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German Pages 667 [668] Year 2014
Oliver Bach Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 188
Oliver Bach
Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz Politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius
ISBN 978-3-11-035916-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035928-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038678-3 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Belinda Für Kathrin Für Alexandra
Danksagung Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im November 2013 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Die Studie wurde ermöglicht durch eine Förderung des Internationalen Doktoranden kollegs (IDK) Textualität in der Vormoderne im Rahmen des Elitenetzwerks Bayern in den Jahren 2011–2012; ihre Fertigstellung verdankt sich einem Aufenthalt am Center for Advanced Studies der LMU München im akademischen Jahr 2012/13. Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (München) und Prof. Dr. Barbara Mahlmann-Bauer (Bern) betreuten und förderten meine Arbeit und standen mir mit ihrem unerlässlichen Rat immer zur Seite. Ihnen gilt als meinen philologischen und ideengeschichtlichen Lehrern mein besonderer Dank genauso wie meinem rechtsphilosophischen Lehrer Prof. Dr. Norbert Brieskorn S.J. Dank gebührt dem Oberseminar des Münchner Lehrstuhls für Literatur der Frühen Neuzeit, das die Arbeit von der Projektierung bis zur Fertigstellung begleitete. Ferner danke ich meinen ehemaligen Kollegen aus dem IDK Dr. Susanne Bernhardt, Dr. Astrid Dröse, Dr. Cathrin Hesselink, Dr. Jan Hon, Dr. Bernd Posselt, Dr. Wiebke Rasumny, Dr. Henrike Schaffert, Dr. Markus Schiegg, Dr. Davide Soares da Silva und Dr. Carolin Struwe für ausführliche und ergiebige Gespräche und Ratschläge im Rahmen von Oberseminaren, Sommerakademien und Kaffeepausen. Ebenso haben Maud von Hagen Chaves und Dr. Burkhard Nonnenmacher das ebenso genaue wie anstrengende Korrekturlesen auf sich genommen und großen Dank verdient. Ein ganz herzlicher Dank gilt meinem frühen Mentor PD Dr. Gideon Stiening und meinem ehemaligen Kollegen im Center for Advanced Studies Dr. Michael Multhammer, die mit geduldigem Rat, eifrigem Interesse und kritischer Lektüre die Entstehung der vorliegenden Studie begleiteten. Über alles danken muss ich meinem Vater Prof. Dr. Hans-Friedrich Bach: Seine humanistische Bildung war mir immer wissenschaftliches Vorbild, seine freundliche Langmütigkeit war mir auch in schwierigen Lebenslagen immer praktisches Leitbild. Nicht genug danken kann ich Alexandra Kaiser, deren humor- und liebevolle Begleitung meiner Promotion mir Antrieb und Auftrag war, sowie meinen Schwestern Dr. Belinda und Kathrin Bach, die Halt boten, wo aller Halt zu schwinden drohte. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. München im März 2014
Inhaltsverzeichnis D anksagung
VII
Siglenverzeichnis
XIX
1
Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems 1 1.1 „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“ 5 1.2 „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ 8 2
Forschungsüberblick und -diskussion: Zum Antagonismus heilsgeschichtlicher und politologisch-jurisprudenzieller Perspektiven der Gryphius-Forschung 11 2.1 Der wissenschaftliche Antagonismus 11 2.2 Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus 17 2.3 Vom Antagonismus der theologischen und politologischjurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius zu einer Geschichte dieses Antagonismus bei Gryphius 25 2.4 Folgen für das Projekt: Der Gang in die Geschichte der Rechtsphilosopie und -theologie 28 33 Theorien und Methoden Prozessgeschichte der Säkularisierung? Möglichkeiten der Entwicklungshistoriographie jenseits teleologischer Ideengeschichte 33 3.1.1 Kontinuität vs. Diskontinuität? 34 3.1.2 Ideen als Potenziale 37 3.1.3 Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen 38 3.1.4 Unbewusste Ursache und bewusste Motivation 42 3.1.5 Makro- und Mikroprozesse der Säkularisierung 47 3.1.6 Das Verhältnis zum Makroprozess der Säkularisierung 49 3.2 Politische Theologie: historischer vs. systematischer Begriff 50 3.2.1 Carl Schmitts Rationalismuskritik und vorgebliche Empirik 51 3.2.2 Blumenbergs Widerspruch 55 3.2.3 Die Autonomie des Analogons 57 3.2.4 Carl Schmitts tatsächlicher Dogmatismus 59 3.2.5 Fazit: Zum Begriff der politischen Theologie 60 3.2.5.1 Relative politische Theologie 60 3 3.1
X
Inhaltsverzeichnis
3.2.5.2
Relative Säkularisierung und Theologisierung politischer Theologien 61 3.2.5.3 Diskursexterne als sekundäre Profiteure 62 3.2.5.4 Diskursteilnehmer als primäre Profiteure 63 3.3 Dichtung greift ein: Zum systematischen Potenzial ästhetischer Probehandlungen 64 3.3.1 Dichtung als didaktische oder argumentative Disziplin?: Über einen blinden Fleck zeitgenössischer Poetik 64 3.3.2 Zu Literatur und Wissen 68 3.3.3 Dasein, Sosein, Präsentation: Zu Gottfried Gabriels Überlegungen zu einem „Erkenntniswert der Literatur“ 74 3.3.4 Aufweisen als genuin dichterisches Verfahren 77 3.3.5 Techniken des Aufweisens 78 3.3.6 Fazit: ‚Silete poetae in munere alieno‘? Die systematische Wirkmacht des dichterischen Aufweisens 81 3.3.7 Ausblick: Gryphius’ politische Trauerspiele zwischen systematischem Aufweis und historischer Verbürgung 84 87 4 Gryphius’ rechtsphilosophische Zeitgenossenschaft 4.1 Die Herausforderung: Ausnahmezustand und Nezessität 88 4.1.1 Gryphius’ souveränitätsrechtliches Problembewusstsein 94 4.1.2 Der normative Primat im aristotelisch-thomistischen Rechtsdenken und die entschiedene Unzuständigkeit der prudentia für den Ausnahmezustand 100 4.1.2.1 Justus Lipsius 102 4.1.2.2 Johannes Althusius 111 Jacob Bornitius 4.1.2.3 119 Bartholomäus Keckermann 4.1.2.4 122 Henning Arnisaeus 4.1.2.5 131 Christoph Besold 4.1.2.6 134 Ein Fazit aus der Perspektive Gryphius’ 4.1.2.7 137 Antimachiavellistische Rechtslehre: Melanchthon, Suárez, 4.1.3 Schönborner 139 Philipp Melanchthon 4.1.3.1 139 Francisco Suárez 4.1.3.2 142 4.1.3.3 Georg Schönborner 148 4.1.4 Staatsräson als Gebot der Nächstenliebe: Luis de Molinas Versuch einer Reethisierung 154 4.1.5 Einig im Antimachiavellismus: Schlesien und die religions- und bildungshistorischen Dispositive eines politischen Denkstils 158
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4.1.5.1
XI
Politische Theologie und Konfession: Das bestimmte Interesse der Evangelischen in Glogau 159 4.1.5.2 Land ohne Hochschule: pädagogische Chance? 163 4.2 Beharrliche Tradition: Rechtstheologie 168 4.2.1 Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie 169 4.2.2 Schlesischer Philippismus: Melanchthons Naturrecht 179 4.2.2.1 Angeborene Ideen: Naturrecht oder theonomes Vernunftrecht? 180 4.2.2.2 Leistungen und Aporien des propositionalen Innatismus gegenüber der Herausforderung 185 4.2.2.3 Die Notwendigkeit der nicht-innatistischen Lösung 189 4.2.3 Theologischer Politologe: Gryphius’ Mentor Georg Schönborner 192 4.2.3.1 Theonome Begründung von Staat, Recht und Machterwerb 193 4.2.3.2 fides in der ratio status? – status in der ratio fidei! 198 4.2.4 Der Straßburger Einfluss: Johann Heinrich Boeclers Geltungsvoluntarismus 205 4.2.4.1 Majestät: Denknotwendigkeit des Gottesgnadentums 206 4.2.4.2 Naturrecht als göttliches Recht: Boeclers Kritik an Hugo Grotius 209 4.3 Schlagkräftige Innovation: Finalismuskritik 212 4.3.1 Der Leidener Einfluss: Gryphius’ ‚Wissenschaftslyrik‘ am Ausgang des Neuen 213 4.3.2 Funktionalismus jenseits der Teleologie: Niccolò Machiavellis Pragmatismus 223 Bacon und Descartes: Gottes freier Wille und die Priosierung 4.3.3 der causa efficiens 229 4.3.3.1 Bacons ars-Begriff als Beleg göttlicher Unverfügbarkeit 231 Descartes’ epistemologisch-rationalistische Anerkennung 4.3.3.2 der Offenbarungsautorität 234 Thomas Hobbes: Eliminierung der Vier-Ursachen-Lehre und 4.3.4 Selbsterhaltungstrieb 243 4.3.4.1 Vermittelbarkeit der hobbesschen Metaphysik an lutheranische Theologie 245 4.3.4.2 Hobbes’ Naturrechtsanalyse 248 4.3.4.3 Widriger Naturzustand bei Gryphius 250 4.3.5 Ausblick: Nulla lex sine poena? Christian Thomasius’ Bruch mit dem praeceptum-Charakter der göttlichen und natürlichen Gesetze 254
XII
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4.4 Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus als Entscheider über den Ausnahmezustand 259 4.4.1 Gryphius’ Kirchhofsgedanken: Jenseitiges Gericht 261 4.4.2 Philosophia perennis? Gryphius und die (Selbst)Limitation der neuen Wissenschaften 271 4.4.2.1 Philosophia perennis und Gryphius’ Begriff von universaler sapientia 272 4.4.2.2 Gryphius’ Kircher-Rezeption und Kritik einer Universalwissenschaft: Ein Widerspruch? 275 4.4.3 Gryphius’ lateinische Epik und Melanchthons privatio: Notwendigkeit, Ort und Status des Bösen 282 4.4.3.1 privatio: das nicht-wesentliche Böse 286 4.4.3.2 imputatio: Wirkliches Verschulden des Handelnden 293 4.4.3.3 Fazit: Erste Folgerungen aus dem Privationismus für einen politischen Gott 297 4.4.3.4 Exkurs: Daniels Heinsius’ Herodes Infanticida (1632) – Politische Theologie zwischen Tradögienform und stofflich gebotener Episierung 298 4.4.4 Ex 20,2, Mal 3,6 und Melanchthons schrifttheologisches Substrat des Deus politicus 305 4.4.4.1 Naturrechtssystematische Redundanz des Offenbarungs aktes? 308 4.4.4.2 Melanchthons politischer Gott 313 4.4.4.3 Rechtes Handeln und Heil 316 4.4.4.4 Fazit: Melanchthon zwischen traditionellem Problem und innovationskompatibler Lösung 322 Der unmittelbar irdisch strafende Gott bei Georg 4.4.5 Schönborner 323 Tyrannis als Verstoß gegen göttliches und natürliches 4.4.5.1 Recht 324 4.4.5.2 Tyrannenmord 327 Die göttliche Strafung jeglicher Tyrannei 4.4.5.3 330 Claudius Salmasius: Die historische Verbürgung von Gottes 4.4.6 Straftätigkeit 334 Der Fall Charles Stuart: Historisches Ereignis und transhistorisches 4.4.6.1 Problembewusstsein 335 4.4.6.2 Die Heilige Schrift als juridische und historische Quelle 336
Inhaltsverzeichnis
XIII
5 (Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele 345 5.1 Leo Armenius: Göttliches oder verdientes Recht? 345 5.1.1 Leo Armenius zu den Paradoxien verschwörerischer Legitimationsversuche 348 5.1.1.1 Meritokratie 348 5.1.1.2 Stratokratie 350 5.1.1.3 Usurpation Leos oder Abdikation Michael I. Rhangabes? 351 5.1.1.4 Rache 353 5.1.1.5 Ambigue Emblematik als Sinnbild pragmatischer Legitimationsstrategien 355 5.1.2 Leo Armenius zu den Paradoxien pragmatistischer Sicherheitspolitik 359 5.1.2.1 Politischer Hochmut, relativer Ausnahmezustand und obrigkeitliche Notwehr 359 5.1.2.2 Affektanthropologie und politische Mittellosigkeit 362 5.1.2.3 Herrschaftliche Interessenpragmatik und Gemeinwohl, oder: Der göttliche Anspruch an das positive Recht als Recht 366 5.1.2.4 „Der stahl schafft einig ruh“. Absoluter Ausnahmezustand als Recht auf Rechtlosigkeit 368 5.1.2.5 Bedächtigkeit oder Trägheit? Schwierigkeiten machiavellistischer Formelhaftigkeit 370 5.1.3 „Der Himmel selber wach’t vor die gekrnten hare / vnd steht dem Zepter bey“. Politische Theologie als instanzieller Vorbehalt Gottes 372 5.1.3.1 Recht aus Freiheit? Freiheit aus Souveränität! 373 5.1.3.2 Die völkerrechtliche Alternative: Intervention 375 Gegen Meritologie und temporalisiertes Herrschaftsrecht 5.1.3.3 375 Die menschliche Unverfügbarkeit göttlicher Ordnung 5.1.3.4 378 Die Gesetzeswirkung der Gewissensinstanz – Die Tatwirkung 5.1.3.5 der Gewissensverleugnung 382 Theatrum regni: Evidenzbedürfnisse an Recht, Politik und Strafe 5.1.4 und ihre theatralische Homologie 385 5.1.4.1 „Man sol der grossen welt ein newes schawspiel weisen“. Ius publicum und Publizität 386 Michael Balbus’ Verteidigungsrede als Schauspiel von Unverstand 5.1.4.2 und Unrecht 388 5.1.4.3 Vom Nutzen, Schaden und der Überflüssigkeit der Folter 390 5.1.4.4 Schauspiel und Zurschaustellung: Dramatische und juristische Evidenz 396
XIV
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5.1.5 Gott und Katastrophe – Sollen und Sein – Rechtliche und Handlungssicherheit 397 5.1.5.1 „Das recht hat seinen Gang“. Theodosias Sollen-Sein Fehlschluss 398 5.1.5.2 Der Unterschied von forum internum und forum externum 400 5.1.5.3 Göttliches Recht und Faktenprophetie 402 5.1.5.4 „Das weist sein leben aus vnd sein schrecklich end“. Michael Balbus’ Sein-Sollen-Fehlschluss 403 5.1.6 Fazit: Außergeschichtlichkeit des strafenden Gottes und Wirksamkeit des göttlichen Rechts 405 5.2 Catharina von Georgien: Gesandtschaftsdrama und Friedenskritik, oder: Unverhandelbarkeit göttlichen Rechts 408 5.2.1 Beständigkeit zwischen vanitas und politischem Verhalten 409 5.2.2 „Ein Weib / doch die geherrscht“: Politische Theologie und Gynäkokratie 413 5.2.3 Catharina von Georgien über die Macht des Gesandtschafts wesens 417 5.2.3.1 Zum rechtlich einzigartigen und einsamen Status des frühneuzeitlichen Gesandten 418 5.2.3.2 Zur Macht von Bündnissen 423 5.2.3.3 Die Labilität von Bündnissen: Zur Macht des Geldes 425 5.2.3.4 Dissimulation und Transformation: Gesandtschaftswesen als nützliche und gefährliche Kunst 427 5.2.4 Der Vertrag als Mittel des Rechts? Kritik an einem Trugschluss 429 5.2.4.1 Vertrag, Bürgschaft – Recht? Zur russischen Initiative für Catharinas Freilassung 429 5.2.4.2 „Wir bleiben euch verpflicht / vnd eures Czaren Magd“. Die schlechte Alternative des russischen Patronats? 433 Affektreinigung und Beständigkeit als praktische Theologie 5.2.5 439 5.2.5.1 „Es fehlt vns an Vernunfft“? Trost jenseits der Grenzen praktischer Philosophie 439 5.2.5.2 Ewige Liebe als Erweis des Unterschieds von Naturrecht und Naturgesetz und die Optabilität des Todes 442 Affektreinigung und Beständigkeit als politische Theologie 5.2.5.3 447 5.2.6 Recht als Quelle guter Politik: Gryphius gegen einen apriorischen Pragmatismus 449 5.2.6.1 Vertragstreue und Souveränitätspragmatik 450 5.2.6.2 Catharina zu Machiavellis unvermittelter Normativität des Politischen 451
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XV
5.2.6.3 Sinnliche Gewissheit? Recht als Quelle ästhetischen Entsetzens 452 5.2.7 „Gott lst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht“. Die göttliche Strafe in Catharina von Georgien 455 5.2.7.1 Imanculis Hinrichtung und die Diplomatie des Bauernopfers 456 5.2.7.2 Das forum internum als Strafe und Strafankündigung 460 5.2.7.3 Fazit: Göttliches Recht und göttliche Strafe im politischen Kalkül 463 5.3 Æmilius Paulus Papinianus: Politische Theologie auf den tönernen Füßen des Innatismus 464 5.3.1 „Was ists Papinian daß du die Spitz erreicht?“ Papinians Staunen über Sollen und Sein, Grund und Ursache 466 5.3.2 Die Souveränitätsproblematik der Biarchie: Doppelherrschaft als Naturzustand? 467 5.3.2.1 Papinian als Schattenmonarch 468 5.3.2.2 Papinians Skepsis bezüglich der Analogie von Familie und Polis 471 5.3.2.3 „Ist denn der Zepter nur umb Blut und Wunden feil?“: Biarchie und Naturzustand, Souveränitätsproblematik und Bodin-Kritik 474 5.3.3 Consiliarii und Beamtenethik 483 5.3.3.1 Die Unverbindlichkeit des Ratschlags 483 5.3.3.2 „wer dint; muß nichts versagen“? Grenzen der Beamtenethik 487 5.3.4 Heterotheonomie im Polytheismus – Begründungsnöte einer Universaljurisprudenz 489 5.3.4.1 Papinians Themis: Quelle ‚allgemeinen‘ Rechts 490 5.3.4.2 Recht auf Rechtlosigkeit? Ansätze der goldenen Regel 491 Bassians Victoria: Quelle des Souveränitätsrechts 5.3.4.3 494 Anspruch und Potenzial des Rechts vor der Staatsräson 5.3.5 498 Zur juridischen Indifferenz von Naturstandsidyll und 5.3.5.1 Schiffsmetapher 498 Papinian zwischen lex aeterna, Innatismus und 5.3.5.2 Naturchristentum 504 Deus unus ex machina. Systematisierungsgewinn des Rechts in 5.3.5.3 einer paedagogia in Christum 508 Die Wirkmacht der Gewissensinstanz: Zur göttlichen Strafe im 5.3.5.4 Papinian 512 5.3.5.5 Ästhetik der Macht? Macht des Rechts! Papinians Verweigerung einer Haltung des virtuosen Gelehrten 517 5.3.5.6 Gebotene constantia statt Selbsterhaltung: Papinians Haltung zwischen zwei Verboten 521
XVI
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5.3.5.7
Der Glaube an die Wirklichkeit göttlicher Gesetze: Papinians juridisches Märtyrertum gegen Prudentismus und Kontraktualismus 524 5.3.6 Fazit: Pagane Hoffnungen in den christlichen Gott 528 5.4 Carolus Stuardus: Die normative Kraft der Schrift und autoritative Kraft des handelnden Gottes 530 5.4.1 Die erste Fassung (1657): Die anvisierte Lösung und ihre möglichen Probleme 531 5.4.2 Die politische Theologie des sola scriptura: Das Cromwell Epitaph 532 5.4.3 Königsrecht und Funktionalisierung der Ehepflicht: Der FairfaxKomplex 538 5.4.4 Frühe Machiavelli-Kritik: Hugo Peters profan-pragmatischer Fehlschluss 543 5.4.5 Fragen zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Prospektive und Spekulation 546 5.4.5.1 Unrecht als Mittel göttlicher Strafe gegen den König? 547 5.4.5.2 Gottesgnadentum, Innatismuskritik und alte Anthropologie: Momente der Demokratiefeindlichkeit 548 5.4.6 „Sie rasen mit Vernunfft“ – Gryphius’ Kritik an Grotius 554 5.4.7 Die politische Autorität der Heiligen Schrift 559 5.4.7.1 Die Kontrafaktizität göttlicher Norm 559 5.4.7.2 Göttliches als transrationales Recht 561 5.4.7.3 Rechtstheologische Finalismuskritik 563 5.4.8 Die Hybris der Independenten: Die göttliche Autorität des Menschen 565 5.4.8.1 „Diß ist des HErren Wort“? Hugo Peters monarchomachische Verkehrung 565 5.4.8.2 Gesetzesgrenzen als Existenzbedingungen der politischen Gemeinschaft 569 5.4.9 Antworten zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Die Vergegenwärtigung der Geschehnisse 1660/61 574 5.4.9.1 Das Ob göttlicher Strafe: Die Versicherung der Wirklichkeit 574 Das Wie göttlicher Strafe: Gottes ausgleichende und verteilende 5.4.9.2 Gerechtigkeit, oder: Voluntaristische Vermittlung zwischen Freiheit und Pflicht 577 583 6 Schlüsse 6.1 Politische Theologie und Ausnahmezustand: Die Verbote von Widerstand und Tyrannei als göttliche weltliche Gesetze 586
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XVII
6.2 ἀπάθεια? Dulden und Ertragen als Rechtspflichten 589 6.3 Bis an die Schwelle zu Hobbes und nicht weiter: Zum steigenden Reflexionsniveau der Legitimationsproblematik in Gryphius’ Trauerspielen 590 6.4 Der schmale Grat zwischen Tyrannei und Märtyrertum als Signum menschlicher Geschöpflichkeit? Zu einer These Walter Benjamins 593 6.5 Trauerspielpoetik unter dem Leitstern des theologischen Voluntarismus, der Christiana Philosophia und politischen Theologie 596 6.6 Gryphius’ politische Theologie: Eine Friedenslehre? 606 611 7 Literaturverzeichnis 7.1 Quellen 611 7.1.1 Schriften des Andreas Gryphius 7.1.2 Andere Quellentexte 612 7.2 Sekundärliteratur 618 Register
645
611
Siglenverzeichnis ADB
Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1875–1912 (ND: 1967–1971). CIC Corpus Juris Civilis. 3 Bde. Hg. v. Paul Krüger u. Theodor Mommsen. Berlin 1908–1915 (Bd. 1: 11. Aufl.; Bd. 2; 9. Aufl.) Cod. Codex Iustiniani. Corpus Reformatorum. Begr. u. hg. von Karl Gottlieb Brettschneider. Halle an der CR Saale u.a. 1834–1991. Digesta seu Pandecta Iustiniani. Dig. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. DVjs Begr. von Paul Kluckhohn u. Erich Rothacker. Stuttgart 1923ff. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Leipzig 1854–1971. DWb Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. von Jürgen Mittelstraß. EPhW 2. Aufl. Stuttgart 2004. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian GdW Szyrocki, Hugh Powell (Bd. 1–8) bzw. von Johann Anselm Steiger (Bd. 9). Tübingen 1963–2007. Herodes I Andreas Gryphius: Herodis Furiae & Rahelis lachrymae. In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 10–71. Herodes II Andreas Gryphius: Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus. In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 76–145. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried HWPh Gründer, Gottfried Gabriel. Basel 1971–2007. Institutiones Iustiniani. Inst. Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Hg. Killy von Wilhelm Kühlmann. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Berlin 2008–2012. Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitete Aufl. Hg. von MLL Günther Schweikle, Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. MLLK 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart, Weimar 2004. NDB Neue Deutsche Biographie. Hg. von Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode u.a. Berlin 1953ff. Olivetum Andreas Gryphius: Olivetvm libri tres (1648). In: ders.: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Übers., komm. u. hg. von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999 (Bibliothek seltener Texte 4), S. 150–257. Pauly Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. von Konrat Ziegler, Walther Sontheimer. München 1979. RLW Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u.a. 2. Aufl. Berlin, New York 2007. STh I Thomas von Aquin, Summa Theologiae Prima. STh I–II Thomas von Aquin, Summa Theologiae Prima Secunda. STh II–II Thomas von Aquin, Summa Theologiae Secunda Secunda.
XX STh III TRE WA
Siglenverzeichnis Thomas von Aquin, Summa Theologiae Tertia. Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Müller u.a. Berlin, New York 1997–2004. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883–2009.
1 Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems ita sunt Stoici assensi, ut et, quicquid honestum esset, id utile esse censerent, nec utile quicquam, quod non honestum. Cicero, De officiis III, 11.1
Wenn von Dichterjuristen die Rede ist, wird unter Philologen ebenso wie unter Rechtswissenschaftlern zumeist die Begriffsbestimmung Eugen Wohlhaupters geteilt: Ein ausgebildeter Jurist schreibt poetische Texte.2 Gleichwohl ist ebenso lange der unausgesprochene Konsens spürbar, dass das eigentlich Bemerkenswerte nicht die bloße Gleichzeitigkeit des juristischen Brotberufs und der dichterischen Betätigung ist.3 „Morgens Amtsschimmel – abends Pegasus“: dieses Wortbild des Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann4 verdeckt das eigentliche Interesse am Dichterjuristen mehr als für dieses einzustehen. Es interessiert die inhaltliche Verbindung der dichterischen Betätigung und rechtlicher Fragen. Es ist der Jurist im Dichter, der ihn über die große Frage interpersonalen Verhaltens und Handelns informiert, nämlich was Recht ist. Anders also als der weit weniger usuelle Juristendichter5 scheint der Begriff Dichterjurist deutlich mehr im Schilde zu führen als die nur wenig aufregende Bezeichnung von Poesie, die von Juristen bzw. über Juristerei verfasst wird. Es scheint ebenso sehr um den Dichter im Juristen zu gehen, der ihm die große Frage über Wesen und Bedingung des Rechts in bestimmter Weise zu reflektieren hilft. Außer „[v]on der Neigung der Poeten zur Jurisprudenz“6 ist nur genauso von einer Neigung des Juristen zur Poesie zu sprechen. Der Jurist ist in diesem Falle als Dichter Jurist.
1 Marcus Tullius Cicero: De officiis. Hg. von Walter Miller. Cambdrige, Massachusetts 1975 (The Loeb classical library), S. 278–280. 2 Eugen Wohlhaupter: Juristen als Künstler. In: ders.: Dichterjuristen. Hg. von Horst G. Seifert. Bd. 3. Tübingen 1957, S. 401–459, hier S. 406. 3 Vgl. Thomas Weitin: Recht und Literatur. Münster 2010 (Literaturwissenschaft: Theorie und Beispiele 10), S. 25. 4 Zit. n. Klaus Kastner: Literatur und Recht – eine unendliche Geschichte. In: Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift. Hg. von Hermann Weber. Berlin 2004 (Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht 18), S. 1–18, hier S. 1. 5 Vgl. Wohlhaupter: Juristen als Künstler, S. 406; Hermann Weber: Recht, Literatur und Musik – Aspekte eines Themas. In: Literatur, Recht und Musik. Hg. von Hermann Weber. Berlin 2007 (Forum juristische Zeitgeschichte 17), S. 1–10, hier S. 2. 6 Michael Marx: Von der Neigung der Poeten zur Jurisprudenz. In: Das Recht und die schönen Künste. Hg. von Heike Jung. Baden-Baden 1998, S. 85–97.
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Einführung: Die Literatur, das Recht und die Härte des politischen Problems
Inwiefern Literatur systematisch ein besonderes Reflexionspotenzial eignet, wird ausführlich zu klären sein (3.3). Historisch ist allemal anzuerkennen, dass sich die Dichtung der Frühen Neuzeit in besonderem Maße der Klärung juristischer, mehr noch: juridischer Fragen verpflichtet fühlt. Der frühneuzeitlichen Dichtung eignet wesentlich ein besonderes Verhältnis zum Rechtsdiskurs, mithin ist Literaturgeschichte der frühen Neuzeit auch wesentlich Teil der Geschichte des frühneuzeitlichen Rechtsdenkens. Das Jahrhundert des Dichterjuristen Andreas Gryphius (1616–1664) setzt sich wie wohl kein Säkulum zuvor neu mit der Frage des Rechts auseinander, seitdem dessen Selbstverständnis als politisch maßgebliche Handlungsregel von Niccolò Machiavelli fundamental angegriffen worden war (4.1). Und besonders die Dichtung nimmt sich dieser Frage in einer Intensität an, die dieses Jahrhundert genauso wie Europa und die Konfessionen übergreift. Als ein früher Höhepunkt einer solchen dichterischen Reflexion auf Fragen des Rechts darf die sogenannte Galeerensklavenepisode aus dem Don Quijote (1613) des Miguel de Cervantes gelten. Don Quijote befreit zwölf Häftlinge auf ihrem Weg zum Galeerendienst. Seine entscheidende Motivation ist dabei nicht deren Unschuld, sondern die Annahme einer exklusiven Strafbefugnis Gottes: [D]a ich weiß, daß es zu den Eigenschaften der Klugheit gehört, was sich im Guten erreichen läßt, nicht im Bösen zu tun, so will ich diese Herren Wächter nebst Kommissär gebeten zu haben, sie möchten belieben, euch loszubinden und in Frieden ziehen zu lassen, da es an andern Personen nicht mangeln wird, um dem König bei bessern Anlässen zu dienen; denn es scheint mir ein hartes Ding, die zu Sklaven zu machen, die Gott und die Natur frei erschufen. Überdies, ihr Herren von der Wache“, fügte Don Quijote bei, „haben diese armen Leute nichts Böses gegen euch selber verübt. Mag denn jeglicher von ihnen zusehen, wie er mit seinen Sünden zurechtkommt; es ist ein Gott im Himmel, der es nimmer versäumt, den Bösen zu strafen, und es ist nicht recht, daß Männer von Ehre sich zu Henkern ihrer Nebenmenschen hergeben, wenn für sie selbst gar nichts dabei auf dem Spiel steht.7
Gott ist nicht nur Stiftungs- und Geltungsinstanz des göttlichen und natürlichen Rechts, sondern stellt auch selbst Rechtssicherheit im vollen Umfang her. In den Augen des Hidalgo ist daher ein vom Menschen selbst ausgeübter Strafvollzug ebenso überflüssig wie unrechtmäßig. Don Quijotes Verständnis von der Gottesinstanz als Straf- und Rechtsgarant einerseits und die Notwendigkeit einer regulierten menschlichen Gesellschaftspraxis andererseits bleiben unvermittelt. Der Ritter von der Mancha übersieht, dass der Gedanke des Gemeinwohls durchaus ein geteiltes Interesse an gemeinsamen Anliegen zu begründen erlaubt: Dass gegen die „Herren von der Wache“ selbst „nichts Böses verübt“ worden war, dass
7 Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote. Aus dem Spanischen übertr. u. hg. von Ludwig Braunfels. Düsseldorf 2003, S. 200.
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„für sie selbst gar nichts dabei auf dem Spiel steht“, hindert nicht, dass gegen das Gemeinwohl Böses verübt wurde und dass für das Gemeinwohl durchaus etwas auf dem Spiel steht. Selbstverständlich darf Gott nicht dadurch gelästert werden, dass das Gemeinwohlprinzip gegenüber solchen absolutistischen Formeln ins Hintertreffen gerät, die die Wachmänner Don Quijote entgegenhalten: „[E]s seien Galeerensklaven, Leute, zu des Königs Diensten bestimmt, die auf die Galeeren kämen, und mehr sei nicht nötig zu sagen und mehr brauche er nicht zu wissen“.8 Diesem Positivismus versucht Don Quijote zu wehren, gelangt dabei jedoch nicht zu einer Rechtstheologie, die auch dem menschlichen Rechts- und Staatswesen als richtungsweisendes Fundament dient. Ebendies hat der tapfere Junker in seiner eigentümlichen Anrufung von Mt 7,1 und 1 Kor 59 grundsätzlich missverstanden. Er versucht zwar, von der Gottesinstanz ebenso wie von pragmatischen Gesichtspunkten zu sprechen. Er hat ein entscheidendes Moment des Machiavellismus durchaus erkannt, dass nämlich Güte ebenso wie Schlechtigkeit – und nicht nur letztere10 – zielführendes Mittel eines nutzorientierten Handelns sein kann. Um Klugheit jedoch auf das Fundament universalen Rechts zurückzuführen, bedarf es in der Tat mehr, als dem Menschen die Sorge und Zuständigkeit in allen Rechtsfragen abzusprechen und sie in Gott ganz erfüllt zu sehen. Seine unterkomplexe Sichtweise setzt Don Quijote mitnichten von der Masse der Zeitgenossen ab, wie das bei seinen ‚Wahrnehmungsstörungen‘ und Realitätsverlusten der Fall ist.11 Erich Auerbach liegt in seiner berühmten Einordnung der Szene falsch, wenn er meint: „Vor allem sind es nicht etwa Don Quijotes Abenteuer, durch die irgendwelche grundsätzliche Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft aufgedeckt würden“.12 Don Quijotes häufige Wirklichkeitsverluste brauchen nicht bestritten zu werden. Wenn sich Don Quijote jedoch juri-
8 Ebd., S. 192. 9 Mt 7,1: „ RJchtet nicht / Auff das jr nicht gerichtet werdet“; 1 Kor 4,5: „Darumb richtet nicht vor der zeit / bis der HErr kome / welcher auch wird ans liecht bringen / was im finstern verborgen ist / vnd den rat der hertzen offenbaren / Als denn wird einem jglichen von Gott lob widerfaren“. Im Folgenden wird immer zitiert nach Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Wittemberg 1545). Letzte zu Luthers Lebzeiten erschiene Ausgabe. Hg. von Hans Volz. Darmstadt 1972. 10 So nämlich lautet ein weit verbreiteter Irrtum der antimachiavellistischen Polemik im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: Vgl. Michael Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Conrings politischem Denken. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 73–105. 11 Vgl. Sebastian Neumeister: Don Quijote, die Windmühlen, die Wissenschaften und die Wirklichkeit. In: Respublica Guelpherbytana. Festschrift für Paul Raabe. Hg. von August Buck, Martin Bircher. Amsterdam 1987 (Chloe 6), S. 613–641. 12 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 2., verbesserte und erweiterte Aufl. Bern 1959 (Sammlung Dalp 90), S. 329.
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disch auf Gott bezieht, bar jeder „Folgerichtigkeit und Methode“, wie Auerbach zurecht feststellt,13 so bringt Cervantes darin gerade kein weiteres Narrenstück des Don zur Darstellung, sondern spricht ein grundlagentheoretisches Problem der zeitgenössischen Rechtslehren an: Ihr juridischer Apriorismus versteigt sich in der Unterschätzung handlungstheoretischer, vordergründig a-juridischer Probleme. Besonders unter dem Pluralisierungsdruck der Frühen Neuzeit erweisen sie sich als ebenso wirklichkeitsfremd wie der Ritter von der Mancha. Ihr unbestrittenes göttliches Fundament und vernunftgeleiteter Aufbau sind noch nicht ausreichend vermittelt mit den Fragen der politischen Wirklichkeit. Ebendiese Vermittlung wird in der Galeerensklavenepisode eingeklagt: Don Quijotes juridischer Rigorismus überzeugt ebenso wenig wie der autoritative Positivismus der Wächter.14 Der Wirklichkeitssinn Machiavellis musste allemal ernst genommen werden. Ein argumentativer Rückzug auf universales Recht, der nicht plausibilisieren wollte, dass das Recht selbst pragmatische Lösungen anzubieten weiß, war nur das, was Machiavelli eine breite Angriffsfläche geboten hatte. Dieser Rückzug ist es auch, der Don Quijote in seine Misere manövriert. „Die fatale Härte des politischen Problems“15 drängt auf seine sachliche Lösung, ohne dass pragmatische Fragen in immer schon imperativen Formeln derjenigen Art wegdefiniert würden, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.16 Göttliches, mithin natürliches Recht hat reflektiert zu werden auf die Fragen der Staatsführung und der menschlichen Gesetzgebung, um diese ebenso klug wie rechtmäßig zu gestalten. Die Rechtstheologie wird in der Galeerensklavenepisode nicht etwa verabschiedet, sondern in ihrem übergeordneten Status allererst nachdrücklich dazu aufgefordert, ihrem „hohen Rang“17 gerecht zu werden und eine theonome prudentia civilis zu kon-
13 Ebd., S. 330: „[G]ewiß ist solch ein Satz höheren Ranges als jedes geltende Recht. Aber eine solche ‚höhere Moral‘ muß Folgerichtigkeit und Methode haben, wenn sie ernst genommen werden soll.“ 14 Vgl. Bernhard Teuber: Der naturrechtliche Diskurs im Don Quijote und die Episode von den Galeerensträflingen. In: Miguel de Cervantes’ ‚Don Quijote‘. Explizite und implizite Diskurse im ‚Don Quijote‘. Hg. von Christoph Strosetzki. Berlin 2005 (Studienreihe Romania 22), S. 365–385, hier S. 376–381. 15 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main 1988 (stw 1268), S. 251. 16 Dabei zeigt sich hier, dass nicht erst Hobbes sich dieser fatalen Härte des politischen Problems bewusst ist, wie es bei Blumenberg erscheint: ebd. 17 Vgl. Gideon Stiening: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 97–133.
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zipieren. In zeitlich unmittelbarer Nähe zu Cervantes veröffentlicht der Conimbricenser Rechtstheologe Francisco Suárez seinen großen Tractatus de legibus ac Deo legislatore.18 Dessen drittes Buch erhebt ebendiesen Anspruch, eine Lehre von den menschlichen Gesetzen zu liefern, die genauso klug wie gottgefällig ist.19 Die Galeerensklavenepisode des Don Quijote ist kein unernster Spaß, nur Spiel, wie Auerbach meint, sondern sie ist der literarische Ausdruck eines virulenten politiktheoretischen Problembewusstseins.
1.1 „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften verbinden“ Es ist ein Problembewusstein, das nicht nur Zeit-, Landes- und Konfessionsgenossen wie Cervantes und Suárez eint. Auch der dreißig bis fünfzig Jahre später wirkende schlesische Lutheraner Andreas Gryphius wird dieses Problembewusstsein an den Tag legen. Inmitten der Aushandlung der Westfälischen Friedensverträge, am 1. September 1648, schreibt der Dichterjurist die Widmungsepistel seiner Olivetum libri tres an den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688).20 Gryphius erinnert „der Fluten so vieler Kriege“, „der Wirrungen unseres Jahrhunderts“,21 um schließlich den Wunsch zu äußern, es „ziehe nun die Süße einer göttlicheren Wissenschaft in unsere Sinne ein!“22 Allzu lange wurde die Religion nicht in den Kirchen, sondern in der Welt („in Orbe“) und im Umgang mit den Menschen („mortalium comerciis“) vollzogen.23 Die aus dem konfessionellen Konflikt resultierenden Kriegsgreuel schildert Gryphius über beinahe die Hälfte des Widmungstexts: Die Vergewaltigung eines Mädchens neben den Leichen ihrer Eltern malt Gryphius mit genauso bildgewaltigen
18 Vgl. Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening (Hg.): Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5). 19 Francisco Suárez: De legibus ac Deo legislatore. Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Liber Tertius. Drittes Buch. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. StuttgartBad Cannstatt 2014 (PPR I, 6–7) [i.D.]; vgl. Gideon Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 195–230. 20 Olivetum, S. 154–161. 21 Ebd., S. 154: „tot bellorum exundationes“, „seculi vertigine“. 22 Ebd.: „Subeat quippe ingenia diuinioris scientiae dulcedo!“ 23 Ebd.: „dum sacra propter, quicquid sanctum atque pium, non templis, sed Orbe & mortalium commerciis exegimus.“
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Worten aus wie den Kannibalismus einer Mutter, die ihr Kind verzehrt, oder den unerträglichen Hunger, der die Menschen zur Nekro- und Koprophagie treibt.24 Neben ausführlichen Reflexionen in seinen dramatischen Figurenreden und epischen Erzählerreden bestimmen Gryphius’ Tatsachenschilderungen und ihre ästhetische Schlagkraft den Charakter seiner politischen Dichtung, und zwar nicht nur ornamental (delectare) oder auch nur in belehrender Absicht (docere), sondern auch in systematischer Hinsicht: Die Grausamkeit der jüngsten Kriegsereignisse wirft die Frage nach allgemeinem Recht und friedlicher Ordnung in einer Radikalität auf, die Blumenberg von der oben genannten „fatalen Härte des politischen Problems“ sprechen lässt. Anders als für Thomas Hobbes jedoch, auf den Blumenberg diese Formulierung münzt, ist für Gryphius die juridische Autorität der Theologie noch in Kraft. Dennoch bestimmt nun die Wucht der Ereignisse den Auftrag der Theologie und nicht mehr diese selbst. Bei Andreas Gryphius drängt der Dreißigjährige Krieg spürbar auf den anthropozentrischen Ernst auch theologischer Rechtslehren. Gryphius setzt alle seine Hoffnung auf die Verwissenschaftlichung der politischen Lehre, d.h. „mit der Kunst des Herrschens die Feinheit der Wissenschaften zu verbinden“: quô remedio sustentare spem? quam studiis, quae intra privati angustias detrusit publicus furor? Quibus tamen multum claritudinis adfulget SERENISSIME atque POTENTISSIME PRINCEPS quod grandia inter atque augusta curarum momenta & his praesidium sufficias. Nec enim infrà magnitudinem Tuam censes, artibus imperandi, scientiarum elegantiam junxisse […].25
Sobald die Staatslehre durch ihre Szientifizierung an Gewissheit gewinnt, stellt sie ebenso eine größere Handlungssicherheit in Aussicht wie eine nachhaltige Wahrung des Friedens. Die eigentliche Hoffnung aber ruht merklich auf einer Instanz, die die Politikwissenschaft selbst nicht ist. Für Gryphius ist dies ihr Vorteil: Denn können ihre Studien vom Wahn der Menschen verdrängt werden („detrusit“), so bleibt ihr objektives Geltungsfundament von solchem Wahn und
24 Ebd., S. 156: „Compressa caesos juxta parentes virgo, exhalauit animam inter ferales amplexus, aut telo viam reperit, qua exiret carceres incoestos. […] Contigit ergo, quod olim posteri factum negent, aut execrentur; exspes vitae mater huc ferociae descendit, ut prolem inter & affectus dubia, quem morti damnet; non passa sobolem negates alimentis extabescere, praeoccuparit parricidali dextra carnificis officium ac reluctante stomacho ingereret, prolis ex se genitae divulsas ac tabo stillantes semicrudas carnes, suffodit sepulcreta fames, inhiavit gabalis infamibus, & sontium suppliciis pasta creuit. Multi semianimes ossa atque bestiarum sordes ore complexi expiravere.“ 25 Ebd., S. 158.
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Ignoranz letztlich unberührt. Die Forderung nach der Verwissenschaftlichung der politischen Kunst hat nicht ihre Loslösung von der Theologie im Sinn: Die Ölzweige des Friedens – so heißt es im ersten Satz – triefen vom Blut Christi, insofern der Glaube an ihn und seine Erlösungstat erst diejenige Geduld erlaubten, den Krieg durchzustehen und die einzig wahre Glaubenspraxis, nämlich die allein kirchliche, zu etablieren.26 So sehr das weltliche Regiment mit Blick auf seine Zuständigkeit also säkular ist, so behält es eine Ermöglichungsbedingung in jener „diuinior scientia“, der Lehre von der Friedfertigkeit des christlichen Glaubens. Der politische Frieden ist nur theologisch erklärbar, denn schließlich verdankt er sich ausschließlich dem Gott des Friedens, der auch – so heißt es im letzten Satz – der Gott des Ratschlusses ist. Dieser Gott und sein Patronat über den Kurfürsten sind die andere Ermöglichungsbedingung dieses weltlichen Regiments. Gryphius macht keinen Hehl daraus, dass dieser Ratschluss Gottes politisch ist: Er gewährt dem Großen Kurfürsten alles, was diesem nützlich ist, und zwar nützlicher („utilius“), als es der Mensch Gryphius dem Herrscher wünschen kann.27 Gott gewährt dem weltlichen Regiment seine Unterstützung nicht nur, insofern es über die nötigen Mittel bisweilen nicht verfügt, sondern auch, insofern allein Gott die angemessene Kenntnis davon besitzt, was eigentlich politisch nützlich ist. Die Verwissenschaftlichung der politischen Lehre reicht über ihre strukturelle Szientifizierung (Ramismus, ordo geometricus etc.) nicht hinaus: Sie reicht nicht bis zur Verwissenschaftlichung ihrer Fundamente selbst heran; sie bedeutet keine Kritik der praktischen Vernunft avant la lettre: Die Bestimmungen des Krieges, besonders aber des Friedens bleiben Theologeme. Die Kenntnis der letzten praktischen Wahrheit, dessen nämlich, was künftig geschehen wird, bleibt dem Menschen entzogen und allein Gott vorbehalten. Wenn Gryphius die politische Kunst nichtsdestoweniger als szientifizierbar erachtet, so verdankt sich dies gerade der verbleibenden ‚Theologizität‘ dieser scientia. Wissenschaft ist das sichere Schließen aus Grundsätzen, die selbst als unbezweifelbar gelten. Diesen Status des Unbezweifelbaren besitzt für Gryphius ausschließlich das Wissen um Gott und seine Allmacht.
26 Ebd., S. 154: „PAcis Olivas, post tot bellorum exundationes affero, sed illius cruore madidas, qui ad restaurandum collapsi generis decus, amoris tantum sui magnitudine ducebatur. Huc saltem oculos, seculi vertigine caligantes, defigere licuit; Cùm in ea tempora natum me deprehenderem, quibus advortere mentem necessum fuit, constantissimo exemporum. […] Subeat quippe ingenia diuinioris scientiae dulcedo!“ 27 Ebd., S. 160: „DEVS PACIS, DEUS CONSILII, cui multa debet, plura debebit SERNISS. TUA CELSITUDO SER. T. Celsitudinem, ILLVSTRISSIMAM CONIUGEM, ac spem votumque Patriae, EXPEDITAM diu PROLEM; VOS, è quorum Vita, tot populorum Vita atque incolumitas dependet; Sospitet, & quae utilius sit VOBIS excepisse, nobis optasse, largiatur.“
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1.2 „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ Gryphius setzt sich vor allem in seinen Trauerspielen Leo Armenius, Catharina von Georgien, Æmilius Paulus Papinianus und Carolus Stuardus mit dem Problem von politischer Wirklichkeit und Gottes’ rechtlicher Geltung in politicis auseinander. Sein Interesse schlägt sich in den einzelnen politischen Trauerspielen nieder, aber auch in dem Ganzen, das sie bilden. Denn sie eint eine gemeinsame systematische Fragestellung: Was ist gültig zu erwarten für den Fall, dass der Souverän im Staat entweder als Tyrann gegen das göttliche und natürliche Recht verstößt oder durch einen illegitimen Umsturz handlungsunfähig wird? Noch fast ein halbes Jahrhundert nach Cervantes und Suárez verfolgt Gryphius diese Frage mit einer erstaunlichen Akribie und dekliniert unterschiedliche Problemkonstellationen von Souveränität und Widerstand regelrecht durch. Offensichtlich ist es der Rechts- und Staatslehre auch in der Zwischenzeit nicht gelungen, eine befriedigende Lösung anzubieten, und es drängt sich die Vermutung auf, dass Gryphius ein eigenes Lösungsangebot macht. Dieses sei hier unter der allgemeinen These formuliert: Über Rechtsdenker wie Suárez hinaus, denen eine Staatsrechtslehre klug und gottgefällig sein sollte, versucht Gryphius in den ästhetischen Probehandlungen seiner Trauerspiele den Nachweis, dass eine Staatsrechtslehre klug, weil gottgefällig zu sein hat – stärker noch: anders gar nicht als klug gedacht werden kann. Der Unterschied von Gerechtigkeit und Nützlichkeit besteht für Gryphius offensichtlich nur begrifflich. Der Irrtum des moralisch indifferenten Pragmatismus gründet in der unzulässigen Ontologisierung dieses Unterschieds. Gryphius nimmt den stoizistisch beeinflussten Gedanken Ciceros wieder auf, dass das Unehrenhafte, mithin Ungerechte unmöglich von Nutzen ist.28
28 Obwohl es ihm um die Kollisionsfrage von honestum bzw. iustum und utile eigentlich erst im dritten Buch geht, greift Cicero die Antwort gerade im Hinblick auf die doch nur begriffliche Distinktion von Gerechtem und Nützlichem schon im Anfang des liber secundus voraus: Cicero: De officiis, II, 9f., S. 176: „Hoc autem de quo nunc agimus, id ipsum est, quod ‚utile‘ appellatur. In quo verbo lapsa consuetudo deflexit de via sensimque eo deducta est, ut honestatem ab utilitate secernens constitueret esse honestum aliquid, quod utile non esset, et utile, quod non honestum, qua nulla pernicies maior hominum vitae potuit afferri. Summa quidem auctoritate philosophi severe sane atque honeste haec tria genera confusa cogitatione distinguunt: quicquid enim iustum sit, id etiam utile esse censent, itemque quod honestum, idem iustum, ex quo efficitur, ut, quicquid honestum sit, idem sit utile“ [Hervorhebung, O.B.]. Vgl. Eckard Lefèvre: Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch. Stuttgart 2001 (Historia 150), S. 86.
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Allerdings richtet die vorliegende Studie ihren Fokus nicht auf die Moraldidaxe der politischen Trauerspiele. Anders als der Junker von der Mancha ist sich nämlich der Dichterjurist Gryphius sehr wohl bewusst, dass ein je schon doktrinäres Theologisieren die Härte des politischen Problems zu vernachlässigen droht. Das irdische Problem steht sowohl im Zentrum der dramatischen Verhandlung als auch am Beginn seiner Analyse. Gryphius nimmt auch die Innovationen des Welt- und Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit auf, und zwar nicht, um seine rechtstheologische Haltung gegen deren theorieimmanente Säkularisierungstendenzen zu verteidigen. Statt eines Widerspruchs sieht Gryphius in den New Sciences gerade die säkulare Entsprechung zur Begründung einer allein göttlichen Rechtsgeltung und theonomen Politologie. Die Wissenschaftsphilosophien Bacons und Descartes’ enthalten sich entschieden eines Erkenntnisanspruchs über Gottes Willensbeschlüsse und stärken so zunächst die Rechtstheologie mehr, als dass sie sie schwächten. Lutherische Orthodoxie und wissenschaftsinnovatives Knowhow stehen bei Gryphius in gemeinsamen Dienst gegen den machiavellistischen Prudentismus. Und sie sollen gemeinsam aufzeigen helfen, dass Achtung göttlichen Rechts und politischer Pragmatismus gar keine gleichrangigen Alternativen darstellen, die es etwa zu vermitteln gälte. Gryphius’ politische Trauerspieldichtung ist von dem Grundgedanken getragen, dass Klugheit als solche ohne die Beachtung von Gottes Recht nicht zu haben ist. Das ius divinum zeitigt eine politische Wirklichkeit, so dass für Catharina von Georgien wie jeden rechtmäßig handelnden, aber ungerecht behandelten Souverän gelten darf: „das rechte Recht steht jhrer Sachen bey“ (GdW 6, Catharina von Georgien, V,6, S. 220, v. 387). Gryphius’ politische Theologie ist theologische Politologie. Um den Beweis dieser Kernthese ist es der folgenden Arbeit, so weite und verzweigte Wege sie zu gehen hat, zu tun.
2 Forschungsüberblick und -diskussion: Zum Antagonismus heilsgeschichtlicher und politologisch-jurisprudenzieller Perspektiven der Gryphius-Forschung Diskussionen einer breiten und vielfältigen Forschung stehen vor dem Problem, vor der schieren Masse des zu Diskutierenden ausufern zu müssen. Eine bloß selektive Auswahl wäre wissenschaftlichen Ansprüchen gegenüber der Forschung ebenso undankbar wie unwissenschaftlich. Der Spagat, beides zu vermeiden, scheint indessen nur gelingen zu können, wenn der Umfang der diskutierten Arbeiten zwar verringert wird, dies jedoch nach solchen systematischen Gesichtspunkten erfolgt, die jene Arbeiten als exemplarisch für eine bestimmte Gruppe ansehen. Diese Forschungsdiskussion muss sich daher durch eine Doppelstruktur auszeichnen: Nicht nur müssen die wesentlichen Ergebnisse der Forschung gesammelt und referiert werden, mithin der Antagonismus zweier, im weiteren Sinne einmal heilsgeschichtlich-theologischer und ein andermal rechtshistorisch-politiktheoretischer Perspektiven aufgezeigt werden (2.1). Es muss auf der Ebene der allgemeinen Forschungsdiskussion selbst referiert werden, wie dieser Antagonismus konzeptualisiert wird (2.2). Schließlich ist der eigene Umgang mit dem Antagonismus zu umreißen, der ihn zu seinem eigenen Gegenstand macht (2.3).
2.1 Der wissenschaftliche Antagonismus Was die ideen- und motivgeschichtliche Betrachtung der gryphschen Trauerspiele betrifft, lassen sich in der Forschungsgeschichte zwei unterschiedliche Ansätze erkennen, bezüglich derer die Nicola Kaminski sogar von „festgefügten Fronten“ spricht.1 Der erste Ansatz fokussiert die bei Gryphius unbestritten starken und häufigen Analogien zur Heilsgeschichte: Die ohne Ausnahme zu Tode kommenden Titel- und Hauptfiguren sind von Gryphius ausgestattet mit Gesten, Handlungen und Verhaltensweisen, die als Reminiszenzen des Leidens Christi fungieren. Als das Zentrum der Trauerspiele wird vermehrt das vanitas-Motiv angesehen und das Irdische bei Gryphius vorrangig mit Blick auf dessen Vergänglichkeit inter-
1 Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998 (RUB 17610), S. 73.
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pretiert. Entsprechend etabliert diese Forschungslinie eine martyrologische Lesart der gryphschen Tragödien, dies natürlich unter Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen Umstände. Der zweite Ansatz vertieft sich in die juridischen und juristischen Diskurse dieser Trauerspiele. Der Begriff Diskurs wird hier nicht im Sinne Foucaults verwendet, da die verhandelten Normen nicht eigentlich erst hergestellt werden, sondern im Sinne Jürgen Habermas’, insofern nämlich „problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht werden“.2 Es soll sich im Folgenden zeigen, inwiefern gerade dieser Diskursbegriff erlaubt, den Antagonismus zu überwinden, ohne ihn schlicht zu leugnen. Die Untersuchung des juridischen Diskurs’ bei Gryphius entwickelte sich zu einem Gutteil in schon kritischer Auseinandersetzung mit der martyrologischen Gryphius-Philologie und stellt sich in seinem Selbstverständnis häufig in expliziten Gegensatz zu deren Dominanz.3 Die problematisierten Geltungsansprüche sind solche der herrschaftlichen Geltung sowie der Geltung von Widerstand gegen eine vermeintlich tyrannische Herrschaft: Gryphius’ Diskutanten problematisieren die Legitimität obrigkeitlicher Urteile, Handlungen und Gesetzgebungen. Diese zur Diskussion gestellten Legitimationen müssen sich im Verlauf dieser Diskussionen fast immer an einem Katalog traditioneller Rechtsquellen messen lassen. Diese Forschungslinie nimmt also vorrangig herrschaftliche Rechts- und Schuldansprüche der irdirschen Akteure gegeneinander in den Fokus, während die martyrologische Tradition unter mehr holistischer Sicht das Spannungsverhältnis von Heilsversprechen und allgemein menschlicher Erbschuld gegenüber Gott während des Interims vor Anbruch des Dritten Reichs und der Herrschaft des Heiligen Geistes in den Blick nimmt. Kaminskis Rede von „Fronten“ ist insofern nicht zuzustimmen, als in der literaturwissenschaftlichen Praxis die einen Interpreten tatsächlich nicht exklusiv heilsgeschichtlich, die anderen nicht exklusiv rechtsgeschichtlich verfahren. Die beiden skizzierten Linien ziehen sich häufig auch durch ein und dieselbe Lite-
2 Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zur Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Hg. von Franz Maciejewski. Frankfurt am Main 1973, S. 101–141, hier S. 115. 3 Z.B. Rolf Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, am Beispiel des ‚Carolus Stuardus‘ von Andreas Gryphius. In: Simpliciana IX (1987), S. 215–237; Peter Brenner: Das Drama. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München, Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 539–574, besonders S. 547ff.; Harald Steinhagen: Geschichte als Mythos. Zu den Trauerspielen des Andreas Gryphius. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Hg. von Volker C. Dörr, Helmut J. Schneider. Bielefeld 2006, S. 59–67, besonders S. 67ff.
