftskontext bleibt als Erinnerungsort wichtig. Hier wurden wichtige Phasen (Schulzeit, Heirat etc.) durchlebt, was mit positiven Emotionen verbunden ist. Hier leben jedoch auch wichtige Netzwerkmitglieder. Beides führt dazu, dass ein großes Interesse für Entwicklungen im Herkunftsland besteht und der Kontakt aufrechterhalten wird. Die Transkulturalität im Alltag ergibt sich durch die Vermischung unterschiedlicher Handlungspraktiken, die im Einzelnen mal als „deutsch“ und mal als „polnisch“ aufgefasst werden. Der ‚Deutsch-Pole/Polendeutsche‘ geht zudem sehr selbstbewusst mit der polnischen Seite seiner Identität bzw. seines Lebenskonzepts um. Prototypisch für diesen Typus stehen Herr Orlowski und Frau Walus. Herr Orlowski, Facharzt mit eigener Praxis (1961 geb.), sieht sich eingebettet in einer deutsch-polnischen Lebenswelt. In seinem Selbstverständnis ordnet sich Herr Orlowski einer diffusen Gemengelage, bezogen auf die nationalen Kategorien „deutsch“ und „polnisch“, zu. Von seiner Abstammung und auch seiner kulturellen Praxis her sieht er sich stark polnisch geprägt, allerdings ist für ihn durch die lange Lebenszeit in Deutschland, seine gelungene „Integration“ in das „deutsche System“ und seine Zufriedenheit mit seinem Leben in Deutschland eine bedeutende deutsche Komponente hinzugekommen. Seine Mentalität sieht er somit als „irgendwo dazwischen“ verankert, auch weil er seine Andersartigkeit sowohl im deutschen als auch im polnischen Kontext bestätigt sieht: Andreas Orlowski: Ich bin ein Deutscher mit polnischer Herkunft. Ich habe einen deutschen Ausweis, ich arbeite für diesen Staat, ich arbeite in diesem System hier und ich finde es sehr.. nicht alles passt mir hier.. aber immer noch besser als.. oder man kann sagen, dass ich ein Pole mit deutschem Pass bin. Geht auch. Das ist für mich gar kein Problem. Allerdings wenn wir auf meine genetische Abstammung schauen, Blut und so weiter, dann ist da ein Opa.. aber gut die Oma war aus Polen. Mein Vater aus Polen. Nur meine Mutter war auf einer deutschen Schule. Weil sie deutscher Abstammung ist. Väterlicherseits. Sie war daher fifty fifty. Daher habe ich drei Viertel polnisches Blut in mir und ein Viertel deutsches. Ob ich das deutsche Blut spüre, kann ich nur schwer sagen. Ich bin dort aufgewachsen, dort geboren, da zur Schule gegangen. [...] Letztlich werden wir nie ganz Deutsche oder ganz Polen sein. Wir werden immer irgendwo dazwischen sein. Und die Deutschen oder die Leute in Polen fühlen, dass wir eine andere Mentalität haben. [...] Wenn wir nach Polen fahren, sagen alle, dass wir
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anders sind. Man schaut mehr auf Ordnung, auf Sauberkeit. Auf solche Sachen eben. „Aha, er ist schon unter den Deutschen“. Andererseits sagen die Deutschen: „Aber er hat polnische Einflüsse.“ Also sagen die hier: „Das ist ein Deutscher mit polnischer Herkunft“ und dort „Das ist ein Pole unter deutschem Einfluss“. So ist man weder Fisch noch Fleisch. Zwischen zwei Staaten. Aber ich finde, das ist normal. Mich stört das überhaupt nicht, Warum sollte mich das stören? Ich komme dorther, ich spreche polnisch und ich brauche mich dafür nicht zu schämen. (ü)
Besonders die Tatsache, dass Herr Orlowski sowohl in Polen als auch in Deutschland die Erfahrung von Andersartigkeit macht, deutet für ihn darauf hin, dass es eine spezifische Wir-Gruppe gibt, die zwischen den beiden Nationen aufgestellt ist. Dieser Wir-Gruppe fühlt er sich zugehörig und fasst hier die polenstämmigen Migranten mit einer transnationalen Lebensweise, die sowohl durch den Herkunfts- als auch durch den Ankunftskontext beeinflusst wird, zusammen. Für ihn bildet diese Gruppe eine spezifische Mentalität heraus („Wir haben eine andere Mentalität“). Ob diese Gruppe nun als „Deutsche mit polnischer Herkunft“ oder „Polen mit deutschem Pass“ bezeichnet werden kann, spielt für ihn keine Rolle, da es ihm vor allem um das Transkulturelle geht. Herr Orlowski geht mit seiner Transidentität zudem sehr selbstbewusst um und beschreibt den Mehrwert seiner transnationalen Kompetenzen. In seiner Praxis profitiert Herr Orlowski von polnisch- und auch russischsprachigen Patienten, die aufgrund der erleichterten Kommunikation, aber auch aufgrund seiner „typisch polnischen Fürsorglichkeit“ kommen. Gleichzeitig allerdings betont Herr Orlowski, auch bei deutschen Patienten einen guten Ruf zu haben. Auch Maria Walus, ordnet sich selbst einer polnisch-deutschen Gemengelage zu und geht auffällig selbstbewusst mit ihrem transkulturellen Hintergrund um. Das Hin-und-Hergerissen-Sein empfindet sie als unproblematisch. Anders als Herr Orlowski sieht Frau Walus eine Dominanz einer polnischen Komponente in ihrer Lebenswelt, was sie auf ihre sprachlichen Kompetenzen zurückführt. In Polen wird sie nicht anhand sprachlicher Merkmale als fremd entlarvt werden, in Deutschland ist dies weiterhin eine Alltagserfahrung für sie. Dennoch fühlt sie sich sehr wohl in Deutschland und bezeichnet ihren Wohnort Wegberg als Lebensschwerpunkt. In den letzten Jahren bemerkt sie einen immer stärker werdenden Identifikationsprozess mit ihrem Lebensschwerpunkt: Maria Walus: International. [...] Ich hab kein Problem damit, zu sagen, dass ich Polin bin und auch kein Problem, zu sagen, dass ich Deutsche bin. Aber wenn jemand auf die Deutschen schimpft, dass sie irgendwelche Fehler haben, dann natürlich ich nicht. Und wenn jemand auf die Polen schimpft.. sie hätten Fehler, bin ich auch außen vor. (lacht) Weil hier bin ich Polin und da Deutsche. Ich fühle mich zwei Staaten zugehörig, habe aber keine Schizophrenie deswegen. Ich fühle mich halt nur hier und dort zugehörig. Ich fühle mich gut. Klar, es geht
318 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT auf Polnisch leichter als auf Deutsch. Es gibt einige Ausdrücke.. also ich versteh alles auf Deutsch. Aber man würde gerne mehr Wörter benutzen. Redwendungen. Die Hälfte fällt dir ein, die andere nicht. [...] Vielleicht etwas mehr Polin als Deutsche.. daher. Weil in Polen niemand sagen würde, dass ich einen deutschen Akzent habe. Selten. Also niemand identifiziert, dass ich nicht in Polen lebe. In Deutschland allerdings, wenn mich jemand fragt, dann vermutet er schon, dass ich nicht von hier bin. Aber es stört mich nicht. Es gibt Leute.. sie werden immer denken, sie seien Polen. Unser Papst hat immer gesagt, man darf seine Wurzeln nie vergessen. Und die sind eben hier viele Jahre und fühlen sich diesem Land nicht zugehörig. Bei mir.. ich meine ich hab hier die Staatsangehörigkeit. Wir haben sie sofort bekommen, ne? Und man lebt sich so ein und fühlt sich gut. Weil alleine schon die Staatsangehörigkeit führt dazu, dass ich Deutsche bin. Nicht in der Form, dass ich nicht wollte und gezwungen wurde. Wir sind gekommen, wollten bleiben und das war an die Annahme der Staatsangehörigkeit gebunden. Und weil alles freiwillig war, identifiziert man sich mit dem Ganzen. (ü)
Ein weiteres Merkmal, das für die innere Homogenität des Typus ‚DeutschPole/Polendeutscher‘ sorgt, ist die Einstellung gegenüber (Ober-)Schlesien und dem damit verbundenen Regionalismus.10 Besonders deutlich wird dies bei Herrn Orlowski. Sein Selbstverständnis und die Definition seiner Wir-Gruppe impliziert auch eine Abgrenzung zu Schlesien, das er als damalige Parallelwelt im Herkunftskontext reflektiert. Herr Orlowski studierte in Polen Medizin und arbeitete bereits dort als Arzt. Der oberschlesische Dialekt war für ihn ein Symbol für Einfachheit, und in seiner stereotypischen Vorstellung von Schlesien setzt er Schlesier mit Armut, Alkohol und Bildungsferne gleich, was er gleichzeitig als Kontrast zu seiner ambitionierten Ärztecommunity hervorhebt: Andreas Orlowski: Jeder verstand diese Sprache. Aber niemand nutzte sie, weil es ein Synonym für Einfachheit war, wenn ich das so sagen darf. Niemand wollte sich damit identifizieren, obwohl alle aus dieser Ecke kamen. Aber diese Sprache wurde nicht genutzt. An der Akademie benutzte man die schlesische Sprache nicht. Als wären das irgendwelche zu pflegenden Wurzeln. Das pflegte man auf den Höfen irgendwo. Aber nicht unter den Studenten, oder unter Leuten, die ein Studium hinter sich hatten. [...] So typisch schlesische Familien hab ich kennengelernt, als ich mit meinem Opa an den familokis unterwegs war. Opa mochte es, da einen Schnaps zu trinken. Und da sind wir zu seinen Bekannten gegangen. So dass ich das gesehen habe, wie diese Familien aussehen. Das war halt ein armer Aspekt von Schlesien. So ein einfacher. Aber das Schlesien, das ich kenne, das sind ganz andere Seiten. Medizinische
10 Einzig Frau Walus ist hier ausgenommen. Im Interview mit ihr kommt (Ober-)Schlesien oder die ‚Region‘ als Herkunftskontext nicht zur Sprache. Es existieren keine Bezugspunkte.
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Fakultät, das sind Leute, die im Leben was erreichen wollen. Und nicht auf der Grube arbeiten. Alle assoziieren Schlesien mit Zechen, Hütten, also mit dreckiger Arbeit. Ich kenne es von der Seite des weißen Kittels, sauberer Hände und polnischer Sprache. Reine polnische Sprache. Nicht schlesisch. Bei uns an der Uni hat keiner schlesisch gesprochen. (ü)
Seine Lebenswelt vor der Migration assoziiert er mit den Attributen „sauber“ und „polnisch“, die er Schlesien mit seiner „Kohle“, dem „Schmutz“ und der Oberschlesisch sprechenden, „einfachen“ Bevölkerung gegenüberstellt. Er grenzt sein „elitäres Śląsk“ der Ärztecommunity vom „Śląsk der Schlesier“ ab, zu dem sich seiner Meinung nach niemand aus dem Medizinerkreis bekennen wollte, selbst wenn es Berührungspunkte gab. Diese starke Fokussierung auf die Community der Mediziner setzte sich bei Herrn Orlowski auch nach der Migration fort. Sein aktuelles Netzwerk setzt sich vor allem aus anderen Medizinern zusammen, die fast ausschließlich polenstämmig sind. Diese Einstellung führt allerdings nicht unbedingt dazu, dass der regionale Herkunftskontext für ihn keine Rolle spielt. Er wird als Ausschnitt Polens gesehen, der Schauplatz der eigenen Lebenswelt war, und nicht, wie beim ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ oder beim ‚neuen, modernen (Ober-) Schlesier‘ mit einer Abgrenzung zum polnischen Nationalstaat in Verbindung gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist beim Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ sehr häufig eine Abgrenzung zur Regionalisierung zu erkennen. „Die (Ober-)Schlesier“ bilden hier eine Sie-Gruppe, da mit diesen eine Ablehnung des polnischen Staates und separatistische Grundeinstellungen verbunden werden (Abb. 41). Als Sie-Gruppe fungiert zudem die Gruppe der „übertriebenen Deutschen“ (bezogen auf andere Aussiedler), die sich von Polen abgrenzen und sich in Deutschland assimilieren. Der ‚Deutsch-Pole/Polendeutsche‘ kritisiert hier vor allem die Überbetonung (Ober-)Schlesiens als deutsche Herkunftskategorie, was gut an der folgenden Aussage der Eheleute Kasprzyk deutlich wird: Isa Kasprzyk: Wir hatten so Spinner auch bei dem Sprachkurs gehabt, die gesagt haben, weil der Lehrer fragt das natürlich auch: „Aus welchem Grund seid ihr nach Deutschland gekommen?“ Und alle, neunzig Prozent der Leute haben gesagt: „Finanziell, wir wollen reisen, wir wollen die Welt kennen lernen und wir wollen uns alles verbessern. Hier ist alles einfach besser als in Polen.“ Damals zu der Zeit war gar nichts mehr. Du hast fünf Stunden angestanden für ein Stück Brot. Und einer hat gesagt.. der hat das immer wieder wiederholt. Der fühlt sich als Deutscher, deswegen ist er- (wird vom Ehemann unterbrochen) Roman Kasprzyk: Der ist nicht aus Polen, sondern aus Oberschlesien (betont) Isa Kasprzyk: Der ist nicht aus Polen, der ist aus Oberschlesien. Das hat er immer wieder betont und der fühlt sich als Deutscher, er kommt aus Oberschlesien und deswegen ist er nach Deutschland gekommen. Da haben alle gesagt: „Weißt du, das kann vielleicht jemand sagen,
320 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT der sechzig ist, aber nicht jemand der gerade fünfundzwanzig ist.“ Das hat ihm kein Mensch abgekauft, aber das hat er erzählt.
Abbildung 41: Der Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘
Quelle: Eigene Darstellung
Zum anderen gehört zum Typus der ‚Deutschpolen‘ bzw. ‚Polen-Deutschen‘ auch ein Teil der jüngeren Aussiedler, d.h. solche, die im Kindes- oder Jugendlichenalter nach Deutschland migriert sind (drei von neun jüngeren Aussiedlern insgesamt).11 Auch hier ist das Empfinden einer „Zwischenstellung“ oder eines Hin-undHergerissen-Seins zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext entscheidend, wobei sich auch die Frage stellt, wie Herkunfts- und Ankunftskontext in diesem Fall zu verorten sind. Oftmals haben die jüngeren Aussiedler in der Gruppe der ‚Deutschpolen bzw. Polen-Deutsche‘ nur wenige Jahre ihres Lebens in Polen verbracht; die Lebenszeit in Deutschland übersteigt die Lebenszeit in Polen deutlich. Wie im Fall von Martin Kluczek, der nach der Aussiedlung eine Transmobilitätsphase erlebt hat
11 Dies ist insofern interessant, als die plausible Annahme widerlegt werden kann, dass bei den jüngeren Aussiedlern vornehmlich die Zugehörigkeit zu Deutschland dominant ist. Diese Annahme liegt nahe, da Aussiedler, die im Kindes- oder Jugendlichenalter migriert sind, nur eine kurze Zeit in Oberschlesien/Polen gelebt haben und weniger Bindungen zum Herkunftskontext haben müssten. Es zeigt sich jedoch, dass sich die jüngeren Aussiedler vermehrt an den Wir-Gruppen der ‚Deutsch-Polen‘ bzw. ‚Polendeutschen‘, aber auch an oberschlesienbezogenen Wir-Gruppen orientieren (Johanna Jasko, Martin Hirsch). Lediglich zwei Aussiedlerkinder von damals (v.a. Thomas Krawczyk) sind dem Typus des ‚Deutschen‘ zuzuordnen.
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und erst hierdurch ein großes Netzwerk in Polen aufgebaut hat, haben einige der jüngeren Aussiedler den vermeintlichen Herkunftskontext erst nach der Migration, während dortiger Besuche kennengelernt. Auch wenn der Geburtsort in Polen liegt, haben sie die schulische Ausbildung oder andere wichtige Ereignisse in Deutschland erlebt. Zwei wichtige Erfahrungskontexte führten bei den jüngeren Aussiedlern in dieser Gruppe zu deutsch-polnischen Transidentitäten und einer Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe der ‚Deutsch-Polen‘ bzw. ‚Polendeutsche‘. Zum einen handelt es sich um die Bewusstseinsbildung für die eigene Andersartigkeit durch Erfahrungen innerhalb familiärer Netzwerke. Hier geht es um weitergegebene Geschichten, Mythen, aber auch um den Sprachgebrauch und die Wahrnehmung einer „anderen“, weil „polnischen“, Erziehung. Letztere wird immer wieder mit Aspekten wie religiöser Praxis und einem stärkeren sozialen Zusammenhalt in Verbindung gebracht. Zum anderen geht es um die Bewusstseinsbildung während der Besuche in Polen. Eine Intensivierung von sozialen Beziehungen, Aufbau neuer Freundschaften, aber auch das Gefühl, das vertraute familiäre Zusammenleben in Deutschland nun in einem größeren räumlichen Kontext erleben zu können (z.B. Sprache als vertrautes Element, das in Polen überall auf den Straßen wahrnehmbar ist), verstärken Beziehungen zu Polen oder lassen sie erst entstehen. (Ober-)Schlesien als Raumbezug ist für die jüngeren Aussiedler dieses Typus aus zweierlei Gründen irrelevant: Zum einen kann dies daran liegen, dass Oberschlesien innerhalb der Familie keine Bedeutung erfährt und somit keine Erfahrungen und Wahrnehmungen hinsichtlich Oberschlesien bestehen (ein Fall: Michael Winiarski), zum anderen zeigt sich in zwei Fällen, dass bewusst (Martin Kluczek) oder unbewusst (Sabrina Kowalski) Abstand genommen wird von der Regionalisierungsdebatte bzw. der polnisch-oberschlesischen Konflikte. Martin Kluczek z.B. sieht die Diskussion um eine vermeintliche oberschlesische ‚Kultur‘ und ihre Eigenständigkeit als veraltet und nicht zeitgemäß an. Er sieht Oberschlesien als „Region in Polen“. Sabrina Kowalski, die als Einjährige 1988 migriert ist, hat häufig Diskussionen um „Gorole“ im Elternhaus mitbekommen. Allerdings kann sie hiermit wenig anfangen und sieht dies als Angelegenheit ihrer Eltern an. Oberschlesische (Dialekt der Eltern) und polnische (Herkunftsland) Bezüge vermischen sich bei ihr zu einem polnischen Teil ihres Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukt, das sich mit dem deutschen Teil vermischt. Dass Mobilität nach Polen und das Vor-Ort-Sein nicht unbedingt notwendig sind für deutsch-polnische Zugehörigkeitskonstrukte zeigt sich im Vergleich zwischen Martin Kluczek und Sabrina Kowalski. Martin Kluczeks Einbettung im polnischen Kontext geht auf seine Transmobilitätsphase im Jugendlichenalter zurück, in der er fast pendelartig nach Polen gefahren ist. Sein Alltag in Deutschland ist infolgedessen zunehmend transkulturell geworden, da er Aspekte des polnischen Kontextes auch in Deutschland erlebbar machen wollte. So kam für ihn nur eine
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polnische Ehefrau in Frage, mit der er sein Interesse für Polen auslebt. Er sieht sich ähnlich wie auch Maria Walus oder Andreas Orlowski „in zwei Welten“ eingebettet. Für ihn haben beide Kontexte – deutsch und polnisch – ihre spezifische Bedeutung und sind prägend für bestimmte Lebensabschnitte oder -bereiche. Das Deutsch-Sein sieht er verstärkt als Folge des zwangsläufigen Erwerbs bestimmter vermeintlich deutscher Eigenschaften wie z.B. Genauigkeit. Die polnische Komponente sieht er auf einer emotionalen Ebene, die nicht zuletzt über sein überwiegend polnischsprachig geprägtes Netzwerk erklärt werden kann: Martin Kluczek: Viele Leute fragen einen: „Bist du jetzt Deutscher oder Pole?“ Das ist immer schwer zu beantworten. Also emotional, sentimental so vom Gefühl her, auch vom Lebensstil, von der Einstellung her, muss ich sagen: „Ich bin Pole“. Aber ich bin sicherlich ein deutschgeprägter Pole. Ich bin nämlich überaus genau, ich bin überaus kritisch. Also man hat diese teilweise, diese typischen, ja deutschen Merkmale, wenn man das jetzt wieder so stereotypisieren will, die hat man natürlich auch, dadurch dass man hier lebt und hier zur Schule gegangen ist und hier einen Beruf gemacht hat und hier studiert hat. Die saugt man auf. Aber emotional ist das.. da bin ich einfach Pole. Deutschland ist hier so eher kopflastig, ja? Ja und das Herz ist eher weiß-rot. Ne? Ich glaub, so kann man das erklären. Also dass ich mich als Pole fühle, hat nichts damit zu tun, dass ich jetzt irgendwie nicht loyal gegenüber Deutschland bin. [...] Also ich bin loyaler Staatsbürger, ich war auch vier Jahre bei der Bundeswehr, ich hab deutsche Freunde und alles, ich bin ja hier auch total integriert, eigentlich integriert. Eigentlich ist das so meine erste Heimat, wenn ich jetzt mal so die Jahre, wo ich gelebt hab, aufzählen müsste, dann ist das ja Deutschland im Grunde. Nur.. demnach müsste ich eigentlich vielleicht sagen, ich bin Mitteleuropäer.
Sabrina Kowalski hatte nach der Aussiedlung nur schwache bis gar keine Kontakte zu Polen gehabt. Sie war lediglich zweimal in Polen zu Besuch, positioniert sich jedoch ebenfalls zwischen beiden „Welten“. Für sie spielt die Reflexion von Transkulturalität im familiären Bund und die daraus folgende Erfahrung von Andersartigkeit im Vergleich zum deutschen Umfeld eine Rolle. Ihr Netzwerk ist zwar vorwiegend durch deutsche Freunde geprägt. Im Vergleich zu diesen deutschen Freunden (ehemalige Mitschülerinnen, Arbeitskolleginnen) fühlt sie sich allerdings „anders“, was sie auf ihre spezielle „polnische“ Erziehung und eine andere Mentalität der Familie zurückführt: Sabrina Kowalski: Ich sach, ich tendier immer so ein bisschen zum Polnischen hin, weißte? Als zu diesem Deutschen halt. Ja. Ist vom Gefühl her. Ich fühl mich immer polnisch erzogen, nicht deutsch, sondern polnisch erzogen. Also Mama hat mir viel gesagt, so.. ich sag mal so Redensarten, oder so was halt. So beigebracht. „Halt dich daran, und daran“. Viel Vertrauen in mich gesteckt. Und ganz anders halt als die Deutschen. Die Deutschen sind immer so, meine Mama sagt immer: „Den Deutschen ist es scheißegal, den Eltern, was die Kinder machen“.
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Mama hat sich immer Sorgen gemacht, hat gefragt, wo ich bin. Mama wusste auch immer alles von mir, Mama kannte auch meine ganzen Freunde, was ich gemacht hab. Und die hat mich halt immer anders erzogen, als alle anderen.
Auch Michael Winiarski hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Er reflektiert in den letzten Jahren verstärkt seine Andersartigkeit und Transidentität, obwohl er, wie Sabrina Kowalski, seit dem Jugendlichenalter kaum Kontakt zu Polen hat und auch nur sehr wenig polnisch spricht. In Polen leben noch seine Großeltern, zu denen er Kontakt unterhält. Auch wenn Michael Winiarski ansonsten kaum nicht-deutsche Kontakte hat (bis auf die Kernfamilie), entdeckt er seit einiger Zeit eine polnische Komponente seiner Identität, die ihm nun immer bewusster wird. Dass er einiges „anders“ als die Deutschen macht, wurde ihm verstärkt klar, als er von zuhause weggezogen ist und im neuen sozialen Umfeld mit anderen Erfahrungen konfrontiert wurde. Hier begann er auch zum ersten Mal Traditionen bewusst zu pflegen: Michael Winiarski: Je länger man hier geblieben ist und auch so in der Pubertät und auch bis ich die Schule beendet habe, es hat mich nicht viel beschäftigt. Ich hab das zwar.. das war keine Abwehr, keine bewusste Abwehr irgendwie gegen alles Polnische. Aber es hat mich auch überhaupt nicht interessiert. Irgendwie. Deutschland war quasi schon mein Heimatland, weil ich hab keine Erinnerungen an Polen in dem Sinne. Also.. und aber das fing glaub ich auch an als ich angefangen habe zu studieren. Und einfach auch neue Menschen kennengelernt habe. Also ne? Bin in eine neue Stadt gezogen, hab dann echt einen ganz neuen Freundeskreis.. und auch wenn man dann, ich merke, ich hab zum Beispiel vieles überhaupt nicht mitbekommen, was in Deutschland.. was deutsche Kinder mitbekommen haben. Kulturell sag ich mal auch. Zum Beispiel deutsche Musik haben wir ja nie gehört großartig. Deutsche Schlager, auch in den Achtzigern. Weil meine Eltern kannten das ja nicht. Die kannten ja nix. (lacht) [...] Ich kenn dafür aber viele andere Sachen, die andere nicht kennen. Das wird aber auch einem erst bewusst, wenn man neue Menschen kennenlernt, naja und ich hab dann schon an der Uni einen polnischen Sprachkurs besucht ein ganzes Jahr lang. Also weil ich auch.. [...] da fing das halt auch, dass ich es toll gefunden hätte, einfach mehr Polnisch sprechen zu können. Und ich hab mir auch von meinen Eltern ein, zwei Kinderbücher ausgeliehen. Weil ich einfach auch polnisch.. also ich kann ein bisschen Polnisch lesen. Wenn ich mir Mühe gebe, ist schon anstrengend. Aber wenn man das.. es ist eine Grundlage da, auf der man aufbauen kann, ne? [...] Ich glaube, jetzt mittlerweile seit drei, vier Jahren beschäftige ich mich mehr damit als so mit zwanzig. Also hängt einfach damit zusammen, dass.. merk ich einfach, wenn ich auf andere Menschen treffe, die kennen halt bestimmte Gerichte nicht, die ich zum Teil auch gerne esse. Die kennen zum Beispiel jetzt auch zu Weihnachten ne? Die kennen Weihnachtslieder nicht, die ich einfach schon seit Kind auf kenne. So also es gibt schon einen kleinen kulturellen Hintergrund, den man einfach mitnimmt, ne? Das schon. [...] Und das ist halt wenn man das Elternhaus verlässt, muss man gewisse Bräuche dann selber plötzlich ganz bewusst pflegen, weil sie dann sonst kein anderer macht. Und ich glaube, da-
324 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT mit einher kam dann so ein Bewusstsein.. ja, das mach ich wirklich, weil ich einen Bezug zu Polen habe, zu gewissen Traditionen und zu meiner Herkunft.
Auf den polnischen Teil seiner Identität hat Michael Winiarski dabei eine besondere Perspektive. Seine polnische Herkunft sieht er zwar individuell als besonders an, weil sie ihn von Deutschen im Hinblick auf das alltägliche Handeln unterscheidet, trotzdem gehört sein Migrationshintergrund für ihn zu Deutschland und zur „nationalen Kultur“ dazu, da er seine Geschichte und die der anderen Aussiedler und Vertriebenen als Teil einer großen deutschen Geschichte ansieht: Michael Winiarski: Ne ich fühl mich als Deutscher. Wobei das also.. also als Deutscher mit Migrationshintergrund. Also ich fühl mich schon als weil es ja.. Polen ist schon Teil meiner Identität. Und wenn man sich, ich find das ist aber auch eine deutsche Identität. Also aus meinem Verständnis heraus. Wenn man sich umhört, wie viele Menschen durch den Zweiten Weltkrieg, Grenzen haben sich verschoben, Familien haben sich getrennt, verschoben, viele sind hin und her gewandert. Und früher vor dem Ersten Weltkrieg noch. Es gab Städte und Regionen, die sind zweisprachig waren die. Es gab Dörfer, die haben polnisch und deutsch gelehrt an den Schulen. Und viele Menschen konnten beide Sprachen. Daher aus meinem Verständnis heraus, ist es einfach ein Teil der deutschen Identität. Dass Polen auch Teil der Geschichte ist, der deutschen.
(4) Wir Deutschen Der Typus des ‚Deutschen‘ setzt sich überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, zusammen aus älteren Aussiedlern, die bereits frühzeitig (1970er Jahre) ausgesiedelt sind und sich vor allem einer Wir-Gruppe der ‚Deutschen‘ zugehörig fühlen. Es gehören insgesamt acht Aussiedler zu diesem Typus. Es handelt sich um einen heterogenen Typus, da sich die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe aufgrund verschiedener Erfahrungen nach der Migration unterschiedlich entwickelt hat. Vor dem Hintergrund einiger negativer Erfahrungen im deutschen Umfeld wird die eigene Zugehörigkeit zur Gruppe der „Deutschen“ in vielen Fällen eingeschränkt oder in Frage gestellt. Die Positionierung findet jedoch im Großen und Ganzen unter dem Deckmantel einer zielkontextorientierten Einbettung in Deutschland und der „deutschen Gesellschaft“ statt, wobei diese als von hier stammende Bevölkerung ohne ausländische Wurzeln verstanden wird. Differenziert werden kann die Gruppe hinsichtlich der Frage, was eine Zugehörigkeit zu den Deutschen legitimiert. Zum einen wird mit den Aspekten Abstammung, Staatsangehörigkeit (generationenübergreifende Zugehörigkeit zu den „Deutschen“) und Herkunft (insb. wenn zum Zeitpunkt der Geburt Oberschlesien noch zu Deutschland gehörte) argumentiert. Dies ist primär bei Aussiedlern zu erkennen, die früh ausgesiedelt sind und z.T. noch zu deutscher Zeit in Oberschlesien geboren wurden. Deutsch-Sein wird hier als „Automatismus“ angesehen. Das Ehepaar Steiner (1938 bzw. 1940 geb. und
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1978 migriert) beispielsweise sieht seine Lebenszeit in Polen als „Übergangszeit“ in einem „fremden“ Nationalstaat an. Beide wurden noch in Deutschland geboren und sahen Oberschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg als „besetztes“ Land an: Lothar Steiner: Also ich fühlte mich immer als Deutscher. Denn die deutsche Sprache habe ich eigentlich nicht verlernt. Maria Steiner: Ich war ja immer deutsch, deswegen dass meine Eltern auch Deutsche waren und ich bin auch in Deutschland geboren. Das war ja noch vor dem Krieg. Lothar Steiner: Ich hab mich so gefühlt als ob das deutsches besetztes Land wäre. Also als Deutscher, ich bin zu Hause, aber jetzt regieren hier die Polen.