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ratur. Die Gryphiusforschung berücksichtigt häufig genug beide Aspekte, was kaum verwundert, steht sie doch unter dem wirkmächtigen Einfluss der These Walter Benjamins, der Antagonismus zwischen Märtyrer und Tyrann sei für die barocke Märtyrertragödie grundlegend.4 Nur selten jedoch werden die beiden Aspekte zusammengebracht: Die rechtlichen und politischen Implikationen bestehen neben den theologisch-martyrologischen Perspektiven.5 Auch darin zeigt sich der benjaminsche Einfluss, schließlich gilt diesem Antagonismus das Interesse nur unter der schon vorangenommenen Perspektive des Märtyrerdramas und ordnet damit den Aspekt des politisch-juridischen Tyrannen-Diskurs’ dem heilsgeschichtlichen immer schon unter.6 Politische Theologie interessiert dabei nur von der legitimationstheoretischen Seite her. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass hierdurch Fortschritte erzielt werden konnten: Anachronistische Interpretationen etwa, die in Gryphius’ Trauerspielen bisweilen Revolutionsdramen sehen wollten,7 konnten als wenig satisfaktionsfähig entlarvt werden. Jedoch die politisch-prudentiellen, gar die heilsrelevanten Folgen der „sainteté du pouvoir royal“ kommen auch danach nicht in den Blick.8 Diese Diskrepanz wird von Lothar Bornscheuer zutreffend als sinnfällig für die gryphsche Trauerspielpoetik verstanden.9 Er versucht dieses Widerspiel zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz mit systematischen Begriffen wie Synkretismus, Simultaneität, Heteronomie, Vexierspiel, paradoxe Kombination und Interferenz zu fassen.10 Bornscheuers Schluss allerdings,
4 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Revidierte Ausgabe. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1963, S. 60–62; vgl. Johannes Klaus Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses in die deutsche Sprache und Literatur (14.–17. Jahrhundert). In: Wort – Begriff – Diskurs. Deutscher Wortschatz und europäische Semantik. Hg. von Heidrun Kämper, Jörg Kilian. Bremen 2012 (Sprache – Politik – Gesellschaft 7), S. 31–48, hier S. 33. 5 Vgl. in dieser Weise Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, hier S. 215. 6 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 61f. 7 Vgl. etwa Heinrich Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit. Rostock 1939 (Rostocker Studien 5), der im Carolus Stuardus die „Antithese der Heiligkeit der gottgewollten Majestät und der Lehre von dem Recht des Volkes auf Revolution“ ausgedrückt sieht (S. 29). 8 Henri Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius (1616– 1664). In: Le Pouvoir et le Sacré. Hg. von Luc de Heusch u.a. Brüssel 1962 (Annales du Centre d’études des religions 1), S. 159–178. 9 Lothar Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus im Zerfall der Politischen Theologie. Zur Tragödienpoetik der Gryphschen Trauerspiele. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 489–529, besonders S. 525ff. 10 Jeweils Ebd., S. 504, S. 507, S. 513, S. 516, S. 521, S. 525.
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die genuine Leistung der Trauerspiele sei eben, eine „hermeneutische Reflexion ad infinitum zu provozieren“,11 erscheint verkürzt, insofern er werkästhetisch unvermittelt auf Intentionalität schließt. Die Unterscheidung Heilsökonomie – Jurisprudenz, besonders in dem häufig zu beobachtenden dualistischen Charakter, wie er sich in der literaturwissenschaftlichen Praxis realisiert, scheint als methodische Perspektivierung vorerst sinnvoll. Anstoß zu nehmen ist dagegen an der Tendenz der Gryphiusforschung, diese Perspektivierung zur ontologischen Behauptung zu steigern, dass Gryphius’ Trauerspiele heilsgeschichtliche Tragödien oder juristische Schulstücke sind. Zugegeben schlägt sich das Übergewicht der eschatologisch-theologischen Deutungstradition in der schulmäßigen Bezeichnung der gryphschen Trauerspiele als Märtyrerdramen nieder. Demgegenüber ist die ‚Front‘ der juristischen Interpretationen deutlich kleiner, dabei aber häufig in ihrer Exklusivität nicht minder rigoros: Harald Steinhagen etwa stellte erst 2006 knapp fest, „daß Gryphius sich eine christliche Interpretation der Geschichte weitgehend versagt […] Für ihn sind […] Politik und Religion ebenso wie Geschichte und Religion zwei getrennte Bereiche“.12 Hierbei irritiert schon der Schluss von der Getrenntheit der himmlischen und irdischen regna auf die Säkularität der sie behandelnden Trauerspiele. Denn diese Trennung kann gerade Ausdruck des Einflusses lutherischer Orthodoxie sein. Sie trennt die zwei Regimenter in der Art, dass erstens die nur sola fide zu erringende Heilsgewissheit vom Gang weltlicher Dinge nicht tangiert wird und zweitens die politische Führung gegenüber Heilsfragen indifferent bleibt, ja, wegen der sola-fide-Doktrin indifferent dastehen muss. Man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass es einen präsäkularen Begriff des Säkularen gab. Dieser spätantike rechtstheologische Begriff des Säkularen war topologisch und noch nicht wie gegenwärtig chronologisch, als Ergebnis eines Prozesses von Säkularisierung bestimmt: säkular bezeichnete schlicht den Bereich weltlicher Herrschaft.13 Diese Unterscheidung war aber immer noch eine theologische. Insofern also die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ersterem nicht seinen theonomen Charakter nahm, ist die irdische Realisation des weltlichen Regiments immer noch eine Sache von religio, dem Glauben nämlich an die Gültigkeit von Röm 13,1 und damit der Gottgewolltheit politischer Herrschaft. Mit der dezidierten Unzuständigkeit des weltlichen Regiments für das Heil ist seine argumentativ theologische und damit persuasiv religiöse Fundierung nicht im Geringsten ausgeräumt.
11 Ebd., S. 525. 12 Steinhagen: Geschichte als Mythos, S. 62f. 13 Ulrich Ruh, Friedrich Vollhardt: [Art.] Säkularisierung. In: RLW III, S. 342–344, hier S. 342.
Der wissenschaftliche Antagonismus
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Im Fortgang der Arbeit ist daher die Geschichte der Theologie genauso wie die der Jurisprudenz und der Staatslehre zu berücksichtigen: Hier sind schon Arbeiten vorhanden, welche die Exklusivität theologischer beziehungsweise juristischer Interpretationen für politische Texte des mittleren siebzehnten Jahrhunderts wenig stabil erscheinen lassen. Merio Scattola warf 1999 einen Blick auf die naturrechtliche Tradition vor Grotius und Bodin und arbeitete in akribischem Primärquellenstudium die vermischt-heterogenen Traditionslinien des Naturrechts vor dem Naturrecht heraus.14 Frank Grunert wies entscheidende naturrechtsimmanente Säkularisierungsmomente erst dem nach Gryphius entscheidend wirkenden Samuel Pufendorf zu.15 Und selbst bei Pufendorf stellte 1998 Gerald Hartung die Denknotwendigkeit der Gottesinstanz als erste, höchste und letzte Instanz der obligatio, der Verpflichtung gegenüber den ersten Prinzipien des einen Naturrechts heraus.16 Der Verdacht politischtheologischer Implikationen in Gryphius’ Dramen ist also mit einem Hinweis auf die topologische Säkularität des Weltlichen noch nicht erledigt. Hinzu kommt drittens die Staatsräsonlehre, die mit den theologischen und juristischen Legitimationen in wechselvoller Spannung steht. Zu dieser gibt es eine reichhaltige Forschung, von der hier vor allem Michael Stolleis genannt sei; dazu gleich mehr.17 Unter Einbezug rechtsgeschichtlicher Fakten unterzog Peter Brenner die martyrologischen Deutungen der gryphschen Trauerspiele einer deutlichen Kritik, indem er die zeitgenössische rezeptionsästhetische Wirkung der Hinrichtungen als Martyrien mit Blick auf die karolinische Justizpraxis in Zweifel zog.18 Dieser Ansatz bietet gleich mehrfachen Aufschluss, er fängt jedoch mit seiner positivrechtlichen Kontextbeschränkung gerade nicht denjenigen fundamentalen Diskurs ein, um den es Gryphius zu tun ist: Den Schlesier interessierten nicht bloße Legalitäts-, sondern Legitimitätsfragen. Eine befriedigende literarhistorische Berücksichtigung jenes Kontexts sowie desjenigen der Beamtenethik vollzog erstmals Friedrich Vollhardt im Hinblick auf den
14 Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‚ius naturae‘ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 52). 15 Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 57), S. 154–162. 16 Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau, München 1998 (Alber-Reihe praktische Philosophie 56), S. 36f. 17 Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990. 18 Peter Brenner: Der Tod des Märtyrers. ‚Macht‘ und ‚Moral‘ in den Trauerspielen von Andreas Gryphius. In: DVjs 62 (1988), S. 246–265, besonders S. 251.
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Papininan.19 Die Zusammenschau von Theologemen und praktischen Philosophemen im Prozess der Säkularisierung unternahm Barbara Mahlmann-Bauer respektive des Leo Armenius.20 Wenn die Interpretation der gryphschen Trauerspiele ideenhistorisch korrekt verfahren möchte, darf sie weder exklusiv ‚heilsökonomisch‘ noch exklusiv ‚juristisch‘ erfolgen. Damit sei als gleichsam instruktives Beispiel für eine vordergründig interdisziplinäre, aber ihrem Gegenstand nach einheitliche Forschung das Exempel Michael Stolleis’ wieder aufgenommen: Stolleis wurde nicht nur wegen seiner immensen Verdienste auf dem Gebiet der historischen Staatslehre genannt, sondern auch der Irritation halber, die seine eigentliche Deputation als Rechtshistoriker im Hinblick auf den politologiegeschichtlichen Gegenstand eigentlich hervorrufen müsste. Wenn diese Irritation jedoch ausblieb und ausbleibt, mithin Stolleis’ Forschungen nicht als disziplinfremd in Frage gestellt werden, so hat das gute Gründe, und dies nicht etwa, weil Stolleis’ eigentlich rechtsgeschichtliche Kompetenz um die politologiegeschichtliche erweitert wäre. Tatsächlich liegt nicht gleichermaßen eine ‚Zusatzqualifikation‘ vor, die gegenüber dem eigentlichen Gegenstand nur kontingentes Additivum wäre. Vielmehr ist die Geschichte der Staatslehren der Frühen Neuzeit ihrem Gegenstand nach immer auch eine Geschichte des Rechts. Die Legitimitätsfrage war von derjenigen klugen Handelns nicht getrennt, sondern blieb mit dieser eng verbunden: Staatslehre wurde stets als Staatsrechtslehre betrieben. Es ging nicht nur um Legalisierungsstrategien, sondern es wurde gerade unter Ausschluss der legitimatio subsequens21 die Legitimität des Herrschers oberhalb des staatlichen Rechts gesucht und vor Grotius und Hobbes in ausschließlich theonomen Rechtsquellen gefunden. Damit ist die Geschichte der frühneuzeitlichen Politologie nicht nur gleichzeitig eine des frühmodernen Rechts, sondern auch der praktischen und Rechtstheologie. Insofern ist etwa Rüdiger Campes Feststellung, Gryphius verhandele weniger Fragen der
19 Friedrich Vollhardt: Klug handeln? – Zum Verhältnis von Amtsethik, Natur- und Widerstandsrecht im Æmilius Paulus Papinianus (1659) von Andreas Gryphius. In: ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer, Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3), S. 237–255. 20 Barbara Mahlmann-Bauer: ‚Leo Armenius‘ oder der Rückzug der Heilsgeschichte von der Bühne des 17. Jahrhunderts. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hg. von Christel Meier, Heinz Meyer, Claudia Spanily. Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4), S. 423–465, besonders S. 456–462. 21 Vgl. Johannes Winckelmann: [Art.] Despotie, Despotismus II. Max Weber. In: HWPh 2, S. 144– 146, hier S. 144.
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Macht als vielmehr diejenige des vom Herrscher verkörperten Verhältnisses von Macht und Recht, systematisch zutreffend, darf aber eben nicht historisch-systematisch übersehen lassen, dass in der Frühen Neuzeit die Frage nach der Macht eben immer die nach ihrem Verhältnis zum Recht war.22 Die vorliegende Untersuchung setzt sich somit auch die Revision jener in der Gryphiusforschung statthabenden ‚Fronten‘-Bildung zum Ziel, und will Interpretationen leisten, die den historischen Verbund theologischer, philosophischer und jurisprudentieller Traditionslinien frühaufklärerischer Ordnungsdiskurse in der Literatur des ‚Dichterjuristen‘ des mittleren siebzehnten Jahrhunderts berücksichtigen.
2.2 Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit des Antagonismus Es ist nicht ausgemacht, dass der Antagonismus von heilstheologischen und rechts- wie politiktheoretischen Deutungstraditionen der gryphschen Trauerspiele je schon falsch sein muss. Es wäre die absurde und von wohl von keinem der Diskussionsteilnehmer ernsthaft gewollte Folge, alle z.B. heilsgeschichtlich perspektivierten Gryphiusstudien für unwert zu erklären, nur weil sie das Feld politisch-theologischer Fragen aussparen. Eine etwa heilsgeschichtlich interessierte Bearbeitung der politischen Trauerspiele ist nicht schon verengt oder verkürzt, nur weil sie sich auf den Aspekt des Heils konzentriert. Mit der Konzentration der Beobachtung ist schließlich nicht auch eine Zentralität des nunmehr fokussierten Felds innerhalb der Gesamtsystematik des Werks behauptet. Nur wenn eine solche Zentralität oder gar Exklusivität behauptet wird, ist die Legitimität dieser Behauptung zu prüfen, ob also nicht nur das fokussierte Feld bearbeitet, sondern auch gerade dieser Anspruch bewiesen wird. Die Probleme werden dort virulent bzw. unumgänglich, wo es eben um das Verhältnis politologisch-jurisprudentieller und heilstheologischer Perspektiven geht, um bei jeweiligen Akzentuierungen zu enden.
22 Rüdiger Campe: Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele ‚Leo Armenius‘, ‚Catharina von Georgien‘, ‚Carolus Stuardus‘ und ‚Papinianus‘. In: Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit. Hg. von Roland Galle, Rudolf Behrens. Heidelberg 2000 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 6), S. 257–287. Dabei erkennt Campe richtig eine weitere Zuspitzung innerhalb der Werkgenese: „Carolus und Papinianus stellen also nicht mehr wie Leo Armenius und Catharina die Frage der Legitimation: Wie verhält sich die Macht zum Recht? Vielmehr stellen sie die Frage der Legitimation im Rahmen der Institution: Wie verhält sich das reine Recht zu der Rechtlichkeit, die die Macht in ihrer Verfaßtheit, im Rückstau der Gewalt zum Potential der institutionellen Macht, ausbildet?“ (S. 273).
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Schaut man auf Forschungsdiskussionen, die diesen Antagonismus in den Blick nehmen, so sind zum Einen solche Lösungsversuche zu vermerken, die den Antagonismus zu Gunsten eines der Deutungskonkurrenten zu entscheiden suchen: Daniel Weidner etwa unternimmt diesen Versuch über die theatersemiotische Analyse des Sakraments. Weshalb aber dieses dritte, nur wieder theologische Kriterium Sakrament gegenüber einem alternativen dritten – etwa staatspolitischen – Kriterium einen Erkenntnisvorteil bietet, bleibt unbegründet.23 Demgegenüber stehen zum Anderen Beschreibungsversuche des Antagonismus wie derjenige Nicola Kaminskis. Er enthält sich einer bestimmten Parteinahme und will auf eine solche auch gar nicht zulaufen. Dennoch offenbart Kaminskis Beschreibung eine bestimmte Wahrnehmung des Antagonismus, welche die Problematik dieses scheinbar unauflösbaren Antagonismus eben nicht nur beschreibt, sondern mit ausmacht. Kaminski paraphrasiert das schwierige Verhältnis der beiden ‚Lager‘ bzw. ‚Fronten‘ wie folgt: [E]ine Märtyrerin für ihren Glauben an Christus ist nur Catharina von Georgien (vgl. Heselhaus[24] […]) – doch selbst sie tritt, anders etwa als die heilige Felicitas im gleichnamigen […] Drama des Jesuiten Nicolaus Caussinus, nicht ausschließlich als Christin auf den Schauplatz, sondern zunächst und vor allem als (freilich christliche) ‚Fürstin‘ (Cath. I,82), als ‚Königin von Georgien in Armenien‘ (Cath. 7,2). Problematischer noch scheint es, den Carolus Stuardus als Märtyrerdrama zu bezeichnen, ungeachtet dessen, daß die postfigurale Gestaltung seines Sterbens nach der Passion Christi sich bis in die Nebenfiguren hinein nachzeichnen läßt, weshalb man in ihm die ‚reine Form der Märtyrertragödie‘ (Schöne[25] […]) hat sehen wollen: fehlt ihm, dem in der politischen Auseinandersetzung des englischen Bürgerkriegs von den Independenten gefangengesetzten und hingerichteten König, doch, ‚zumindest in der ersten Fassung, die entscheidende Voraussetzung dafür {…}: die Bewährungsprobe, in der er sein Leben bewußt für eine allgemeine Überzeugung hingibt‘ (Steinhagen[26] […]). Der Papinian schließlich stellt zwar strukturell ‚eine geradezu vollendete Realisierung des Märtyrerdramas‘ dar, ‚obwohl der Held kein Christ und weil er kein Herrscher ist‘ (ebd.); doch Themis, ‚das heil’ge Recht‘ (Pap. III,474), für das Papinian mit
23 Daniel Weidner: ‚Schau in dem Tempel an den ganz zerstückten Leib, der auf dem Kreuze lieget‘. Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: Daphnis 39 – 1 (2010), S. 287–312. 24 Clemens Heselhaus: Gryphius’ Catharina von Georgien. In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hg. von Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1958, S. 35–60, hier S. 36. 25 Albrecht Schöne: Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 117–169, hier S. 133. 26 Harald Steinhagen: Die Trauerspielform des Andreas Gryphius. In: Weltgeschick und Lebenszeit. Ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht. Hg. von Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Düsseldorf 1993, S. 53–68, hier S. 54.
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seinem Leben einsteht, ist, trotz ihrer transzendenten Verankerung und der Amalgamierung mit Christus zur ‚Themis Christiana‘ (vgl. Habersetzer[27] […]), eine in der diesseitigen vanitas-Welt staatsrechtlich-politisch Ordnung schaffende Kraft – weshalb man wiederholt versucht hat, dieses Trauerspiel als säkularisiertes Märtyrerdrama zu lesen.[28] Wer freilich konsequent die staatsrechtlich-politische Dimension dieser drei Trauerspiele akzentuiert, wird den Juristen Gryphius nicht erst mit dem Papinian, sondern ‚von Anfang an‘ – schon mit der Catharina von Georgien – ‚auf dem Weg zum säkularisierten Märtyrerdrama‘ sehen (Szarota[29] […]).30
Zutreffend skizziert Kaminski ein Für und Wider mal vermehrt martyrologischer, mal vermehrt rechtsgeschichtlicher Einzelinterpretationen der Trauerspiele: Sie skizziert Aspekte, unter denen die Protagonisten als Märtyrer gelten können, sowie solche, unter denen dies weniger zuzutreffen scheint. Catharinas Sterben als Christin, welche die Heirat mit Chach Abas besonders wegen der dafür notwendigen Konversion zum Islam scheut, steht ihr Status als Fürstin ‚gegenüber‘. Charles I. Stuart geht zwar mit festem Glauben, aber nicht um seines Glaubens willen in den Tod, sondern wird wegen staatspolitischer Anschuldigungen der Independenten verurteilt. Papinians Überzeugung von der Wahrheit und Geltung des transhumanen Rechts ist zwar zweifellos diejenige von etwas Heiligem, dies jedoch im Hinblick auf irdische politische Geltungs- und Befugnisfragen. An Kaminskis Referat der Forschungsmeinungen fällt nun eines auf: Die vordergründigen Erwägungen ‚gegen‘ die jeweilige Märtyrer-Lesart konstatiert sie nur als solche, d.h. negative im Hinblick auf die Märtyrerfrage. Sie erörtert nicht die positive Bestimmung dieser Erwägungen selbst, obgleich sie deren Gemeinsamkeit vor Augen führt: Es handelt sich stets um Erwägungen eben der „staatsrechtlich-politischen Dimension“. Dass die weniger martyrologischen Interpretationen ihre Zugehörigkeit zu dieser Dimension eint, drängt schon zu ihrer positiv-gehaltlichen Erörterung, schließlich eignet ihr eine Systematik. Vor allem fordert diese Gemeinsamkeit dazu auf, das Verhältnis dieser vordergründig heilsgeschichtswidrigen Erwägungen zu den heilsgeschichtlichen genauer zu klären als nur durch den je schon negativen Bezug. Solange von den heilsrelevanten
27 Karl-Heinz Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum Studien zum historisch-ästhetischen Horizont des barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius Carolus Stuardus u. Papinianus. Stuttgart 1985 (Germanistische Abhandlungen 55). 28 Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius. Tübingen 1977 (Studien zur deutschen Literatur 51), S. 286–297. 29 Elida Maria Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts. Bern, München 1967, S. 304. 30 Kaminski: Andreas Gryphius, S. 74–76.
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Fragen ex ante nur diejenigen betrachtet werden, die wesentlich unpolitisch bzw. nicht rechtsförmig sind, und solange umgekehrt von den staatsrechtlich-politischen Fragen gleichfalls nur diejenigen gesehen werden, die mit dem Heil nicht unmittelbar befasst sind, kann eine Vermittlung der beiden Perspektiven nicht gelingen. Darin liegt auch der Grund dafür, warum Kaminski die Problematik des Antagonismus nicht auflösen kann. Es zeigt sich an ihrer abschließenden Sicht auf diese „staatsrechtlich-politische Dimension“: Auch für Kaminski kann eine Akzentuierung dieses Feldes nur zum vermehrten Ausschluss der heilsspezifischen Dimension führen. Damit behält auch sie einen Anachronismus bei, der im Folgenden im Einzelnen widerlegt werden soll: den Anachronismus nämlich zu meinen, die „staatsrechtlich-politische Dimension“ der Frühen Neuzeit selbst sei schon eine von Heilsfragen unberührte gewesen. Durch diesen Anachronismus wird ein Schluss wie derjenige Elida Szarotas zum unzulässigen Zirkelschluss, der ein Ganzes (Gryphius’ Trauerspiele) als säkularisiert begreifen muss, solange er dessen wesentliches Dispositiv (den Staatsrechtsdiskurs) als schon säkularisiert ansieht. Einen entscheidenden, zeitgenössisch systematischen Grund für das eigentümliche Verhältnis von Fragen des Heils und der Politik nennt Kaminski, ohne beides entsprechend zu korrelieren: den zu diskutierenden, wenn auch nicht prekären Status der Bezeichnung Märtyrer für das protestantische Trauerspiel überhaupt.31 In der Tat erlaubt die lutherische Rechtfertigungslehre nicht den altkirchlichen Gedanken des Gnadenschatzes, der etwa laut Origines Adamantios vom Märtyrer für andere erworben wird.32 Damit ist der Märtyrerbegriff jedoch nicht hinfällig.33 Das concrucifigi Christo gilt für jeden Gläubigen und kann nicht abgenommen werden: Insofern ist der Märtyrer beim Lutheraner Gryphius nicht Erwerber eines Heils für Andere, da weder Ursache noch Intention der Hinrich-
31 Ebd., S. 74: „Anders als nämlich als in den in maiorem Dei gloriam geschriebenen […] jesuitischen Märtyrerdramen sterben die Märtyrer des Gryphius nicht oder nicht ausschließlich zur Bewährung und Verherrlichung ihres christlichen Glaubens […].“ 32 Vgl. Michael Slusser: [Art.] Martyrium III. Christentum III./1. Neues Testament/Alte Kirche. In: TRE 22, S. 207–212, hier S. 209. Im Hinblick auf Gryphius vgl. Heinz-Werner Radtke: Vom neuen, gerechten, freien Menschen. Ein Paradigmawechsel in Andreas Gryphius’ Trauerspielzyklus. Bern u.a. 2011 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 49), S. 19, 40ff., 53. 33 Dieser Auffassung war der Verfasser der vorliegenden Untersuchung noch jüngst selbst gefolgt: Oliver Bach: [Rez. v.] Hans-Werner Radtke: Vom neuen, gerechten, freien Menschen. Ein Paradigmawechsel in Andreas Gryphius’ Trauerspielzyklus. In: Arbitrium 30 – 3 (2012), S. 310– 312, hier S. 312. Vgl. dementgegen schon: Ferdinand van Ingen: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. Märtyrertheologie und Luthertum. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 45–70, hier S. 47–49.
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tung bzw. des In-den-Tod-Gehens allein von der Glaubens- bzw. Häresiefrage bestimmt sind. Der gryphsche Märtyrer ist nicht Heilsproduzent, sondern lediglich Vorbild in Fragen eines späten, aber festen Glaubens und tiefer Reue. Jedoch verschwindet damit nicht die Heilsfrage als ganze. Sie tritt vielmehr gerade erst in ihrem spannungsvollen Verhältnis zum Gesetzesbruch hervor: Anders als der eigentliche Märtyrer ist der ‚Märtyrer‘ schuldbehaftet wie Carolus und Leo Armenius oder kommt politischer-rechtlicher Ausweglosigkeit wegen zu Tode wie Catharina und Papinian. Es sind also weltliche Vergehen gegen das göttliche Recht, die entweder positiv oder negativ die Frage des Heils aufwerfen, und nicht geistliche Konflikte, die ohnehin mit der Heilsfrage zu tun haben. Hinsichtlich der politischen Trauerspiele kann damit gefragt werden, ob Gryphius die Frage legitimer Herrschaft und irdischer Herrschaftspraxis mit der Heilsfrage different korreliert, ob also persönliches Heil durch Verstöße gegen Gottes Gesetze verwirkt wird. Dagegen wäre mit der lutherischen Ablehnung der Werkgerechtigkeit noch nicht historisch-systematisch hinreichend argumentiert: Denn wie zu zeigen ist, deutet Melanchthon die reformatorische Rechtfertigungslehre dergestalt, dass Verstöße gegen göttliches Gebot ein Zeichen schon abhanden gekommenen Glaubens sind – die schlechte Tat hat durchaus etwas mit einer ‚Verwirkung‘ des Heils zu tun (siehe 4.4.4.3). Auch im Philippismus bleibt jedoch der sola-fide-Gedanke so stark, dass das Heil durch echte Reue im reinen Glauben wieder erworben werden kann. Insofern bleiben irdische Handlungen im Hinblick auf ihre rechtstheologische Legitimität mit Heilsfragen zwar korreliert. Dennoch sind sie für das Heil doch grundsätzlich so indifferent, dass mit der tatsächlichen Heilsaussicht des sterbenden Souveräns die Tatsache seiner göttlichen Rechtsbrüche nicht widerlegt ist. Vielmehr ist – mit Melanchthon gedacht – der Glaubensdruck auf den Tyrannen besonders groß. Die Dimension des Martyriums bzw. der Heilsaussicht resultiert nicht aus der Dimension der Herrschermacht, sondern aus der Gnade Gottes. Sie befreit nicht etwa von den göttlichen Geboten (Gesetz), sondern dispendiert ‚nur‘ unter Voraussetzung echten, reuevollen Glaubens (Evangelium). Daher werden bei Gryphius Martyrium und Heil nur mittelbar repräsentiert;34 vielmehr geht es um die unermessliche – aber bedingte! – Gnade Gottes. Andreas Gryphius verhandelt den politischen Erfolg als ebenso irdischen wie kollektiven, jedoch nicht unter Absehung von den ersten beiden Aspekten von (Werk)Gerechtigkeit und persönlichem Heil, sondern im spannungsvollen Bezug
34 Vgl. etwa Weidner: Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ ‚Leo Armenius‘, S. 294: „[S]o repräsentiert auch der Märtyrer durch seine Körperlichkeit das an sich undarstellbare Heil.“
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auf diese: Wie wird das Wohl der civitas unter Beibehaltung der Herrschermacht, mithin des Widerstandsverbots hier und der sola fide möglichen Begnadigung des schlechten Herrschers sub specie aeternitatis dort, noch als angemessen gewährleistet gedacht? Es ist dieser dritte Aspekt, der in der Gryphius-Forschung weiterer Vertiefung bedarf, ohne dass er in der Sache von den beiden ersten tatsächlich verdeckt oder gar kategorisch verunmöglicht würde. Gryphius ‚erledigt‘ ihn nämlich nicht durchweg mit dem vanitas-Gedanken, sondern versucht ihn mit Hilfe seiner politischen Trauerspiele (rechts)theologisch einzuholen. Salva veritate der göttlichen Herrschermacht und der persönlichen Heilsmöglichkeit geht es Gryphius darum, nach der göttlichen Besorgung weltlich-politischer Stabilität zu suchen. Es geht Gryphius um Gottes Wirken nicht nur in seinem Gnadenwirken sub specie aeternitatis, sondern auch um sein irdisches Wirken sub specie creationis. Wie ist den säkularen Ansprüchen weltlich-politischer Stabilität gerecht zu werden, ohne schon eine systematische Säkularisierung der politischen Begründungstheorie betreiben zu müssen? Ohne in ein anderes Extrem verfallen zu müssen und das Martyrium bei Gryphius nur noch über neostoizistische Kriterien der Beständigkeit allein zu definieren,35 hat man es im Falle der Martyrien bei Gryphius weder mit allein geistlichen Heilsfragen zu tun noch mit allein weltlich-moralischer Standhaftigkeit. Das verbietet sich nicht etwa, weil der Neostoizismus von Heilsfragen unberührt, etwa gar a-theologisch und säkular wäre und damit wirklich das andere Extrem darstellte: Schon die Arbeit von Günter Abel hat gezeigt, dass der Neostoizismus auf eminent diesseitstheologischen und moralphilosophischen Annahmen aufruht und daher ein solches anderes Extrem gar nicht erreicht ist.36 Dieses philosophiehistorische Wissen ist in der Gryphius-Forschung schon länger ver-
35 Weil sich solche Zuschreibungen bisweilen vermehrt deskriptiv bzw. assoziativ ereignen, ist häufig genug gar nicht eindeutig, ob mit ihnen in der Tat schon eine theologische Einbettung des Stoizismus in der Frühen Neuzeit übersehen wird: s. z.B. Thomas Martinec: ‚Fürbild aller Tugenden‘. Rhetorik und Moral in der barocken Trauerspielpoetik. In: Daphnis 35 – 1,2 (2006), S. 133–161, hier S. 158f.: „So gestaltet Gryphius seine Catharina als ‚ein vor dieser Zeit kaum erhöretes Beyspiel vnaussprechlicher Beständigkeit‘, als ‚die Blüthe der Tugend‘; sie zeichnet sich durch ‚so hohe Geduld/ so hertzhafte Standhafftigkeit/ so fertigen Schluß das Ewige dem Vergänglichen vorzuziehen‘ aus, daß alle Übel, die sie anfechten, ‚überwunden vnter ihren Füssen ligen‘. Mit dieser Charakterisierung ist die Märtyrerfigur des barocken Trauerspiels anschaulich umschrieben.“ 36 Günter Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Feld von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978, S. 23: „Der Neustoizismus stellt ein bedeutsames Bindeglied zwischen dem theoretischen Ursprung der Rationalität in der Spätscholastik und deren abstrahierender, philosophisch reiner Fassung bei den Philosophen und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts, bei Descartes, Hobbes, Newton und Spinoza dar.“
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breitet. Nicht zuletzt Marian Szyrocki spricht zurecht vom christlichen Stoizismus im Barockzeitalter.37 Es wird jedoch erstens kaum der fundamentale Unterschied zur Kenntnis genommen, der zwischen antiker und neuer Stoa besteht, nämlich zwischen dem Determinismus eines Ist-Zustandes (antike Stoa) und der Normativität eines Sollens bzw. Müssens (neue Stoa).38 Zweitens erfolgt diese Applikation weitgehend von der Seite her, dass die stoische Beständigkeit heilsrelevant ist, insofern sie irdisch weltlichen Übeln trotzt. Sie versteigt sich dabei zumeist in den Schluss, dass constantia damit auch schon allein jenseitsrelevant wäre und von weltlichen Angelegenheiten überhaupt abzusehen erlaube, wenn nicht gar gebiete. Dies ist ein Versteigen deshalb, weil Heilsrelevanz – das gilt es zu zeigen – auch im melanchthonianisch geprägten Denken eben nicht mit bloßer Jenseitigkeit gleichzusetzen ist. Die Frage des Heils bleibt mit göttlichen Vorgaben für das irdisch-sittliche Verhalten gerade verbunden. Umgekehrt stellt die Beständigkeit gegen weltliche Übel eben auch eine Standhaftigkeit für die weltliche Stärke wider den princeps mundi, den Teufel, dar. Der Kampf gegen diesen ist das Telos des geschöpflichen Daseins.39 Ebendies ist schon bei Luther der usus politicus legis: Gott beauftragt das weltliche Regiment mit nichts anderem als dem irdischen Standhalten wider das Böse.40 Vanitas, die Nichtigkeit des Irdischen, ist Fakt und mithin eine beruhigende Erkenntnis sub specie aeternitatis, nicht aber eine Praxis, die dem Menschen sub specie creationis aktiv zu betreiben anheimgestellt wäre: Selbstmord
37 Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Stuttgart 2010 (UB 9924) [erstmals 1968], S. 21–23, besonders S. 22: „Der Gedanke von der Weisheit als meditatio mortis wurde vor allem durch den christlichen Stoizismus unter Berufung auf Platon, Pythagoras, Sokrates, Seneca, aber auch auf biblische und patristische Traditionen verkündet. […] Dabei muß jedoch mit allem Nachdruck betont werden, daß das stoische Gedankengut immer wieder durchsetzt wird mit Auffassungen aus rein christlichen Traditionen“ [Hervorhebungen im Text]. 38 So auch im Falle der versuchten „erneuten Verständigung über den constantia-Begriff“ bei Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, S. 224–227; auch Günter Berghaus macht die Neuerungen, die Gryphius gegenüber dem klassischen Märtyrerdrama vornimmt, nicht an der Determinismus-Differenz fest: Günter Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘. Formkunstwerk oder politisches Lehrstück?. In: Daphnis 13 (1984), S. 229–274, hier S. 253. 39 Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, S. 259. 40 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 2006 (UTB 2270), S. 413: „Während sie [die lex divina] für die ‚rechten Christen‘ als das geistliche Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe erscheint und wirkt, als das Gesetz des regnum Dei, nimmt sie außerhalb des regnum Dei den Charakter einer Herrschaft Gottes an, einer Ordnung schützender und strafender Art zur Abwehr des Bösen und der Herrschaft des Teufels, wird zum usus politicus legis.“
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ist ein Vergehen an Gottes Schöpfung und somit verboten. Schon Ferdinand van Ingen konstatiert daher zurecht: „Es wäre eine fragwürdige Ethik, die unter Hinweis auf die Bibel Lebensüberdruß und Weltekel propagierte und solcherart ein ‚taedium vitae‘ lehrte“.41 Im Umkehrschluss darf daher die Anforderung des heilsrelevanten constantia-Postulats an das irdische Dasein, mithin dessen Nutzen für die irdische Praxis nicht übersehen werden: Die Beständigkeit stellt nicht nur Heil in Aussicht, sondern stiftet gerade von dessen Anforderungen her auch eine irdische Ordnung, welche die Nichtigkeit der Welt nicht betreiben, sondern auszuhalten erlauben soll. Es machte den Reiz des christlichen Neostoizismus aus, dies mit seiner Verbindung von theologischem Fundament und anthropozentrischem Fokus leisten zu können.42 Man spricht von Neostoizismus bei Gryphius und verlässt damit nicht das Feld praktischer Theologie. Die heilsgeschichtlichen und politologisch-jurisprudentiellen Aspekte der gryphschen Trauerspiele beziehen sich also nicht allein privativ aufeinander. Ebenso wenig stehen sie sich dichotomisch gegenüber. Der Umstand, dass sich nur diese beiden Aspekte gegenüberstehen und nicht zusätzliche dritte, muss nicht zusammen mit dieser gegenseitigen Privation links- oder pseudohegelianisch gerettet werden, insofern die Position des einen nur als die Negation des anderen (als seiner Negation) zu begreifen wäre.43 Hier durchdringen sich nicht
41 Ingen: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. Märtyrertheologie und Luthertum, S. 54. 42 Vgl. Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit, S. 54: „Das Interesse an der Herausstellung von Autonomie, Individualität, Subjektivität und die Wende gegen die Autoritätsgläubigkeit des scholastischen Mittelalters verbinden Humanismus, Renaissance und Reformation mit dem späteren Neustoizismus. […] [F]ür den Protestantismus ist der direkte Bezug von entscheidender Bedeutung, und Freisetzung und Unterwerfung gehen dabei ineinander. Gegenüber der durch die Vermittlungs- und Autoritätsleistung der römischen Kirche gekennzeichneten Anstalt allgemeinen Heils wird das Individuum, der einzelne Gläubige freigesetzt, tritt dafür nun aber in die viel strengere, strafendere Unmittelbarkeit seines allmächtigen Gottes ein und zwar nicht mehr im Sinne kollektiver Heilsanstalt, sondern in je individueller Verantwortlichkeit“. 43 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. In: Gesammelte Werke. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 11. Hamburg 1978, S. 44f.: „Das reine Seyn und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Seyn, noch das Nichts, sondern daß das Seyn in Nichts, und das Nichts in Seyn, – nicht übergeht –, sondern übergegangen ist. Aber ebenso sehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind, und unmittelbar jedes in seinem Gegentheil verschwindet. […] Nichts pflegt dem Etwas entgegengesetzt zu werden; Etwas aber ist schon ein bestimmtes Seyendes, das sich von anderem Etwas unterscheidet; so ist also auch das dem Etwas entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas, ein bestimmtes Nichts. Hier aber ist das Nichts in seiner unbestimmten Einfachheit zu nehmen“. Dass die marxsch-engelsschen Lesefrüchte vermehrt faule sind, zeigt der henologische Fokus Hegels an dieser von Engels zitierten Stelle (Friedrich Engels: Dialektik der Natur.
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Gegensätze,44 sondern zwei Felder Heilsfragen und politische Theologie besitzen eine ‚Schnittmenge‘ in der beiderseits göttlichen Gewährleistungsinstanz. Der vermeintliche Antagonismus von theologischen und politologisch-jurisprudentiellen Perspektiven bei Gryphius darf nicht durch ahistorische Hypostasen zur begriffslogischen Dichotomie übersteigert werden.
2.3 Vom Antagonismus der theologischen und politologischjurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius zu einer Geschichte dieses Antagonismus bei Gryphius Die Unterscheidung von Beobachter- und Gegenstandsebene erlaubt eine ideengeschichtlich präzisere Interpretation der Trauerspiele Gryphius’. Sie verhindert, auf der Gegenstandsebene Distinktionen auf Sachverhalte zu applizieren, die der Gegenstandsebene unter Umständen wesentlich fremd sind bzw. historisch fremd waren. Heutige Dichotomien und Antagonismen waren nur kontingenter Weise auch in vergangenen Epochen schon vorhanden. Eine solche Applikationspraxis verstellte a priori den Blick für die Geschichte der Herausbildung und Umbesetzung eben dieser Antagonismen. Dabei ist entscheidend, nicht ins andere Extrem zu verfallen und die Verwendung der Antagonismen kategorisch zu unterlassen. Schließlich verstellt man sich somit den Blick für historischen Prozess bzw. Regress von der genau anderen Seite her: Man kappte von vornherein die Perspektive, auf die der historische Diskurs hinauslaufen könnte. Dass er es nur könnte und sich dabei gerade als Misserfolgsgeschichte entlarvt, ist als Untersuchungsergebnis mit einer behutsamen, tentativen Anwendung der genannten Dichotomien und Antagonismen nicht ausgeschlossen. Diese Anwendung perspektiviert historische Diskursprozesse zwar auf einen bestimmten Zielpunkt hin – hier den des gegenwärtigen Antagonismus von Heilsfragen und rechtlich-politischer Theorie. Sie verabsolutiert diesen Zielpunkt jedoch nicht, sondern behält sich den Blick für die Prozesse frei, die dieses Ziel verfehlen. Diese Anwendung
In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hg. von Institut für Marxismus-Leninismus. Bd. 20. Berlin 1962, S. 305–570, hier S. 490). Hegels geht es um die Bestimmung des Absoluten und seines Verhältnisses zum Besonderen und Einzelnen (Begriff), nicht um das Verhältnis von Besonderem und Besonderem als sich einander negierende. Ihre gegenseitige Negation ist nicht gleicher Art wie diejenige von Etwas und Nichts und Absolutem und Besonderem. Vgl. neuestens die Analyse von Burkhard Nonnenmacher: Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘ und reifem System. Tübingen 2013 (Collegium Metaphysicum 6). 44 Engels: Dialektik der Natur, S. 307. Vgl. Fotis Jannidis: [Art.] Marxistische Literaturwissenschaft. In: RLW II, S. 541–546, hier 541f.
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hat sich des von Lutz Danneberg herausgestellten Unterschiedes und Wechselverhältnisses von „prospektiver Offenheit“ und „retrospektiver Geschlossenheit einer epistemischen Situation“ bewusst zu bleiben.45 So reflektiert und gerüstet, ist eine hermeneutische Applikationspraxis gegen rigoros binaritätsfeindliche Rationalismuskritiken gefeit, insofern sie sich mit ihren Beobachtungsinstrumenten den Blick auf den historisch wie kulturell bedingten Wandel gerade nicht verstellt, sondern allererst öffnet. Ebensowenig ficht sie ein verabsolutiertes Teleologismusverdikt an, insofern Entwicklungen eben erst dann als misslich erklärt werden können, wenn die Stärken der erfolgreichen Prozesse als Kontrastfolie dienen. So führt diese Forschungsdiskussion auf die These hin, die schon in 1. formuliert wurde. Gegenüber der dort empirisch herausgestellten These und Frage nach Gryphius’ Stellung im Säkularisierungsprozess wurde sich ihr hier von der anderen Seite, derjenigen der Theorie der Literatur- und Ideengeschichtsschreibung genähert. Dieser zweite Weg zur selben These ist deshalb nicht überflüssiger Weise gegangen worden, weil erst er aus dieser These das herausarbeiten hilft, was ihre literatur- wie ideenhistorische Verallgemeinerbarkeit ausmacht. Es geht um die beobachtbare Tatsache, dass Ideen – solche ‚in der Welt‘ wie in der Literatur – Positionen und eben auch Antagonismen nicht einfach besetzen und besetzt halten. Vielmehr können sie den Status ihrer Vereinbarkeit bzw. Antagonie reflektieren und auch sprengen: Vormals vereinbare Ideen bzw. Ideenteile werden zusehends unvereinbar oder werden als unvereinbar behauptet. Damit kommen ebenso häufig genügend Versuche in Gang, die nun disparaten Ideen wieder zu vermitteln, einander zu relationieren bzw. zu relativieren oder indifferent zu setzen. Die ausführliche theoretische Erläuterung und Argumentierbarkeit solcher ideengeschichtlicher Prozesse erfolgt in 3.1. Wenn dem an hiesiger Stelle vorgegriffen wird, so nur insoweit, dass hier noch einmal die These bzw. Frage aus 1. reformuliert wird, und zwar unter den Vorzeichen des hier erarbeiteten Zugangs zu Gryphius’ politischen Trauerspielen: Im Zeichen einer im siebzehnten Jahrhundert noch vermehrt theonomen Jurisprudenz wie auch theonomen Politologie stößt Andreas Gryphius auf eine Situation der Anfechtung dieser eschatologischen Bestimmung des weltlichen Regiments, mithin dieser theologischen Bestimmung der politischen und Rechts-
45 Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. Hg. von Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth. München 2006 (Ordnungssysteme – Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 20), S. 193–221, hier S. 197.
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theorie. Diese Anfechtung ging vom Säkularisierungsdruck der machiavellischen Staatstheorie aus und behauptete eine dergestalt strikte Getrenntheit von geistlichem und weltlichem Regiment, wie sie weder Augustinus noch Luther gemeint hatten: Das weltliche Regiment sei nicht mehr nur nicht der Institution Kirche unterworfen, sondern darüber hinaus nicht einmal den göttlichen Moral-Gesetzen verpflichtet. Erst diese Anfechtung behauptete einen echten Antagonismus von heilsrelevanter Gottesfurcht (der Fürsten!46) gegenüber säkularer Jurisprudenz und Politiklehre. Für die an Gryphius interessierte Literaturgeschichtsschreibung wäre man schlecht beraten, diesen Antagonismus per se als materialen Kontext von Gryphius’ Dichtung zu begreifen und zur Grundlage ihrer Interpretationen zu machen. Denn in der Tat realisiert sich dieser Antagonismus von Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz und Politologie gerade nicht vor Gryphius (und auch nicht unmittelbar nach ihm). Wäre dem so, dann ließe sich nicht erklären, warum der Antimachiavellismus so langandauernd ist, obwohl er doch das fundamentale Paradigma seines Gegners schon akzeptiert haben soll. Im Streit mit den Machiavellisten wird nicht die Kontroverse in diesem Antagonismus ausgefochten, sondern diejenige um diesen Antagonismus. Mit Blick auf die Bedeutung des göttlichen Gesetzes für die Regelung weltlicher Dinge – das betrifft besonders die zweite Gesetzestafel – wird gerade bestritten, dass der behauptete Antagonismus von Heilsfrage und weltlicher Jurisprudenz und Politologie überhaupt bestünde. Diese Position wird nicht nur von der Theologie bezogen: Auch die Jurisprudenz und Politiklehre, die beide noch auf rechtstheologischen Fundamenten aufruhen, erwehren sich dieses Antagonismus’. Noch weit nach Alberico Gentilis (1552–1608) Silete theologi in munere alieno! machen Theologie, Jurisprudenz und Politologie gemeinsame Sache wider den Machiavellismus. Gleichwohl drängt sie nicht nur der Machiavellismus, sondern auch die politische Wirklichkeit zu Modifikationen ihrer Lehren. Diese nun münden häufig in konzedierten Säkularisaten, denen an anderer Stelle eine nur um so stärkere Theologisierung gegenüber steht. Dabei bildet sich der tatsächliche historische Antagonismus von Heilsfragen und säkularer Jurisprudenz und Politologie allererst allmählich heraus, – selten beabsichtigt, häufig genug sogar ungewollt, ebenso häufig jedoch sofort als problemrelevant wahrgenommen, u.a. von Andreas Gryphius.
46 Den bisweilen nützlichen Charakter der Gottesfurcht seitens der Untertanen gesteht Machiavelli ja durchaus ein, aber eben nicht unter theologischen, sondern pragmatischen Bedingungen: Es geht nicht um Gottesfurcht zum Gottgefallen, sondern um Gottesfurcht zum Nutzen des weltlichen Herrschers.
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So können exklusiv heilsgeschichtlich interessierte Gryphius-Untersuchungen unternommen werden, solange sie ihre politiktheoretische und jurisprudentielle Kehrseite nicht verleugnen. Sie besprechen sie in diesen Fällen lediglich nicht, wogegen weder historisch noch systematisch etwas einzuwenden ist. Ebenso können exklusiv rechtsgeschichtlich oder politologiehistorisch interessierte Untersuchungen der gryphschen Trauerspiele vollzogen werden, solange sie ihre theologische wie eschatologische Kehrseite nicht leugnen. Falsch wäre die Behauptung eines ‚Exklusivrechts‘ der einen gegenüber der anderen Perspektive. Weder nämlich marginalisiert in Gryphius’ Trauerspielen ein theologisches Thema – etwa das der Vergänglichkeit – die juridischen wie politischen Erwägungen, sondern die Theologie behauptet gerade ihr Begründungs- oder gar Hoheitsrecht für ebendiese Erwägungen. Noch marginalisieren umgekehrt die juridischen und politiktheoretischen Fragen das theologische Substrat, sondern artikulieren gerade ihr Bedürfnis nach der theologischen Antwort. Noch aber – und das mag überraschen – gelingt diese Einvernehmlichkeit umfassend. Zu zeigen, dass dies nicht überrascht, macht sich diese Arbeit mit zur Aufgabe. Nur so kann Gryphius nämlich als Teilnehmer des Diskurses zeitgenössischer politischer Theologie angemessen wahrgenommen werden: Er nimmt die einvernehmlichen Abwehrversuche von Theologie und prudentia civilis gegen ihren behaupteten Antagonismus wahr und gewahrt dennoch die neuen Probleme, die durch die Lösungsversuche dieser ‚neuen politischen Theologien‘ mit hervorgebracht werden. Schließlich bemüht er sich um eine eigene Lösung, die diesen Antagonismus jedoch nicht mehr disziplinär einebnen kann, sondern nur noch instanziell unproblematisch machen soll.
2.4 Folgen für das Projekt: Der Gang in die Geschichte der Rechtsphilosopie und -theologie Andreas Gryphius’ politisch-theologisches Denken muss daher in den zeitgenössischen Diskurs eingebettet werden. Die Beschäftigung mit den zeitgenössisch prominenten Staatsrechtslehren ist daher geboten, aber auch problematisch. Das zeigt sich schon am Status quo der bisherigen Beschäftigung mit der Politik Georg Schönborners, des Mentors und Lehrers des Gryphius in den Jahren 1636–1638.47 Geboten ist sie allein aus dem Grund, dass sein Traktat Poli-
47 Vgl. Baltzer Siegmund von Stosch: Last- und Ehren- auch Daher immerbleibende Danck- und Denck-Seule / Bey vollbrachter Leich-Bestattung Des Weiland Wol-Edlen / Groß-Achtbarn und Hochgelehrten Herrn ANDREÆ GRYPHII, Des Fürstenthums Glogau treugewesenen von vielen
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ticorum libri septem von 1609 eines der wenigen politischen Lehrbücher ist, von dessen unmittelbarer Lektüre durch Gryphius wir aus dessen Selbstaussagen sicher wissen: Dies ergibt dessen Brunnendiskurs, die Leichabdankung Schönborners.48 Allerdings hat sich in der Gryphiusforschung bislang nur Henri Plard des Texts Schönborners angenommen, dabei allerdings ganz offensichtlich nur die Kapitel über die tyrannis im Allgemeinen und den Tyrannenmord im Speziellen berücksichtigt und diese in seiner verdienstvollen Analyse unvermittelt in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion um Althusius und anderer eingebettet.49 Diese Einbettung kann jedoch zutreffend nur auf Basis der souveränitätsrechtlichen Annahmen erfolgen, die Schönborner seinem Denken vom Tyrannen und Tyrannenmord mal explizit, mal implizit zugrundelegt. Die Gryphiusforschung ist sich sichtlich einig, dass Schönborner biographisch wie inhaltlich prägend für Andreas Gryphius war.50 Denn hinsichtlich der Leidener Matrikel51 hält schon Herbert Schöffler zurecht fest, dass Gryphius in Leiden nicht für die Rechtswissenschaften,52 sondern für Philosophie immatrikuliert war.53 Damit hat Schönborner als erste Quelle der spezifisch juristischen
Jahren SYNDICI, In einer Abdanckungs-Sermon auffgerichtet. Beigebunden in: Andreas Gryphius: Dissertationes Funebres, Oder Leich-Abdanckungen. Frankfurt an der Oder, Leipzig 1698, S. 29f. 48 GdW 9, Brunnen-Diskurs, S. 15. 49 Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius. 50 Z.B. Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Berlin 1959 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 9), S. 109–131; ders.: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964, S. 25; Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die Sonnete des Andreas Gryphius. München 1976, S. 9; Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 90; Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. 2., vollständig neubearbeitete Aufl. Stuttgart 1986 (Sammlung Metzler 76), S. 7; Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650. 2. Aufl. Berlin 1993, S. 854; Kaminski: Andreas Gryphius, S. 29f.; Stefanie Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius‘ und Lohensteins. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 81), S. 19; vgl. auch Lothar Noack, Jürgen Splett: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688. Berlin 1997 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), S. 178. 51 Wilhelm du Rieu: Album Studiosorum Academiae Lugduno Bataviae. Bd. 1: MDLXXVMDCCCLXXV. Den Haag 1875, S. 298: „26. [Jul. 1638] M. Andreas Gryphius Silesius. 22, P[hilosophiae studiosus; so die Notarum Explicatio auf S. 1]“. Gryphius schrieb sich ein zusammen mit „Andreas Knochius Dantiscanus. 20, J[uris studiosus.]. [...] Wolfgangus Georgius A Wibrandt Silesius. 20, J. Franciscus Fredericus A Schönborn Silesius. 22, J. Georgius Fredericus A Schönborn Silesius. 22, J. Johannes Christophorus A Schönborn Silesius. 21“ (ebd.). 52 So Wohlhaupter: Juristen als Künstler, S. 408. 53 Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1956, S. 60.
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Kenntnisse Gryphius’ zu gelten – Kenntnisse sowohl allgemeiner Art als auch für sein späteres Amt als Syndikus. All dieser Einhelligkeit zum Trotz wurde seit Plard jedoch versäumt, entsprechend eingehende Untersuchungen des Werks von Gryphius’ Amtsvorgänger folgen zu lassen. Möchte die Gryphiusforschung nicht, dass das Bekenntnis zu Schönborners Bedeutung letztlich nur ein Lippenbekenntnis ist, muss hier eine eingehende Analyse auch der Politicorum libri septem erfolgen, wenngleich diese Analyse trotz ihrer Zuspitzung auf Gryphius’ Interessenhorizont in ihrem Vollzug weitgreifend und langwierig gerät. Damit ist der problematische Aspekt der Beschäftigung mit Schönborners Werk angesprochen: Denn bis auf kurze enzyklopädische Umrisse und bis auf wenige Nennungen des Glogauer Syndikus im Rahmen anderer Spezialforschungen vor allem Michael Stolleis’54 liegen keinerlei rechtshistorische, politikhistorische oder anders verortete historische monographische Arbeiten vor, an die der eigentlich an Gryphius interessierte Forscher anknüpfen könnte. Im Vollzug der Einbettung der gryphschen Trauerspiele in den Kontext Schönborners hat folglich eine hinreichende Darlegung seines politischen Denkens allererst ausführlich zu erfolgen. Natürlich ist es nicht in seiner vollen Entfaltung zu erläutern, d.h. nicht in die für Gryphius’ Trauerspiele uninteressanten Subnormen etwa von Kameralistik oder Finanzökonomie. Diese Darlegung darf sich unter dem leitenden Blick auf Gryphius auf dessen Problemhorizont beschränken. Eine Erleichterung des Philologen in der (rechts)ideengeschichtlichen Aufgabe, eine frühzeitige Entlassung aus ihr bedeutet dies jedoch nicht. Dem noch jungen und berechtigten Vorwurf Walter Müller-Seidels, dass in der vermehrt philosophiegeschichtlichen Erforschung der Tyrannen- und Widerstandsrechtsthematik bislang „so gänzlich von der Literatur abgesehen wurde“,55 entspricht seitens der Literaturgeschichte das nur ebenso statthabende Ignorieren der politischen und juridischen Ideen in Gryphius’ Umfeld. Alle gebotene Bescheiden-
54 Noack, Splett: Bio-Bibliographien, S. 178; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: 1600–1800. München 1988, S. 118f.; ders. : Tradition und Innovation in der Reichspublizistik nach 1648. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 15), S. 1–18, hier S. 6; ders.: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 232–267, hier S. 247ff.; Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 854. 55 Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe. München 2009, S. 36.
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heit befreit nicht davon, an dieser Stelle feststellen zu müssen, dass der genaue Problemhorizont der politischen Trauerspiele des Gryphius noch nicht befriedigend erschlossen wurde.56 Auch der unter 2.3 erfolgte Abriss umschreibt nur ein Setting, ist jedoch nicht mit einer ideenhistorischen Kontexteinbettung mit wissenschaftlichem Anspruch zu verwechseln. Dabei kann auch die Beschäftigung mit Georg Schönborner Evidenz nur im Sinne relevanzstiftender Zuspitzung auf bestimmte weitere Kontexte liefern, sie kann deren Erschließung jedoch nicht ersetzen. Natürlich stellen alle Arbeiten Gryphius’ Auseinandersetzung mit dem Souveränitätsrecht bzw. dem Souveränitätsproblem zurecht fest. Diese Auseinandersetzung war jedoch erstens für das gesamte Staatsrechtsdenken des siebzehnten Jahrhunderts leitend und mündete in höchst kontroverse Bestimmungen. Zweitens ist noch nicht die genaue systematische Lücke gefunden, in die Gryphius’ Problemwahrnehmung hineinstößt (anstelle von anderen Lücken der Souveränitätsfrage). Diese Feststellung, Gryphius setze sich mit dem Souveränitätsrecht auseinander, bleibt solange im starken Sinne des Wortes trivial, wie sie nichts Besonderes aufzuweisen vermag. Um dieses Besondere von Gryphius’ politischem Denken muss es gehen. Ansonsten nämlich wäre die titelgebende politische Theologie eine Konstante, der gegenüber Gryphius und seine Trauerspiele als bloße Umsetzungsinstanzen zur bloßen Variable verkümmerten. An deren Stelle könnte dann ohne Weiteres jeder andere Dichter und seine politische Dichtung – etwa Daniel Casper von Lohenstein – eingesetzt werden; ohne Weiteres: das heißt, ohne dass hierfür die persönliche Konzeptualisierung von politischer Theologie selbst als different angesehen würde. Politische Theologie bei Gryphius wäre nur dieselbe wie bei Lohenstein. Gerade das wäre jedoch fatal und ist falsch: Es geht um die Erschließung der politischen Theologie als Variabler selbst, d.h. insofern sie sich bei Gryphius in einer bestimmten Ausprägung findet – einer anderen eben als etwa beim späteren Lohenstein. Und sie ist eben darum eine andere, bei Gryphius bestimmt ausgeprägte politische Theologie, weil sie Antwort zu geben versucht auf politische Fragen, welche die Staatsrechtslehren, die Gryphius bis dato vorliegen, noch nicht befriedigend zu beantworten wussten oder gar nicht stellten. Diese Unzufriedenheit darüber, dass diese Lehren lückenhaft sind, offenbaren die poli-
56 Bisweilen blieb eine solche Einordnung selbst dann aus, wenn sie ausdrücklich angekündigt worden war. So verspricht z.B. Günter Berghaus, der sich wie kein anderer um die Erschließung der historischen Quellen des Gryphius’ verdient gemacht hat, eine „[s]taatsrechtliche Analyse des ‚Carolus Stuardus‘“, ohne die systematischen Quellen eines solchen Staatsrechtsdenkens zu nennen: Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, hier S. 255 – 263. Abgesehen zweier bloß namentlicher, aber nicht erörternder Nennungen Althusius’ und Salmasius’ (S. 259) kommt Berghaus dem Versprechen einer staatsrechtlichen Analyse nicht nach.
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tischen Trauerspiele selber in ihrer für die Gattung zwar formal typischen, in der diskursiven Verhandlung der Gehalte jedoch allein gryphschen Gestaltung. Die vorliegende Untersuchung muss sich folglich dem objektiven Bedarf unterwerfen, im ideenhistoriographischen Wechselspiel Gryphius’ Problemwahrnehmung philologisch anhand der Trauerspiele, rechtsphilosophie- und rechtstheologiehistorisch anhand der gegebenen Vorgaben und Mängel zu erschließen und kritisch aufeinander zu beziehen. Allein in diesem interdisziplinären Verbund ist die Eigenleistung des Andreas Gryphius allererst angemessen zu erschließen.
3 Theorien und Methoden 3.1 Prozessgeschichte der Säkularisierung? Möglichkeiten der Entwicklungshistoriographie jenseits teleologischer Ideengeschichte Im allgemeinen gelten die Gegenspieler einer neuen alsbald unangefochtenen siegreichen Idee nicht als würdige und reizvolle Gegenstände ideengeschichtlicher Forschung; es scheint im vorhinein ausgemacht, daß mechanische Trägheit, dogmatischer Starrsinn und affektive Selbstbehauptung gegen Geltungsverluste den Widerstand gegen das nachher Selbstverständliche allemal erklären und – der Erforschung unwert machen. Hans Blumenberg, Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus.1
Andreas Gryphius’ politisches Denken ist von verschiedenen historischen Eindrücken, (rechts)philosophischen Neuerungen und allgemein theologischen wie rechtstheologischen Traditionen geprägt. Diese werden unter 4. im Einzelnen untersucht und aufgedeckt werden. Dort werden jedoch auch ‚konservative‘ Traditionen wie die Philipp Melanchthons ebenso wie die politologischen Neuerungen Niccolò Machiavellis und Thomas Hobbes’ zur Sprache kommen. Daher ist zunächst Allgemeines zur eigentümlichen Wirkmacht nicht-teleologischer Ideenentwicklungen auszuführen. Denn die Beobachtung, die an Gryphius’ politischen Trauerspielen gemacht wird, führt zu nichts anderem als der These, dass weder Melanchthons Naturrechtsdenken nur als überwundene Kontrastfolie gegenüber einem neuen Staatsrechtsdenken Gryphius’ zu gelten hat noch die ausschließliche Kausallogik Thomas Hobbes’ als bloßer ideengeschichtlicher Horizont richtig verstanden wäre, auf dessen Schattenseite Gryphius noch mit einem konservativ teleologischen Denken verbliebe. Es finden u.a. beide einen bestimmbaren Eingang in Gryphius’ politisches und juridisches Denken, verwirklicht in den Trauerspielen. Sie können beide gleichermaßen auf Gryphius wirken, insofern er Elemente ihrer Theorien affirmativ übernimmt und mit Elementen der jeweils anderen vermittelt. Die Innovation etwa Hobbes’ wird ebenso wenig geleugnet wie die Riva-
1 Hans Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus. Zur Geschichte der Dissoziation von Theologie und Naturwissenschaft. In: Studium Generale 13 – 3 (1960), S. 174–182, hier S. 174.
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lität des einmal aristotelischen, ein andermal anti-aristotelischen Staatsrechtsdenkens.2 Dennoch wird für Gryphius’ Standpunkt behauptet, dass dieser den Widerspruch, den das alte melanchthonianische Denkgebäude und das neue hobbesianische en bloc zueinander bilden, nicht mitmacht, und zwar ohne selbst notwendiger Weise ein bewusster Eklektiker gewesen zu sein. Denn sowohl ein ‚dogmatischer Starrsinn‘, wie Blumenberg es bezeichnet, als auch ein eklektisches Auswählen vermittelbarer Teile von unvermittelbaren Ganzen setzen gerade voraus, dass der Zeitgenosse den sachlichen Widerspruch bereits erkannt und anerkannt hat. Doch gerade darin verbirgt sich ein fataler ideengeschichtlicher Denkfehler und es ist Hans Blumenberg zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ideen werden nicht en bloc angenommen oder zurückgewiesen; die Annehmenden verstehen sie um und miß, die Ablehnenden explizieren sie mit, entdecken ihre unerwarteten Potenzen“.3
3.1.1 Kontinuität vs. Diskontinuität? Schon Hans-Georg Gadamer unterliegt weder dem Missverständnis naiven Fortschrittdenkens noch der Diskontinuitätsbehauptung Foucaults, wenn er deutlich festhält, dass „die spannungsvolle Auseinandersetzung zwischen Tradition und Fortschritt […] eine einheitliche Bewegung dar[stellt]“.4 Dennoch ist das Risiko einer falschen Kontinuitätsbehauptung gerade hinsichtlich der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts besonders groß, ihm zu erliegen sogar verständlich. Es entspringt nicht einem fehlgehenden historischen Narrativ oder nur ideenhistoriographischer Willkür, sondern dieses Risiko hat, wie Wolfgang Röd festhält, durchaus sein fundamentum in re:
2 Vgl. Julius Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (1957). In: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte (1924– 1972). Hg. von Hariolf Oberer, Georg Geismann. Bonn 1990 (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 7), S. 395–416, hier S. 396f; ders.: Die Idee des Rechts. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Praktische Philosophie 1955–1972. Hg. von Hariolf Oberer, Georg Geismann. Bonn 1988 (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 6), S. 141–198, hier S. 162; Manfred Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. In: Kant-Studien 60 (1969), S. 417–435; Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit I. Von Francis Bacon bis Spinoza. 2., verbesserte und ergänzte Aufl. München 1999, S. 16f. 3 Ebd., S. 175; vgl. auch Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 109: „Falsche Uminterpretationen einer älteren Idee erweisen sich oft als geschichtlich notwendig bzw. taktisch zweckmäßig – und auch erfolgreich.“ 4 Hans-Georg Gadamer: Einleitung. Die Philosophie der Neuzeit. In: Philosophisches Lesebuch. Hg. von Hans-Georg Gadamer. 4. Aufl. Bd. 2. Frankfurt am Main 2009, S. 7–11, hier S. 10.
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Wie für die Geschichte im allgemeinen gilt auch für die Geschichte der Philosophie, daß das jeweils Neue stets als Ergebnis kontinuierlicher Entwicklung auftritt. Manchmal bewirken allerdings Tempo und Häufigkeit von Veränderungen einen so tiefgreifenden Wandel der Situation, daß Diskontinuität vorgetäuscht wird, wo im Grunde Kontinuität vorliegt. So verhält es sich auch in der Philosophie des 17. Jhs., die durch so viele Ansätze modernen Denkens charakterisiert ist, daß der Eindruck ihrer Neuartigkeit das Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von der Tradition leicht zu verdecken vermag.5
Als einer der prominentesten Vertreter der Aufklärungsgeschichte lehnt auch Panajotis Kondylis eine geradlinige Ideengeschichte ab: Die Anwendung von Ideen folgt einer besonders „existenziell-politischen“ Motivation der Subjekte, die als Äußeres zur Eigenlogik der Ideen hinzutritt und mit dieser in ein eigentümliches Wechselspiel tritt.6 Wiederum Blumenberg weist zurecht daraufhin, dass umgekehrt die Ideenbegründer das unerwartete Potenzial ihrer Ideen häufig selbst nicht erkannten.7 Mehr noch also hat für die Rezipienten dieser Ideen, gerade wenn sie diese zeitnah zu deren Veröffentlichung wahrnahmen, die entsprechende Vermutung zu gelten, dass ihnen ein sachlich angemessenes Verstehen der neuen Ideen nicht unbedingt zu unterstellen ist.8 Diesen Skrupel
5 Röd: Die Philosophie der Neuzeit I, S. 11. Vgl. auch Thomas Leinkauf: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Einleitung. In: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700. Hg. von Thomas Leinkauf. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 110), S. 1–19, hier S. 17. 6 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 32: „Die Wirkung von Ideen ist nämlich nicht geradlinig zu verstehen, d.h. als Versuch, Ideen anzuwenden, die der Betreffende in Büchern gelesen, sonst erfahren oder auch sich erdacht hat. […] Der Anwendungsversuch findet im Kampf und durch kämpfende Personen statt, und der Kampf hat die eigene Logik, der sich die Logik der Texte oder der vorgefaßten Überzeugungen unterwerfen muß, wenn sie überhaupt im Spiel bleiben will. […] Ideen kommen zur Wirkung, eben weil sie in Lagen verwendet werden, die kein Ideenprodukt, sondern existenziell-politischer Ernst im reinsten Sinne des Wortes sind“. Ähnlich auch Barbara Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften und ihre Vermittlung in den Medien und Künsten. Ein Forschungsbericht. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 26 – 1 (1999), S. 3–35, hier S. 15–20. 7 Wie etwa Kopernikus, der mit seinem heliozentrischen Weltbild „zwischen dem Menschen und seinem Gott die Eintracht nach der nominalistischen Verwirrung wieder hergestellt zu haben“ glaubte: Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175. 8 Ebd.: „Entscheidend aber ist die Frage, wer denn um die Mitte des 16. Jahrhunderts imstande gewesen wäre, sowohl die Intention des Kopernikus angemessen zu verstehen und aus ihren Andeutungen heraus der Zeit verstehbar zu formulieren als auch mit einer den beharrenden Kräften gewachsenen Autorität für sie einzustehen. Das ist keine müßige Frage mehr“ [Hervorhebung im Text].
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teilt auch eine Generation nach Blumenberg prominent Steven Shapin, besonders mit Blick auf Isaac Newton.9 Wie Blumenberg und Shapin jedoch ebenso erkennen, ist damit der Wechsel von einer optimistischen Verstehensgeschichte zu einer pessimistischen Missverstehensgeschichte ebenso wenig angezeigt wie ein Wechsel von einer naiven Kontinuitäts- zu einer rigorosen Diskontinuitätsunterstellung. Lutz Danneberg führt diesbezüglich die überzeugende Überlegung an, dass Denkgeschichten weder teleologisch noch a-teleologisch sinnvoll rekonstruierbar seien, wenn Kontinuität bzw. Diskontinuität entsprechend rigoros gesetzt würden. Diese Kritik trifft traditionelle Erfolgsgeschichte und foucaultsche Diskontinuitätserzählungen gleichermaßen10 und folgt entsprechend zwei Grundgedanken: Zum Einen unterschlägt ein allzu optimistischer Teleologismus seitens des Ideenhistoriographen nichts weniger als den Charakter der zeitgenössischen epistemischen Situation selbst – diese ist in der Tat prospektiv offen.11 Zum Anderen macht sich eine rigorose Diskontinuitätsbehauptung durch das Übersehen der retrospektiven Geschlossenheit der epistemischen Situation12 angreifbar. Denn so wird der Blick für die Frage verstellt, warum sich aus der offenen Situation heraus nur eine von mehreren Alternativen durchgesetzt hat: Was könnte ihre besondere Stärke bzw. Bestärkung ausgemacht haben und was die Schwäche der „Verlierer“?13 Nur unter prinzipieller (nicht verabsolutierender) Aufrechterhaltung des Erfolgshistoriengedankens ist kontrastiv die Misserfolgsgeschichte der sich verlaufenden Alternativen überhaupt sinnvoll zu betreiben.14
9 Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Frankfurt am Main 1998, S. 144: „Das Buch, von dem behauptet wird, es markiere den Gipfel der wissenschaftlichen Revolution und habe ‚unser‘ Weltbild verändert – Isaac Newtons Principia mathematica – ist damals wahrscheinlich nicht einmal von hundert Menschen ganz gelesen worden, unter denen kaum mehr als eine Handvoll tatsächlich die Kompetenz besaßen, es wirklich zu verstehen.“ 10 Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, S. 201f.: „Hier geht es allein um den Punkt, dass es die einzige Vorab-Maxime in dem Sinn ist, dass die entgegengesetzte Vorab-Orientierung auf Diskontinuität keine zielführende Option methodologischer Selbstbindung darstellt. Zu betonen ist das nicht zuletzt angesichts solcher Vorab-Prämierungen von Diskontinuität, die ihren Meister nicht selten in Michel Foucault finden [...]“ 11 Ebd., S. 197. 12 Ebd. 13 Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 3. 14 Das Hauptproblem im von Foucault inaugurierten Paradigma sieht Danneberg allerdings in der Wohlfeilheit der Diskontinuitätsbehauptung, sobald sie nämlich immer dann schon erfolgt, wenn der ideenhistorische Kenntnisstand nicht mehr hergibt als sie: Danneberg, „Epistemische Situationen“, S. 201f.: „Zu betonen ist das nicht zuletzt angesichts solcher Vorab-Prämierungen
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3.1.2 Ideen als Potenziale Einen exemplarischen Vertreter dieses Miss- bzw. Nicht-Vollverstehens hatte eingangs Cervantes Saavedra mit seinem Don Quijote vorgestellt: Dem Hidalgo von der Mancha sind gleich zwei solche, von Blumenberg als Potenzen bezeichnete mögliche Konsequenzen bzw. Folgerungen aus fundamentalen Theoremen nicht bewusst. Weder ist ihm das systematische Potenzial einer begründungs- wie legitimationstheoretischen Gottesinstanz für unmittelbar politische Fragen und solche des menschlichen positiven Rechts bewusst: So sieht Don Quijote nicht die Möglichkeit einer theonomen Grundlegung menschlicher ziviler Strafe, sondern bestreitet und bekämpft ein menschliches peinliches Recht sogar, wenn er sie als gegenüber Gott anmaßend ansieht. Noch sind ihm die Risiken einer Klugheitslehre bewusst, die sich nach Machiavelli Fragen moralischer Güte bzw. Verwerflichkeit nicht zur Richtschnur macht, sondern im Rahmen eines grundsätzlich moralindifferenten Pragmatismus nur noch instrumentalisieren kann. Für ihn gehört es weniger zu den Geboten des Rechts, sondern mehr „zu den Eigenschaften der Klugheit […], was sich im Guten erreichen läßt, nicht im Bösen zu tun“.15 Dass damit Fragen der Moral auf die sekundäre Priorität der Mittelwahl herabgesetzt werden, sieht der Don genauso wenig wie die vermehrt voluntaristische Folge, dass die Wahl des Telos im Rahmen einer dergestalt umbesetzten handlungstheoretischen Mittel-Zweck-Rationalität nur noch arbiträr ist. Ihm selbst scheint sie natürlich unproblematisch: Im Rahmen seines gattungstypisch induzierten Bildes vom Rittertum traut er dem König als einem unbestrittenen Edelmann die moralisch integre Wahl dieses Ziels stillschweigend immer schon zu. Stillschweigendes Vertrauen jenseits des Gottvertrauens ist die Sache auch der
von Diskontinuität, die ihren Meister nicht selten in Michel Fouacult finden, der denn auch als Begründung nicht mehr als das für ihn offenbar unhintergehbare Begehren nach Diskontinuierlichen bietet [...] Ohne die methodologische Vorab-Maxime der Kontinuität drohen sich die Diskontinuitäten allein aus dem mangelnden Wissen zu erzeugen, und es ist schon bemerkenswert, auf wie geringen Textcorpora Foucault in Die Ordnung der Dinge oder Archäologie des Wissen oftmals seine übergreifenden Entwürfe errichtet [...]“. Danneberg sieht die Gefahr dieses wohlfeilen Schlusses gerade darin, dass in ihm schon das bestätigende Ende der Untersuchungen, nicht der Anlass zu weiterer Sichtung des historischen Materials gesehen wird. Die Diskontinuitätsbehauptung kann dann nachgerade erkenntnisbehindernd, um nicht zu sagen: wider die lex artis, geraten. Erst bei nachhaltigem Ausbleiben einer Bestätigung der Kontinuitätsbehauptung ist daher der Diskontinuitätsschluss plausibilisierbar: ebd., S. 208: „Erst das Scheitern des Versuchs [und nur das!], die methodologische Vorannahme der Kontinuität am historischen Matieral zu bestätigen, lässt sich als gewichtiger Hinweis deuten, dass man es mit einer Art von Diskontinuität zu tun hat. Unsinnig erscheint der umgekehrte Weg“ [Hervorhebung O.B.]. 15 Cervantes Saavedra: Don Quijote, S. 200.
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frühneuzeitlichen Theoriegebung nicht. Sie ist es besonders dann nicht, wenn noch das siebzehnte Jahrhundert universale Systeme von Weisheit und Wissenschaft zu denken versucht, in denen zwischen solchen Bereichen wie der Theologie, der Rechtslehre und dem Staatswesen in irgendeiner Weise vermittelt werden soll. Gerade auf einen solchen Vermittlungsdruck weist aber Don Quijotes Verhalten und Handeln nolens volens hin, wenn er sich auf Gottesinstanz und Pragmatismus zeitgleich beruft, ohne sie ihrer Spannung benehmen zu können, ja ohne dieser Spannung überhaupt gewahr zu werden. Damit ist eine dritte Form, wenn nicht schon der Ideenentwicklung selbst, so doch der Impulsgebung zu einer solchen umrissen. Während Don Quijote einmal das antivoluntaristische respektive antiabsolutistische Potenzial des Theonomiegedankens nicht erfasst, ein andermal das provoluntaristische bzw. proabsolutistische Potenzial eines prudentistischen Apriori nicht sieht, so treibt schließlich die aus dieser Spannung resultierende Misere verstärkt zur Reflexion eben dieses Problems an. Natürlich ist dies im gewählten Beispiel Teil eines literarischen Werks, mithin Schritt einer dichterischen Operation Cervantes’ und nicht die eines realhistorischen Teilnehmers der Ideengeschichte namens Don Quijote selbst. Begreift man allerdings, wie angezeigt, Don Quijotes Misere eben als operative Handlung des Dichters, stellt sich evidenter Maßen die Frage nach dem Zielpunkt dieser Operation ein und erlaubt allemal folgende Feststellung: Zwar überzeichnet Cervantes Don Quijotes Berufung auf einen Aspekt der Gottesinstanz, nämlich ihre letztlich alleinige Strafbefugnis sub specie aeternitatis; und er überzeichnet Don Quijotes Berufung auf einen Aspekt der Klugheit, nämlich ihren Pragmatismus. Aber gerade damit gelingt es Cervantes, den dennoch tatsächlichen zeitgenössischen Vermittlungsmangel, also den Aspekt der relativen Unvermitteltheit von Theologie, Jurisprudenz und Staatslehre zu rubrifizieren. Damit ist die eminente Bedeutung gerade der literarischen Darstellungs- und Reflexionsform angesprochen, über die in 3.3 eigens zu sprechen sein wird.
3.1.3 Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen Es ist festzustellen, dass sich Fortschritte für den heutigen Beobachter aspektuell ausprägen, Zeitgenossen bestimmte Teile von Ideen affirmieren und zu einer Weiterentwicklung vorantreiben. Dahingegen werden andere Teile entweder bewusst abgelehnt oder als potentiell vorhanden gar nicht wahrgenommen, mithin die dadurch entstehenden Leerstellen mit Traditionellem gefüllt. Dies rührt indes an methodische Probleme, die wiederholt in zentralen Diskussionen der Geistes-, Ideen-, Philosophie-, Kultur- und Literaturgeschichte
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stehen. Mit der Behauptung, literarische Reflexionen politischer Fragen geschehe bei Gryphius nicht mehr allein rechtstheologisch und noch nicht allein im Rahmen eines echten säkularen Naturrechts, stellt sich die Untersuchung nicht nur in die übliche Beweispflicht, sondern auch in den Zwang, die Verortung der behaupteten Stellung dazwischen auch zu leisten und zu plausibilisieren. Dies macht ein ideenhistorisches Instrumentarium notwendig, das eine Entwicklungsgeschichte erlaubt, die sich von Diskontinuitäten und gewollten Regressen nicht irritieren oder gar falsifizieren lässt. Ebenso wenig ist aber in das andere Extrem eines Deskriptivismus zu verfallen, der bemerkenswerte Gleichzeitigkeiten und Nacheinander nur noch feststellt, aber nicht mehr zu erklären versucht. Es gilt schließlich, Gryphius inmitten eines Transformationsprozesses eine bestimmte Stufe zuzuweisen, um nicht vom politiktheoretischen Niemandsland einer literarischen Rezeption sprechen zu müssen. Für eine positive Bestimmung des Ortes der gryphschen Trauerspiele im komplexen Transformationsprozess der Säkularisierung16 finden sich mehrere methodische Anknüpfungspunkte. Schon Thomas S. Kuhn unternimmt den Versuch, Innovationen nicht mehr als punktuell bzw. plötzlich zu denken, sondern als „Ausbeutung von Wahrnehmungsmöglichkeiten“, die selbst nicht vom Innovator, sondern schon vorher geschaffen wurden.17 Eine solche Geschichte des Denkvollzuges ermöglicht es, systematische Spannungen und Widersprüche, wie sie in der Gleichzeitigkeit rechtstheologischer und realpolitischer Geltungsansprüche vorzuliegen scheinen, historisch aufzulösen: Die Möglichkeit zur Neuerung, hier zur Selbstbehauptung des gegenwartspolitischen Interesses, wird wahrgenommen und auch genutzt. Andere, mit dieser Novität in systemimmanenten Zusammenhang stehende Denkmöglichkeiten jedoch werden nicht voll ausgebeutet – zumindest noch nicht soweit, dass theologische Argumente gegenüber jener Selbstbehauptung einer Staatsräsonlehre schon das Feld politischer Theorie räumen müssten. Mit Kuhn stößt man allerdings insofern an eine Grenze, als hier nicht nur die Ausbeutung ex ante systemimmanenter Möglichkeiten beschrieben werden soll. Geschichte der Säkularisierung zu schreiben, bedeutet vielmehr, umgekehrt auch
16 Vgl. Friedrich Vollhardt: ‚Verweltlichung‘ der Wissenschaft(en)? Zur fehlenden Negativbilanz in der apologetischen Literatur der Frühen Neuzeit. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Hg. von Lutz Danneberg u.a. Berlin, New York 2002, S. 67–93, hier S. 74f. 17 Thomas S. Kuhn: Revolution als Wandlungen des Weltbildes. In: Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Hg. von Uwe Wirth. Frankfurt am Main 2008 (stw 1799), S. 296– 307, hier S. 305.
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die zeitgleich in deren Prozess sich vollziehende Disqualifizierung der vormals gleichwertigen alternativen Denkmöglichkeiten zu ex post systemexternen Theoremen zu verfolgen: Für das Phänomen der Säkularisierung scheint schließlich gerade sinnfällig zu sein, dass Theologeme an ihrem Ende nicht etwa nur schweigende Möglichkeiten der Naturrechtslehre darstellen, bestehende Potenziale, die nicht aktualisiert wurden, sondern von der Debatte nunmehr als disziplinfremd kategorisch ausgeschlossen werden. Hiermit wird deutlich, mit welcher Vorsicht die durchaus brauchbare Metapher von Potenz und Akt in der ideenhistorischen Arbeit zu handhaben ist. Sie darf nicht diejenige Problematik invisibilisieren, die im Verhältnis der Potenzen selber besteht. Bezieht man diese Problematik hingegen in die Transformationsanalyse mit ein, ist die „von vornherein teleologische Struktur“ der Begriffe Potenz und Akt selber18 ihrer Gefahr benommen, nur Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichten schreiben zu können. Einen Zugang können die methodologischen Überlegungen Lutz Dannebergs über Begriffsbildung und Begriffsentwicklung „zwischen Innovation und Tradition“19 bieten: Es gilt hinter die „Überbetonungen heuristischer Aspekte“ durch Gryphius und seine Zeitgenossen zu kommen, „die den explikativen Charakter der Begriffsbildung unterlaufen“.20 Als eine solche Überbetonung darf das bis Hobbes nur selten hinterfragte Dogma des Menschen als animal politicum angesehen werden. Gryphiusʼ Mentor Georg Schönborner etwa führt diesen Begriff zwar an, lässt jedoch ungeklärt, ob die Sozialität des Menschen eine Neigung seines natürlichen Seins oder vermehrt ein Gebot des übernatürlichen göttlichen Sollens ist (4.2.3.1). Genauso müssen „Unterbetonungen“ anderer heuristischer Aspekte aufgedeckt werden, die umgekehrt „den begriffsbildenden Charakter der Explikation unterlaufen“.21 Besonders in den hartnäckigen Widerstandsrechtsdebatten scheint dies der Fall zu sein: Henning Arnisaeus etwa reicht die Frage
18 Den Bruch mit diesen Begriffen der Metaphysik vollzog dabei schon Thomas Hobbes: Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, hier S. 423: „[D]er Stellenwert der Finalität im Schema der vier Ursachen ist nicht aus ihm selbst verständlich, wohl aber aus der Differenz von Potenz und Akt, die man als sein eigentümliches Fundament betrachten muß. Beide Begriffe haben von vornherein eine teleologische Struktur; die Potenz ist die Fähigkeit oder Anlage ‚zu etwas‘, das ihr als Zweck vorgezeichnet ist, der Akt die Verwirklichung oder Vollendung ‚von etwas‘, das die Potenz in sich enthält“. Vgl. auch: Oswald Schwemmer: [Art.] Akt und Potenz. In: EPhW 1, S. 59–61, hier S. 61. 19 Lutz Danneberg: Zwischen Innovation und Tradition: Begriffsbildung und Begriffsentwicklung als Explikation. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 9), S. 50–68. 20 Ebd., S. 61. 21 Ebd., S. 61f.
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des legitimen Tyrannizids wie beiläufig an die Theologie weiter (siehe 4.1.2.5), ohne deshalb die Theologik seiner Staatslehre so auf den Begriff zu bringen, wie es diese Kompetenzverschiebung einer politischen Grundsatzfrage eigentlich geböte. Über Kuhns rein wissenschaftsgeschichtliches Konzept hinaus muss das Interesse also auch den Veranlassungen gelten, die dazu führen, Theoriepotenziale auszuschöpfen oder nicht. Diese Veranlassungen können selbst theorieextern und sogar prima facie irrational sein. Soll diese Geschichte daher nicht in einem radikalen Relativismus gipfeln, müssen diese Veranlassungen rekonstruiert und benannt werden. Friedrich Vollhardt integriert das seit Kant geläufige Bewusstsein davon, dass Möglichkeiten ihrerseits bedingt sind,22 in die hermeneutischen und ideenhistorischen Wissenschaften: „Es geht […] um die in den zeitgenössischen Sinn- und Denksystemen verankerten Bedingungen der Möglichkeit des Textverstehens“,23 mithin dessen, was Danneberg als epistemische Situation bezeichnet.24 Sie erlaubt die Wechselwirkung zu rekonstruieren, welche die Transformationsforschung zwischen Gegenstand und seiner zeitgenössischen Kenntnis walten sieht.25 Für die Ideengeschichte bedeutet das nicht nur die Strittigkeit von Nutzung und Auslassung von Potenzialen, sondern auch diejenige ihrer vorangehenden Geltung überhaupt. Gerade die Geschichte der politischen Theorie ist auch eine Geschichte disziplinärer Kontroversen und nicht reine Konzept- oder gar Begriffsgeschichte. Es zeichnet den komplexen Status quo der Politologie in der Frühen Neuzeit aus, dass nicht nur Nutzung und Nicht-Nutzung je schon vorhandener Potenziale strittig sind, sondern auch Wahrnehmung, Bereitstellung und Exper-
22 KrV B 265: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich“. (zit. n. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe Hg. von Jens Timmermann. Hamburg 1998 (Philosophische Bibliothek 505), S. 313 [Hervorhebung im Text]). Vgl. Kuno Lorenz: [Art.] möglich/Möglichkeit. In: EPhW 2, S. 918–920, hier S. 919: „Kant […] fragt – anders als G. W. Leibniz, der […] den Erfahrungssatz ‚alles Mögliche strebt nach Existenz‘ […] gewinnt – nach den ↑Bedingungen ihrer M[öglichkeit]“ [Hervorhebung im Text]. 23 Friedrich Vollhardt: Von der Rezeptionsästhetik zur Historischen Semantik. In: Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung? Hg. von Wolfgang Adam, Holger Dainat, Gunter Schandera. Heidelberg 2003 (Euphorion: Beihefte 44), S. 189–209, hier S. 199. 24 Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. 25 Vgl. programmatisch Hartmut Böhme: Einladung zur Transformation. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. von Hartmut Böhme u.a. München 2011, S. 7–37, besonders S. 11 und S. 13.
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tise des Fundus von Potenzialen überhaupt: Der Machiavellismus genauso wie der Hobbesianismus z.B. ließen sich als Nutzung bzw. Nicht-Nutzung theologischer Theoriepotenziale gar nicht angemessen beschreiben. Dass das Potenzial, Gott als Rechtsquelle und Maßstab auch menschlicher Gesetze zu sehen, bei ihnen unausgenützt bleibt, weist nicht darauf hin, dass als anderes Potenzial der Atheismus genutzt würde – diesen Vorwurf brachten Zeitgenossen26 –, sondern kommt daher, dass die Gottesfrage – gleichgültig, ob bejaht oder verneint – nunmehr indifferent war.27
3.1.4 Unbewusste Ursache und bewusste Motivation Nutzung, Auslassung und Bereitstellung von Potenzialen kann schließlich unbewusste Ursachen haben oder einer bewussten Motivation entspringen: Unbewusste Ursachen einer partiellen Ablehnung, d.h. Nicht-Übernahme einer Theorie oder Idee können in Miss- bzw., wie Blumenberg es formuliert, Umverständnissen bestehen. Blumenberg selbst wählt ein für das sechzehnte Jahrhundert prominentes Beispiel: die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes durch die zeitgenössischen Theologen. Ihre Auffassung der kopernikanischen Innovation als Häresie übersah seine Intention, „zwischen dem Menschen und seinem Gott die Eintracht nach der nominalistischen Verwirrung wieder hergestellt zu haben, indem er dem contemplator caeli eben den Punkt fand und anwies, auf den der conditor caeli die reine Ordnung seines Werkes bezogen hatte“.28 Daher verkannten die Theologen auch, dass der schöpfungstheologisch ‚eigentlich‘ richtigen Rolle des Menschen als eines untergeordneten Bewunderers und Beobachters Gottes und des Himmels gerade die dezentrale Position im Weltgeschehen gerechter wurde als der geozentrische Kosmos. Die kopernikanische Neuerung stellte eine systematische Kongruenz von Schöpfungsordnung und Ordnung des Geschöpften her und hätte – so möchte man meinen – gerade theologische Lorbeeren verdienen müssen. Dennoch konnten die zeitgenössischen Theolo-
26 Vgl. Merio Scattola: Machiavelli in der historia literaria. In: Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. Hg. von Cornel Zwierlein, Annette Meyer. München 2010 (Historische Zeitschrift, Beihefte: Neue Folge 51), S. 131–162, hier S. 142. 27 Hans Blumenberg nimmt solche Wirkmomente in der Theoriegeschichte mit in den Blick, wenn er z.B. Hobbes ein Bewusstsein für „die fatale Härte des politischen Problems im Vergleich zur Freiheit der theoretischen Naturbetrachtung“ zuschreibt: Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 251. 28 Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175 [Hervorhebungen im Text].
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gen ihr solange nicht zustimmen, wie ihnen der Kosmos nicht produktiv-effektive Entsprechung der Schöpfungsordnung war, sondern nach antik-stoischem Vorbild metaphorischer Ausdruck göttlicher Vorsehung: Sachliches Problem des Kopernikus war nicht ein tatsächlich mangelnder Gottesbezug seines Denkens, sondern der providentielle Maßstab seiner theologischen Kritiker. Sie konnten mit der Annahme des Menschen als dem letzthin zentralen Schöpfungsbezug Gottes nicht umhin, auch seinen jetzigen Ort, die Erde, als entsprechend zentral zu denken. Die theologische Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes hatte seine Ursachen zum Einen im Umverstehen der doch eigentlich deterministischen Stoa zu einem Ideengeber eines Providentialismus, der den Kosmos „als physische Manifestation eines metaphysischen Bezuges“29 zu denken erlauben sollte. Zum Anderen gründete diese Ablehnung im Missverstehen des nicht mehr metaphorischen Kopernikanismus. Solange die Theologen Kopernikus’ Theorie ihre Eigentlichkeit überhaupt vorwarfen, verstellten sie sich den Blick dafür, dass diese Eigentlichkeit im Besonderen eine den theologischen Zwecken äußerst entgegenkommende war: „[D]ie Theologen übersahen diese Chance, für ihre Tradition in der neuen Wissenschaft Sukkurs zu finden“.30 Im Bereich der Dichtung sind es schließlich vorzüglich mystische Lyriker wie Johannes Scheffler, aber auch Andreas Gryphius, die im siebzehnten Jahrhundert den Bruch mit der konkreten Lokalisierung Gottes affirmativ aufnehmen.31 Bewusste Motivationen einer teilweisen Ablehnung neuer Ideen und Theoreme zeigen sich z.B. in der Auseinandersetzung frühneuzeitlicher Rechtstheologen mit den pragmatistischen Neuerungen Niccolò Machiavellis. Francisco Suárez etwa hat das virulente Interesse Machiavellis an einer pragmatischen Politiklehre sogar geteilt: Es war in der Tat nicht zu leugnen, dass benachbarte
29 Ebd. 30 Ebd.; ausführlich: „[D]ie Theologen übersahen diese Chance, für ihre Tradition in der neuen Wissenschaft Sukkurs zu finden: indem sie den alten, geozentrischen Kosmos nach dem Vorbild der antiken Stoiker als Metapher der göttlichen providentia, als physische Manifestation eines metaphysischen Bezuges ansahen, zwangen sie auch dem neuen heterozentrischen Kosmos eine metaphorische Bedeutungsfracht auf, die sich mit der Überlegenheit des Sinnenfällig-Handgreiflichen gegen die subtile Intention des Kopernikus durchsetzte“ [Hervorhebungen im Text]. 31 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. Die Kopernikus-Gedichte des Andreas Gryphius und Caspar Barlaeus im Argumentationszusammenhang des frühbarocken Modernismus. In: ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt, Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 519–545, hier S. 526; Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970, S. 70f.
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bzw. konkurrierende Fürsten amoralisch handeln und einen von übergroßen moralischen Skrupeln behafteten ‚guten‘ Fürsten immer überrennen würden. Mit einer normativen Leugnung dieser Tatsache war in der Tat kein Staat mehr zu machen (4.1). Insoweit musste Machiavelli ernst genommen werden und dies tat auch Francisco Suárez: Dies hat zu den zentralen Erkenntnissen des Teilprojekts A10 des Münchner SFB 573 zu zählen: Die (neo)aristotelischen Naturrechtslehren rezipieren Machiavellis Augenmerk auf die prudentia affirmativ, gelangen jedoch nicht wie der Italiener zu einem apriorischen Prudentismus.32 Für die Rechtstheologen vollkommen inakzeptabel war nämlich Machiavellis Vorstellung, dass eine solche politische Stabilisierung nur gegen jedwede Moralität möglich sein sollte: Fragen von Recht und Unrecht stünden den politischen Fragen von klug und unklug wesentlich indifferent gegenüber und der homo politicus könne deshalb seinen Gegnern mit harten Maßnahmen begegnen, weil sie ihm je schon nie untersagt sind. Dagegen schreibt die Spätscholastik von Vitoria bis Suárez an. Sie versucht, den Krieg gegen äußere Gegner in eine bellum-justum-Theorie einzubetten. Sie versucht, allgemeine Fragen kluger Handlungen gegen Widersacher zu rejuridifizieren: Bestimmte kluge Handlungen dürfen und müssen gegen besondere Gesetze verstoßen, weil ihnen übergeordnete Normen das Recht und die Pflicht dazu geben.33 Auch Gryphius gehört – so wird sich zeigen – in diesen Komplex der Machiavelli-Rezeption. Teilte also die Staatsrechtslehre des sechzehnten, mehr noch aber des siebzehnten Jahrhunderts durchaus Machiavellis prudentielles Problembewusstsein, so lehnte es doch nahezu einstimmig seine
32 Vor allem Norbert Brieskorn: Systematisieren und Öffnen von Rechtspositionen in Francisco Suárez: De legibus ad Deo legislatore (1612) und Johannes Azor: Institutiones morales (1602). In: SFB 573: Mitteilungen 4 – 1 (2008), S. 35–42; Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez; Oliver Bach: Juridische Hermeneutik. Francisco Suárez zur Auslegung und Veränderung der menschlichen Gesetze (DL VI). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 267–309; siehe weiter Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Lex und Ius. Hg. von Alexander Fidora, Matthias Lutz-Bachmann, Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010 (PPR II,1), S. 429–463; Stiening, Gideon: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext. In: SFB 573: Mitteilungen 7 – 2 (2011), S. 7–16; ders.: Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 123–151; ders. : ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria. In: Der Philosoph Melanchthon. Hg. von Günter Frank, Ursula Kocher, Felix Mundt. Berlin, New York 2012, S. 115–146. 33 Vgl. Bach: Juridische Hermeneutik.
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prudentistische Grundlegung ab: Fragen des praktisch Klugen sollten ohne den notwendigen Zusammenhang mit Fragen des Rechts nicht gelten können und ohne sie nicht behandelbar sein. Recht sollte mithin nichts Politisches sein, sondern die Politik etwas Rechtliches. Jurisprudenz war den Machiavelli-Gegnern nichts anderes als ausübende Rechtslehre.34 Die Ablehnung Kopernikus’ durch die Theologen war ein ideengeschichtliches Missverständnis, insofern er einem gängigen theologischen Weltbild widersprach, das aber als theologisches keineswegs alternativlos war. Es besaß in Kopernikus’ Kosmos eine echte theologische Alternative und die zeitgenössischen Theologen missverstanden gerade dies. Dementgegen ist die suárezische Ablehnung des machiavellischen Prudentismus gerade keinem Missverständnis geschuldet: Sie verdankt sich dem sachlich richtigen Schluss, dass ein Pragmatismus, der sich direktiven moralischen Erwägungen entzieht und sie sich umgekehrt als Mittel unterordnen will, der Theologie tatsächlich ihre Suprematie streitig macht. Kopernikus wie Machiavelli traf durch die Zeitgenossen der Vorwurf, ihre Theorien seien a-theologisch: Nur auf Machiavelli traf dieser Vorwurf auch zu. Natürlich können unbewusste Ursachen und bewusste Motivation gemeinsam auftreten. Dies dürfte bei entsprechendem Fokus sogar den Regelfall bilden, insofern Miss- bzw. Umverstehen und bewusste Ablehnung in einem komplexen, aber dennoch identifizierbaren Wechselspiel stehen. Folgt man jüngsten Untersuchungen Gideon Stienings, kann man sich hierfür aus dem gleichen Umfeld eines Beispiels bedienen, nämlich abermals dem Rechtsdenken Francisco Suárez’: Bei diesem findet sich – zumindest an zentraler Stelle – das für das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert übliche Missverständnis, dass Machiavelli das notwendig amoralische Handeln fordere.35 Hätte schon der Moralindifferentismus, der die Moralität nur instrumentalisiert und damit dem Klugen unterordnet, für eine naturrechtliche Polemik ausgereicht, so erklärt sich erst aus diesem Missver-
34 Vgl. Klaus-Gert Lutterbeck: Jurisprudenz als ‚ausübende Rechtslehre‘? Zur Funktion der Rechtswissenschaft im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie in Suárez’ ‚De legibus‘. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 53–72. 35 Vgl. Gideon Stiening: ‚Aus den innersten und tiefsten Gründen der Philosophie‘. Zur Stellung Ciceros in Francisco Suárez’ ‚De legibus ac deo legislatore‘. In: Cicero in der Frühen Neuzeit. Hg. von Günter Frank, Anne Eusterschulte. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015 (MSB 13) [i.D.]. Auch Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 37–72, hier S. 39–51.
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ständnis die Heftigkeit der Ablehnung Machiavellis. Inwiefern Stienings These auf alle Zeitgenossen zutrifft oder sie diese als ‚begriffsstutzig‘ diskreditiert, kann hier nicht diskutiert werden.36 Allerdings ist die andere mögliche Unterstellung, dass nämlich Suárez und den übrigen Rechtstheologen der Indifferentismus Machiavellis wesentlich klar und die Zuschreibung notwendiger moralischer Schlechtigkeit nur polemisch-darstellerischen Erwägungen geschuldet sei, mitnichten diejenige, die solchen Autoritäten wie dem Conimbricenser Theologen den größeren Respekt zollte: War dem Rechtstheologen nämlich der Moralindifferentismus deutlich und folgerte er hieraus die Gefahr eines Anstiegs moralisch schlechten Handelns der politischen Akteure als notwendig zu erwartenden Fakt, dann konnte ihm das eigentlich nur unter Preisgabe derjenigen Prämisse gelingen, die für die aristotelisch-thomistische Naturrechtstradition fundamental ist, dass nämlich der Mensch grundsätzlich ein gesellschaftliches oder gar politisches Lebewesen sei. Die kognitive wie moralische Eingeschränktheit des Menschen in statu pravitatis hatte nur als Plausibilisierung des möglichen Verfehlens hergehalten, nicht als Fundament einer anthropologischen Konstante menschlicher Schlechtigkeit. Die malitas konnte allemal die Ausnahme begründen, die das Gesetz notwendig machte, sie konnte aber nicht die natürliche bonitas begründen, die als Grundlage von Erlassung und Stabilität dieser Gesetze systematisiert war. Nun aber möchten die Thomisten die malitas in einer Weise gegen Machiavelli stärken, wie sie es selbst grundlagentheoretisch eigentlich nicht wollen können.37 So verstanden, wäre die neuscholastische Machiavelli-Polemik nachgerade als ideenhistorisches Phänomen beschrieben, in dessen Rahmen die bewusste Ablehnung des Prudentismus einem korrekten Verständnis seines Wesens und einem unterlaufenen Missverständnis des Fundaments ausgerechnet der eigenen Position folgt.
36 Stolleis führt mit Reginald Pole einen überaus frühen Leser und Kritiker des Principe an, der das Moment der ‚Heuchelei‘ von Religion richtig erkennt: ebd., S. 42f. 37 Tatsächlich bricht sich die malitas im katholischen genauso wie im protestantischen Völkerrecht als inhaltliches Rechtsargument schon zeitig Bahn, so etwa bei Luis de Molina und Alberico Gentili: vgl. Oliver Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘. Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 191–217, hier S. 201.
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3.1.5 Makro- und Mikroprozesse der Säkularisierung In der Bilanz zum DFG-Projekt Verweltlichung der Wissenschaft(en) fasst Sandra Pott die Ergebnisse zu einer Typologie von Säkularisierungsphänomenen zusammen.38 Heuristisch leitend war das Problembewusstsein, dass eine allein an der makrologischen Prozesskategorie ausgerichtete Ideengeschichte Reduktions risiken ausgesetzt ist,39 die bis in die Ahistorizität führen können. Eine mikrologische Interpretationskategorie Säkularisierung hingegen erlaubt die Beschreibung solcher partiellen Verweltlichungen, wie sie in den vorangegangenen Beispielen innerhalb eines Denkens auftreten können. Sie schließen damit nicht schon den ebenso beobachteten Fakt aus, dass an anderen Systemstellen desselben Denkens Verweltlichungen ausbleiben oder sogar Retheologisierungen entstehen können. Alle von Pott vorgeschlagenen Typen von Säkularisierung scheinen für diese Beobachtungen einschlägig, zudem offenbaren sie am konkreten Beispiel schon ihre gegenseitige Wechselwirkung: In der Tat wird durch das verstärkt prudentielle Problembewusstsein im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert „die Substanz der Problemstellung“40 auch der Rechtstheologie verändert, insofern sie sich nicht mehr exklusiv für Begründungs- und Geltungsprobleme interessiert. Die historische Tatsache moralisch schlechten politischen Handelns und der handlungstheoretische Druck, als homo politicus damit umzugehen, werden der Problemstellung hinzugefügt (additiver Typus41). Damit wird gleichzeitig der Zuständigkeitsskopus der Rechtstheologie auf die gesamte prudentia civilis erweitert, einschließend Jurisprudenz, Moralphilosophie und Klugheit: Insofern diese als ein Wirkungszusammenhang gedacht wurden, wird die genannte „Substanz der Problemstellung“ der Rechtstheologie auch transformiert (transformativer Typus42). Dem steht der Machiavellismus entgegen, insofern er nicht die Problemstellung der Rechtstheologie erweitern oder umformen will, sondern
38 Umfassend den additiven, den transformativen, den evolutionären und den revolutionären Typus: Sandra Pott: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. Hg. von Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth. München 2006 (Ordnungssysteme 20), S. 223–238, hier S. 226f. Auch in dies.: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Berlin, New York 2002, S. 4f. 39 Dies.: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte, S. 223. 40 Ebd., S. 226. 41 Ebd. 42 Ebd.
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die Klugheitsfrage durch ihre Befreiung von jedem normativen Apriori gerade auf den Grund ihres genuin eigenen Anspruchs stellt (revolutionärer Typus43). Schon Andreas Urs Sommer schlägt eine Erweiterung der Typologie durch den subtraktiven Typus vor.44 Um Potts Typologie restlos vor Teleologieverdikten zu schützen, ist vielmehr die Ergänzung solcher Typen angezeigt, die gerade auch umgekehrte Entwicklungsprozesse zu benennen erlauben – von vermehrt säkularen zu wieder vermehrt theologischen Argumentations- und Denkstrukturen. Insofern Potts Typologie strukturell vollständig ist, muss sie erstens nur um den Modus der jeweiligen Umkehrung erweitert werden: Die Transformation gerade schon säkularer Denkaspekte in wieder vermehrt theologische Formen kann als restaurativer Typus bezeichnet werden. Zweitens ist Potts Typologie durch den Modus des Nicht-Erfolgens des jeweiligen Typus zu erweitern: Das Beharren auf theologischen Denk- und Argumentationsstilen, das sich für additiven, transformativen oder gar revolutionären Säkularisierungs-Input unempfänglich zeigt, ohne diesen durch Restauration schon verdrängen zu müssen, kann schlicht als konservativer Typus verstanden werden. Insofern z.B. bei den Antimachiavellisten der ersten Stunde die Abgrenzung von Machiavellis Lehre in rein ablehnender Form erfolgte, d.h. ohne dass sein Problembewusstsein ernst genommen und auch nur modifizierend in die eigene Arbeit aufgenommen worden wäre,45 kann dieser Mikroprozess als konservativ gelten. Die Rückeinbettung des politischen Klugheitsdenkens in moraltheologisches Fundament, seine gegenüber Machiavelli theonome Reethisierung kann hingegen als restaurativ begriffen werden. Interessant ist, schon hier zu sehen, dass die Mikroprozesse selbst noch keinerlei hinreichenden Aufschluss über den entsprechenden Verlauf des Makroprozesses geben: Dem makrologisch konservativen Zweck der Theologie, ihren angestammten Rang gerade unter den Wissenschaften des Rechts, der Moral und des Handelns zu behaupten, kam in der Tat mehr die problembezogene Öffnung für Machiavellis Neuerungen zu gute als deren kategorische, mikrologisch konservative Ablehnung.46
43 Ebd., S. 227. 44 Andreas Urs Sommer: [Rez. v.] Säkularisierung der Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. In: Philosophisches Jahrbuch 110 – 2 (2003), S. 382–385, hier S. 383. 45 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 41: „Erst 1604 konfrontiert Jakob Bornitz die echte ‚prudentia politica‘ mit jener sogenannten politischen Klugheit, ‚quam Pseudo-politici et Machiavelli asseclae specioso nomine Ratione status praetendunt.‘“ 46 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez.
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3.1.6 Das Verhältnis zum Makroprozess der Säkularisierung Potts Arbeit konzentrierte sich ausdrücklich auf die Mikroprozesse der Säkularisierung, ohne den Makroprozess zu leugnen.47 Gleichwohl erlaubt der gegenwärtige Stand der fachübergreifenden Methodendiskussion durchaus die behutsame, aber dennoch urteilsstarke Subsumierung und Bewertung von Mikroprozessen aus Sicht des Makroprozesses Säkularisierung selbst. Im Vorangehenden wurde dies schon zum Teil implizit vollzogen: Retheologisierungen von Argumentations- und Denkmustern wurden als restaurativ, das Beharren auf Theologismen dem Säkularisierungsdruck entgegen wurde als konservativ bezeichnet. So sehr diese vom Verfasser auch als wertfreie Beschreibungskategorien für Entwicklungsprozesse begriffen werden, kann nicht geleugnet werden, dass ihnen der makrologische Säkularisierungsgedanke als Maßstab argumentationslogisch zugrunde liegt. Es geht daher nunmehr um die Klärung der Frage, ob es zu dieser makrologischen Säkularisierungssupposition gute Gründe gibt. Rein argumentationsstrukturell stützen dies schon Lutz Dannebergs Überlegungen, wie sie unter 3.1.1 erörtert wurden: Auch diejenige Ideengeschichte, welche die Rekonstruktion sich verlaufender Mikroprozesse einschließt, nimmt den Ausgang ihres Interesses an dem einen erfolgreichen Mikroprozess: An ihm lassen sich seine erfolglosen Alternativen überhaupt identifizieren. Dieser Mikroprozess jedoch ist in seiner Nachhaltigkeit wiederum nur am gegenwärtigen Status quo des Makroprozesses auszumachen. Dieser ist zweifellos säkular. Gilt dies cum grano salis für alle Wissenschaften jenseits der Theologie, so trifft es in besonderem Maße auf das politische Denken zu. Gerade in diesem Fall steht einer solchen Sichtweise die Säkularisierungsthese Carl Schmitts entgegen. Sie besagt gerade, dass durch den analogen Charakter von Gott und absolutem Herrscher die Göttlichkeit bei letzterem erhalten bliebe und gar durch die Analogie in die Immanenz transportiert würde. Dieser systematischen Behauptung Schmitts einer historisch-invarianten politischen Theologie ist unter 3.2 ausführlich zu begegnen. Dort wird zu klären sein, inwiefern das politische Denken der Neuzeit in der Tat säkular und nicht bloß säkularisiert wurde.
47 Pott: Säkularisierung – Prozessbegriff für die Wissenschafts- und Literaturgeschichte, S. 225.
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3.2 Politische Theologie: historischer vs. systematischer Begriff Eine entscheidende Rolle im Gang der Arbeit kommt einem historischen Begriff der titelgebenden politischen Theologie zu. Er darf nicht unter rigoroser Absehung zu jedweder systematischen Distinktion bestimmt werden. Vielmehr erhebt der Begriff gerade den Anspruch, das systematisch statthabende, aber historisch letztlich unausgeschöpfte Potenzial bestimmter Ideenentwicklungen sichtbar zu machen. Er soll plausibilisieren, inwiefern Andreas Gryphius einerseits Gott als Geltungsinstanz jedweden Rechts annimmt, ja sogar stärkt, und inwiefern der Schlesier andererseits ausgerechnet ein dergestaltes Naturrecht verabschiedet, wie es als Vehikel der politischen Theologien des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts von eminenter Bedeutung war. An diesem Sachverhalt wird der Symbiosedruck von systematischer und historischer Perspektivierung deutlich, dem der Begriff der politischen Theologie notwendig nachzugeben hat: Man muss sich zu der vordergründigen Paradoxie von Affirmation der politischen Theologie und Negation ihrer bewährten Mittel verhalten. Sie allein zu kon statieren, wäre unzureichend. Es bliebe nämlich das Risiko, dass der Leser der vorliegenden Untersuchung diese Paradoxie allemal wahrnimmt. Eine residualsystematische Perspektive kann auch durch eine rigorose Historisierung zumindest rezeptiv nicht vermieden werden; sie kann durch diese sogar hervorgerufen werden. Erst eine solche, vom rigorosen historischen Deskriptivismus induzierte Residualsystematik legt dem angemessenen Verstehen des betrachteten Sachverhalts die größten Hindernisse in den Weg. Sie bliebe dem Leser allein überlassen und könnte damit durch einen nachgerade gewollten Reflexionsmangel zu Fehlschlüssen führen, die weder ein systematischer noch auch nur ein historischer Begriff von politischer Theologie wissenschaftlich wollen kann. Wollte man den umschriebenen Sachverhalt hingegen ausschließlich systematisch analysieren, käme man über die Feststellung jener vordergründigen Paradoxie ebenso wenig gewinnbringend hinaus. Das politische Denken Gryphius’ wird systematisch schließlich so charakterisiert, dass von einer affirmierten politischen Theologie noch nicht notwendig auf ein theonomes Naturrecht als deren einzig mögliches Mittel geschlossen werden dürfe. Das bedeutet, dass das zeitgenössische Angebot wirklicher Mittelalternativen der politischen Theologie nur historisch aufzufinden ist.
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3.2.1 Carl Schmitts Rationalismuskritik und vorgebliche Empirik Der hier veranschlagte Begriff unterscheidet sich streng von den systematischen Ansprüchen von politische Theologie, wie sie prominenter Maßen Carl Schmitt formulierte: Sein Begriff von politischer Theologie sieht auch nachaufklärerische Begründungsstrukturen und politische Legitimationsfundamente als nicht wesentlich unterschieden von theologischen an. Erstens sieht er sie als immer transzendent an. Damit befindet er sie für per se unzugänglich und in der Folge für allein glaubbar. Zweitens leugnet Schmitt jede Möglichkeit einer nicht-theonomen Transzendenz. Er möchte dabei gerade Hobbes begründungslogische Theonomie zuschreiben, indem er das konstitutive kontraktualistische Argument des De cive übergeht und stattdessen „den Leviathan zu einer ungeheuren Person geradezu ins Mythologische [ge]steigert“ begreift.48 Ins analytische Zentrum seiner Überlegungen – und nicht nur an deren Beginn – stellt Schmitt diejenige politische Situation, für die dem politischen Akteur vom geschriebenen Gesetz keinerlei Regelungen an die Hand gegeben sind: den Ausnahmezustand.49 Insofern auch Andreas Gryphius diesen ins Zentrum seiner dramatischen Auseinandersetzung stellt (4.1.1), ist eine präzisere Auseinandersetzung mit Schmitts Entwurf geboten, die über den Verweis auf gegebene Kritiken hinausgeht. Das Interesse am Ausnahmezustand ist für Schmitt zurecht dort systematisch triftig, wo das verfasste Gesetz oder zumindest seine bestimmte Zuständigkeit bestritten wird. Eine Berufung auf dieses Gesetz gleichermaßen als Geltungsgrund seiner selbst wäre in der Tat witzlos. Dieses Bestreiten kann sowohl von Seiten eines Widerstandes gegen den Souverän als auch im tyrannisch-voluntaristischen Agieren von diesem selbst ausgehen. Letzteres ist dafür entscheidend, dass Schmitt die Definition der Souveränität weniger an die Kompetenz knüpft, im Ausnahmezustand zu entscheiden – denn dies kann das Gesetz sogar allemal regeln –, sondern gerade über diesen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.50 Insofern in Schmitts Augen weiter die Norm „ein homogenes Medium [braucht]“, es mithin „keine Norm [gibt], die auf ein Chaos anwendbar wäre“,51 muss der Ausnahmezustand als der Begriff, der das Chaos bezeichnet, zur Bestimmung der Souveränität erst wirksam hinzutreten.
48 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München, Leipzig 1922, S. 43. Dem entgegnete vor Kurzem nochmals Dietrich Schotte: Auctoritas, non veritas, facit legem! Zur angeblichen Politischen Theologie in Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 – 5 (2009), S. 709–724. 49 Schmitt: Politische Theologie, S. 9. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 13.
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Denn soll sich die Oberherrschaftlichkeit, die der Begriff souverain anzeigt, nicht selbst widersprechen, muss sie sich für Schmitt sowohl gegenüber dem Chaos bewähren als auch vom Gesetz selbst unterschieden und unabhängig sein. Damit wird der dezisionistische Charakter dieser Souveränitäts- und Rechtsauffassung bei Schmitt deutlich: Recht und Gesetz haben selbst keine Souveränität inne. Sie bedeuten sie auch nicht oder erzeugen sie gar, sondern sie sind nur Ausdruck einer ihnen äußerlichen und vorgängigen Entscheidung, mithin Entscheidungskompetenz. Diese kann sich auch wieder gegen sie selbst richten: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“.52 Insofern es für Schmitt keine Grenzen außer denjenigen der Norm gibt, Grenze und Norm ihm sogar nachgerade identisch sind, bedeutet ihm Souveränität die unbegrenzte und daher von Gesetzen befreite Entscheidungsmacht: „Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt“.53 Dem Rationalismus unterstellt Schmitt dabei eine gewisse Normenverliebtheit, insofern diesen die Ausnahme gegenüber dem Ableiten aus Allgemeinem nicht interessiere. Schmitt wirft dem Rationalismus Ignoranz vor: Die heutige Staatslehre zeigt das interessante Schauspiel, daß beide Tendenzen, die rationalistische Ignorierung und das von wesentlich entgegengesetzten Ideen ausgehende Interesse für den Notfall, einander gleichzeitig gegenüberstehen.54
Es ist Schmitt in der Auseinandersetzung mit Staats- und Rechtslehren unterschiedlichster Gestalt von Weber bis Kelsen um diesen Nachweis zu tun, dass sie nämlich Ausdruck eines solchen Rationalismus sind. Sie stellten genauso wie angeblich der Rationalismus den Willen zur Schlüssigkeit, Einheitlichkeit, Folgerichtigkeit höher als die Anerkennung eines aporetischen Problems wie das des Ausnahmezustandes: Schmitt nennt etwa den Widerspruch zwischen der als „höchste, unabhängige, nicht abgeleitete Macht“55 bestimmten Souveränität einerseits und dem Kausalitätsgesetz andererseits, aufgrund dessen eigentlich nichts „mit einem solchen Superlativ bedacht werden kann“.56 Schmitt identifiziert Ursache und Grund in einer Weise, wie sie seit Kants Unterscheidung von Seinsgrund und Erkenntnisgrund57 als äußerst problematisch gilt, und bereitet
52 Ebd., S. 11. 53 Ebd., S. 9. 54 Ebd., S. 14. 55 Ebd., S. 20. 56 Ebd. 57 Vgl. Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit III. Teil 1: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer. München 2006, S. 25.