Ähnlich argumentiert Richard Feldmann, der ebenfalls noch in Deutschland geboren wurde. Sein Selbstverständnis als Deutscher sieht er als Zwangsläufigkeit an: Richard Feldmann: Ja die Gesinnung, die bleibt ja. Die hat man ja in die Wiege gekriegt, man kann ja nicht die Gesinnung ändern, man hat deutsche Eltern, deutsches Blut in den Adern. Ja man ist Deutscher.
Anders argumentieren Paul Kudela oder Stefanie Fitzek, beide deutlich jünger als Herr Feldmann und das Ehepaar Steiner und nicht zur deutschen Zeit in Oberschlesien geboren. Herr Kudela legitimiert die Zugehörigkeit zu den Deutschen durch den langen Lebensabschnitt in Deutschland (30 Jahre) und seine gelungene „Integration“. Er fühlte sich zunächst hin- und hergerissen zwischen seinem Herkunftskontext Oberschlesien und Deutschland, bis er sich schließlich als „ausreichend integriert“ sah: Paul Kudela: Weil dadurch, wenn ich sage, dass ich mich integriert habe und so weiter, meinte ich ja damit, dass ich ja viel, viel, viel besser sprechen konnte, verstehen konnte und so weiter. Und das war dieser Punkt, wo ich sage: „Ok, jetzt bin ich so weit, jetzt bin ich hier und bleib ich hier. Und fühl ich mich als Deutscher und so weiter“. Anfangs war das noch so bisschen gemischt und so weiter. Weil ich wusste noch nicht so recht, wo ich hingehöre. [...] Also das ist ja mit der Zeit nachher irgendwie von alleine, sag ich mal, verschwunden.
Auf dem Weg zu einem Selbstverständnis als Deutscher war für Herrn Kudela vor allem der Spracherwerb wichtig, Frau Fitzek sieht z.B. den Kauf von Immobilien und den beruflichen Aufstieg als Legitimation des Deutsch-Seins an. Auch hier spielt die Zugehörigkeit zu einer vorgestellten Gemeinschaft der Deutschen eine wichtige Rolle. Durch den beruflichen Aufstieg und die damit einhergehende Verbesserung des Lebensstandards entsteht das Gefühl der Partizipation an der deutschen Gesellschaft. Die anfängliche Abhängigkeit von den finanziellen Zuweisungen des Staates konnten abgelegt werden und durch den sozialen Aufstieg sowie
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den eigenen fiskalen Beitrag für den deutschen Staat entstand ein Gefühl des Angekommen-Seins. Die Zugehörigkeit bezieht sich hier auf eine imaginierte Gruppe der Deutschen, die in diesem Falle als wohlhabende, von staatlichen Transferleistungen unabhängige Gruppe gesehen wird. Das Gefühl des Angekommen-Seins erhöht sich, wenn auch das Zusammenleben mit den Deutschen im sozialen Umfeld funktioniert. Werden hier positive Erfahrungen gemacht, ist das Konstrukt des „angekommenen Deutschen“ vollständig, wie es bei Stefanie Fitzek deutlich wird: Stefanie Fitzek: Ich sehe mich jetzt schon seit langem als Deutsche. Als wir die Wohnung gekauft haben, da habe ich mir gesagt: „Jetzt bin ich angekommen“. Und es hat sich alles so, wir hatten keine Konflikte mit Amt oder mit Leuten. [...] Und dann waren die Kinder.. ist klar, da bist du in der Spielgruppe, in Grundschule, sehr viele Kontakte, ne. Ach, wir sind noch im Verein „Junge Familie“, das ist hier an der Kirche und da sind wir sehr gut befreundet mir sehr vielen deutschen Familien.
Heterogen zeigt sich der Typus des ‚Deutschen‘ vor allem in Bezug auf die Entwicklung des Zugehörigkeitsgefühls zur imaginierten Wir-Gruppe der „Deutschen“. Aufgrund der Herkunft uneingeschränkt „deutsch“ fühlen sich lediglich Herr und Frau Steiner sowie Frau Fitzek. In den anderen Fällen wird das eigene Deutsch-Sein und die Zugehörigkeit zu den „Deutschen“ relativiert und für bestimmte Aspekte eingeschränkt, allerdings ohne den vollständigen Verzicht auf den Bezug zu Deutschland und den „Deutschen“. Solche Einschränkungen haben viel mit Erfahrungen im Anschluss an die Migration und im sozialen Umfeld zu tun. Das Selbstverständnis als „Deutscher“ konnte durch ernüchternde oder gar negative Erfahrungen im Rahmen sozialer Interaktionen mit deutschen oder anderen ethnischen Gruppen in einen neuen Erfahrungskontext gestellt werden. Fremdheits- und Exklusionserfahrungen in der Netzwerkentwicklung führten zu Unsicherheiten über die eigene Zugehörigkeit zu den „Deutschen“, die vor der Migration unbestritten sein konnte. Dies ist beispielsweise bei Herrn Feldmann der Fall, der seine vermeintlich „zwangsläufige“ deutsche Identität reflektiert und relativiert. Sprachlich erfolgt eine solche Relativierung durch die Verwendung kleinerer Abstufungen oder Zusätze in der Selbstbeschreibung. Hierzu gehören Begriffe wie „Halbdeutscher“ oder „fremder Deutscher“. Nach seinen ernüchternden Erfahrungen mit den „Deutschen“ und seiner in den letzten Jahren stärker werdenden Ausrichtung auf ein polnischoberschlesisches, plurilokales Netzwerk wählt Herr Feldmann letzteren Begriff. Die sprachliche Relativierung deutscher Identitäten kann mit Hilfe der Differenzierung von Identität und Zugehörigkeit erklärt werden. Formal und mit Blick auf seinen Geburtsort ist für Herrn Feldmann seine nationalstaatliche Zugehörigkeit und damit deutsche Identität unantastbar. Dennoch fühlt er sich zumindest auf sozialer Ebene nicht vollständig zugehörig zur deutschen Gesellschaft, was letztlich dazu führt, dass er sich in gewisser Hinsicht fremd fühlt. Dieses Gefühl wird noch
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verstärkt durch die Wahrnehmung seiner Person und seines Status im deutschen Umfeld, das nach Meinung von Herrn Feldmann kein Verständnis für die Geschichte deutscher Ostgebiete habe und mit Oberschlesien ohnehin nichts anzufangen wisse. Es ärgert ihn besonders, wenn er als „Pole“ abgestempelt wird, weil für ihn seine deutsche Identität letztlich auch an die Wahrnehmung und Akzeptanz im sozialen Umfeld gebunden ist: Richard Feldmann: Als fremder Deutscher. So würde ich das bezeichnen. Denn man wird nie.. hier so anerkannt durch die Mitbürger. Ich fühle mich, wenn du mit jemandem sprichst oder was. Erstens erkennt man am Akzent, man kann ein einwandfreies Deutsch sprechen, aber der Akzent, der bleibt. Unser aus Oberschlesien. Und zweitens beim Gespräch merkt man das auch dann. [...] Mich stört das nicht, mich stört nur das, wenn mir jemand sagt: „Du bist auch ein Pole“. Und das sagen die Leute, wenn sie jetzt sprechen über Oberschlesien, und sie fragen zum Beispiel „Hindenburg, wo liegt das? Bei Wuppertal?“ Bei Wuppertal. Ja. So schlau sind sie.
Solche Situationen nimmt Herr Feldmann als Ausgrenzung wahr, die sein Selbstverständnis als Deutscher ins Wanken bringen. Was sein Zugehörigkeitskonstrukt angeht, zeigt sich Herr Feldmann daher ambivalent: Zum einen sieht er sich als Teil der deutschen Gesellschaft, zum anderen fühlt er sich zugehörig zu seinem Netzwerk, bestehend aus oberschlesischen Freunden, die in (Ober-)Schlesien und Deutschland verstreut sind. Sein Freundeskreis außerhalb der Familie bildet sich plurilokal und orientiert sich an alten Schulklassen und anderen oberschlesienbezogenen Kontexten. In dieser transnationalen Gruppe teilt er Werte, Einstellungen, Humor und die Art sozialer Interaktion. Auch wenn er sich in Deutschland gut aufgestellt sieht, spielt das Scheitern im Bemühen um gesellschaftliche Teilhabe und die damit verbundene Exklusion dennoch eine große Rolle, weil sie im Wohnumfeld zu Einsamkeit und einem Gefühl der Isolation führt. Bei Herrn Kudela ist ähnliches zu beobachten. Er sieht sich zwar als Deutscher und fühlt sich auch zugehörig zur deutschen Gesellschaft, betont jedoch einen kleinen Anteil einer oberschlesischen Komponente innerhalb seiner Identität, die er auf Erfahrungen nach der Migration zurückführt. Seine partielle Rückbesinnung auf Oberschlesien hat mit der Wahrnehmung seines Status durch die „Deutschen“ zu tun. Wurde er in Polen z.T. diskriminiert und als „Deutscher“ beschimpft, sah er sich im deutschen Kontext mit einer Feindlichkeit gegenüber „Polen“ konfrontiert. An seinem Arbeitsplatz wurde er als „Scheiß Polacke“ beschimpft, als er mit einem deutschen Kollegen aneinandergeriet: Paul Kudela: Ja. Das hat.. das (betont) hat gesessen. Das hat wirklich gesessen. Das hat.. ach. Vielleicht.. das, was ich hier gehört habe, vielleicht war das schlimmer noch als das, was ich dort [in Polen, Anm. M.O] gehört habe. [...] Ich fühlte mich hier wirklich als Deutscher und
328 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT von der einen Seite war ich froh, dass ich ja von dieser einen Behauptung weg war, und hier fing dann die neue an.
Bei Herrn Kudela verstärkte diese Erfahrung das temporäre, kontextabhängige Zugehörigkeitsgefühl zu Oberschlesien, das dann interessant wird, wenn Unsicherheit über die Zugehörigkeit zu den „Deutschen“ aufkommt oder das Gefühl entsteht, der Kategorie „Deutsch-Sein“ nicht vollständig gerecht werden zu können. Einschränkungen der eigenen Zugehörigkeit zu den Deutschen ergeben sich zudem mit Blick auf die eigenen Kompetenzen und die Anforderungen des DeutschSeins: Fehlende Kontakte zu Deutschen, eine empfundene ‚kulturelle‘ Andersartigkeit und sprachliche Defizite lassen zuweilen Zweifel darüber aufkommen, ob die eigene Lebenssituation einem ‚Deutsch-Sein‘ gerecht wird. Insbesondere sprachliche Defizite können trotz aller Bemühungen und des langjährigen Einlebens im Wohnumfeld einen Offenbarungseid darstellen. Während die objektive Zugehörigkeit zum deutschen Nationalstaat als gegeben angesehen werden kann, sind Defizite in der deutschen Sprache wahrgenommene Ausschlussmechanismen für eine vollständige subjektive Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerung. Die fehlenden sprachlichen Kompetenzen werden dabei nicht selten auf den Akzent als deutliches Erkennungsmerkmal reduziert. Sprache wird hier vor allem als Unzulänglichkeit gesehen. Auf diese Weise argumentiert in der Gruppe der ‚Deutschen‘ vor allem Thomas Krawczyk. Für ihn waren das Deutsch-Sein und das Eintauchen in die „deutsche Gesellschaft“ wichtige Ziele der Migration. Nach seinen ersten Erfahrungen stellte er fest, dass dieses Ziel für ihn und die Aussiedler generell „illusorisch“ war. Für ihn gehörte zu einem Deutsch-Sein vor allem die Ankerkennung durch die „Deutschen“ selbst, welche er letztlich vermisste. An seinem Anspruch, Deutscher zu sein, hielt er dennoch fest und versuchte ihm, so gut es geht, gerecht zu werden, da er Mischkategorien wie „Deutsch-Pole“ oder „Oberschlesier“ früher als Voraussetzung des Scheiterns in Deutschland ansah. Seiner Meinung nach konnten nur die Aussiedler erfolgreich in Deutschland sein, die sich für die „richtige Seite“ entschieden haben. Heute sieht er sich als „unvollständigen“ Deutschen, der die „Lücke“ durch eine oberschlesische Komponente in seiner Identität kompensiert: Thomas Krawczyk: Deutscher ist zu viel gesagt. Vielleicht traut man sich das aber auch nicht (überlegt) es ist.. ich würd gerne mal nen Porsche fahren, aber das ist unrealistisch. [...] Weil der Name komisch ist oder weil dein Akzent dich ab und zu mal verrät oder weil auch die Mentalität auch immer noch etwas anders ist. Ich weiß nicht, ob das.. ich bin aber ein Perfektionist. Also wenn, dann richtig. Ja? Ich mein, wenn wir jetzt mal Punkte verteilen würden, dann würde ich sagen.. weiß ich nicht, ne Skala von eins bis zehn. Zehn ist das Maximum. Das sag ich jetzt mal, dann bin ich ein Punkt Pole, dann bin ich acht Punkte Oberschlesier und sieben Punkte Deutscher. Ne? Irgendwie so was.
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Interviewer: Das, was dir fehlt, um die zehn Punkte als Deutscher zu haben: Siehst du das als persönlichen Verlust an? Thomas Krawczyk: Nein. Nein. Das sehe ich als Schicksal. Aber wie gesagt, wenn ich in Schlesien bin und nachhause fahr, dann fahr ich nachhause (betont). Ich fahr hier nach Hause, also von Ost nach West fahr ich nachhause, nicht andersrum. Aber es wird nie die Heimat sein, es wird nie so hundertprozentig sein. Interviewer: Das heißt, du bist immer noch zwischen diesen zwei Stühlen? Thomas Krawczyk: Ja richtig. Ich sitz vielleicht mit einer Pobacke auf dem deutschen Stuhl, oder mit vielleicht dreiviertel Pobacken.
An Thomas Krawczyks Schilderung lässt sich nicht nur gut seine Transidentität (zwischen Deutsch-Sein und Oberschlesier-Sein) verdeutlichen, sondern auch die Multikontextualität sowie Komplexität von Raumkonstrukten in diesem Zusammenhang. Sein „Zuhause“ sieht er im Westen bzw. an seinem Wohnort Dormagen. Allerdings fehlen diesem „Zuhause“ bestimmte Komponenten, um es vollständig als „Heimat“ beschreiben zu können. Seine „Heimat“ sieht Thomas Krawczyk in Oberschlesien, seinem Geburtsort, der für sein Selbstverständnis als räumliche Basis nach wie vor wichtig ist. Was ihn von einem vollständigen Deutsch-Sein trennt, nämlich Akzent und Mentalitätsunterschiede, baut zudem auf einem Bild des Deutschen auf, der akzentfrei deutsch spricht und bestimmte (‚kulturelle‘) Eigenarten aufweist. Thomas Krawczyk bemerkt allerdings auch, dass er mit seinem Status sehr zufrieden ist und mit den sieben Punkten für sein „Deutsch-Sein“ zu Beginn nicht gerechnet hätte. Er verweist dabei auf seine materiellen Errungenschaften und sieht sich in seiner Strategie, „deutsch“ sein zu wollen klar im Vorteil gegenüber den Aussiedlern, die sich nicht für eine Seite entscheiden können. Eine erfolgreiche Migration ist für ihn zumindest an ein Streben nach einer deutschen Identität gebunden. Damit wird deutlich, dass Zugehörigkeiten keineswegs starre Konzepte und zudem immer vom aktuellen Erfahrungskontext abhängig sind. Die terminliche Aufsplittung der Interviews in zwei Gespräche war für diese Erkenntnis sehr hilfreich. Während beispielsweise Herr Kudela beim ersten Termin selbstbewusst und mit Blick auf seine „Integration“ von der Zugehörigkeit zu den „Deutschen“ sprach, zeigte er sich beim zweiten Gespräch, als das Thema der negativen Erfahrungen am Arbeitsplatz aufkam (siehe oben), gespalten und sprach von zwanzig Prozent Anteil einer oberschlesischen Komponente an seinem Identitätskonstrukt. Hier deutet sich auch eine interne Homogenität beim Typus des ‚Deutschen‘ an, der nicht in allen, jedoch in vielen Fällen (v.a. Herr Feldmann, Herr Kudela und Herr Wawrzyczek) eine oberschlesische Komponente der eigenen Identität sieht. Die oberschlesische Komponente ist dabei der Raumbezug der eigenen Herkunft, den aufgrund seiner deutschen Geschichte allerdings eine gewisse „Nähe“ zu Deutschland auszeichnet. Wie im Fall von Thomas Krawczyk können oberschlesische Komponenten im Zu-
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gehörigkeitskonzept einen Kompromiss aus dem ‚Unerreichbaren‘ (Deutsch-Sein) und dem ‚Ungewollten‘ (Deutsch-Pole-Sein oder Pole-Sein) darstellen. Polen spielt für den Typus des ‚Deutschen‘ als Raumbezug keine Rolle, weil die Beziehung zum polnischen Nationalstaat, ähnlich wie beim ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘, schwierig ist. Pole-Sein wird hier als Äquivalent zu einem Ausländerstatus gesehen. Die Gruppe der ‚Deutschen‘ ist insgesamt sehr heterogen und umfasst unterschiedliche Erfahrungskontexte. Das ‚Wir‘ in dieser Gruppe ergibt sich durch die Erfahrung gemeinsamer Einstellungen und Werte innerhalb einer gedachten Gemeinschaft von ‚Deutschorientierten‘, die sich grundsätzlich zur deutschen Bevölkerung zugehörig fühlen und mindestens das Bestreben haben, Deutsche zu sein. Hier spielt vor allem die Reflexion des Migrationsprozesses eine Rolle, der als Resultat einer Entscheidung für das Deutsch-Sein gesehen wird. Dies wird auch als Legitimierung für den Aussiedlerstatus gesehen, was wiederum eine deutliche Abgrenzung zu der Sie-Gruppe der „polnischen Integrationsverweigerer“ schafft (vgl. Abb. 42). Gemeint sind hiermit polnische Migranten, die nicht als Aussiedler nach Deutschland gekommen sind und nach Meinung dieses Typus zu Unrecht in Deutschland seien. In Polen hätten sie Deutschland ablehnend gegenübergestanden, nun würden sie den deutschen Staat ausnutzen. Abbildung 42: Der Typus des ‚Deutschen‘
Quelle: Eigene Darstellung
Der Anspruch, Deutscher sein zu wollen und die Bereitschaft zur ‚Integration‘ bilden daher eine wichtige Basis des Typus des ‚Deutschen‘. Der größte Anknüpfungspunkt besteht zu der Sie-Gruppe der „Deutschen“, die allerdings aufgrund der z.T. negativen Erfahrungen im Netzwerkaufbau eine Sie-Gruppe bleibt. Somit kommt es hier zu der ungewöhnlichen Konstellation, dass dieser Typus seine Wir-
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Gruppe der „Deutschen“ von einer gleichnamigen Sie-Gruppe der „Deutschen“ abgrenzt, was besonders bei Herrn Feldmann deutlich geworden ist. Er spricht, wie auch andere Aussiedler in dieser Gruppe von „Sie“, wenn es um die Beziehungen im deutschen Umfeld geht. Als Trennungslinie wird eine „gewisse kulturelle Andersartigkeit“ gesehen, die sich aus den eigenen Prägungen im Herkunftskontext „Oberschlesien“ ergeben. Die Sie-Gruppe der „Polen“/„Gorole“ ist ebenfalls bedeutsam; besonders dann, wenn es um die Geschichte Oberschlesiens und die Erfahrungen der Prä-Migrationszeit geht. Zum Teil (v.a. Herr Kudela, Herr Krawczyk) grenzt sich der Typus des ‚Deutschen‘ auch im Zielkontext deutlich von den Polen ab, denen oftmals in verallgemeinernder Weise eine ablehnende Haltung gegenüber Oberschlesien und Deutschland attestiert wird. (5) Wir Polen Der letzte Typus ist ein Randphänomen und wird lediglich durch drei Aussiedlerinnen (Maria Kwiatkowska, Rita Peschke und Katharina Musiol) repräsentiert. Dass die Konstruktion einer Wir-Gruppe mit starkem Bezug zu Polen vorkommt, ist allerdings eine ganz entscheidende Erkenntnis. Die in der Aussiedlerforschung häufig thematisierte vermeintlich schwierige Beziehung von oberschlesienstämmigen Aussiedlern zum Nationalstaat Polen lässt sich zwar bei den oben beschriebenen Typen immer wieder erkennen, sie lässt sich jedoch mit Blick auf den Typus des ‚Polen‘ nicht verallgemeinern.12 Die drei Aussiedlerinnen, die zu diesem Typus gehören, sind in den 1980er Jahren im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren ausgesiedelt. Auffällig ist, dass zwei der drei Aussiedlerinnen nicht freiwillig, d.h. auf Wunsch von Familienangehörigen migriert sind. Der Wunsch, auszusiedeln, war in diesen Fällen nur schwach ausgeprägt. Eine zentrale Gemeinsamkeit der Aussiedlerinnen dieser Gruppe ist, dass die Vergangenheit in Polen überwiegend positiv, teils euphorisch reflektiert wird. Mit Ausnahme des politischen Systems zeigen sich die drei Aussiedlerinnen zufrieden mit dem damaligen sozialen Umfeld und der ökonomischen Situation. Sie haben gute Positionen bekleidet und waren wenig bis gar nicht von Warenmangel oder anderen Einschränkungen betroffen. Die Netzwerke im Herkunftskontext waren groß und werden mit Blick auf Familie und Freunde in der Erinnerung als herzlich und solidarisch empfunden. Dementsprechend weist der
12 Es darf nicht vergessen werden, dass Aussiedler durchaus polnische bzw. nichtoberschlesische Wurzeln haben und beispielsweise aufgrund der Abstammung des Ehepartners oder der Eltern ausgesiedelt sein können. Nicht selten kommen Aussiedler zudem aus ‚gemischten‘ Familien, in denen zumindest ein Elternteil oder der Ehepartner nach Oberschlesien zugewandert ist. In solchen Familien waren sprachliche Praktiken häufig auf die polnische Sprache konzentriert, zudem stand die Wahrnehmung und Bewertung der oberschlesisch-polnischen Beziehungen vor besonderen Bedingungen.
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Typus des ‚Polen‘ eine starke Bindung an den Herkunftskontext Polen auf und lebt diese im Alltag aus. Ein weiterer gemeinsamer Nenner in dieser Wir-Gruppe ist die mal stärker und mal schwächer ausfallende Abgrenzung gegenüber dem deutschen Umfeld. Kontakte zu Deutschen werden als notwendig und unproblematisch gesehen, allerdings werden größere Freundschaften aufgrund der ‚kulturellen‘ Distanz nur eingeschränkt für möglich gehalten. Favorisiert werden die eigene ‚polnische Kultur‘ und daher vor allem polnische Kontakte. Die konstruierte Wir-Gruppe ähnelt in ihrem Bezug dem Poloniabegriff. Mit „Wir Polen“ bezieht sich der Typus des ‚Polen‘ auf alle Polen bzw. Polenstämmigen weltweit, die eine Bindung zu ihrem Herkunftsland aufweisen. Diese Bindung an den Herkunftskontext wird über regelmäßige Mobilität nach Polen, aber auch über die Einbindung in große, grenzüberschreitende polnische Netzwerke sowie in unterschiedlicher Intensität über die Einbindung in die lokale polnische Community am Wohnort ausgelebt. Der Patriotismus gegenüber Polen und die Einbindung „polnischer“ Elemente in den Alltag fallen allerdings unterschiedlich aus. Frau Peschke und Frau Musiol betonen ein Vermischen deutscher und „polnischer Kulturelemente“, auch wenn für sie ihre „polnische“ Mentalität zentral ist. Sie sehen jedoch die Notwendigkeit, zumindest partiell in das deutsche Umfeld einzutauchen, d.h. Kontakte zu Arbeitskollegen zu pflegen, die deutsche Sprache zu beherrschen und selbstständig Angelegenheiten wie Behördengänge, Abschlüsse von Verträgen etc. zu regeln. Die Pflege polnischer Traditionen oder die Partizipation in der polnischen Community darf ihrer Meinung nach nicht zu einer isolierten Lage im deutschen Umfeld führen. Frau Kwiatkowska sticht mit ihrer Lebenswelt heraus: Sie sieht sich selbst als „patriotische Polin“ und ist ausschließlich auf ihr weltweites polnisches Netzwerk ausgerichtet. Ihren Alltag versucht sie so „polnisch“ wie möglich zu gestalten und trägt dies auch nach außen. Sie nutzt ausschließlich polnische Medien, in ihrem Hausflur hängt die polnische Nationalflagge und sie nutzt diverse Angebote der polnischen Community. Sie sieht dies als aktive Abgrenzung zum deutschen Umfeld, das ihr fremd und inkompatibel zu ihrer „polnischen“ Mentalität erscheint. Der Typus des ‚Polen‘ geht insgesamt selbstbewusst mit seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Polen um. Frau Musiol beispielsweise zeigt sich stolz über ihr Herkunftsland und beschreibt, wie die Entwicklungen der letzten Jahre zu einer Steigerung ihres Selbstwertgefühls bzw. Selbstbewusstseins geführt haben. Sie erfüllt es mit Stolz, wenn sie Fortschritte in Polen sieht und von diesen, beispielsweise in Gegenwart von Deutschen oder anderen Urlaubern in Ferienorten, berichten kann: Katharina Musiol: Als die jetzt das Stadion in Warschau gezeigt haben, da hab ich mich sehr gefreut, dass die sowas gebaut haben. Ja man ist solz, dass man aus Polen kommt. Egal aus welcher Region. Oder als es noch unserern Papst gab, als man dann in den Urlaub gefahren ist und gesagt hat, dass man.. „Ahh Papst“. Wenn man in solche Länder gefahren ist wie
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Spanien, wo der Katholizismus verbreitet ist. Da freute man sich, dass man aus Polen kommt. Ich hab mich nie dafür geschämt, aus Polen zu stammen. Die können ruhig erzählen, dass die Polen klauen. Sollen sie klauen. Manche Deutsche klauen auch. Man kann nicht alle in einen Topf werfen. Es gibt solche und solche. (ü)
Gemeinsam haben die drei Aussiedlerinnen auch eine Ablehnung des Regionalismus und eine Abgrenzung zu (Ober-)Schlesiern, wobei damit primär andere (ober-)schlesienstämmige Aussiedler gemeint sind, die sich vom polnischen Staat distanzieren. Die „(Ober-)Schlesier“ bilden neben den „Deutschen“ die wichtigste Sie-Gruppe (vgl. Abb. 43). (Ober-)Schlesien wird ähnlich wie beim Typus des ‚Deutsch-Polen‘ bzw. ‚Polendeutschen‘ als Teil Polens gesehen, dessen deutsche Vergangenheit als „Schnee von gestern“ und somit für die aktuelle Entwicklung irrelevant sei. In diesem Zusammenhang steht auch die Untergliederung in eine subjektive und objektive Zugehörigkeit zu Deutschland. Der Typus des ‚Polen‘ ist sich zwar der deutschen Staatsangehörigkeit und der damit verbundenen ‚deutschen‘ Komponente der eigenen Biographie bzw. der Herkunftskategorie ‚(Ober-)Schlesien‘ bewusst, fühlt sich jedoch nicht zur deutschen Gesellschaft oder dem Staat zugehörig. An dieser Stelle wird darauf verwiesen, dass die Migration nicht freiwillig war oder aus rein ökonomischen Motiven erfolgt ist. Falsch eingeordnet fühlt sich der Typus des ‚Polen‘ dementsprechend dann, wenn Dritte vom Geburtsort auf eine vermeintliche deutsche Vergangenheit bzw. Zugehörigkeit zu Deutschland schließen. Frau Kwiatkowska erzählt hier von einer Begegnung mit einem deutschen Pfarrer: Maria Kwiatkowska: Ich war im Krankenhaus, es kam ein Pfarrer, katholisch. Und er fragte mich, wo ich geboren sei? Und ich sagte: „Ich bin aus Polen.“ Und er darauf: „Aus Polen? Aus welcher Ecke denn?“ Ich antwortete „Bytom“. Und er darauf.. auf deutsch zu mir: „Aus Bytom? Dann sind Sie ja nicht aus Polen. Sie sind aus Oberschlesien“. Ich schau ihn so an und sage: „Wow, ist der Krieg schon vorbei? Ich liege hier sieben Tage im Krankenhaus und schon ist ein Krieg vorbeigezogen? Schlesien gehört nicht mehr zu Polen?“ Er schaute mich an, wütend, und ging raus. Ist der denn nicht normal? Ich bin fünfundfünfzig geboren, ich bin aus Polen und nicht aus Oberschlesien. Wie kann das sein? [...] Und im Sprachkurs, siebenundachtzig. Wieder einer: „Woher kommst du?“ (..) „Ich bin aus Oberschlesien.“ Da traf mich der Schlag. Das waren meine ersten Tage hier in Deutschland. Ich saß da mit paar Mädels zusammen. Ich sagte: „Wenn eine von Euch Oberschlesien sagt, dann setz ich mich weg. Verdammt nochmal“. (ü)
Solche Begegnungen verstärken die eigene Abgrenzung zu (Ober-)Schlesien und den (Ober-)Schlesiern, die zudem als Mitverantwortliche gemacht werden für die mentale Trennung zwischen (Ober-)Schlesien und Polen auf Seiten der Deutschen. Frau Kwiatkowska sieht bei (Ober-)Schlesiern eine Tendenz zur Überbetonung der
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Herkunftskategorie ‚(Ober-)Schlesien‘, die sie als Abgrenzung zum polnischen Staat interpretiert. Nach Meinung von Frau Kwiatkowska hätten viele (Ober-)Schlesier eine übertriebene Sympathie für Deutschland. Gleichzeitig fehle ihnen der Patriotismus gegenüber ihrem Herkunftsland. Durch die Fokussierung auf Deutschland und die Annahme vermeintlich deutscher „Kulturelemente“ würden sie sich selbst „verkaufen“. Frau Kwiatkowska kritisiert vor allem das negative Bild, das Aussiedler aus (Ober-)Schlesien häufig vom kommunistischen Polen übermitteln würden. Sie betont, dass in Polen auch vor 1989 niemand vor Hunger gestorben sei und letztlich jeder Bürger des Landes eine gewisse Versorgung genossen hätte, für die er dankbar sein solle. Durch ihre patriotische Grundhaltung, die sie auch bewusst nach außen trägt, gerät sie des Öfteren mit „deutschorientierten (Ober-)Schlesiern“ aneinander, was ihre Abgrenzung zu dieser Sie-Gruppe verstärkt: Maria Kwiatkowska: Mit welchem Recht sagt dieser Typ zu mir: „Nimm etwas gegen deine Polenverliebtheit und pack den Adler mit der Krone weg?“ Ich hab ihn gebeten, zu gehen. Ich hab ihn einfach rausgeschmissen aus meinem Haus. Er ist total für die Deutschen. Wie er sie liebt. Ich bin anscheinend die Einzige, außer meinem Sohn und meinem Bruder, die eine Flagge zuhause hängen hat. Mein Sohn hat auch eine weiß-rote Flagge zuhause hängen. Ich hab einen Adler mit Krone. (ü)
Abbildung 43: Der Typus des ‚Polen‘
Quelle: Eigene Darstellung
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Ähnlich, wenn auch weniger deutlich, argumentiert Katharina Musiol. Ihr fehlt bei (Ober-)Schlesiern der Dank gegenüber dem polnischen Staat. Sie sieht die vielen Geschichten, die von Diskriminierung und der Unterdrückung (Ober-)Schlesiens berichten, als realitätsfern an. Hier berichtet sie von einer Begegnung mit einer Aussiedlerin aus Oppeln: Katharina Musiol: Ich hab mal mit einer Frau gearbeitet. So eine junge, aus dem Oppelner Raum. Die war damals vielleicht fünfundzwanzig. Die hat akzentfrei deutsch geredet. Die ist hierhingekommen, weiß nicht, wie alt die da war. Die war aber nicht lange hier. Aber die haben da alle schon zuhause Deutsch geredet. Da im Oppelner Raum. Sie würden nicht erkennen, dass die aus Polen ist. Und die meinte, sie wäre in Polen verfolgt gewesen. Ich sagte: „Was redest du denn für einen Quatsch? Du verfolgt? Du bist doch so jung!“ Und die so: „Ja, weil hier und da“ (macht einen vermeintlichen Dialekt im Oppelner Raum nach) (lacht). Der Dialekt ist wirklich furchtbar da. Und ich meine, die hat Medizin in Opole studiert. In der Stadt. Naja, und da haben die Leute hochpolnisch geredet. Und wenn die mit ihrem Dialekt ankam, an der Universität, da haben die die bestimmt ausgelacht. Aber sie wurde bestimmt nicht verfolgt. Ich sagte: „Mädchen, du hast da die Schule abgeschlossen. Kostenlos. Du hast umsonst ein Studium begonnen. Und dann fühlst du dich verfolgt? – Weil du nicht Polnisch konntest“ habe ich gesagt (lacht). (ü)
Interessanterweise zeigt sich nicht nur in diesem Interviewausschnitt, dass die Merkmale, die der Sie-Gruppe der „(Ober-)Schlesier“ attestiert werden, im Einzelnen sehr häufig auf die Gruppe der „Oppelner“ bezogen werden. Für den Typus des ‚Polen‘ finden der vermeintliche Patriotismus gegenüber Deutschland und die Ablehnung Polens bei dieser Gruppe ihre Zuspitzung, weshalb „die Oppelner“ innerhalb der Sie-Gruppe der „(Ober-)Schlesier“ nochmals besonders hervorgehoben werden. Dies lässt sich bei allen drei Aussiedlerinnen, die diesen Typus repräsentieren, beobachten. Zu (Ober-)Schlesien hat der Typus des ‚Polen‘ damit eine ganz besondere Beziehung. Hier zeigt sich zum einen, dass durchaus eine Verbundenheit zur Region bestehen kann. Diese gestaltet sich allerdings anders als bei den ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiern‘, den ‚traditionellen (Ober-)Schlesiern‘ oder beim Typus des ‚Deutschen‘. Für Katharina Musiol beispielsweise spielt die Verbundenheit zur Region (Ober-)Schlesien insofern eine wichtige Rolle, als sie hierüber ihr Heimatkonstrukt, bestehend aus verschiedenen Erinnerungsorten, aufbaut. (Ober-)Schlesien ist der Teil Polens, den sie erlebt hat und zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Sie sieht die Region allerdings in einen größeren, polnischen Kontext eingebettet, weshalb sie die Überbetonung (Ober-)Schlesiens als Herkunfts- oder Zugehörigkeitskategorie ablehnt. Alles was für sie (ober-)schlesisch ist, ordnet sie – mit Ausnahme des Dialekts – auch der Kategorie „polnisch“ zu.