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besonders der Kritik Hans Blumenbergs ihren Boden. Einen weiteren Fall eines wirklichkeitsblinden Rationalismus sieht Schmitt in der reinen Rechtslehre Kelsens, dessen in der Tat zentralem Einheitsgedanken er nicht umhinkommen könne zu unterstellen, einen versteckt naturrechtlichen Horizont anzuzeigen.58 Dieser Fall ist insofern besonders triftig, als hier Schmitt die gerade rationalismusinterne Aporie genau so wie die Aporie einer rationalismusverleugnenden Lehre vorliegen sieht. Für Schmitt wäre es jedoch „konsequenter Rationalismus, zu sagen, daß die Ausnahme nichts beweist und nur das Normale Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein kann“.59 Damit ist für Schmitt der Geltungsgrund menschlichen Rechts wie auch die Bewältigung des Ausnahmezustandes nicht mit rationalistischen Mitteln auffindbar. Am Ausnahmezustand als einem hard fact, insofern er in der Tat „dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden“60 kann, richtet Schmitt also seine Lehre aus. Mit ihm möchte er auf die politische Theologie als gerade dasjenige Ergebnis kommen, das der Empirie gemäßer ist. Die Rationalismuskritik soll ihren Gipfel bei Schmitt gerade in einem empirischen, nicht je schon theologischen Nachweis politischer Theologie haben. Es ist für ihn letztlich die empirisch wahrnehmbare Dringlichkeit des drohenden oder angedrohten Ausnahmezustandes, der zur politischen Theologie nachgerade drängt: Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur […].61
Der entscheidende Nachweis bleibt allerdings aus, nämlich derjenige der systematischen Strukturgleichheit. Zwar ruft Schmitt nochmals die Behauptung auf, dass „die ‚Omnipotenz‘ des modernen Gesetzgebers, von der man in jedem Lehrbuch des Staatsrechts hört, […] nicht nur sprachlich aus der Theologie hergeholt“62 sei. Als Beweis einer systematischen Strukturgleichheit von Gott und
58 Schmitt: Politische Theologie, S. 21: „Wie kommt es, daß ein Haufe positiver Bestimmungen auf eine Einheit mit demselben Zurechnungspunkt zurückgeführt werden kann, wenn nicht die Einheit eines naturrechtlichen Systems oder einer theoretischen allgemeinen Rechtslehre, sondern die Einheit einer positiv geltenden Ordnung gemeint ist?“; vgl. Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). München 2012, S. 291–293, S. 291–293. 59 Schmitt: Politische Theologie, S. 14. 60 Ebd., S. 10. 61 Ebd., S. 37. 62 Ebd., S. 38.
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Souverän reicht ihm letztlich der Nachweis der genannten Aporien. Damit ist sein Theorem der politischen Theologie systematisch allerdings so angelegt, dass ihm etwa mit Jan Assmanns Erweiterung des historischen Horizonts bis in das alte Ägypten noch nicht umfassend entgegnet werden kann: Zwar sind aus dieser Perspektive umgekehrt „[a]lle prägnanten Begriffe […] der Theologie […] theologisierte politische Begriffe“,63 insofern nach Assmans prominentestem Beispiel Gott erst durch den Schluss des Alten Bundes, mithin dessen schon vertraglicher Form in die Funktion des Herrscher- und Gesetzesgottes tritt. Allerdings sind dergleichen Einwände nur begriffshistorisch, die selbst noch nicht ausräumen, dass auch dem politischen Herrschaftsgedanken ante legem veterem eine systematisch denknotwendige Theologizität eignen könnte.64 Schmitt gründet seine Rationalismuskritik schließlich nicht auf apriorischer Ablehnung desselben. Er kehrt es vielmehr als Erkenntnis eines „konsequenten Rationalismus“ selbst hervor, dass dieser für die Machtaporie des Ausnahmezustandes keine Kategorien mehr liefern kann: Dies ist Schmitt die wesentliche, weder hintergehbare noch rationalismusintern lösbare Schwäche des Rationalismus. Macht, die den Ausnahmezustand zu bewältigen gewiss ist, wird einem Souverän zuerkannt und diese Zuerkennung ist Schmitt selbst nicht rational, aber dennoch qua facto statūs necessitatis politisch notwendig. Die ausgerechnet dem ersten Rechtslogiker Hobbes65 zugeschriebene ‚Übersteigerung‘ des Herrschers ‚ins Mythologische‘ ist nach Schmitts eigentümlicher Pointe ebenso notwendige wie irrationale politische Wirklichkeit: Selbst Hobbes könne die allmächtige Person nur noch postulieren, nicht mehr erklären.66 Sie sei dem Engländer letztendlich genauso wenig regredierbar wie Schmitt. Ihr deskriptives und phänomenologisches Auskommen muss die Staatslehre in diesem Punkt dort suchen, wo eine widerspruchsvolle, aber bejahte Omnipotenz der einen Person extra
63 Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München, Wien 2000, S. 20. 64 Vgl. auch Ulrich Haltern: Europarecht und das Politische. Tübingen 2005 (Jus Publicum 136), S. 41, Anm. 127. 65 Vgl. Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 (1982), S. 161–189. 66 Schmitt: Politische Theologie, S. 43: „[E]in einziger Gott regiert die Welt. Wie Descartes einmal an Mersenne schreibt: c’est Dieu qui a établi ces lois en nature ainsi qu’un roi établit les lois en son royaume. Das 17. und 18. Jahrhundert war von dieser Vorstellung beherrscht; das ist, abgesehen von der dezisionistischen Art seines Denkens, einer der Gründe, warum Hobbes trotz Nominalismus und Naturwissenschaftlichkeit, trotz seiner Vernichtung des Individuums zum Atom, doch personalistisch bleibt und eine letzte konkrete entscheidende Instanz postuliert, und auch seinen Staat, den Leviathan, zu einer ungeheuren Person geradezu ins Mythologische steigert.“
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rationem weniger ihre ‚Erklärung‘ als vielmehr ihren Urgrund findet, nämlich in der Theologie. Für die resultierende politische Theologie ist dieser Urgrund eben nicht explikatives Ziel der Erkenntnissuche, sondern umgekehrt der kon struktive Ausgangspunkt der Erkenntnisbefriedigung. Damit verfährt Schmitts Argumentation letztlich weder rationalistisch noch empirisch, sondern dogmatisch, was nicht nur Blumenberg Anlass zur Kritik gibt. Jede Zuerkenntnis von Macht, die auch dem Ausnahmezustand souverän begegnet, entstammt jenem notwendigen wie irrationalen Urgrund: Damit streift Schmitts Begriff von politischer Theologie jede Historizität von sich ab, so sehr die Schrift Schmitts auch historische Kenntnis besitzt. Denn mit der Notwendigkeit ist historische Varianz ebenso ausgeschlossen wie mit der Irrationalität. Der Souverän könne gar nicht anders als gottgleich gedacht werden. Insofern ist Schmitts politische Theologie systematisch.
3.2.2 Blumenbergs Widerspruch Ein historischer Begriff von politischer Theologie kann indes gewonnen werden, indem ihm mit Hans Blumenberg der Begriff der Selbstbehauptung der Vernunft gegenübergestellt wird. Ein Hinübertragen theologischen Vokabulars in ein säkulares Denken muss nicht auf ein noch theologisches Konzept schließen lassen: [D]er Sprachmangel, Ciceros egestas verborum bei der Latinisierung der griechischen Philosophie, ist als Nötigung zur Ausschöpfung des tradierten Ausdrucksbestandes zu bedenken. Dafür ist die bestehende Staatstheorie der vielleicht wichtigste Beleg. […] [E]s bleibt offen, ob das entwurzelte Attribut auf ein neues Subjekt hindrängt oder ob ein neues Bedürfnis es zu sich herüberzieht.67 […] Die Konstanz der Sprache indiziert die Konstanz der Bewußtseinsfunktion, aber nicht die Identität des Inhalts.68
Mit Anbruch der Neuzeit steht hinter dem letzten Grund der ordnenden Vernunft immer weniger die Gottesinstanz, die ein Telos stiftet. Sie weicht zunehmend dem „Argument der ‚Ordnung überhaupt‘“.69 Damit würdigt Blumenberg
67 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 87f. 68 Ebd., S. 98. 69 Ebd., S. 250: „Das Chaos der absoluten Rechte, nicht das Telos des Rechts, ist das Argument der Vernunft, das sie in der Übertragung der vielen absoluten Rechte an ein absolutes Recht – das des Herrschers – die Chance der Selbstbehauptung, und nur diese, ergreifen läßt. Auf die Zweifelhaftigkeit der erreichten und gerechtfertigten Ordnung und des so resultierenden Ordnungsbegriffs kommt es deshalb nicht an, weil er ebenso aus der Verzweiflung der Vernunft hervorgeht wie der cartesische Gottesbeweis aus ihrem Zweifel. Diese Ordnung hat nur das Argu-
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systematisch sogar Schmitts Interesse am Chaos des Ausnahmezustandes. Er verlegt jedoch den Schwerpunkt von der bei Schmitt gestärkten ‚Entscheidung überhaupt‘ auf die der Ordnung. Die Entscheidung mag durchaus eine sein, die nicht nach vernünftiger Ordnung sucht. Sie mag sogar gegen die Ordnung und damit in der Tat so mächtig sein, um in synchroner Perspektive über den Ausnahmezustand getroffen zu werden.70 Ob diese Entscheidung aber in diachroner Perspektive dieselbe Person – sei es eine natürliche oder eine kollektive persona ficta – aus diesem Ausnahmezustand hervorgehen lässt, um weiterhin die initiative Entscheidungsmacht innezuhaben, ist eine andere Frage. Ebendiese findet für Blumenberg gegen Schmitt ihre Antwort im „Mininum der Rationalität, daß sie anzufechten den Widerspruch nicht vermeiden kann, den Naturzustand zu wollen“.71 Damit hat die durchaus umfassende Entscheidungsmacht, deren Kompetenzen über das gesatzte Recht auch Blumenberg nicht verborgen geblieben sind,72 ihren spezifisch neuzeitlichen Grund. Sobald die Macht diesen Grund aber hat, ist sie nicht dezisionistisch selbstbegründend. Sie hängt der Denkunmöglichkeit an, durch gewollten Eintritt in den Naturzustand die Selbsterhaltung zu gefährden. Hier wird Schmitts genanntes Übergehen des Unterschiedes von Kausalität und Begründung, Ursache und Grund deutlich: Deren rigide Identifikation erlaubt Schmitt nicht die Einsicht, dass der Naturzustand als Grund zusammen mit dem conatus der conservatio sui ursächlich ist für eine Angst vor diesem status naturalis. Damit ist schließlich diese Angst Ursache für einen Machtverzicht der Untertanen im Staatsvertrag, der wiederum konstitutiv den Souverän mit absoluter Macht ausstattet. Deren Umfang ist in der Tat normativer erster Grund und dennoch selbst nonnormativ begründet. Die Kompetenz des Wertens, wie Manfred Riedel treffend differenziert, ist ihrem Begriffe nach natürlich von materialen Werten unabhängig.73 Solche sind in der Tat nicht der Grund dieser Kompetenz und im Hinblick auf solche ist diese Kompetenz in der Tat absolut bzw. ‚superlativ‘, aber eben nur im Hinblick auf solche materialen Werte. Schmitt übersieht, dass die Kompetenz des Wertens anderweitig begründet werden kann und wird – in Hobbes’ prominentem Falle mechanistisch. Schmitt führt schon zu Beginn der Politischen Theologie Jean Bodin an, insofern der Herrscher „nicht gebunden ist, si la nécessité est urgente“.74 Er
ment der ‚Ordnung überhaupt‘ für sich, also das Mininum der Rationalität, daß sie anzufechten den Widerspruch nicht vermeiden kann, den Naturzustand zu wollen.“ 70 Vgl. nochmals Schmitt: Politische Theologie, S. 9. 71 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 250. 72 Ebd., S. 252. 73 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. 74 Schmitt: Politische Theologie, S. 10.
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anerkennt jedoch nicht, dass damit genauso wie bei Hobbes Notwendigkeit und nicht Willentlichkeit über den Ausnahmezustand bestimmt. Dieses Übersehen des hobbesschen Vertragsgedankens ist für jede wissenschaftliche Auseinandersetzung besonders fatal. Denn eine affirmative Schmittrezeption, welche die göttliche Transzendenz vordergründig ablehnt, kann die Aporie des Ausnahmezustands nur noch kultivieren, um nurmehr vom „mystischen Grund der Autorität“ zu sprechen.75 Dieser Kult der Aporie kann auch bewusst paradoxe Lösungen als Verdienste feiern mit der nun politologisch fatalen Folge, dass etwa wie bei Giorgio Agamben der Unterschied von Ordnung und Rechtsordnung als schlicht unerheblich erachtet wird.76
3.2.3 Die Autonomie des Analogons Blumenberg entwickelte seine Widerlegung Schmitts nah am Gegenstand der neuzeitlichen Paradigmenwechsel. Diese auch allgemein entwicklungshistorisch auf
75 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Frankfurt am Main 1991 (Edition Suhrkamp 1645). In der Interpretation der barocken Herrscherlegitimation als mystisch – und nicht als bestimmten rechtstheologischen Normen anhängig – scheint sich schmittianische Staatstheorie mit marxistischer Politikgeschichte einig zu sein: vgl. Werner Lenk: Das Schicksal der Regenten. Zur Trauerspielkonzeption des Andreas Gryphius. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 497–514, hier S. 505f. 76 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main 2004 (Edition Suhrkamp 2366), S. 43: „Das spezifische Verdienst der Schmittschen Theorie liegt genau darin, daß sie eine solche Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung möglich macht. Diese Verbindung ist insofern paradox, als das, was ins Innere des Rechts hereingenommen werden soll, sich dem Recht als wesensmäßig äußerlich erweist, da es sich dabei um nichts Geringeres als die Suspendierung der Rechtsordnung selbst handelt (daher die widersprüchliche Formulierung: ‚… besteht im juristischen Sinne immer noch Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung‘)“, S. 45: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustandes, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet, in seinem Sein durch diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden“ [Hervorhebung im Text]. Wie mit einer solchen, nicht „komplexen“, sondern schlicht selbstwidersprüchlichen „Strategie“ das Vorhaben eingelöst werden kann, „den Ausnahmezustand im Recht zu verankern“ (ebd.), muss – gerade weil es doch Agamben selbst nie um Integration, sondern Gleichzeitigkeitsgeltung geht – ebenso unverständlich bleiben, wie die unvermittelbare Anwendung des Begriffs der Topologie auf das unaufgelöste Paradoxon (als eine Art politologisches Möbiusband?), wie sie häufig zu beklagen ist: vgl. Alan D. Sokal, Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 1999, S. 36–43.
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den Punkt zu bringen, erlauben Hans Krämers wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Verhältnis historischer und systematischer Wissenschaften.77 Mit der Distinktion von Modell, Isomorphie und Analogie ist schließlich eine Rekon struktion von Transformationsprozessen eines Systems zum nächsten möglich, ohne dass die Instanz des weltlichen absoluten Herrschers als selbst noch göttlich überhöht und insofern theologisch gesehen werden müsste. Der hobbessche Herrscher nimmt seiner systematischen Funktion nach die Rolle der Gottesin stanz ein. Hinsichtlich der Isomorphie der Systeme thomistische Rechtslehre und hobbessche Staatslehre stellt er daher in der Tat zwar das Analogon Gottes dar. Seine Legitimation hat jedoch einen anderen Grund als die letztlich unhinterschreitbare Autorität des monotheistischen Gottes, nämlich denjenigen Kontrakt, der ihn mit der umfassenden Macht erst ausstattet. Damit beschränkt sich diese Analogie eben auf die Funktion der Gesetzesgeltung. Sie ist nicht umfassend und bezieht sich selbst nicht auf Ursprung und Gründe jener Autorität, die früher allmachtstheoretischer, später kontraktualistischer Natur sind. Die Systeme thomistische Rechtslehre und hobbessche Staatslehre sind zwar cum grano salis insofern isomorph (von gleicher Gestalt), als beide Gemeinschaft, Gesetz und Geltungsgrund zu ihren Systemelementen zählen und diese in gleicher Weise auf einander bezogen sind. Daher können die jeweiligen Geltungsgründe Gott und absoluter Herrscher auf Grund der Isomorphie der Systeme als Analoga gelten. Sie sind aber als Elemente selber nicht von gleicher Gestalt. Carl Schmitt vollzieht die unvermittelte und unzulässige Isomorphisierung einer bloßen Analogie. Damit lässt er es gerade an systematischer Kompetenz fehlen, wo er doch die politische Theologie gerade zu systematisieren beabsichtigt, denn [d]ie Historie liefert Isomorpha, die kompetente Analogisierung fällt der Systematik zu. […] Ein Modellverhältnis kann nur von der Systematik zureichend begründet und anerkannt werden, und das jeweils gesuchte Analogon hat, einmal gefunden, die Tendenz, das zugehörige Analogatum überflüssig zu machen.78
Eine reife Systematik hätte Schmitt vor dem Fehlschluss bewahrt, in der absoluten Macht, welche die Analogie zwischen Gott und hobbesschem Herrscher ausmacht, auch schon die Absolutheit, mithin Göttlichkeit der mit dieser Macht ausgestatteten Person zu sehen. Das neue Analogon des hobbesschen Herrschers ist somit nicht etwa ein Säkularisat im schmittschen Sinne. Der hobbessche Herrscher zieht keineswegs noch eine notwendig transzendente Drohgebärde des
77 Hans Krämer: Grundsätzliches zur Kooperation zwischen historischen und systematischen Wissenschaften. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 32 – 3 (1978), S. 321–344. 78 Ebd., S. 328.
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strafenden Gottes hinter sich her: Schmitt begreift nicht, dass die letzte Furcht des Menschen im hobbesschen Leviathan nicht diejenige vor dessen letztlich göttlichem Status ist, sondern diejenige vor dem Ausscheiden aus der civitas und dem Eintreten in einen Naturzustand, den der Mensch kaum dauerhaft überleben könnte. Der immanente Selbsterhaltungstrieb bildet als letzter Furchthorizont die Geltungsgarantie des menschlichen Rechts. Damit wird der kontraktualistische König als Analogon in ein ganz eigenes entwicklungssystematisches ‚Recht‘ gesetzt. Sein „zugehöriges Analogatum“, der transzendente Strafgott, ist nur seine entwicklungshistorische Entsprechung, selbst aber wird er in der Tat „überflüssig“. Es sind diese systematischen Brüche und Innovationen, die allererst unter angemessener Kenntnisnahme der historischen Traditionen als Brüche und Innovationen identifiziert werden können und die Hans Blumenberg nicht trotz, sondern dank dieser Perspektive von der Legitimität der Neuzeit sprechen lassen.
3.2.4 Carl Schmitts tatsächlicher Dogmatismus Schmitt wirft dem Rationalismus also Ignoranz vor, insofern der sich in seiner Rechtslogik nachgerade einkapsele.79 Er kapriziert sich auf den Ausnahmezustand als hard fact und schreibt ihm die eigentliche systematische Relevanz zu, um ihm schließlich den notwendigen Hinweischarakter auf eine säkularisierte Theonomie zuzuerkennen. Damit betreibt er einen wirkungsgeschichtlich zwar gelungenen, allerdings durchaus durchschaubaren Etikettenschwindel. Schmitt unterschlägt durchweg den eigentlichen Dogmatismus seines erst gewichtigen Schlusses: Vom empirischen Fakt des Ausnahmezustands ist angeblich notwendig auf die Göttlichkeit desjenigen zu schließen, der den Ausnahmezustand entscheidungsmächtig beendet. Ebenso ist angeblich notwendig auf die Zuerkennung dieser Göttlichkeit seitens derjenigen zu schließen, die sich dieser Entscheidungsmacht unterwerfen. Dies ist dann nicht einzusehen, wenn die reale Alternative zu einer solchen Furcht vor Strafe gesehen wird, wie sie gerade bei Hobbes in der konstitutiven immanenten Furcht vor dem Untergang im status naturalis vorliegt. Ob gewollt oder unabsichtlich: Es ist eigentlich dieser Dogmatismus im Schafsfell des Empirismus, der Schmitt seine Abhandlung mit Politischer Theologie überschreiben lässt. Es nimmt mithin nicht wunder, dass Blumenberg den vorgeblichen Empirismus Schmitts nicht mit einem gestärkten Rationalismus erwidert. Er begegnet
79 Schmitt: Politische Theologie, S. 14.
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Schmitts tatsächlichem Dogmatismus gerade von empirischer Warte aus: Dem Ausnahmezustand bei Hobbes kann in Folge des Bewusstseins der „fatalen Härte des politischen Problems im Vergleich zur Freiheit der theoretischen Naturbetrachtung“80 die genauso große systematische Rolle zugesprochen werden wie bei Schmitt selber. Dennoch gelangt Hobbes damit nicht zur Notwendigkeit des quasi-göttlichen Entscheiders, sondern zu der des durchaus wirkmächtigen Unterwerfungsvertrages. Dessen Notwendigkeit entspringt ausgerechnet dem von Schmitt diskreditierten Rationalismus, nämlich der reinen Rechtslogik des Naturzustandstheorems.81 Insofern Blumenberg also die politische Irrelevanz des absoluten Gottes bei Hobbes mit guten Gründen bestätigt findet, setzt er in der Tat nicht die „Nicht-Absolutheit absolut“, wie Carl Schmitt in seiner Reaktion in Politische Theologie II behauptet.82 Die Denkunmöglichkeit eines politisch je schon Absoluten hat im naturständlichen ius omnium in omnia ihren zureichenden Grund. Sie ist damit ebenso wenig gesetzt wie die gerade nicht per definitionem, sondern per exercitium gegebene Nichtigkeit dieses Rechts aller auf alles (4.3.4.2).83
3.2.5 Fazit: Zum Begriff der politischen Theologie Der Begriff der politischen Theologie hat den an Krämer angelehnten Skizzen gemäß empfänglich zu bleiben für solche aspektualen Transformationen, wie sie in 3.1 allgemein erläutert wurden. Die politische Theologie eines schrifttheologischen Lutheraners ist eine andere als diejenige politische Theologie, wie sie über das Mittel der Natur in politischen Ordnungsentwürfen zustande kommt.
3.2.5.1 Relative politische Theologie Der Begriff muss systematisch sensibel bleiben, um den genauen Ort anzeigen zu können, an dem sich die Theonomie innerhalb eines Rechtsdenkens niederschlägt. Dieser Ort kann, wie noch zu zeigen ist, durchaus variieren: Hier ist es die Rechtsmaterialität, dort ‚nur‘ die Obligation.84 Mal ist eine Universaljurisprudenz
80 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 251. 81 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. 82 Carl Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin 1970, S. 109f. 83 Vgl. Dieter Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes. Berlin 1998 (Schriften zur Rechtstheorie 185), S. 69–75. 84 Vgl. Hartung: Die Naturrechtsdebatte, besonders S. 31 und 50.
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mehr theonomes Natur-, mal vermehrt theonomes Vernunftrecht. Ein Vernunftrecht kann einmal ein solches sein, das die Vernunft selbst als letzte Rechtsquelle ansieht, seine Autorität und seinen Respekt allerdings daraus bezieht, dass der Schöpfergott die ratio gegenüber den Sinnen privilegiert hat. Ein andermal ist das Vernunftrecht im Vorteil, weil Gott als unmittelbare Rechtsquelle bestimmte Normen ausformuliert in die menschliche mens eingeboren hat (propositionaler Innatismus).
3.2.5.2 Relative Säkularisierung und Theologisierung politischer Theologien Damit wird der Begriff der politischen Theologie ebenso fruchtbar für den beschreibungsscharfen Nachweis historischer Varianz jener politischen Theologeme: Gemäß den am Säkularisierungskonzept Dannebergs, Potts, Schönerts und Vollhardts angelehnten Überlegungen in 3.1 lassen sich gerade im Systeminneren des Rechtsdenkens Paradigmenwechsel von theonomen zu säkularen Systemelementen nachweisen. In der frühen Neuzeit und damit auch bei Gryphius muss die Verweltlichung der einen Systemstelle eines Rechtsdenkens allerdings weder zu einer entsprechenden Verweltlichung des Systemganzen führen noch auch nur zur Verweltlichung einer anderen Systemstelle. Ein Beispiel belegt die Möglichkeit des genauen Gegenteils: So führt die Depotenzierung der Natur als werthaltiger Systemstelle schon bei Melanchthon dazu, dass von einem Naturrecht proprio sensu nicht eigentlich zu sprechen ist (4.2.2.1).85 Die Natur ist gerade der depravierte bzw. verblendete Bereich im lutheranischen Weltbild. Wenn Melanchthon daher die menschliche ratio stärkt, so führt das allerdings noch nicht zu einem autonomen Vernunftrecht, sondern gelingt nur, weil Gott diese Vernunft qua Innation direkt mit Normenkenntnis ausstattet. Für die politische Theologie bei Melanchthon bedeutet das eine göttliche Legitimation des princeps, die über das unmittelbar eingeborene vierte Gebot erfolgt und nicht
85 Vgl. schon Clemens Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre. In: Archiv für Reformationsgeschichte 42 – 1/2 (1951), S. 64–100, hier S. 87: „Von der Erkennbarkeit her ist das jus naturae Vernunftrecht, d.h. rational einsichtig. Die Lehrsätze des Naturrechts präsentieren sich dem erkennenden Verstand als ‚communes sententiae‘ im Sinne von Axiomen. Sie zu sichten und zu entfalten, ist Sache der Philosophie“. Vgl. auch Strohm, dem zufolge der Anthropozentrismus bei Melanchthon nur aspektuell gilt: Das Weltbild ist verstärkt theozentrisch, das Naturrecht mithin nur insofern begründungstheoretisch anthropozentrisch, insofern die Geltung und Kenntnis des Naturrechts in der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen liegt: Christoph Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon. In: Der Theologe Melanchthon. Hg. von Günter Frank. Stuttgart 2000 (MSB 5), S. 339–356, hier S. 354.
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über den Umweg der Natur. 86 Die Enttheologisierung der Natur ist um den Preis einer verstärkten Theologisierung der Vernunft errungen, in deren Fundus die zehn Gebote je schon eingeboren sind. Die Weltlichkeit des politischen Regiments bleibt unbestritten und realisiert sich in seiner ausdrücklichen Unzuständigkeit in geistlichen Dingen.87 Diese Unzuständigkeit besitzt jedoch gerade eine theonome Rechtfertigung, insofern Gott sie in dieser Weise wünscht, und bleibt nur theologisch plausibel, insofern die menschliche mens zur Erkenntnis der gemeinschaftlich-politisch relevanten Grundwerte nur deshalb in der Lage ist, weil Gott in diese mens eingreift. Ob daher von einer ‚theologischeren‘ politischen Theologie zu einer ‚säkularisierteren‘ politischen Theologie übergegangen würde, kann nur relativ beantwortet. Nichtsdestoweniger kann diese Relation eben durchaus bestimmt angegeben werden. Wenn eine politische Theologie dezidiert säkulare Elemente aufnimmt und andere Systemstellen umso stärker (re)theologisiert, dann ist der Säkularisierungsgrad dieser politischen Theologie als ganzer nur danach zu bestimmen, wer der Nutznießer welchen Elements ist und wie weit dessen Säkularisierung trägt.
3.2.5.3 Diskursexterne als sekundäre Profiteure Um beim gewählten Beispiel zu bleiben: Von einer politischen Theologie melanchthonianischer Prägung profitieren der Theologe und der neue Naturwissenschaftler. Letzterer ist allerdings gar nicht unmittelbarer Diskursteilnehmer, da es ihm um Moral gar nicht zu tun ist. Im Gegenteil ist ihm die Natur selbst nur genauso wenig auf Recht-Unrecht ausgerichtet wie dem orthodoxen Lutheraner auch. Für den Naturwissenschaftler ist dieser Sachverhalt vor allem deshalb relevant, weil er notwendige Folge einer vermehrt mechanischen Physik und kausallogischen Metaphysik ist (4.3). Der Naturwissenschaftler profitiert als externer
86 Merio Scattola: Teologia politica. Bologna 2007 (Lessico della Politica), S. 101f.: „In questa derivazione della signoria politica dal quarto comandamento si trova anche la principale differenza della teologia politica evangelica rispetto a quelle cattolica e riformata. L’autorità passa dai genitori al re in modo diretto, senza cambiare natura, di modo tale che il principe diviene il padre della repubblica e gode dello stesso rispetto che nella casa si deve al capofamiglia.“ 87 Die Auseinandersetzung gerade mit Schönborner wird allerdings noch zeigen, dass auch diese Weltlichkeit nicht bei allen protestantischen Staatslehrern zu finden ist. Selbst für Luthers eigenen Fall hält Böckenförde zurecht fest, dass dieser mit der Ausdehnung der herrschaftlichen Befugnis auf die Verfolgung von Gotteslästerung „die betonte Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment ein Stück weit undeutlich“ macht: Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 423.
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bzw. sekundärer Nutznießer von der innertheologischen Säkularisierung der Natur. Seine Kausalitätsbehauptung wird theologisch unproblematisch, was zeitgenössisch ein lebensweltlich nicht zu unterschätzender Faktor für das Überleben der scientific community war.
3.2.5.4 Diskursteilnehmer als primäre Profiteure Der eigentliche, diskursinterne bzw. primäre Profiteur einer solchen melanchthonianischen politischen Theologie ist der Schrifttheologe: Er muss nicht mehr wie seine noch vermehrt naturrechtlichen Diskursvorgänger die Natur wesentlich als Rechtsquelle ansehen. In der Folge muss er sie auch nicht mühsam gegen wissenschaftliche Entdeckungen verteidigen, die diesen Status evidenter Maßen in Frage stellten.88 Die Fallibilität der Zuschreibungen an die Natur ist ihm gänzlich unproblematisch, denn das Naturkonzept ist für Fragen des auch politisch verbindlichen göttlichen Gebots indifferent. Das Überleben einer Theologie, die weiterhin moralische und politische Sätze formuliert, war beim Aufkommen der neuen Wissenschaften dann gesichert, als deren Korrekturen am Naturbild kategorisch keine moraltheologischen Korrekturen mehr darstellten. Solange nicht Gottes Autorität über die nunmehr eigentlich als Rechtsquelle wichtig gewordene Vernunft angezweifelt wurde, konnte die Theologie eine erstaunliche Beharrungskraft in der Staats- und Rechtslehre vorweisen. In dieser Weise wird der Begriff der politischen Theologie in der vorliegenden Untersuchung verwendet: Auf synchroner Ebene bleibt er mit Blick auf die Systemstellen eines politischen Denkens sensibel für Theologeme und damit auch in diachroner Perspektive89 beschreibungsscharf für den Wegfall, die Modifikation, die Intensivierung oder den Systemstellenwechsel eines Theologems. Relativ zum Systemganzen, das hier als politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius verfolgt wird, ist dieser Begriff von politischer Theologie schließlich ergebnisoffen und dabei dennoch ergebnisorientiert. Gerade die Varianz politischer Theologie bei Gryphius erlaubt im Zusammenhang mit der Erschließung der ideenhistorischen Kontexte, eine tatsächliche Geschichte seines politischen Trauerspielkomplexes zu erzählen, die über reine Chronologie hinaus geht: Wie zu zeigen ist, ist sie die Geschichte eines in der
88 Die für das sechzehnte Jahrhundert wohl prominenteste Infragestellung war sicher die, warum ein anthropozentrisches Naturrecht sein könne, wenn die Natur nicht einmal geozentrisch war: Vgl. Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus, S. 175. 89 Vgl. Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, S. 5.
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Tat komplexer werdenden und insofern an Niveau gewinnenden politologischen Problembewusstseins des Andreas Gryphius.
3.3 Dichtung greift ein: Zum systematischen Potenzial ästhetischer Probehandlungen Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen. Aristoteles, Poetik.90
Die in der Einführung unternommene Überlegung, inwiefern Dichtung systematisch ein besonderes Reflexionspotenzial eignet (1.), ist hier zu vertiefen. Gryphius’ politische Dramen spielen verschiedene Konstellationen eines politischen Ausnahmezustandes durch, mithilfe derer Fragen des Herrschafts- und Widerstandsrechts, besonders aber der Wirkmacht des ius divinum geklärt werden sollen. Wie tief Gryphius sich mithilfe dieser ästhetischen Probehandlungen in die rechtstheoretische Reflexion vertieft, wird die vorliegende Arbeit ausführlich darlegen. Schon mit der Annahme einer rechtssystematischen Reflexionsleistung jedoch wird die literaturphilosophische Frage der Gattung aufgeworfen: Warum wählte der Schlesier zur Bearbeitung dieses Problems nicht die Form etwa des wissenschaftlichen Traktats, sondern die des Trauerspiels?
3.3.1 Dichtung als didaktische oder argumentative Disziplin?: Über einen blinden Fleck zeitgenössischer Poetik Die Frage nach Gryphius’ Formwahl ist erforderlich, weil sowohl die zeitgenössische Tragödientheorie als auch die Trauerspielgeschichte und Trauerspieltheoriegeschichte eine vermehrt moraldidaktische Zielsetzung des Trauerspiels nahelegen. „‚Corrigere hominum mores‘ – der Zweck von Dichtung und Tragödie liegt in dieser dürren Formel“,91 hält Hans-Jürgen Schings in seinem Beitrag
90 Aristoteles: Περὶ ποιητικῆς, 1448 b13–14: „μαντάνειν οὐ μόνον τοῖς φιλοσόφοις ἥδιστον ἀλλὰ καὶ τοῖς ἄλλοις ὁμοίως“. Im Folgenden wird, solange nicht anders angegeben, immer zitiert nach Aristoteles: Graece. Ex recensione Immanuelis Bekkeri. Ed. Academia Regia Borussica. Berlin 1831–1870. Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann. 2. Aufl. Stuttgart 2010 (RUB 7828), S. 11. 91 Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland.
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zu einer historischen Poetik des barocken Trauerspiels zurecht fest. Diese aus Gerhard Vossius’ De artis poeticae natura ac constitutione92 entnommene Formel ist allerdings dürr, nicht weil sie knapp ist, sondern weil sie ausschließlich wirkungsästhetisch angelegt ist. In der Tat wird Vossius selbst dem nur wieder wirkungsästhetisch begegnen, insofern dieser in der Moraldidaxe nicht die einzige zu erzielende Lehre beim Rezipienten sieht.93 Ebenso verfolgt Schings nur solche inner-wirkungsästhetischen Paradigmenwechsel. Dass noch im selben Atemzug, in dem von dieser correctio morum die Rede ist, wie selbstverständlich zur purgatio und κάθαρσις übergegangen wird, hat zwar gute Tradition seit Plato und Aristoteles – und insofern folgt Schings historisch konsequent seinem Gegenstand –, leuchtet sachlich allerdings nicht unmittelbar ein.94 Denn um dem Zweck der Berichtigung der Sitten gerecht zu werden, reicht es nicht notwendiger Weise aus, die Sitten als objektiv unstrittig und beim Rezipienten lediglich unbekannt zu begreifen, so dass man sie nur noch dramatisch vorstellen müsste. Damit allein ist dem Zweck vor allem dann nicht geholfen, wenn die Sitten schon objektiv nicht mehr unstrittig sind, wenn sie also materialiter das Problem darstellen, wie es eben bei der Vermittlungsfrage von göttlichen Geboten und politischer Opportunität der Fall ist. Es gehört tatsächlich zur Eigenart der barocken Trauerspielpoetiken – seien sie aristotelisch oder platonisch –, dass sie nur wirkungsästhetisch bestimmen95 und die Frage der Wahrheitsähnlichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit sich im Wesentlichen nach der ‚wahren Wirkung‘ des Fingierten auf den Rezipienten, nicht aber nach einer ‚wahrhaften Auseinandersetzung‘ richtet. Es
Hg. von Reinhold Grimm. Bd. 1. Frankfurt am Main 1971 (Athenaion-Literaturwissenschaft 11), S. 1–44, hier S. 18. 92 Gerardus Joannes Vossius: De artis poeticae natura ac constitutione liber. Amsterdam 1647, S. 37. 93 Vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2009 (Historia hermeneutica: Series studia 8), S. 163. 94 Dabei nimmt etwa Vossius durchaus explizit wahr, dass es den „Ältesten“ um Empedokles weniger darum ging, „ein Abbild des menschlichen Lebens vor Augen zu bringen, sondern mehr darum, dass sie die Geheimnisse der Natur in Geschichten hüllen“, ja sogar die „Wissenschaft der Natur in Geschichten hüllen“, d.h.: Deskriptiv sieht Vossius ein Interesse der ‚alten‘ Poetik, das mehr objektiv-systematisch als rezeptiv-didaktisch ist. Er nimmt den ‚empedokleischen‘ Impetus als wiederum nur ästhetischen wahr, insofern dieser die Wissenschaften „nicht ohne jede Hülle festgehalten“ wissen will: Vossius: De artis poeticae natura ac constitutione liber, S. 37: „Empedocles, & similes, θεωρίαν sibi proposuere, non πρᾶξιν. Deinde, de antiquissimis, illis, qui Deorum amores, ac concubitus narrant, dici nequit, hoc eos egisse, ut ob oculos ponerent vitæ humanæ exemplar; sed potiùs, ut naturæ mysteria fabulis involverent“. und S. 41: „[A]ntiqui naturæ scientiam maluerint involvere fabulis, quàm absque involucro ullo consignare.“ 95 Vgl. Schings: Zur Theorie des barocken Trauerspiels, S. 11–18.
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wird so gut als nie thematisiert oder gar theoretisiert, dass die Tragödie etwas im starken Sinne verhandelt. Wenn Volkhard Wels „Dichtung als argumentative Disziplin“96 bespricht, die frühneuzeitliche Aristoteles- und Averroës-Rezeption ihm jedoch mehr als die Gleichnishaftigkeit97 und den moraldidaktischen Instrumentalcharakter98 von Dichtung nicht zu konstatieren erlauben, so deutet dies auf den jahrhundertelangen und schulenübergreifenden Konsens hin, dass Dichtung selbst nichts entwickelt: Argumentative Überzeugungskraft bezieht Dichtung aus ihrer Wahrscheinlichkeit (Aristoteles) bzw. ihrer Glaubhaftigkeit (Ibn Ruschd), d.h. aus einer Ähnlichkeit mit einem systematischen Allgemeinen bzw. einem Bekannten. Entwickelt werden beide allerdings auf anderem Felde als dem der Dichtung. Der Überschreibung der Dichtung als argumentativer Disziplin ist damit jedoch noch nicht Geltung verschafft worden: Zwar ist die Argumentationstheorie in der Antike sowie in der Frühen Neuzeit Teil der Rhetorik, allerdings wäre es ein Anachronismus zu meinen, Argumentation meinte damit zeitgenössisch schon das reine Kommunizieren eines Gegenstandes in persuasiver Absicht, unabhängig von dessen objektivem Wahrheitsanspruch: Die Entwicklung einer solchen ‚bloßen Rhetorik‘ setzt erst im achtzehnten Jahrhundert ein.99 Bis dahin ist mit dem Aufruf des Argumentativen der formale wie inhaltliche Charakter eines Sprechens angesprochen, dem es um das formell Überzeugende (elocutio) wie das Auffinden des sachlich Richtigen (inventio) gleichermaßen zu tun sein muss. Möchte man daher wie Wels vom argumentativen Charakter der Dichtung im Allgemeinen und des Trauerspiels im Speziellen sprechen, so ist mit Blick auf den zeitgenössischen Argumentationsbegriff das rein didaktische Moment noch nicht hinreichend, um einen argumentativen Charakter festzustellen. Es ist auf die sachliche Auseinandersetzung der Dichtung mit ihrem Stoff zu blicken.
96 Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 11–21. 97 Ebd., S. 16. 98 Ebd., S. 19. 99 Christian Thiel: [Art.] Argumentation. In: EPhW 1, S. 161: „Argumentationen sind Gegenstand einer Argumentationstheorie, die in der Antike und wieder in der Zeit der Renaissance und des Humanismus zur Rhetorik gerechnet wurde und deren Probleme insbesondere bei Aristoteles in der Topik eingehende Behandlung finden. Während schon hier die Analyse ‚sophistischer‘ Scheinargumentationen breiteren Raum einnimmt, wird die Argumentationslehre in der Spätscholastik noch einmal ausdrücklich als Theorie der richtigen oder schlüssigen Argumentation verstanden und als solche in Lehrbüchern der Logik dargestellt. Erst die parlamentarische Rhetorik des 18. und 19. Jahrhunderts läßt die Disziplin der Rhetorik von einer Argumentationslehre zu einer Sammlung von Anweisungen zur erfolgreichen Überredung des Hörers oder Lesers durch den Sprecher oder Autors auch oder gerade entgegen widerstreitenden schlüssigen Überlegungen und damit zur ‚bloßen Rhetorik‘ im heutigen schlechten Sinne degenerieren.“
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Natürlich sprechen vormoderne Regelpoetiken von bestimmten Gegenständen, insofern die Stoffwahl für die tragische Wirkung nicht beliebig ist, aber eben nur insofern: Die Stoffwahl wird vom moraldidaktischen Telos her bestimmt; gewisse Gegenstände eignen sich für die Moraldidaxe in besonderem Maße. Jedoch ist dieses eben eine Bestimmung, die den Gegenständen selber äußerlich ist: Die Belehrung junger Heranwachsender im Schultheater ist schließlich nichts, was etwa der Frage des Ausnahmezustandes wesentlich wäre. Dennoch handeln die zeitgenössischen Poetiken nicht von der objektiven Arbeit am ausgewählten Gegenstand, sondern nur von seiner wirkungsvollen Positionierung, seiner Ausrichtung auf den Rezipienten. Es ist ein hier nicht zu befriedigendes Desiderat, die Erkenntnisse der Trauerspielforschung und der Trauerspieltheoriegeschichte zusammenzuführen, um die Frage dieses ‚blinden Flecks‘ der frühneuzeitlichen Poetiken zu klären, der sich mit Volker Meid wie folgt auf den Punkt bringen lässt: „So selten sich die Poetiker auf die aktuelle Dramenproduktion einließen, so wenig interessiert zeigten sich die Dramatiker an der gelehrten Diskussion“.100 Dass diese Poetiken, so sehr sie auch Regelpoetiken zur vor allem produktionsästhetischen Anleitung waren, materialiter hauptsächlich doch Wirkungspoetiken waren, ist m.E. noch nicht laut ausgesprochen worden, obgleich Harald Fricke die allein additive Funktionalitätsbestimmung von Dichtung durch eine offensichtlich ungemein beharrliche Tradition bereits längst angemahnt hat.101 Nichtsdestoweniger ist es die Überzeugung der vorliegenden Arbeit, dass Gryphius etwas verhandelt, den Gegenstand nicht nur als dramatischen Stoff wirkungsvoll positioniert, sondern auch an ihm arbeitet.
100 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5), S. 404. 101 Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981 (Beck’sche Elementarbücher), S. 97f.: „Die externe Funktion hat zwar sachlich und historisch mit überlieferten Ansichten über den eigentlichen Zweck der Dichtung sehr viel zu tun – sei dies nun aristotelische ‚Katharsis‘, das ‚movere‘ und ‚docere‘ des Horaz oder das barocke ‚Lob des Herrn‘, die ‚ästhetische Erziehung‘ Schillers oder die marxistische ‚Parteinahme im Klassenkampf‘. Nichts davon kann aber einfach zum Begriff der externen Funktion parallel gesetzt werden. Denn all diese Auffassungen versuchen, dem bereits als poetisch vorausgesetzten Werk dann zusätzlich noch eine gewisse Funktionen zuzuweisen.“
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3.3.2 Zu Literatur und Wissen Die Frage nach Gryphius’ Formwahl drängt sich des Weiteren deswegen auf, da besonders die Traktatistik ihm die Möglichkeit einer gegliederten, systematischen Untersuchung geboten sowie die explizite Auseinandersetzung mit bestimmten Ideengebern immer schon eingeräumt hätte. Dass Gryphius diese Diskurstechniken ebenso beherrschte, lassen die Leichabdankungen erahnen, die zwar auch im Zeichen der Gelegenheitsdichtung stehen, Gryphius aber dennoch die ausführliche Nennung der Autoritäten und Textstellen erlauben. Trotzdem erfolgt die Auseinandersetzung mit der Frage des Ausnahmezustandes in aller Nachdrücklichkeit tragisch, nämlich insgesamt viermal – wenn man die Fassungen des Carolus Stuardus von 1657 und 1663 unterscheidet, sogar fünfmal. In der Tat besteht Gryphius 1652 in der Leservorrede seines vierten OdenBuchs darauf, dass die poetische Dichtung gegenüber der rhetorischen Rede keinerlei Nachteil darin habe, dass jene lüge, diese aber nicht. Gryphius geht es zwar in diesem Zusammenhang vordringlich um den möglichen Wahrheitscharakter geistlicher Dichtung: Es „vermeynen etliche / es wre gar nicht erlaubet / daß Musen vmb das Creutz deß HErren singen solten“ (GdW 2, Oden. Das vierte Buch, Leservorrede, S. 100). Insofern er allerdings Gründe allgemeiner, produktionsästhetischer Natur anführt, hat Gryphius’ Verteidigung der poetischen Dichtung gegenüber der Rede ebenso allgemein zu gelten. Entscheidendes Moment von Gryphius’ Verteidigung eines systematischen Potenzials poetischer Rede ist dabei, dass nicht ein notwendiger Charakter von Wahrheitsreferenz der Dichtung bewiesen, sondern umgekehrt die Behauptung vom notwendigen Wahrheitsgehalt der rhetorischen Rede widerlegt wird: Poeten (spricht man) pflegen zu dichten; es ist war / aber auch Redner zu lgen. Und die Geschichte der Weltlichen vnd Kirchenhndel bezeugen / wer den grssesten Schaden thun knne / zumal wenn man den glntzenden Mantel der Scheinheiligkeit recht zu brauchen weiß. Es sey aber ferne / daß etlicher Geister Unart / die der edelsten Gaben Gottes / zu schaden ihrer Seelen vnd ihres Nechsten mißbrauchen / so schne Knste selbst auffheben solle. (ebd., S. 100f.)
Gryphius geht in der Betrachtung der Frage um ‚Dichtung und Wahrheit‘ nicht auf das Wesen von Poesie und Rede ein, insofern etwa dieses ihm differenzbildend sein könnte. Der Schlesier sieht den Unterschied vielmehr mit dem Gebrauch ebenso stehen wie fallen („recht zu brauchen“, „zu schaden […] mißbrauchen“). Die Nutzung des Mittels der Dichtung und der Rede zum Zweck der Lüge ist etwas der Dichtung Äußerliches. Ebenso ist das Potenzial, mithilfe von Dichtung Wahrhaftes auszudrücken, der Poesie nur genauso inhärent wie das
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Potenzial, Mittel zur Lüge zu sein. Produktionsästhetisch wird Gryphius’ Argumentation schließlich dort, wo an die Stelle einer wesentlichen Wahrheit bzw. Lügenhaftigkeit der Dichtung die Frage nach der Ursache tritt, die dem Dichter Wahrhaftes zu dichten erlaubt. Entlang einer olfaktorischen Analogie sucht Gryphius zu erweisen, dass der gute Dichter sich notwendiger Weise Wesentliches von dem guten Gegenstand aneignet, den er poetisch behandelt: So werden diejenigen welche in den kstlichen Wrtz=Laden der Balsam vnd Geruchkrmer sich auffhalten / auch vnwissend von dem guten Geruch gantz durchzogen / vnd die / welche eines treflichen vnd wolverdieneten Mannes Leben beschreiben / nehmen die Abbildungen der Tugenden an ihre Seele / in dem sie selbige rhmen / gleich einem Maaler / der eines Menschen Gestalt zuvor in seine Sinnen wol einfassen muß / ehe er denselbigen auff das Tuch entwerffen will. (ebd., S. 101)
Durch diese Analogie wird ein allgemeines Argument gewonnen, sodass Gleiches rezeptionsästhetisch gilt: Die derart gewonnene Beschreibung eines ‚treflichen‘ Gegenstandes vermag, ‚Abbildungen der Tugenden an die Seele‘ der Leser zu bringen. Der Mehrwert der Dichtung – für Gryphius natürlich besonders der geistlichen (ebd.)102 – könnte dem Lügenverdikt entgegen immenser kaum sein. Natürlich kann ein Blick auf Gryphius’ eigene poetologische Reflexion und die Prüfung ihrer Argumente nur immer historisch bleiben. Gleichwohl vermag dieser Blick im Umkehrschluss zu zeigen, dass die in systematischen Überlegungen gewonnenen Erkenntnisse zum Potenzial ästhetischer Probehandlungen nicht insofern unzulässig sind, als sie Gryphius’ eigenem poetischen Denken unvermittelt und damit unter Umständen ahistorisch unterstellt würden. Es lassen sich durchaus Überlegungen allgemein literaturphilosophischer Natur anstellen, die begreifen lassen, dass Gryphius gute Gründe für die Wahl der dichterischen Form zur progressiven (!) Behandlung eines außerliterarischen Themas hatte. Das Problem zum Stoff zu machen, bietet bei Dichtern wie Cervantes und Gryphius mehr Möglichkeiten als nur die Befriedigung des ästhetischen Bedürfnisses der Stofffindung: Zum Stoff gemacht und in der ästhetischen Probehandlung der dichterischen Darstellung nicht nur abgebildet, sondern weitergedacht, profitiert das Problem selbst von einer progressiven Arbeit der Dichtung am Stoff.
102 „Haben nun irdische vnd vergngliche Dinge die Krafft vnsere Leiber vnd Gemtter zu verndern / was wird der nicht knnen / der den seinen ist ein Geruch deß Lebens zum Leben / vnd dessen wehmttigste Blicke Petrum bekehren / vnd den am Creutze lsternden Mrder vmbkehren?“
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Dichtung Erkenntniswert überhaupt zuzusprechen, ist allerdings weder philologischer common sense103 noch herrscht auch nur Einigkeit darüber, worin dieser bestehen könnte, so man ihn denn annimmt. Im Gegenteil verteidigte Andreas Kablitz erst jüngst die Faktualität umgekehrt als Suppositionshorizont in der Interpretation auch fiktionaler Texte. Ihr Gewicht ist größer, „als es die Überzeugung von der Autonomie der Fiktion nahelegt“.104 Zurecht erinnert Kablitz an den Unterschied von fiktiv und fiktional und weist beiden ein ebenso kategorisch unterschiedliches Verhältnis zur Faktenwirklichkeit nach: Während der Wahrheitswert von Sätzen fiktionaler Rede durch diese selbst vergleichgültigt ist, d.h. dass sich ihr Wert oder Unwert nicht korrespondenztheoretisch bemessen lässt, ist ihr dargestellter Gegenstand und damit die Fiktivität durchaus skalierbar:105 „Das Dargestellte kann in der Tat mehr oder minder fiktiv sein; und diese Möglichkeit existiert für den fiktionalen Text nicht anders als für den ‚faktualen‘“.106 Kablitz beschränkt dies auf Leerstellen des Textes, also auf die Not des Rezipienten, auf faktuales Wirklichkeitswissen zurückgreifen zu müssen.107 Das hiesige Vorhaben ist nicht als selbstverständlich zu begreifen und darf nicht dem Vorwurf naiver Widerspiegelungsmechanismen ausgesetzt werden. Zwar wurde ebenso unlängst eine z.T. heftige Auseinandersetzung über ‚Wissen und Literatur / Literatur und Wissen‘ bzw. die Wissenspoetologie geführt. Die Vertreter letzterer setzen (lediglich konstatierte) Daten und (hinlänglich
103 Vgl. Fricke: Norm und Abweichung, S. 96: „Gleichwohl ist die Existenz solcher externen Bezugsmöglichkeiten für die Dichtung keineswegs unbestritten. Seit Kants ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ haben zahllose Autoren die Frage, ob die Relation zur Handlungswirklichkeit ein wesentliches und nicht bloß ein beiläufiges Merkmal von Dichtung bilden könnte, grundsätzlich verneint“ [Hervorhebung im Text]. 104 Andreas Kablitz: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der unreliable narrator und die Struktur der Fiktion. In: Comparatio 1 – 1 (2009), S. 113–144, hier S. 129. 105 Ders.: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg i. Br. u.a. 2013 (Rombach Wissenschaften: Litterae 190), S. 165–169. 106 Ebd., S. 169. 107 Ders.: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, S. 129: „Dieses Ergebnis […] verdient durchaus Beachtung im Hinblick auf die generelle Struktur des fiktionalen Textes, für den sich nun in der Tat herausstellt, daß seine Autonomie gegenüber dem faktualen Text geringer ist, als es die Überzeugung von der Autonomie der Fiktion nahelegt. Denn aus unseren Überlegungen ergibt sich nichts anderes, als daß jede Aussage – und auch diejenige des fiktionalen Textes –, solange sie am Gegebenen, an der historischen Faktizität keine ausdrücklichen Veränderungen vornimmt, sich auf eben diese Faktizität bezieht. Für historische Faktizität gilt insofern nichts anderes als das, was auch für alles Systemwissen zutrifft. So sind ja etwa auch die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit solange gültig, als sie nicht, wie in phantastischer Literatur, durch ausdrückliche Aussagen außer Kraft gesetzt werden.“
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begründetes) Wissen indifferent.108 In der Folge wird jedwedes Wissen gehaltlich wie genetisch als letztlich narrativ begriffen. Damit gestatten sie eigentlich von einem eigenem Erkenntniswert von Literatur insofern gar nicht zu sprechen, als es in Folge der universalisierenden Volte gar keine Hierarchien von Wissen,109 mithin gar keine Erkenntnis jenseits der narrativen gibt. Wilhelm Schmidt-Biggemanns rezente Diskussion über den Wissensbegriff nimmt ihren Anstoß an eben solchen paradoxalen Diskursdialektiken zwischen Spezifikationsabsicht und dem ungewollten Effekt unscharfer Verallgemeinerung: „Mittlerweile gibt es eine Fülle von Adjektiven und Zuordnungen, die den Begriff von Wissen zu spezifizieren beanspruchen – aufs Ganze gesehen, verwölken sie ihn eher“.110 Genauso wenig aber ist die strikte Gegenposition in etwa Gideon Stienings111 für die vorliegende Untersuchung unmittelbar brauchbar: Unter Verweis auf die Charakteristika Wahrheitsbehauptung und Urteilsform des an Kant wie Hegel geschulten Wissensbegriffs wird die Rede vom Wissen insofern von der Literatur ferngehalten, als Literatur nicht Wissen ist.112 Während die Wissenspoetologie in
108 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hg. von Joseph Vogl. München 1999, S. 7–18, hier S. 7, der das Paradigma durch eine Perspektive charakterisiert sieht, „die die Herstellung von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft. Es geht demnach diesen ‚Poetologien des Wissens‘ um die Erhebung und Verarbeitung von Daten ebenso wie um deren Repräsentationsformen in verschiedenen – literarischen, wissenschaftlichen oder technischen – Szenarien.“ 109 Vgl. etwa Roland Borgards, Harald Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hg. von Walter Erhart. Stuttgart, Weimar 2004 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 26), S. 210–222, hier S. 214: „Von den quellengeschichtlichen Arbeiten bzw. Untersuchungen einer spezialisierten Kontextforschung setzt sie [sc. die Wissenspoetik] sich dadurch ab, daß sie keiner Hierarchie zwischen Text und Quelle bzw. Kontext annimmt und die Quelle bzw. den Kontext als ein zu Interpretierendes versteht. Von einer Hierarchie kann deshalb keine Rede sein, weil alle Texte in einem sie umgreifenden Prozess einer Produktion und Reproduktion kulturellen Wissens ihren Ort haben.“ 110 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Wissen. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 297–299, hier S. 297; vgl. unmittelbar folgend: ders.: Welches Wissen? Vier aristotelische Meditationen. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 300–330. 111 Z.B. Gideon Stiening: Am ‚Ungrund‘ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘?. In: KulturPoetik 7 – 2 (2007), S. 234–248. 112 Ders. Schlechte Metaphysik. Zur Kritik der Wissenspoetologie. In: http://www.simonewinko. de/stiening_text.htm (2008) [zuletzt eingesehen am 12. März 2014]: „Es bedarf also für das Wissen – darauf hat Tilmann Köppe zu Recht das Fach hingewiesen – der Urteilsform, des Wahrheitsanspruches und der diesen transportierenden Begründungsleistung, um Wissen vorliegen zu haben. Daraus folgt aber ohne alle Einschränkungen, daß Literatur kein Wissen ist, d.h. daß literarische Texte keinen Wissensanspruch vertreten. Auch wenn von Jochen Hörisch, der vom Wissen der Literatur spricht, bis zu den Herausgebern der Scientia Poetica, die 2004 Literatur
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der Verabsolutierung des Narrativs über das Ziel, Literatur Erkenntniswert zuzuschreiben, sozusagen hinausgeht, droht Stiening schließlich dahinter zurückzubleiben. In der Tat muss der Wissensbegriff dahingehend verteidigt werden, dass Literatur kein Wissen ist. Es droht allerdings übersehen zu werden, dass Literatur gar nicht als Identität von Wissen gesehen werden muss, um trotzdem als Akteur von Ideen gelten zu dürfen. Literatur rezipiert, verarbeitet und transformiert Wissen ebenso wie Ideen: Diesen Sachverhalt vergegenwärtigt auch Stiening, wenn er einen materialen und formalen Wissensbegriff unterscheidet, um sowohl einer „wissenspoetologischen Überpotenzierung“ als auch einer „wissens-epistemologischen Depotenzierung des Wissensbegriffs“ vorzubeugen.113 Stienings Hinweis, dass Wissen „nicht mehr in seinem materialen Status als Wissen in Literatur auftaucht“,114 resultiert nur konsequent in der Feststellung: [E]s wäre ein Unsinn, Hölderlins Reflexionen auf die naturrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Kant und Fichte, die er in spezifischer Weise in seinem Roman gestaltet, unter philosophiegeschichtlichen – also systematischen und historischen – Gesichtspunkten als Moment der philosophischen Debatte zu bestimmen und zu rekonstruieren.115
Als Akteur von Ideen und von Wissen braucht Dichtung jedoch genauso wenig selbst Urteilsform haben, wie etwa Thomas von Aquin oder Immanuel Kant Urteilsform hatten. Natürlich darf in der Personifizierung der Dichtung nicht soweit gegangen werden, zu verkennen, dass Dichtung besonders eine Form, nicht je schon Handelnde ist wie Thomas oder Kant. Ein solches mystisches Apriori wäre die schlechteste Alternative. Gleichwohl ist zu unterscheiden zwischen der unmittelbar wesentlichen Form der Dichtung selbst – das ist hier vor allem die Fiktion – und der mittelbar realisierten Form ihrer Funktion. Entsprechend der sprachphilosophischen Bestimmung der Illokution Austins und ihrer Systematisierung durch Searle leuchtet gerade ein, dass zum Einen die im unmittelbaren propositionalen Akt der Dichtung vollzogenen Referenzen und Prädikationen sehr wohl textimmanent geschlossen und damit für die Textwelt stabil sein können, dass aber zum Anderen ein illokutionärer Akt der Dichtung denkbar
als kulturelles Wissen bezeichneten, eine methodologisch breit gefächerte Gruppe des Faches dies annimmt und natürlich immer wieder Literaten den Anspruch erheben, Wissen allererst in Literatur realisieren zu können, ist Köppe nachdrücklich Recht zu geben mit seiner strengen epistemologischen Distinktion zwischen Wissen und Literatur, weil allein die Urteilsform in vielen poetischen Texten fehlt, mehr noch der Wahrheitsanspruch und vor allem die Begründungsleistung.“ 113 Ebd. 114 Ebd. [Hervorhebungen im Text]. 115 Ebd. [Hervorhebung im Text].
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bleibt, der sich von deren Charakter sowohl unterscheidet als auch auf Anderes gerichtet ist.116 Die der propositionalen Form nach eindeutige Warnung kann der Illokution nach vielmehr eine Drohung sein. Ebenso kann sich dramatische Dichtung komplexer Theoreme politphilosophischer Natur annehmen, ohne sie nur dramatisieren zu wollen. Unbestritten: Damit ist zunächst nur eine Möglichkeit von Dichtung angesprochen. Es ist allein gezeigt, dass ihre Rollenannahme als Ideenakteur nur akzidentiell und nicht notwendig ist – ebenso wenig wie ihre Zurückweisung dieser Rolle notwendig ist. Es ist besonders ungeklärt, in welcher Weise diese Illokution rekonstruierbar sein soll, wenn nicht über die Referenzen und Prädikationen des Textes selbst. Im Wesentlichen sollte sich aber am einleitenden Don Quijote-Beispiel (1.) schon gezeigt haben, dass die Implizität der Referenz und die zeitgenössischen Diskurssituation jene ‚mittelbar realisierte Form der Funktion‘ der erdichteten Galeerensklavenepisode erkennen lassen: Die Referenz auf Gott und die Klugheit erfolgt in der Figurenrede des Don explizit, sodass im Redeganzen implizit auf Theonomie, prudentielles Kalkül und deren rigoristische Überspitzung referiert wird. Im letztendlichen Scheitern des einen wie des anderen Ansatzes wird der vorliegenden Dichtung, die ihrer unmittelbar wesentlichen Form nach unernst, ja spaßhaft ist, die mittelbar realisierte Form der Kritik gegeben, und zwar an der Unvermitteltheit jener Rigorismen. Wenngleich Dichtung wie der Don Quijote nicht Moment der philosophischen Debatte ist, so kann er dennoch als Moment der allgemeinen Debatte um theonome und pragmatistische Theoriegebung bestimmt werden, und dies unter durchaus systematischen Gesichtspunkten der Zeit. Cervantes und Gryphius suchten mit ihren poetischen Reflexionen Erkenntnisse über zeitgenössisch verbindliche Herrscherethik zu erschließen. Systematizität liegt nicht nur in dem Fall vor, wenn eine ‚Äußerung‘ eine geschlossene und insofern systematische Argumentationsbewegung von Behauptung, Beweis und Beispiel vollführt. Sie liegt auch dann vor, wenn sie sich nur als Teil einer solchen Argumentationsbewegung bzw. als Schritt einer intersubjektiven Argumentationssuche positioniert, d.h. „[l]iterarische Texte können daraufhin untersucht werden, in welcher Weise sie an den fraglichen Prozessen beteiligt sind“.117 Cervantes’ Galeerensklavenepisode vollzieht zwar darstellerisch, aber präzise die Problemanalyse des zeitgenössischen rechtstheologischen und politologischen Status quo. Damit
116 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearb. von Eike von Savigny. Stuttgart 1972 (RUB 9396–98), S. 114–116. 117 Tilmann Köppe: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (Linguae et litterae 4), S. 1–28, hier S. 11.
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ist sie natürlich noch weit davon entfernt, in die philosophische Debatte einzugreifen und selbst eine vollständige Argumentation als systematisches Ganzes zu vollführen. Beschränkt sich Dichtung in dieser Weise, so ist allerdings nicht die Systematizität dessen ausgeräumt, auf das die Dichtung als Problematisches oder als Anzustrebendes verweist. Und insofern Dichtung originell eine Problematik aufzuweisen in der Lage ist, ist sie eben doch auch systematisch wirksam.
3.3.3 Dasein, Sosein, Präsentation: Zu Gottfried Gabriels Überlegungen zu einem „Erkenntniswert der Literatur“118 Der traditionelle und gut begründete Wissensbegriff ist weder aufzuweichen noch gar zu verabschieden. Von Erkenntnis hingegen ist nicht nur dann zu sprechen, wenn fertig ausformuliertes Wissen mitsamt der Wahrheitsbehauptung und der Urteilsform vorliegt. Es wären damit kategorisch die Diskussionsstufen aus dem Blick genommen, die ‚sich ihrer Sache nicht so sicher‘ sind, für ihre Überlegungen noch nicht Wahrheitsgeltung in Anspruch nehmen und die Urteilsform nachgerade in Bewusstsein dessen meiden. Damit ist allerdings ihr Beitrag im Erkenntnisprozess de intentione wie de facto noch nicht vom Tisch, denn mit der Labilität des Wahrheitsanspruchs ist noch nicht der Impuls zur Wahrheitsfindung gefallen. Im Gegenteil: Erkenntnisfördernd kann schon sein, den Wahrheitsgehalt eines diagnostizierten Sachverhalts als labil zu markieren und darum umso nachdrücklicher als zu diskutierende Problematik bei der Fachdebatte einzuklagen, die allererst das gültige Wissen erschließt. Da der Erkenntniswert der Literatur damit nur zuletzt absolut, d.h. erfolgsgeschichtlich am Wissen zu messen ist, wohingegen sein ursprünglicher Impuls- oder Diagnosecharakter vermehrt relativ ist, stellt sich in einem die Blickrichtung wechselnden Schritt die Frage nach den Bezügen des dichterischen Fingierens. Hier führt der für die Literaturphilosophie bedeutende, in der literaturwissenschaftlichen Praxis aber noch immer zu wenig beachtete Gottfried Gabriel folgende einschlägige Unterscheidung durch: (1) D asein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. Dies liegt vor, wenn Namen oder Kennzeichnungen ohne Wirklichkeitsbezug (Referenz) verwendet werden.
118 So der prominente Titel eines Aufsatzes Gabriels: Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hg. von Alexander Löck, Jan Urbich. Berlin 2010 (Spectrum Literaturwissenschaft 24), S. 247–261.
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(2) S osein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. […] (3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert, obwohl er dieses gar nicht tut. Dies liegt insbesondere vor, wenn jemand einen Behauptungssatz äußert, ohne den Sprechakt der Behauptung zu vollziehen, d.h. ohne einen Wahrheitsanspruch zu erheben.119
Diese Distinktion ist aufschlussreich, nicht zuletzt, weil Gabriel die drei distinkten Relationen letzthin sprechakttheoretisch fasst, wie es oben schon versucht wurde: „Im Rahmen sprachphilosophischer Unterscheidungen lassen sich die angeführten Fälle so charakterisieren, dass fiktionale Rede die Ebenen (1) der Referenz, (2) der Proposition und (3) der Illokution betreffen kann“.120 Mit Hilfe ihrer den literarischen Gegenständen dieser Untersuchung zu begegnen, fällt allerdings nicht leicht. In den Fällen Gryphius’ und Cervantes’ liegt weder Fiktion im Hinblick auf das Dasein vor; denn sowohl der Anspruch des göttlichen Rechts als auch der machiavellistische Pragmatismus sind Teil der zeitgenössischen Wirklichkeit. Noch liegt Fiktion im Hinblick auf das Sosein vor, da auch der Sachverhalt ihrer relativen Unvermitteltheit eine Tatsache der zeitgenössischen Wirklichkeit ist. Tatsächlich trifft auch die von Gabriel gesehene dritte Bezugnahme des Fingierens, die Präsentation, auf die literarischen wie dramatischen Operationen nicht zu, da es nicht um eine illokutionäre Operation geht. Es ist zwar unbestritten Teil der vorliegenden These, dass etwa die Galeerensklavenepisode des Don Quijote in abstracto eine Behauptung ‚äußert‘ bzw. literarisch vollzieht, nämlich diejenige der relativen Unvermitteltheit von Theonomie und Pragmatismus. Dies vollzieht sie unverkennbar nicht in Form eines Behauptungssatzes, sondern in Form eines in bestimmter Weise disponierten Settings des Aufeinandertreffens literarischer Figuren, die für bestimmte Haltungen und Fehlverhalten einstehen. Wenn aber die Galeerensklavenepisode als Ganze der illokutionäre Akt ist, stellt sich die Frage, wer als ihr Sprecher zu gelten hat, der hier eine Behauptung als literarische Szenerie ausgibt. Man kommt so nur wieder auf den Autor Cervantes und die nur triviale Feststellung, dass die Leistung des Dichters diejenige ist, in seiner Literatur etwas Uneigentliches ausdrücken zu können. Damit ist nur wieder das übliche Verständnis von Fiktion erreicht und der Begründungszirkel hat sich lediglich einmal gedreht. Nichtsdestoweniger ver-
119 Ebd., S. 252f. [Hervorhebungen O.B.]. Gabriels in der Philologie mangelnde Rezeption verwundert in diesem Punkte umso mehr, als diese Distinktion in das von Gabriel verfasste Lemma Fiktion des Reallexikons Eingang gefunden hat: ders.: [Art.] Fiktion. In: RLW I, S. 594–598, hier S. 595. 120 Ders.: Der Erkenntniswert der Literatur, S. 253.
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gegenwärtigt Gabriels Distinktion, dass Dichtung nicht bloß systematische Verarbeitungsansprüche faktualer Probleme haben kann – was hier ja zu besprechen ist. Vielmehr kann gerade und nur Dichtung diese Verarbeitungen vollziehen, ohne selbst die Form von Behauptung, Deliberation o.ä. unmittelbar annehmen zu müssen. Wohlgemerkt: Don Quijote, die Wachmänner wie auch die Strafgefangenen äußern zwar unverdeckt Behauptungen und Don Quijote vollzieht unzweideutig Überlegungen. Die eigentliche Problemverarbeitung jedoch, die hier fokussiert wird, wird weder nur von einem noch von allen Beteiligten vollzogen, sondern von der Galeerensklavenepisode als ganzer. Diese aber besteht nicht nur aus Figurenreden, sondern auch aus redefreien Handlungsvollzügen, besonders dem Kampf Don Quijotes gegen die Wache und demjenigen der Sträflinge gegen Don Quijote. Die Episode hat nicht die Form von Behauptung und Deliberation, sondern die eines erdichteten Geschehens als eines Zusammenhangs ‚auseinander‘ folgender Ereignisse.121 Wohl aber vollzieht sie die faktualsystematische Behauptung der relativen Unvermitteltheit theologischer und prudentieller Theoriebildung sowie die ebenso faktual-systematische Überlegung von deren Ursachen, nämlich aprioristischer Systemblindheit und rigoristischem Reflexionsmangel (1.). Es bleibt daher allemal festzuhalten, dass Dichtung solche Reflexionsansprüche erheben und diese Reflexionen auch mehr als nur abbildend, sondern auch systematisch-progressiv erbringen kann. Es ist dies ein Teil ihrer wesentlichen Möglichkeiten, die Dichtung nutzen kann, wenngleich nicht nutzen muss. Dies macht den vertretenen Standpunkt einer systematisch-progressiven Dichtung allerdings nicht labil, weil nur relativ angreifbar: Den Fiktionsvertrag nämlich umfänglich auszunutzen hin zu einer textimmanenten Omnifiktivität, d.h. einem Fingieren der Dinge und Personen (Dasein), der Sachverhalte (Sosein) und auch der abstrakten Probleme – wie auch immer dies vorzustellen sei –, ist nur genauso eine Möglichkeit, die der Dichtung zu nutzen anheimgestellt ist, zu der sie aber nicht gezwungen ist. Es wäre aber erst diese Omnifiktionalität ein hinreichender Grund, Dichtung Erkenntnispotenzial abzusprechen.122 Der Dichtung ein systematisch-progressives Verarbeitungspotenzial kategorisch abstreiten zu wollen, würde die Möglichkeit der Omnifiktivität unvermittelt zur Notwendigkeit
121 Vgl. die bewährte Unterscheidung von Ereignis, Geschehen und Geschichte bei Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005, S. 109. 122 Vgl. Gottfried Gabriel: Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8 – 2 (1983), S. 7–21, hier S. 9: „Es ist […] der Nachweis zu führen, daß Fiktionalität kein hinreichender Grund ist, Dichtung einen Erkenntniswert abzusprechen, sondern im Gegenteil dazu zwingt, diesen Erkenntniswert ‚an der richtigen Stelle‘ zu suchen.“
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machen. Mithin ist es ein solches ästhetizistisches Apriori, das in Begründungsnot steht.
3.3.4 Aufweisen als genuin dichterisches Verfahren Dahingegen kann für das hiesige Vorhaben an Gottfried Gabriels Überlegungen zum Erkenntniswert von Literatur angeschlossen werden. Ausgangspunkt ist ihm die These: „Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt“, der er noch im selben Satz die Begründung folgen lässt, „und zwar in der Weise, daß ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und so zu einem Besonderen geworden ein Allgemeines als neuen Sinn aufweist“.123 Geschult an Aristoteles’ Poetik,124 macht bereits diese allgemeine Bestimmung deutlich, dass Literatur das Allgemeine – sei es eine ‚Moral von der Geschicht‘, sei es eine Problematik wie die hiesige – gerade einzuholen vermag, insofern die historische Singularität suspendiert ist und damit die Frage umso drängender erscheint, wozu dann noch die Dichtung vollzogen wird. Diese Frage drängt besonders in Gryphius’ Dichtung, da ihm dem Gegenstand nach bessere Formalternativen vorliegen. Inwiefern Gabriels Argument systematisch umfassend standhält und nicht etwa in solcher Dichtung seine Grenze erfährt, die nach der Autonomieästhetik des l’art pour l’art ein außerliterarisches Telos des Dichters programmatisch bestreitet,125 ist hier nicht zu diskutieren. Für die hier zu besprechende Dichtung ist nichtsdestoweniger von Relevanz, wenn Gabriel drei Arten des Meinens bzw.
123 Ebd., S. 14. 124 Aristoteles: Περὶ ποιητικῆς, 1451b 5–7: „διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ἱστορία τὰ καθ’ἕκαστον λέγει.“ / „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt vermehrt das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit“; Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik, S. 29. Vgl. Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 161. 125 Unzureichend sind solche Behauptungen zumindest immer dann, wenn von der intentionalen Programmatik eines Dichters oder Strömung unvermittelt auf die effektive Systematik geschlossen wird. Vgl. Wolfgang Ullrich: L’art pour l’art. Die Verführungskraft eines ästhetischen Rigorismus. In: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs. Hg. von Wolfgang Ullrich. Frankfurt am Main 2005, S. 124–143; Fricke: Eine Philosophie der Literatur, S. 97: „Auch und gerade bedeutende Dichtung hat – allen modernen l’art-pour-l’art-Manifesten zum Trotz – von der ‚Antigone‘ bis zur ‚Mutter Courage‘ zu allen Zeiten im Bezug auf die Wirklichkeit ihre wesentliche Funktion, ihre Legitimation für den Einsatz auch sprachverletzender Mittel gehabt.“
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Bedeutens unterscheidet, nämlich „das Verweisen (Bezugnehmen, Hinweisen) auf Gegenstände, das Mitteilen (Sagen) von Inhalten, insbesondere das Aussagen; das Aufweisen (Darstellen, Zeigen) von Allgemeinem und Sinn“.126 Im Don Quijote etwa werden die bedeuteten Grundgedanken, Gottes Straftätigkeit und die menschliche Klugheit durch das unmittelbare Sagen der Figur mitgeteilt. Ihre Problematik jedoch wird in der Darstellung der Galeerensklavenepisode als ganzer aufgewiesen. Gerade damit sind für Gabriel der Unterschied der Dichtung zum wissenschaftlichen Sprechen und ihr nichtsdestoweniger statthabender Erkenntniswert gleichermaßen angezeigt: Während nun in wissenschaftlichen Texten und auch in alltäglichen Gesprächen die Erkenntnis über das Mitteilen in Verbindung mit dem Verweisen übermittelt wird, wird sie in dichterischen Texten über das Mitteilen in Verbindung mit dem Aufweisen vermittelt.127
In einem weiterem Schritt kann gefragt werden, in welcher Weise genau Dichtung Ideenentwicklung vorantreiben können soll. Welche Mittel ermöglichen es der Dichtung hier, nicht nur Repräsentationsart von Problemen zu sein, die woanders außerliterarisch weiterentwickelt werden, sondern selbst als Organ einer bestimmten Weiterentwicklung unmittelbar zu wirken?
3.3.5 Techniken des Aufweisens Es wurde in 3.2 bereits angeschnitten, dass es Dichtung gerade durch eine eigentümliche Rubrifikation von tatsächlich relevanten Diskursaspekten vermag, deren im zuständigen Fachdiskurs übertönte Spannungsverhältnisse allererst augenfällig hervorzukehren (3.1.2). Diesen Gedanken gilt es nunmehr zu vertiefen. Natürlich vollzieht Dichtung mit ihrer verstärkten Problemwahrnehmung nichts, was dem jeweiligen Diskursexperten – hier Theologie, Jurisprudenz und Staatslehre – systematisch unmöglich gewesen wäre. Diese Diskursexperten können jedoch historisch in Spezialdiskurse vertieft sein, welche die Beschäftigung gerade mit vordergründig interdisziplinären Vermittlungsfragen wie der politischen Theologie praktisch – nicht systematisch! – behindern. Diese Problemlage wird durchaus von den Zeitgenossen selbst wahrgenommen: Mit Blick auf eine Universaljurisprudenz, die den Nachweis ihrer Universalität in seinen
126 Gabriel: Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis, S. 14. 127 Ebd.
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Augen bislang noch schuldig geblieben war, lehnte etwa Samuel Pufendorf noch 1688 die traditionelle Juristerei gerade deshalb ab, weil sie sich mehr um die Kompilation einschlägiger Autoritäten als um zureichende Begründungen bemühte.128 Seine Bezeichnung der Pandektenwissenschaften als „des Justiniani fricassée“ setzt die historisch komplexe, eben noch nicht systematisierte Diskurslage der Jurisprudenz ins Bild, die er mit Blick auf den Systematisierungsdruck beklagt.129 Dagegen ist es ein wesentliches Merkmal der dichterischen Fiktion, zu Beginn eine tabula rasa vor sich zu haben: Dieses Merkmal kann für den behandelten Zweck zum Verfahren erhoben werden. Natürlich ruft auch die Fiktion durch die Referenz Bekanntes aus der faktischen Wirklichkeit auf, d.h. etwas dezidiert nicht Voraussetzungsloses. Die Rede von der tabula rasa als Verfahren soll aber gerade sinnfällig machen, dass es der Dichtung möglich ist, Bekanntes aus seinem faktisch-wirklichen Bezugs- und Diskursrahmen zu extrahieren. Wolfgang Braungart verbindet mit diesen Verfahren als die wesentlich künstlerischen die politische Auseinandersetzung der Künste: „Die Künste modellieren das Politische mit, indem sie hervorheben oder weglassen: zwei ihrer elementaren ästhetischen Prinzipien“.130 Entsprechend vermag es Dichtung, Bekanntes voraussetzungslos im erdichteten Geschehen umzusetzen, insofern bestimmte Diskurselemente beiseite gelassen werden, nämlich vorzüglicher Weise diejenigen, die als gerade ablenkend, verfälschend, irreführend o.ä. begriffen werden: Warum etwa problematisiert Cervantes in der Galeerensklavenepisode die Gottesinstanz und die Klugheit, aber ausgerechnet nicht das menschliche positive Recht? Der Grund ist cum grano salis darin zu sehen, dass ein peinliches Recht natürlich auch in Spanien existierte, dieses aber dem zeitgenössischen Diskussionsstand nach selbst keine Auskunft oder gar Bestimmung über herrschaftliche
128 Vgl. Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistesund wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972 (Münchener Studien zur Politik 22), S. 257. 129 Pufendorf an Christian Thomasius am 16.10.1688: Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 1: Briefwechsel. Hg. von Detlef Döring. Berlin 1996, S. 208–211, hier S. 209: „Ich habe […] meine gedancken hierüber entdecket, so dahin gingen, daß man in den Institutis und Pandectis eine separation anstellen sollte dergestalt, daß man zuerst alles, was ad disciplinam juris universalis s[ive] naturalis gehöret davon, und zu dieser disciplin thete. Aus den positivis aber ordentlich eine disciplinam juris seu fori Romani formirete, so würde man da sehen, wie mager das jus Romanum ut tale seyn würde, und wie wenig dasienige were, was davon ad nostra fora könnte appliciret werden. Hingegen daß das erste gelten müßte nicht weil es in des Justiniani fricassée stehet, sonder weil es juris perpetui ist.“ 130 Wolfgang Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen. Göttingen 2012 (Das Politische als Kommunikation 1), S. 31.
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Legitimation überhaupt geben konnte. Es ist höchst bezeichnend und von Cervantes sicherlich mit aller Bedacht formuliert, wenn ausgerechnet an der Stelle, wo die menschlichen Gesetze zur Sprache kommen könnten, Sancho Pansa eben nicht von diesen, sondern vom König spricht: „Wie? Zwangsarbeiter?“ fragte Don Quijote, „ist es möglich, daß der König irgendeinem Zwang antut?“ „Das sag ich nicht“, antwortete Sancho, „sondern es sind Leute, die um ihrer Vergehen willen gezwungen werden, dem König auf den Galeeren zu dienen“. „In einem Wort also“, versetzte Don Quijote, „wie dem auch sei, diese Leute gehen nur gezwungen, wohin man sie führt, und nicht aus eignem Willen“. „Beachte Euer Gnaden“, sagte Sancho, „daß die Gerechtigkeit, das heißt der König selbst, solchen Leuten weder Zwang noch Gewalt antut, sondern sie züchtigt zum Entgelt für ihre Vergehungen“.131
Sancho Pansa versucht erst gar nicht eine Berufung auf die peinliche Gerichtsbarkeit Spaniens, die in kodifizierter Form sehr wohl als Begründung dafür hätte herhalten können, dass die Häftlinge auf die Galeere müssen. Auf die Frage, die Don Quijote mit aller Beharrlichkeit stellt, warum nämlich überhaupt Zwangsanwendung gedurft, ja gesollt sein kann,132 hat positives Recht selbst keine Antwort parat. Der Geltungsgrund allen menschlichen Rechts wird vor Kants kategorischem Imperativ als dem menschlichen Recht selbst notwendig äußerlich gedacht.133 Daher ist eine Diskussion über diesen Geltungsgrund – nämlich Gott – ebenso wenig analytisch oder induktiv vom menschlichen Gesetz aus zu führen wie die Diskussion über die ethischen Bestimmungen klugen Handelns. Es ist umgekehrt die menschliche Gesetzgebung, die unter diese Diskussion gerade subsumiert wird und von dieser Diskussion allererst lernen soll. In diesem Sinne wäre das Verfahren des dichterischen Aufweisens in unseren Fällen gerade als solches beschrieben, das im Allgemeinen mit Rubrifikation, im Speziellen mit Extraktion, Isolation und Subtraktion arbeitet: Als relevant erachtete Ideen bzw. Ideenelemente werden extrahiert und von Irrelevantem ‚isoliert‘
131 Cervantes Saavedra: Don Quijote, S. 192. 132 Vgl. für den Fall der suárezischen Rechtstheologie Frank Grunert: Strafe als Pflicht. Zur Strafrechtslehre von Francisco Suárez. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 255–266. 133 Dabei ist ein solcher Externalismus im Hinblick auch auf solches gegenwärtiges Recht nicht ausgeschlossen, das wie das deutsche Grundgesetz in forma GG 1 seinen Geltungsgrund in sich selbst zu formulieren sucht: vgl. Ulrich Haltern: Unsere protestantische Menschenwürde. In: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven. Hg. von Petra Bahr, Reiner Anselm. Tübingen 2006 (Religion und Aufklärung 12), S. 93–124.
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in das erdichtete Geschehen eingebaut, um allererst angemessen zur Geltung zu kommen. Als irrelevant erachtete Ideen bzw. Ideenelemente werden dahingegen subtrahiert, d.h. im erdichteten Geschehen nicht behandelt bzw. an dessen Ausgang gestellt. Wohlgemerkt liegen Reminiszenzen an die philosophische resolutiv-kompositive Methode vor, insofern auch hier ein Problemverhalt in seine Einzelteile ‚aufgelöst‘ und diese in einem dichterischen Geschehen wieder dergestalt ‚komponiert‘ werden, dass neue Aufschlüsse über den Verhalt erzielt werden sollen. Zwar darf und muss auch die Philosophie resolutiv erschlossene Einzelteile als irrelevant bewerten. Jedoch hat sie ebendies zur Sprache zu bringen, wohingegen Dichtung in der ästhetischen Probehandlung den extrahierten Ideenelementen darstellerisch gerade auf den Zahn ihrer vermuteten Relevanz fühlen will. In eben diesem Sinne ist Schmidt-Biggemanns Schluss zuzustimmen, dass „fiktionale Kunst einen referentiellen Bezug zur ‚Wirklichkeit‘“ darin hat, dass sie ihr „dialektische[s] Moment von Wirklichkeitsbezug und unausweichlicher Wirklichkeitsverfehlung selbst mitinszeniert“:134 Es ist in unseren Fällen jedoch nicht ihr genuines Verfehlen, sondern dasjenige unzureichender staatsrechtlicher Thesenbildung, deren Wirklichkeitsverfehlung sie anklagt und deren Wirklichkeitsbezug sie letzthin einklagt. Die Abstraktionsleistung der Relevanzzuschreibung ist für Philosophie wie Dichtung grundlegend: Allerdings erfolgt sie dort in der Philosophie, wohingegen sie hier der Dichtung vorgängig ist. Die Entscheidung, das peinliche Recht in seiner Galeerensklavenepisode nicht zu besprechen, fällt Cervantes vor dem dichterischen Akt und damit gleichermaßen ganz als (Moral-, Rechts-, theologischer) Philosoph. Die Problematik zwischen der ihm relevant erscheinenden Theonomie und des ihm relevant erscheinenden Pragmatismus kehrt er mit all ihrer systematischen Wucht gerade als Dichter hervor.135
3.3.6 Fazit: ‚Silete poetae in munere alieno‘? Die systematische Wirkmacht des dichterischen Aufweisens Die Philosophie ist ihrem systematischen Charakter, Dichtung ihrem ästhetischen Charakter verpflichtet. Wenn Dichtung sich zum Systematischen der politischen Philosophie äußert und damit ihre eigentlich doch nur ästhetische Lizenz
134 Schmidt-Biggemann: Welches Wissen?, S. 330. 135 Vgl. Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 1–25, hier S. 10– 12.
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zu überschreiten droht, bezieht sie ihr Recht dazu aus der Tatsache, dass Politik „als kulturelle und soziale Praxis immer auch eine ästhetische Praxis“ darstellt, wie Wolfgang Braungart jüngst festhält.136 Damit ist zunächst auf Basis eines weiten Ästhetikbegriffs nur zurecht festgestellt, dass Politik bzw. politische Probleme sich sinnenfällig darstellen. Damit ist aber gerade noch nicht ausgesagt, dass diese Probleme nur ästhetisch – und nicht etwa systematisch – sind. Ebenso wenig ist geklärt, warum ausgerechnet dann, wenn diese Probleme sich bereits ‚von sich aus‘ als sinnenfällig darstellen, noch eine zusätzliche Ästhetisierung von der Dichtung aus vollzogen wird, mehr noch vollzogen werden muss. Die naheliegende, doch nur triviale Antwort lautet, dass die dichterische Ästhetisierung einen Mehrwert bewirkt. Diese Antwort ist solange unbefriedigend, wie ungeklärt bleibt, worin dieser Mehrwert besteht. Im Hinblick auf den drohenden Eindruck einer redundanten, mehrwertfreien Doppelung des Ästhetischen ist daher der engere Ästhetikbegriff von Interesse. Dieser meint die ästhetisch-produktive Erbringung bestimmter Reflexionsleistungen, und zwar nicht im Kontrast, sondern gerade im Verbund mit dem weiten Ästhetikbegriff, der jedwede Sinnenfälligkeit anzeigt. Dieser Verbund ist hierbei folgender Maßen gedacht: Wolfgang Braungart hält im letzten Zitat zurecht fest, dass Politik als gesellschaftliche, mithin menschengemachte und damit kulturelle Praxis „immer auch eine ästhetische Praxis“ darstellt.137 Befasst sich Philosophie daher mit der Politik, ist ihr Gegenstand ein auch praktischer wie empirischer, d.h. der Wahrnehmung zugänglicher. Gleichwohl systematisiert sie diesen Gegenstand, indem sie ihn durch weitestgehend wahrnehmungsunabhängige Kategorien zu beschreiben und auf wahrnehmungsübergeordnete Prinzipien – Vernunft, Gott, Nächstenliebe etc. – zu gründen sucht. Damit begeht die Philosophie keinen Kategorienfehler, sondern folgt dem ebenso sinnenfälligen Bedürfnis dieser kulturellen Praxis nach Regulierung: Es ist ein ästhetisch wahrnehmbares Bedürfnis nach etwas selbst nicht mehr unmittelbar Ästhetischem, nämlich allgemein gültigen Normen sowie deren Geltungsgewährleistung. Wenn nun Dichtung am Versuch dieser Bedürfnisbefriedigung partizipiert, wie es diejenige Gryphius’ und Cervantes’ tut, so nimmt sie zum Einen als ästhetische Form nur an einer kulturellen Praxis teil, die nach dem weiten Ästhetikbegriff sowieso nur selbst sinnenfällig ist. Zum Anderen nimmt sie im selben Vollzug nur genauso das umrissene Bedürfnis nach Regulierung wahr. Insofern dieses Bedürfnis keines nach nur selbst Ästhetischem, sondern Normativ-Systematischem ist, kann die Dichtung gerade auch als ästhetische Form nicht umhin,
136 Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen, S. 13. 137 Ebd.
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sich dieses Systematische zum Gegenstand zu machen (nämlich die tatsächlich drängende Frage danach, was Recht ist). Im Gegenteil: Würde sie das Systematische unterschlagen oder von sich fernhalten, würde Dichtung nicht etwa bloß systematisch, sondern gerade auch ästhetisch scheitern, weil sie das genannte Bedürfnis nicht wahrgenommen hat. Insofern die politisch-praktische Frage von der Philosophie in ein abstraktes systematisches Problem transformiert wurde, gilt es der Dichtung erstens, die nunmehr systematische Problemstellung zu reästhetisieren und von Neuem sinnenfällig zu machen. Zweitens gilt es ihr, durch Extraktion diejenigen Problem-, Ideen- oder Theorieteile hervorzuheben, die dem Dichter systematisch – nicht ästhetisch – die eigentlich relevanten sind und die sich im nur sinnenfälligen Feld der kulturellen Praxis, dem sie ursprünglich entstammen, nur ästhetisch – nicht systematisch – bewähren können: Was sich als systematisch konsistent erwiesen hat, muss nunmehr auch wahrnehmbar den Stich halten. Die Dichtung ‚wildert‘ nicht in fremden Gebiet, wenn sie sich der Politik als Teil der kulturellen wie ästhetischen Praxis annimmt, der sie selbst angehört. Sie ‚wilderte‘ wohl, wenn sie politische Philosophie betriebe: Systematische Abstraktion ist gerade nichts Ästhetisches mehr. Eine solche Systematik ist ihr unwesentlich und nur insofern ist hier Harald Frickes Urteil zuzustimmen, dass „[d]ie literarische Form […] keinen Beitrag zur Argumentation und damit zur philosophischen Theorie eines Textes leisten“ kann.138 Es bleibt jedoch die Systematizität dessen einzuklagen, was Dichtung in unserem Fall sehr wohl zur Argumentation beiträgt. Denn sehr wohl leistet sie in der ästhetischen Rückübersetzung des erprobungsbedürftigen Systematischen eben etwas, das im Interesse der kulturellen Praxis Politik und ihres Regulierungsbedürfnisses ist: Die eventuelle Korrekturbedürftigkeit des systematischen Entwurfs sinnenfällig zu machen, wie dies Cervantes und Gryphius unternehmen, ist eine ästhetische Handlung mit unbestreitbar systematischer Wirkung. Diese Wirkung ist mehr als nur der „verstörende Effekt poetischer Verfremdung“:139 Sie gibt den bisherigen systematischen Entwurf zur Überarbeitung an die Philosophie zurück.
138 Harald Fricke: Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel, Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 26–39, hier S. 26. 139 Ebd., S. 39.
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3.3.7 Ausblick: Gryphius’ politische Trauerspiele zwischen systematischem Aufweis und historischer Verbürgung Wenn Andreas Gryphius sich schließlich nicht für eine beliebige Form der Dichtung, sondern die des historischen Dramas entscheidet, so ist ein abermals besonderer Anspruch und Status seiner politischen Trauerspiele zu vermuten: Auch Gryphius konzentriert sich in seinen politischen Trauerspielen auf das, was ihm in systematischer Hinsicht als wesentlich problematisch erscheint. Sein politisches Trauerspiel verweist als Besonderes durch die Extraktions- und Subtraktionstechnik auf Spannungsverhältnisse und Problematiken als sein Allgemeines. Indem er jedoch durchweg historische Problemfälle aufgreift und diese möglichst authentisch wiederzugeben versucht,140 gelingt ihm gerade die Verweisbewegung auf dieses Allgemeine vom „Historisch-Einzelnen“ aus und nicht von diesem weg. Indem die historischen Gegenstände Gryphius’ Stoffe werden, verlieren sie nicht ihren „Charakter des Historisch-Einzelnen“ – dies kann Gottfried Gabriel nur für eine Periode festhalten,141 die schon einen Begriff von historischer Singularität hat: In der Auseinandersetzung mit den Historiken des siebzehnten Jahrhunderts hat Wilhelm Vosskamp gerade im Hinblick auf die Geschichts- und Zeitauffassung bei Andreas Gryphius herausgearbeitet, dass der mit Bartholomaeus Keckermann einsetzende Paradigmenwechsel hin zu einer unvoreingenommenen Würdigung des historisch Einzelnen darin seine Grenze hat, dass nur die Blickrichtung gewechselt wird: „[D]as Individuelle wird nicht mehr aus dem Blickwinkel des Allgemeinen gedeutet, sondern im Individuellen vermag sich das Ganze zu zeigen“.142 Das Allgemeine bzw. Ganze wird noch als vorhanden gedacht und sein ontologischer Status erlischt gerade noch nicht mit dem zunächst bloß epistemologischen Wechsel: Die „Historie [bleibt] nicht auf ihre Faktizität festgelegt“,143 sondern „transzendiert sich selbst“.144 Der bloß epistemologische Wechsel führt mithin zu einer „Zwischenstufe eines nicht mehr geschichtsmeta-
140 Vgl. Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 233. 141 Gabriel: Über Bedeutung in der Literatur, S. 14. 142 Wilhelm Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1), S. 30; vgl. Janifer Gerl Stackhouse: The Constructive Art of Gryphius’ Historical Tragedies. Bern u.a. 1986 (Berner Beiträge zur Barockgermanistik 6), S. 69: „[W]e might here observe the metaphysical message which he [sc. Gryphius] hoped to project in his dramatization of a specific historical event.“ 143 Habersetzer, Karl-Heinz: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 60. 144 Alan Menhennet: The Historical Experience in German Drama From Gryphius to Brecht. Rochester, NY 2003 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 13.
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physischen und noch nicht ‚historischen‘ Denkens“.145 Wie unter 4.3 zu zeigen sein wird, ist allerdings die Teleologie, die Vosskamp im Geschichtsdenken Gryphius’ angelegt sieht,146 auf die heilsgeschichtliche Eschatologie einzuschränken, wohingegen innerweltliche Wirkungszusammenhänge von Gryphius schon vermehrt nicht-teleologisch gesehen werden. Gerade das von Vosskamp gewählte prominente Beispiel des Sonetts Auf den Anfang des 1660zigsten Jahres deutet bereits hierauf hin: WIr zehlen was nicht ist vnd lngst in nichts verschwunden / Verwichner Zeiten Lauff vnd Menge vieler Jahr […] […] Ach! Jahr / Monat / Tag vnd Stunden / Sind kein bestndig Gut / doch bringen sie Gefahr Vnd hchsten Nutz zu vns. Sie bieten alles dar / Wodurch die Ewigkeit vns Menschen wird verbunden. (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XXI, S. 105, v. 1–8 [Hervorhebung O.B.])
Die Singularität des historisch Einzelnen und seine noch genauer zu besprechende Unverbundenheit mit den anderen historisch Einzelnen wird zwar durchaus in nicht nur chronologischer, sondern auch ordnungslogischer Hinsicht diagnostiziert. Für den lutheranischen Dualisten147 Gryphius ist damit jedoch eben nur ihr nonnormativer Zusammenhang ausgeräumt und ihr per contrarium verfahrender normativer Verweischarakter auf ein gerade zeitloses Allgemeines angezeigt. Dieses kann schon deshalb nicht im „Lauff“ der Jahre selbst angelegt sein, weil es nur „vns Menschen verbunden“ ist: Geschichte, mithin das historisch-politische Trauerspiel haben Andreas Gryphius nicht den unmöglichen Aufschluss darüber zu geben, was allgemein geschieht und wie dieses als immanenter Zusammenhang in normativer Hinsicht zu verstehen wäre. Sie verweisen hingegen darauf, was der Mensch von Gott als transzendenter Instanz zu tun verpflichtet ist, um gerade hinsichtlich der immanenten Zusammenhangslosigkeit nicht in eine moralische Haltlosigkeit zu verfallen. Daher sind es eben nicht die Natur oder gar der Körper des Menschen, die Gryphius im Sonettausgang anruft und auf Gott und jenes Allgemeine, seine Norm, verpflichtet, sondern die Seele: „Ach Seel! Ach! sey mit Ernst denn auf die Zeit bedacht“ (ebd., v. 12).
145 Vosskamp: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 30. 146 Ebd., S. 106: „Die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf ein Höheres, Ewiges verleiht der Zeit den Charakter des ständig fortschreitenden Unterwegsseins zu einem Ziel.“ 147 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 271f. Einen „wirklichen Dualismus“ (S. 271), der das Böse zum gleichgestellten Prinzip gegenüber dem Guten macht, vermeidet Luther natürlich. Dazu auch: Hans-Martin Barth: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers. Göttingen 1967 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 19), hier S. 188–203.
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Die Vergänglichkeit des Irdischen führt gerade nicht hin zu einem Historismus avant la lettre, der einer Systematik indifferent gegenübersteht: Denn ein solcher Indifferentismus erlaubte den kontrastiven Verweis vom historisch Einzelnen auf die Bedeutung des allein jenseitsrelevanten göttlichen Gebots schließlich ebenso wenig wie einen affirmativen Verweis von einem natur-eschatologisch angelegten historisch Einzelnen auf das Jenseits als seiner Zielform. Gryphius’ stets historische Beispiele erlauben ihm den Aufweis eines Problems als ihr Allgemeines, insofern sie sich für Gryphius’ extraktiv-kompositive Modellierung des relevanten Ideengefüges besonders eignen. Sie erlauben ihm ferner den Nachweis von der tatsächlichen Dringlichkeit des Problems, insofern sie als Empirie dieses Problem als nicht bloß theoretisches ausweisen: Gryphius’ ästhetische Probehandlungen sind ohne Zweifel solche, die sich in jener Modellierung durch ihre besondere Lizenz Verfremdung herausnehmen dürfen und hinsichtlich bestimmter Rubrifikationen auch herausnehmen müssen. Sofern sie politische Trauerspiele sind, die gegenüber verfahrenen Diskurslagen einen Mehrwert erbringen wollen, sind sie auf diesen bestimmten Experimentalcharakter sogar angewiesen. Dennoch wählen diese historischen Trauerspiele ihren Gegenstand zwar unter hauptsächlich systematischen Gesichtspunkten und arrangieren ihn respektive derer Relevanz und Relation experimentell. Da sie jedoch diesen Gegenstand selbst nicht ebenso experimentell erdenken, sondern der Geschichte entnehmen, sind sie keine Gedankenexperimente.148
148 Und selbst für Gedankenexperimente können durchaus überzeugende Überlegungen veranschlagt werden, dass sie ohne letzthin empirischen Input nicht auskommen: Tamara Horowitz, Gerald J. Massey: Preface. In: Thought experiments in science and philosophy. Ed. by Tamara Horowitz, Gerald J. Massey. Savage, Md 1991 (CPS Publications in Philosophy of Science 13), S. 1–28, hier S. 1.
4 Gryphius’ rechtsphilosophische Zeitgenossenschaft Hier ist zu rekonstruieren, welches rechtsphilosophische Wissen Gryphius besaß, mehr noch aber, wie er sich zu diesem verhielt. Dies kann nur zum Teil seiner Biographie entnommen werden, die Vorlesungen sowie die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Leiden aus den Jahren, in denen Gryphius dort gelehrt hat, existieren nicht mehr bzw. sind nicht auffindbar. Daher sind die biographischen Auskünfte zu korrelieren mit Gryphius’ expliziten Bezugnahmen einerseits – diese liegen nur in den Dissertationes funebres vor – und Gryphius’ impliziten, konzeptionell erschließbaren Bezugnahmen andererseits. Es sind gerade diese, welche die Rekonstruktion eines bestimmten Wissenschaftsverständnis Gryphius’ erlauben, gerade im Hinblick auf sein Verständnis der Theologie als Wissenschaft und ihres Verhältnisses zu den anderen Wissenschaften und Künsten, besonders aber zur Jurisprudenz und Morallehre. Bei der Frage nach einer politischen Theologie bei Andreas Gryphius wiederum nach dessen Wissenschaftsverständnis überhaupt zu fragen, hat seine guten Gründe für die Ermittlung des gryphschen Normverständnisses, seines Rechts- und Klugheitsbegriffs. Diese nämlich sind bei ihm und den Zeitgenossen in bestimmte Vorstellungen von Geltung, Zurechenbarkeit und Verantwortung eingebettet. Diese Vorstellungen sind zwar meist Teil jedes elaborierten Traktats der Staatsrechts- und Staatslehre, jedoch gilt dies nur für die Darstellung. Systematisch haben diese Vorstellungen nicht ihren Grund in einer etwa autonomen Jurisprudenz oder prudentia civilis selbst: Respektive der Geltungstheorie entspringen sie bestimmten Gottesbegriffen, hinsichtlich der Rechtsquellen- und Naturrechtslehre entspringen sie bestimmten Jenseitskonzepten und Naturvorstellungen sowie im Hinblick auf die menschliche Verantwortung entspringen sie einer bestimmten Erkenntnis- und Verstandeslehre. Schließlich wurde die machiavellische Idee einer voraussetzungslosen Staatslehre vom Erscheinen des Principe wie der Discorsi weg abgelehnt1 und nur in retheologisierten Modifikationen rezipiert.2
1 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III); ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria. 2 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, besonders S. 53, 65, 67. Der Gedanke einer voraussetzungslos textualistischen Gesetzesgeltung wurde erst von Hans Kelsens reiner Rechtslehre formuliert: Vgl. Schröder: Recht als Wissenschaft, S. 291–293; auch Oliver Bach: [Rez. v.] Jan Schröder: Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933). In: Scientia Poetica 16 (2012), S. 238–241.
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4.1 Die Herausforderung: Ausnahmezustand und Nezessität Mancher schilt auff diesen Mann/ folget ihm doch heimlich nach; Gibt ihm um die Lehre nicht / gibt ihm um die Oeffnung/ Schmach. Friedrich von Logau, Vom Machiavello3 [O]mne imperium herile, imo omne imperium, vbi imperantis vtilitas quæritur, esse tyrannicum: omnes Reges nihil aliud esse, quàm magistratus, quod Althusio inter sollennia carmina placet. cuius Politica […] Demagogica appeles merito. Johann H. Boecler, In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis Commentatio4
Die Neuerungen, mit denen Niccolò Machiavelli die traditionellen Staatslehren mit seinem Principe sowie mit seinen Discorsi konfrontierte, sind nicht zu unterschätzen. Die Machiavelli-Forschung ist zwar grosso modo in zwei Lager getrennt und ist sich uneins darüber, ob Machiavelli als ein Propagator gewaltsamer Tyrannis (Leo Strauss) oder ganz im Gegenteil als der republikanische Warner vor derselben (Cambridge School) zu gelten hat.5 Gleichwohl hat jüngst Stefano Saracino – selbst Vertreter einer differenzierten republikanischen Lesart – in einer präzisen Kontexteinbettung und Reanalyse des machiavellischen politischen Denkens überzeugend gezeigt, dass bei Machiavelli allemal eine „Verabschiedung der kategorischen Verbindlichkeit der moralischen Tugend für den Herrscher“ stattfindet. Der Fiorentiner Staatsdenker distanziert sich von der platonischen bzw. ciceronischen Auffassung, dass ausschließlich das Gute Mittel des Guten, das Schlechte nur Mittel des Schlechten sein kann.6 Machiavelli redet weniger der Tyrannis im Sinne Aristoteles’ als einer Staatsform das Wort, sondern verlagert das Attribut tyrannisch als handlungstheoretische Beobachtungskategorie auf die allgemeine politische Klugheitslehre.7 Dieser gemäß wendet auch der auf das Gemeinwohl gesinnte ordinatore8 bzw. Aisymnet (αἰσυμνήτης)9 solche Mittel
3 Friedrich von Logau: Salomons von Golaws Deutscher Sinn=Getichte Drey Tausend. Cum Gratiâ & Privilegio Sac. Caes. Majestatis. Breslau 1654, II. 8. 7. 4 Johann Heinrich Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio. Straßburg 1663, S. 234 (In Lib. I. Cap. III). 5 Stefano Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Zur Genese einer antitraditionellen Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral. München 2012 (Humanistische Bibliothek, Abhandlungen 62), S. 18–20. 6 Ebd., S. 38. 7 Ebd., S. 213. 8 Ebd., S. 194. 9 Ebd., S. 331f.
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an, die moralisch, juridisch und religiös zweifelhaft, aber politisch notwendig sind.10 Diese tyrannischen Mittel im Normalzustand zu gebrauchen ist genauso unklug wie sie im Notstand ungenutzt zu lassen. Dies hat seinen vordringlichen Grund in Machiavellis ruhmesethischer bzw. thymotischer Anthropologie, die er vor allem der Tradition Xenophons und in eingeschränkterem Maße Aristoteles’ entnimmt:11 Die Furcht des Herrschers vor dem Zorn des Volkes, umgekehrt sein Ruhmesstreben wirken wiederum als konstante Hemmnisse gegen kategorisch schlechtes Handeln. Ruhm ist vordergründig nur durch prinzipielle Güte zu erwerben, Ruhmesstreben daher ein schon säkularer, aber wirkmächtiger Garant politisch guten Handelns. Andreas Kablitz hält zurecht fest, dass der Macht bei Machiavelli keine virtù vorgängig ist: Macht als das vorzügliche Medium des Ruhms trägt deshalb auch ihre Rechtmäßigkeit nun in sich selbst. Aus diesem Grund wird sie auch, wie in der traditionellen, philosophischen wie theologischen Erörterung der Macht, durch keine Tugend begründet oder begrenzt.12
Dieses Säkularisat mag unter den Zeitgenossen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts – so sie es gesehen haben – schon per se ein Skandalon gewesen sein. Skandalöser und bei weitem augenfälliger war und ist jedoch Machiavellis Relativierung der thymotischen Basis: Ruhm konnte nicht nur ehrlich erworben werden, sondern als bloßer Schein vorgegeben sein. Die Simulationstechniken lösen Machiavellis ‚Tyrannen‘ letztlich auch vom Thymos als unhintergehbarer Instanz. Diese Loslösung von der ruhmesethischen Konstante bleibt weitgehend unvermittelt. Machiavelli selbst jedoch sah simulatio und dissimulatio in einer Republik als weitgehend unproblematisch an, denn dort steht eine ausreichende Anzahl von Menschen in politischer Verantwortung, welche die Heuchelei eines Einzelnen durchschauen können und sanktionieren dürfen. Eine Problemlösung für das vorzüglich monokratische Staatsdenken der Zeit stellte dies gerade nicht dar. Es verschärfte es im Gegenteil noch um das Moment eines vermeintlichen Widerstandsrechts gegen den einen Oberen.
10 Im Hinblick auf die realpolitischen Kontexte Machiavellis versäumt Saracino ebenfalls nicht zu verdeutlichen, dass die aufkommenden monokratischen Signorien nicht bloß mit überpositiver Moral und göttlichem bzw. natürlichem Recht konfligierten, sondern ihr chronischer Legitimationsmangel auch und vor allem gegenüber (bisherigem) positivem Recht bestand: Ebd., S. 34f. 11 Ebd., S. 57–124. 12 Andreas Kablitz: Il Principe, Kapitel 24–26. In: Niccolo Machiavelli – Der Fürst. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2012 (Klassiker Auslegen 50), S. 139–159, hier S. 153.
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Das Herrschaftsrecht nämlich bringt Machiavelli schon von fundamentalsystematischer Seite her ins Wanken. Mit der Relativierung tyrannischer Mittel als nicht je schon schlechter Instrumente der Politik geht eine „Temporalisierung des Tyrannenbegriffs“13 einher: Die bloß zeitweilige Legitimität dieser Mittel respektive eines guten Ziels, ihre Bewährung und aposteriorische Legitimation durch das Erreichen dieses Ziels dynamisieren entsprechend auch das Herrschaftsrecht. Saracino bemerkt dabei treffend, dass Giovanni Botero, obgleich erst dieser das Wort ragion di stato prägt,14 die Staatsgründung gegenüber der Staatserhaltung vernachlässigt. Daher stellt tatsächlich schon Machiavelli die eigentlich grundlegenden Überlegungen zur Staatsräson an, obwohl sich dieser Begriff bei ihm nicht findet.15 Das ius dominandi ist nur genauso durch tatkräftiges Handeln zu erwerben, wie der Staat durch solches Handeln erhalten werden muss. Es ist nicht statisch, weil es nicht göttlich gegeben ist, sondern dynamisch, weil es durch Tugenden erlangt und durch mangelnde Tugend verloren wird. Dementsprechend sind kategorische Religiosität – besonders die christliche – für das politische Handeln gerade nicht nützlich, sondern schädlich. Theologische Apriorismen sind für eine politische Lehre nicht zu veranschlagen: In einem wortgewaltigen Verdikt in Discorsi II,2 schreibt Machiavelli es der weltabgewandten Duldungsethik des Christentums zu, „die Weltgeschichte den Bösen ausgeliefert zu haben“.16 Vor allem hier verbinden sich die fundamentale Infragestellung eines konstanten göttlichen Herrschaftsrechts und die Aufwertung des politischen Ausnahmezustandes zu dem Zündstoff, den Machiavellis Theorie für die Zeitgenossen darstellte. Besonders Michael Stolleis hat die Herausforderung, vor die sich die politische Philosophie mit Machiavellis Discorsi und Principe gestellt sah, sowie ihren eigentümlichen Umgang mit dieser eingehend behandelt. Dabei weist er ebenso schon auf die vordergründigen Widersprüchlichkeiten hin, die in diesem zeitge-
13 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 358. 14 Vgl. Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. 15 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 274f. 16 Niccolò Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. Hg. von Corrado Vivanti. Turin 1983 (Nuova universale Einaudi 185), II,2, S. 224f.: „La nostra religione ha glorificato piú gli uomini umili e contemplativi che gli attivi. Ha dipoi posto il sommo bene nella umiltà, abiezione, e nel dispregio delle cose umane : quell’altra lo poneva nella grandezza dell animo, nella fortezza del corpo ed in tutte le altre cose atte a fare gli uomini fortissimi. E se la religione nostra richiede che tu abbi in te fortezza, vuole che tu sia atto a patire piú che a fare una cosa forte. Questo modo di vivere adunque pare che abbi renduto il mondo debole, e datolo in preda agli uomini scelerati; i quali sicuramente lo possono maneggiare, veggendo come l’università degli uomini per andare in paradiso pensa piú a sopportare le sue battiture che a vendicarle.“
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nössischen Umgang entstehen.17 Gideon Stiening hat sich in der Untersuchung des Rechtsdenkens Vitorias, Melanchthons und Suárezʼ eingehend mit diesen häufig paradoxalen Phänomenen der politischen Ideengeschichte befasst.18 Der Eindruck der Paradoxie entsteht dadurch, dass auf der einen Seite das Problembewusstsein des Principe und der Discorsi durchaus geteilt wird: Die häufige Schlechtigkeit anderer Fürsten, von innenpolitischen Widersachern und Umstürzlern ist allemal Fakt. Ihr kann nicht allein ‚gutmenschlich‘ begegnet werden, ohne die civitas zu gefährden.19 Das moralische Apriori, selbst wenn es in Kraft bleibt, ist nachgerade nicht mehr in der Lage, diesen Fakt zu invisibilisieren. Jede noch so moralische Gesinnung kann nicht mehr über die Notwendigkeit hinwegtäuschen, dass der moralisch schlechte Politiker mit selbst schon moralisch guten Mitteln kaum zu bekämpfen ist, da er sich von ihnen gar nicht anfechten lässt. Auf die rechtssystematische Spitze getrieben, findet diese Problematik ihren allererst sinnfälligen wunden Punkt natürlich im Ausnahmezustand: Hier wird das Recht des Staates nicht nur mit dem Vollzug einer beliebigen Tathandlung gebrochen, sondern Sinn und Zweck der Tathandlung selbst ist überhaupt nur, dem geltenden positiven Recht eben diese Geltung streitig zu machen. Im frühneuzeitlichen Rechtsdenken, und zwar sowohl im neuscholastisch-theologischen als auch im kontraktualistisch-säkularen, ist mit dieser Situation gerade das von Gryphius zentralisierte Setting von Widerstand und Tyrannei eng verflochten. Die identisch gedachten Legislations- und Exekutivgewalten des Herrschers sind nämlich wesentliche Bestimmungen des Gesetzesbegriffes selbst.20 Werden diese seine Bedingungen angefochten, so wird nichts weniger als das ganze Gesetzeskorpus selbst angefochten. Begriffshistorien, die den Ausnahmezustand erst im
17 Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson; ders.: Arcana Imperii und Ratio Status; ders.: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. 18 Stiening: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext; ders.: Nach göttlichen oder menschlichen Gesetzen? Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie in De Indis; ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria; ders.: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III). 19 Wie Kurt Flasch deutlich machte, gilt dies exakt für Machiavellis eigenen Anspruch. Machiavelli vertrat keinen anthropologischen Pessimismus, unterstellte weder dem Menschen noch seiner Mehrheit, immer schlecht zu handeln; vielmehr sei unter Gesichtspunkten der Klugheit immer zu unterstellen, dass der Mensch schlecht handle, um schon das Einfallstor nur möglicher Feinde, Dissidenten, schlechter Einflüsse etc. präventiv zu unterbinden: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. 2., rev. u. erw. Aufl. Stuttgart 2000 (RUB 18103), S. 648. 20 Vgl. Francisco Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber. Übers. u. hg. von Norbert Brieskorn. Freiburg, Berlin 2002, I. 8. 2, auch II. 2. 9; vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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Postabsolutismus diskursiviert sehen,21 beschränken sich im Grunde auf Rechtsinstitutsgeschichten. Damit vernachlässigen sie den von Carl Schmitt zurecht angemahnten Grenzbegriffscharakter der Souveränität: Schon der Absolutismus lebt in seiner Bestimmung von der Universalkompetenz des Herrschers, die an der ausnehmlichen Notwendigkeit erst ihre Nagelprobe erfährt. Die gegen einen bzw. in einem Ausnahmezustand aufzubringenden Mittel haben, um gegen den moralisch schlechten Feind wirken zu können, selbst wesentlich von Listklugheit geprägt zu sein. Sie bestehen mitunter aus Lüge, Täuschung, Hinterhalt und auch Mord. Diese Frage nach dem moralischen Charakter des Notwendigen und diejenige, ob und, wenn ja, von wem dieses Notwendige vollzogen werden dürfe, werden beileibe nicht erst von Machiavelli auf das Tableau gebracht: Schon 1302 diskutierte Aegidius Romanus in seinem Traktat De ecclesiastica potestate die Nezessitätsproblematik und löst sie in der Analogie von göttlicher und päpstlicher Macht auf, insofern der Pontifex Maximus durchaus eine situativ legitimierte absolute Macht im starken Sinne innehabe.22 Schon im sechzehnten Jahrhundert allerdings wurde die weltliche Autorität des Papstes nicht nur von reformatorischer Seite bestritten: Auch von katholischen Rechtstheologen wie Francisco de Vitoria war ein weltlicher Herrschaftscharakter des Papsttums widerlegt worden.23 Die Nezessität war nicht mehr je schon institutionell erledigt, sondern war von Neuem zu verhandeln. Da sich diese Debatte um ethische Erwägungen ebenso wenig vom rigorosen Pragmatismus Machiavellis stilllegen lassen wollte, hatte sie sich als gleichermaßen politisch-pragmatische und moralisch-juridische Diskussion zu profilieren. Neben konkreten Handlungsanweisungen moralisch integeren Verhaltens im Ausnahmezustand hatte
21 Z.B. Markus Trotter: Der Ausnahmezustand im historischen und europäischen Rechtsvergleich. Diss.jur. Heidelberg 1997, S. 4; aber auch Ernst Forsthoff: [Art.] Ausnahmezustand. In: HWPh 1, S. 669f., hier S. 669. 22 Vgl. Jürgen Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus. Hamburg 2007 (Paradeigmata 28), S. 104f. 23 Francisco de Vitoria: De Indis / Über die Indianer. In: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben. Bd. 2. Stuttgart u.a. 1997 (Theologie und Frieden 8), S. 370–541, hier S. 420–431. Dem Papst verbleibt nur ein Widerstandsrecht für den Fall, dass durch politische Handlungen das Heil der Gläubigen gefährdet wird: ders.: De potestate ecclesiae I / Erste Vorlesung über die Gewalt der Kirche. In: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche. Hg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven, Joachim Stüben. Bd. 1. Stuttgart u.a. 1995 (Theologie und Frieden 7), S. 162–277, hier S. 248–252; vgl. Merio Scattola: Das Ganze und die Teile. Menschheit und Völker in der naturrechtlichen Kriegslehre von Francisco de Vitoria. In: Francisco de Vitorias ‚De Indis‘ in interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,3), S. 97–120, hier S. 102f.