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Frau Kwiatkowska grenzt sich wiederum deutlich von (Ober-)Schlesien ab, wobei sie durchaus die Geschichte (Ober-)Schlesiens reflektiert und sich hier betroffen zeigt. Sie nimmt bewusst Anteil am kollektiven Schicksal der Region, allerdings aus einer Außenperspektive: Sie erzählt sehr ausführlich von ihrer Sicht auf die Geschichte (Ober-)Schlesiens und zeigt sich betroffen von der vermeintlichen Ausbeutung und Diskriminierung der Region. Hierbei verwendet sie z.T. auch den Begriff „Gorol“ und orientiert sich an der häufig diskutierten Zuwanderung von Polen ab dem Jahr 1945 nach (Ober-)Schlesien. Sie spricht von „primitiven polnischen Zuwanderern“, die das soziale Gefüge in der Region durcheinander gebracht hätten. Die Geschichte der Region sieht sie insgesamt als „Tragödie“ und fordert daher – auch von ihren polnischen Freundinnen – mehr Respekt und Anerkennung für die (Ober-)Schlesier, deren Schicksal sie zu einem großen Teil fremdverschuldet sieht. Besonders bedauert sie, wie das Industriegebiet seit der Schließung der Zechen zerfällt und einstige reiche Gegenden verkommen. Anders als beispielsweise Ewald Mazur oder Ilse Kukawka, die den Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ repräsentieren, spricht Frau Kwiatkowska mit Blick auf das ‚oberschlesische Unrecht‘ allerdings von den (Ober-)Schlesiern als Sie-Gruppe, von der sie sich deutlich abgrenzt: Maria Kwiatkowska: Womit ich (Ober-)Schlesien verbinde? Mit einer großen Tragödie im Zusammenhang mit dem Bau der Huta Katowice13. Die ganzen Banditen aus Zentralpolen, die dann nach Oberschlesien kamen. Obwohl ich gegenüber den Oberschlesiern meine Vorbehalte habe, aber das ist eine andere Sache. Man muss ihre positiven Eigenschaften anerkennen. Ich schätze sie daher für all das. Ich weiß, was sie durchgemacht haben und dass sie die Opfer dieser beschissenen Geschichte sind. Deswegen immer mit einer gewissen Wertschätzung. Das heißt nicht, dass ich mit ihnen an einem Tisch sitzen und mich anfreunden und unterhalten muss. Aber ich würde nie sagen: „Der blöde Schlesier“. Sowas kommt mir nicht über die Lippen. Wenn ich Polen so etwas sagen höre, wie zum Beispiel „Lass mal, was willst du von dem Schlesier?“ dann sag ich sofort: „Ihr müsst eins verstehen. Du musst nicht mit denen zusammenhängen, weil die Geschichte sie zu denen gemacht hat, die sie sind, aber man muss das auch verstehen. Ein bisschen Wertschätzung“.
(Ober-)Schlesier sieht Frau Kwiatkowska als „einfach gestrickt“ und daher wenig begeisterungsfähig für komplexere Themen rund um Politik, Kultur oder Wissenschaft. (Ober-)Schlesier seien zudem lediglich besessen vom materiellen Aufstieg. Sich selbst und ihre Wir-Gruppe der „Polen“ grenzt Frau Kwiatkowska in hierarchisierender Form durch Toleranz, Wissbegierde und Kulturbegeisterung von den Charakteristika der (Ober-)Schlesier ab. Polen verbindet sie mit Bildung und einer
13 Stahl- und Walzwerk, 1976 in Betrieb genommen.
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„Intellektualität“, was sich in einer Begeisterung für anspruchsvolle Themen wie Astrologie, Theater oder Film niederschlägt. Über gemeinsame Interessen und Werte definiert sie Polen allgemein als Gleichgesinnte und damit als Wir-Gruppe, zu der sie sich zugehörig fühlt. Genauer gesagt geht es hier um ein Netzwerk weltweit verstreuter Polen, die wie Frau Kwiatkowska selbst, ihrem Heimatland Polen patriotisch gegenüberstehen und ein Interesse für komplexere Themen mitbringen: Maria Kwiatkowska: Obwohl es mir bei den (Ober-)Schlesiern immer an Interessen gefehlt hat, so ein bisschen kulturelles Leben. Das hat mich immer irritiert. Bei denen ist immer der Kühlschrank voll, sich satt essen, alles gut. Aber es fehlt so ein bisschen das Intellekt. Mit den Gorolen, da geht das. Deswegen hab ich die (Ober-)Schlesier hier eher gemieden. Ich war paar Mal bei welchen. Es war nett. [...] Viel Herz. Voller Tisch. Aber es fehlen die gemeinsamen Themen. [...] Keine Bücher, keine Filme. Egal was ich erzählt habe, die haben mich nur angegguckt. Die nur über Autos, Gardinen und Möbel.. Essen noch. Für mich war das.. vergeudete Zeit. Wenn ich da ein Thema vertiefen wollte.. niemand wusste was. Null.
Vergleich der fünf Aussiedlertypen Nach der fallübergreifenden Beschreibung der Typen folgt nun eine Analyse auf der Ebene der Typologie, welche den zusammenfassenden Vergleich der einzelnen Typen umfasst. Hier soll auch nochmal die Differenzierung der einzelnen SieGruppen reflektiert werden (vgl. Abb. 44). Insgesamt konnten fünf verschiedene Typen von konstruierten Wir-Gruppen differenziert werden. Bei den ersten beiden Typen handelt es sich um Wir-Gruppen, die sich auf (Ober-)Schlesien beziehen, was ihre zentrale Gemeinsamkeit ausmacht. Abbildung 44: Wir- und Sie-Gruppen der oberschlesienstämmigen Aussiedler
Quelle: Eigene Darstellung
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Der Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ konstruiert seine Zugehörigkeit zu (Ober-)Schlesien dabei über die Zugehörigkeit zu einer gedachten Gemeinschaft von (Ober-)Schlesiern, wobei hier mit einer Partizipation an einer eigenständig existierenden ‚Regionalkultur‘ argumentiert wird. Nationale Kategorien werden abgelehnt, wobei zur Legitimation des Aussiedlerstatus die deutsche Geschichte (Ober-)Schlesiens und damit die Nähe zu Deutschland betont wird. Der Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘ argumentiert ebenfalls mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von (Ober-)Schlesiern, allerdings wird das eigene (Ober-)Schlesier-Sein zum einen neu definiert, d.h. vor dem Hintergrund der eigenen transkulturellen Lebenswelt mehr und mehr als vom deutschen Kontext beeinflusst gesehen und zum anderen von der stereotypischen Vorstellung von (Ober-)Schlesien abgegrenzt. Beim ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ ist der (Ober-) Schlesienbezug ein Ausdruck der Orientierung am Herkunftskontext durch Pflege vermeintlicher Traditionen und Favorisierung von Kontakten zu ‚Gleichgesinnten‘. Der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ sieht seine oberschlesische Wir-Gruppe als Symbiose verschiedener Kontexte bzw. als Ausdruck von Transkulturalität mit einem Herkunftskontext als fixen Raum- und Geschichtsbezug der eigenen Identität an. (Ober-)Schlesien ist hier nach Hall (1999a: 95) der Ort, von dem aus gesprochen wird, d.h. der Mittelpunkt einer Positionierung. Mit der Aneignung alltäglicher transkultureller Handlungsweisen wird das eigene (Ober-)Schlesier-Sein allerdings zunehmend von diesem Ort abgegrenzt und stärker als ‚kultureller‘ gemeinsamer Nenner der Wir-Gruppe der ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesier‘ gesehen. Der ‚traditionelle (Ober-)Schlesier‘ ist deutlich älter als der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ und gehört zur Generation 60+. Er hat daher auch deutlich länger in Oberschlesien gelebt und mehr eigene Erfahrungen sammeln können, was beispielsweise die polnisch-oberschlesischen Beziehungen betrifft. Die Abgrenzung zu Polen bzw. „Gorolen“ ist beim ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ infolgedessen stark ausgeprägt, der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ plädiert für einen „Schlussstrich“ unter die Konflikte und mehr Toleranz. Er steht dem polnischen Staat offener gegenüber. Aus diesem Grund spielt für ihn die Sie-Gruppe der Polen bzw. „Gorolen“ eine geringere Bedeutung für die Definition der eigenen Wir-Gruppe. Beide Typen – sowohl der ‚traditionelle‘ als auch der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ – grenzen sich von den „übertriebenen Deutschen“ (bezogen auf andere Aussiedler) und den „polnischen Integrationsverweigerern“ ab. Das liegt daran, dass beide Typen – auch wenn in unterschiedlichem Maße – das Pflegen der oberschlesischen Traditionen für wichtig erachten und zeitgleich ein adäquates Einleben in Deutschland (häufig als „Integration“ beschrieben) als unabdingbar sehen. Der Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ ist auf eine polnisch-deutsche bzw. deutsch-polnische Lebenswelt ausgerichtet und betont seine Einbettung in beiden nationalen Kontexten. Das schafft eine Gemeinsamkeit zum Typus des ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesiers‘. Der ‚Deutsch-Pole/Polendeutsche‘ grenzt
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sich jedoch von (Ober-)Schlesien und dem Regionalismus deutlich ab. Während der ‚neue, moderne (Ober-)Schlesier‘ seine Zugehörigkeit auf Basis einer imagined community von gleichgesinnten (Ober-)Schlesiern aufbaut, sieht der ‚Deutsch-Pole/ Polendeutsche‘ den polnischen und den deutschen Kontext als gleichbedeutende Teile seiner Lebenswelt an, der regionale Herkunftskontext spielt keine Rolle oder wird bewusst von der eigenen Lebenswelt abgegrenzt („Die (Ober-)Schlesier“ bilden hier eine Sie-Gruppe). Polen als Herkunftskontext spielt für den ‚DeutschPolen/Polendeutschen‘ eine große Rolle, es besteht häufig eine starke Bindung an Polen, die über Mobilität und die Fokussierung auf ein polnischsprachiges Netzwerk ausgelebt wird. Der Lebensmittelpunkt wird allerdings am Wohnort lokalisiert. Die Zufriedenheit mit der Entscheidung zur Migration und dem „erfolgreichen Leben“ in Deutschland ist sehr groß. Die eigene Transkulturalität wird als Kompetenz und überaus positiv gesehen: Bei der Positionierung wird betont, dass sich die eigene Lebenswelt „in zwei Welten“ und nicht „zwischen zwei Welten“ befindet. Die „(Ober-)Schlesier“ und die „übertriebenen Deutschen“ (wie bei den vorangegangenen Typen) bilden hier die wichtigsten Sie-Gruppen, wobei der Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ beide Gruppen des Öfteren gleichsetzt. Auch die „Deutschen“ bleiben eine Sie-Gruppe, zu der jedoch aufgrund einer „gelungenen Integration“ zahlreiche Anknüpfungspunkte gesehen werden. Der Typus des ‚Deutschen‘ bezieht sich ebenfalls auf ein nationales Zugehörigkeitskonstrukt. Er sieht sich als Teil der deutschen Gesellschaft und legitimiert sein Deutsch-Sein durch die Staatsangehörigkeit und Abstammung sowie über die Bereitschaft zur „Integration“. Der Typus des ‚Deutschen‘ konstruiert seinen Herkunftskontext ‚(Ober-)Schlesien‘ vor allem über dessen deutsche Vergangenheit. (Ober-)Schlesien spielt für die Zugehörigkeit damit insofern eine Rolle, als hierüber der Aussiedlerstatus gerechtfertigt wird. Allerdings ist hier (Ober-)Schlesiens deutsche Vergangenheit entscheidend und nicht die Konstruktion einer ‚Regionalkultur‘, wie bei den ersten beiden, oberschlesienbezogenen Typen. Der Typus des ‚Deutschen‘ gehört ähnlich wie der Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ zu einer älteren Generation, ist jedoch früher ausgesiedelt (1970er Jahre). Er spricht im Alltag primär deutsch und distanziert sich von einer allzu hohen Einbindung in herkunftskontextbezogene Netzwerke (z.B. polnische Community), weil dies mit seiner Auffassung von „Integration“ nicht einhergeht. Er tendiert jedoch auch zu einer Identitätsunsicherheit. Fehlende intensive Bekanntschaften zu Deutschen sind ausschlaggebend. Der Typus des ‚Deutschen‘ betont zwar seine deutsche Identität, fühlt sich jedoch nicht vollständig den Deutschen zugehörig bzw. von ihnen akzeptiert, was dazu führt, dass er sich zum einen in gewisser Hinsicht fremd fühlt („Fremder Deutscher“) und zum anderen eine oberschlesische Komponente seines Zugehörigkeitskonstrukts betont. Hier zeigt er Gemeinsamkeiten zum ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘. Die Rückbesinnung auf (Ober-)Schlesien, z.B. durch eine stärkere Einbindung in oberschlesische Netzwerke, ist hier jedoch eher eine Reakti-
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on auf die Unzufriedenheit mit dem deutschen Umfeld. Neben den „Deutschen“, die aufgrund der negativen Erfahrungen in sozialen Interaktionen eine Sie-Gruppe bilden stellen für Typ 4 auch die „Polen“ bzw. „Gorolen“ – hier wird genauso wie beim Typus des ‚traditionellen (Ober-)Schlesiers‘ mit dem ‚oberschlesischen Unrecht‘ argumentiert – und insbesondere die Gruppe der „polnischen Integrationsverweigerer“ Sie-Gruppen dar. Von der letzten Gruppe grenzt sich der Typus des ‚Deutschen‘ besonders ab, weil er die Rechtmäßigkeit des Aussiedlerstatus derjenigen polnischstämmigen Aussiedler anzweifelt, die sich nicht „integrieren“ wollen. Über die Differenz zu den „Integrationsverweigerern“, die häufig auch mit der SieGruppe der „Polen“ gleichgesetzt werden, wird auch das eigene Deutsch-Sein konstruiert. Der Typus des ‚Polen‘ sieht seine Zugehörigkeit vollständig auf den Herkunftskontext Polen bezogen. Er blickt sehr positiv und fast euphorisch auf die PräMigrationszeit zurück und hat im Gegensatz zu den anderen Typen ein fast uneingeschränktes positives Bild von Polen. Er fühlt sich zwar ähnlich wie der Typus des ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ wohl in Deutschland, seine Lebenswelt ist allerdings weniger transkulturell ausgerichtet, sondern vielmehr geknüpft an die „polnische Kultur“. „Integration“ in Deutschland wird zwar als wichtig erachtet, jedoch nur bis zu einem bestimmten Grad und nur in den Bereichen, die als notwendig gesehen werden. Der Typus des ‚Polen‘ ist vom Typus des ‚Deutch-Polen/Polendeutschen‘ auch dadurch abzugrenzen, dass er Sehnsucht nach dem Herkunftskontext hat, wobei sich diese Sehnsucht letztlich auf die Situation der Prä-Migrationszeit bezieht. Vor diesem Hintergrund weist der Typus des ‚Polen‘ partiell Facetten eines Diaspora-Migranten auf14, weil er nicht unbedingt freiwillig migriert ist, seine Lebenswelt auf das ‚Zentrum‘ Polen ausrichtet und gleichzeitig eine Rückkehr für unmöglich hält. Gemeinsam haben beide Typen die Ablehnung des Regionalismus. (Ober-)Schlesien wird in beiden Fällen als „polnische Region“ konstruiert. Separatistische Perspektiven auf (Ober-)Schlesien empfindet der Typus des ‚Polen‘ als absurd. Er grenzt sich dabei ähnlich wie der ‚Deutsch-Pole/Polendeutsche‘ von der Sie-Gruppe der „(Ober-)Schlesier“ ab. Ein Unterschied zu den anderen Typen lässt sich auch in der Abgrenzung der „Deutschen“ erkennen. Während die anderen Ty-
14 Bei Frau Kwiatkowska wird dies besonders deutlich. Bei ihr macht sich ein Vermischen von Diaspora und Transnationalität bemerkbar. Sie empfindet sich selbst als leidend und von dem Zentrum ihrer Lebenswelt (Polen) getrennt. Durch ihre finanzielle Notsituation bleibt ihre Mobilität derzeit eingeschränkt, was ihr Leiden weiter verstärkt. Dennoch ist sie durch moderne IuK-Systeme plurilokal vernetzt und kompensiert fehlende Mobilitätsmöglichkeiten durch Skype, Chatrooms und einen regen Informationsfluss über Internet und Fernsehen. Eine Rückkehr schließt sie aus, weil sie Angst hat, sich in Polen nun nicht mehr zurechtfinden zu können.
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pen durch soziale Interaktionen mit Deutschen zahlreiche Anknüpfungspunkte zu dieser Sie-Gruppe sehen, grenzt sich der Typus des ‚Polen‘ deutlich von den „Deutschen“ ab. Damit haben alle fünf Typen gemeinsam, dass sie eine Sie-Gruppe der „Deutschen“ konstruieren. Unterschiede ergeben sich im Hinblick auf die wahrgenommene Distanz zu dieser Sie-Gruppe, die beim Typus des ‚Deutschen‘ am niedrigsten und beim Typus des ‚Polen‘ am größten ist. Gemeinsam haben alle Typen auch, dass (Ober-)Schlesien in irgendeiner Weise Bedeutung für die Definition der eigenen Zugehörigkeit hat. Beim ‚traditionellen (Ober-)Schlesier‘ und beim ‚neuen, modernen (Ober-)Schlesier‘ basiert das Zugehörigkeitskonstrukt auf (Ober-)Schlesien als Raum- oder Kulturkonstrukt, beim ‚Deutsch-Polen/Polendeutschen‘ und beim Typus des ‚Polen‘ findet eine hierarchische Differenzbildung statt, indem (Ober-)Schlesien von der eigenen Lebenswelt abgegrenzt wird. Der Typus des ‚Deutschen‘ leitet seine deutsche Identität aus der deutschen Geschichte (Ober-)Schlesiens ab. Identitätskonzepte abseits nationaler oder ethnischer Kategorien Nun soll noch kurz auf die Identitätskonzepte abseits der gebildeten Typologie eingegangen werden. Nicht für alle Aussiedler erweisen sich ethnische oder nationale Kategorien bzw. darauf aufbauende Wir-Gruppen als adäquate Ausdrucksformen ihrer Identitäten. Für einen Teil der Aussiedler herrscht eine Unsicherheit über die eigene Zugehörigkeit und das Konstrukt ‚Heimat‘. Das eigene Selbstverständnis kann hierbei oftmals nicht einem Kontext zugeordnet werden. Für Alexandra Hurdalek beispielsweise ergibt sich aktuell, nach mehr als zwanzig Jahren Aufenthalt in Deutschland, eine zunehmende Unsicherheit über ihre Zugehörigkeit. In Polen und in den ersten Jahren nach ihrer Migration empfand sie Polen und ihren lokalen Herkunftskontext Zabrze als „Heimat“ und identitätsstiftende Räume. In ihrer Reflexion der damaligen Situation sieht sie sich als Polin. Heute lebt sie nun länger in Deutschland als damals in Polen, was ihr Selbstverständnis vor neue Bedingungen stellt. Die zunehmende Distanz zu ihrer damaligen „Heimat“ Polen lässt sie an ihrer polnischen Identität zweifeln. In Deutschland hat sie trotz ihrer recht hohen Zufriedenheit immer noch das Gefühl „anders“ zu sein und fühlt sich zwar zuhause, jedoch nicht heimisch. Sie bezeichnet sich letztlich als „heimatlos“: Alexandra Hurdalek: Ich sage ehrlich, ich habe lange darüber nachgedacht. Schon früh, als ich hergekommen bin. Ich war fünfzehn Jahre alt. Ich lebe hier siebzehn Jahre. Ich hab immer gedacht: „Was wird sein, wenn du hier länger gelebt hast als in Polen?“ Und ich sage ehrlich, ich bin grundsätzlich heimatlos. Ich fühle mich nicht als Deutsche oder Polin. Oder als Schlesierin oder sonst was. (ü)
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Ein empfundenes Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen Herkunfts- und Zielkontext muss auch nicht zwangsläufig zu einer Einordnung in nationale bzw. ethnische Mischkategorien wie ‚Deutsch-Pole‘ oder ‚Polendeutscher‘ führen. Transidentitäten werden teils durch alternative Kategorien wie „Europäer“ oder „Aussiedler“ beschrieben. Manchmal wird auch lediglich die Multikontextualität der eigenen Lebenswelt betont, die dann zumeist wieder in ethnischen Kategorien strukturiert wird. Betont wird jedoch, dass die eigene Lebenswelt nicht einfach aus der Summe aller Kontexte zu erklären ist, sondern darüber hinausgeht. Reinhold Tomaschek bemerkt beispielsweise, dass er die ethnischen Kategorien für wenig aussagekräftig hält und dass seine Lebenswelt über ein Vermischen von deutschem und polnischem Kontext hinausgeht. Er sieht eine spezifische Mentalität, die er als seine „Welt“ ansieht. Wird er mit der Frage, wer er sei konfrontiert, geht er pragmatisch vor: Reinhold Tomaschek: Ich weiß nicht. Ich sage ehrlich, es fällt schwer, etwas dazu zu sagen. Ich lebe.. wie soll man das sagen.. in einer eigenen Welt. Wenn ich in einer eigenen Welt sage, dann werden Sie sagen „Was für ein Idiot.“ Aber so ist es. Wenn mich jemand fragt: „Bist du Pole?“ Dann sage ich: „Ja, bin ich“. Und wenn einer fragt: „Bist du Deutscher?“. Dann sag ich: „Ja, bin ich.“ Das spielt keine Rolle für mich. (ü)
Durch den Gebrauch des Dialekts identifiziert Herr Tomaschek eine oberschlesische Komponente in seinem Alltag, allerdings bemerkt er zunehmend eine Durchmischung seines alltäglichen Sprachgebrauchs, da er den Dialekt immer stärker mit deutschen Wörtern und Konstruktionen mischt. Beruflich profitiert er von seinen Beziehungen in Polen. Herr Tomaschek hat ein Handelsunternehmen gegründet, das sich auf den Import und Vertrieb von polnischen Produkten spezialisiert hat. Er betont, dass es ihm hierbei allerdings nur um den beruflichen Nutzen geht, für sein Herkunftsland und den lokalen Herkunftskontext habe er „wenig übrig“. Hingezogen fühlt er vielmehr zu seinen neuen „Lieblingsorten“ entlang der Mittelmeerküste, wo er seine Sommerurlaube verbringt. In Deutschland fühlt er sich wohl, grenzt sich jedoch auch von den „Deutschen“ ab, zu denen er seiner Meinung nach nie vollständig gehören werde. Anders strukturiert Eva Krasiewicz ihren transnationalen Alltag und ihre Transidentität. Sie fühlt sich in zwei Welten eingebettet und integriert. Abgegrenzt werden diese Welten für sie durch den Faktor ‚Zeit‘: Die Phase vor der Migration sieht sie als Vergangenheit, die jedoch nicht abgeschlossen ist, sondern immer wieder erlebbar wird. Dies tritt dann ein, wenn sie Kontakt zu polnischen Freunden und Bekannten aufnimmt oder zu Besuch in Polen ist. Als zweite Welt beschreibt sie ihren aktuellen Lebensmittelpunkt in Deutschland, den sie allerdings durch die Vergangenheit und die dort verankerten Erfahrungen überlagert sieht:
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Eva Krasiewicz: Sagen wir so, das sind zwei Welten. Die erste, das war die Zeit bis siebenundachtzig, so muss man sagen. Die dreiunddreißig Jahre, die ich dort gelebt hab. Da ist die erste Welt, und zweite wie ich schon gesagt hab, die vierundzwanzig Jahre als erwachsene Person hier. Und das Leben als erwachsene Person in Deutschland prägt mich mehr. Also doch. Da bin ich, ein bisschen hab ich von diesem Deutschland in mir, auch. Obwohl ich gehe sehr gerne in meine Vergangenheit. Aber das hab ich auch festgestellt, wenn ich zu viel in meiner Vergangenheit sitze, da ist mir zu viel. Da mache ich Schluss. Weil ich hab zu mir gesagt: „Du lebst hier, du musst hier dich konzentrieren“, ne? Und dann versuche ich kein Kontakt mit Polen zu haben, ne? Für paar Wochen. Und dann geht’s mir wieder gut.