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der Antimachiavellismus vor allem die zentrale Herausforderung desjenigen Nachweises zu stemmen, dass Klugheit und Gerechtigkeit einander eben nicht indifferent seien. Die Frage, die sich der so gut als ausschließlich ablehnenden Machiavellirezeption des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts stellt, lautet, wie die per se schlechten Mittel durch die Ausrichtung auf einen sie ‚heiligenden‘ guten Zweck legitimierbar sind oder ob sie sogar eine das Telos unbesehene, unverhandelbare Grenze kennen. Das offene Bekenntnis zum machiavellischen Pragmatismus war für den politischen Praktiker gefährlich, für den politischen Theoretiker ebenso gefahrvoll wie ungewünscht.24 Besonders dem Neotacitismus war es ein Anliegen, den Pragmatiker Machiavelli innerhalb seiner Domäne, der Geschichtswissenschaft, in der Auffassung zu widerlegen, schlechtes Handeln sei notwendig: Das universalhistorische Paradigma sollte Geschichte als Arsenal moralisch und rechtlich applizierbarer Exempel begreifen lassen, das die Geltung des normativen Apriori gleichsam in der longue duree bestätigt, statt sie anhand bloßer Einzelfälle zu falsifizieren.25 Dass die Anwendung moralisch fragwürdiger Mittel in jedem Fall über den Zweck des reinen Machterhalts und auch den der reinen Staatsstabilität hinaus legitimiert werden muss,26 war allgemeiner Konsens. Das zeichnet im Rahmen der angesprochenen Paradoxie die andere Seite aus, nämlich die eigentümliche Ablehnung der machiavellischen Lehre: Die Wahl der Mittel sollte durch bestimmte, selbst moralisch gute Zwecke bestimmt sein oder besser noch: durch schon existente Rechtsquellen, die diese Zwecke anzeigen. Wäre die Wahl der politischen Mittel nicht in diesem Sinne eingegrenzt, so unterscheide sich der Fürst in nichts von seinen Feinden und heule schließlich nur mit den Wölfen, wo er doch eigentlich vor solchen hätte beschützen sollen. Die Bewältigung dieses Problems zog den Fokus dergestalt auf sich, dass Machiavelli allein als politicus wahrgenommen wurde, weder als Historiker noch Statistiker, wie an der folgenden historia literaria deutlich wird:27 Im Grunde wurde erst im achtzehnten Jahrhundert der Indifferenz-Charakter des prudentistischen Apriori gegenüber Gott und Moral systematisch verstanden. Erst hier wurde eingesehen, dass der Vorwurf des Atheismus an Machiavelli ungerechtfertigt war. Seine
24 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen „Tacitismus“ des 17. Jahrhunderts. In: Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Walter E. Schäfer. Tübingen 2001, S. 41–60. 25 Vgl. – auch zum zweifelhaften Erfolg dessen – ebd., S. 49. 26 Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 9. 27 Vgl. Scattola: Machiavelli in der historia literaria, S. 134f.
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prudentia hatte weder im Guten noch im Schlechten irgendetwas mit denjenigen Moralvorschriften zu schaffen, die auf Gott schließen lassen sollten oder nicht.28 Bevor diese Erkenntnis breit verstanden war, konnte die Problembewältigung nur in einen weiteren Konflikt führen. Er fand statt zwischen denen, welche die Beliebigkeit der Herrschermacht durch ein Widerstandsrecht bannen wollten, und jenen, die darin einen Angriff auf die Göttlichkeit der Herrschersouveränität sahen. In 3.1 waren die Strukturmerkmale eines solchen Zusammenwirkens von partieller Ablehnung und teilweiser Anerkennung einer Theorie29 bereits erläutert und dort wie in 1 am Beispiel des Don Quijote veranschaulicht worden. Hier sind nunmehr die sowohl prominenten als auch für Gryphius relevanten unmittelbaren Aufnahmen machiavellischen Gedankenguts bzw. die Problematik des traditionellen Primats von Recht vor der Klugheit aufzuzeigen.
4.1.1 Gryphius’ souveränitätsrechtliches Problembewusstsein Schon der dreißigjährige Gryphius erkennt und benennt in der Vorrede des Leo Armenius die Problematik des Ausnahmezustandes exakt, denn es ist so vnerhrt nicht durch vorwendung geheimer Offenbarungen / Auffruhr vnd Krieg stifften Knigreich vnd Zepter an sich reissen / ja gantze Lnder mit Blutt alß einer newen Snflut berschwemmen. Nicht nur Europa, gantz Asien vnd Africa werden fr ein beyspiel dieser warheit wol hundert geben / vnd in der Newen Welt ist diese Pest wenig / alß bey vns newe vnter dem schein deß Gottes dienstes / (wie Michael vnd seine Bundgenossen) vngehewre Mord vnd Bubenstck ins werck zu richten. (GdW 5, Leo Armenius, Leservorrede, S. 4)
Diese Problemumschreibung ist deshalb exakt, weil sie erstens das juridische Moment des Dilemmas benennt: Von Seiten der Widerstandskämpfer wird sich nur ebenso auf Gott berufen wie seitens des Herrschers. Zwar lässt Gryphius keinen Zweifel daran, dass er diese Berufung als illegitim, als „vorwendung“
28 Ebd., S. 142. 29 Im Rahmen vermehrt geschichtswissenschaftlicher Forschungen ist dieser Umstand durchaus schon länger anerkannt und hat in Einzeluntersuchungen Bestätigung gefunden: vgl. Christoph Fürbringer: Necessitas und Libertas. Staatsbildung und Landstände im 17. Jahrhundert in Brandenburg. Frankfurt am Main u.a. 1985 (Erlanger historische Studien 10), der die Gleichzeitigkeit legitimationstheoretischen Rationalisierungsdrucks und praktischer Übernahme der „tradierten, feudalen Herrschaftsauffassung“ in gerade ökonomischer Hinsicht diagnostiziert (S. 36).
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und „schein“ ansieht. Das göttliche Recht ist ihm in seinem Gehalt in der Tat also nicht widersprüchlich, sondern verbietet Umsturz und Königsmord. Gleichwohl realisiert das Trauerspiel nichts anderes, als dass die Geltendmachung dieses Rechts fraglich erscheint. Damit ist zweitens das rechtspolitische Moment angezeigt: Was garantiert noch die Einholung des göttlichen Rechts, wenn die Königsmörder in ihrer falschen Überzeugung verharren, sodass sie von ihrem „vngehewre[n] Mord vnd Bubenstck“ gar nicht abstehen können? Diese Feststellung einer politischen Labilität der rein inhaltlichen Berufung auf göttliches Recht ist damit nichts anderes als die Frage nach der instanziellen Umsetzung dieses Rechts. Vom Beginn seiner politischen Trauerspieldichtung an hat Andreas Gryphius die Problematik voll erfasst, so unterschiedlich deren Facetten auch durch die Trauerspiele beleuchtet werden. Zwar wird der vanitas-Gedanke als Fluchtpunkt wohl in keinem anderen der Trauerspiele als der Catharina von Georgien derart häufig betont. Dennoch macht Gryphius auch hier die politische Ausweglosigkeit zum Ausgangspunkt, wie der erste Satz seiner eigenen Inhaltszusammenfassung zeigt: CATHARINE, Knigin von Georgien in Armenien / nach dem Sie ruhmwrdigst jhr Knig reich wider den grossen Knig in Persen zu vnterschiedenen malen beschtzet / jhres Schwehers vnd Ehegemahls Tod gerochen / vnd endlich von dem Knig auß Persen mit vnberwindlicher Macht vberfallen /hat Sie sich in eigner Person in das feindliche Lger begeben / vmb Frieden zu bitten: Alda sie stracks in gefngliche Hafft genommen […]. (GdW 6, Catharina von Georgien, Inhalt deß Traur-Spiels, S. 134)
Gryphius wählt seine Formulierungen mit allem systematischen Wissen und Geschick: Ursache der Niederlage waren nicht Unglück oder eigenhändige Fehler, sondern die schier „vnberwindliche Macht“ des Gegners Chach Abas. Wenn Gryphius noch im selben Satz erwähnt, dass auch noch die letzte Tür zu einer legitimen wie selbstständigen Lösung, nämlich „vmb Frieden zu bitten“, zugeschlagen wird, ist die genannte Ausweglosigkeit vollkommen: Alle den Georgiern menschlich-eigenständig zu Gebote stehenden Mittel – der gerechte Krieg wie auch das Friedensangebot – sind ausgeschöpft, das Problem jedoch ist nach wie vor nicht gelöst. Daher ist Gryphius’ Begriffswahl der unüberwindlichen Macht so treffend: In der Konstellation der irdischen politischen Akteure untereinander ist die Macht des Chach Abas die größte. Sie ist jedoch – daran lässt das Trauerspiel an keiner Stelle einen Zweifel – alles andere als legitim. Sie ist rein politische Macht und stützt sich nicht auf Recht. Dennoch soll das göttliche Recht mehr gelten als diese politische Übermacht eines politischen Akteurs. Wodurch also gewinnt dieses Recht seinerseits eine politische Macht, die diejenige des Chach Abas übertrifft?
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Dass Gryphius Macht und Recht als keinesfalls kongruent ansieht, spitzt er im Papinian in der geteilten Souveränität der zwei Kaiser weiter zu. Gryphius beweist ein regelrecht begriffslogisch geschultes Fingerspitzenfühl, wenn er den Protagonisten in dessen Eingangsmonolog die Disparatheit der beiden Begriffe beschreiben lässt: Welch rasen steckt euch an in Zanck verwirrte Brder! Ists billich daß ein Mensch selbst wt’ in seine Glieder Und eifer in sein Fleisch? Wie? Oder mag das Reich Das ersten Grund gelegt auff brderliche Leich / Nicht unter beyden stehn? (GdW 4, Æmilius Paulus Papinianus, I,1, S. 172, v. 39–43)
Papinian affirmiert sogar die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht im Staat: Gerade davon zeugt seine Rede vom Wüten in denen eigenen Gliedern und dem Eifern im eigenen Fleisch. Dass diese oberste Macht sich selbst schwächt, ist für Papinian dabei nicht nur unsinnig, sondern vor allem unbillig und das heißt nach dem zeitgenössischen Begriff der Billigkeit: unrecht. Papinian schwant jedoch bereits die Erkenntnis, dass die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht durch ihre personale Aufteilung sehr wohl gefährdet wird. Gerade mit dieser Erkenntnis einher geht die Unterscheidung von Macht und (ihrem) Recht: Ist bei der auch personal einheitlichen Souveränität das immanente Verhältnis von Macht und ihrer Legitimation als solches nicht problematisch, so ist es ein Trugschluss zu meinen, sie seien deshalb schon identisch. Der Fall Bassians und Getas belegt dies: Insofern ihre Macht geteilt ist, aber ihr Recht dazu dasselbe bleibt, d.h. ungeteilt ist und sein muss,30 wird die Differenz der Begriffe deutlich. Damit ist begrifflich erst die Möglichkeit begründet, dass es unrechte höchste Macht überhaupt geben kann, umgekehrt machtloses Recht. Soll aber ausgerechnet das höchste Recht eben nicht machtlos sein, um aus dem Dilemma des Ausnahmezustandes befreien zu können, so muss nach der Instanz seiner Geltendmachung gefragt werden. Sie ist gerade eine andere als der irdisch höchste bzw. eben nur gewaltsamste Machthaber. Von daher bestimmt sich auch Gryphius’ Sicht auf die englischen Independenten, über die er in den Anmerkungen zu Carolus Stuardus 1663 schreibt: „Man sihet hir auff die so genennete Independentes, welche wir Freysinnige oder Vngebundene nennen / eigentlich heissen es solche Leute / welche in Gewissens Sachen auff nimandes ihr Absehen haben“ (GdW 4, Carolus Stuardus B, Kurtze
30 Andernfalls nämlich wären entweder das Recht ebenso wie die Macht geteilt und damit zwei verschiedene Reiche mit je einem Kaiser Bassian bzw. Geta realisiert oder das Recht des einen größer als das des anderen und damit tatsächlich nur dieser im wirklichen Sinne der Souverän.
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Anmerckungen ber Carolum, S. 142). Er bestimmt ihr Unabhängigkeitsmotiv nur zum Einen nach dem Verhältnis zur politischen Herrschaft, insofern sie „selbst Haubt / Hirt und Bischoff“ zu sein anstreben bzw. dies meinen sein zu können.31 Damit sieht er zum Anderen den Kern des Problems in dem juridischen Irrtum, der sie leitet. Denn im Gewissen ist man dem einhelligen zeitgenössischen Diskurs nach nicht anderen Menschen, auch nicht dem König verpflichtet, sondern Gott. Wenn jedoch nicht einmal mehr die Gewissensqual als letzte Instanz des Skrupels im Menschen wirksam ist wie noch im Falle Chach Abas’ oder Bassians, wenn also die Menschen im Unterschied zu den Annahmen des melanchthonischen Innatismus (4.2.2.1f.) doch dazu in der Lage sind, ihr Gewissen zu manipulieren, sodass sie nicht einmal auf Gott „ihr Absehen“ haben, so spitzt sich das Problem, göttliches Recht geltend zu machen, weiter zu: Die Überwindung des Ausnahmezustandes im Rahmen des göttlich Erlaubten ist eines weiteren, irdisch vorhandenen Mittels beraubt. Es wird die deutliche Frage nach Gottes irdischer Strafinvention gestellt. Nicht nur das Beispiel Georg Schönborners wird zeigen, dass keineswegs nur der Gedanke einer allein jenseitigen göttlichen Strafe geläufig war.32 Gryphius’ Interesse am Ausnahmezustand schlägt sich also sowohl darstellerisch expositiv als auch gesamtdramatisch dispositiv nieder. Die ausnehmliche Situation des Herrschers bestimmt die Trauerspiele von Beginn an und führt ohne Umschweife in die Problemkonstellation des entweder gestürzten oder straffällig gewordenen Herrschers. Mit Catharinas und Charles’ Gefangenschaft gilt der faktenpolitische Ausnahmezustand in den Fällen von Catharina von Georgien und Carolus Stuardus schon vor Handlungsbeginn. In Leo Armenius und Æmilius Paulus Papinianus bestimmt er von Beginn an allemal die diskursive Problematik der Trauerspiele, gleichwenn gerade im Falle des Leo der faktische politische Ausnahmezustand erst am Dramenende eintritt. Leos skrupulöses Schwanken, politische Notwendigkeit oder den Weihnachtsfrieden Hauptmaxime im Umgang mit Michael Balbus sein zu lassen; Catharinas nur scheinbare Machtlosigkeit als georgische Königin gegenüber Chach Abas; die Kontroverse des Carolus über die je nur persönliche Auslegung des göttlichen Rechts; Bassians Zwiespalt zwischen personal ihm nur einheitlich denkbarem Machtanspruch und der Verpflichtung gegenüber dem Mitkaiser Geta und dem väterlichen Erblasser: Es scheint nachgerade so, als wolle Gryphius die Aspekte und denkbaren Konstellationen der Pro-
31 Ebd. 32 So nämlich Gerhard Kosellek: Das deutsche Barockdrama. Mit einem Exkurs über Andreas Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: ders.: Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld 2003, S. 115–129, hier S. 126.
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blematik rund um den status necessitatis regelrecht ‚durchdeklinieren‘ – Nezessität, der Rang der (List)Klugheit, je schon normative oder bloß dezisionistische Rechtsgeltung, Macht nicht nur als rechtspolitische Befugnis, sondern auch als rechtswirkliche Befähigung. In der Tat sind expositive und dispositive Funktion bzw. Wirkung des Ausnahmezustands nur schwer zu unterscheiden und wirken eng zusammen. Dies hat in der nicht bloß formalen, sondern auch gehaltlichen Bestimmung des Begriffs expositio seinen Grund: Sein formales Moment liegt in seinem Ort am Textanfang, sein gehaltliches Moment in der Aufgabe, das argumentum darzulegen. Insofern bedeutet dieses argumentum den dramatisch tragenden Sachverhalt, der die Disposition des Gesamtdramas auszumachen hat. Damit ist die Überschneidung oder sogar das Subordinationsverhältnis von dispositio (als leitendem und ordnendem Sachverhalt) und expositio (als Einführung des leitenden und ordnenden Sachverhalts) nicht von der Hand zu weisen.33 Dadurch dass der status necessitatis expositiv, also von Beginn an bestimmend ist, haben der Handlungs- und Diskussionsverlauf – die im Falle dieser Sprechdramen im Grunde gar nicht unterschieden werden müssen – ihren Reflexionshorizont immer am Ausnahmezustand. Dies ist auch dort der Fall, wo es sich wie bei den vermehrt stoizistischen oder martyrologischen Figuren- und Chorreden um Probleme suorum generum handelt: Sie gelten zwar als Probleme eigener Art, aber sie sind dies dennoch nicht nach eigenem Recht. Denn nur der Ausnahmezustand evoziert die Ausweglosigkeit, von der die constantia allererst auf den Plan gerufen wird. Erst die Befugnisproblematik erfordert die gleichsam gebotene und standhafte Unterlassung gotteslästerlicher Handlungen. Der gesamte Trauerspielverlauf zehrt von der Nezessität und ihren politischen wie rechtslogischen Aporien als von seiner wesentlichen Anlage, schöpft sein Potenzial ganz aus ihnen. In diesem Sinne bestimmt der Ausnahmezustand die gesamtdramatische Disposition. Wie aber seine Entfaltung durch Gryphius in den einzelnen Handlungsverläufen zeigt, gilt dies nicht bloß, weil er chronologische Initiale ist. Der Ausnahmezustand bestimmt den Handlungsverlauf nicht nur, weil er durch einen rein willentlichen Akt des Autors Gryphius expositiv gemacht wurde. Im Gegenteil sieht Gryphius wie seine Zeitgenossen das Problem des Ausnahmezustandes als dem Politischen wesentlich an. Er musste ihm das eigentlich Interessante am politischen Diskurs sein. Zwar war schon dem Mittelalter die Problematik des necessitas-Gedankens bekannt, allerdings wurde sie dort vor allem im Rahmen
33 Vgl. Bernhard Asmuth: [Art.] Exposition. In: RLW I, S. 548–550, hier S. 549; Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 3. Aufl. München 1982 (UTB 580), S. 124–137.
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der Lückenhaftigkeit der Gesetzesverschriftung gesehen und nur dementsprechend aufgelöst: Die necessitas verursacht diese Lücken nicht, sondern verweist nur auf sie, veranlasst sogar ihre Füllung und ist insofern selbst nur Rechtsquelle. Im Mittelalter ist die neccessitas juridisch letztlich unproblematisch.34 Anders als Giorgio Agamben meint, ist diese Integration des Notwendigen in die Rechtsordnung ebenso wenig genuin modern,35 wie das Bewusstsein für das Aporetische der Souveräntität erst postmodern wäre. Der mittelalterliche Begriff der necessitas konnte die umkämpfte Debatte um Staatsräson, autonomer prudentia und Rechtsgeltung, wie sie in der frühen Neuzeit geführt werden sollte, gar nicht hervorrufen. Denn er war mit Blick auf den Gesetzesbestand, nicht auf den Gesetzesbegriff gebildet. Erst der Ausnahmezustand im vermehrt rechtslogischen Bewusstsein des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts verdeutlicht – und hierin kann man sich mit Herfried Münkler historisch durchaus Carl Schmitt anschließen – die Souveränität als Grenzbegriff.36 Erst hier sind Probleme des Politischen in der Tat solche. Schon damit wird klar, dass mit einer moraldidaktischen Funktionszuweisung allein das Telos der gryphschen politischen Trauerspiele nicht umfassend begriffen wäre. Im siebzehnten Jahrhundert erlaubt die Beschäftigung mit dem Ausnahmezustand keine Lehre von Sachverhalten, die je schon fraglos wären und nur noch übermittelt werden müssten. Man kann daher die vornehmliche Inszenierung der Trauerspiele auf zeitgenössischen Schulbühnen als dem Gegenstand der Trauerspiele nicht angemessen verurteilen. Man kann aber ebenso umgekehrt den würdigenden Schluss ziehen, dass sich die damaligen Schultheater Stoffen anzunehmen in der Lage waren, die dem Schüler ihren Gehalt nicht nur plump indoktrinierten, sondern ihn allemal einer Problematik aussetzten, die noch nicht aufgelöst und zu zweifelsfreien Lehrsätzen geronnen war. Für einen Zeitgenossen der Nezessitätsdebatte konnte der darstellerische Anfangs- wie systematische Ausgangspunkt eines politischen Trauerspiels gar kein anderer sein als der Ausnahmezustand: Die expositio gehorcht hier der
34 Vgl. Johannes W. Pichler: Necessitas. Ein Element des mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechts. Dargestellt am Beispiel österreichischer Rechtsquellen. Berlin 1983 (Schriften zur Rechtsgeschichte 27), S. 48f. 35 Agamben: Ausnahmezustand, S. 36. 36 Schmitt: Politische Theologie, S. 9; Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S. 187: „Erst das politische Denken der Neuzeit hat den Notstand, den politischen Ausnahmefall, zum Angelpunkt politischer Theoriebildung gemacht. Für das politische Denken des Mittelalters blieb der Ausnahmefall eine Ausnahme, und es war unvorstellbar, daß er den imperativischen Impuls der Theorie hätte bilden können.“
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Sicht auf den Gegenstand, nicht genuin der dichterischen Kunst.37 Sie ist mit der Wahl der politischen Thematik weniger gemacht als geboten. Ohne allzu sehr den Ergebnissen dieser Untersuchung vorzugreifen, kann hier dennoch Dietrich Walter Jöns’ treffliche, aber augenscheinlich wenig beachtete Feststellung mit allem Nachdruck neu bestätigt werden, dass nämlich „die signifikante Qualität der Dinge [und die ihrer Probleme] für Gryphius außer Frage steht. Das heißt, daß das Fundament einer feste Einzelbedeutungen gebenden ‚Symbolik‘ besteht, die weder durch den Dichter noch in der Dichtung erst existent wird […]“.38 Eine Exposition, die nicht schon unter dem Leitstern der necessitas steht, vermochte kaum auf eine zentral politische Dramenhandlung vorauszuweisen. Eine Disposition, die nicht vom Ausnahmezustand bestimmt ist, hätte das Politische nur als Nebensache zugelassen.
4.1.2 Der normative Primat im aristotelisch-thomistischen Rechtsdenken und die entschiedene Unzuständigkeit der prudentia für den Ausnahmezustand Wie im Gange dieses vierten Teils gezeigt werden soll, liegt Gryphius’ Innovationsleistung bereits in der Fragestellung begründet, nämlich danach, was im Falle dessen geschieht bzw. gültig zu erwarten ist, dass das weltliche Oberhaupt nicht mehr dem natürlichen und göttlichen Recht gemäß herrschen will oder kann, d.h. im Falle einer Tyrannis oder eines Umsturzes. Die Traktate aus dem Bereich der Jurisprudenz wie dem der Politik nehmen sich dieser Frage zum Großteil gar nicht an. Die juristische Traktatistik tut dies dabei aus anderen systematischen Gründen als die frühneuzeitliche Politikwissenschaft: Sie sieht sich vor allem für Normfragen zuständig. Ihre Behandlung der Tyrannis wie auch des Widerstands findet daher so gut als immer mit der Feststellung ihr Ende, dass diese vor dem natürlichen und göttlichen Recht illegitim sind. Die politischen Klugheitslehren der Zeit hingegen sind natürlich auch der non-normativen Sphäre verpflichtet. Dennoch lassen sie die von Gryphius beharrlich gestellte Frage außerhalb ihres Fokus’. Als Grund liegt die Vermutung
37 Vgl. ähnlich Brenner: Das Drama, S. 551f.: „Die politische Orientierung des Trauerspiels hat poetologische Folgen.“ 38 „[…] sondern im theologischen Bereich zuhause ist“. (Dietrich Walter Jöns: Das ‚Sinnen-Bild‘. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966 (Germanistische Abhandlungen 13), hier S. 79). Wie sehr diese festen Einzelbedeutung oder auch nur ihre Symbolik in der Tat und das meint vor allem: im Einzelnen ‚im theologischen Bereich zuhause‘ sind, gilt es dieser Untersuchung für das Feld des politischen Denkens Gryphius’ herauszufinden.
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nahe, dass sie als Vademecum des Regierenden wie seiner Räte wenig Sinn darin sehen, eine Situation zu besprechen, in welcher der Herrscher nicht mehr Herrscher ist. Offenbar war das disziplinäre Selbstverständnis der prudentia civilis insofern gefestigt, als es einer Lehre von den menschlichen Entscheidungen und Handlungen obsolet erscheinen musste, innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs Fälle zu besprechen, in denen dem Menschen zu handeln unmöglich geworden ist. Dies ist ganz im Sinne der aristotelischen Tradition, schließlich hält dieser in der Nikomachischen Ethik unmissverständlich fest, dass die Klugheit sich mit Sachverhalten, die nicht zu ändern sind, nicht zu befassen habe („[…] βουλεύεται δ’οὐθεὶς περὶ τῶν μὴ ἀδυνάτον ἄλλως ἔχειν“).39 Das verwundert um so mehr, als der Machiavellismus gerade nicht den Mo narchomachen, sondern den politischen Theorien des Absolutismus die größeren Schwierigkeiten bereitete: So große Erfolge der Absolutismus realpolitisch nämlich bisweilen feiern konnte, so wenig darf dies übersehen lassen, dass seine politische Theorie von Beginn an einen ‚Zwei-Fronten-Krieg‘ führte und führen musste. Es galt zum Einen, die monarchomachische Behauptung eines Widerstandsrechts zu widerlegen. Ebenso aber galt es zum Anderen, den Vorwurf der naturrechtlichen Indifferenz des absoluten Herrschertums zu widerlegen, wollte man den rex legibus solutus nicht als Opportunisten hingestellt wissen.40 Damit wurde sich aber eine Erklärungsnot eingehandelt, die den gesamten politischen Diskurs bis Gryphius (und über ihn hinaus) bestimmte: Soll auch der absolute Herrscher transhumane Gesetze nicht nur instrumentalisieren, sondern sich nach ihnen richten, so heißt das, dass sie auch für ihn gelten. Das ist allemal systematisch, keinesfalls aber problemgeschichtlich trivial: Sobald nämlich der absolute Herrscher nicht mehr nur als Erfüllungsinstanz dieser Gesetze diskutiert wird, schlägt diese einfache rechtslogische Folgerung in die Gegenfrage wider den Absolutismus um: Wie werden denn diese natürlichen und göttlichen Gesetze geltend gemacht, wenn sich der Herrscher nicht mehr an sie hält?
39 Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1140 a31–32. In der Tat scheint mir dieses Moment der Klugheitsbestimmung das aristotelische Traditum zu sein, dass die größte Beharrungskraft sowohl in neoaristotelischen als auch vermehrt ramistischen und sogar dezidiert antiaristotelianischen Politiken zeigt und nicht etwa die politische Anthropologie des animal politicum (so etwa Dieter Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen. In: Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius. Hg. von Emilio Bonfatti, Giuseppe Duso, Merio Scattola. Wiesbaden 2002 (Wolfenbütteler Forschungen 100), S. 133–164, hier S. 148). 40 Vgl. Niklas Luhmann: ‚Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik‘. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 2. Aufl. Bd. 3. Frankfurt am Main 1998 (stw 1093), S. 65–148, hier S. 94.
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Eine Bewegung entlang des Höhenkamms praktisch-philosophischer Ideengeschichte vermag hier kaum die in 3.1 entwickelten Ansprüche einzulösen, mithin nicht aufzudecken, inwiefern genau Gryphius unter seinen Zeitgenossen Neuerungen aufnahm bzw. sogar anstieß.41 Es bedarf des Blicks in die zeitgenössisch verbreiteten, heute jedoch nur noch spärlich bearbeiteten politischen Reflexionen des ausgehenden sechzehnten und frühen bis mittleren siebzehnten Jahrhunderts. Dort ist zu beobachten, in welchen Punkten die angeführte aristotelische Auffassung ihre stete Wirkung zeigte. Insofern die antiaristotelische de dicto-Polemik nachgerade zum mentalitätsgeschichtlichen Inventar der Zeit gehörte, ist der Blick in die Traktatistik selbst unabdingbar, um die demgegenüber kontrafaktischen de facto-Übernahmen aristotelischer Überzeugungen nachzuweisen.
4.1.2.1 Justus Lipsius Dass der große niederländische Philologie und politische Philosoph Justus Lipsius (1547–1606) nicht nur für seine Gegenwart, sondern noch für das ganze siebzehnte Jahrhundert von Bedeutung war, braucht nicht weiter dargelegt zu werden. In der Gryphiusforschung herrscht der breite und berechtigte Konsens, dass Lipsius auch für den schlesischen Dichterjuristen prägend war. Lipsius’ Ruhm war jedoch in der Tat so verbreitet und seine Lehren fanden in so verschiedenen Lagern Anwendung, dass die Feststellung, er sei für Gryphius wichtig, ebenso zutreffend wie unspezifisch ist. Es ist hier daher nicht der Forschung zu widersprechen, dass Lipsius bedeutsam war. Sie ist vielmehr um die Erläuterung zu erweitern, inwiefern Lipsius’ Lehre in den De Constantia libri duo (1584) sowie den Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex (1589) für Gryphius tragend und relevant gewesen sein mag. Trotz seiner tatsächlich „schroffen“ Bevorzugung des autoritär-absoluten Monarchen,42 kommt Lipsius schon in seiner Erläuterung des Tyrannenbegriffs auf Aspekte zu sprechen, die eine durchaus differenzierte Haltung zum Widerstandsrecht offenlegen: „Tertia inter Ciuilis belli caussas , Tyrannis. Quid ea est? Violentum unius imperium, præter mores et leges. Aio violentum, quia in
41 Vgl. Hans Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Hg. von Hans Ebeling. Frankfurt am Main 1976 (stw 1211), S. 144–207, hier S. 146: „Gelegentlich verhelfen zweitrangige Texte, gerade weil sie präparativ verfahren, dazu, einen Sachverhalt schärfer wahrzunehmen.“ 42 So Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Studia Augustana 4), S. 106.
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cōmuni omniū odio, necessariò Tyrannus decurrit ad hoc asylū“.43 Lipsius versteht die Gewaltsamkeit des Tyrannen als Resultat eines dem Herrscher bereits entgegenschlagenden Hasses, – ein Gedanke, den er unverkennbar von Machiavelli übernimmt.44 Lipsius nennt hier seinen eigentlichen Ideengeber jedoch nicht beim Namen, sondern versucht die These in der Sache einer anderen Autorität zuzuschreiben, nämlich Seneca: Er führt ein Seneca-Zitat an, das zwar in inhaltlich ähnlicher, argumentativ jedoch nicht hinreichender Weise davon spricht, dass „dasjenige um so strikter durch Waffengewalt geschützt wird, von dem man weiß, dass es dem Willen der Bürger zuwider ist“.45 Nur Machiavelli vollzieht Lipsius’ Argumentationsbewegung in derselben Weise und spricht von einer Verursachungskette von Hass, Furcht, Gewalt und Tyrannis: „[I]n modo che, cominciando il principe a essere odiato e per tale odio a temere, e passando tosto dal timore all’offese, ne nasceva presto una tirannide“.46 Desweiteren führt Lipsius aus Tacitus’ Agricola eine für den zeitgenössischen Status quo der politischen Debatten innovativen Gedanken ein: Gott erhalte ehrbare Leute zum Nachteil des Tyrannen.47 Jedoch erfolgt diese besondere Erhaltung nicht zu dem Zweck, dass diese aktiven Widerstand leisteten. Vielmehr lassen sie in ihrer vorbildlichen Tadellosigkeit die Tyrannei gleichsam korrodieren. Wie genau sich Lipsius diesen quasi determinierten Prozess vorstellt, lässt er indessen unausgesprochen: Geht es um die Annahme des positiven Vorbilds durch den Tyrannen, der sich daraufhin zum guten Herrscher bessert? Sei es auch nur, dass der vormalige Tyrann seine Herrschaftspraxis nur ändert, weil er die Unehre scheut, die er sich mit seiner Tyrannis zugezogen hat: Unter dieser Lesart hätte diese doch nur pragmatische Haltung einen dennoch unmittelbaren Erfolg. Oder geht es um eine Vorbildsfunktion für die künftigen Herrscher, insofern sie von der tyrannischen Herrschaftspraxis ihres Vorgängers Abstand nehmen? In der Vertröstung auf kommende Herrschergenerationen macht diese Interpretation nurmehr eine mittelbare Wirkung der Tugendhaftigkeit aus. Dennoch wäre
43 Justus Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina. Leyden 1589, S. 352f. 44 Dieser übernimmt ihn offenbar wiederum von Polybios, den Lipsius ebenso nicht selbst nennt: Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe übers., eingel., erl. u. hg. von Rudolf Zorn. 2. Aufl. Stuttgart 2007 (Kröners Taschenausgabe 377), S. 425. 45 Lipsius: Politica, S. 353: „Seneca Herc. Fur. Quod ciuibus tenere te inuitis scias, Strictus tuetur ensis“ [Hervorhebung im Text]. 46 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,2, S. 21. 47 Justus Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex. Leiden 1590, S. 291: „Nam contrá, punitis ingeniis gliscit auctoritas. Neque aliud externi reges, aut qui eâdem sævitiá vsi sunt, nisi dedecus sibi, atque illis gloriam peperêre“ [Hervorhebung im Text].
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auch hier der Tugendhaftigkeit ein dergestalt wirkmächtiger Mechanismus zugeschrieben, dass sie politische meliorative Wirkung zeitigt. Auch hier hätte man es mit einer Sicht auf Tugendhaftigkeit und Beständigkeit zu tun, die nicht mehr allein einem fatalistischen constantia-Gedanken verpflichtet ist. Beständigkeit wird damit nicht allein individualethisch gedacht, sondern die gesamte civitas profitiert von der Besserung des Tyrannen oder seiner Nachfolger. Indem Lipsius den Tyrannen weiter als permanent vom Gewissen gequälten Menschen charakterisiert, nimmt er ein weiteres remedium wider die Tyrannis vorweg: „Adde cruciatus & tormenta interna. Nam si Tyrannorum mentes recludantur, possint aspici laniatus & ictus. quando vt corpora verberibus, ita sævitiâ, libidine, malis consultis animus dilaceretur. [Marginalie:] Tac. VI. Ann.“.48 Der innere Gerichtshof des Gewissens ‚erledigt‘ die Bestrafung zum Gutteil selbst. Tacitus ist hier jedoch vermehrt humanistisch-rhetorisches Schmuckwerk. Die eigentliche systematische Tradition, wie sie sich bei Lipsius niederschlägt, ist die Gewissenstheorie seit Augustinus. Schon Augustinus unternimmt die formelle, besonders aber instanzielle Bestimmung des Gewissens, insofern er conscientia als ein Wissen um das eigene Stehen vor Gott begreift.49 In bilderreichen Schilderungen des Gewissens z.B. als Stachel liefern auch Origenes und Chrysostomos eine Vorstellung des Gewissens nicht nur als Ort des moralischen Urteils, sondern auch einer ersten Urteilsvollstreckung.50 Dies ist laut Seneca ebenso schon von Epikur gedacht worden, indem dieser von einem geißelnden Gewissen spricht.51 Den umfassenden Charakter der Gewissenstätigkeit als einer gleichermaßen aufdeckenden, strafenden, belehrenden und mahnenden Instanz formuliert bereits Philo Alexandrinus. Er behauptet auch die für Lipsius so wichtige Konstanz des Vorhandenseins sowie der Funktionstüchtigkeit des Gewissens.52 Die Zuspitzung der Vorstellung
48 Ebd., S. 292 [Hervorhebung im Text]. 49 Vgl. Hans Reiner: [Art.] Gewissen. In: HWPh 3, S. 575–592, hier S. 580. 50 Ebd. 51 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Bd. 4: Ad Lucilium Epistulae Morales. Hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, lib. 16, ep. 97, 15, S. 520: „[H]ic consentiamus [cum Epicuro], mala facinora conscientia flagellari et plurimum illi tormentorum esse eo quod perpetua illam sollicitudo urget ac uerberat“ [Hervorhebung O.B.]. 52 Philo Alexandrinus: De decalogo. In: Die Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Leopold Cohn. Bd. 1. Berlin 1909, S. 369–409, hier S. 390: „Denn das jeder Seele angeborene und in ihr wohnende Gewissen, das nicht gewohnt ist etwas Unrechtes zuzulassen, das nur den Hass gegen das Schlechte und die Liebe zur Tugend kennt, ist Ankläger und Richter zugleich; wenn es einmal geweckt ist, tritt es als Ankläger auf, beschuldigt, klagt an und beschämt; als Richter hinwiederum belehrt es, erteilt Zurechtweisung, mahnt zur Umkehr; und hat es überreden können, dann ist es erfreut und ausgesöhnt, konnte es das aber nicht, dann kämpft es unversöhnlich
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von einer Gewissensqual auf eine intramentale Höllenqual (Lipsius: „cruciatus & tormenta interna“) erfolgt in der frühen Neuzeit prominent durch Luther: „[E]in bse gewissen ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himmelreich“.53 Ebenso war es Luther an gleicher Stelle, der mit Blick auf den tyrannischen Herrscher die Gewissensinstanz in gerade doppelter Hinsicht funktionalisiert: Zum Einen fungiert das forum internum nicht bloß entlastend für den Unschuldigen, sondern besonders für den Leidenden – derjenige hat das reinste Gewissen, der nicht nur kein Unrecht tut, sondern Unrecht erleidet. Zum Anderen birgt schon sein Gewissensverständnis strukturell das göttliche Strafversprechen für eine schlechte Obrigkeit in sich, gegen die von unten sich aufzulehnen laut Luther ebenso illegitim ist.54 Das Gewissensargument wird bei Lipsius in ähnlicher Weise in das Argument von Gottes Richtstuhl integriert. Mit der Verschränkung (nicht Identität!) von forum internum (Gewissen) und forum Dei stellt die Gewissensqual bereits eine erste irdische göttliche Strafe dar. Lipsius greift der entscheidenden Frage Gryphius’ und seiner Zeitgenossen in einem wichtigen Punkt vor: Die göttliche Straftätigkeit ist in der Tat nicht bloß jenseitig. Lipsius versucht damit den Ansatz, auf den sich später Keckermann eher ablehnend beziehen wird: Die
und gibt Tag und Nacht keine Ruhe, sondern versetzt unheilbare Stiche und Wunden, bis es das elende und fluchwürdige Leben vernichtet hat.“. 53 WA 38, S. 113. 54 WA 38, S. 112f.: „[U]nrecht thun kan nicht on bse, betrbt, unrgig gewissen bleiben, Ja auch die jhenigen, so zu straffen und zu rechen befelh haben und recht dran thun, mssen jnn der fahr und sorge stehen, das sie zu viel odder zu wenig thun, und knnen nicht so ein fein, still, rein gewissen haben als die so unrecht leiden. […] freude uber alle freude ist ein gut, sicher gewissen, Und leid uber alles leid ist das hertzleid, das ist ein bse gewissen. Denn ein bse gewissen ist die Helle selbs, und ein gut gewissen ist das Paradis und himmelreich […] Also seid ir nu auch mit unschldigem leiden von Leyptzig gescheiden, und lasst ewre Tyrannen da selbs jnn jrem unrecht bleiben, Es gelte nu, wer am besten dran sey und wer gewonnen habe“. Vgl. Andreas Solbach: Amtsethik und lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius’ ‚Papinianus‘. In: Daphnis 28 (1999), S.631–673, hier S. 665. Vor dem Hintergrund der Repressionen Herzog Georgs des Bärtigen von Sachsen gegen die Evangelischen 1533 in Leipzig (vgl. ausführlich Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525. Tübingen 2008 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 41), S. 543–553) erklärt Luther in dieser Schrift Verantwortung der aufgelegten aufrur das Gewissen als allein Gott verantwortlich, womit diese Instanz unverhandelbar und nicht instrumentalisierbar ist: Der Anfrage des Leipziger Lutheraners Dominikus Holtz, ob die Evangelischen um des bürgerlichen Friedens Willen ein katholisches Bekenntnis vortäuschen dürften (vgl. O. Brenner: [Vorbemerkung zu:] Verantwortung der aufgelegten Aufruhr 1533. In: WA 38, S. 86–96, hier S. 88.), erklärt Luther eine klare Absage, insofern dies das kurzfristige Leiden unter Georg zwar schmälern, die langfristige Qual des Gewissens und der göttlichen Strafe nur verstärken kann.
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in der Gewissensqual der Tyrannen sich realisierende göttliche Strafe soll das Widerstandsrecht ebenso auszuräumen erlauben wie es das ‚eigentliche‘ Bedürfnis der Monarchomachen zu befriedigen sucht, nämlich das nach der Bestrafung des Tyrannen. Indem diese Gewissenstheorie ebenso Widerstand verbietet wie es die Strafe des Tyrannen verspricht, versucht sie zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Das Souveränitätsrecht auf unantastbare irdische Herrschermacht wird ebenso gestützt wie die naturrechtliche Pflicht zur guten Herrschaft. Es ist bemerkenswert, dass es Lipsius in der Erläuterung der Tyrannis- und Widerstandsrechtsfrage der Politica bei der Gewissensstrafe belässt. Denn noch fünf Jahre zuvor, in De Constantia war das erwogene Spektrum göttlicher Strafe wider die Tyrannis deutlich umfangreicher. Diese fand auch im forum externum statt: Lipsius widerlegt den Vorwurf an Gott, seine Strafen ungleich bzw. zu zögerlich auszuüben. Dabei verweist Lipsius erstens auf Gottes höchste und eigenständige Macht, zweitens auf die historischen Beispiele des Caligula, Nero und Tiberius: ‚Aber‘, wirst du sagen, ‚ich hätte gerne, daß dieser Tyrann jetzt bestraft würde, so daß mit seinem jetzigen Tod so viele arme unterdrückte Leute Genugtuung fänden. Dann würde uns die Gerechtigkeit Gottes heller erscheinen.‘ Nein! Vielmehr würde mir dein Stumpfsinn heller erscheinen. Denn wer bist du, daß du Gott nicht nur die Strafe, sondern auch die Zeit und Stunde, zu der diese erfolgen soll, vorschreiben dürftest? […] Du wirst von Zorn und Rachgier getrieben, von der er so weit wie nur möglich entfernt ist, er, der auf die Beispielhaftigkeit schaut und auf die Verbesserung anderer. Er weiß am allerbesten darüber Bescheid, welchen Menschen die Bestrafung nützlich sein könnte und warum. Der Zeitpunkt ist äußerst wichtig, und die heilsamste Medizin ist schon oft, wenn sie nicht zur rechten Zeit eingegeben wurde, zu Gift geworden. Gott hat Caligula in der ersten Phase seiner Tyrannis hinweggenommen. Nero hat er ein bißchen länger wüten lassen. Am längsten Tiberius. […] Ihm [sc. Gott] scheint es eingepflanzt zu sein, daß er mit sehr langsamen Schritten darangeht, zu strafen, dieselbe Langsamkeit aber mit um so schwererer Strafe aufwiegt.55
55 Justus Lipsius: De Constantia libri duo, Qui alloquium praecipuè continent in Publicis malis. Antwerpen 1584, II,13, S. 115f.: „Sed vellem, inquies, Tyrannum illum nunc puniri, & præsenti cæde eius satisfieri tot oppressis. clarior enim ita nobis dei iustitia. Clarior iustitia? imò tuus mihi stupor. Quis enim tu ille es, qui deo non ad pœnam solum præeas, sed eius etiam tempora præscribas? […] Te calor exagitat, & aufert vindictæ quædam cupido. à quibus ille remotissimus, Exemplum spectat, & correctionem aliorum. Scit autem optimè quibus ea vtilis esse, & quando. Magna momenta temporum sunt, & saluberrima sæpe medicina abiit in perniciem data non opportunè. Caligulam in primo tyrannidis suæ cursu sustulit: Neronem grassari paullò diutius siuit: diutissimè Tiberium. […] cui [sc. Deo] videtur insitum, vt lento gradu ad vindictam sui procedat, tarditatémque supplicii grauitate compenset“. Übers. nach Neumann: ders.: Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. komm. von Florian Neumann. Mainz 1998 (excerpta classica XVI), S. 259–261 [Hervorhebung im Text].
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Die göttliche Strafe fällt gerade umso stärker aus, je später sie erfolgt. Gott iniquitas vorzuwerfen ist damit ebensowenig begründet, wie Widerstand legitimiert ist. Gerade darin scheinen jedoch auch die Schwächen der von Lipsius gewählten Beispiele auf. Offensichtlich gewahrt Lipsius erst nach De Constantia den eigentlich politischen Hergang jener „magna momenta temporum“, die er hier nur anstößt, jedoch nicht vertieft: Caligula wurde von Prätorianern ermordet; Nero wurde vom Senat und dem an Macht gewinnenden Lucius Galba entmachtet und in den Selbstmord getrieben; Tiberius schließlich war vom Prätorianerpräfekten Lucius Seianus zum Rückzug auf Capri überredet und praktisch seiner Macht beraubt worden. Dass Lipsius in der Widerstandsdiskussion seiner Politica diese Beispiele nicht mehr anführt, hat einen naheliegenden Grund: Politischer Widerstand ließ sich kaum plausibel durch historische Verweise auf göttliche Strafen deskreditieren, die selber nur im aktiven Widerstand von Untertanen bestanden. Warum Lipsius in der Politica jedoch die göttliche Strafe im forum externum ganz aus dem Katalog seiner Contra-Argumente gegen untertänigen Widerstand streicht, kann nicht beantwortet, sondern nur vermutet werden: Entweder fehlte es ihm hierfür an schlagenden Beispielen einer göttlichen Strafe, die sich nicht im Widerstand realisiert; oder er sieht diese Frage implizit schon durch die Naturkatastrophen etc. beantwortet, allerdings ohne diese im Tyrannenkapitel als Strafe zu systematisieren. Wie Keckermann nach ihm sieht Lipsius die rein pragmatische Möglichkeit, einer Tyrannis durch Abschaffung Herr zu werden.56 Im Unterschied zu Keckermann jedoch führt er diesen Gedanken nicht weiter aus. Zwar weiß er ein illustres Beispiel anzuführen, das der alten Griechen nämlich, die jenen göttliche Ehren zuschrieben, die einen Tyrannen töteten. Dafür kann sich Lipsius auf niemand Geringeren als Cicero in seiner Rede für Milo beziehen. Dies erlaubt ihm, sich vor dem Hintergrund eines ciceronianisch geprägten Humanismus durchaus affirmativ zum Widerstand zu äußern: „Nec ego reprimo [...]“.57 Dennoch wendet sich Lipsius normativ gegen Widerstand. Sollte daran bis an diese Stelle Zweifel bestanden haben, so macht der Text nunmehr unzweideutig klar, dass damit auch ein Widerstandsrecht systematisch ausgeräumt wird. Zunächst spricht gegen den Widerstand die „Norm der Weisheit“.58 Dabei betont Lipsius besonders das prudentielle Moment dieses Arguments. Denn es ist vor allem die Nutzenerwägung des öffentlichen Wohls, das in seinen Augen der Widerstandshandlung die Duldung der Tyrannis vorziehen soll.
56 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 292f. 57 Ebd., S. 293. 58 Ebd.: „Sed tamen hoc alterum magis è Sapientiæ normâ censeo, & sæpius è publico vsu.“
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Mit der Frage, warum das öffentliche Wohl von einer Widerstandshandlung mehr bedroht als gerettet wird, stößt man nun auf den theologischen Grund der Argumentation der Politica: Lipsius antwortet mit der rhetorischen Frage, „nónne à Deo reges sunt?“.59 Systematisch leitend ist dabei natürlich nicht die als einziger Beleg angeführte Tacitus-Stelle, man solle sich nicht mit dem Blut irgendeines Fürsten besudeln.60 Bestimmend ist die verschwiegene, aber im Wortlaut unüberhörbare Berufung auf Röm 13: „Non est potestas nisi a Deo“,61 den offenbarungstheologischen Leitsatz jedweder politischen Theologie im Allgemeinen und der absoluten Souveränitätslehren im Besonderen (wobei sich auch von Seiten der Monarchomachen in bestimmter Weise auf Röm 13 berufen wurde). Aus dieser Prämisse folgert Lipsius in wiederum prudentieller Hinsicht, dass ein Aufstand gegen die Herrschaft Bürgerkrieg nach sich ziehe. Dieser sei allemal schlimmer als jede noch so große Tyrannei.62 Wohl gerade deshalb betont Lipsius im unmittelbaren Anschluss die Gottgewolltheit auch der Tyrannis, insofern nämlich alle Übel himmlischer Herkunft seien. Daher sei die Tyrannei nur genauso zu ertragen wie Naturkatastrophen.63 Damit denkt Lipsius nicht schon in antik-stoischer Manier einen universalen, d.h. auch die menschlichen Handlungsspielräume einengenden Determinismus. Tatsächlich erwägt Lipsius den Widerstand: Dem Menschen ist die Möglichkeit, einen Tyrannen zu stürzen, nicht schon immer entzogen wie diejenige, ein Erdbeben zu verhindern o.ä. Durch ihrer beider göttlicher Abkunft werden Naturkatastrophen und Tyrannei aber gleich, einmal insofern der Mensch gegen eine Katastrophe nichts tun kann, ein andermal insofern er gegen einen Tyrannen nichts tun darf. Lipsius sieht den Zweck des von Gott verfügten Übels in dessen Strafcharakter: Denn das tyrannische Verhalten des Herrschers ist ihm notwendig durch das Temperament der ungehorsamen Untertanen verursacht (genauso gründet umgekehrt die herrschaftliche Milde nicht in der Regierungsart der Könige und Fürsten selbst, sondern im Temperament der Gehorchenden).64
59 Ebd. 60 Ebd.: „Tac. XV. Annal. [Marginalie] ergo anceps, caede se qualiscumque Principis cruentare.“ 61 Röm 13, 1. 62 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 294: „Peius detriusque esse tyrannide siue iniusto imperio, bellum Ciuile“ [Hervorhebung im Text]. 63 Ebd.: „Vt celestia omnia mala [Marginalie] A deo enim ista & ab alto. & quomodo sterilitatem, aut nimios imbres, & cetera naturæ malæ, sic luxum & auaritiam dominantium tolerare debemus. [Marginalie:] Tac. IV. Hist.“ [Hervorhebungen im Text]. 64 Ebd., S. 295: „Regum ducumque clementia non in ipsorum modò, sed in illorum qui parent ingeniis sita est“ [Hervorhebung im Text].
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Damit ist aber der Umkehrschluss schon vorweggenommen: Durch eine Widerstandshandlung provoziert der Untertan selbst das Schicksal bzw. ein Urteil: „[C]ontumaciâ atque inani iactatione famam fatúmque prouocas“.65 Damit ist natürlich kein Urteil seitens des Tyrannen gemeint. In diesem Falle hätte Lipsius poena geschrieben. Das sah der Übersetzer der zeitgenössischen deutschen Fassung, Melchior Haganaeus, genauso und übersetzt fama mit Gottes Strafe.66 Sonach wendet sich Lipsius gegen das Argument der Freiheit. Dieses sei insofern nicht schlüssig gegen die Tyrannei aufzubringen, weil es gegen jedwede Herrschaftsform schlagend wäre: Denn auch die besten Herrscher gewähren Freiheit nur nach Maß.67 Hier sieht man am prominenten Beispiel Justus Lipsius’, dass vor Rousseau und Kant die Freiheit als Argument für Widerstandsrecht nicht eingesetzt werden konnte: Solange nämlich Recht als Beschränkung und nicht als Verwirklichung von Freiheit angesehen wird, erscheint die Feststellung, dass gesetztes Recht gegen die natürliche Freiheit verstoße, als bloß trivial .68 In Bezug auf seinen Freiheitsbegriff betont Lipsius die Vorzüglichkeit einer jedweden Herrschaftspraxis: Im Vergleich zu einer zwieträchtigen Freiheit ist es weitaus nützlicher, wenn es einen gebe, dem man dienen könne.69 Im Ergebnis mag sich Lipsius damit proto-hobbesianisch ausnehmen. Allerdings gründet Hobbes die kategorische Prävalenz des status civilis vor dem status naturalis auf die Widersprüchlichkeit des Naturrechtsbegriffs,70 nicht wie Lipsius auf die Vorstellung einer empirischen, chaotischen Freiheit. Zusammenfassend ist natürlich an Michael Stolleis’ Urteil anzuschließen, dass Justus Lipsius eine Vermittlung der seit Machiavelli erstarkenden pragmatischen Perspektive und den normativen Vorstellungen der naturrechtlichen und rechtstheologischen Tradition versucht. Das Kapitel gegen die Tyrannis ist auf
65 Ebd. 66 Justus Lipsius: Von Vnterweisung zum Weltlichen Regimēt: Oder / von Burgerlicher Lehr / Sechs Bücher […] So fürnemlich auff den Principat oder Fürstenstand gerichtet […] übergesetzet. Durch Melchiorem Haganaeum. Amberg 1599, S. 348: „Dann mancher offt vngehorsamb ist / vnnd durch widerspnstigkeit vñ mutwillen/ ldet Er jme selbsten ein bß Gercht / vnd Gottes Straff oder verhnknus ber den Hals.“ 67 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 295: „Plenam meramque libertatem spiras nescius, quomodo peßimis Principibus sine modo dominationem; ita quamuis optimis modum libertatis placere“ [Hervorhebung im Text]. 68 Vgl. Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit; Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. 69 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 295: „Assiduè cogita: quanto libertate discord seruientibus sit vtilius, vnum esse cui seruiant“ [Hervorhebung im Text]. 70 Vgl. Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, S. 69–75.
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die handlungstheoretische Zweckfrage hin aufgestellt und ausformuliert, was seitens der Untertanen im Falle einer Tyrannis zu unternehmen ist. Ebenso ist das Telos des Kapitels eine Handlungsregel, so lautet nämlich der letzte Satz: „Concludo igitur, Ferenda regum ingenia, neque vsui crebras mutationes“.71 Schon das Gerundiv darf jedoch nicht übersehen lassen, dass es sich hier nicht etwa um eine nur anempfohlene Handlungsalternative handelt, die nach genuin prudentiellen Gesichtspunkten lediglich ratsamer als andere wäre (eben Widerstand und Tyrannenmord). Tyrannei zu ertragen und zu dulden, ist die von Lipsius herausgestellte Norm. Blickt man darauf zurück, wie Lipsius diese Handlungsanweisung normativ einholt, treten die Grenzen der möglichen Relevanz Lipsius’ für Gryphius deutlich zu Tage: Wenn sich seine Überlegungen nämlich auf ein Widerstandsverbot hin zuspitzen, beruft sich Lipsius auf vorgelagerte Theologeme, besonders dasjenige der höllengleichen Gewissensqual und dasjenige der Göttlichkeit aller Herrschermacht nach Röm 13,1. Er diskutiert jedoch nie diese normative Grundlage selbst, sondern akzeptiert sie als je schon gültig. Hier ist die oben in Klammern geführte Bemerkung nunmehr auszuklammern: Auch monarchomachische Theorien wie die des Althusius wissen sich auf Röm 13,1 zu berufen. Damit wird diese Bemerkung zum veritablen wie virulenten Einwand. Die Göttlichkeit der weltlichen Macht wird dort insofern zum Drohargument der Untertanen gemacht, als gerade sie diese göttliche Macht dem einen Herrscher lediglich delegiert hätten. Die Schlagkraft des Theonomie-Arguments wird so gerade auf die Seite der Untertanen gezogen. Justus Lipsius stellt die Erörterung des Widerstandes unter eine vermehrt pragmatische Leitperspektive, ohne sich von impliziten politisch-theologischen Annahmen normativer Art zu befreien. Damit lässt sich Entscheidendes hinsichtlich seiner Bedeutung für Andreas Gryphius sagen: Lipsius’ pragmatische Erörterung des Widerstands bzw. der Widerstandspraxis ist insofern unvermittelt, als die fundamentale, dabei aber eben wesentlich jurisprudentielle Frage des Widerstandsrechts gar nicht erörtert wird. Gleichwohl stellt sich Lipsius diese Frage: Das zeigt sich schon in nichts weniger als der schlicht gesetzten Entscheidung Lipsius’, dass Widerstand illegitim ist. Lipsius wählt also lediglich eine pragmatische Perspektive, nicht aber ein pragmatistisches Apriori. Die Distanzierung von diesem, eben machiavellischen Überbau politischer Theorie ist schließlich stetes Anliegen des gemäßigten Tacitismus.72 Lipsius erörtert die wesentlich juridische Frage nach dem Widerstandsrecht jedoch nicht. Ebenso wenig lässt er sie unter echtem pragmatistischem
71 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, S. 296. 72 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status.
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Apriori überflüssig werden: Daher verhält er sich gegenüber der Juridizität von Souveränitäts- bzw. Widerstandsrecht in der Tat nicht indifferent, sondern insolvent: Er löst den Begründungsbedarf seiner dem Anspruch nach innovativen Theoretisierungsstrategie nicht ein. Eben darum ist Justus Lipsius nicht als ausschlaggebende Quelle des Gryphius zu konstatieren. Mithin ist es mit der bloßen Kontextualisierung des Schlesiers mit Lipsius nicht getan: schlicht weil in der herausgestellten, eminent jurisprudentiellen Frage, die Gryphius in all seinen politischen Trauerspielen zentral interessiert, Lipsius mit seinem nur aposteriorischen Pragmatismus und seiner fundamentaljuridischen Insolvenz den Ausschlag gar nicht geben kann.
4.1.2.2 Johannes Althusius Die geschichtliche Bedeutung des calvinistischen Rechts- und Staatsphilosophen Johannes Althusius (1563–1638) ist umstritten – ebenso die Einordnung seines Staatsdenkens zwischen Tradition und Innovation.73 Diese Auseinandersetzungen weiterzuführen, kann an dieser Stelle nicht Aufgabe sein. Gleichwohl ist der politisch-theologische Charakter seines Staatsdenkens nicht von der Hand zu weisen. Eine politische Theologie bei Althusius wird dennoch bisweilen sowohl von denen bestritten oder zumindest als geringfügig erachtet, die dem Emdener Stadtsyndikus große Wirkung zuschreiben,74 als auch von denen, die ihn zwischen Bodin und Hobbes bis Rousseau und Kant als nur geringfügig wirksam erachten:75 Die Grundlegungen dieser nur effektiven Übereinstimmung differieren. Einmal wird in Althusius’ föderaltheoretischer Staatslehre eine nur gewissermaßen depotenzierte politische Theologie gesehen. Den politischen Akteuren steht ein normativer Handlungsspielraum offen und sie genießen im Rahmen
73 Vgl. als Beispiele der jüngeren Vergangenheit: Peter Nitschke: Religion und Politik in der Föderaltheorie des Johannes Althusius. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 5), S. 141–149; Karl-Wilhelm Dahm: Traditionsbezug und Systemtranszendierung. Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie. In: ebd., S. 151–159. 74 So etwa Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, unter besonderem Verweis auf die politische Wirkung von Althusius’ Denken für die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika (S. 156–158). 75 So Nitschke: Religion und Politik in der Föderaltheorie des Johannes Althusius, in eben dieser – durchaus zutreffenden Sicht – auf Althusius’ polittheoretische Wirkung. Obwohl Nitschke und Dahm sich unmittelbar miteinander auseinandersetzen, ist nicht zu übersehen, dass sich ihre Argumentationen nicht auf derselben Ebene treffen, mithin dass sich ihre wesentlich unterschiedlichen Perspektivierungen gar nicht gegenseitig falsifizieren können.
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des generativen Ordnungsmodells eine bestimmte, unverhandelbare Autonomie gegenüber dem Staatsoberhaupt.76 Ein andermal wird politische Theologie als nur rudimentär oder systematisch gar nicht vorhanden erachtet. Der Traditionsbezug Althusius’ auf politische Theologeme geschehe in einer allein instrumentalen Wendung derselben zum eigentlichen, nämlich innovativen Zweck.77 Die vermehrt säkularen Lesarten der althusiusschen Lehre liegen durch den Anspruch und die einzelnen, dabei tatsächlich nicht dezentralen Momente seiner Argumentation durchaus nahe. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen: Schon zu Beginn des voluminösen Traktats (Kap. I, § 29) legt dies eine Formulierung nahe, die nichts weniger als die Ursache der Vergemeinschaftung betrifft: „Aus dem Gesagten folgern wir nun, dass die Wirkursache der politischen Gemeinschaft die Übereinstimmung und der Vertrag (consensus et pactum) sich vereinigender Bürger ist“.78 Dennoch ist die Wirkursächlichkeit des Vertragsschlusses noch keine echt säkulare: Denn zur Vereinigung entschließen sich die Bürger weder aus eigenem Belieben noch aus reinen Vernunftgründen. Der Entschluss fällt aufgrund ihrer schöpfungstheologischen Ausstattung und der göttlichen Gesolltheit der Vergemeinschaftung überhaupt. Gott „gab den Menschen unterschiedliche Gaben, damit jeder Einzelne auf die des anderen angewiesen sei“.79 Ebenso erklärt Gott in seiner Offenbarung jegliche Lebensweise der Abschottung – Eremiten-, Einsiedler- und Mönchstum – zur Gotteslästerung.80 Erst jene Anthropologie eines göttlichen Beschlusses sowie diese göttliche Anweisung zur Vergemeinschaftung machen die Übereinstimmung und den Vertrag der Menschen zur Wirkursache der politischen Gemeinschaft. Der Vertragsschluss ist nicht alleinige Wirkursache. Er hat nicht etwa das abgeschüttelt, was er von seinen Wirkursachen Anthropologie und Theonomie in sich begreift. Der vertragliche Zusammenschluss muss jedoch diese Bestimmungen seiner ihm vorgängi-
76 Ebd., S. 147: „Insofern ist der Politikbegriff bei Althusius nicht einfach (nur) der Politischen Theologie geschuldet: Das Unverfügbare bleibt zwar der zentrale Kern der Gestaltungschancen der Menschen, doch dieser Kern bedarf weiterhin (und dann um so mehr) der sozialen Ausgestaltung. So lange die politisch Beteiligten davon ausgehen können, dass sie alle an einer gemeinsamen Glaubensbotschaft [...] teilnehmen, können die praktischen Interessen verschiedene Optionen eingehen.“ 77 Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, S. 153. 78 Johannes Althusius: Politik. Übers. von Heinrich Janssen. In Auswahl hg., überarb. und eingel. von Dieter Wyduckel. Berlin 2003, S. 29 (Kap. I, § 29). 79 Ebd., S. 29 (Kap. I, § 26). 80 Ebd. (Kap. I, § 28).
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gen Ursachen weiter in sich tragen, wenn Althusius’ Ephorentheorie81 wie auch seine Widerstandslehre plausibel sein sollen. Denn nicht aus dem vertraglichen Zusammenschluss selbst, sondern aus jener asymmetrischen Anthropologie folgt erst der bevorzugte politische Status jener Ephoren. Ebenso folgt die antiabsolutistische Inpflichtnahme des obersten Magistrats nur zum Einen aus der Wechselseitigkeit des Vertrags und dies auch nur instanziell, d.h. gegenüber wem der oberste Magistrat verantwortlich ist. Zum Anderen folgt die Inpflichtnahme gehaltlich allein aus dem, was theologisch als Telos des Staates bestimmt ist: Das Ziel des symbiotischen politischen Zusammenlebens der Menschen ist eine fromme (sancta), gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft […].82
Die Regel für die Art des Lebens, Gehorchens und Verwaltens ist allein der Wille Gottes.83 Die Bestimmung der Staatsziele, gerade der nicht unmittelbar politischen und dennoch erstgenannten Frömmigkeit, resultiert nicht aus dem Gesellschaftsvertrag. Erst dann jedoch könnte man von einer gesteigerten Autonomie und Säkularität sprechen. Es bleibt nichts weniger als politische Theologie, wenn der Mensch nur unter Handlungsoptionen wählen kann, die das göttliche Gesetz übrig lässt.84
81 Vgl. diesen Begriff bei Winfried Schulze: Zwingli, lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand. In: Zwingli und Europa. Referate und Protokolle des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 500. Geburtstags von Huldrych Zwingli. Hg. von Heinrich Richard Schmidt, Andreas Lindt, Alfred Schindler. Zürich 1985, S. 199–216, hier S. 207; Martin Honecker: Grundriss der Sozialethik. Berlin, New York 1995 (De-Gruyter-Lehrbuch), S. 371. 82 Althusius: Politik, S. 24 (Kap. I, § 3). 83 Ebd., S. 225 (Kap. XXI, § 16). 84 Politische Theologie meint ja nicht nur Gebotsgesetze, die nur eine, nämlich die gebotene Handlung zu tun übrig lassen, sondern auch göttliches Recht, das dem Menschen Handlungsalternativen in den Grenzen des Erlaubten freistellt. Entsprechendes gilt für den Gesellschaftsvertrag: Unbestritten ist „der Vertrag der Bürger Wirkursache des gesellschaftlichen Zusammenschlusses“ (Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen, S. 154) – er ist jedoch allein nicht hinreichende Wirkursache, insofern der Entschluss, dass sich überhaupt zusammengeschlossen wird, nicht bloß klug ist, letztlich also im Belieben der Menschen läge, sondern insofern er göttlich gesollt ist. Ebenso geschieht Althusius’ Aufwendung politischer Theologeme nicht instrumental, sondern fundamental. Dass sie nur instrumental eingebracht würden, versucht Karl-Wilhelm Dahm nahezulegen, indem in einem werkgenetisch wie rezeptionsästhetisch fokussierten Ansatz diese theologischen Argumente und Fundamente Althusius’ ganz über das ideenhistoriographische Argument der ‚Plausibilitätsstruktur‘ externalisiert werden (Dahm: Zur religiösen Dimension des Johannes Althusius und seiner Politiktheorie, erstmals S. 154): Althusius formulierte seine politische Theorie mithin theologisch, weil das den Bedürfnissen der
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Insofern deutet auch die von Althusius explizit angekündigte Hintanstellung aller „rein theologischen, juristischen und philosophischen Fragen“85 nicht auf eine Independenzerklärung der politischen Wissenschaften hin: Wilhelm Schmidt-Biggemann hält zurecht fest, dass es Althusius nur um die Marginalisierung der rein theologischen, juristischen und philosophischen Erwägung geht. Damit einher geht „im Gegenteil der Einbau der politischen Theorie in den Kontext des biblischen Gesetzes“.86 In nichts weniger als der Politik zeigt sich für Althusius das sachliche Ineinanderreichen der drei Disziplinen als in ein eben gleichermaßen theologisches, jurisprudentielles und philosophisches Feld. Damit ist Althusius’ politische Lehre nicht nur nicht säkular: Sie fällt auch hinter die zeitlich ältere Lehre Bodins (1572) sowie den zeitgenössischen Entwurf des Francisco Suárez (1612) zurück. Gerade Letzterer erarbeitet auch politische Theologie, vermag aber durch das Eingeständnis genuin philosophischer Probleme wie realpolitischer Gegebenheiten säkularere Entwürfe aufzugreifen und, wenn auch ungewollt, selbst Säkularisierung zu befördern.87 In Althusius’ Staatslehre wird der theologische Supremat hingegen wieder so mächtig, dass er sich für Fragen der ihm untergeordneten Disziplinen vermehrt verschlossen zeigt. Auch auf die Konfessionalisierung gibt er nicht einmal eine theologische Antwort: Dieses Problem wird schlicht ausgespart. Der theologische Supremat, wie er schließlich auch bei Rechtstheologen wie Melanchthon oder eben Suárez vorliegt, wird bei Althusius in ein theologistisches Apriori übersteigert. Der Wittemberger Reformator und der Conimbricenser Theologe hatten immer wenigstens eine theologische Antwort auf das Multikonfessionalitätsproblem parat, nämlich Missionierung. Althusius setzt hingegen die konfessionelle Homogenität des Volks immer schon voraus, mehr noch: In den Theorien der Monarchomachen geschah […] nichts Geringeres als die nachreformatorische Neudefinition des Begriffs eines Volks (und seiner Souveränität) vom Anspruch der Religion her. Während vorher der Begriff des souveränen Volks politisch war (seit Marsilius von Padua) wurde das souveräne Volk jetzt als Religionsgemeinschaft begriffen. Die
Zeit angemessen sei und anders seine Schrift nicht gelesen worden wäre. So notwendig werkgenetische Rücksichten wie rezeptionsästhetische Überlegungen zur angemessenen Einordnung eines Werkes auch sind, so sind sie dies unmöglich alleine, d.h.: sie können weder die textimmanente Argumentationssystematik allein erbringen noch sie alleine falsifizieren; – das bedeutete ein kontextualistisches Apriori. 85 Althusius: Politik, S. 13 (Vorwort zur dritten Auflage der Politica 1614). 86 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Althusius’ Politische Theologie. In: Politische Theorie des Johannes Althusius. Hg. von Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz, Dieter Wyduckel. Berlin 1988 (Rechtstheorie: Beiheft 7), S. 213–231, hier S. 225. 87 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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Umdeutung der Rechtsbegründung entlegitimierte den Staat, beanspruchte die Summa potestas für eine nicht politisch definierte Gruppe.88
Auf eines der virulentesten Probleme von Gryphius’ Werk und Leben ist keine Antwort bei Althusius möglich. Auch die bestimmte Gestalt des Widerstandsrechtsdenkens des Althusius wird weiter prädeterminiert. Schon aufgrund der Wechselseitigkeit des Gesellschaftsvertrags und seiner Gottgewolltheit besteht ein Widerstandsrecht. Hier erfährt es seine konkrete Zuspitzung in einem Verständnis von Herrschaft als religiös-konfessioneller Erfüllungsinstanz: Die politische Ermöglichung des Lebens des Volks meint nicht die Gewährleistung jedweden bloß sicheren Lebens, sondern des sicheren religiösen Lebens. Damit ist klar, dass sich der Herrscher bzw. Magistrat nicht wie in den katholischen und melanchthonianischen Rechstheologien in einem Freiraum bewegt, der zwischen positiven Recht und natürlichem bzw. göttlichem Recht bestünde: Dieser Freiraum kann bei Althusius nicht bestehen, denn die staatlichen Gesetze gewährleisten nicht bloß die irdische Schadlosigkeit in den Grenzen göttlicher und natürlicher Gebote, sondern sie haben ihre eigene Zielform in der nicht nur exnegativischen, sondern positiven Gottgefälligkeit selbst. Gerade darum ist auch der oberste Magistrat an das positive Recht seines Staats gebunden:89 Dieses positive Recht bewegt sich nicht innerhalb eines Ermessensspielraums des transhumanen Rechts. Genauso wenig kann sich daher der Magistrat mit gleicher Freiheit vom positiven Recht darin bewegen. Weltliches positives Recht ist vielmehr göttliches Recht. Deshalb ist noch der oberste Magistrat vom positiven Recht genauso wenig entbunden wie vom göttlichen Recht. Wird die genannte Erfüllung daher nicht erbracht, ist nicht nur ein Widerstandsrecht gegeben: Dieter Wyduckel erkennt als einer der wenigen, dass bei Althusius das Widerstandsrecht durch die Einziehung der Ephoren-Ebene nur hinsichtlich der realpolitisch befürchteten Folgen eines vom ‚Pöbel‘ vollzogenen Widerstands entschärft wird. Jurisprudentiell wird gerade so das Widerstandsrecht zu einer Widerstandspflicht verschärft.90 Denn Althusius macht unmissverständlich klar, dass der Magistrat im Staat nur als eingesetzte Verwaltung begriffen wird und ihre Herrschaftsgewalt gerade geringer ist als die der Ephoren.91 Damit sind nicht nur die Legitimität, sondern auch die machtpolitischen Mittel des Widerstands immer schon gegeben. Sie nicht zu nutzen, wäre sträflich:
88 Schmidt-Biggemann: Althusius’ Politische Theologie, S. 221. 89 Althusius: Politik, S. 174 (Kap. XVIII, §§ 39, 40). 90 Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen, S. 144. 91 Althusius: Politik, S. 172 (Kap. XVIII, § 26).
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Die Ephoren heben ungerechte oder tyrannische Maßnahmen des obersten Magistrats auf oder vereiteln sie, gleichen seine Trägheit durch Wachsamkeit und Sorgfalt aus und tragen auf jede erdenkliche Art und Weise Sorge dafür, dass das Gemeinwesen durch das Handeln des Herrschers keinen Schaden nimmt. Tun sie das nicht, so werden sie selbst zur Rechenschaft gezogen und mit Recht Verräter des Gemeinwesens genannt […].92 Die Aufgabe der Ephoren besteht deshalb nicht nur darin, darüber zu urteilen, ob der oberste Magistrat seine Pflicht erfüllt oder nicht, sondern auch darin, ihm Einhalt zu gebieten und Widerstand zu leisten, wenn er tyrannisch wird […].93
Nicht nur hinsichtlich der Lebenszeit- und Erbephoren wird diese Einhegung des Widerstands in ein institutionalisiertes Legalitätskonzept jedoch problematisch. Wie schon angesprochen, vertraut das Volk sich auch den Wahlephoren nach Althusius „des Nutzens und der Notwendigkeit wegen“ an. Sie tun dies nicht nur, weil politische Beschlüsse durch die Menge der privati nur schwer einholbar wären.94 Zu diesem bloß quantitativen Argument kommt die qualitative und damit allererst schlagende Überlegung hinzu, es seien „diejenigen zu wählen, die große Macht und entsprechende Mittel haben, da sie als Wächter des öffentlichen Wohls mit umso mehr Liebe, Einsatz und Fürsorge für das Gemeinwesen handeln“.95 Es ist die vorzügliche Befähigung des Einzelnen, das Ephorenamt auszufüllen. Ebenso ist es diese Befähigung, die im Falle der Absetzung eines tyrannischen Herrschers ein geordnetes Interim garantiert.96 Damit tut sich die angekündigte Problematik auf: Auf der einen Seite haben die Ephoren eine Widerstandspflicht, die sie gegenüber dem Tyrannen verwirklichen müssen und die sie dem Volk schulden. Auf der anderen Seite sieht Althusius dem jedoch nur eine Unterstützungspflicht des einfachen Volks97 und das Verbot eines eigenhändigen Widerstands98 korrespondieren. Er bietet also nichts Vergleichbares auf, was diese Schuld im Zweifelsfall einholbar machte, d.h. wenn die Ephoren dieser Pflicht eben nicht nachkommen. Im Gegenteil hat Althusius einer Lösung dieses Problems die nötigen Kanäle regelrecht verbaut, und zwar
92 Ebd., S. 177 (Kap. XVIII, § 51). 93 Ebd., S. 183 (Kap. XVIII, § 84); auch Ebd., S. 396 (Kap. XXXVIII, § 38). 94 Ebd., S. 177f. (Kap. XVIII, § 56): „Diesen Ephoren vertraut sich das volk sicher an und überträgt all sein Handeln auf sie, so dass, was sie tun, das ganze Volk zu tun scheint, Dig. 50.17.160. Und dies geschieht des Nutzens und der Notwendigkeit wegen. Denn es wäre sehr schwierig, wie Covarruvias, a. a. O., lib 1 n. 4 sagt, die Stimmen aller Bürger und Gliederungen eines Gemeinwesens von den Einzelnen einzuholen.“ 95 Ebd., S. 178 (Kap. XVIII, § 60). 96 Ebd., S. 183 (Kap. XVIII, § 87). 97 Ebd., S. 398 (Kap. XXXVIII, §§ 48, 49). 98 Ebd., S. 402 (Kap. XXXVIII, § 65).
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als er das Problem einer absoluten Herrschersouveränität zu lösen suchte. Zwar sind schlechte Ephoren als Einzeltäter abwähl- bzw. absetzbar – dies ist auch in Althusius’ Lehre selbst institutionalisiert. Für den Fall jedoch, dass alle Ephoren selbst tyrannisch werden, stehen eigentlich alle bisherigen Argumente, die gegen den Herrscher für die Ephoren aufgebracht wurden, einem echten Widerstandsrecht der privati entgegen. Gleichwohl hat Althusius diesen Fall eigentlich im Blick: Schließlich kann seitens der Ephoren und Optimaten durch Nachlässigkeit, Treulosigkeit, List, oder ein Komplott mit dem Fürsten, durch Pflichtverletzung oder Verrat dem Recht des Volkes nichts genommen, noch etwas der Willkür eines Tyrannen überlassen werden […]. Es wäre unbillig und absurd anzunehmen, die Ephoren könnten einem Tyrannen etwas übertragen, was sie selbst nie besessen haben […].99
In dieser Sache bleibt Althusius jedoch ganz jurisprudentiell: Eine Erörterung der politischen Realisierung dieses unveräußerlichen Rechts des Volkes, das es jenseits der Ephoren besitzt, erfolgt nicht. Bartholomäus Keckermann wird dieses Problem erkennen. Es bleibt also nur zu vermuten übrig, warum Althusius diese Stelle in seiner umfangreichen politischen Lehre unbesetzt lässt. Ist es eine realpolitische Wahrscheinlichkeitserwägung, die Althusius es als unwahrscheinlich verwerfen lässt, dass dieser besondere Fall tatsächlich eintreten könnte? In dieser Weise Überlegungen aus dem nur kontingenten Grund der Wahrscheinlichkeit aktiv zu unterlassen, wäre jedoch nicht die Absicht einer ramistischen Wissenschaft, die mit systematischem Vollständigkeitsanspruch antritt und die wie bei Althusius eben methodice und nicht probabiliter entfaltet wird. Oder ist es der theonome, ja theokratische Gesamthorizont der Politica, der den Fall einer Ephorentyrannei unproblematisch macht, insofern diese der Strafe, wenn auch nicht des Volkes, so doch Gottes ausgesetzt ist – womit dieser Horizont die Erläuterung der Ephorentyrannei als eines wiederum rein theologischen, weil allein Gott anheimgestellten Problems innerhalb einer Politiklehre überflüssig oder sogar deplaziert machte? Letztere Vermutung muss ebenfalls eine bleiben, nicht zuletzt weil Althusius die göttlichen Strafen selbst dort nicht erörtert, wo es um rein religiöse Angelegenheiten geht:100 Schließlich stellt sein Staatsverständnis alle Mittel zur Verfügung, Religion staatlich zu realisieren und Häresie weltlich zu bestrafen. Daher kann gerade in einer Religionsstaatslehre die Religion ganz weltlich realisiert
99 Ebd., S. 191 (Kap. XVIII, § 124). 100 Ebd., S. 122f. (Kap. IX, § 45), S. 278–295 (Kap. XXVIII), besonders S. 292 (Kap. XXVIII, §§ 57, 58).
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werden, ohne dass zu diesem Behuf auf Gott verwiesen werden müsste. Umso weniger verwundert es also vordergründig, dass Althusius Gott an anderer Stelle ebenso wenig als Urteilsinstanz aufruft. Allerdings darf diese letztere Vermutung größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen als die erste. Allemal lässt Althusius mit dem echten Ausnahmezustand ein virulentes Problem in seiner Radikalform unangesprochen, das er eigentlich mit großem Aufwand hat lösen wollen. Wenn dieses Problem nicht als der eigentliche „blinde Fleck in der politischen Theorie des Johannes Althusius“ gedeutet werden soll,101 dann muss Althusius’ Schweigen in der politologischen Problemlosigkeit der Ephorentyrannei seinen Grund haben: Das Problem löst sich in der nurmehr theologischen Regelungsgarantie auf. Dann handelte es sich nicht um einen blinden Fleck, sondern um eine Zuständigkeitsverschiebung. Althusius’ ständerechtlich verankertes Widerstandsrecht ist als Gedanke einer vermehrt empirischen Politologie ebenso hilfreich wie es für eine echte politische Theorie gerade hinderlich ist. Die Idee, dass die Optimaten bzw. Ephoren das Widerstandsrecht besitzen, stützt Althusius nicht nur auf rein juridische Erwägungen – deren privilegierten Stand. Er untermauert diese Idee auch mit der pragmatischen Überlegung, dass die Ephoren mit ihrer politisch angemessenen Bildung und Erfahrung geeignet seien, den Staat nach Absetzung des Tyrannen umgehend wieder in geordnete Verhältnisse zu überführen. Althusius’ Ephorentheorie ist also hinsichtlich der realpolitischen Kausalitäten im und um das Reich sogar durchaus genial zu nennen: Denn sie vermag nichts weniger, als die Furcht zu mindern, mit dem Widerstand werde vom status civilis je schon in den herrschaftsfreien Naturzustand übergetreten. Damit ist aber gleichzeitig eindeutig, warum Althusius für Gryphius’ Interessenlage vermehrt unergiebig sein musste: Gryphius verhandelt in seinen politischen Trauerspielen die Tyrannen- bzw. Widerstandsrechtsfrage immer als Frage der vollkommenen Handlungsunfähigkeit sowie Regelfreiheit. Ihn interessiert die Frage des Souveränitäts- und Widerstandsrechts nur, insofern sie an ihre theoretisch erst so reizvolle wie ergiebige Grenze getrieben wird, indem sie als Frage des Ausnahmezustands gestellt wird. Gerade vom Ausnahmezustand entfernt Althusius die Souveränitäts- und Widerstandsrechtsproblematik. Er spannt
101 So Schmidt-Biggemann im Hinblick auf die konfessionelle Homogenität: Schmidt-Biggemann: Althusius’ politische Theologie, S. 224: „Seine Beschränkung aufs Staatsrecht […] brachte die calvinistische Kongruenz von politischer Einheit und konfessionell bestimmter Gemeinde ganz selbstverständlich in die Voraussetzungen seiner Argumentation hinein. Die Präponderanz der eigenen Konfession war so etwas wie der blinde Fleck in der politischen Theorie des Johannes Althusius.“
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unter der Ebene des obersten Magistrats die Optimatenstruktur als souveränitätsrechtliches Netz, das die Fallhöhe von der vollkommenen Ordnung hinunter zur vollkommenen Unordnung gar nicht zulässt. Damit hat Althusius’ Bedeutung für Gryphius’ politisches Denken seine klaren Grenzen: Als prominenter wie angefeindeter Motor der Widerstandsrechtsdebatte hat Althusius allemal zu gelten und zeitigt in diesem Sinne bis hin auf Gryphius sein Wirkung. Wie im Falle Lipsius’ auch kann Althusius aber nicht als ein politischer Denker gelten, der den Ausschlag für Gryphius’ Position gibt. Er kann dies deshalb unmöglich sein, weil Althusius mit seiner Ephorentheorie gerade denjenigen Zugang zum Problem des Ausnahmezustands verschließt, den Gryphius’ Trauerspiele ausschließlich zu nehmen suchen: den Gedanken der menschlichen Handlungsunfähigkeit und Regelungsfreiheit.
4.1.2.3 Jacob Bornitius Es war der kameralistische Reichspublizist Jakob Bornitz (ca. 1560–1625), der den Terminus Staatsräson im Deutschen Reich einführte.102 Dennoch diskutiert er den Ausnahmezustand nicht als problematisch seitens des Souveräns. Von Nezessität im weiteren Sinne ist nur bezüglich politischer Krisen die Rede, als deren Bewältigungsinstanz der aktuelle Herrscher immer schon vorausgesetzt wird. Das fällt besonders daran auf, dass Bornitz in seinen Partitionum politicarum Libri IV (1608) die Behandlung der Erhaltung des Staates103 von derjenigen der ‚Heilung‘ des Staates104 wohl unterscheidet und trennt. Diese Distinktion ergibt sich ihm allerdings nicht aufgrund der Souveränitätsfrage. In beiden Kapiteln ist das Handlungssubjekt, dem die klugen Mittel anempfohlen werden, der Inhaber der Herrschaft. Wenn Bornitz im vierten Buch (De republica curanda) von den ‚Medikamenten‘ („De remediis“) der Staatsführung handelt, beschränkt er sich dementsprechend auf das Bildungsinventar einer neostoizistischen Handlungslehre: Harte Krisen erfordern harte Maßnamen und kleinere Missstände sind auszuhalten, solange sich mit größeren beschäftigt wird.105
102 vgl. Stolleis, Michael: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 41 und S. 57; auch schon Paul-L. Weinacht: Fünf Thesen zum Begriff der Staatsräson. Die Entdeckung der Staatsräson für die deutsche politische Theorie (1604). In: Staatsräson. Studien und Geschichte eines politischen Begriffs. Hg. von Roman Schnur. Berlin 1975 , S. 65–71. 103 Jacob Bornitius: Partitionum politicarum Libri IV. In quibus ordine & summatim capita artis Politicae designantur. Hanau 1608, S. 68–114. 104 Ebd., S. 120–131. 105 Ebd., S. 130: „Inchoandum quoque ab iis mali, quæ pernitiosiora & periculosiora cæteris. Qualia sunt quæ adversus statum & salute Reip. tendunt. Extremis malis extrema remedia quæ-
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Auch bei Bornitz ist der geltungstheoretische Horizont der politischen Mittelwahl nicht von der Hand zu weisen. Sein politischer Neostoizismus nimmt seinen Ausgang nicht nur an realpolitischen und realökonomischen Kausalitäten, sondern ist vor allem rechtstheologisch eingehegt: Zu tun ist nicht etwa, was bloß noch zu tun übrig bleibt, sondern besonders, was überhaupt getan werden darf. Anstatt quasi-deterministischer Alternativlosigkeit sind die direktiven Normen handlungsleitend. So hält Bornitz schon 1602 im Discursus Politicus de Prudentia Politica Comparanda unmissverständlich fest: Nachdem wir von der Klugheit im Kriegswesen gehandelt haben, wollen wir nun über die bürgerliche, im Besonderen aber von der genannten politischen Klugheit handeln, und zwar, welche Klugheit der Frömmigkeit und Tugend wahrhaft verbunden ist, und nicht bloß vorgetäuscht, wie sie die Pseudopolitiker und Anhänger Machiavellis mit dem besonderen Namen der Staatsräson verfolgen. Ihr Ziel sei die Erhaltung und das Wachstum des Staates, welche die Fürsten anstreben sollen. Was diese betrifft, so können sie alle beliebigen Mittel, ob schlechte oder gute, gerechte oder ungerechte, fromme oder frevelhafte benutzen, solange sie dem Staat nutzen. Diese Begründung aber ist sicherlich nicht Klugheit, sondern die allergrößte Schlechtigkeit. […] Die Gerechtigkeit von den übrigen Tugenden zu trennen, was ist das anderes, als das Fundament der Klugheit, das in der rechten Vernunft seinen Sitz hat, zu zerstören! Und wer gleichermaßen ohne rechte Vernunft und Gerechtigkeit und ohne andere Tugenden darauf baut, schafft eben keine Klugheit. Eine Staatsräson, auch wenn sie sich mit diesem Titel schmückt, ist falsch. Es ist offensichtlich, dass jene die wahre Staatsräson ist, welche sich auf den Glauben und die Tugend stützt, und nur für sie tragen wahre Politiker Sorge, wohingegen die andere Art von Staatsräson verabscheuenswert ist.106
Der Staatszweck ist nicht der Staat als Selbstzweck. Er ist nicht bloße Stabilität wie bei Machiavelli, sondern das Gute. Hierbei ist hervorzuheben, dass Bornitz
renda: Publica mala in curando privatis præferenda: Novis nova antidota aut similia veteribus adhibenda. Interim pluribus malis concurrentibus, minus fuerit tolerandum, ut deteriora saltem ordine & successu temporis tollantur“ [Hervorhebungen im Text]. 106 Ders.: Discursus Politicus de Prvdentia Politica comparanda. Erfurt 1602, f. A20f., s. Marginalie Ratio status. Quid vulgo: „Omissa prudentia militari, de civili tantùm sic, seu in specie politica dictâ agemus, & quidem, quæ vera prudentia est pietati & virtuti consociata, non simulata ista, quam Pseudopolitici & Machiavelli asseclæ specioso nomine, Ratione status prætendunt; cujus scopus conservatio sit & incrementum Reipubl. quò principes collineare debeant; quem ut attingant, mediis quibuscunq; malis, an bonis, justis, an injustis, pietate, an impietate, modò Reipubl. prosint, utantur: Quæ ratio certè non prudentia, sed summa malitia est. […] Iusticiam autem, & virtutes cæteras separare, quid aliud est, quàm fundamentum prudentiæ in recta ratione situm destruere, ut quāsi absq; recta ratione & justicia, alijsque virtutibus quis astruat, nullam prudentiam adstruat . Ratio status, quæ titulo fucato proponitur, falsa est & apparēs, vera illa, quæ religione & virtute innititur, quæ etiam veris politicis curæ, altera detestanda est“. Übersetzung O.B.
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einen für Gryphius entscheidenden Gedanken in Ansätzen entwickelt: Das Telos der Machiavellisten beurteilt er konsequent als falsch, weil es eben nicht das Gute ist. Diese Staatsräson sei deswegen fatal, weil sie die Gerechtigkeit von der Klugheit abtrennt, nur weil sie unterscheidbare Dinge seien. Mit dieser Unterschiedenheit auch einen Konnex von apriorischer Gerechtigkeit und Klugheit zu leugnen, ist für Bornitz der entscheidende kategorische Denkfehler der „Parteigänger Machiavellis“. Klugheit, die nicht auf dem Fundament des moralisch guten Telos aufbaut, ist folglich nicht nur verwerfliche Klugheit, sondern schlicht gar keine Klugheit. Dies ist eine Form der Kritik am säkularen Pragmatismus, welche die moral- wie rechtstheologischen Suprematieansprüche nicht mehr bloß normativ, sondern auch prudentiell zu verteidigen versucht. Dabei führt Bornitz in den Partitionum politicarum Libri IV ausdrücklich Gottes Strafe als mittelbare Ursache der ‚Staatskrankheiten‘ an. Sie ist die Reaktion auf Häresien, besonders aber auf Verstöße wider die göttlichen Gebote der zweiten Gesetzestafel.107 Wenn Bornitz in dieser Deutlichkeit die politische Bedeutung derjenigen quoad homines formulierten göttlichen Gesetze konstatiert, bewegt er sich bereits in jenem Bereich politischer Theologie, der nicht nur göttliche Geltungshoheit, sondern auch göttliche Handlungswirklichkeit reflektiert. Damit spitzt sich politische Theologie bereits in Ansätzen zu einer theologischen Politologie zu. Bornitz argumentiert nicht nur mit der juridischen Geltung, sondern bereits mit dem praktischen, politischen Nutzen des göttlichen Gesetzes: Quibus vitiis & delictis summa iniquitas adversus legem DEI & Jus Gentium in Remp. invehitur, & unio civilis turbatur & disrumpitur: DEUS verò ad justitiam & pœnam adeoque vultus sui occultationem invitatur.108
Liest man den zweiten Satz des Zitats sogar dahingehend, dass es eben Gottes Strafe ist, die als politische Wirklichkeit über den Staat hereinbricht, so nimmt Bornitz noch exakter den Gedanken vorweg, der für Gryphius traditionsbildend sein wird: Gottes Strafe wäre in dieser Lesart dergestalt in das säkular-politische Kalkül des homo politicus mit einzubeziehen, dass sie nicht nur eine jenseitigheilsökonomisch orientierte Praxis betrifft, sondern selbst ganz weltlich ist: Von ewigkeitsrelevanten Erwägungen kann also ganz abgesehen werden, um Gottes
107 Ders.: Partitionum politicarum Libri IV, S. 125: „Disunionis DEI causa est potissima Relligionis defectus & corruptio, quando nulla religio aut corrupta in Rep. Habetur. Quod sit cum Atheismus & Epicureismus, Idololatria & Magia omnis generis […] Deindè cum & quævis alia ἀνομία & injustitia adversus secundam tabulam in Rep. grassatur.“ 108 Ebd., S. 126.
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Strafe nichtsdestoweniger eine eminent weltliche Wirklichkeit zuzugestehen. Zu Gottes Strafhandlungen zählen auch weltliche Handlungen. Die eigentliche Schlagkraft von Bornitz’ Machiavelli-Polemik speiste sich so allererst hieraus: Wenn die „asseclae Machiavelli“ meinen, Gottes Gesetze aus dem weltlich-politischen Handlungskalkül ausschließen zu können, so übersehen sie gerade, dass Gottes Strafhandlungen nur genauso zu den weltlichen Kausalitäten gehören, welche die Machiavellisten als allein relevant erachten. Die Frage jedoch, wie genau diese göttliche Strafe vorzustellen ist, wenn sie denn in das eigene Kalkül eingebunden werden soll, spart Bornitz aus. Ob sie und ihr Eintreten gar prognostiziert werden könnten, wird im entsprechenden Kapitel De prognosticis morborum civilium nicht besprochen.109 Hierin realisiert sich allerdings weniger ein Unzuständigkeitsempfinden einer politischen Lehre, sondern vielmehr das Denken vom Deus absconditus und die dem Menschen damit anheimgestellte Herausforderung: Gottes Gesetze müssen zwar angenommen und Gottes Strafe als sicher gefürchtet werden. Ihre genaue Gestalt und ihren exakten Zeitpunkt prognostizieren zu wollen, hieße Gott in unstatthafter Weise durchschauen zu wollen: Diejenigen Willensentschlüsse, die nicht geoffenbart sind und allein im freien, unhinterschreitbaren Wollen Gottes fußen, bleiben unbegreifbar.
4.1.2.4 Bartholomäus Keckermann Der Reformierte Bartholomäus Keckermann (1572–1608) ist als Theologe und Philosoph ohne Zweifel in die Denktradition politischer Theologie zu rechnen, ohne jedoch die Herausforderung des aufkommenden Rationalisierungsdrucks zu scheuen. „Sein Interesse zielte v.a. auf die enzyklopäd. Ordnung des verfügbaren Wissens in der Symbiose von Theologie und Philosophie“,110 und dementsprechend können bei ihm aspektuale Säkularisierungsleistungen verzeichnet werden, die besonders das Verhältnis von Jurisprudenz und Politiklehre betreffen. Sie sind nicht etwa bloß segmental kooptierte Disziplinen, sondern teilen ihr wesentlich gemeinsames Begründungsverhältnis für die Frage des Ausnahmezustandes. Dabei kommt allerdings auch Keckermann an bestimmte Grenzen, was wiederum Gryphius alles Recht geben wird, das virulente Problem weiterzuverfolgen. Dass Gryphius Keckermanns politisches Denken gekannt, dieses auf den Dichterjuristen zumindest gewirkt haben muss, legt allein Keckermanns Wirken als Konrektor des akademischen Gymnasiums in Danzig nahe. Diese
109 Ebd., S. 129. 110 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Keckermann, Bartholomäus. In: Killy 6, S. 335f.
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spätere Lehranstalt Gryphius’ wurde von Keckermann als der großen Leitfigur der analytischen Methode nachhaltig geprägt. Seine Lehrbücher wurden selbst vom scharfen Protestantengegner Caspar Schoppe111 als wichtigste unter die der Politik, Ethik und Ökonomie gezählt.112 In seinem 1607 erstveröffentlichten Systema disciplinae politicae greift Keckermann Carl Schmitt gewisser Maßen voraus und anerkennt die Souveränitätsfrage und die mit ihr eng verbundene Problematik des Widerstandsrechts als die „schwierigste aller politischen Fragen“.113 Eine Ideengeschichte, die nach den in 3.1 erarbeiteten Maßgaben nicht nur Entwicklungs- und Wirkungslinien, sondern auch vorgängige Problemwahrnehmungen berücksichtigen muss, hat diese Sicht Keckermanns unbedingt festzuhalten. Keckermann lässt schon eingangs dieser Frage unbezweifelt, dass es ein Widerstandsrecht prinzipiell gibt: „Respectu habito ad principem, mutant subditi resp. vel ex causis vim iuris habentibus, vel ex causis iniustis“.114 Ebenso früh anerkennt Keckermann, dass die traditionellen rechtstheologischen Argumente gegen ein Widerstandsrecht einige Zugkraft haben. Sie zu widerlegen, wird Keckermann auf eben rechtstheologischer Ebene tatsächlich nicht gelingen: Neben der besonders begriffslogischen und damit als naturrechtlich behaupteten Universalität des Obrigkeitsrechts115 zählt zu diesen Kontra argumenten vor allem das von Melanchthon stark gemachte Analogon von Vater und Herrscher: Die Achtung des Herrschers ergibt sich nicht nur aus Röm 13, sondern zudem aus der Vorschrift des vierten Gebots, den Herrscher genauso zu ehren wie Vater und Mutter.116 Als ein weiteres Argument vermehrt pragmatischer Art gegen den Widerstand könne das Risiko eines ordnungsfreien, chaotischen Zustandes angeführt werden, der sich schlimmer als derjenige der Tyrannis erweisen könnte.117 Schließlich würde Gott nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift
111 Siehe dazu Herbert Jaumann (Hg.): Kaspar Schoppe (1576–1649). Philologe im Dienste der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus. Frankfurt am Main 1998 (Zeitsprünge 2). 112 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: [Art.] Philosophie III. Renaissance, Humanismus, Reformation. E. Protestantische Schul-philosophie. In: HWPh 7, S. 674–679, hier S. 679. 113 Bartholomäus Keckermann: Systema disciplinae politicae. Hanau 1608, S. 425: „Trahit nos ordo materiarum politicarum ad quæstionum omnium vt decisione difficilimā […] & tractāda est controuersia: Vtrum subditi possint magistratui suo resistere, eumq; si se nō emendet, abdicare imperio.“ 114 Ebd. 115 Ebd.: „Nullus inferior potest sibi vsurpare potestatem in superiorem.“ 116 Ebd., S. 425f. 117 Ebd., S. 426: „Princeps etiam tyrannus non potest deponi sine periculo totius reip. atque adeo etiam ipsorum deponentium; ergo non est tentanda ista depositio.“
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zur Strafung straffällig gewordener Tyrannen niemals deren Untertanen benutzen, sondern von außen kommende Feinde. Hervor sticht dabei das bei Claude Saumaise wiederkehrende Beispiel Davids, der sich nachgerade weigert, gegen König Saul handgreiflich zu werden (4.4.6.2).118 Die üblichen Argumente für ein Widerstandsrecht referiert Keckermann so, dass sie und ihre entsprechenden Kontraargumente sich nachgerade aufzuheben scheinen: Dem naturrechtlichen Souveränitätsrecht wird das ebenso naturrechtliche Notwehrrecht entgegengehalten, das die Untertanen im Interesse ihrer Selbsterhaltung auch gegen ihren Souverän behalten.119 Der melanchthonischen Ableitung des Souveränitätsrechts aus dem vierten Gebot stehen ebenso biblische Zeugnisse gegenüber. Diese erlauben eine Gehorsamsverweigerung gegenüber „gottlos handelnden“ Eltern, mithin gottlos handelnden Regenten nicht nur, sondern gebieten sie sogar.120 Daher kann die in Röm 13 grundgelegte Gehorsamspflicht gegenüber dem von Gott eingesetzten Herrscher nur eine bedingte sein. Der Herrscher hat sich an das göttliche bzw. natürliche Recht zu halten, aus dem seine Herrscherpflichten nur genauso entspringen wie sein Herrschaftsrecht.121 Was das pragmatische Kontraargument betrifft, eine Tyrannis sei weit weniger ruinös als das zu befürchtende Chaos einer Anarchie,122 so steht diesem unter den Proargumenten ein vermehrt verlaufslogisches gegen-
118 Ebd., S. 426f.: „[A]b exemplo sacrarum literarum: Deus in populo Iudaico hunc modum seruauit, vt cum vellet malos reges punire, non puniuerit per Iudæos, tanquam subditos, sed per Assyrios & Babylonios. Idcircò Dauidem continuit, ne Saulum vel deponoret regno, vel interficeret; sed potius Philistinos aduocauit, qui Saulum vlciscerentur. Moses & Aaron non concitarunt populum Israeliticum conta Pharaonem. Ieremias non tradidit Iudæis gladium corporalem contra Nabuchodonosorem, sed gladium spiritualem deuotarum precum. Christus tributum Cæsari, non venenum dari iubet […]“. Zur Spannung der Samuelbücher gerade gegenüber den Königsbüchern, die den Königsmord offensichtlich befürworten, siehe: Walter Dietrich: Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments II. Stuttgart 2012 (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, Zehnte Folge 201), S. 105–111. 119 Keckermann: Systema disciplinae politicae, S. 428. 120 Ebd., S. 428: „[I]nter subditos & principem non est maior obligation quam inter parentes & liberos, inter virum & uxorem. At verò liberi parentes nefariè agentes, possunt impedire, & filius potest se defendere contra patrem […]. Prius membrum antecedētis, nempe, quod liberi possint impedire parentes nefariè agentes, probatur Lucæ 14. v. 16. Matth. 10. v. 37. Ephes. 6. v. 8. & 9. vbi idem ius conceditur seruis in dominos […]“. Gemeint ist Lk 14. 26. 121 Keckermann: Systema disciplinae politicae, S. 428: „[S]ubditi principi suo conditionaliter obligantur, si nempe rectè imperet. […] Ratio sumitur ex obligation, quâ Deo obstringuntur subditi, vtpote cui debent magis obedire, quâ suo principi, ita vt teneantur impedire omnia, quæ contra Deum & eius præcepta fiunt […].“ 122 Vgl. Weber: Prudentia gubernatoria, S. 108.
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über. Dieses versucht ein ‚Tyrannenrecht‘ hinsichtlich seiner fraglichen Verallgemeinerbarkeit an sein Ende zu denken: Die Tyrannei würde grassieren und den Gutteil des Menschengeschlechts gefährden,123 und wäre damit nicht minder gefährlich als ein Chaos. Keckermann versucht nun gerade nicht, diese juridischen Streitfragen naturrechtlich aufzulösen. Er erschließt nicht etwa eine naturrechtliche Fundamentalnorm höheren Ranges, das die Prävalenz entweder des Souveränitäts- oder des Notwehrrechtes festzustellen erlaubte. Keckermanns eigene „Canones“ laufen zwar, wie angekündigt, auf ein Widerstandsrecht hinaus. Allerdings versucht er eine eigene Erörterung, ohne eine unvermittelt affirmative Übernahme der referierten Proargumente zu unternehmen: Denn weder übernimmt Keckermann alle ihm traditionellen Argumente für ein Widerstandsrecht noch verwirft er jedwedes Argument gegen ein Widerstandsrecht. Dies gelingt Keckermann nicht etwa in einer widerspruchsvollen Dialektik, sondern durch einen Perspektivenwechsel. Zunächst in der möglichen Kürze zu den wesentlichen „Canones“ selbst: Erstens gibt Keckermann zu bedenken, dass die Absetzung eines legitim an die Herrschaft gekommenen Fürsten häufig große Widrigkeiten nach sich ziehe. Zweitens ist bei der Organisation des Widerstandes zu bedenken, dass die Anarchie schlimmer als jede Tyrannis ist.124 Jeder Widerstand hat schlechte Ordnungen also nicht nur zu beseitigen, sondern muss auch eine gute Ordnung in gewisse Aussicht stellen können. Drittens ist daher bereits zu erwägen, wer wem wann wie und wie lange Widerstand leistet.125 Damit möchte Keckermann viertens darauf hinaus, dass einem Fürsten nicht wegen jedweder ‚Befehlsunfähigkeit‘ schon Widerstand geleistet werden dürfe.126 Sie muss nämlich nicht notwendiger Weise aus Unklugheit oder Böswillen, sondern kann auch aus Alternativlosigkeit hinsichtlich äußerer Umstände resultieren. Insofern ist der Fürst fünftens nicht vorschnell („protinus“) als Tyrann zu erachten. Vielmehr sei ihm eine quasi menschenübliche Fehler- und auch Sündhaftigkeit ebenso zu verzeihen wie anderen Menschen auch.127 Insofern gibt Keckermann ebenso sechstens zu bedenken, dass einem vertraglich an bestimmte Bedingungen gebundenen Herrscher einfacher Widerstand zu leisten sei als einem absoluten Monarchen. In jenem Fall sei der Verstoßfall schon ex ante und bilateral bestimmt worden, in diesem jedoch
123 Ebd., S. 429: „Sublata hac resistentiâ & defensione subditorum contra Tyrannos, licentia Tyrannorum in infinitum grassaretur, & destrueretur tota societas ciuilis, & melior pars generis humani.“ 124 Ebd., S. 430. 125 Ebd., S. 430f. 126 Ebd., S. 431: „Non statim resistendum est principi ad imperandum inepto […].“ 127 Ebd.
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nicht.128 Ferner spricht sich Keckermann siebtens respektive einer Erbmonarchie gegen den Gedanken der Sippenhaft aus: Die Thronfolge sollte bei den Erben des Abgesetzten verbleiben.129 Was achtens die Frage nach dem Subjekt des Widerstandes betrifft, erklärt Keckermann in expliziter Anlehnung an Althusius, dass die eigentliche Befugnis, das Widerstandsrecht geltend zu machen, bei den ‚Optimaten‘ liege.130 Auch bei ihm liegt nahe, dass dies nicht nur normativ in ihrer ständerechtlichen Privilegiertheit begründet liegt, sondern auch pragmatisch in der unterstellten Fähigkeit, nach erfolgtem Widerstand umgehend eine neue Ordnung herzustellen. Dabei haben die Optimaten neuntens Einstimmigkeit zu erzielen, bevor der Widerstand beschlossen wird.131 Der einfache Untertan („subditus priuatus“) hingegen hat zehntens die Optimaten zu unterstützen, darüber hinaus aber elftens gewisser Maßen nur ein Beschwerderecht respektive des Herrschers. Allein in dem Falle, dass die Optimaten entweder uneinig sind oder mit dem Tyrannen gar gemeinsame Sache machen, dürfen die Untertanen sich eigenhändig einen ‚Rächer‘ („vindex“) erwählen, um die Tyrannei zu bekämpfen.132 Keckermann mahnt zwölftens an, dass der Vorwurf der Tyrannis von den Optimaten vor einer Volksversammlung mit gewissen Dokumenten öffentlich zu beweisen ist.133 Dem entspricht jedoch nicht nur eine Rechtfertigungspflicht der Optimaten gegenüber den einfachen Untertanen, sondern dreizehntens auch ein Abmahnungsrecht des Tyrannen: „Non prius est resistendum principi tyranno, quam creberrime sit admonitus, & rogatus vt ab ista tyrannide desistat“.134 Somit sind vierzehntens im Allgemeinen erst alle Mittel auszuschöpfen, bevor es zum „Extrem“ der Absetzung kommt.135 Dies gilt jedoch fünfzehntens auch für den Prozess des Widerstands selbst: So sind zuerst (sechzehntens) defensive Mittel, nämlich Worte zu benutzen und der Tyrann entweder zu seiner Besserung oder zu seiner Abdankung zu überreden.136 Erst dann ist siebzehntens ein Waffengang gegen den eigenen Herrscher legitim. An diesem müssen sich neutral verhaltende Untertanen nicht beteiligen.137 Keckermann unterscheidet Verbesserungs-
128 Ebd. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 432. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 432f. 133 Ebd., S. 433. 134 Ebd. 135 Ebd.: „Prius omnia remedia sunt tentanda, quam ad extremum deueniatur, & ad abdicationem procedatur.“ 136 Ebd., S. 433f. 137 Ebd., S. 434.
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und Beseitigungswiderstand (achtzehntens) und gelangt damit neunzehntens zu einem Recht auf die Möglichkeit zur Verbesserung, das auch noch der Tyrann besitzt. Dem enstpricht seitens der Optimaten wie der Untertanen die Pflicht, jeden weiteren Widerstand zu unterlassen, sobald der Herrscher sich gebessert hat.138 Erst wenn keinerlei Aussicht auf Besserung besteht, ist zwanzigstens eine Absetzung des Herrschers gerechtfertigt. Damit ist Keckermann allerdings noch nicht am Ende: Der Widerstand hat sich einundzwanzigstens zusätzlich dadurch zu legitimieren, dass er die offensichtlichen Übel der vormaligen Tyrannenherrschaft auch tatsächlich beseitigt.139 Geschieht dies nicht oder treten schließlich zweiundzwanzigstens während des Widerstandes Widrigkeiten auf bzw. mündet der Bürgerkrieg in einer Pattsituation, so ist die „Amnestie zu verordnen“.140 Es ist nicht zu übersehen, dass Keckermann insofern gar nicht auf die Legitimitätsfrage eingeht, als er unter pragmatischer Perspektive immanente Alternativen einer Widerstandshandlung durchspielt. Gleichwohl nimmt er zur Legitimitätsfrage schon dadurch Stellung, dass er Widerstand als rechtmäßig möglich ansieht. Allein in seiner Durchführung ist nochmals zu unterscheiden. Gerade dadurch nimmt Keckermann aber vielfach normative Implikationen auf, die er selbst nicht begründet: So stellt er z.B. den Vorrang des defensiven Widerstandes nicht etwa als klüger, sondern als geboten heraus. Mehr noch: Häufig genug erschließt Keckermann nach der einmal zugelassenen Legitimität von Widerstand Subnormen im Widerstandsrecht, die durchaus dem zugute kommen, gegen den Widerstand geleistet wird (Abmahnungsrecht, Verbesserungsrecht). So unbegründet Keckermanns Entscheidung also auch ist, Widerstand als legitim anzusehen, so erlaubt sie doch das Erschließen von Binnendifferenzierungen. Weil aber Keckermann viele Unterpunkte seiner Widerstandslehre als rechtsförmig ansieht, kann seine bloße Setzung des Widerstandsrechts ihm eben nicht darüber hinweghelfen, dass fundamentale juridische Fragen hätten propädeutisch geklärt werden müssen: Wenn es z.B. um die Beweispflicht (zwölftens) geht, eröffnet sich die Frage nach der ebenso befugten wie befähigten Schiedsinstanz, welche die angeführten Beweise prüft. Meint Keckermann im Hinblick auf die Volksversammlung ein Urteil, das die ihm doch eigentlich nur einfachen Untertanen über die Stichhaltigkeit der von den Optimaten angeführten Beweise gegen den Herrscher fällen? So ließe sich mit Keckermann so gut als jede Herrschaftsform auf die Demokratie hinunterbrechen, wenn es zum Ausnahmezustand kommt. Das strukturgleiche Problem betrifft auch den Fall, dass die ein-
138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 434f.