11.3 Z WISCHENFAZIT Die Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte der oberschlesienstämmigen Aussiedler sind – wie in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder angedeutet werden konnte – geprägt durch Hybridität. Der Hintergrund ist dabei die Transnationalität der alltäglichen Lebenswelten, die oftmals als Hin-und-Hergerissen-Sein zwischen verschiedenen (räumlichen) Kontexten interpretiert wird. Die hybriden Konzepte sind letztlich Folgen einer zunehmenden Transmobilität, der Einbindung in transnationale Netzwerke und der Erfahrung von Transkulturalität im Alltag, z.B. durch Einbindung in die polnische Community. Sehr häufig findet die eigene Positionierung über nationale ‚Mischkategorien‘ (z.B. deutsch-polnisch) oder über die Zugehörigkeit zur Region (Ober-)Schlesien statt. (Ober-)schlesische Identitäten ergeben ein heterogenes Feld von (räumlichen) Bezugspunkten. Aufgezeigt werden konnte, dass nicht von einer (ober-)schlesischen Identität gesprochen werden kann, sondern diese auf Subjektebene durch individuelle Konstruktionen von Raum, Kultur und dazugehörigen imagined communities gebildet wird. (Ober-)schlesische Identitäten befinden sich zudem in einem stetigen Wandel, weil auch die Raumbezüge und imagined communities durch Mobilität und Veränderungen transnationaler Netzwerkstrukturen dynamisch sind. Die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte hängen mit der Konstruktion von Wir-Gruppen zusammen, die wiederum stets an die Abgrenzung von Sie-Gruppen (Differenz) gebunden sind. Durch die Methode der Typologie konnten insgesamt fünf verschiedene Typen von Wir-Gruppen differenziert werden, wobei sich zwei der fünf Typen auf (Ober-)Schlesien beziehen. Die anderen Wir-Gruppen orientieren sich an nationalen Kategorien. Bei den Wir-Gruppen mit (Ober-)Schlesienbezug kann grob differenziert werden in eine Wir-Gruppe mit Bezug zum traditionellen (Ober-)Schlesien, in der die Verbindung zu Dialekt, Traditionen und der Region als räumlicher Ankerpunkt betont wird, und in eine Wir-Gruppe, die sich auf eine neue, ‚moderne‘ Form des (Ober-)Schlesier-Seins stützt. Hier wird die Abkehr von tradi-
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tionellen Handlungsweisen betont und für ein stärker transkulturelles Verständnis vom (Ober-)Schlesier-Sein plädiert. An dieser Stelle wird besonders gut deutlich, dass nicht von den (Ober-)Schlesiern gesprochen werden kann. Vielmehr existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Abgrenzungslinien und Wir- bzw. Sie-Konstrukten im Hinblick auf (Ober-)Schlesien. Die Wir-Gruppe der ‚Polen‘ ist an die Polen weltweit als transnationale imagined community und an die Abgrenzung von vermeintlich deutschorientierten Aussiedlern und den Deutschen gebunden. Anders sieht es bei deutsch-polnischen bzw. polnisch-deutschen Transidentitäten aus, aus denen die Wir-Gruppe der Deutsch-Polen bzw. Polendeutschen hervorgeht: In dieser Wir-Gruppe wird die Zwischenstellung zwischen Herkunfts- und Zielland betont und zudem eine Abgrenzung zum oberschlesischen Regionalismus offenbart, weil die Regionalisierungsbewegungen als nicht mehr zeitgemäß erachtet werden. Die Wir-Gruppe der ‚Deutschen‘ bezieht sich wiederum auf Aussiedler mit einem stark ausgeprägten Zugehörigkeitsgefühl zu den „Deutschen“, das allerdings aufgrund von anhaltenden Fremdheitserfahrungen und ernüchternden Bemühungen im lokalen Netzwerkaufbau nicht selten relativiert wird.
12. Von der Integration in Deutschland zum transnationalen Einleben – Die Perspektiven der Aussiedler auf das Ankommen und das alltägliche Einleben
In diesem Kapitel wird mit dem Aspekt des Einlebens die letzte Betrachtungsebene transnationaler Lebenswelten in den Blick genommen. Es geht hierbei um die Frage, wie sich die Anforderungen des Einlebens aus Sicht der Aussiedler im Laufe der Zeit entwickelt haben und wie mit diesen umgegangen wird. Nach der Migration waren die Aussiedler mit dem Aufbau ihres neuen Lebensmittelpunkts beschäftigt und standen nicht nur vor der Herausforderung, die deutsche Sprache zu erlernen und berufliche Anknüpfungspunkte zu finden, sondern auch vor der generellen Umstellung auf neue institutionelle sowie soziale Strukturen. Sie migrierten zudem mit einem klar definierten und von außen aufgetragenen ‚Integrationsauftrag‘, der sich vor allem in den zahlreichen Eingliederungsprogrammen (Sprachkurse, Integrationsunterstützung) manifestierte. Im Laufe der Zeit haben sich durch die Reaktivierung von Kontakten, häufigere Mobilität oder auch berufliche Verflechtungen neue Muster von Beziehungen in Richtung des Herkunftskontextes ergeben. In diesem Kapitel wird nun aufgezeigt, wie sich die zunehmende Transkulturalität der Lebenswelten, die z.T. auch eine Rückbesinnung in Richtung des Herkunftskontextes impliziert, auf die Wahrnehmung der langfristigen Entwicklung von Integration als pluri-lokalen Prozess des Einlebens auswirkt. Letzterer zeichnet sich nun nicht mehr nur durch das Ankommen im Zielkontext, sondern durch alle Prozesse des Einlebens im gesamten Transnationalen Sozialraum aus. Das Kapitel ist untergliedert nach den einzelnen Phasen des Einlebens.
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12.1 „ALSO KEINER FÄHRT MIT B USINESSPLAN “ – D AS E INLEBEN NACH DER M IGRATION AUS DER P ERSPEKTIVE DER AUSSIEDLER Die Zeit nach der Aussiedlung war für nahezu alle Interviewpartner geprägt durch die Bewältigung neuer Herausforderungen und durch den Aufbau eines neuen Lebensabschnitts im neuen Wohn- und Arbeitskontext. Während und nach der Übergangszeit in Aussiedlerlagern bzw. Notwohnungen, die bis zu zwei Jahre andauern konnte, standen Spracherwerb, die berufliche Eingliederung, die Wohnungssuche, die schulische Eingliederung der Kinder und die allgemeine Orientierung im neuen Kontext im Vordergrund. Viele Aussiedler betonen, dass die hohe Aufgaben- und Verantwortungsdichte zu Beginn die Konzentration auf den Zielkontext richtete und Gefühle von Sehnsucht oder Rückkehrgedanken unterdrückte – auch im Fall eines eher weniger reibungslosen Einstiegs in den neuen Alltag. Die Anfangszeit war geprägt durch Umstellungs- und Orientierungsschwierigkeiten, die durchaus stellenweise als problematisch reflektiert werden, jedoch insgesamt eingebettet waren in kleinere erste ‚Erfolgsgeschichten‘: Solche beziehen sich auf die neuen Freiheiten (Urlaube etc.) und die materiellen Errungenschaften. Vor allem letztere kompensierten die Sehnsucht nach weggebrochenen Netzwerken, aber auch die Startschwierigkeiten und ggf. soziale (v.a. berufliche) Abstiege, da neben der Familienzusammenführung sehr häufig das Ziel formuliert wurde, die Lebensbedingungen zu verbessern. Betont werden vor allem die Konsummöglichkeiten zu Beginn, die auch immer wieder dem damaligen Mangel an Waren in Polen gegenübergestellt werden. Ein Beispiel hierfür ist die folgende Aussage von Herrn Mainz: Roman Mainz: Gott sei Dank gab es damals das sozialistische Polen, das bedeutet die Nachrichten, die du gelesen hast, sag ich. Das beginnt schon mit Tschernobyl. Sag ich: „Gott sei Dank“ (betont) bin ich fast 1000 km weit weg. [...] Das ist schon erste schlechte Nachricht. Und dann wieder, ich hab nur schlechte Nachrichten gehört. Sogar hab ich gesehen, mein Cousin, der Jura zu Ende gebracht hat, und der lebte in Katowice. Und der war immer mit allem zufrieden, was er hatte. Weißt du, ein Mensch, totales Gegenteil von mir. Und er konnte, beispielsweise, gab es in den Geschäften keine Rasierklingen. Und da sagte er: „Weißt du was? Ich hab jetzt Vollbart. Ich finde mich gut so.“ Der Mann war damit total zufrieden, was er hatte. Und ich, als ich das gelesen habe, sagte ich: „Wie kann der das?“ Ich möchte mich rasieren, möchte Rasierklingen kaufen. [...] Ich hatte Postkarten, sag ich jetzt, aus Mexiko geschickt und die haben wieder welche aus Wisła geschickt. Wisła ist eine Ortschaft in Beskiden. Sie sind hingefahren mit kleinem Fiat Bambino. Also du hast gesehen mein Leben und Leben von den Leuten, die da gelebt haben. Keiner hat sich da beschwert, aber du hast das immer.. unbewusst vergleichst du. Wie leben die denn da und wie lebst du? Ich besuchte Schlesien das erste Mal nach vier Jahren. Und dann hab ich gesehen, wie Schlesien aussieht.
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Dreckige Straßen, die Hochhäuser, die ich früher.. meine Ehefrau wohnte ja im Hochhaus, ziemlich neues Hochhaus mit Lift. Dieser dreckige Lift, diese Treppen, dieses stinkende Treppenhaus, nach Chlor. Da hast du gesehen, hier leben? Ungerne. Aber hab ich das nie den Leuten erzählt, dass die total scheiße leben, weil das ist beleidigend. Die waren nicht schuld an dieser ganzen Situation damals.
Ähnlich wie bei Herrn Mainz stellte für viele Aussiedler der Vergleich der Situation vor der Aussiedlung bzw. des damaligen Lebensstandards verbliebener Familienmitglieder und Bekannter mit der eigenen, neuen Situation (Wohnung, Urlaube, Einkommen) eine Bestätigung für die Richtigkeit der Migrationsentscheidung dar. Der spürbare ‚Erfolg‘ von Familienmitgliedern, die bereits länger in Deutschland lebten, schürte zudem die Hoffnung auf den eigenen Erfolg, wie beispielsweise Thomas Krawczyk erzählt: Thomas Krawczyk: Der Onkel hat uns damals an der Autobahnraststätte abgeholt. Und dann hat er uns mit seinem Toyota Jaris abgeholt. Mit ich glaub fünfzig PS, die mir vorkamen bald wie siebenhundert damals (lacht). Und nach Hause gebracht. Ja und dann saßen wir dann da. Ich sag mal heute in einer ganz einfachen Wohnung, Zweizimmerwohnung. Die war für mich so geil, dass ich gesagt hab: „Also hier kannste ja nicht mal aufs Klo“, ne? Das war also so ein riesiger (betont) Unterschied, das gibt's doch jetzt nicht, ne?
Viele Aussiedler zeigten sich sogar überrascht von ihrer neuen, privilegierten Situation – vor allem im Hinblick auf ihre Stellung als Aussiedler. Dies verdeutlicht beispielsweise Katharina Musiol, die sich über ihr hohes Arbeitslosengeld wunderte. Einzelne Erfolgserlebnisse halfen somit dabei, die Übergangsphase als solche zu erkennen und diese zu überdauern: Katharina Musiol: Ich hab letztlich gesehen.. obwohl es viele Schwierigkeiten gab, dass.. ich mein, Sie wurden schon durch die ganzen Geschäfte betäubt. Und das Arbeitslosengeld. Naja, weil als ich den Sprachkurs machte, ich hab ja sieben Jahre in Polen gearbeitet. Und dann bekam ich einfach kostenlos Geld. Ich hab vorher noch nie Geld umsonst bekommen. Ich hab noch zu meiner Tante gesagt: „Ich kann das Geld doch nicht nehmen. Ich hab doch hier nie gearbeitet.“ Und die so: „Aber es steht Dir zu, du hast in Polen gearbeitet“. Jedenfalls als ich das Arbeitslosengeld gesehen hab, so viel Geld, da dachte ich, wie viel ich wohl verdienen würde, wenn ich später arbeiten gehen würde. Das war ein Haufen Geld. Und das war dieser Ansporn. Es lohnt sich, zu bleiben. Es lohnt sich, das alles durchzustehen. Weil es wird besser. (ü)
Auf der anderen Seite berichten die Aussiedler von vielen Aufgaben und Anstrengungen zu Beginn des Einlebens. Es kristallisieren sich in diesem Zusammenhang bei den meisten Aussiedlern Strategien des Einlebens heraus, unabhängig von
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Migrationsmotiven oder sonstigen Einstellungen. Die Strategien des Einlebens betrafen zum einen den Spracherwerb. Die Eheleute Feldmann, in den 1970er Jahren ausgesiedelt, verzichteten beispielsweise ganz bewusst auf die polnische Sprache und brachten ihre Söhne für einen längeren Zeitraum getrennt bei unterschiedlichen Verwandten unter, damit sich diese untereinander nicht in ihrer Muttersprache unterhalten und damit die deutsche Sprache schneller lernen konnten: Sofie Feldmann: Wir begannen achtundsiebzig abrupt Deutsch zu reden. Wie wir konnten. Ob das grammatisch oder nicht grammatisch war, ohne Artikel oder mit Artikel. Eher ohne Artikel. Polnische Sprache ist ja ohne Artikel. Aber bei einer Sache, wenn wir aufgeregt waren, fluchen wollten, schimpften, da kam das Polnische sofort. Da fehlten uns die deutschen Wörter. Nachdem wir uns dann auch noch auf Deutsch gestritten haben, das war der Durchbruch.
Auch Thomas Krawczyk reflektiert seinen persönlichen ‚Integrationsplan‘, dessen wichtigster Bestandteil der rasche Erwerb der deutschen Sprache war: Thomas Krawczyk: Saß ich da auf dem Bett und hab gelernt wie ein Wilder, also ich hatte mir die Grammatik fast selber angeeignet damals und.. weil ich wusste, das musst du drauf haben, sonst wird das wird das nichts! Also ich war so gut, sag ich jetzt mal nach einem Monat, dass ich als Dolmetscher da schon irgendwo tätig war. Das möcht ich mal gerne jetzt erleben (lacht). So war das, ne? Also war ne spannende Zeit, aber war sehr ungewiss, wobei man nicht wirklich die Zeit hatte, sich damit zu beschäftigen.
Zum anderen waren Strategien des Einlebens auf die berufliche Entwicklung ausgerichtet. Umschulungsmöglichkeiten wurden verglichen, Anerkennungen für Abschlüsse organisiert oder erste Übergangstätigkeiten gesucht, die nach und nach ausgeweitet wurden, z.B. im Fall von Putzjobs. Zum Teil wurden auch konkrete Ziele für materielle Errungenschaften definiert. Herr Feldmann beispielsweise hat für die Anfangszeit klare Aufgaben definiert und auch langfristig geplant: Richard Feldmann: Du musst das selber machen. Also haben wir uns erstmal gekümmert, wie gesagt, die Sprache zu lernen, einigermaßen zu beherrschen, dass die Kinder weiterkommen, Arbeit zu kriegen. Arbeiten. Richtig einleben. Nach zwei Wochen in Deutschland hab ich im Prinzip entschieden, es wird gebaut.
Thomas Krawczyks ‚Integrationsplan‘ sah in der Anfangszeit eine vollständige Fokussierung auf den neuen Lebenskontext vor. Seine Strategie war das „Anpassen“ und sein Ziel die Zugehörigkeit zu den „Deutschen“. Das Anpassen umfasste für Thomas Krawczyk verschiedene Bereiche: Die Wahl eines neuen Fußballvereins,
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Spracherwerb, Bildung und Konzentration auf das neue, deutsche Umfeld. Thomas Krawczyk sieht heute seine damalige „Umstellung“ und den „Wechsel auf die andere Seite“ entscheidend für seinen Erfolg in Deutschland an. Dieser ist für ihn letztlich an ein der Assimilation entsprechendes Handeln gebunden: Thomas Krawczyk: Man hatte dann schon ein Ziel. Klar war das die Sprache, die ja nicht immer hundertprozentig saß. Und auch ein bisschen die Mentalität und so. Aber ich muss auch sagen, dass ich sehr, sehr schwer dafür gearbeitet hab. Ob das mit dem Lernen zu tun hatte, vor allem Sprache lernen. Sich anpassen. Ich hatte auch mal eine Fußballmannschaft. Ich bin ja fußballverrückt, hängt ja bis heute noch hier Schal von Düsseldorf. Ich hab gesagt, so jetzt bist du in Düsseldorf, das ist deine neue Mannschaft. So ja. Also ich brauchte so diese Ankerpunkte, ne? Wo man, weil das hält einen überm Wasser. Und ich glaub auch nicht.. also damals gab´s ja keine schlesischen Geschäfte. Das gab´s ja damals so nicht. Ich glaub aber auch nicht, dass ich die in Anspruch genommen hätte. Ich wollte das nicht. Ich wollte wirklich quasi rüber wechseln auf die andere Seite. Und ein neues Leben aufbauen, aber halt nicht als der Ausländer (betont) irgendwo. Sondern schon als einer von den Deutschen. [...] Also ich hatte kaum in den letzten zwanzig Jahren Begegnungen mit irgendwelchen Leuten, die mir irgendwie was vorgeworfen haben, oder die mir das Leben schwer gemacht haben aufgrund dessen, dass man dann Aussiedler war.
Trotz der überwiegend positiven Grundstimmung, die bei der Reflexion der Anfangszeit immer wieder zu erkennen ist, beschreiben einige Aussiedler auch Schwierigkeiten und Orientierungslosigkeit, die allerdings selten Zweifel über die Richtigkeit der Migrationsentscheidung oder der Integrationsstrategie aufkommen ließen. Sie wurden als zwangsläufige Hürden interpretiert. Sprachbarrieren, die Berufs- und Stellenfindung, aber auch das Einleben in den neuen schulischen und beruflichen Kontexten wurden zu solchen Hürden – ganz besonders für ältere Aussiedler. Herr Piontek beschreibt, wie er sich an seinem ersten Arbeitsplatz im neuen Unternehmen nicht traute, zu viel zu fragen, weil er den Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, gerecht werden wollte: Peter Piontek: Als ich da ankam dachte ich, ich werde verrückt. Das war so schwer für mich. Und du wolltest ja nicht so viel fragen. Weil da waren die Ambitionen zu groß. Dann hätten die ja gesagt: „Da kommt irgendein Trottel aus Polen!“ Und ich hab mich schon gefragt, wie das wohl klappen würde. Ich hab nachher.. ich saß da öfter länger, Karte schon rausgestempelt und dann, ne? Dann kam ich auch später schnell zurecht. (ü)
Zum Teil führten die empfundenen Anforderungen des Einlebens zu Beginn zu einem Gefühl der Überforderung, das sich auch in gesundheitlichen Problemen niedergeschlagen konnte, wie Paul Kudela berichtet. Bei Herrn Kudela, der im Familienverbund und eher wenig von der Ausreise überzeugt migriert ist, schlugen
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sich seine Nervosität und die Furcht vor dem Scheitern letztlich auf seine Gesundheit aus, was ihn kurzzeitig sogar an eine Rückkehr denken ließ: Paul Kudela: Ich wusste ja gar nicht, was mich erwartet. Ich bin einfach mitgefahren und dann hab ich hier bisschen gelitten. Kein Wort Deutsch. Also keine Freunde. Ich hab unheimlich viele Freunde in Polen gehabt. Wenn ich nur auf der Straße ging, ne? „Hallo, hallo!“ Im Umkreis vielleicht von dreißig Kilometern hab ich sehr viele Freunde gehabt. Und hier auf einmal keine. Ja irgendwie weiß ich nicht, da war ich dadurch auch krank. Magenkrämpfe und alles. Ich wollte dann zurückfahren. Aber ganze Familie hat versucht, mich zu unterstützen. Weil ich hab ja hier noch Onkels, Tante und so weiter. Und irgendwie hat es geklappt.
Für Herrn Kudela stellte vor allem das Wegbrechen etablierter Netzwerkteile eine Herausforderung dar. Auch andere Aussiedler berichten, wie Einsamkeit die Freude über erste materielle Errungenschaften trotz aller Euphorie trüben konnte. Vereinzelt deuten die Aussiedler auch Existenzsorgen, Zukunftsängste und die Befürchtung eines sozialen Abstiegs an. So kam es zumindest phasenweise zu einer Unsicherheit über den Erfolg der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche, aber auch über die eigene Stellung im neuen sozialen Umfeld. Plötzliche Anonymität, finanzielle Engpässe, aber auch die Befürchtungen an der empfundenen Überforderung zu scheitern, waren somit negative Aspekte der Phase unmittelbar nach der Migration. Herr Feldmann beschreibt die Anfangszeit vor allem im Hinblick auf die empfundene Angst vor dem Scheitern. Für ihn und seine Frau stellte zu Beginn vor allem der Spracherwerb und die Bürokratie eine Herausforderung dar: Richard Feldmann: Das waren Zeiten, wo wir Angst hatten vor dem Briefträger. Denn der Briefträger kam und dann hat er so viel Post gebracht. Verschiedene Formulare, Anträge und so weiter. Da haben wir gesessen tagelang an einem Formular, das da, weiß Gott, zehn oder zwölf Seiten hatte. Dann sind wir damit gefahren nach Aachen zum Versorgungsamt oder wo, oder hier nach Düren, Kreis Düren. Abgegeben. Der blättert. Erste Seite. Zweite Seite. Dritte Seite. Und wir haben hier gesessen stundenlang. Mit Wörterbuch, haben versucht das zu übersetzen, denn wir haben´s nicht verstanden, was da steht.
Auch vor dem sozialen Abstieg hatte Herr Feldmann Angst. In Polen bekleidete er eine hohe Position und fühlte sich sozial anerkannt. Nach der Migration hatte er Angst, diesen sozialen Status zu verlieren: Richard Feldmann: Dort waren wir was. Dort sind Leute zu uns gekommen, wir haben den Leuten geholfen, wir haben Schreiben aufgesetzt, überall waren Bekannte. Präsidium, Bauamt, überall waren Leute, die ich gekannt habe. Ich war was. Und hier kommst du und bist du nix. Denn ich hab mir das Leben aufgebaut, ich war jemand, ich hab gut verdient, ich hab al-
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les gehabt. Und jetzt komm ich hier und jetzt werde ich Steine klopfen auf der Straße? Ich hab unheimlich viel Angst davor gehabt.
Die Angst vor dem Scheitern war gebunden an die eigenen Erwartungen, mit denen die Migration verknüpft war. Häufig war die Migration an das Ziel des ‚Erfolgs‘ gebunden. Verbesserte Lebensbedingungen spielten für fast alle interviewten Aussiedler eine große Rolle – unabhängig von anderen Motiven. ‚Erfolg‘ wird dabei nicht unbedingt nur monetär gemessen, sondern auch allgemein auf den sozialen Status bezogen. Die Versorgung durch Sozialsysteme (v.a. Sozialhilfe) war für einige Aussiedler ein Horrorszenario, wie beispielsweise Herr Wawrzyczek beschreibt: Jan Wawrzyczek: Das war doch unmöglich, dass man hier vom Sozialamt gelebt hätte. Die Ambitionen hätten das nicht zugelassen. Aber man durfte keine Angst haben. Wenn man sich schon dazu entschlossen hat, hierhin zu kommen. (ü)
Nicht wenige Interviewpartner haben dabei zumindest zeitweise einen beruflichen Abstieg hinnehmen und auf Aushilfs- und Putzjobs ausweichen müssen. Während sie in Polen noch Bürotätigkeiten nachgegangen sind oder sogar ein Studium begonnen bzw. abgeschlossen hatten, mussten sie zu Beginn auf Stellen als Fensterputzer, Zeitungsausträger oder Küchenhilfen ausweichen. Die finanzielle Ausstattung der Aussiedler variierte zu Beginn stark – je nach beruflicher Situation in Polen, Haushaltsgröße, Hilfe im Familiennetzwerk und der Qualifikation. Einige Aussiedler berichten von der damaligen Notwendigkeit, Aushilfsjobs anzunehmen, um erste Investitionen tätigen, aber auch um kleinere Unterstützungsgelder aufstocken zu können. Positiver ist die reflektierende Sichtweise auf soziale bzw. berufliche Abstiege vor allem dann, wenn diese nur zeitweilig waren. Die Eheleute Kasprzyk (1966 bzw. 1963 geb. und 1988 migriert) hatten in Polen studiert bzw. ein Studium abgeschlossen. In Deutschland mussten beide zu Beginn mit finanziellen Engpässen klarkommen: Isa Kasprzyk: Wirklich, wir sind nach Deutschland gekommen und eine Woche später haben wir schon die erste Wohnung gehabt. Wir hatten bisschen Geld von zu Hause aus Polen mitgebracht und dadurch, dass wir ständig gearbeitet haben. Dann haben wir die erste Miete bezahlt, dann haben wir Provision bezahlt, haben uns ein Bett gekauft und das war alles. Und dann hatten wir kein Geld mehr gehabt. Und dann hatten wir irgendwie zwanzig Mark bis zum Monatsende und es war gerade der Dritte, ne? Dann haben wir wirklich nur von Aldi so trockenes Brot gegessen und dann freust du dich über jede Kleinigkeit.
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Mit der Zeit haben beide einen Plan für die berufliche Zukunft entwickelt. Neben ihrem Intensivsprachkurs haben beide Aushilfsjobs angenommen und so ein neues Studium von Frau Kasprzyk finanziert. Heute sind Isa und Roman Kasprzyk sehr zufrieden mit ihren damaligen Entscheidungen. Langfristig haben beide gute Arbeitsstellen gefunden und nun auch ein Haus gebaut1: Isa Kasprzyk: Also ich denke mir, je jünger man ist, desto einfacher fällt das auch. Also das ist für uns.. wir haben Schule gekriegt, Sprachkurs, Intensivsprachkurs. Wir sind viel arbeiten gegangen zwischendurch, um Möbel zu kaufen. Du hast keine Zeit um nachzudenken. Wir sind immer vor der Schule direkt schon zum Arbeiten gefahren, dann da uns umgezogen, zwei Stunden gearbeitet, umgezogen, Schule, acht Stunden Schule, weil wir hatten richtig Intensivsprachkurs für Studenten. Und dann nach der Schule direkt wieder arbeiten gefahren und da kamen wir um zehn Uhr nach Hause. Wir waren fix und fertig. Da hast du keine, irgendwie, weiß ich nicht, keine Zeit um nachzudenken. Roman Kasprzyk: Ja, ich hab überall was gemacht. Fenster geputzt bei irgendwelchen Juwelieren und sowas alles.
Der berufliche Abstieg konnte jedoch auch drastischer verlaufen, wenn er mit gefühlter Diskriminierung verbunden war. Frau Maria Nowak (1947 geb. und 1983 migriert) erzählt, wie ihr damaliger Arbeitgeber, bei dem sie das Haus putzte, nach dem Tod seiner Frau aufdringlich wurde und sie belästigte. Ihre Stelle gab sie daraufhin auf. Frau Zając nahm ebenfalls Putzstellen an und empfand dabei ein Schamgefühl: Barbara Zając: Wenn man so viele Jahre in Polen gute Stelle und Position und Beruf hatte und plötzlich hier nix. Ich bin putzen gegangen, aber um ehrlich zu sagen, erste Mal da war mir richtig peinlich (betont), ne? Aber hab ich mir gedacht: „Das bringt auch Geld, ne?“
Verstärkt wurde ihr Schamgefühl durch Diskriminierungserfahrungen in der Zeit, als sie in einer Drogerie geputzt hat. Ihre Chefin erlaubte Frau Zając damals veraltete Zeitschriften nachhause mitzunehmen. Eine andere Mitarbeiterin zeigte sich darüber verwundert, weil sie nicht davon ausging, dass Frau Zając lesen konnte:
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Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Situation unmittelbar nach der Migration aus einer reflektierenden Position betrachtet wird. Es ist anzunehmen, dass Schwierigkeiten und Notsituationen heute weniger dramatisch erscheinen, weil sie überwunden sind und lange zurückliegen. Die zeitliche Distanz zum Geschehenen dürfte mit verantwortlich sein für die insgesamt positive Reflexion der Vergangenheit.
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Barbara Zając: Ja, da hab ich die Zeitungen immer mitgenommen und da hat eine Kosmetikerin in dieser Drogerie gearbeitet. Da fragte sie mich: „Können Sie lesen?“. Also in diesem Moment da war so wie (..) Ohrfeige. Also richtig, ne? Da hab ich ihr gesagt „Wissen Sie, vielleicht rede ich nicht so gut. Und perfekt deutsch. Vielleicht mache ich Fehler, aber ich bin kein Analphabet. Ich hab in Polen Abi gemacht und lesen kann ich, die Buchstaben egal, ob polnisch oder.. da kann ich da zusammen und da kann ich lesen. Ich bin kein Analphabet“. Also für mich.. das war (..) also da hab ich mich furchtbar gefühlt, ne?
Solche Erfahrungen kommen in den Erzählungen der Aussiedler allerdings selten vor. In der Regel wird vielmehr die Akzeptanz im deutschen Umfeld hervorgehoben. Doch waren Erfahrungen von fehlender Wertschätzung durch Dritte in Phasen, die als sozialer Abstieg interpretiert wurden, ein zusätzlicher Ballast. Ähnlich wie die Eheleute Kasprzyk hat Frau Zając ihren sozialen Abstieg überwunden und sich beruflich umorientiert. Sie hat eine Ausbildung zur Fußpflegerin und sich selbstständig gemacht, was sowohl ein neues Selbstwertgefühl als auch eine neue finanzielle Unabhängigkeit mit sich brachte. Soziale Abstiege waren damit häufig von kurzer Dauer. Sie konnten jedoch auch als dauerhaft interpretiert werden, wie im Beispiel von Herrn Wawrzyczek. Er hat jedoch eine spezifische Sichtweise auf seine berufliche ‚Degradierung‘. Herr Wawrzyczek sieht seinen sozialen Abstieg als logische Konsequenz der Migration an, was er vor allem mit der sprachlichen Barriere in Verbindung bringt. Dass er vom stellvertretenden Direktor eines städtischen Unternehmens zum „Knöllchenschreiber“ abgestiegen ist, sieht er als Preis für die Migration an. Als empfundene Gegenleistung beschreibt Herr Wawrzyczek seine Freiheit und die Möglichkeit „unter Deutschen zu leben“: Jan Wawrzyczek: Ich hatte so eine Einstellung, ich wollte Arbeit. Ich wusste von vorneherein, dass ich nie so eine Arbeit bekomme wie ich sie in Polen hatte. Allein schon wegen der Sprache. Das wusste ich. Mir war egal, was es für eine Arbeit sein würde. Wenn ich geeignet bin, dann mache ich das. Und letztlich hatte meine Mama.. das sage ich jetzt spaßeshalber.. meine Mutter hat immer gesagt: „Lerne, lerne, weil wenn du nicht lernen wirst, wirst du auf der Straße arbeiten.“ Und letztlich bin ich doch auf der Straße gelandet, weil ich Knöllchen geschrieben habe in Mettmann (lacht). Aber das war ja auch was, dass ich so eigentlich gar nicht sprechen konnte und da einfach Knöllchen geschrieben habe. Leute bestrafen. Aber das ist eine Einstellungsfrage. Ich war so eingestellt, dass ich das aus Polen nicht mehr haben werde. Ich hatte das Ganze da satt. Ich wollte in Polen immer der Erste sein, im Betrieb. Um Entscheidungen treffen zu können und um zu bestimmen. Aber wenn man sich das da alles angeschaut hat. Alles so im Einzelnen, dann.. das war ja nicht so spontan: „Ach Deutschland, die Grenzen sind auf, wir fahren rüber.“ Man wollte in Polen wie ein normaler Mensch leben, aber es ging nicht. Mit einem anderen Charakter vielleicht, dann ja. So alles ist gut, ich hab Geld, ich arbeite. Aber mir hat da immer etwas nicht gepasst. (ü)
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Bei Aussiedlern, die als Kinder oder Jugendliche migriert sind, verlief die erste Phase in Abhängigkeit von ihrer schulischen Eingliederung. Deutlich reibungsloser verlief die Phase des ersten Einlebens bei Jugendlichen, die in spezielle Internate kamen und hier mit „Gleichgesinnten“ Deutsch lernten, einen Übergang zu deutschen Schulen herstellten oder gar das Abitur machen konnten. Die Internate wurden als Auffangbecken gesehen, obwohl der Aufenthalt dort wiederum eine Trennung zum Elternhaus bewirkte und zunächst wenig Kontakt zum deutschen Umfeld ermöglichte. Allerdings beschreiben ehemalige Aussiedlerkinder, die mehr oder weniger zügig in deutsche Grundschulen oder weiterführende Schulen wechselten, deutlich häufiger Startprobleme. Die Überforderung durch die sprachliche Umstellung führte des Öfteren zu einer Zurückstufung im schulischen Klassensystem. Manchmal kam es durch die nicht adäquate Einstufung der Kinder zu mehrfachen Schulwechseln, was das Einleben zusätzlich erschwerte. Davon berichtet Frau Feldmann: Sofie Feldmann: Wir haben eine Einladung in die Schule gekriegt. Wir dachten „Was ist da jetzt passiert?“ Und unser Sohn hat wahnsinnig geweint. Denn er kam ins fünfte Schuljahr, er konnte kein Deutsch und er hatte Englisch dazu bekommen. Hat weder das eine noch das andere verstanden. Und dann hat uns später auch noch der Klassenlehrer kommen lassen und der Schuldirektor. Und da hat er gesagt: „Das Kind ist am falschen Platz“. Er ist zu gut für eine Hauptschule. Wir halten ihn noch bis zum Schuljahr hier bei uns, wir geben uns große Mühe, aber wir empfehlen Ihnen, dass das Kind in ein Gymnasium geht. Wir kannten kein Schulsystem. Und da haben wir versucht, mit dem Jungen zu reden, wir haben versucht, ihn überreden, ihm fiel es etwas schwer. Er hat ja wieder schon ein paar Freunde gefunden. Aber er hat zugestimmt.
Einzelne Aussiedler – sowohl aus der Kinder- als auch aus der Elterngeneration – beschreiben Diskriminierungserfahrungen durch die Ausgrenzung in den Schulklassen. Alexandra Hurdalek hat solche Erfahrungen in ihrer Zeit im Gymnasium gemacht. Sie berichtet von einer isolierten Lage der Aussiedler und der Ausgrenzung durch die „Deutschen“: Alexandra Hurdalek: Ein Schock. Ein richtiger Schock. Weil erst mal sollte ich ja in ein Internat, aber ich wollte ja nicht. Und dann kam ich eben nach Neuwerk, in das Gymnasium Neuwerk. Und da fing die Hölle an. Das war dann drei Jahre die Hölle. Ich kam in die Neun. Dann musste ich die Neun wiederholen. Dann die Zehn, die Elf wieder sitzengeblieben. Und dann hab ich gesagt: „Was jetzt? Soll ich mich hier weiter quälen oder was anderes?“ Und dann bin ich auf die Maria-Lenzen-Schule gegangen, da hab ich Fachabi gemacht, mit Praktika. Ein Jahr Praktikum bei Hephata. Und das war eine super Entscheidung. Wenn es um Schule geht. Da konnte ich aufatmen. Weil hier im Gymnasium, war das eine Katastrophe.
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Sprache war eine Katastrophe. Und die Lehrer? Wir [alle Schüler und Schülerinnen aus Polen, Anm. M.O] fühlten uns richtig erniedrigt. Das war nix. (ü)
In der Regel waren die Eingliederungsprobleme der Kinder und Jugendlichen temporärer Art, z.T. führten sie – wie im Kapitel 8.2 am Beispiel von Martin Kluczek beschrieben wurde – zu Transmobilitätsbeziehungen in Richtung des Herkunftskontextes und damit zu einer langfristigen Entwicklung von Transkulturalität. Martin Kluczek oder auch Johanna Jasko haben sich infolge ihrer Unzufriedenheit mit dem sozialen (Schul-)Umfeld zunehmend auf ein neues Netzwerk in Oberschlesien/Polen ausgerichtet, was häufige Mobilität mit sich führte.
12.2 D AS E NDE DER I NTEGRATION ? – ANKOMMEN IM Z IELKONTEXT Abgelöst wurden die erste Orientierungsphase und die anfänglichen Probleme des Einlebens von einem Gefühl des Angekommen-Seins, wobei dies recht unterschiedlich interpretiert wird. Ein Gefühl des Angekommen-Seins kann an die finanzielle Unabhängigkeit, die erfolgreiche Jobsuche, den Aufbau eines festen sozialen Umfelds oder an materielle Errungenschaften, wie den Bau des Eigenheims, gebunden sein. Es war jedoch auch sehr häufig an ein Gefühl der Sicherheit durch verbesserte Sprachkompetenz oder die Gewöhnung an das ‚deutsche System‘ gekoppelt. Wie lange es dauerte, bis sich ein Angekommen-Sein eingestellt hat, reicht aus der Perspektive der Aussiedler von wenigen Monaten bis zu zehn oder fünfzehn Jahren. Es hat viel mit dem Gefühl der Partizipation und Unabhängigkeit, jedoch auch damit zu tun, dem Anspruch, deutscher Staatsbürger zu sein, gerecht zu werden. Paul Kudela sieht sein Angekommen-Sein gebunden an den erfolgreichen Spracherwerb, aber auch an seine Meisterprüfung, die ihm zum beruflichen Aufstieg verholfen hat. Er sieht einen langen Zeitraum von zehn bis zwanzig Jahren, in dem er sich eingelebt hat. Für Herrn Kudela gehört zum Wohlfühlen in Deutschland der notwendige Schritt der „Integration“ dazu: Paul Kudela: Wenn ich sage, dass ich mich integriert habe und so weiter, meine ich ja damit, dass ich ja viel, viel, viel besser sprechen konnte, verstehen konnte und so weiter. Und das war dieser Punkt, wo ich sage: „Ok, jetzt bin ich so weit, jetzt bin ich hier und bleib ich hier. Und fühl ich mich als Deutscher und so weiter“. Anfangs war das noch so bisschen gemischt und so weiter. Weil ich wusste noch nicht so recht, wo ich hingehöre. Eigentlich da muss ich ehrlich sagen, nachdem ich die Prüfung [Meisterprüfung, Anm. M.O] bestanden habe, da war ich von dem ganzen Ballast frei. Und dann war alles gut, da waren Aufstiegsmöglichkeiten,
356 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT also da lief für mich optimal. [...] Vielleicht zehn Jahre, dann hat sich das langsam gewandelt ins Positive. Und endgültig.. vielleicht nach zwanzig Jahren oder so. Das ist nicht so einfach.
Stefanie Fitzek argumentiert stärker mit dem Einleben im Wohnumfeld und dem Erwerb einer Immobilie, was ihr das Gefühl des Wohlstands und damit auch der Partizipation gegeben hat. Sie betont den guten Kontakt zu vielen deutschen Familien und ihre Aktivität im deutschen Umfeld: Stefanie Fitzek: Als wir die Wohnung gekauft haben, da habe ich mir gesagt: „Jetzt bin ich angekommen“. Und es hat sich alles so, wir hatten keine Konflikte mit Amt oder mit Leuten. [...] Und dann waren die Kinder.. ist klar, da bist du in der Spielgruppe, in Grundschule, sehr viele Kontakte, ne. Ach, wir sind noch im Verein „Junge Familie“, das ist hier an der Kirche und da sind wir sehr gut befreundet mir sehr vielen deutschen Familien.
Maria Nowak sieht den Erwerb eines Grundstücks als symbolischen Ausdruck ihrer Teilhabe in der deutschen Gesellschaft und auch als notwendigen Schritt, um sich zuhause zu fühlen. In Polen besaß sie ein Haus im ländlichen Raum, den sie zunächst in ihrer kleinen Wohnung in Düsseldorf vermisste. Mit dem Erwerb eines Hauses im Umland von Neuss stellte sich ihre Sehnsucht nach dem alten Umfeld ein: Maria Nowak: Als wir das Haus gekauft haben, als ich im Garten stand, da fühlte ich mich besser. Dieser Punkt auf der deutschen Landkarte ist meiner. Ich bin zuhause. (ü)
Für Helmut Krieger (1934 geb. und 1981 migriert) ist vor allem die Akzeptanz durch die Deutschen entscheidend das Gefühl des Angekommen-Seins. Seine Vergangenheit sieht er durch seine hohe Zufriedenheit in Deutschland als abgeschlossen an. Wichtig ist für Herrn Krieger, dass er nicht als „Pole“ abgestempelt wird: Helmut Krieger: Wenn ich von irgendwo nachhause komme, vom Urlaub.. man kann sich das nicht vorstellen. Als ob die Vergangenheit erloschen ist. Als ob ich hier geboren wär, also so ein Gefühl hab ich. Ich komm hier, ich fühl mich hier zuhause. Keiner sagt: „Der Pole“.
Für Frau Matysek wiederum war ihr Angekommen-Sein stark an das Ende ihrer Jobsuche gebunden. Zunächst nahm sie verschiedene Putzjobs an, bis sie eine feste Stelle bei der Caritas erhielt: Ilse Matysek: Als ich die Arbeit bekommen habe. Da hätte ich mir ein Schild umhängen können: „Ich arbeite schon!“ Ja. Hier interessiert sich niemand für den Anderen, aber alle wussten, dass ich arbeite. Und da denke ich, dass ich dann akzeptiert war von meinen Nachbarn. Ich war stolz, dass ich arbeite. Eine hier sagte mal: „Sie haben´s aber gut“. So ne Deutsche.
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Wem haben Sie die Arbeit denn weggenommen?“ Ich hab gesagt: „Gute Frau, gehen Sie hin, die stellen ein!“ (ü)
Mit dem Gefühl des Angekommen-Seins ergab sich für viele Aussiedler auch das Gefühl, etabliert zu sein, was häufig auch den engen Fokus auf die Integration als ‚Anpassungsprozess‘ in Deutschland lockerte. Die Angst, an der Migration zu scheitern oder ihr nicht gerecht zu werden, nahm dadurch ab. Zusammen mit den neuen Möglichkeiten der Kommunikation und des Transports in Richtung Polen/Oberschlesien ergaben sich hierdurch ‚neue‘ Muster grenzüberschreitender Beziehungen, die Prozesse des transnationalen Einlebens mit sich geführt haben. Damit ist gemeint, dass Einleben nun nicht mehr primär als auf den Zielkontext ausgerichtet beschrieben werden kann, sondern zu einer Erfahrung im gesamten Transnationalen Sozialraum wird.
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Warum der Prozess des Einlebens bei den Aussiedlern weder als abgeschlossen noch als ausschließlich auf den Zielkontext ausgerichtet gesehen werden kann, lässt sich bereits in der Reflexion der vorangegangenen Kapitel auf verschiedenen Ebenen verdeutlichen: Durch die Reaktivierung und den Ausbau von Kontakten in Oberschlesien/Polen, ein neues Interesse für Entwicklungen im Herkunftskontext und neue Verflechtungen durch berufliche Tätigkeiten in Polen sind vielfach neue Beziehungen und Anknüpfungspunkte im Herkunftskontext entstanden, die jedoch häufig auch in Verbindung mit Entfremdungserfahrungen stehen. Zunehmende Orientierungslosigkeit, aber auch die Wahrnehmung von Veränderungen in dortigen Netzwerken (Wegfall von Kontakten, Veränderungen von Beziehungen) sind hierfür ausschlaggebend und erfordern häufig einen neuen Prozess des Einlebens im vermeintlich vertrauten Umfeld. Im Zielkontext ist die strukturelle Eingliederung zumeist vollständig realisiert, ein Gefühl des Zuhause-Seins hat sich inzwischen eingestellt, wohingegen z.T. immer noch eine Distanz zum deutschen Umfeld wahrgenommen wird. Mit dem Gefühl des Angekommen-Seins treten zunehmend Prozesse des transnationalen Einlebens anstelle der auf den Zielkontext ausgerichteten ‚Integrationspläne‘, auch wenn die Notwendigkeit der Fokussierung auf den Zielkontext nach der Aussiedlung nach wie vor nicht in Frage gestellt wird. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Prozessen des Einlebens und den Umgang mit dem ‚Integrationsauftrag‘ durch die Aussiedler macht sich eine Entwicklung bemerkbar, die in Abb. 45 in generalisierender Weise dargestellt wird. Sie fasst grob die Tendenzen zusammen und zeigt, wie das Einleben als Prozess für die meisten der interviewten Aussiedler abgelaufen ist.
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Abbildung 45: Phasen des Einlebens
Quelle: Eigene Darstellung
Das langfristige Einleben der Aussiedler wird hier in drei grobe Phasen eingeteilt. Die erste Phase bezieht sich auf die Zeit unmittelbar nach der Migration und stellt die Herausforderungen und Probleme zu Beginn dar. Die meisten Probleme zu Beginn, wie Arbeitsplatzsuche, Umschulungen, Orientierungslosigkeit oder die schulische Eingliederung der Kinder, waren temporärer Art. Einige Schwierigkeiten, die sich nach der Migration einstellten, blieben jedoch für manche und vor allem ältere Aussiedler über längere Zeit hinweg ein Problem (z.B. Sprachprobleme), oder sind auch weiterhin aktuell, was dazu führt, dass diese Phase nicht vollständig als beendet bezeichnet werden kann. Zu solchen langfristigen Schwierigkeiten gehört das fortwährende Zurechtfinden im sozialen Umfeld, was besonders gut deutlich wurde bei den Eheleuten Feldmann oder bei Ilse Matysek, die aus ihrer Unzufriedenheit mit dem deutschen Umfeld heraus Kontakte in Oberschlesien ausgebaut haben. Einen langfristigen Charakter haben hier andauernde Fremdheitsgefühle oder auch eine leichte Sehnsucht nach dem Herkunftskontext. Die erste Phase kann als ‚Integrationsphase‘ bezeichnet werden, weil sie ‚klassische‘ Probleme der Aussiedler in ihrem Einleben in Deutschland offenbart; vor allem aber auch, weil der Begriff ‚Integration‘ durch die Aussiedler selbst ins Spiel gebracht wird. In dieser Phase ist die ‚Integration‘, die aus Sicht der Aussiedler vereinfacht als erfolgreiches Eintauchen in das deutsche System und das deutsche soziale Umfeld verstanden wird, das übergeordnete Ziel. Das Ziel der ‚Integration‘ dominiert zu Beginn das Handeln der
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Aussiedler und drückt sich in verschiedenen Integrationsstrategien aus. Es zeigt sich zudem, dass diese Integrationsstrategien auch aktuell eine latente Bedeutung haben: Auch vor dem Hintergrund einer steigenden Transkulturalität des Alltags, werden die erfolgreiche Einbindung im deutschen Umfeld (Arbeitsplatz, Schulumfeld, Nachbarschaft) und das Gefühl, dem Aussiedlerstatus (Deutscher-Sein) gerecht zu werden, nach wie vor als grundlegende Voraussetzungen für das Leben in Deutschland gesehen. Für die meisten Aussiedler endet jedoch mit dem Einsetzen des Gefühls vom Angekommen-Sein zumindest die alltägliche Dominanz der Integrationsstrategien. Die Bedeutung der Integrationsphase nimmt daher mit einem zunehmenden Gefühl des Angekommen-Seins ab. Letzteres wird sehr unterschiedlich bewertet. Verschiedene Faktoren, wie der Immobilienerwerb oder der Anschluss an deutsche Bekanntenkreise, führen zu einem Status des Etabliert-Seins, was für die meisten Aussiedler auch als das Erfüllen ihres persönlichen Integrationsauftrags gesehen wird. Das Angekommen-Sein ergibt sich in unterschiedlichen Lebensphasen und ist mehr als eine einmalige Reflexion des bisherigen Migrationsverlaufs. Das Gefühl des Angekommen-Seins bestimmt das weitere Handeln, indem aus einer etablierten Position heraus neue Alltagspraktiken entstehen. Ein Ausbau der Beziehungen zum Herkunftskontext oder ein selbstbewussterer Umgang mit der eigenen Herkunft ist häufig an das Gefühl gekoppelt, dem Aussiedlerstatus gerecht geworden zu sein bzw. das Ziel (v.a. ‚Erfolg‘) erreicht zu haben. Das Angekommen-Sein ist daher auch als wichtige Übergangsphase zu einer verstärkt transnationalen Lebensweise zu sehen, die schließlich die dritte Phase bildet. Das transnationale Einleben beginnt jedoch nicht zwangsläufig nach einer gefühlten Etablierung in Deutschland. Die Phase des transnationalen Einlebens und die Integrationsphase sind für einige Aussiedler nicht unbedingt als aufeinanderfolgend zu sehen. Einzelne Aspekte des transnationalen Einlebens waren direkt zu Beginn wichtig und prägten den Alltag einiger Aussiedler, vor allem solcher, die als Pioniere nach Deutschland gekommen sind. Die Versorgung verbliebener Familienmitglieder in Polen gehörte bei ihnen unmittelbar nach der Migration zu den wichtigsten Aufgaben. Einige Aussiedler verschicken auch heute noch Pakete zu Familienmitgliedern oder Freunden. Des Weiteren setzten auch relativ früh die in Kapitel 8.2 diskutierten Transmobilitätsphasen der Jugendlichen ein, die infolge der Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld mehrmals im Jahr nach Polen/Oberschlesien gefahren sind und hier Anschluss an Netzwerke gefunden haben. Diese Transmobilitätsphase endete zwar mit dem Beginn neuer Lebensphasen (Beruf, Familiengründung), stellte jedoch den Grundstein für transkulturelle Lebenskonzepte. Für die meisten Aussiedler allerdings setzen Prozesse des transnationalen Einlebens zeitversetzt und mit einer zunehmenden Etablierung im sozialen Umfeld ein. Nach 1989 ergab sich durch neue Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten
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eine Reaktivierung von Netzwerken und z.T. neue berufliche, soziale oder sonstige Verflechtungen mit dem Herkunftskontext. Dabei zeigt sich, dass individuelle Lebensstrategien seitdem nicht mehr auf ein Ankommen im Zielkontext ausgelegt sind, sondern auf „pluri-lokale mentale Landkarten“ innerhalb der Transnationalen Sozialräume (Pries 2007: 127). Zurechtkommen und Orientierungsschwierigkeiten sind nun im gesamten transnationalen Aktionsraum relevant. In diesem Abschnitt soll daher aufgezeigt werden, wie das transnationale Einleben verstanden und an welchen Aspekten ein solches Verständnis von Einleben in den alltäglichen Lebenswelten der Aussiedler festgemacht werden kann. Entwicklungen bzw. Rahmenbedingungen einer zunehmend pluri-lokalen Ausrichtung von Lebenswelten, die das Empfinden von Prozessen des Einlebens auf verschiedene (räumliche) Kontexte ausgeweitet haben, können wie folgt differenziert werden: (1) Berufliche Verflechtungen: Im Kapitel zur Transmobilität (Kap. 8.3) wurden bereits Herr Mainz und Herr Hirsch vorgestellt, die durch ihre häufigen, beruflich bedingten Aufenthalte in Polen transnationale Strategien entwickelt haben. Vor allem Herr Hirsch hat hierbei transnationale Strategien entwickelt, die ihm das Pendeln erleichtern sollen. Hierzu gehört der Immobilien- und Pkw-Erwerb in Polen, aber auch die Entwicklung von besonderen Handlungsmustern, die das häufige Reisen erleichtern. Fahrten zum Flughafen werden effizient organisiert und die Aufenthalte mit dem Terminplan der ebenfalls zwischen Deutschland und Polen pendelnden Ehefrau abgestimmt. Durch die stärkere Einbindung in den polnischen/oberschlesischen Kontext entsteht hier zudem das Bedürfnis, im Alltag stärker an polnischen Informationsflüssen zu partizipieren, um Gesprächs- und Diskussionsgrundlagen für das Netzwerk im Herkunftskontext zu schaffen. Zudem ergibt sich durch beruflich bedingte transnationale Pfade die Notwendigkeit, sich mit polnischen Verwaltungen, Unternehmenskulturen und sonstigen Strukturen auseinanderzusetzen. (2) Reaktivierung und Ausbau von Kontakten/Netzwerken in Polen/Oberschlesien: Verschiedene Erfahrungen haben bei einigen Aussiedlern dazu geführt, dass soziale Beziehungen im Herkunftskontext ausgeweitet wurden. Zum einen machen sich hier die neuen Kommunikationsmöglichkeiten bemerkbar, die es ermöglichen Kontakte zu reaktivieren (z.B. über Schulklassenportale) und bestehende Kontakte zu intensivieren (z.B. durch Telefonflatrates, Skype etc.). Zum anderen schufen die neue ‚Reisefreiheit‘ nach 1989 und die neuen Transportmöglichkeiten (Billigairlines; Reisebusverbindungen) neue Rahmenbedingungen für die Mobilität. Die Anreize für eine stärkere Ausrichtung auf Netzwerke im Herkunftskontext ergeben sich zum einen durch die z.T. ernüchternden Erfahrungen innerhalb der Netzwerke im lokalen Wohnumfeld, zum anderen durch ein neues Interesse für ‚alte Ecken‘ und die Entwicklung ehemaliger Freunde und Bekannter.
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(3) Transkulturelle Aspekte des Alltags: Vor allem die Angebote der polnischen Community mit ihren ‚oberschlesischen Nischen‘, aber auch die ‚Entgrenzung‘ von Informationsflüssen durch das Internet sind wichtige Voraussetzungen für die Transkulturalität des Alltags. Die Community dient dabei zur Befriedigung einzelner Bedürfnisse wie der Sehnsucht nach polnischen Produkten und Gottesdiensten sowie des Interesses für herkunftsbezogene Themen. Die Erfahrungen in der Community können auch gleichzeitig Initialzündungen sein für eine Rückbesinnung in Richtung des Herkunftskontextes, indem sich über die Erfahrungen in der Community (Veranstaltungen, Gottesdienste) ein Interesse für die Situation im Herkunftsgebiet entwickelt. Wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Transkulturalität, insbesondere im Fall von (2) und (3), ist das individuelle Gefühl des AngekommenSeins bzw. ein etablierter Status. Hier ist entscheidend, dass durch die mehr oder weniger beendete Integrationsphase und das Gefühl des Angekommen-Seins die Anforderungen und Überforderungen der ersten Zeit abgelegt werden können, was nicht nur zeitliche Reserven freimacht, sondern auch eine gewisse Emotionalität im Hinblick auf den Herkunftskontext und die Prämigrationsphase entfachen lässt. Einst formulierte und befolgte Integrationsstrategien werden abgeschwächt oder vollständig aufgegeben. In den Interviews drückt sich dies in der kritischen Reflexion eigener vergangener Handlungsweisen aus, insbesondere im Bereich des Sprachgebrauchs. Einige Aussiedler bereuen, dass sie zu Beginn auf die Weitergabe der polnischen Sprache und des oberschlesischen Dialekts an Kinder und Enkelkinder verzichtet haben, um besser und schneller Deutsch lernen zu können. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Ausführungen von Ploch (2011), der von einem „neuen Stolz“ der oberschlesienstämmigen Aussiedler nach 1989 ausgeht. Tatsächlich wird die enge Fokussierung auf die deutsche Sprache unmittelbar nach der Aussiedlung z.T. kritisch reflektiert. Barbara Zając bemerkt, dass hierdurch die polnische Sprache innerhalb ihrer Familie verloren gegangen sei. Martin Kluczek kritisiert das Vermeiden der Weitergabe der polnischen Sprache bei seinem Bruder, denn für ihn ist dies eine vertane Chance für die Kinder: Barbara Zając: Wir haben mit unseren Kindern immer Deutsch gesprochen. Also zuhause. Weil ich wollte.. ich glaube vielleicht, das war falsch. Weil ich glaube, die polnische Sprache ist in unserer Familie ein bisschen verloren gegangen. Martin Kluczek: Solche Chancen mit der Sprache, und selbst mit einer.. auch wenn du das Hochpolnische nicht kannst, aber ich mein, jeder Pole, der sich nicht zu dumm anstellt, der versteht auch einen Oberschlesier. Wenn er mal einen Begriff nicht versteht, dann fragt er nach. Und das ist immer ein Vorteil. Ist eine andere Sprache. Das ist das, was ich bei Kleinkindern nicht verstehe. Da wird ein Kind geboren und es hört kein Wort mehr Polnisch. Weil muss ja Deutsch lernen. Sonst hat es einen Akzent. Das hat mein Bruder mit seiner Frau mit
362 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT dem Kleinen Jan, der wird jetzt zehn Jahre alt. Haben einfach versäumt, mit ihm Polnisch zu sprechen. Und irgendwann, wenn er dann sieben war und das angefangen wurde, ist es einfach zu spät.
Doch nicht nur in Bezug auf die Weitergabe der Sprache an Kinder, sondern auch den eigenen Sprachgebrauch betreffend, zeigt sich z.T. ein Wandel der Einstellungen, der mit dem Status des Etabliert-Seins zusammenhängt. Häufig stehen die Erzählungen zur heutigen Situation in einem Kontrast zu den Schilderungen der Anfangszeit. Während letztere durch Unsicherheit, Orientierungsschwierigkeiten und die Angst, den Erwartungen in Deutschland nicht gerecht werden zu können, geprägt sind, tauchen in den Ausführungen zur heutigen Situation Stichworte wie „Selbstbewusstsein“, „Erfolg“ und „Sicherheit“ auf. Thomas Krawczyk, der nach der Migration vor allem darauf bedacht war, sich im deutschen Kontext zu integrieren und „Deutscher“ zu werden, sieht sich heute als „unvollständigen Deutschen“ an. Er geht mit diesem Status jedoch selbstbewusst um, was daran liegt, dass er den Erfolg seines beruflichen Werdegangs und seines sonstigen Lebensweges bestätigt sieht. Er kam schließlich zu der Erkenntnis, dass ein erfolgreiches Leben für Aussiedler nicht unbedingt an das Erreichen eines Status des „vollständigen Deutschen“ gebunden ist, auch wenn er seine damalige Entscheidung und Integrationsstrategie („auf die andere Seite rüberwechseln“) für die Anfangszeit als wichtig und gewinnbringend ansieht: Thomas Krawczyk: Also man hat eine gewisse Sicherheit bekommen. Man weiß, dass das, was man macht, funktioniert. Dass man akzeptiert ist, dass dich keiner hier rausekelt oder sonst irgendwas. Wenn ich überlege, dass meine deutschen Kollegen mich mal fragen: „Sag mal, hab ich das richtig geschrieben?“ Dann find ich das total genial. Total klasse.
Ein neues Selbstbewusstsein und ein damit einhergehendes Selbstverständnis führen dazu, dass einst strikt festgelegte Regeln, die einem schnellen Erwerb der deutschen Sprache dienen sollten, abgelegt oder abgeschwächt werden; gerade dann, wenn deutlich wird, dass der Status eines „vollkommenen Deutschen“ nicht erreichbar ist und vor allem nicht zwingend notwendig ist. Dies wird bei Thomas Krawczyk gut deutlich, jedoch auch bei anderen Aussiedlern. Herr Hirsch sieht bei sich einen Wandel seiner Einstellung zur polnischen Sprache, die er nun – auch beruflich bedingt – öfter einsetzt. Während er früher versuchte, sich einen „westfälisch-rheinischen“ Tonfall anzugewöhnen, ist er heute stolz, wenn er auf seinen „oberschlesischen Akzent“ angesprochen wird. Martin Hirsch: Da waren wir vielleicht päpstlicher als der Papst. Also jetzt sehe ich das viel lockerer, nich? Aber damals, da haben wir mal so richtig, sag ich mal, fast wie getrimmt, jetzt wird nur noch Deutsch gesprochen und da kommt kein polnisches Wort dazwischen.. Aber
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jetzt sehe ich das viel lockerer und hab ich keine Probleme. Ich meine, gut, ich arbeite jetzt so nebenbei auch als Dolmetscher und Übersetzer. Das wird jetzt nicht das Ausschlaggebende sein, aber jetzt auch in diesem Bereich sehe ich da, wie ich schon sagte, ganz anders. Also nicht verbissen, würde ich vielleicht das nicht bezeichnen, was damals gewesen war, aber vielleicht so etwas eingeengter. Vielleicht war man zu jung, vielleicht hatte man ne falsche Vorstellung gehabt. [...] Früher versuchte ich, als ich in Dortmund studierte, mir so diesen westfälischen-rheinischen Tonfall anzueignen. Mittlerweile habe ich davon Abstand genommen und viele sagen: „Ja, Sie sprechen so richtig po ślońsku“, also auch im Polnischen und im Deutschen. Da bin ich stolz drauf. Warum soll ich mich verstellen? [...] Also da bin ich zu selbstbewusst, um mich zu verstellen. Und aus meiner Sicht, man macht sich lächerlich, wenn man versucht, was man nie schaffen würde, jetzt ein Rheinländer zu sein.
Der Wandel des empfundenen Status führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem Ausbau oder der Reaktivierung von Kontakten zu Polen/Oberschlesien. Ein solcher steht oftmals im Zusammenhang mit anderen Initialzündungen. Dies kann der erste Besuch im Herkunftskontext nach langer Zeit, eine eintretende Sehnsucht nach alten Kontakten – vor allem, wenn die Netzwerkentwicklung in Deutschland nicht wie gewünscht verlaufen ist – oder der Erwerb bzw. die Aufwertung bestehender Immobilien in Polen sein. Rita Peschke beispielsweise hat vor ein paar Jahren eingeschlafene Kontakte über Kommunikationsplattformen im Internet reaktiviert. Sie zeigt sich erfreut vom Kontakt mit ehemaligen Schulfreundinnen und plant nach Eintritt ins Rentenalter auch häufigere Fahrten nach Polen. Aus den virtuellen Kontakten möchte sie in Zukunft „richtige Kontakte“ machen: Rita Peschke: So viel Urlaub hat man nicht. Nach Polen eine Woche, eine Woche zu den Eltern. Naja und dann sind eigentlich alle Kontakte in Polen eingeschlafen. Also ich sag mal, ich beginne damit, die jetzt wieder aufzufrischen. Ich hab auf nasza klasa viele Bekannte gefunden aus der Schulzeit und auch aus der Grundschule. Die hab ich wieder kennengelernt. Also nicht kennengelernt, aber aufgefrischt. Weil jetzt kommt die Zeit, wo ich viel nach Polen fahren werde. Noch bisschen und dann bin ich in Rente. Und dann hab ich mehr Zeit. Und der Kontakt ist da. Und jetzt, wo ich öfter hinfahren werde, muss ich das auffrischen. (ü)
Auch bei Jan Wawrzyczek, der mit Blick auf seine Anfangszeit in Deutschland ausgiebig von seinem Integrationswillen und seiner Zugehörigkeit zu Deutschland berichtet, deutet mehrfach in den Erzählungen zu späteren Lebensphasen eine Abkehr von seinen Integrationsstrategien an. Er spricht dann auch wieder von seiner „Heimat Oberschlesien“, wo er seit Eintritt in den Ruhestand drei Monate im Jahr in seinem Sommerhaus verbringt: Jan Wawrzyczek: Wir haben in Polen ein Sommerhäuschen. Wir haben das noch vor der Ausreise gebaut. Ich werde das nicht verkaufen, weil das ist meine Heimat und ich muss da im-
364 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT mer hin. Man kann da schlafen. Und wir pflegen das Ganze. Dank des Geldes, das wir hier in Deutschland verdienen. Es passt alles. (ü)
Einige Aussiedler argumentieren hier auch mit altersbedingten Veränderungen. Mit zunehmendem Alter stellten sich nach Meinung einiger Aussiedler Sehnsucht und ein Interesse für die Situation im Herkunftsgebiet ein, wie Katharina Musiol erklärt: Katharina Musiol: Nach einer gewissen Zeit kommt das. Man sucht das. Man hat zwar hier alles aufgebaut, aber es ist halt immer noch anders. (ü)
Auch Frau Zając argumentiert in eine ähnliche Richtung. Sie fühlt sich nun mehr und mehr zu ihren „Wurzeln“ hinzugezogen. Nach vielen Jahren kam bei ihr der Wunsch auf, Weihnachten in Polen zu feiern. Zudem freut sie sich nun während ihrer Besuche im besonderen Maße über die aus ihrer Sicht positiven Veränderungen in ihrer Herkunftsstadt: Barbara Zając: Ich bin dieses Jahr siebenundfünfzig Jahre alt. Ich bin mit dreiunddreißig hierhin gekommen und vierundzwanzig lebe ich jetzt hier. Und wenn man.. ich merke selber, wenn ich älter bin, da komme ich immer zu meinen Wurzeln. Zurück. Also, meine Wurzeln sind da, aber ich lebe hier. […] Und ich freue mich, weil ich kenne achtziger Jahre. Ich weiß, wie das Leben dort war. Das war nicht einfach, und wenn ich jetzt.. ich war letztes Jahr in Polen. Und wenn ich sehe, wie es dort besser geht, ich freue mich. Ehrlich. Ich freue mich, weil ich weiß wie damals, wie ich als Kind war. Wie das Leben nicht einfach war, ne?
12.4 „I CH FINDE MICH JETZT DA NICHT MEHR ZURECHT !“ – ASPEKTE DES TRANSNATIONALEN E INLEBENS Grundsätzlich ist das transnationale Einleben gebunden an eine gewisse Rückbesinnung in Richtung des Herkunftskontextes, die zu einer Multikontextualität von alltäglichen Lebenswelten führt. Hieraus ergeben sich neue, grenzüberschreitende Prozesse des Einlebens im gesamten Transnationalen Sozialraum. Vertrautes und Fremdes können genauso wie das Eigene und Andere nun nicht mehr pauschal dem Herkunfts- und Ankunftskontext zugeordnet werden. Während die Aussiedler im Zuge ihrer Migration ihr vertrautes Umfeld, bestehend aus Kontakten, dem Arbeitsplatz, institutionellen Organisationsstrukturen und verschiedenen Freizeiträumen, verließen, um sich in einem neuen, fremden Kontext einzuleben, hat sich im Laufe der Zeit die Wahrnehmung dessen, was bekannt, eigen, vertraut oder heimisch ist, verändert. Mit einer Reaktivierung von Netzwerken, beruflichen Verpflichtungen im Herkunftskontext oder zunehmenden Urlauben in
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Polen kommt es daher nicht zwangsläufig zu einer Rückbesinnung oder Bewegung in Richtung der ‚alten, vertrauten Heimat‘. Viele Aussiedler haben über viele Jahre hinweg nur wenig Kontakt zum Herkunftskontext gehabt, bis sie das erste Mal wieder dort zu Besuch waren. Die meisten Aussiedler sind zudem erst nach dem Umbruch 1989 das erste Mal nach Polen gefahren. Es zeigt sich, dass im Fall der Aussiedler und dieser langfristigen Betrachtung eines Migrationsprozesses die Begrifflichkeiten ‚Herkunfts‘- und ‚Ankunftskontext‘ – so sehr ein Verzicht auf diese Differenzierung schwerfällt – z.T. nur noch bedingt zu gebrauchen sind, wenn es um den Prozess des langfristigen Einlebens geht. Dass das Einleben der Aussiedler zum einen nicht beendet ist und zum anderen nun nicht mehr auf das Ziel ‚Deutschland‘ beschränkt bleibt, wird an unterschiedlichen Aspekten deutlich. Es zeigt sich, dass Orientierungsschwierigkeiten, Fremdheitsgefühle und eine wahrgenommene eigene Andersartigkeit, die nach der Migration im Zielkontext bedeutsam waren und heute partiell immer noch spürbar sein können, nun zunehmend auch im Herkunftskontext relevant und damit zur kontextunabhängigen Erfahrung werden können. Dies liegt vor allem daran, dass das eigene (transkulturelle) Handeln und die eigenen Einstellungen, Erfahrungen und Werte in den meisten Fällen zunehmend vom Herkunftskontext abgegrenzt werden.2 Das eigene Lebenskonzept wird vielfach nicht mehr als komplementär zum wahrgenommenen, dominanten Lebenskonzept im Herkunftskontext gesehen. Während sich der Herkunftskontext ‚Oberschlesien‘ nach 1989 EU-ausgerichtet zeigt und den globalen Konsum- sowie Markttrends entsprechend entwickelt hat, hatten die Aussiedler mit ihren Erfahrungen aus der sozialistischen Ära ein ganz anderes Bild von Polen und Oberschlesien, welches bei späteren Besuchen häufig erschüttert wurde. Allein die politische Systemumstellung brachte ein verändertes Stadtbild und veränderte wahrnehmbare Handlungsmuster mit sich (Einzelhandel, Konsum, Sanierungen, neue städtebauliche Ideale). Die Aussiedler haben in dieser Zeit und insbesondere in der Integrationsphase unmittelbar nach der Aussiedlung ihre eigenen Erfahrungen gemacht, Netzwerke geknüpft, berufliche Aufstiege oder Abstiege hinter sich gebracht, eine sprachliche Umstellung vorgenommen und vor allem ihre bisherigen räumlichen Erfahrungskontexte erweitert (v.a. durch Urlaube). Orientierungsschwierigkeiten, Fremdheitsgefühle und das Gefühl der Andersartigkeit sind daher nun Phänomene, die immer stärker im vermeintlichen ‚vertrauten‘ Herkunftskontext bedeutsam werden. Aspekte des transnationalen Einlebens können nach sprachlichen, sozialen und räumlichen Aspekten differenziert werden:
2
Dies konnte auch bereits im Kapitel 11 zu Transidentitäten festgestellt werden, wo (ober-)schlesische Identitäten, aber auch polnisch-deutsche bzw. deutsch-polnische Identitäten zunehmend von Oberschlesien abgegrenzt werden.
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(1) Sprachliche Aspekte Mit Bezug zur Sprache gibt es verschiedene Aspekte, die zu Entfremdungserfahrungen im Herkunftskontext führen. Zum einen unterlag die polnische Sprache in Polen im Laufe der Zeit vielen Modifikationen und Neuerungen (Umgangsformen, neue Wörter insb. im technischen Bereich), die die Aussiedler häufig nicht mitbekommen haben. Für neue technische Produkte entstehen neue Wörter und umgangssprachliche Beschreibungen (z.B. Handy, Browser, Website), die zunächst unbekannt sind. Zum anderen verändert sich auch die Bedeutung des oberschlesischen Dialekts, wobei vor allem von einem Rückgang der Oberschlesisch sprechenden Bevölkerung ausgegangen wird (vgl. auch Chmiel 2001). In Kreisen (soziale Netzwerke oder Behörden etc.), wo noch vor der Aussiedlung im Dialekt gesprochen wurde, kann u.U. nun die polnische Sprache dominieren, was zu Umstellungen und auch Irritationen führt. Häufig fehlen den Aussiedlern, wie Herr Kudela beschreibt, einfach „die Worte“. Herr Kudela etwa sucht bei der Kommunikation mit seiner Lebensgefährtin, die in Polen lebt, recht häufig nach polnischen Worten, die ihm nicht bekannt oder entfallen sind: Paul Kudela: Manchmal ich weiß es wirklich nicht. Wenn ich mit meiner Freundin telefoniere und so was, die lacht sich manchmal kaputt, weil mir fehlen ja die Worte.
Häufig berichten die Aussiedler jedoch auch von der Erfahrung, dass sich auch ihre eigene polnische Sprache bzw. der eigene Dialekt durch die Einflüsse deutscher Grammatik und die Verwendung deutscher Wörter verändert haben. Dies führte bei einigen Aussiedlern während ihrer Besuche im Herkunftskontext zu irritierenden Erfahrungen, wie beispielsweise an den Erzählungen von Frau Zając deutlich wird. Frau Zając hat während ihrer Aufenthalte in Polen die Erfahrung einer Entlarvung als Nicht-Ansässige gemacht. In einem Geschäft wurde Frau Zając einmal gefragt, ob sie aus dem Ausland käme – und das obwohl sie polnisch sprach. Für Frau Zając war dies nicht nur ein Grund, die Entwicklung ihrer polnischen Sprache zu reflektieren, sondern auch ein Anzeichen für ihr zunehmendes Hin-und-Hergerissen-Sein. Denn in Deutschland fühlt sie sich zwar akzeptiert und „integriert“, wird jedoch ebenfalls aufgrund ihres Akzents mit der Entlarvung als nicht-deutschstämmig konfrontiert. Infolge dieser Erfahrung in Polen, die als Entwurzelung bezeichnet werden könnte, fühlt sie sich weder „hier“ noch „dort“ als Einheimische angesehen, wobei sie sich in Deutschland sehr wohl und durchaus zuhause fühlt. In jedem Fall sind Gefühle der Entlarvung als „Fremde“ bei Frau Zając nun auf ihren gesamten Transnationalen Sozialraum bezogen. Die Phase, in der sich Frau Zając während ihrer Besuche in Polen „heimisch“ und „zurück unter Gleichgesinnten“ fühlte, fand durch ihre zunehmende Transkulturalität im Alltag und ihre Einbettung im deutschen Kontext ein Ende:
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Barbara Zając: Akzent ist schon anders. Die [Deutschen] fragen mich: „Woher kommen Sie? Wo sind Sie geboren?' Und die merken.. die fragen auch. Also die.. einige verstehen auch nicht die ganzen Sachen. Unterschied zwischen Aussiedlern, Asylern und Ausländern. Die fragen mich, ob ich deutsche Papiere habe. Klar habe ich. Wenn ich nach Polen fahre, da die sagen auch wieder: „Sieht man, dass du nicht in Polen lebst, weil du sprichst anders“. Also ehrlich, ich weiß es nicht. Da hab ich gesagt: „Ich rede Polnisch. Normal“. „Nein, dein Akzent“. Sieht so aus, dass, wenn ich etwas Polnisch sage, dann ist das etwas anders. Ich höre das nicht. Aber das muss stimmen, weil viele sagen das.
(2) Soziale Aspekte Nicht nur die Veränderungen von sprachlichen Mustern führen zu Entfremdungen im Herkunftskontext. Auch Veränderungen von Netzwerkstrukturen können hierzu beitragen. Zu nennen sind hier die Auflösung von Netzwerken, beispielsweise durch den Tod von Familienmitgliedern, den Verlust von Freundschaften und insbesondere die Anonymisierung und den Bewohnerwechsel im ehemals vertrauten lokalen Wohnumfeld. Hinzu kommen aber auch ‚neue‘ Meinungs- und Interessensdifferenzen mit Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern. Hier ist vor allem auf die bereits thematisierte Wahrnehmung einer ‚Polonisierung‘ Oberschlesiens zu verweisen (vgl. Kap 11.2). Aussiedler berichten davon, wie sich ehemals homogene Netzwerke – in Bezug auf politische Einstellungen oder Werte – nun zunehmend ausdifferenzieren. Oftmals bleiben ‚nur‘ noch gemeinsame Erfahrungen aus der Zeit vor über zwanzig Jahren, während Interessen und Einstellungen (insbesondere gegenüber dem Verhältnis von Polen und Oberschlesien) divergieren. Dies wird oftmals an der Weitergabe des oberschlesischen Dialekts an Kinder und Enkel festgemacht. Einige Interviewpartner wundern sich darüber, wie Angehörige oder Freunde, die eigentlich ‚Oberschlesier‘ seien, mit ihren Kindern und Enkelkindern nur noch polnisch sprechen könnten. Für eine stärkere Ausrichtung auf Polen zeigen viele Aussiedler Unverständnis. Auf der anderen Seite wird jedoch auch deutlich, dass nicht wenige Aussiedler durch die Partizipation an polnischen/oberschlesischen Informationsflüssen auf dem Laufenden sind, was die Entwicklung im Herkunftskontext angeht. Die Partizipation an Informationsflüssen sehen die Aussiedler, die sich weiterhin stark an oberschlesischen/polnischen Netzwerkteilen ausgerichtet fühlen als Notwendigkeit – primär, um Gesprächsgrundlagen zu schaffen. Hier wird das regelmäßige Abrufen von Nachrichten rund um Wirtschaft, Sport und Politik, aber auch das ‚Am-BallBleiben‘, was die Entwicklung von Familienmitgliedern und Freunden angeht, zu einem wichtigen Aspekt des transnationalen Einlebens. Der Grund dafür ist, dass trotz aller Entfremdungserfahrungen Bekanntschaften in Oberschlesien/Polen nicht selten eine wichtige Rolle in persönlichen Netzwerken spielen und als bedeutender und näher gesehen werden als die ‚neuen‘ Kontakte in Deutschland. Polnische Nachrichten, Internetradio und polnische Zeitungen gehören zu den wichtigsten
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Quellen beim Auf-dem-Laufenden-Bleiben. Dabei bleiben die Informationen zur Gesamtentwicklung oftmals zweitrangig, als entscheidend werden vielmehr die Geschehnisse im lokalen Herkunftskontext gesehen: Hierzu gehören wirtschaftliche, infrastrukturelle Veränderungen, die Entwicklung von Familienangehörigen, aber auch das Abschneiden des lokalen Sportvereins. Herr Kudela beispielsweise reduziert sein Interesse zum Herkunftskontext auf seine Herkunftsstadt: Paul Kudela: Also das, was gezielt in diesem Ort, wo ich gewohnt habe, was da passiert ist, das interessiert mich schon. Oder Freunde und so weiter. Ist da was passiert? Sind da Leute gestorben, kenn ich die?
Hinzu kommt die Wahrnehmung einer Veränderung des eigenen Status im Herkunftskontext, der sich gleich zweifach ändern konnte. Wie bereits im Kapitel 8 verdeutlicht werden konnte, zog der neue Status als Aussiedler bzw. als ‚Angehöriger im Westen‘ zunächst neue, unbekannte Anforderungen nach sich. Viele Aussiedler wurden so zu ‚Versorgern‘ und wurden auch als solche gesehen. Zum Alltag gehörten und gehören vielfach Paketsendungen oder die finanzielle Unterstützung von Angehörigen. Die eigene Rolle im Netzwerk veränderte sich nach der Migration damit zwangsläufig. Während die meisten Aussiedler diese Rolle auch bewusst angenommen haben und dieser – z.T. auch mit Stolz und so gut es geht – gerecht werden wollen, führte dies z.B. bei Josef Kaluza zu Entfremdungserfahrungen. Josef Kaluza wurde während seiner Aufenthalte in Kattowitz sehr schnell mit seiner veränderten Rolle als Aussiedler konfrontiert. Er bemerkte dabei ein verändertes Muster sozialer Interaktion innerhalb seines Freundeskreises. Herr Kaluza fühlte sich in eine Position des Privilegierten gedrängt. Einige seiner Bekannten und Freunde versuchten ihm nach seiner Migration Geschäftsideen aufzudrängen, was Herrn Kaluza dazu veranlasste, einige Kontakte abzubrechen: Josef Kaluza: Ich hab da erst viel nachgedacht. So über Freunde. Bekannte. Aber dann.. weiß nicht. Ich bin da nach fünf Jahren zum ersten Mal hingefahren, da ist mir die Lust vergangen. Wenn ich da bei Freunden war, ich wollte da mit denen normal reden. Gut, es gab welche, da ging das. Oder ein Bier trinken. Aber es gab da welche, direkt ging es da um Interessen und Geschäfte. Schon wollten die Geschäfte machen. Ich sagte: „Was soll ich hier Geschäfte machen? Lass mich in Frieden“. (ü)
Ähnlich wie Herr Kaluza hat auch Paul Kudela z.T. Veränderungen in seinem Netzwerk feststellen müssen. Nach der Ausreise haben sich einige seiner Freunde von ihm distanziert, weil sie ihm die Ausreise verübelten:
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Paul Kudela: Die Kontakte und Verbindungen haben ja nachgelassen, ja. Also hab ich nur gemerkt, dass bestimmte Freunde, wo die gewusst haben, dass ich aus Deutschland komme und so weiter, die haben sich distanziert.
Mit der Zeit veränderten sich jedoch vielfach die sozio-ökonomischen Bedingungen im Herkunftskontext und damit auch die Situation der verbliebenen Familienmitglieder und Bekannten, was eine erneute Veränderung des eigenen Status mit sich brachte. Eine neue Erfahrung im Herkunftskontext ist nun das ‚Aufholen der Polen‘ in Bezug auf Einkommen, beruflichen Status und materielle Errungenschaften. Die eigene Rolle als ‚Versorger‘ löst sich vielfach auf, was für einige Aussiedler zu Irritationen führt. Letztlich war der ökonomische Vorteil in Deutschland über lange Zeit das Hauptargument für die Migration, was nun z.T. relativiert wird. In Polen/Oberschlesien beobachten die Aussiedler nun, wie Freunde und Familienmitglieder konsumieren, Immobilien erwerben, Reisen unternehmen und stolz sind auf ein verändertes Polen. ‚Daheimgebliebene‘ sind nun nicht mehr die, die vom Kommunismus benachteiligt sind und in einer ‚anderen Welt‘ leben, sondern sie sind nun EU-Mitglieder und ‚stolze Polen‘. Das eigene Auto wird nicht mehr bestaunt und die Produktpalette in den Geschäften Polens übertrifft das Angebot in deutschen Supermärkten. Die empfundene ‚Polonisierung‘ Oberschlesiens im Zusammenhang mit kapitalistischen Grundzügen von Wirtschaft und Gesellschaft führt somit zu einer weiteren Ebene von Entfremdung im Herkunftskontext. (3) Räumliche Aspekte Des Weiteren ergibt sich eine generelle steigende Orientierungslosigkeit im Zielkontext. Durch die rasante bauliche Veränderung der Städte in Polen werden diese zunehmend als anders und fremd wahrgenommen, während im deutschen Kontext das vertraute und bekannte Umfeld gewachsen ist. Bei Herrn Kaluza wird dies besonders gut deutlich. Er hat unmittelbar nach der Migration einen großen beruflichen Umbruch, aber auch eine große Veränderung bezogen auf sein gewohntes Wohnumfeld auf sich nehmen müssen. Zweimal hat Herr Kaluza eine Umschulung gemacht, ist schließlich vom Kfz-Mechaniker zum Kraftwerker umgeschult worden. In Oberschlesien wohnte er zudem in der „Großstadt Kattowitz“, während er nach der Aussiedlung in das dörflich geprägte Mettingen zu seinen Eltern, die bereits ausgesiedelt waren, gezogen ist. Heute sieht er sein Wohnumfeld als „ideal“ an und sieht sich in die lokale „Dorfgemeinschaft“ gut eingebunden. Er partizipiert an allen lokalen Festen und hat kürzlich ein Haus gebaut. Anpassungsschwierigkeiten beschreibt er nun für seine Aufenthalte in Kattowitz, das ihm zunehmend fremder wird: Josef Kaluza: Alte Ecken. So viele gibt´s ja gar nicht mehr. Da ist schon so viel umgebuddelt, umgegraben. Und letztes Mal als ich in Kattowitz war, da hab ich mich verfahren. Ich kenne
370 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT dat nicht mehr. Ne? Da ist.. gut vielleicht im Zentrum, in Kattowitz, dat ist ja noch so, ne? Obwohl auch schon viel Neues. Aber allgemein so um Kattowitz herum und da wo ich herkomme, Załeże und so. Da hat sich so viel geändert.
Auch Aspekte wie der Straßenverkehr können fremd wirken und zur Orientierungslosigkeit beitragen, wie bei Herrn Piontek deutlich wird. Autofahren sieht er in Polen als gefährlich an und sieht sich mit seinem Pkw mit deutschem Kennzeichen zudem als Opfer von besonders gefährlichen und aggressiven Fahrweisen: Peter Piontek: Das ist eine Unverschämtheit da auf den Straßen. Wenn die da schon einen Deutschen sehen, dann egal was die für eine Karre haben, die müssen dich überholen. Und zeigen Dir dann die Hand. (ü)
Insgesamt zeigt sich, dass sich einige Aussiedler in Folge einer zunehmenden Entfremdung im Herkunftskontext bewusst nach einem Oberschlesien/Polen, so wie es in Erinnerung geblieben ist, sehnen. Frau Walus (1960 geb. und 1989 migriert) beispielsweise vermisst das „alte Polen“ mit dem starken Zusammenhalt innerhalb der Netzwerke und den vertrauten städtebaulichen Strukturen. Gleichzeitig beschreibt sie ihre Nostalgie auch als „realitätsfern“, weil das „alte Polen“ kommunistisch war. Ihre Gefühlslage drückt sie über einen interessanten Vergleich mit ihrer Sehnsucht nach polnischem Essen aus: Immer wieder sucht sie in Polen Restaurants mit „traditionellen Gerichten“ auf und ist sich hinterher bewusst, dass die Sehnsucht nach dem Essen letztlich verschleiert, dass dieses gar nicht so gut schmeckt: Maria Walus: Und man will irgendwie das alte Polen zurück. Obwohl zu unserer Zeit war in Polen der Kommunismus. Das war ja auch nix. Aber was ich liebe, das ist das polnische Essen. Wenn ich da irgendwo bin mit meinem Mann, dann gehen wir immer einen Żurek essen oder Barszcz. Aber ich denke, auch hier stelle ich es mir leckerer vor als es dann tatsächlich ist. Es schmeckt nicht so, wie du es gern hättest. Weil man bestellt häufig und dann.. nein. Aber jedes Mal fahre ich hin und bestelle. Jedes Mal. Bin ich fasziniert davon. (ü)
Den Entfremdungserfahrungen im Herkunftskontext stehen damit immer wieder Sehnsucht und Neugierde entgegen, was insgesamt zu einer gewissen Ambivalenz bezüglich der ‚Besuchseuphorie‘ führt. Einige Aussiedler erzählen von ihren regelmäßigen Aufenthalten (ein bis zwei Mal pro Jahr) und auch von der Freude, immer wieder etwas vom Vergangenen erleben zu können. Sie betonen jedoch auch stets, wie sie sich nach einigen Tagen wieder nach ihrem Zuhause in Deutschland sehnen, was auch daran liegt, dass der Aufenthalt in Oberschlesien mit Umstellungen, Anpassung und Kompromissen verbunden ist: Berichtet wird von „Besuchsmarathons“, fehlendem Komfort während der Aufenthalte, aber auch von einer z.T. krampfhaften Anpassung an bestimmte, nun fremd gewordene, Gewohnheiten.
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Hierzu gehören insb. Essensgewohnheiten, aber auch Aspekte wie die Lautstärke der Unterhaltung bei Familientreffen. Ehemals Vertrautes wird zu Fremdem, weil sich das Eigene zunehmend an dem Wohnumfeld in Deutschland orientiert. Hinzu kommt, dass sich eben auch die Themen unterscheiden, mit denen sich die Aussiedler im Gegensatz zu ihren Kontakten in Polen beschäftigen. Herr Feldmann beschreibt solche Erfahrungen und sieht sich während seiner Besuche in Oberschlesien in einen kurzzeitigen Prozess des Einlebens eingebunden. Einleben ist nun nicht mehr die ‚Integration in Deutschland‘, sondern das ‚Anpassen im alten Kontext‘: Richard Feldmann: Und wenn ich da sieben Tage bin.. wir fahren meistens für eine Woche, dann so nach vier, fünf Tagen, da zieht mich wieder schon nachhause. Wobei man muss sagen, wenn ich da zwei, drei Tage bin, dann sehe ich Vieles nicht mehr. Man gewöhnt sich wieder an das. Dann stören mich die Sachen, die mich am ersten Tag stören, wenn ich komme, nicht mehr. Am dritten oder vierten Tag stören die mich nicht mehr. Ich hab mich dann wieder so etwas eingelebt. Aber wie gesagt, nach vier, fünf Tagen sag ich: „Sofie, fahren wir nicht morgen schon nachhause? Das reicht jetzt, jetzt haben wir schon alle besucht wieder.“ Dort so fahren für drei, vier Wochen oder so was. Ne!
Dennoch bleibt das oberschlesische Netzwerk, das sich für die Eheleute Feldmann aus Freunden in Oberschlesien und oberschlesienstämmigen Bekannten in verschiedenen Städten Deutschlands zusammensetzt, der wichtigste soziale Bezugspunkt, weil die Distanz zum deutschen Umfeld nach wie vor größer ist. So ergibt sich eine interessante Konstellation von räumlichen Bezugspunkten innerhalb des Transnationalen Sozialraums der Familie Feldmann. Der Herkunftskontext wird zwar immer fremder und macht ein Einleben während der Aufenthalte notwendig, trotzdem bleibt er als „Heimat“ und Wohnort der „besten Freunde“ wichtig, während das lokale Wohnumfeld in Deutschland als das „Zuhause“ interpretiert wird, wo Strukturen und Handlungsmuster vertraut sind, jedoch eine soziale Einbettung bis heute nicht wünschenswert verlaufen ist.
12.5 „D AS W ICHTIGSTE
IST …“ – D IE TRANSNATIONALEN E INLEBENS
H IERARCHIE
DES
Bei den meisten der interviewten Aussiedler wird deutlich, dass auch bei einer stärkeren Ausrichtung auf den Herkunftskontext die Aufgabe der ‚Integration‘ in Deutschland wichtig bleibt und nicht aus dem Fokus gerät, auch wenn von den anfänglich aufgestellten Integrationsstrategien Abstand genommen wird. Die Einbindung in den verschiedenen lokalen Kontexten wie Schule, Arbeitslatz oder Nachbarschaft wird als Voraussetzung für Zufriedenheit gesehen und hat dabei in der
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Regel Vorrang vor dem Aufrechterhalten der Beziehungen zu anderen Kontexten. Hier zeigen sich z.T. immer noch eine bewusste Reflexion des eigenen Status als Aussiedler und ein normatives Verständnis von ‚Integration‘. Die Einbindung in die polnische Community, die Beziehungen zu Oberschlesien/Polen, das Pflegen der Sprache/des Dialekts dürfen aus Sicht vieler Aussiedler nicht dazu führen, dass das eigene Handeln dem der vermeintlichen Ausländer gleicht, die sich nicht auf ihren neuen Lebensraum einließen. Der Status als Aussiedler wird vielfach weiterhin als gebunden an einen Integrationsauftrag gesehen. Herkunftskontextorientiertes Handeln und die ‚Integration‘ in Deutschland können daher parallel verlaufen und zu durchaus ambivalenten Lebenseinstellungen führen. Deutlich wird dies an den Ausführungen der Eheleute Piontek, die 1988 aus Kattowitz migriert sind. In der Reflexion der Anfangszeit in Deutschland, aber auch in der Beschreibung ihrer Sicht auf die Lebensstrategie in Deutschland fallen häufig Begriffe wie „Anpassung“, „Isolation“ und sogar „Segregation“. Vor allem Frau Piontek beschreibt, wie die Familie versucht habe, sich sofort in das deutsche Umfeld einzugliedern, um nicht als isoliert oder segregiert zu gelten. Polnische Veranstaltungen und den polnischsprachigen Gottesdienst mied die Familie daher weitestgehend. Dabei argumentiert Frau Piontek mit dem Wunsch nach Akzeptanz und Anerkennung durch die „Deutschen“: Gabi Piontek: Wir wollten hier direkt rein in das Umfeld. Damit die [Deutschen, Anm. M.O] nicht direkt sagen, wir würden uns segregieren. Deswegen machen wir absolut gar nichts. Dass wir da [im polnischen Laden, Anm. M.O] einkaufen, ist das Einzige. Aber keine polnischen Veranstaltungen. Peter Piontek: Da hat man Kontakte geknüpft. Man musste lernen. Und man musste sich in gewisser Weise anpassen. In der Arbeit zum Beispiel. Man spürt das schon mal raus. Was da so gedacht wird. Weißt du, was einer mal zu mir gesagt hat? In der Arbeit. Wir hatten da über Ozeane diskutiert. Und der sagte: „Peter, wer bist du eigentlich? Du weißt so viel. Wer bist du wirklich?“ Der hat das gespürt. Und wir waren dann ziemlich gut befreundet. Gabi Piontek: Wir waren viel im deutschen Umfeld verankert. [...] Viele Bekannte. Und wir gehen auch in die deutsche Kirche. Wir haben uns anfangs schon etwas gefürchtet, da sagte man, wenn man zu viel mit Polen zusammenhängen würde, wäre das nicht gut. Naja und so. Interviewer: Das heißt, Sie haben den Kontakt zu Deutschen gesucht? Gabi Piontek: Ja hier ja. Damit man nicht anders ist. (ü)
Die Ambivalenz in den Erzählungen der Eheleute Piontek ergibt sich nun durch den Vergleich verschiedener Textpassagen. Besonders bei Frau Piontek zeigt sich eine größere Sehnsucht nach ihrem lokalen Herkunftskontext, die sie mit regelmäßigen Besuchen in der „Heimat“ kompensiert. Frau Piontek offenbart zudem ganz deutlich, dass sie sich in ihrem deutschen Umfeld in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz nicht uneingeschränkt wohlfühlt, sondern immer noch Fremdheit empfindet.
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Sie verortet das Gefühl des Zuhause-Seins in ihrem Herkunftskontext in Polen, wobei sie ein Gefühl der Geborgenheit auch in ihrem Haus in Aachen spürt. Unwohl, „anders“ und letztlich fremd fühlt sich Frau Piontek im rein deutschen Umfeld: Gabi Piontek: Die Sehnsucht ist schon da. Muss ich so sagen. Die Sehnsucht ist immer noch da. Weil, wenn man dahin fährt, dann fühlt man sich immer noch so, wie früher zuhause. Weil das ist überall so. Auf den Straßen. Überall. Hier fühlen wir uns letztlich doch irgendwie anders. Wir haben hier unseren Bekanntenkreis und dort ist es immer sehr schön, aber wenn man so nur unter Deutschen ist, nur mit denen.. also zum Beispiel ich arbeite an einem Ort, wo es keine Leute aus Polen gibt. Und da freue ich mich immer, wenn ich nachhause gehe und wieder aufatmen kann. Interviewer: Weil Sie sich am Arbeitsplatz immer noch fremd fühlen? Gabi Piontek: Ein bisschen ja. Immer noch ja. (ü)
Hier wird deutlich, dass das tatsächliche Empfinden von Zugehörigkeit nicht unbedingt mit der Sichtweise auf eine angemessene Integrationsstrategie zusammenpasst. Die Anforderungen eines Deutsch-Seins werden von Frau Piontek ernst genommen und fließen in eine konkrete Lebensstrategie ein, sie passen jedoch nicht zu ihren tatsächlichen Bedürfnissen und Wünschen. Die Integrationsstrategie setzt für Frau Piontek ein Eintauchen in das deutsche Umfeld und den Verzicht auf eine zu starke Einbindung in die polnische Community voraus, während der Kontakt zu Polen und zum Herkunftsgebiet das Sich-Wohlfühlen und das Gefühl des ZuhauseSeins stärken. Auch Herr Piontek zeigt sich ambivalent. Er fühlt sich unter anderen „Schlesiern“ am wohlsten und fährt gerne nach Polen/Oberschlesien. Dennoch zeigt sich, dass der Ankunftskontext Deutschland für ihn die Rolle des vertrauten, sicheren und heimischen Kontextes eingenommen hat: Peter Piontek: Naja mit der Sehnsucht. Wenn ich dahin fahre, ja dann gerne. Aber eins kann ich sagen: Wenn ich zurück fahre und die Grenze passiere, dann.. also, glaub mir, ich fühle mich sicherer. Glaubst du mir das? Irgendwie so: „Ach endlich wieder auf der anderer Seite.“ In Deutschland, wieder auf den Straßen. (ü)
Die Notwendigkeit einer Anpassung und einer Ausrichtung auf den deutschen Lebenskontext wird somit trotz aller (neuer) Verbindungen zum Herkunftskontext immer wieder betont. Die Auffassung von ‚Integration‘ im Sinne des Eintauchens ins deutsche Umfeld steht damit in einer hierarchischen Beziehung zu polen- bzw. oberschlesienbezogenen Handlungskontexten und wird übergeordnet als Basis gesehen. Ein erfolgreiches Leben in Deutschland und Transkulturalität schließen sich für die Aussiedler zwar nicht aus, dennoch wird eine gewisse Einbindung im lokalen Kontext als Voraussetzung gesehen, wie es beispielsweise Frau Dubiel formuliert:
374 | ZWISCHEN LOKALER I NTEGRATION UND REGIONALER Z UGEHÖRIGKEIT Inge Dubiel: Man muss sich an die Mentalität hier anpassen. Ich konnte ja nicht sagen: „Hier, ich bin aus Polen, wir haben das so und so gemacht!“. Man kann aber auch nicht vergessen, von wo wir kamen. Aber wenn ich hier bin, dann muss man sich auch anpassen, die Mentalität annehmen, genauso wie meine Großeltern es nach dem Krieg in Polen gemacht haben. Und ich denke, man ist ein Lernmensch, Anpassungsmensch. Man passt sich überall an.
Frau Walus spricht in diesem Zusammenhang sogar von „Assimilierung“. Für sie schließt die Entscheidung, in Deutschland leben zu wollen eine Sehnsucht nach Polen und der Vergangenheit aus, wobei auch Frau Walus an anderer Stelle von Sehnsucht nach der vertrauten Heimat spricht und durch ihre Partizipation in der polnischen Community transkulturelle Phänomene in ihren Alltag integriert: Maria Walus: Wir sind mit der Einstellung rausgefahren, dass wir hier bleiben wollen. Nicht, dass es uns da schlecht ging, sondern wir wollten hierhin und hier bleiben. Und hier leben. Und für mich hieß das, sich zu assimilieren. Klar, nicht um jeden Preis. Und dass man sich da nicht von den Polen abkapseln muss. Aber nicht hierhin kommen und, weißt du, den ganzen Tag Polen und den Polen nachtrauern. (ü)
Interessanterweise argumentiert auch Frau Kwiatkowska, die zu Deutschland und den „Deutschen“ ein schwieriges Verhältnis hat und in ihrem Alltag stark auf ihr polnischsprachiges Netzwerk und Polen ausgerichtet ist, in ähnlicher Weise. „Anpassung“ und „Integration“ sieht sie ebenfalls als Notwendigkeit und Bedingung einer erfolgreichen Migration an: Maria Kwiatkowska: Wenn man in ein Land fährt, muss man es respektieren. Die Regeln. Nicht, dass ich aus Polen hier regieren werde. So wie die Polen das allgemein mögen. So wie das hier die ganzen Russen und Türken machen. Wenn ich das sehe. Mach deinen Kram. Mach deine Blutrache. Aber in deinem Land. Wenn du aber in einem anderen Land lebst, musst du dich an das Land anpassen. (ü)
12.6 Z WISCHENFAZIT Das Einleben der Aussiedler verlief in vielen Fällen und grob gegliedert in drei Phasen: Zunächst stand in der Integrationsphase der Aufbau des neuen Lebensmittelpunktes im Fokus. Wohnungssuche, Arbeitsmarkteingliederung, die schulische Eingliederung der Kinder und Spracherwerb standen hier im Mittelpunkt dieser Phase, die zudem geprägt war von verschiedenen Anlaufschwierigkeiten und Ängsten. Letztere wurden jedoch kompensiert durch die allgemein als „reibungslos“ empfundene Aufnahme durch „die Deutschen“ und erste materielle Errungenschaf-
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ten sowie die neue ‚Freiheit‘. Die Aussiedler entwickelten unabhängig von ihren Migrationsmotiven oder Einstellungen gegenüber Deutschland recht häufig Integrationsstrategien, die über die Begriffe „Anpassen“, „Assimilieren“ und „RüberWechseln“ ausgedrückt werden und vor allem zum Ziel hatten, eine erfolgreiche Eingliederung in das lokale Wohnumfeld zu ermöglichen. Erst die zweite Phase, die mit dem Gefühl des Angekommen-Seins einsetzte, lockerte die z.T. enge Fokussierung auf die ‚Integration‘ in Deutschland. Mit dem Erwerb von Immobilien, beruflichem Aufstieg, einem abgeschlossenen Studium oder der zunehmenden Akzeptanz im Wohnumfeld kam das Gefühl des Etabliert-Seins hinzu, was letztlich die dritte Phase, das transnationale Einleben ermöglichte. Aus einer etablierten Position heraus und mit einer Gewissheit, einen Lebensmittelpunkt aufgebaut zu haben, kam es z.T. zu Rückbesinnungen in Richtung des Herkunftskontextes. Bekanntschaften wurden reaktiviert, eine neue Sehnsucht nach „alten Ecken“ stellte sich ein und die Reisefreiheit nach 1989 begünstigte die Mobilität. In manchen Fällen führte jedoch auch die Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld in Deutschland zu einer stärkeren Ausrichtung auf Netzwerke im Herkunftskontext. Letzterer ist jedoch nach den Umbrüchen 1989 und der langen Integrationsphase der Aussiedler nur noch bedingt als ‚vertraute Heimat‘ zu sehen. Durch die parallele Einbettung im lokalen Wohnumfeld kam und kommt es im Herkunftskontext zu Entfremdungserfahrungen durch veränderte Sprachmuster, Anonymisierung in ehemals vertrauten Wohngegenden und zu rasanten städtebaulichen Veränderungen. Was vertraut oder fremd ist, wird nun neu ausgehandelt und kann nicht mehr in klassischen Kategorien gedacht werden. Das bedeutet, dass mit Blick auf das langfristige Einleben die strikte Aufteilung in Herkunfts- und Zielkontext abgelehnt werden muss. Es muss vielmehr von zwei gleichwertigen Kontexten oder besser noch von einem Aktionsraum, dem Transnationalen Sozialraum, gesprochen werden. Hier verschwimmen unterschiedliche lokale Aktionsräume und unterschiedliche nationale bzw. regionale Bezugsräume zu einem Gesamtkonstrukt. Für mehr oder weniger alle Aussiedler gilt, dass diese im lokalen Herkunftskontext noch recht häufig stark involviert sind. Hier bestehen Kontakte zu wichtigen Bezugspersonen und auch die Versorgerfunktion durch Waren- sowie Geldsendungen spielt eine Rolle. Gleichzeitig existieren im lokalen Wohnumfeld auch zahlreiche ‚Minikontexte‘, die eine Verbindung zum Herkunftskontext schaffen. Hierzu gehören die polnische Community und vor allem die Netzwerke, die sich häufig noch entlang gedachter Wir- und Sie-Gruppen aus dem Herkunftskontext entwickeln. Der Herkunftskontext wird daher nicht nur über den Kontakt zum Herkunftsort oder -land erlebbar, sondern wird vielmehr zur alltäglichen Erfahrung. Die Partizipation in der polnischen Community oder die Ausrichtung auf oberschlesische/polnische Netzwerke werden allerdings selten als Parallelwelten gesehen. Sie gelten als Teil eines transkulturellen Alltags, der sich aus der mehr oder weniger ausgeprägten Pflege herkunftsbezogener Praktiken und Werte und dem bewussten Eintauchen in das deutsche Umfeld zusammensetzt.
13. Schlussüberlegungen zu Transnationalen Sozialräumen oberschlesienstämmiger Aussiedler
Migrantische Lebenswelten verfügen oftmals über mehrere räumliche und soziale Bezugspunkte, die quer zu nationalen und regionalen Ordnungen der Erde verlaufen und einen eigenen, individuellen Handlungskontext bilden. Letzterer wird als Transnationaler Sozialraum bezeichnet. Er wird durch Mobilität, Emotionen, soziale Beziehungen und auch Zwänge konstruiert bzw. konstituiert und ist nie unabhängig vom Subjekt zu sehen, sondern entsteht erst durch dessen Handeln. Entscheidend sind die subjektiven Bedeutungszuweisungen, nach denen Räume geordnet, hierarchisiert und mit Bedeutung aufgeladen werden. Migranten definieren in ihren Lebenswelten oft Länder als ‚Heimatländer‘ und Städte als ‚Zuhause‘, Räume werden hier zu Trägern emotionaler Beziehungen und damit in ihrer Bedeutung konstruiert. Transnationale Sozialräume sind aus diesem Verständnis heraus, wie Räume allgemein, Dimensionen des Handelns und nicht umgekehrt ein Rahmen, in dem sich das Handeln abspielt (vgl. Werlen 2000: 309). Die Bedeutungszuweisungen von Migranten und ihr spezifischer räumlicher Aktionsradius orientieren sich dabei nicht zwangsläufig an Raumkonstrukten wie Regionen oder Nationalstaaten. Transnationale Sozialräume verlaufen quer zu raumordnenden Gliederungen der Erde und sind als frei von Beschränkungen zu verstehen, weil die eventuelle ‚Unerreichbarkeit‘ einzelner Orte durch physische Grenzen oder politische Barrieren nur die physische Mobilität und u.U. die Kommunikation (Barrieren im Internet) einschränken kann, nicht jedoch die Bedeutungsaufladung dieser Orte als ‚Heimat‘ oder ‚Zuhause‘ an sich. Ein Transnationaler Sozialraum wird somit weder lediglich durch Orte geprägt, die physisch erreichbar sind, noch primär durch physische Mobilität konstituiert. Transnationalität wird im Rahmen dieser Arbeit deshalb als Phänomen verstanden, das mehr umfasst als eine pendelartige Bewegung zwischen zwei Ländern oder Orten. Das Entstehen Transnationaler Sozialräume ist vielmehr gebunden an Emotionen und soziale Beziehungen und damit ein dynamisches, mentales Konstrukt, das nie vollständig ausdrückbar und immer temporärer Art ist. Die
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Idee, zwei oder drei Flächenstaaten zu einem Transnationalen Raum zu addieren und damit die Lebenswelt eines Migranten darzustellen, greift daher zu kurz. Es müssen – in Anlehnung an das Konzept der Translokalität – stärker lokale Prozesse berücksichtigt werden. Transmigranten und ihre Transnationalen Sozialräume sind, wie Pries (2010) betont, nicht deterritorialisiert, sondern pluri-lokal verankert. Jeder Transnationale Sozialraum braucht lokale Ankerpunkte. Diese Ankerpunkte gilt es, in ihrer Bedeutung zu rekonstruieren und untereinander in Beziehung zu setzen. In dieser Arbeit wurden die alltäglichen Lebenswelten von oberschlesienstämmigen Aussiedlern betrachtet und mit dem Konzept der Transnationalen Sozialräume in Zusammenhang gebracht. Die Bedeutung von Transnationalität für die Lebenswelten der Aussiedler wurde auf fünf Betrachtungsebenen untersucht und orientierte sich an folgenden Fragen: •
•
•
In welchen Bereichen können die Lebenswelten der Aussiedler als transnational bezeichnet werden und welche Prozesse und Phänomene sind hier maßgebend? Wie haben sich die Lebenswelten der Aussiedler langfristig entwickelt und wie wurden sie durch politische Ereignisse (Wende 1989, EU-Beitritt Polens) und technologische Fortschritte (IuK, Transportentwicklung) beeinflusst? Welche Bedeutung hat die physische Mobilität für die Konstitution transnationaler Lebenswelten?
Die erste Analyseebene beschäftigt sich mit Mobilität: Bei den Mobilitätsmustern der Aussiedler zeigt sich, dass Transmobilität als pendelartige, grenzüberschreitende Bewegung zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext nur selten auftritt. Allerdings ist unklar, ab welchem Mobilitätsumfang überhaupt von Transmobilität gesprochen werden kann (vgl. Mahler 1998). Sind Aussiedler, die einmal im Jahr nach Oberschlesien fahren, transmobil? Entscheidend ist nicht unbedingt die Reisehäufigkeit, sondern die Frage, welche Rolle Mobilität für die Konstitution und Konstruktion von Transnationalen Sozialräumen spielt und welche Bedeutung das VorOrt-Sein im Herkunftskontext für die alltäglichen Lebenswelten hat. Lediglich in wenigen Fällen, wenn beruflich bedingte Beziehungen zum Herkunftskontext bestehen, entstehen pendelartige Mobilitätsmuster. Das Hin-und-HerFahren wird hier zu einem wichtigen Bestandteil des transnationalen Lebenskonzepts und das Vor-Ort-Sein im Herkunftskontext ist wesentlich für die Wahrnehmung des eigenen Hin-und-Hergerissen-Seins. Leitete man transnationale Lebenswelten exklusiv von einem transmobilen Alltag ab, wäre Transnationalität daher ein Randphänomen unter den oberschlesienstämmigen Aussiedlern. Das dominante Mobilitätsmuster basiert auf mehr oder weniger regelmäßigen Besuchen, die eng an soziale Beziehungen, familiäre Ereignisse und das Aufsuchen ‚alter Ecken‘ gebun-
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den sind. Mobilität ist allerdings auch nicht uneingeschränkt frei von äußeren Zwängen. Sie ist abhängig von der physischen Verfassung, dem zur Verfügung stehenden Kapital und dem Zeitbudget der Aussiedler. Nicht selten wird von den Aussiedlern darauf verwiesen, dass die wenigen Urlaubstage am liebsten an warmen Mittelmeerorten verbracht werden und für die ‚Heimat‘ daher nicht immer Zeit übrig bleibt, auch wenn ein häufigerer Besuch gewünscht ist. Ausbleibende Mobilität ist damit nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung gegen Besuche des Herkunftskontextes, sondern für die Mobilität in andere Kontexte (z.B. Urlaube in Südeuropa). Allerdings bleibt auch festzuhalten: Mobilität ist ein wichtiger Faktor im Aufbau Transnationaler Sozialräume und transkultureller Lebenswelten. Besonders deutlich wurde dies im Fall der jugendlichen Aussiedler von damals, die nach ihrer Ankunft im Zielkontext aufgrund einer Entfremdung im schulischen Umfeld in Transmobilitätsphasen getreten sind und während häufiger und regelmäßiger Aufenthalte in Polen/Oberschlesien ein transnationales Netzwerk aufgebaut haben. Erst die Mobilität ermöglichte das Eintauchen in den Herkunftskontext, der mit Ausweitung des Netzwerks und der zunehmenden Favorisierung dortiger sozialer Strukturen immer bedeutender wurde. Mit dem Eintritt in neue Lebensphasen (Studium, Beruf, Familienleben) wurde die Transmobilitätsphase beendet, sie hinterließ jedoch das Bedürfnis, den Alltag in Deutschland an dem Herkunftskontext auszurichten bzw. transkulturell zu gestalten. Betroffene Aussiedler sprechen hier vom Pflegen des grenzüberschreitenden Netzwerks und der Traditionen, aber auch von regelmäßigen Besuchen. Doch nicht nur für damalige Jugendliche und ihre Transmobilitätsphasen gilt: Mobilität, z.B. in Form des ersten Besuchs im Herkunftskontext nach vielen Jahren, ist häufig die Initialzündung für die Entwicklung transnationaler Lebensräume, indem Emotionen im Zusammenhang mit der Prä-Migrationszeit und das Interesse für die aktuelle Entwicklung im Herkunftskontext reaktiviert bzw. geweckt werden. Es zeigt sich insgesamt, dass die Betrachtung von Mobilitätsbeziehungen nicht ausreicht, um die Bedeutung von Transnationalität für die Alltagswelten der Aussiedler umfassend zu verstehen. Zum einen ist Mobilität nicht immer ohne weiteres möglich. Zum anderen stellt Mobilität nur einen Teilaspekt transnationaler Lebenswelten dar. Der Herkunftskontext hat für viele Aussiedler auch unabhängig von ihrer Mobilität eine alltagsprägende Bedeutung und zeigt sich im alltäglichen Handeln und insbesondere in den Netzwerkstrukturen sowie Identitätskonstrukten. Zunächst wird dies anhand der zweiten Untersuchungsebene der transnationalen Netzwerkstrukturen verdeutlicht. Hier zeigt sich, dass der Herkunftskontext auf zweifache Weise ganz entscheidend ist für die Entwicklung von Netzwerken. Zum einen geschieht dies aus einem ‚klassischen‘ Betrachtungswinkel: Sehr viele Aussiedlernetzwerke sind geprägt durch eine hohe Anzahl von Kontakten im Herkunftskontext, die zudem nicht selten zu den ‚wichtigsten‘ sozialen Beziehungen gezählt werden. Hierbei handelt es sich um Familienmitglieder oder Freunde, zu
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denen bereits vor der Migration enge Beziehungen bestanden. Es kommt jedoch auch zur Reaktivierung ‚eingeschlafener‘ Kontakte im Herkunftskontext, vor allem durch neuere Formen sozialer Interaktion. Rezepte und Zeitungsartikel werden per E-Mail versendet, Renovierungen im eigenen Haus per Webcam und Skype vorgeführt und Fotos bei Facebook ausgetauscht. Grenzüberschreitende soziale Beziehungen sind damit ein wichtiger Aspekt in der Konstitution Transnationaler Sozialräume. Zum anderen zeigt sich jedoch auch im lokalen Wohnumfeld selbst ein weiterer transnationaler Aspekt in der Netzwerkentwicklung. Man könnte an dieser Stelle von transnationalen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozessen im Hinblick auf die Netzwerkentwicklung am Wohnort in Deutschland sprechen. Die Erfahrungen, die vor der Migration im Herkunftskontext zum Verständnis von sozialer Interaktion und Differenzierung beitrugen und auch weiterhin beitragen, beeinflussen auch weiterhin maßgeblich die Entwicklung von Netzwerkstrategien. Aufbauend auf der Vorstellung, wie Freundschaften, Bekanntenkreise und familiäre Netze ‚idealerweise‘ im Herkunftskontext aussahen und daher prinzipiell auszusehen haben, kommt es zu wiederkehrenden Mustern von Inklusion und Exklusion im sozialen Umfeld in Deutschland: Solche Muster drücken sich bei einigen Aussiedlern beispielsweise im Aufleben des oberschlesisch-polnischen Konflikts (Abgrenzung zu ‚Polen‘/‚Gorolen‘1) aus. Dabei kommt es zu der räumlichen Übertragung des innerpolnischen Konflikts auf die neue Situation im Wohnumfeld in Deutschland. Einige Aussiedler betonen, dass sie nach der Migration und auch heute noch, aufbauend auf ihren schlechten Erfahrungen in Oberschlesien, Kontakte zu den ‚Gorolen‘, sowohl in Polen als auch in ihrem Wohnumfeld in Deutschland, meiden. Sie argumentieren primär mit Fremdheit und einem andauernden Mangel an Vertrauen, der ein Aufbrechen des Konflikts auch vor dem Hintergrund, dass sowohl die ‚Oberschlesier‘ als auch die ‚Polen‘ in Deutschland vor ähnlichen Problemen des Einlebens stehen, verhindern würde. Spontane Kontakte auf der Straße oder neue Bekanntschaften werden entlang der Differenzierung in ‚Einer von uns‘ (= aus Oberschlesien) und ‚Die Polen‘ spontan mit Sympathie oder Antipathie belegt. Der Herkunftskontext und hier konstruierte soziale Grenzen steuern damit die Netzwerkentwicklung im gesamten transnationalen Aktionsraum. Die Reflexion der gesellschaftlichen Ordnungen und Strukturen in Polen/Oberschlesien führt weiterhin auch zur deutlich werdenden Abgrenzung zum deutschen Umfeld: Die favorisierten und als ‚normal‘ empfundenen Normen und Werte in Bezug auf den Aspekt der sozialen Kohäsion und Interaktion in Polen bzw. Oberschlesien werden häufig als konträr zum sozialen Miteinander im deutschen Kontext gesehen. Die Art des ‚deutschen‘ Zusammenlebens wird aus der Per-
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Abwertende Bezeichnung für Polen bzw. Nicht-Oberschlesier.
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spektive der Aussiedler häufig als ‚fremd‘ und ‚anders‘ (Differenzierung), aber vor allem als ‚schlechter‘ (Hierarchisierung) gesehen (vgl. Lossau 2014). Die wahrgenommene Andersartigkeit führt bisweilen zu Barrieren in der Netzwerkentwicklung und letztlich dazu, dass in den Netzwerken der Aussiedler mit wenigen Ausnahmen kaum Deutsche oder Zugehörige anderer Nationalitäten zu den engeren Freunden bzw. wichtigsten Bezugspersonen gehören. Es werden ‚kulturelle‘ Distanzen und Barrieren konstruiert, weshalb auch eine Parallelität von Freundes- und Bekanntenkreisen deutlich wird, wobei in polnische/oberschlesische und deutsche Netzwerkteile differenziert wird. Der Herkunftskontext und hier erlebte Muster sozialer Interaktion, d.h. das frühere bzw. aktuelle Zusammenleben in Polen/Oberschlesien – wie es von den Aussiedlern wahrgenommen und rekonstruiert wird – ist damit die Grundlage für die Entwicklung sowie Strukturierung der persönlichen Netzwerke. Transkulturalität, aus der Sicht der Aussiedler häufig als Hin-und-HergerissenSein verstanden und ausgedrückt, zeigt sich besonders gut auf der Untersuchungsebene der materiellen Infrastruktur für die polnischsprachige Bevölkerung (inkl. ihrer oberschlesischen Nischen) in Deutschland. Die materielle Infrastruktur stellt die Grundlage für die polnische Community dar, die ein stetig wachsendes Angebot an Dienstleistungen und sozialen Anknüpfungsmöglichkeiten bietet und damit auf den Herkunftskontext ausgerichtete Lebenskonzepte erleichtert. Das Ausmaß der Partizipation in der polnischen Community durch die oberschlesienstämmigen Aussiedler reicht von einer starken Einbringung bis hin zur völligen Abgrenzung. Die polnische Community ist in jedem Fall nicht uneingeschränkt als „WohlfühlCommunity“ im Sinne eines Auffangbeckens für ankommende Aussiedler zu sehen (vgl. Pfaff-Czarnecka 2008). Sie hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt und wird nicht immer positiv gesehen. Ein Teil der Aussiedler grenzt sich bewusst zur polnischen Community ab, weil die Partizipation in ihr mit Blick auf das Leben in Deutschland als ‚integrationshemmend‘ empfunden wird. Dennoch sind viele Bereiche der polnischen Community, wie etwa die polnischen Supermärkte, das polnischsprachige Kirchenumfeld oder polnische/ oberschlesische Medien wichtige Plattformen für die Transkulturalität im Alltag. Eine einseitige Ausrichtung auf die polnische Community ist selten. Vielmehr dient diese zur Befriedigung einzelner Bedürfnisse, wie der Sehnsucht nach oberschlesischen/polnischen Produkten und polnischen Gottesdiensten, oder dem Interesse für herkunftsbezogene Themen. Sie ist daher in einen multikontextualen Transnationalen Sozialraum eingebettet, zu dem eben auch deutsche und andere Komponenten gehören. Sie fördert Transkulturalität im Alltag, weil sie den Kontakt zu Phänomenen, die als Charakteristik des Herkunftskontextes gesehen werden, vereinfacht. Die Geschehnisse rund um den ehemaligen Fußballverein oder die Herkunftsstadt können schnell und einfach im Internet verfolgt werden und polnische Waren sind in nahezu jeder Stadt verfügbar. Es geht dabei jedoch nicht nur um die Verfügbarkeit von Produkten oder Dienstleistungen, sondern um das Gefühl
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der Partizipation an sich. Der Kauf bestimmter Produkte, die Teilnahme an Gottesdiensten oder das Verfolgen polnischer Nachrichten werden häufig als ein Erleben eines Ausschnitts von ‚Heimat‘ wahrgenommen, weil dieses Handeln mit Emotionen aufgeladen und mit dem Herkunftskontext verbunden wird. Das gemeinsame Feiern eines Gottesdienstes oder die Mitgliedschaft in Vereinen werden mit einem Gefühl der Geborgenheit und mit dem Kontakt zu etwas ‚Vertrautem‘ gleichgesetzt. Die polnische Community wird dabei als ein ‚Brückenschlag‘ zum Herkunftskontext wahrgenommen, der den Stellenwert von Mobilität zwar nicht herabsetzt, jedoch das Bedürfnis nach Mobilität kompensieren kann. Die polnische Community kann hierbei nicht als kleinräumige Kopie der Herkunftsgesellschaft verstanden werden. Sie folgt ihrer eigenen Logik und produziert ganz unterschiedliche Bilder von Polen und insbesondere Oberschlesien. Die Entwicklung von Transkulturalität in den Alltagswelten der Aussiedler ist, ähnlich wie die Entwicklung der polnischen Community, in vielen Fällen ein langfristiger Prozess. Dies konnte auf der Untersuchungsebene des transnationalen Einlebens aufgezeigt werden. Das Einleben der Aussiedler lässt sich in drei Phasen aufteilen, wobei zunächst der Aufbau des neuen Lebensmittelpunkts im Fokus stand. Der Alltag und in ihm entwickelte Strategien waren zunächst ausgerichtet auf die Wohnungssuche, Arbeitsmarkteingliederung, die schulische Eingliederung der Kinder und den Spracherwerb – also auf die strukturelle Eingliederung im Zielkontext. Die Aussiedler beschreiben ihr damaliges Handeln häufig als „Anpassen“, bzw. „auf die andere Seite wechseln“. Transkulturalität spielte auch in dieser Phase eine Rolle, allerdings zeigt sich ganz deutlich, dass im Hinblick auf einen wahrgenommenen ‚Integrationsauftrag‘ z.T. bewusst auf die polnische Sprache bzw. den oberschlesischen Dialekt oder eine zu starke Orientierung an dem Herkunftskontext verzichtet wurde. Die Mobilität in den Herkunftskontext war ohnehin eingeschränkt und der Kommunikations- sowie Informationsfluss war vor der verstärkten Nutzung des Internets schwach. Erst die zweite Phase, die mit dem Gefühl des Angekommen-Seins einsetzte, lockerte die z.T. enge Fokussierung auf die ‚Integration‘ in Deutschland. Mit dem Erwerb von Immobilien oder dem beruflichen Aufstieg kam das Gefühl des Etabliert-Seins hinzu, was letztlich die dritte Phase, das transnationale Einleben ermöglichte. Aus einer etablierten Position heraus, die je nach Biographie und individuellen Erfahrungen nach einigen Monaten oder erst nach vielen Jahren erreicht werden konnte, ergab sich die Gewissheit, einen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgebaut zu haben. Wichtig war hierfür das Bewusstsein, den selbst formulierten ‚Integrationsauftrag‘ erfüllt zu haben. Es kam in diesem Zusammenhang auch zu Rückbesinnungen in Richtung des Herkunftskontextes. Bekanntschaften wurden reaktiviert und eine neue Sehnsucht nach ‚alten Ecken‘ stellte sich ein. Sicherlich spielten hier die Reisefreiheit nach 1989 und neue Transportmöglichkeiten wichtige Rollen, weil sie die Möglichkeiten zur Mobilität maßgeblich vereinfachten; die Rückbesinnung
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in Richtung des Herkunftskontextes war jedoch eine bewusste Entscheidung, die viel mit der Wahrnehmung der eigenen Lebensumstände zu tun hatte. Die ‚Integrationsaufträge‘ wurden durch die Wahrnehmung eines strukturellen Einlebens als erfüllt gesehen, was eine neue Emotionalität in Bezug auf den Herkunftskontext zuließ. In manchen Fällen führte auch die langfristige Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld in Deutschland (Abgrenzung zu ‚den Deutschen‘) zu einer stärkeren Ausrichtung auf Netzwerke im Herkunftskontext. Die Reaktivierung bzw. Intensivierung von Beziehungen im Herkunftskontext mit einem mehr oder weniger längeren zeitlichen Abstand zum Migrationszeitpunkt führte jedoch nicht zu einer Rückbesinnung auf eine ‚vertraute Heimat‘. Der Herkunftskontext hat sich verändert, genauso wie auch die Aussiedler selbst durch ihre Erfahrungen in Deutschland Veränderungen in Handeln, Einstellungen und Wahrnehmungen erfahren haben. Durch die Einbettung im lokalen Wohnumfeld in Deutschland kam und kommt es im Herkunftskontext zu Entfremdungserfahrungen durch veränderte Sprachmuster, die Anonymisierung in ehemals vertrauten Wohngegenden und die rasanten städtebaulichen Veränderungen. Was vertraut oder fremd ist, wird nun neu ausgehandelt und kann nicht mehr in klassischen Kategorien gedacht werden. Das bedeutet, dass mit Blick auf das langfristige Einleben die strikte Aufteilung in Herkunfts- und Zielkontext abgelehnt werden muss. Es muss vielmehr von zwei gleichwertigen Kontexten oder besser noch von einem Aktionsraum, dem Transnationalen Sozialraum, gesprochen werden. Hier verschwimmen unterschiedliche lokale Aktionsräume und unterschiedliche nationale bzw. regionale identitätsstiftende Bezugsräume zu einem Gesamtkonstrukt. Welche Folgen die Erfahrung von Transkulturalität für die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstrukte hat, wurde auf der Untersuchungsebene der transnationalen Identitäten beleuchtet. Spätestens hier wird deutlich, dass der Herkunftskontext ‚Polen‘ oder ‚Oberschlesien‘ als Ergebnis unterschiedlicher Raumkonstruktionen eine wichtige Rolle für die eigene Positionierung der Aussiedler spielen. Die Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte sind deutlich geprägt durch Hybridität, was mit dem Gefühl des Hin-und-Hergerissen-Seins zusammenhängt. Zum einen spielt der Herkunftskontext gerade durch die Einbettung in transnationale Netzwerke eine große Rolle, zum anderen entstehen Transidentitäten durch die fortwährende Erfahrung von Andersartigkeit im Zielkontext. Die Integration sehen die meisten Aussiedler als erfolgreich an und sind zudem sowohl mit der Migrationsentscheidung als auch mit dem Leben in Deutschland sehr zufrieden. Kontakte zu Deutschen werden als unproblematisch und notwendig gesehen, jedoch werden ‚die Deutschen‘ aufgrund von eher ernüchternden Erfahrungen im Kontaktaufbau nach wie vor als Sie-Gruppe konstruiert. Argumentiert wird mit „kulturellen Differenzen“, die z.T. als unüberwindbar gesehen werden. Aufgrund dieser Erfahrungen sind Transidentitäten nicht nur beschränkt auf Aussiedler, die bereits im Herkunftskontext hybride Identitäts- und Zugehörigkeitsmuster aufwiesen. Auch Aussiedler, die
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sich als „Deutsche“ fühlten und die Zugehörigkeit zu den Deutschen als Migrationsgrund ansahen, zeigen sich durch die Entfremdungserfahrung in Deutschland nun hybrid. Sehr häufig findet die eigene Positionierung über räumliche Bezüge und die Konstruktion von raumgebundenen imagined communities bzw. Wir-Gruppen statt. Durch eine Typisierung konnten fünf verschiedene Wir-Gruppen differenziert werden, wobei sich zwei der fünf Typen auf (Ober-)Schlesien2 und die anderen drei auf nationale Bezugskategorien beziehen. Bei den Wir-Gruppen mit (Ober-)Schlesienbezug kann grob differenziert werden in eine Wir-Gruppe mit Bezug zum traditionellen (Ober-)Schlesien, in der die Verbindung zu Dialekt, Traditionen und der Region als räumlichem Ankerpunkt betont wird, und eine Wir-Gruppe, die sich auf eine neue, ‚moderne‘ Form des (Ober-)Schlesier-Seins stützt. Hier wird die Abkehr von traditionellen Handlungsweisen betont und für ein stärker transkulturelles Verständnis vom (Ober-)Schlesier-Sein plädiert. An dieser Stelle wird besonders gut deutlich, dass nicht von den (Ober-)Schlesiern gesprochen werden kann. Vielmehr existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Abgrenzungslinien und Wir- bzw. SieKonstrukten im Hinblick auf (Ober-)Schlesien. Die dritte Wir-Gruppe der ‚Polen‘ ist an die Polen weltweit als transnationale imagined community gebunden. Dass sie identifiziert werden konnte, zeigt die Defizite der bisherigen Kategorisierungen oberschlesienstämmiger Aussiedler auf: Wurde dieser Gruppe in der frühen Aussiedlerforschung stets die Zugehörigkeit zum polnischen Staat abgesprochen, zeigt sich hier, dass unter den Aussiedlern aus Oberschlesien auch ein Patriotismus gegenüber Polen bei gleichzeitiger Abgrenzung von Oberschlesien möglich ist. Anders sieht es bei deutsch-polnischen bzw. polnisch-deutschen Transidentitäten aus, aus denen die Wir-Gruppe der ‚Deutsch-Polen bzw. Polendeutschen‘ hervorgeht: In dieser Wir-Gruppe wird das Gefühl des Hin-und-Hergerissen-Seins bzw. die Zwischenstellung zwischen Herkunfts- und Zielland betont. Die letzte Wir-Gruppe der ‚Deutschen‘ bezieht sich wiederum auf Aussiedler mit einem stark ausgeprägten Zugehörigkeitsgefühl zu den ‚Deutschen‘, das allerdings aufgrund von anhaltenden Fremdheitserfahrungen und ernüchternden Bemühungen im lokalen Netzwerkaufbau nicht selten relativiert wird („Wir sind fremde Deutsche“). Welche Folgerungen lassen sich nun aus den Betrachtungen der transnationalen Lebenswelten der Aussiedler im Hinblick auf Transnationale Sozialräume im Allgemeinen und die folgenden Fragen im Konkreten ziehen?
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Die Aussiedler übersetzen „Śląsk“ (poln.= Schlesien) mal mit „Schlesien“ und mal mit „Oberschlesien“, häufig jedoch bleibt eine Übersetzung aus. Die Schreibweise ‚(Ober-)Schlesien‘ und ‚(ober-)schlesisch‘ dient als begrifflicher Konsens für alle regionsbezogenen Positionierungen und Selbstzuschreibungen.
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Wie können Transnationale Sozialräume im Fall der Aussiedler konzeptualisiert werden? Welche Raumbezüge bestehen in den transnationalen Lebenswelten der Aussiedler? Welche Bedeutung hat Oberschlesien für die Aussiedler und wie wird die regionale Herkunftskategorie für das eigene Selbstverständnis und die eigene Positionierung instrumentalisiert?
Zum einen ist jeder Transnationale Sozialraum ein individuelles migrantisches Konstrukt, das durch subjektive Bedeutungszuweisungen stets eine andere Struktur annimmt. Es gibt nicht den Transnationalen Sozialraum zwischen Oberschlesien und Deutschland, sondern einzelne Lebensräume, die sich zwischen diesen räumlichen Kontexten aufspannen. Diese Lebensräume hängen jedoch von subjektiven Bedeutungszuweisungen und unterschiedlichen Handlungsmustern ab. Sie umfassen verschiedene lokale Kontexte, die jeweils in spezifischer Weise wahrgenommen und in unterschiedlicher Form im Alltag erlebbar werden (Mobilität, IuK, polnische Community). Bei den Transnationalen Sozialräumen handelt es sich zudem um temporäre Konstrukte, die letztlich an die Interview-Situation gebunden sind. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass nicht völlig zu klären ist, welche Auswirkungen der große zeitliche Abstand zwischen Migrationszeitpunkt und Interview auf die Reflexion der Anfangszeit hat. Zudem kann auch nie ganz ausgeschlossen werden, dass Konstrukte erst durch das Interview selbst initiiert werden. Trotz der Bemühungen um Offenheit in den Interviews bleibt z.T. unklar, ob sich die Interviewten in einzelnen Szenen zu einer Äußerung verpflichtet fühlten oder Ansichten und Einstellungen verheimlichten bzw. an vermeintliche Erwartungen des Interviewers ‚anpassten‘. Ambivalente Aussagen und Einstellungen zeigten sich häufig, was aber letztlich auch mit den hybriden und komplexen Lebenswelten der Aussiedler korrespondiert. Transnationale Sozialräume können zudem nicht lediglich über Mobilitätspfade rekonstruiert werden, d.h. sie sind nicht nur an Mobilität zwischen Kontexten gebunden. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Pluri-Lokalität des Alltags nicht nur über ein räumliches Beziehungsgeflecht zwischen Herkunfts- und Ankunftskontext ausdrückt. Auf der einen Seite hat der Herkunftskontext als erreichbarer Ort eine große Bedeutung: Für mehr oder weniger alle Aussiedler gilt, dass sie im lokalen Herkunftskontext noch recht häufig stark involviert sind. Hier bestehen Kontakte zu wichtigen Bezugspersonen und auch die Versorgerfunktion durch Waren- sowie Geldsendungen spielt eine Rolle. Auf der anderen Seite ist der Herkunftskontext auch im Wohnumfeld in Deutschland als mentales, immer wieder neu produziertes Gedankenkonstrukt relevant. Bedeutsam im ‚deutschen Alltag‘ und erlebbar wird er durch
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die zunehmende Durchdringung durch grenzüberschreitenden Informationsfluss, die Möglichkeit, Kontakte durch virtuelle Kommunikationsplattformen zu pflegen, die bewusste Pflege ‚kultureller‘ Praktiken (Sprache, Traditionen), die Ausrichtung von Netzwerken an sozialen Differenzierungen im Herkunftskontext, die hierdurch immer wieder neu reproduziert werden und die Partizipation in der polnischen Community.
Der Herkunftskontext wird daher nicht nur über den Kontakt zum Herkunftsort oder -land erlebbar, sondern vielmehr zur alltäglichen Erfahrung. Oberschlesien wird von einigen Aussiedlern beispielsweise nicht als der vergangene Prä-Migrationskontext gesehen, sondern als allgegenwärtiges Lebenskonzept, zu dem nicht nur die Mobilität nach Oberschlesien, sondern auch die Pflege des Oberschlesier-Seins in Deutschland gehört. Die Ausrichtung der Lebenswelt am Herkunftskontext, z.B. über die Partizipation in der polnischen Community oder die Fokussierung auf oberschlesische/polnische Netzwerke, wird dabei selten als Parallelwelt gesehen. Sie wird als Teil eines transkulturellen Alltags betrachtet, der sich aus der mehr oder weniger ausgeprägten Pflege herkunftsbezogener Praktiken und Werte und dem bewussten Eintauchen in das deutsche Umfeld zusammensetzt. Die oberschlesienstämmigen Aussiedler haben in der Regel eine konkrete Vorstellung davon, wie Transnationalität im Alltag auszusehen hat. Sie nehmen ihre Transkulturalität bewusst wahr und setzen sie stets in Beziehung zu ihrer Integration in Deutschland, deren Erfüllung Priorität hat. Transnationalität darf aus Sicht der Aussiedler nicht zu einer vollständigen Rückbesinnung auf den Herkunftskontext führen, in dem ohnehin oftmals Entfremdungserfahrungen (Orientierungslosigkeit, Auflösung von Netzwerken) zu Frustration führen, sondern muss parallel zu einer erfolgreichen Eingliederung im beruflichen, nachbarschaftlichen und schulischen Umfeld verlaufen. Zum Transnationalen Sozialraum gehören somit unterschiedliche lokale Minikontexte. Solche Minikontexte können der Arbeitsplatz sein, an dem man guten Kontakt zu Deutschen hat, der polnische Laden um die Ecke, der oberschlesische Radiosender und seine Zuhörerschaft oder das Umfeld polnischsprachiger Gottesdienste. Im Transnationalen Sozialraum schließt die Bedeutung des einen Kontextes die Bedeutung des anderen nicht aus, weil auch Prozesse des transnationalen Einlebens parallel verlaufen. Konkret heißt das, dass z.B. die Einbindung in die polnische Community nicht unbedingt die Partizipation in deutschen Vereinen oder ein Eintauchen in deutschen Netzwerken ausschließt. Der Transnationale Sozialraum ist damit kein Zufallsprodukt, sondern wird durch bewusste Einstellungen, Strategien und Handlungen beeinflusst. Es haben sich einige, wesentliche Differenzie-
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rungsmerkmale für die Transnationalen Sozialräume der Aussiedler herauskristallisiert: •
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Politische Einstellung/Einstellung zur Regionalisierung: Räumliche Bezugspunkte bzw. die Frage, welche Bedeutung Oberschlesien für die Aussiedler hat, hängt maßgeblich von den Erfahrungen im Herkunftskontext und den hier entwickelten Einstellungen ab. Aussiedler, die in einem polenkritischen Umfeld sozialisiert sind, polnisch-oberschlesische Konfliktsituationen erlebt haben und Oberschlesien als diskriminierte, weil eigenständige Region verstehen, konstruieren deutsch-oberschlesische Lebenswelten, in denen die Abgrenzung zu Polen in allen Kontexten – wenn auch z.T. in abgeschwächter Weise – fortgeführt wird. Die Abgrenzung zu Polen in den lokalen Netzwerken wird zur Strategie und die eigene Lebenswelt wird von der oberschlesischen Herkunft beeinflusst gesehen. Aussiedler, die mit der Regionalisierungsdebatte um Oberschlesien wenig anfangen können oder sie bewusst in Frage stellen, sehen sich in einer deutsch-polnischen Lebenswelt verankert. Hier wird der Herkunftskontext zwar ebenfalls an bestimmte oberschlesische Orte – zumeist an die Herkunftsstadt und umliegende Städte – gebunden, die Zugehörigkeit und die eigene kulturelle Praxis werden aber einer polnischen ‚Kultur‘ zugeordnet. Perspektive auf das Einleben in Deutschland: Welche Rolle der Herkunftskontext in den Lebenswelten spielt und inwieweit sich die Aussiedler auf ihn einlassen, hängt auch mit der Wahrnehmung der Anforderung von ‚Integration‘ zusammen: Die Ausrichtung auf den Herkunftskontext durch Urlaube, Besuche, Nachrichtenkonsum oder die Einbindung in die lokale polnische Community dürfe nach Ansicht vieler Aussiedler nicht zu einer Abkapselung vom lokalen (deutschen) Wohnumfeld führen. Andere Aussiedler sehen eine zunehmende Transkulturalität als „typisch“ für Deutschland an. Die zunehmende ethnische Durchmischung der Gesellschaft wird hier als Rechtfertigung für die eigene Transkulturalität gesehen. Den einst formulierten Integrationsauftrag sehen diese Aussiedler durch die strukturelle Eingliederung zudem als abgeschlossen an. Finanzielle Ausstattung, Zeitbudget und Zugang zu IuK: Die Konstitution Transnationaler Sozialräume ist nicht frei von Zwängen und äußeren Einschränkungen. Wie die Beziehungen zum Herkunftskontext ausgestaltet sind, hängt mit dem Zeitbudget und finanziellen Ressourcen zusammen. Einige Aussiedler stehen vor der Entscheidung, ob sie ihren Urlaub in südlichen Urlaubsländern oder in Polen verbringen. Nicht zufällig intensiviert sich die Mobilität daher mit Eintritt ins Rentenalter, wobei hier wiederum die finanziellen Möglichkeiten eine Rolle spielen. Zum Teil ist der Status des ‚wohlhabenden Aussiedlers‘ immer noch persistent, was dazu
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führt, dass die Aussiedler sich während ihrer Besuche verpflichtet fühlen, ‚großzügige‘ Geschenke zu verteilen, was sie jedoch als Belastung empfinden. Dies erklärt, warum z.T. auch noch Pakete mit Gütern verschickt werden, obwohl diese auch in Polen erworben werden können. Der Zugang zu IuK ist wiederum entscheidend für die Art und Weise, wie Informationsflüsse ablaufen. Gerade der Internetzugang ermöglicht es, auf dem Laufenden zu bleiben, was die Entwicklung im Herkunftskontext angeht. Er ermöglicht es aber auch, Netzwerke zu pflegen. Vor allem lose Bekanntschaften werden durch Facebook, nasza klasa3 und WhatsApp gepflegt. Ältere Aussiedler sind von diesen Entwicklungen häufig abgeschnitten. Sie haben jedoch in einigen Fällen polnische Pay-TV-Pakete, über die der Informations- und Nachrichtenfluss aufrechterhalten wird. Es wird somit deutlich, dass Transnationalität unter den oberschlesienstämmigen Aussiedlern sehr unterschiedliche Facetten annehmen kann und dass sich Transnationale Sozialräume auf verschiedene Bezugsräume mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen beziehen. Dies wird zusammenfassend und konkret in den Abbildungen 46-49 (S. 391-392) verdeutlicht, indem vier Skizzen Transnationaler Sozialräume gegenübergestellt werden, die sich jeweils auf die Lebenswelt eines Interviewpartners bzw. einer Interviewpartnerin beziehen.4 Transnationalität kann in manchen Fällen diasporaähnliche Züge annehmen. Frau Kwiatkowskas Lebenswelt (Abb. 46) ist stark auf den Herkunftskontext ‚Polen‘ ausgerichtet. Hier verbringt sie Urlaube und pflegt Freundschaften in verschiedenen Teilen des Landes. Der Herkunftskontext ist für sie der Ort ihrer „vergangenen, glücklichen Tage“ und aufgrund ihrer positiven Reflexion der Netzwerkstrukturen in Polen glorifiziert sie Polen als „soziales Paradies“. Ihre Transmobilität (mehrmals im Jahr) ist für Frau Kwiatkowska wichtig, weil für sie das Vor-Ort-Sein entscheidend ist, um ihre Sehnsucht nach der Prä-Migrationszeit und dem Herkunftskontext zu stillen. Ihr Alltag in Essen ist geprägt durch Fremdheit und Sehnsucht. Sie grenzt sich bewusst zu anderen Migrantengruppen und den Deutschen ab und konstruiert hier „kulturelle Grenzen“, die sie als unüberwindbar sieht. Das Leben in Deutschland ist für sie lediglich unter dem Aspekt ökonomischer Vorteile zufriedenstellend. Für sie existiert ein Handlungskontext der „Integration“, welchen sie als Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben in Deutschland ansieht. Kontakt zu Deutschen und das Einleben vor Ort sind für sie wichtig, um nicht in eine isolier-
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Internetportal, auf dem ehemalige Schulkameraden kontaktiert werden können. Die unterschiedlichen Formen der Lebensräume haben keine Bedeutung, sie wurden aus ästhetischen Gründen ausgewählt. Die Größe der einzelnen Formen spiegelt allerdings die Bedeutung des jeweiligen Kontexts wider.
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te Lage zu kommen und von (ökonomischen) Vorteilen profitieren zu können. Der Ankunftskontext lässt sich bei Frau Kwiatkowska daher als ‚vorteilhafter Raum‘ bezeichnen. Im Alltag versucht sie aufgrund ihrer Sehnsucht und Abgrenzung zum deutschen Umfeld eine „polnische Insel“ aufzubauen. Diese bildet den gelebten Herkunftskontext in ihrem lokalen Wohnumfeld und wird in der Skizze durch die Schnittmenge aus Herkunfts- und Ankunftskontext angedeutet. Frau Kwiatkowska ist in die polnische Community eingebunden, sie kauft „polnische“ Produkte und informiert sich über TV und Internet fast ausschließlich über die Entwicklungen in Polen. Auch die symbolische Repräsentation ihrer Zugehörigkeit zu Polen ist alltagsprägend. Frau Kwiatkowska hat die polnische Nationalflagge im Flur aufgehängt, womit sie ihre patriotische Einstellung zu Polen demonstrieren möchte. Diese schließt auch eine Abgrenzung von Oberschlesien ein, das sie mit einer polenfeindlichen Einstellung verbindet. Anders sieht es bei Martin Kluczek aus (Abb. 47), der sich als „in zwei Welten (Deutschland und Polen) lebend“ beschreibt. Martin Kluczek hat nach seiner Migration im Kindesalter Probleme gehabt, sich im schulischen Umfeld einzugewöhnen und „echte“ Freunde zu finden. Während seiner Besuche in Oberschlesien mit seinen Eltern hat er Anschluss an Freundeskreise gefunden, die zum Zentrum seines Netzwerks wurden. Im Jugendlichenalter stellte sich bei ihm eine Transmobilität ein, die dazu führte, dass Martin Kluczek seine Lebenswelt auch in Deutschland zunehmend am Herkunftskontext ausrichtete. „Im Herzen“ sieht er sich als Pole: Er identifiziert sich mit dem sozialen Miteinander, mit der Küche, aber auch der Religiosität der Polen und zeigt sich im Alltag stark auf den Herkunftskontext gerichtet. Seine Entscheidung, Slawistik zu studieren und auch in diesem Bereich zu promovieren, ist letztlich auch eine Folge seiner Euphorie bezüglich seines Herkunftslandes, genauso wie es bei seiner bewussten Wahl einer polenstämmigen Ehefrau der Fall ist. „Im Kopf“ sieht er sich allerdings als Deutscher. „Integration“ in Deutschland ist ihm wichtig, er betont seine Zeit in der Bundeswehr und sein Engagement im deutschen Fußballverein. In gewisser Weise sieht er durch die Annahme vermeintlich deutscher Eigenarten, wie Ordnung und Genauigkeit, auch deutsche Komponenten in seiner Identität. Deutlich selektiver erfolgt die Bedeutungszuweisung in Richtung des Herkunftskontextes bei Barbara Zając (Abb. 48). Frau Zając sieht sich fest in Deutschland verankert. Ihr lokales Wohnumfeld beschreibt sie als Zuhause, hier fühlt sie sich „integriert“, anerkannt und wohl. Sie ist selbstständig, alleinstehend und sieht sich in ihrem Lebensstil (als sporttreibender Single) Deutschland zugehörig. Schlesien als Herkunftskontext sieht sie als vergangene Welt an, von der sie sich immer stärker entfernt hat. Und dennoch spielt für sie der Herkunftskontext eine wichtige Rolle. Trotz ihrer Zufriedenheit mit ihrem Leben fühlt sie sich einsam und findet unter den vielen Bekannten keine „wahren Freunde“. Diese verortet sie in Schlesien. Probleme und wichtige Angelegenheiten klärt sie mit ihren besten Freundinnen,
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die sie oft anruft oder besucht. Eine Rückbesinnung in Richtung der PräMigrationszeit erfolgt bei Frau Zając phasenweise. Vor einiger Zeit hatte sie spontan das Weihnachtsfest in Polen verbracht, weil sie sich nach dem Vergangenen und Traditionellen sehnte. Der Herkunftskontext wird in diesem Fall in erster Linie als Wohnort der „besten“ Freunde bedeutsam. Eine ganz andere Struktur zeigt der Transnationale Sozialraum von Herrn Mazur an (Abb. 49). Er ist, anders als Frau Zając, nicht an soziale Beziehungen im Herkunftskontext, sondern an die Bedeutung der oberschlesischen Herkunft für das eigene Selbstverständnis gebunden. Herr Mazur sieht sich als „traditioneller Oberschlesier“. Oberschlesien bildet für ihn Heimat und die räumliche Basis seiner kulturellen Praxis. Die Mobilität in den Herkunftskontext hat Herr Mazur fast vollständig eingestellt, nachdem das dortige Netzwerk immer dünner wurde. Dennoch ist sein Alltag stark an den Herkunftskontext gebunden. Er verfolgt jeden Tag mehrere Stunden das Geschehen in Polen und Oberschlesien über polnische TV-Programme und beschäftigt sich mit der Rolle Oberschlesiens in Polen. Seiner Ansicht nach findet auch weiterhin eine Diskriminierung der Region durch die polnische Regierung statt, was Herrn Mazur auch in Deutschland tagtäglich beschäftigt. Sein Netzwerk ist stark auf den familiären Kontext und oberschlesische Bekannte beschränkt, was vor allem auf seine Abgrenzung im Alltag zurückzuführen ist. Polen, die Herr Mazur aufgrund der Sprache (kein Dialekt) und Herkunft (nicht Oberschlesien) als solche identifiziert, meidet er, weil er diese als „Unterdrücker“ Oberschlesiens zu einer Sie-Gruppe zusammenfasst. Zu Deutschen sieht er nur wenige Anknüpfungspunkte, eher eine persönliche sprachliche Barriere. Deutsch spricht Herr Mazur nur wenig, was er mit der vollständigen Ausrichtung auf polnische Medien erklärt. Hierdurch ist er auch „gezwungen“, Angebote der polnischen Community anzunehmen. Er sucht beispielsweise nur polnischsprachige Ärzte auf. Ewald Mazur konstruiert Oberschlesien in essentialistischer Weise als eigenständigen ‚Raum‘ mit einer eigenen ‚Kultur‘, die er sowohl von Polen als auch von Deutschland abgrenzt. Damit zeigt bereits der kurze Vergleich dieser vier Skizzen Transnationaler Sozialräume, dass aufgrund sehr unterschiedlicher zugrunde liegender Raumkonstrukte nicht von dem Herkunftskontext der oberschlesienstämmigen Aussiedler gesprochen werden kann und die Lebenswelten durch verschiedene soziale Grenzziehungen geprägt sind. Die imagined communities von ‚Gleichgesinnten‘ und SieGruppen werden dabei immer wieder anders konstruiert, was zu einer starken Ausdifferenzierung von Einstellungen, Wahrnehmungen und Handlungsmustern führt. Mit Oberschlesien als Raumbezug wird sehr unterschiedlich umgegangen: Zum einen dient Oberschlesien als Heimatbezug und ‚kulturelles‘ Zentrum der eigenen Lebenswelt, zum anderen kann es auch als Abgrenzungsfläche für stärker an Polen ausgerichtete Lebenswelten benutzt werden. In letzterem Fall findet eine bewusste Abgrenzung von einer stereotypenbasierten Vorstellung von Oberschlesien als ‚einfacher Arbeiterregion‘ statt.
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Abbildung 46: Transnationaler Sozialraum Maria Kwiatkowska
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 47: Transnationaler Sozialraum Martin Kluczek
Quelle: Eigene Darstellung
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Abbildung 48: Transnationaler Sozialraum Barbara Zając
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 49: Transnationaler Sozialraum Ewald Mazur
Quelle: Eigene Darstellung
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Was sich nun am Ende dieser Überlegungen zu Transnationalen Sozialräumen oberschlesienstämmiger Aussiedler aufdrängt, ist die von Pfaff-Czarnecka (2008) in ihrem gleichnamigen Beitrag aufgeworfene Frage: „Are We All Transnationalists Now“? Vielleicht wäre ein ‚Ja‘ an dieser Stelle zu viel. Aber auch ein ‚Nein‘ ist wohl kaum die richtige Antwort. Die vorliegende Untersuchung zeigt deutlich, dass migrantische Alltagswelten nicht einer solchen Dichotomie unterliegen können. Bei den oberschlesienstämmigen Aussiedlern sollte daher auch nicht von den transnationalen Migranten, sondern von den transnationalen Facetten ihrer Lebenswelten gesprochen werden. Und diese sind in sehr unterschiedlichen Konstellationen in allen untersuchten Lebenswelten identifizierbar. Sie unterscheiden sich in ihrem Ausmaß und ihrer Bedeutung nach individuellen Biographien, Erfahrungen und Einstellungen. Die Arbeit zeigt auch, warum die häufig durchgeführte Kategorisierung in ‚Deutsche‘, ‚Polen‘ und ‚Oberschlesier‘ zu kurz greift, um die Identitätskonstrukte und Lebenskonzepte dieser Aussiedlergruppe fassen zu können. Die empirische Durchdringung der Lebenswelten hat gezeigt, wie unterschiedlich der Umgang mit ‚Raum‘ und in diesem Fall mit dem Regionskonstrukt ‚Oberschlesien‘ ist und, dass es sich bei den oberschlesienstämmigen Aussiedlern um eine höchst heterogene Migrantengruppe handelt, deren Mitglieder trotz scheinbar homogener Rahmenbedingungen (vor allem Herkunftsregion, lange Aufenthaltszeit in Deutschland) auf Basis individueller Raum-, Kultur- und Gemeinschaftskonstrukte (imagined communities) eine Vielfalt an sozialen Abgrenzungs- und Differenzierungsprozessen hervorbringen und sich in ihren Transnationalen Sozialräumen sogar gegenseitig ausschließen. Die Komplexität alltäglicher Lebenswelten, die im oberschlesischen ‚Mikrokosmos‘ bereits vor den Migrationswellen des späten 20. Jahrhunderts hoch war und auch zu dieser Zeit schon deutliche transnationale Züge hervorbrachte, hat sich für die Aussiedler durch die Migrationserfahrung und die in den letzten zwanzig Jahren zügig vorangeschrittene (globale) Vernetzung noch weiter erhöht.
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Kultur und soziale Praxis Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur August 2015, 412 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9
Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes Juni 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Mai 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
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Kultur und soziale Praxis Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis April 2015, 352 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7
Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge Januar 2015, 206 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2901-9
Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung Januar 2015, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1
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