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fachen Untertanen den Widerstand eigenhändig initiieren (elftens): Denn wie können die Untertanen den Sachverhalt, die Optimaten seien dem Tyrannen gegenüber entweder treu oder handlungsscheu, überhaupt adäquat ermessen? Schließlich wurde doch (viertens) zu bedenken gegeben, dass die Kausalitäten des Regierungsgeschäftes eine so komplizierte Herausforderung darstellen, dass ihr eigentlich nur die Optimaten (achtens) gerecht werden? Nicht erst dem jesuitischen Kritiker Keckermanns, Jakob Keller (1568–1631), stach diese Schwachstelle Keckermanns ins Auge:141 Keckermann hatte sie selber präpariert. Alle berechtigte Kritik an Keckermanns Widerstandslehre kann nicht darüber hinwegtäuschen, welche Weiterentwicklung sie im Vergleich zu Lipsius und Althusius darstellt. Keckermann spielt die ihm denkbaren Alternativen eines einmal erwogenen Widerstandes zwar analytisch durch, aber damit verstellt er sich eben nicht den Blick für die wirklichen Möglichkeiten des Problems. Vielmehr vermag er gerade dadurch die Problematik an die eigentliche, erst wahrhaft juridische und politische Grenze zu treiben, wie sie auch noch den systematischen Kern von Carl Schmitts Politischer Theologie darstellen wird. In der Kontroverse zwischen absolutistischen und monarchomachischen Positionen zu Widerstand und Widerstandsrecht war man bislang nicht über die Legitimitätsfrage des Widerstandes allein hinausgekommen. Mit seinem strikten Durchexerzieren realpolitischer Möglichkeiten der Krisenbewältigung zeigt Keckermann demgegenüber auf, dass Tyrannis bzw. Widerstand selbst noch nicht die Grenzbestimmung von Staats- und Souveränitätslehre ausmachen, mithin dass sie selbst noch nicht den Ausnahmezustand darstellen. Tyrannis und Widerstand ipsae factae sind zwar juridisch fragwürdig, aber noch nicht politisch unbewältigbar. Man konnte jedoch die Frage ab hier nicht weitertreiben, solange man im antimachiavellistischen Furor, dem sowohl die frühen Absolutisten als auch Monarchomachen verfallen waren, juridische und politische Fragen nicht einmal theoretisch zu trennen bereit war. Demgegenüber macht sich Keckermann von diesem verabsolutierten Identitäts- oder Inklusionsgedanken so weit frei, realisiert den Unterschied von Widerstand und Widerstandsrecht142 und gestattet sich den Gang an die eigent-
141 Vgl. Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden 2007 (Studies in medieval and reformation traditions 126), S. 91f. 142 Dabei ist die unzulässige Vermengung bzw. Verwechslung dieser beiden – hier politologischen, dort juridischen – Kategorien nicht nur ein Malus frühneuzeitlicher politischer Theorie, sondern mitunter auch noch der gegenwärtigen politischen Ideengeschichte: siehe z.B. Robert von Friedeburg: Universitas christiana und Konfessionskonflikt. Vaterland und Kirchennation in England, den Niederlanden und den protestantischen Territorien im Reich, 1570–1660. In: ‚Europa‘ im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Hg. von Klaus Bußmann, Elke Anna Werner. Stuttgart 2004, S. 203–230, hier S. 226: „Diese konzeptuelle Einteilung der
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liche Grenze: Erst in der Verfahrenheit eines Bürgerkrieges zwischen Widerständlern und Tyrann oder zwischen uneinigen Widerstandsgruppen ist die ursprüngliche Problematik auch politisch nicht mehr handhabbar. Keckermann macht sich aber von dem genannten Gedanken nunmehr zu weit frei: Er meint, nach der Zurücklassung einer rein juridischen Grenzfrage zur Grenze einer rein politischen Frage gekommen zu sein. Im Unterschied zu Schmitt sieht er nicht, dass er mit dieser Grenze eine sowohl politische als auch juridische erreicht hat: Das ‚Reset‘, das die Amnestie vollziehen soll, ist nicht nur ein politisch mauer Versuch, weil der angefochtene Tyrann die Amnestie durch seine Feinde denselben kaum danken wird. Er steht auch juridisch auf tönernen Füßen, weil Keckermann damit meint, eine bilaterale Konfliktsituation unilateral auflösen zu können. Daher stellt sich die schon oben häufig angemahnte instanzielle Befugnisfrage am deutlichsten im Amnestiefall. Hier tritt die Aporie zutage: Wer aus einer uneinigen Widerstandsbewegung kann inwiefern die Befugnis haben oder erlangen, eine Amnestie zu verordnen („ἀμνηστία sancienda“)? Das ist widerspruchsfrei nicht zu denken: Hier macht Keckermann die Frage nach einer Schiedsinstanz auf, die er selber nicht beantwortet. Bartholomäus Keckermanns politische Theorie ist damit auch ein herausragendes Beispiel für vermehrt säkular intendierte Entwürfe, die entweder unabsichtlich oder in Ermangelung fundamentaler Vor- und Zuarbeiten Leerstellen, Aporien bzw. Fragen hinterlassen. Diese geben bei allem Säkularismus, der in einem System bis an diese Stelle herrscht, ohne Weiteres Raum für mitunter theologische Füllungen dieser Leerstellen, theologische Auflösungen dieser Aporien bzw. theologische Antworten auf diese Fragen. Dass Keckermann diese Leerstelle nicht erörtert, ist darum so erstaunlich, weil er unter den rechtstheologischen Gegenargumenten ein Argument referiert hatte, das durchaus ein Angebot zur Füllung dieser Lücke darstellt: Gott delegiere seine Strafe in jedem Fall nicht an die Untertanen, sondern benutze entweder
Behandlung von Widerstand in ein ständisches Widerstandsrecht, ein Notwehrrecht des einzelnen Untertanen […] oder auch einfach als Naturrecht der Selbstverteidigung, und ein Recht der Gegenwehr eines gesamten Gemeinwesens als ‚Vaterland‘ war keineswegs eine Besonderheit der Politica des reformierten Althusius“ [Hervorhebungen O.B.]. Wie ein wesentlich nonnormativer Begriff in normative Begriffe konzeptuell eingeteilt werden können soll, kann nicht nur nicht einleuchten, sondern verstellt auch den Blick für den historischen Bruch, der hier für Keckermanns Fall herausgestellt werden soll. War nämlich in der Tat Nonnormatives mit Normativem unzulässig vermengt worden, insofern auch eine gemeinsame Traktierung systematische Differenzierungen erlaubt, so war es eben Keckermann, der diese Vermengung zu überwinden versucht, – mit zweifelhaftem Erfolg freilich, aber in jedem Fall ist Keckermanns Innovationsversuch nicht aufzudecken, wenn der Kategorienfehler seiner Vorgänger mitgemacht wird.
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‚Externe‘ oder vollziehe die Strafe eigenhändig. Dieses Argument betrifft de intentione zwar das Verbot jedweden Widerstands sowie die Bestrafung des Tyrannen allgemein; es ist nicht auf die Patt-Situation im Bürgerkrieg beschränkt. Darum ist dieses Argument dennoch so systematisch allgemein, dass der Systematiker Keckermann die allemal deduzierbare Folgerung hinsichtlich der Befugnisfrage hätte erörtern müssen: Gott selbst entscheidet politisch legitim und wirkmächtig über das Unentschieden des Bürgerkriegs. In der Tat steht diesem Kontraargument kein entsprechendes Proargument gegenüber.143 In der Tat also herrscht zwischen den von Keckermann selbst referierten Diskursparteien kein Gleichgewicht, das auf eine genuin neue Argumentationsstrategie Keckermanns dergestalt drängte, wie es zunächst den Anschein hat. Ebensowenig vermag diese eigene Strategie Keckermanns das angebliche Unentschieden mit neuen Argumenten zu überwinden. Sie führt nur unbemerkt, aber systematisch notwendig zurück auf eine der beiden Diskursparteien und entlarvt diese als überlegen: die Partei der Argumente gegen ein Widerstandsrecht. Dabei ist schon bei Keckermann nur schwer der bestimmte Grund dafür zu übersehen, dass dem Argument von Gottes eigenhändiger Straftätigkeit wider die Tyrannen nur schwer hätte widersprochen werden können: Wenn es den Untertanen in der Erwägung des Widerstandes bzw. den Monarchomachen in der Erwägung des Widerstandsrechts nur darum zu tun ist, sich der Geltendmachung des göttlichen Rechts zu versichern, so kann das Argument vom diesseitig strafenden Gott dieses Bedürfnis befriedigen und schließt ein Widerstandsrecht dennoch aus. Es ist diese politische Bilateralität des Arguments, die unter prärousseauschen bzw. präkantianischen Vorzeichen ein Kontraargument gar nicht sinnvoll erscheinen lässt: Solange der Mensch sein ihm wesentliches Recht nicht unbedingt eigenhändig geltend machen können will, behält dieses Argument seine Attraktivität. Ebenso bleibt es reizvoll, solange der Untergang von Tyrannen noch als göttlich-notwendig und nicht schon als bloß historisch-kontingent erscheint (womit er gar keine Antwort auf eine systematische Frage mehr sein kann). Es ist das gewichtige Argument sowohl einer normgebenden politischen Theologie als auch einer normerfüllenden theologischen Politologie. Bemerkenswert ist, dass dieses Argument bei Keckermann wirkt, ohne dass er es dezidiert vertritt.
143 Ebd., S. 427–430.
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4.1.2.5 Henning Arnisaeus Den protestantischen Aristotelismus des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636) hat Horst Dreitzel sowohl in seiner Systematik ausführlich erörtert als auch in Ansätzen historisch eingeordnet. Es war unter anderen Arnisaeus, der die Souveränitätslehre Jean Bodins mit den polittheoretischen Bedürfnissen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu vermitteln suchte: Die Wahl- und Einspruchsrechte der Reichsstände gegenüber dem gewählten Kaiser und König kollidierten schließlich mit einer absolutistischen Herrschersouveränität, wie sie Bodin konzipiert hatte.144 Vor dem Hintergrund dieses Interesses entwickelt Arnisaeus eine Tyrannis- und in der Folge eine Widerstandsrechtslehre, die erstens rechtstheologische Erfordernisse einzulösen versuchen. Dem Verpflichtungscharakter des göttlichen Gesetzes über den irdischen Souverän gilt es durch dessen wirkmächtige Inpflichtnahme gerecht zu werden. Zweitens suchen sie pragmatische Erwägungen der politischen Stabilität angemessen einzuholen. Hier wird sich von der tatsächlichen Geltendmachung eines Widerstandsrechts behutsam distanziert, und zwar nicht unter Absehung vom normativen naturrechtlichen Fundament seiner Staatslehre, sondern unter wiederum theologischer Einbettung eben dieser Stabilisierungsstrategien. Anders als etwa für Georg Schönborner fällt in Arnisaeus’ De Avctoritate Principum (1612) die bartolistische Distinktion vom tyrannus absque titulo und tyrannus ex parte exercitii nicht mit derjenigen von legitimem und illegitimem Widerstand zusammen. Zwar befindet auch Arnisaeus im Falle des usurpatorischen Tyrannen Widerstand als uneingeschränkt legitim, unabhängig davon, ob dieser eine gute oder schlechte Herrschaftspraxis pflegte. Demgegenüber ist die tyrannische Herrschaft des legitimen Herrschers jedoch nicht durchweg legitim: Hier kann theoretisch das Herrschaftsrecht verwirkt werden, womit auch in diesem Falle ein Widerstand nicht unrechtmäßig wäre. Arnisaeus lehnt es jedoch ab, hier tatsächlich von Widerstandsrecht zu sprechen: Denn der ‚vollkommene Tyrann‘ hat sich durch seine Missetaten bereits seiner Herrschaftsrechte begeben.145
144 Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz 55), S. 411f. 145 Henning Arnisaeus: De Autoritate Principum In Populorum Semper Inviolabili; Seu Quod Nulla Ex Causa Subditis Fas Sit Contra Legitimum Principem Arma Movere. Commentatio Politica Opposita Seditiosis Qvorvndam Scriptis, Qui Omnem Principum Majestatem subjiciunt censura Ephororum & populi. Straßburg 1673 [Erstdruck: Frankfurt an der Oder 1612], S. 64a (Cap. IV, Nr. 15): „Traditur enim principi in eum finem, ut illi præsit ad salute omnium, à quo si prorsus desciverit, etiam de potestate cadit, quam non alio sine sibi commissam habebat“. [Erstdruck: Frankfurt an der Oder: Thimius, 1612].
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Der Widerstand trifft also keinen Oberen mehr, gegen den er als ein besonderes Widerstandsrecht eigens juridifiziert werden müsste. Wie Dreitzel überzeugend urteilt, gelingt es Arnisaeus auch im Rahmen seines widerspruchsvollen Gewaltenteilungskonzepts nicht, das Problem zu lösen, dem sein eben nur theoretisch überzeugender Gedanke einer Legitimitätsverwirkung zu begegnen versucht.146 Er verschärft es nur: Denn bei der nicht bloß per definitionem, sondern auch per exercitium vollzogenen Entfaltung dieses Gedankens stellt sich erstens abermals die Frage nach der instanziellen Befugnis ein: Wer stellt den „Zustand, in dem alle Bürger zu Sklaven geworden sind,“147 fest, so dass der Widerstand nicht nur auf ungefestigte Vermutungen oder Einzelmeinungen fußt? Zweitens ergibt sich als zumindest zwischenzeitliches Ergebnis – nicht erst des Widerstands, sondern bereits der Souveränitätsverwirkung – der Eintritt in einen herrschaftsfreien Zustand. Man kann zum Einen vermuten, dass Arnisaeus dies vor dem Hintergrund seines politischen Aristotelismus als wenig problematisch empfindet: Die naturrechtliche Selbstregelungskraft des je schon politischen Wesens Mensch erlaubte vordergründig eine weitgehend geordnete Überbrückung dieses staatsrechtspolitischen ‚Blackouts‘.148 Zum Anderen darf man über die Wege stutzen, die Arnisaeus in der Behandlung dieser Situation tatsächlich beschreitet. Denn wie angekündigt, erläutert Arnisaeus an dieser Systemstelle vor allem zwei Gründe, den Widerstand zu unterlassen und diesen herrschaftsfreien Zustand gerade zu vermeiden. Dies sind erstens pragmatische Erwägungen, insofern die Beseitigung des Tyrannen – so gerechtfertigt sie auch sein mag – nicht die Möglichkeit ausschließt, dass ein nur tyrannischerer Herrscher nachfolgt. Dieser Möglichkeit billigt Arnisaeus offensichtlich einige Wahrscheinlichkeit zu.149 Diese Erwägungen geben ihren qua Pragmatismus säkularen Ansatzpunkt jedoch zweitens schon in dem Moment wieder preis, wo es um die in der Sache heikle Beurteilungskompetenz geht, den Tyrannen zu stürzen oder nicht, ihn gar zu töten oder nicht. Hinsichtlich der Tötungsfrage verweist Arnisaeus ihre Erörterung explizit an die Theologie weiter.150 Aber auch respektive der ersten Frage,
146 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 244. 147 Ebd., S. 235. 148 vgl. Manfred Riedel: Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie. In: ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt am Main 1975 (stw 720), S. 254–279, hier S. 259. 149 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 236; Arnisaeus: De Autoritate Principum, S. 65a (Cap. IV, Nr. 16): „Quin etiam ejecto uno Tyranno, novus plerunq; succedit multò deterior […]“ 150 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16): „Tyrannum consummatum & notorium, contra quem non datur aliud remedium, vel à subditis ipsis posse à Republ. amoveri, (nam de cæde ejus relinquimus
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der Vertreibung des Tyrannen aus dem Amt, offenbart Arnisaeus’ Argumentation einen eminent theologischen Fluchtpunkt. Arnisaeus wendet den Charakter der Tyrannis nämlich straftheologisch gerade so, dass der Tyrann nicht nur als Objekt, sondern vielmehr als Mittel der göttlichen Strafe anzunehmen ist: „Præterea, licet Deus non sustenet Tyrannos, quibus exitium ubique minitatur, prout sustenat potestatem legitimam à se ordinatam: tamen non dubium est, quin peccata subditorum puniat sævitia principum“.151 Damit werden die Untertanen unvermittelt von Klägern zu Beklagten. Das Erwehren gegen die Tyrannis ist unter dieser Perspektive keine andere als das gegen Gottes Strafe. Vor allem aber macht Arnisaeus anhand eines Lutherzitats zu den Türkenkriegen die Sündenfreiheit bzw. Befreiung von Sünden zur Bedingung eines ebenso erfolgreichen wie allererst dergestalt legitimen Widerstands.152 Da aber die Gewissensprüfung nicht nur für den Lutheraner eine letzthin immer intrinsische ist, zwischenmenschlich also nie den Status der bloßen Wahrscheinlichkeit überwinden kann, bleibt die Unternehmung des Umsturzes mit dem Risiko seiner potenziellen Rechtswidrigkeit behaftet. Deshalb erwägt Arnisaeus diese zwei Argumente zur Unterlassung des Widerstandes nicht getrennt, sondern im engen Zusammenhang: Denn mündet der Widerstand in einer noch schlimmeren Tyrannis, ist dies gerade Zeichen einer Strafe Gottes, die nunmehr deshalb schwerer ausfällt, weil die vorangegangene Strafe – der ‚weniger schreckliche‘ Tyrann – nicht angenommen wurde. Horst Dreitzel interpretiert diese Normenkollision von illegitimer Herrschaft und zeitgleich doch illegitimem Widerstand daher unzutreffend als eine von „moralischer Zulassung“ einerseits und von „Rechtsverletzung“ andererseits.153 Dem bis dahin von Arnisaeus Entwickelten gemäß ist die Selbstentrechtung des Herrschers durch seine Tyrannis nämlich nicht nur im Bereich bloßer Moralität zu verorten, wohingegen nur das Widerstandsverbot rechtsförmig wäre. Tatsächlich ist beides juridischer Natur: Genauso wie der vollkommene Tyrann sein Herrschaftsrecht verloren hat, bleibt dem Volk seine Entmachtung im Endeffekt verboten. Denn anders als bei Althusius ist die summa potestas ebenso wenig
rem piis animis considerandam, aut ex Theologorum scholis petendam) sine magno scelere.“ 151 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16). 152 Ebd., S. 64b (Cap. IV, Nr. 16): „Sicut igitur Luther rectè dixit: Frustra à nobis pugnari contra Turcam, nisi causam victoriæ toties de nobis relatæ prius amoliti fuerimus, hoc est, nisi peccata prius nostra expiaverimus“. Es sind Äußerungen Luthers wie diese, die den häufig behaupteten säkularen Charakter des politischen Regiments nicht nur in Frage stellen, sondern nachgerade widerlegen. Wer nämlich bescheidet über die für den politischen Erfolg ausreichende Sündenfreiheit der Soldaten, wenn nicht der Theologe? 153 Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 236.
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eigentliches Eigentum des Volks.154 Dieses Dilemma des Menschen zwischen zwei Normen stellt eine ebenso politisch wirksame wie juridisch gewollte Zumutung dar und diese Zumutung ist Arnisaeus nur dann widerspruchsfrei zuschreibbar, wenn sie nicht anders als rechtstheologisch gemeint ist: In der allemal ratsameren Duldung eines Tyrannen realisiert sich gerade keine juridische Aporie, solange Gott diejenige Verbotsinstanz gegen den Tyrannen ist, den zu stürzen die civitas kaum nachweisbar legitimiert ist. In dieser Duldung realisiert sich ferner keine politische Aporie, solange Gott als der einzig Einsicht und Recht Besitzende sein Verbot gegen den Tyrannen durch wirkmächtige Strafhandlungen gegen diesen realisiert. Das ist der eminent rechtstheologische wie theologisch-politologische Schluss, der aus Arnisaeus’ Lehre von der Tyrannis und dem Widerstandsrecht zu ziehen ist. Allein: Arnisaeus selbst buchstabiert diesen Schluss nicht aus.
4.1.2.6 Christoph Besold Die Synopse der Politik (1620) des Kepler-Schülers Christoph Besold (1577–1638) führt neben seinem Verhältnis zu Johann Valentin Andreae und zur Rosenkreutzerbewegung nachwievor ein Schattendasein, und zwar zu Unrecht:155 Sie kann als Ausdruck einer Staatsrechtslehre gewertet werden, die Souveränitäts- wie Nezessitätsfragen zu klären versucht, und dabei deren eigentliche fundamentale Probleme allererst aufwirft. Der Hauptschrift des zum Zeitpunkt ihres Erscheinens noch lutheranischen156 Besold merkt man nicht nur die hauptamtliche juristische Berufung ihres Autors an: Der Tübinger Ordinarius für Pandekten-
154 Vgl. Merio Scattola: Controversia de vi in principem. Vertrag, Tyrannis und Widerstand in der Auseinandersetzung zwischen Johannes Althusius und Henning Arnisaeus. In: Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.). Hg. von Angela De Benedictis, Karl-Heinz Lingens. Frankfurt am Main 2003 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 165), S. 175–249, hier S. 231. 155 Vgl. Martin Brecht: Christoph Besold: Versuche und Ansätze einer Deutung. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 11–28, hier S. 26. 156 Vgl. Laetitia Boehm: Christoph Besold (1577–1638) und die universitäre Politikwissenschaft seiner Zeit. Zum Bildungs- und Erfahrungshorizont seiner Staatslehre. In: Christoph Besold: Synopse der Politik. Übers. von Cajetan Cosmann. Hg. von Laetitia Boehm. Frankfurt am Main, Leipzig 2000 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 9), S. 291–337, hier S. 298: „Nach der Schlacht von Nördlingen (6.9.1634), die mit dem Sieg der Kaiserlichen über die Schweden zur Auflösung des protestantischen Heilbronner Bundes und zur habsburgischen Rückeroberung Württembergs führte, trat er ab 27.7.1635 in österreichische Dienste als Regierungsrat in Stuttgart […] Wohl am 9.8.1635 legte Besold öffentlich das Bekenntnis zum Katholizismus ab“. Ausführliche biographische Angaben geben Barbara Zeller-Lorenz, Wolfgang Zeller: Christoph Besold (1577–1638).
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wesen157 unterstellt praktische Handlungsfragen nicht bloß einem rechtlichen Primat, sondern beantwortet schon in den Praecognita politische und rechtliche Fragen wiederum auf theonomem Fundament.158 Unter Anwendung der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre sieht Besold im göttlichen Auftrag die Wirkursache legitimen Herrschens.159 Hinsichtlich des unübersehbar intentionalen Charakters dieses Auftrags fällt damit die letzte Finalursache mit dieser causa efficiens immer schon zusammen. Den mithin nur sekundären Zweckursachencharakter derjenigen fines des Staates, die Besold selbst bestimmt (öffentliches Wohl und öffentliche Gesittung), reflektiert er indessen nicht.160 Bildet Theonomie zwar das notwendige Legitimationsfundament, so ist Religion erklärter Maßen nicht Staatszweck: Besold argumentiert besonders gegen jesuitische Widerstandstheoretiker und redet im Resultat einer konfessionsindifferenten politischen Theonomie das Wort.161 Das Konzept der heute so genannten dualen Souveränität schlägt sich in der Distinktion der maiestas realis und der maiestas personalis nieder. Als Mittelsuche zwischen Herrschaftssouveränität und Volkssouveränität wäre Besolds Entwurf im Ergebnis nur wenig treffend beschrieben. Die maiestas realis ist nicht die des Volks, sondern die der Verfassung und des Staats als eines politischen Körpers. Die maiestas personalis des Herrschers ist nur durch die formale Bestimmung dieser maiestas realis eingeschränkt, insofern er die bestehende Ordnung im weitesten Sinne pflegen, das Staatswohl (nicht das Wohl des Volkes!) besorgen und den Staat stabilisieren soll. Allerdings kennt der Herrscher instanziell keine andere Zwangsgewalt über sich als diejenige Gottes.162 Damit stellt sich das Problem, dass im Zweifelsfall die maiestas realis keine eigene vis coerciva zur Einholung ihrer Ansprüche besitzt. Diese können nur von Gott selbst gegenüber der maiestas personalis des Herrscher eingeklagt werden – so er es denn politisch, also bereits diesseits-irdisch tut. Dies hat mit Volkssouveränität wenig zu schaffen.
Polyhistor, gefragter Consiliator und umstrittener Konvertit. In: Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät. Hg. von Ferdinand Elsener. Tübingen 1977 (Contubernium 17), S. 9–18. 157 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Besoldus, Besold, Christoph(orus). In: Killy 1, S. 506f., hier S. 506. 158 Vgl. Brecht: Christoph Besold, S. 23. 159 Christoph Besold: Synopse der Politik. Übers. von Cajetan Cosmann. Hg. von Laetitia Boehm. Frankfurt am Main, Leipzig 2000 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 9), S. 27 (Praecognita. 26). 160 Ebd., S. 28 (Praecognita. 29). 161 Ebd., S. 30–32. 162 Ebd., S. 44–46 (1. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 4–12).
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Dennoch lässt Besold dieses Problem einer fehltretenden maiestas personalis nicht völlig ungelöst. Von Strafen spricht Besold im entsprechenden Kapitel allerdings nur im Sinne der staatlichen Strafverfolgung, im Falle von Verstößen gegen das menschliche Gesetz des Staates also,163 an das der Herrscher ohnehin nicht gebunden ist.164 Die Bestrafung des Herrschers im Hinblick auf dessen Vergehen gegen göttliches und natürliches Recht behandelt Besold innerhalb dieses zweiten Buches De Conservatione Civitatis nicht. Dieses setzt allein den bestehenden, stabilen Staat voraus. Die Bindung der Mittel zur Erhaltung des Staates an das göttliche Gebot, eine mithin theonome prudentia civilis ist allerdings auch in dieser Abteilung nicht zu übersehen: Die Lehre von den Arcana bzw. der Staatsräson wird in Anlehnung an Clapmarius’ Unterscheidung von Arcana der Republik und Arcana der Herrschaftsausübung165 moraltheologisch eingehegt. Die ‚Wirkursache‘ der Arcana muss die Intention sein, gerecht zu herrschen und Gott in der Herrschaftspraxis nicht zu beleidigen.166 Auch Besold hegt also ähnlich Bornitz schon in Ansätzen die Idee, dass Klugheit als solche ohne Gott und seine Gesetze nicht zu haben sei. Dabei begründet Besold die zeitgleiche Absolutheit des Herrschers von den eigenen Staatsgesetzen durchaus ebenso pragmatisch wie rechtstheologisch: Die menschlichen Gesetze sind gegenüber dem allein umfassenden göttlichen und natürlichen Recht notwendig defizitär. Daher könne der Herrscher gar nicht gut herrschen, wenn er sich stets an die menschlichen Gesetze hielte. Er würde immer dann schlecht herrschen, wenn er sich in Situationen an den menschlichen Gesetzen orientieren würde, für die diese Gesetze gar keine Regulierungshandhabe bieten.167 Von den göttlichen wie natürlichen Gesetzen ist der Herrscher allerdings nicht gelöst. Sie drängen den Herrscher zwar nicht zur eigenen Einhaltung der Staatsgesetze als sein politisches Mittel, wohl aber drängen sie ihn zur Stabilisierung der Geltung des staatlichen Gesetzes als zu seinem politischen Ziel.168
163 Ebd., S. 192–199 (2. Buch, 1. Teil, 3. Kapitel). 164 Ebd., S. 52 (1. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 30). 165 Ebd., S. 229 (2. Buch, 1. Teil, 9. Kapitel. 3); vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status. 166 Besold: Synopse der Politik, S. 229 (2. Buch, 1. Teil, 9. Kapitel. 5): „So gewiß aber die Prinzipien solcherart von Arcana nicht zwischenzeitlich zu vernachlässigen sind, so darf für deren Wirkursache nichts anderes gehalten werden – wie es die Machiavellisten und Hofpolitiker wollen –, als daß es kein größeres und nützlicheres Arcanum gibt, als gerecht zu herrschen und Gott nicht zu beleidigen.“ 167 Ebd., S. 54 (2. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 36). 168 Ebd., S. 54f. (2. Buch, 1. Teil, 1. Kapitel. 37).
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Auf der Suche nach einer Ausformulierung des Gedankens einer göttlichen Strafe über den Herrscher – denn nichts anderes verbleibt Besold systematisch noch als legitime Auflösung desjenigen Ausnahmezustands, wie er hier interessiert – wird man nur eingeschränkt fündig. Im einzigen Kapitel des letzten Buches De Morbis Rerumpublicarum; earumque Causis, Praesagijs, Curatione etc. erfährt man zwar von der ausdrücklichen Juridizität desjenigen Aktes göttlicher Vorsehung, der eine civitas untergehen lässt: „Als gewiß kann gelten, daß die göttliche Vorsehung Königreiche nicht aus einem absoluten Entscheid heraus zerstört, sondern wegen Ungerechtigkeit und anderer Sünden der Großen oder der Untertanen […]“.169 Erstens aber führt Besold unter dem entschiedenen Verweis auf die Undurchschaubarkeit dieser Vorsehung170 nichts über Zeitpunkt und Gestalt dieser effektiven Strafhandlungen Gottes aus. Zweitens behandelt Besold mit dem Untergang der gesamten Civitas eben nur gleichermaßen eine Kollektivstrafe Gottes, jedoch nicht den spezifischen Fall eines Vergehens des Herrschers gegen das göttliche Gesetz. Hier bleibt der Fokus ganz irdisch-politisch, mithin segmental, aber nicht systematisch säkular: Denn die eigentlich dringende Frage der göttlichen Strafinstanz bleibt schlicht ausgespart. Ein Widerstandsrecht wird abgestritten; lediglich auswärtige Souveräne dürfen sich diplomatisch ins Mittel legen oder intervenieren:171 Diese subsidiäre Strafgewalt ist die einzige Form legitimierter Strafung eines straffällig gewordenen Souveräns, die Besold andenkt und wie sie auch schon von Francisco de Vitoria172 und von Philipp Melanchthon entwickelt wurde (4.4.4.2). Die göttliche Strafe gerade an der Stelle, wo es die maiestas realis gegen die maiestas personalis zu verteidigen gölte, bespricht Besold nicht, auch wenn er diese Stelle durch seine bedingt duale Souveränitätssystematik selbst markiert.
4.1.2.7 Ein Fazit aus der Perspektive Gryphius’ Im Hinblick auf diese Traditionen ist Andreas Gryphius in bestimmter Weise als ein Subjekt der politischen Ideengeschichte zu beschreiben: Er drängt auf eine befriedigende Ausformulierung derjenigen pragmatischen Folgerungen, die aus den bis dato vermehrt widerspruchsvollen Entwürfen zwischen Rechtstheologie
169 Ebd., S. 279 (4. Buch, Einziges Kapitel. 8). 170 Ebd., S. 280 (4. Buch, Einziges Kapitel): „Gleichwohl ist der Fortgang der göttlichen Vorsehung ziemlich dunkel, denn natürlich gehört er zu dem, was der göttlichen Maiestas vorbehalten ist […].“ 171 Ebd., S. 284f. (4. Buch, Einziges Kapitel. 25f.) 172 Heinz-Gerhard Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden. Köln 1991 (Theologie und Frieden 5), S. 73.
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und Frühabsolutismus allererst zu entwickeln sind. Arnisaeus etwa denkt eine per definitionem dergestalt strikte Bindung der maiestas personalis an deren politisch-theologische Herrscherpflicht, dass eine Verwirkung des Herrschaftsrechts zwar denkbar wird. Dennoch ist diese Idee sowohl für die theonomen Geltungsansprüche als auch für die politischen Dringlichkeitsinteressen des Menschen nur eingeschränkt brauchbar: Denn solange die Verwirkung des Herrschaftsrechts nur konstatiert, ein Widerstand jedoch kaum als legitimer Umsturz realisiert werden kann, bleibt die politische Gemeinschaft in den Schranken zweier letztlich göttlicher Gesetze eingegrenzt. Jedoch soll zum Einen der Glauben an die Göttlichkeit des transhumanen Gesetzes nicht erschüttert werden, insofern zumindest dem vollkommenen Tyrannen doch irgendwie strafender Einhalt geboten wird. Zum Anderen soll weiterhin gelten, dass der Untertan diesen strafenden Einhalt nicht selbst vollziehen kann oder darf. Daher muss jener arnisaeische Gedanke eben auch per exercitium an sein Ende gedacht werden. Erst in diesem Denken per exercitium vermag ein vordringlich praktisches Interesse befriedigt zu werden, weil erst hier die Antwort(en) auf diejenige Frage ausformuliert werden, was politisch gültig zu erwarten ist, wenn der Herrscher entweder schwer sündigt oder illegitim beseitigt wird. Die angeführten politischen Lehren sparen diesen Grenzfall gerade aus oder delegieren ihn weiter, wenngleich sie sich seiner bisweilen durchaus bewusst sind. Sie sind daher vordringlich Stabilisierungshandbücher. Sie lassen den Ausnahmezustand als äußerste Nezessität aus: Denn diese Frage sucht weniger nach Rat für politisches Handeln, sondern erkundigt sich nach einem politischen Geschehen, das den naturrechtlichen Befugnisbestimmungen gemäß gar nicht mehr menschlich-handlungstheoretisch beantwortet werden kann. Den Fall, dass die herrschaftliche Stabilität bereits kollabiert ist, subsumieren diese Lehren durchweg unter die eversio civitatis, d.h. den Kollaps der gesamtstaatlichen Stabilität überhaupt. Es kann hier nur angemerkt werden, dass sich schon in der Traktatistik des Frühabsolutismus derjenige Kerngedanke manifestiert findet, der erst im Diktum „L’État, c’est moi“ des ‚Hochabsolutismus‘ seinen berühmtesten Namen bekommen wird: Die implizite Identifikation von Herrschaftsstabilität und Staatsstabilität, mithin die von Herrscherperson und Staat reicht zumindest so weit, dass die Behandlung herrschaftlichen Stabilitätsverlustes unter anderen Vorzeichen als der gesamtstaatlichen eversio offensichtlich als redundant erscheint. Ein vermehrt definitorisches Denken von politischen Kategorien und ihrer Distinktionen schlägt schließlich in ein Denken um, das diese Kategorien und Distinktionen per exercitium weiterentfaltet. Dennoch ist damit nicht schon ein Säkularisierungsautomatismus in Gang gesetzt, so sehr die Interessenperspektive dieses Denkens auch diejenige des säkular-politischen Bereiches ist. Mit Andreas Gryphius soll in dieser Arbeit ein Beispiel gegen eine solche Vermutung vorge-
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stellt werden. Ohne die Ergebnisse der noch folgenden Detailuntersuchungen vorwegzunehmen: Es ist zu zeigen, dass die Forderung, geltendes natürliches Recht müsse, um politisch wirksam zu sein, auch irdisch geltend gemacht werden, noch keinen Umschlag ins profane Naturrechtsdenken bedeutet. Die traditionelle Rechtstheologie und die aus ihr abgeleitete Staatslehre wird zwar zunehmend als unbefriedigend empfunden: Dass der tyrannische Herrscher nur nach dem Tod gestraft würde, ist eine eschatologische Vertröstung, jedoch keine politische Perspektive. Nichtsdestoweniger ist die nunmehr vermehrt eingeforderte politische Perspektive nicht notwendig eine anthroponome oder gar autonome. Wenn ferner die Politiken der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts eben deshalb nur Stabilisierungshandbücher darstellen, weil sie sich in Folge von Aristoteles’ Klugheitsbegriff gerade unzuständig für Fragen der Alternativlosigkeit sahen und damit unzuständig für die Frage des echten Ausnahmezustandes, so wird auch deutlich, welche grundsätzlichen Vorteile eine dramatische Behandlung des Themas dem Dichterjuristen Gryphius bieten konnte. Die Dramenform war nicht je schon von den Bestimmungen des prudentia-Begriffes eingeschränkt wie die zeitgenössischen Politiken: Von diesen Bestimmungen war die Dramenform frei. Das Trauerspiel des Andreas Gryphius konnte sich der politischen Themen Tyrannei und Widerstand also annehmen, ohne an die Grenzen einer sozusagen gattungsspezifischen Deputation zu stoßen. Das Trauerspiel des Andreas Gryphius konnte hinter diesen Grenzen der prudentia weiter eindringen in das vordergründig rein theologische Feld göttlichen Strafens und allererst so danach fragen, inwiefern es nicht doch auch politisch und vielleicht sogar prudentiell relevant ist.
4.1.3 Antimachiavellistische Rechtslehre: Melanchthon, Suárez, Schönborner 4.1.3.1 Philipp Melanchthon Philipp Melanchthon (1497–1560) behandelt die Aporien des weltlichen Regiments ebenso ausführlich wie die Frage nach Gottes bestimmtem Verhältnis zu diesem. Diese beantwortet er – das sei hier schon angekündigt – in jener Weise, wie sie für Schönborner und besonders für Gryphius bestimmend sein wird. Dies zeigt sich in seinem Hauptwerk, den Loci theologici tertiae aetatis (1559) in voller Entfaltung, kommt aber auch schon in einer dem Titel nach von Justus Jonas, vermutlich aber in weiten Teilen von Melanchthon selbst angefertigten deutschen Fassung von 1558 (erstmals 1555) zur Geltung:173 den Heubtartikel Christ-
173 So Robert Stupperich: Melanchthons deutsche Bearbeitung seiner Loci nach der Olmützer Handschrift. Amsterdam, London 1973.
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licher Lere. Schon diese beinhaltet gegenüber den Loci secundae aetatis deutliche Erweiterungen. An dieser Stelle ist davor zu warnen, von dem eminent theologischen Charakter eines frühneuzeitlichen Traktats wie der Loci auf ein politisches Desinteresse desselben zu schließen. Die lutherische Lehre von den zwei Regimentern legt diesen Schluss systematisch zwar nahe, darf aber nicht übersehen lassen, dass schon Luther selbst die Theologie stärker politisiert als anzunehmen: Die historische Semantik und Übersetzungsforschung hat z.B. aufgezeigt, dass ausgerechnet „Luther – im Unterschied zu den voraufgehenden Bibelübersetzungen – das Lehnwort Tyrann häufig und zwar weit häufiger als die lat. oder griech. Bibel (33 Belege bei Luther, acht in der Vulgata)“ verwendet.174 Ebenso wenig schließt Melanchthons theologisches Lehrwerk politische Fragen aus: Insofern die Theologie für Fragen nach einem Deus politicus (4.4.4) eminent und allein zuständig ist, schließt sie die prudentia politica notwendig ein. Dass Werke wie das Melanchthons dementsprechend nicht das politisch, politica, prudentia regalis in ihren Titeln führten, hat vermutlich zu den wirkungsgeschichtlichen Irrtümern beigetragen, die auf der Suche nach Gryphius’ Kontexten und Übernahmen – überspitzt formuliert – nur in solchen Texten haben suchen lassen, die das politisch im Titel führten. Besonders die tertia aetas der loci 1559, aber auch schon die Heubtartikel 1558 weisen in entscheidenden Punkten ein immer schon großes politisches Interesse auf. Auf diejenigen Lehren und Folgerungen, die für Gryphius’ politische Trauerspiele, besonders für die Idee des politisch irdisch strafenden Gottes (4.4.4), von entscheidender Bedeutung sein werden, kommt Melanchthon dabei an mehreren Stellen seines Lehrwerks zu sprechen. Das ist dem topologischen Aufbau seiner Loci geschuldet, deren topoi sich nach hauptsächlich theologischen und religionspraktischen Grundfragen gliedern. Zum systematischen Aufbau der Darstellung bekennt sich Melanchthon schon explizit in der Leservorrede der Heubtartikel: Wer nützlich selbs lernen, oder andere deutlich vnterrichten vnd leren will, der mus die Heubtstücke in der selbigen Materia fassen/ von anfang bis zum ende/ vnd wol mercken/ wie ein jedes stück vff das ander volget/ gleich wie ein Bawmeister/ so er ein Haus bawen will/ den gantzen Baw zuvor in gedancken fassen/ vnd jm ein bilde fürmachen mus.175
Es wird der Systematik des theologischen Inhalts von Allgemeinem und Besonderem gefolgt. Das Bekenntnis zum ramistischen Aufbau führt jedoch nicht vom
174 Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses, S. 40. 175 CR XXII, Sp. 51.
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Status der Theologie als eigenständiger, ja übergeordneter Disziplin weg und zu einem Primat der Philosophie heran – geschweige denn, dass Melanchthon zu einer Staatsphilosophie käme, die von Gottes Gesetz entbunden ist. Vielmehr ist die Philosophie als ancilla theologiae bloße Lieferantin von Unterscheidungskategorien. Diese besitzen selbst keinen prinzipiellen Charakter dahingehend, dass sie die widerspruchsvollen Grundlagendogmen der Theologie widerlegen könnten. Die Philosophie muss sich die Verabfolgung von Schlüssen aus letztlich den Sinnen zugänglichen Grundlagen nach der via demonstrativa zur Aufgabe zu machen. Die Theologie bedient sich allein dieser via demonstrativa. Ihre Grundlagen jedoch bildet das von Gott nachweislich Gesagte. Des möglichen Vorwurfs einer Philosophisierung seines Gegenstandes ist sich Melanchthon sichtlich genauso bewusst wie des Vorwurfs einer gefährlichen Entkopplung der Staatslehre vom göttlichen Recht. Daher erweitert Melanchthon in den Loci tertiae aetatis die Leservorrede um diese Unterscheidung von philosophischen Verfahren und ihrer theologisch geleiteten Benutzung.176 Die via demonstrativa bleibt natürlich philosophisch. Die Tatsache jedoch, dass die Menschen mit ihrer Hilfe die Dinge nach Ordnung und Zahl begreifen, ist wiederum Gottes Wille geschuldet, die Philosophie mithin nicht autonom, sondern von göttlicher Lizenz: Die Menschen wurden von Gott so geschaffen, dass sie Zahlen und Ordnung erkennen und ihnen beim Erlernen jedes Dinges Zahlen und Ordnung zu Hilfe kommen. Daher wird beim Erlernen der Künste mit besonderer Sorgfalt die Ordnung der Teile aufgewiesen und ihre Anfänge, ihr Weg und ihr Ziel angezeigt. Diese Form des Erklärens nennt man in der Philosophie Methode. Diese aber wird in diesen Künsten, die auf Beweisen aufbauen, anders als in der Lehre der Kirche eingesetzt. Denn die beweisende Methode geht von demjenigen aus, das den Sinnen zugänglich ist, sowie von ersten Kenntnissen, die Prinzipien genannt werden. In der Lehre der Kirche wird allein die Ordnung benötigt, nicht aber jene beweisende Methode. Denn die Lehre der Kirche wird nicht aus Beweisen gewonnen, sondern aus dem Gesagten, das Gott durch gesicherte Offenbarungszeugnisse dem menschlichen Geschlecht überliefert hat, durch die er in seiner immensen Güte sich und seinen Willen offenbart. […] in der Lehre der Kirche liegt der Grund der Gewissheit in der Offenbarung Gottes.177
176 Vgl. Günter Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497–1560). Leipzig 1995 (Erfurter theologische Studien 67), S. 58–60. 177 CR XXII, Sp. 603f.: „Ita conditi sunt homines a Deo, ut numeros et ordinem intelligant et in discendo multum utraque re, numeris et ordine, adiuventur. Quare in artibus trandendis singulari cura monstratur ordo partium et indicantur initia, progressiones et metae. Hanc explicandi formam in Philosophia vocant Methodum, sed haec in iis artibus, quae demonstrationibus extruuntur, aliter quam in doctrina Ecclesiae instituitur. Nam demonstrativa methodus progreditur ab iis, quae sensui subiecta sunt, et a primis notitiis, quae vocantur principia. Hic in doctrina Ecclesiae tantum ordo quaeritur, non illa methodus demonstrativa. Nam haec doctrina Ecclesiae
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Die Prinzipien der Theologie sind qua Offenbarung verbürgt und bedürfen daher keines Regresses mehr auf weiter dahinterliegende Gründe. Gott ist Grund und Ursache von allem und damit der Endpunkt eines finiten Regresses. Mithin dienen die philosophischen Unterscheidungskategorien eben ausschließlich der Unterscheidung und besitzen – dies gilt auch für den Satz vom Widerspruch – keinen Absolutheitsanspruch: Kategorien im späteren kantschen Sinne von „wahren Stammbegriffen des reinen Verstandes“178 sind die philosophischen Grunddistinktionen daher genauso wenig wie diejenigen der praktischen, mithin der politischen Philosophie. Melanchthon verfolgt den Weg einer theologischen Lehre und kommt auf Fragen der Staatsrechts- und Regierungslehre dort zu sprechen, wo diese theologische Lehre es erlaubt und erfordert. Wo politische Überlegungen daher zwischenzeitlich unterbrochen scheinen, wird in der Tat die theologische Reflexion nahtlos fortgesetzt und lässt stets nur ihrer selbst entsprechend auf das Politische zurückkommen. Wie zu zeigen sein wird, wird dies gerade jener Anforderung des Ausnahmezustandes gerecht, wie sie sich den Zeitgenossen präsentierte: Das Dilemma des status necessitatis gründet nicht nur im Mangel realer Handlungsmöglichkeiten, sondern auch im Zwiespalt zweier göttlicher Gebote. Damit ist vor allem der Zwiespalt zwischen dem Verbot eines aktiven Widerstandes einerseits und dem Verbot einer Unterstützung des Tyrannen andererseits angesprochen, wie er besonders im Papinian behandelt wird. Indem der Ausnahmezustand nicht nur die menschliche Handlungsmacht übersteigt, sondern auch in göttlichen Geboten einen seiner Gründe hat, kann er nur von der Theologie erklärt und durch die Theologie gelöst werden.
4.1.3.2 Francisco Suárez Die Bedeutung des Theologen und Rechtsgelehrten Francisco Suárez (1548–1617) ist weder zu bestreiten noch zu unterschätzen. Schon 1928 zeichnet Karl Eschweiler die Rezeptionslinien nach, die vor allem Suárez’ Metaphysik nicht erst durch Leibniz erfährt: Sie bot eine „erste umfassende Synthese“, die für die „metaphysischen Tendenzen der melanchthonianischen Dialektiker ihre großartige Erfüllung“ darstellte.179 Dies war nicht allein konjekturalen Bedürfnissen geschuldet,
non ex demonstrationibus sumitur, sed ex dictis, quae Deus certis et illustribus testimoniis tradidit generi humano, per quae immense bonitate se et suam voluntatem patefecit. […] in doctrina Ecclesiae certitudinis caussa est revelatio Dei […]“ [Hervorhebungen O.B.; Übersetzung O.B.]. 178 KrV A 81|B107. 179 Karl Eschweiler: Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft 1 (1928), S. 251–325, hier S. 274f.
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insofern der protestantische Aristotelismus keine eigenständige Metaphysik entwickelt hätte.180 Auch vollzog sich die Annahme der suárezischen Metaphysik durch die lutheranischen und reformierten Hochschulen nicht allein durch Entfremdung von der eigenen Theologie, d.h. durch eine Katholisierung lutheranischen und reformierten Denkens.181 Ludger Honnefelder stellte jüngst zurecht fest, dass Suárez’ konfessionsübergreifende Wirkung ihre Ursache in den „gleichen sachlichen und historischen Beweggründe[n]“ hatte, „nämlich der theologischen Argumentation jenes unstrittige Fundament zu vermitteln, das weder den theologischen Quellen noch bloßer Aristoteles-Interpretation abzugewinnen war“.182 Gleiches gilt für Suárezʼ Rechtslehre: Wie seine Kollegen der protestantischen Rechtstheologien versuchte auch der Conimbricenser Jesuit den Anspruch des göttlichen und natürlichen Rechts gegen das pragmatistische Ansinnen zu verteidigen, dieses tauge nicht für die Praxis. Jüngste, auch eigene Forschungen waren vor allem bemüht, die suárezischen Vermittlungsleistungen „zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit“ herauszustellen.183 Dennoch reicht der Universalitätsanspruch von Suárez’ Traktat De legibus ac Deo legislatore (1612) eben soweit, auch die praktische Staatslehre in seinen Kompetenzbereich zu subsumieren. Seine Rechtslehre sieht ebenso eine Gesetzes-Hierarchie vor, aufgrund derer transhumanes Recht der weltlichen Gesetzgebung und Staatsführung nicht nur lose über-, sondern systematisch streng vorgeordnet ist.184 Dies konfligiert nicht nur mit der Idee Machiavellis, dass der Fürst in seinem Handeln von jeglicher Prärogative frei sein müsse; sondern Suárez unternimmt sowohl die normative als auch praktische Widerlegung dieser Idee. Im dritten Buch seines Rechtstraktats analysiert Suárez beobachtungsscharf die Auffassung der machiavellischen Politik, dass allererst die weltliche Macht und das weltliche Recht den politischen Zustand und die Erhaltung des Staates
180 Ebd., S. 270 181 Vgl. Ernst Lewalter: Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der iberisch-deutschen Kulturbeziehungen und zur Vorgeschichte des deutschen Idealismus. Hamburg 1935 (Ibero-amerikanische Studien 4), S. 16–19. 182 Ludger Honnefelder: Anlass, Kontext, Aufbau und Wirkung von Suárez’ Disputationes Metaphysicae. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 3–26, hier S. 8. 183 Bach, Brieskorn, Stiening (Hg.): Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. 184 Vgl. Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez; Stiening: ‚Der hohe Rang der Theologie‘? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez.
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anzielen.185 Aufgrund dieser Auffassung gelange man zur Ansicht, dass die Gerechtigkeit indifferent sei für die Gestaltung der staatlichen Gesetze genauso wie für politische Handlungsmaßnahmen: Deren Maßgabe sei allein, dass die dadurch angestrebten Güter der civitas von Nutzen sind.186 Hier nennt Suárez den großen gemeinsamen Gegner aller Rechtstheologien schließlich auch beim Namen: Haec est doctrina politicorum huius temporis, quam praecipue persuadere conatus est principibus secularibus Machiavelus solumque fundatur in hoc: quod non potest aliter temporalis respublica conservari. Unde illius iudicium perversum est: non posse esse verum regem et stabilem qui legibus virtutis astringitur eisque omnino subicitur.187
Als den fundamentalen Irrtum Machiavellis macht Suárez die Annahme aus, dass überhaupt andere Tugenden als die iustitia das Staats- und Gemeinwohl stärken könnten. Denn er stimmt dem Fiorentiner durchaus soweit zu, dass Friede und Glück des weltlichen Gemeinwesens das Ziel staatlicher Macht sind, weshalb in der Tat nur zu deren Behuf Gesetze zu erlassen sind.188 Frieden und Glück jedoch sind exklusive Gegenstände der iustitia: „Sed huiusmodi est materia iustitiae et non aliarum virtutum“.189 Suárez argumentiert nicht gegen eine utilitaristische Per spektive überhaupt. Statt einer Inadäquanz des Utilitarismus stellt Suárez die Unangemessenheit der Prämisse heraus, der gemeine Nutzen könne anders als durch die Gerechtigkeit, ja sogar entgegen dieser erreicht werden. Im Gegenteil zeigt Suárez mit Cicero und Augustinus, dass nur die Gerechtigkeit dem Nutzen als hinreichende Realisierungsbedingung genüge, den die Politici so stark hervorheben: [S]umi potest ex Augustino (lib. II De civitate, cap. 21) ubi ex Cicerone refert „concordiam esse arctissimum atque optimum in omni republica vinculum incolumitatis eamque sine iustitia nullo pacto esse posse“, significans cum illa esse posse et illam solam sufficere ad illum finem.190
185 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 2, Bd. 1, S. 210: „Una [opinio] est potestatem laicam et ius civile per se primo intendere statum politicum eiusque conservationem et augmentum […].“ 186 Ebd., III. 12. 2, Bd. 1, S. 210/212.: „[I]n ordine ad hunc finem has leges ferri sive in eis vera honestas inveniatur sive tantum simulata et apparens, dissimulando etiam illa quae iniusta sunt, si reipublicae temporali sint utilia.“ 187 Ebd., III. 12. 2, Bd. 1, S. 212. 188 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214: „[F]inis potestatis civilis est pax et felicitas temporalis reipublicae humanae. Ergo solum potest leges ferre in materia iustitiae ad pacem hanc et felicitatem conservandam.“ 189 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214. 190 Ebd., III. 12. 3, Bd. 1, S. 214 [Hervorhebung O.B.].
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Die Lehrmeinung des Machiavelli verurteilt Suárez konsequent als „völlig falsch und irrig“.191 Von der Gerechtigkeit her bestimmen sich sowohl der Begriff des Rechts, des Gesetzes192 als auch des staatlichen Gemeinwohls. Schon der Gesetzesbegriff lässt eine (staats)rechtsförmige Ungerechtigkeit schlicht nicht zu. Die Auffassung, dass ungerechte Gesetze keinen Gesetzesstatus erlangen, übernimmt Suárez hierbei schon von Thomas von Aquin.193 Suárez unterschlägt in seiner Machiavelli-Kritik nicht, dass dessen Lehrmeinung aus etablierten Rechtskorpora sogar potenziellen Zuspruch ziehen könnte – so man diese denn falsch auslegt. Diesen Fluchtpunkt hat Suárez schon im Blick, wenn er umstandslos eingesteht, dass jede Quelle der justinianischen Rechtssammlung solche vordergründigen Verrechtlichungen von Rechtlosigkeit enthalte: Potestque hic error iuvari ex legibus civilibus quae interdum sustinent et fovent actus pravos propter temporalem commoditatem, ut in lege Dolo, C. De inutilibus stipulationibus, datur actio non obstante dolo et in § Namque Institutionum, De actionibus, conceditur actio fraudulenta; et in lege Pacisci, ff. De pactis, pactum contra leges sustinetur.194
Es sind ein Kodex- genauso wie ein Institutionen- und Digestentitel, die eine solche Rechtmäßigkeit ungerechter Ansprüche konzedieren wie schlechter Absicht („dolus“), betrüglicher Klage („actio fraudulenta“) und eines gesetzeswidrigen, aber dennoch gültigen Vertrags („pactum contra leges“).195 Suárez hegt sichtlich die Befürchtung, diese Gesetze könnten aufgrund ihrer langen Tradition und hohen Autorität den Politici als unbotmäßige Unterstützung dienen. Unbotmäßig wäre dies schon deshalb, weil Codex, Institutionen und Digesten selbst nur leges civiles sind. Systematisch wäre eine Berufung auf diese daher schon deshalb unzureichend, weil sich iustitia abgesichert nur im göttlichen und natürlichen Recht findet. Allerdings unterstellt Suárez den vorgestellten justinianischen Gesetzestiteln gar nicht, tatsächlich gegen die natürliche Billigkeit und Sittlichkeit zu verstoßen und verweist auf den Kommentar des Fortunius Garcia:
191 Ebd., III. 12. 4, Bd. 1, S. 214: „Prior [sc. Machiavelli] ex his sententiis omnino falsa et erronea est.“ 192 Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. 193 STh I–II, q. 93, art. 3: „[D]icendum quod lex humana intantum habet rationem legis, inquantum est secundum rationem rectam: et secundum hoc manifestum est quod a lege aeterna derivatur. Inquantum vero a ratione recedit, sic dicitur lex iniqua: et sic non habet rationem legis, sed magis violentiae cujusdam“. Vgl. Bach: Juridische Hermeneutik. 194 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 2, Bd. 1, S. 212. 195 Cod. 8. 38. 5 (CIC 2, S. 351b); Inst. 4. 6. 4 (CIC 1, S. 47b); Dig. 2. 14. 31 (CIC 1, S. 60a).
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Ad illud autem quod ex usu legum civilium afferebatur, dicendum est imprimis nihil esse in legibus ibi citatis quod directe adversetur aequitati naturali vel honestati, quod late tractat Fortunius (in dicto tractatu De ultimo fine) vindicans ius civile ab hac tota.196
Auf Fortunius einzugehen ist hier weder der Raum noch ist dies notwendig. Festzuhalten ist zunächst, dass Suárez durchaus eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen von Naturrechtsnormen – etwa dem dolus-Verbot – abzusehen erlaubt ist. Legitim ist ihm dies jedoch gerade darum, weil es nur systematisch untergeordnete Normen des ius naturale betrifft. Ihre Aufhebung gebietet in jenen Situationen nur wiederum eine übergeordnete Norm des Naturrechts. Dass dies wiederum im weltlichen Recht kodifiziert wird, ist darum nur konsequent und nicht widersinnig. Mit der suárezischen Lehre von der Interpretation weltlicher Gesetze hat sich der Verfasser andernorts eingehend beschäftigt.197 Mit Blick auf das Problem einer machiavellisch anmutenden Erlaubnis naturrechtswidriger Gesetzgebung genügt hier deshalb folgender Umriss. Die Problematik eines Verbotes eines transhumanen Gebotes wird nicht erst von Suárez, sondern schon von Thomas von Aquin als Scheinproblem entlarvt. Thomas erläutert dies anhand des natürlichen Gesetzes, dass verwahrtes Gut dem Eigentümer auf dessen Verlangen hin wieder auszuhändigen sei. Dieses natürliche Gebot gilt jedoch genau dann nicht, wenn der Eigentümer mit dem Gut, z.B. einer Waffe, einem anderen Menschen oder dem Gemeinwesen widerrechtlich zu schaden beabsichtigt.198 Für diesen Fall ist die Herausgabe des Eigentums sowohl dem Einzelnen untersagt als auch vom weltlichen Gesetzgeber zu untersagen. Im Gegenteil wäre das Beharren eines weltlichen Gerichts auf dem naturrechtlichen Eigentumsprinzip wider das Naturrecht. Denn dieses sieht allemal die Prävalenz des Gebots der Nächstenliebe vor dem Eigentum, d.h. den höheren Rang des fünften gegenüber dem siebten Gebot vor. Diese Ansicht des Aquinaten teilt Suárez schon im zweiten Buch seiner Rechtslehre und folgert: Wir sprechen oft über solche Vorschriften in einer Weise, als wenn sie sich vollständig ohne irgendeine Bedingung in Worten darstellen ließen; in der Folge scheinen es diese Vorschrif-
196 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 12. 6, Bd. 1, S. 218. 197 Bach: Juridische Hermeneutik. 198 STh I–II q. 94, art. 4., resp.: „Ex hoc autem principio sequitur quasi conclusio propria, quod deposita sint reddenda. Et hoc quidem ut in pluribus verum est, sed potest in aliquo casu contingere quod sit damnosum, et per consequens irrationabile, si deposita reddantur; puta si aliquis petat ad impugnandam patriam. Et hoc tanto magis invenitur deficere, quanto magis ad particularia descenditur, puta si dicatur quod deposita sunt reddenda cum tali cautione, vel tali modo, quanto enim plures conditiones particulares apponuntur, tanto pluribus modis poterit deficere, ut non sit rectum vel in reddendo vel in non reddendo.“
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ten dann erdulden zu müssen, dass von ihnen eine Ausnahme gemacht wird, und dies nur, weil unsere sprachliche Wiedergabe nicht der naturrechtlichen Vorschrift, so wie sie in sich ist, gerecht wird. Denn tatsächlich erleidet die Vorschrift für sich betrachtet gar keine Ausnahme, weil ja die natürliche Vernunft selbst vorschreibt, dass dieses Gebot nur auf eine sehr bestimmte Weise und nicht anders erfüllt werden dürfe oder müsse oder nur unter bestimmten Umständen und eben dann nicht, wenn diese fehlen sollten.199
Im sechsten Buch, De Interpretatione legum humanarum, wendet Suárez dies auf diejenige obrigkeitliche Befugnis an, die schon ihrer Idee nach mit dem weltlichen und auch dem transhumanen Recht in Konflikt zu geraten droht, nämlich auf die Dispens. Insofern weltliches Recht dem natürlichen und göttlichen Recht gemäß zu sein hat, scheint Dispens nicht nur weltliches, sondern auch natürliches und göttliches Recht zu brechen. Dies ist schon souveränitätsrechtlich nicht wenig heikel, denn schließlich betont auch die suárezische Souveränitätslehre ausführlich, dass der weltliche Herrscher nicht an seine eigenen Gesetze gebunden ist.200 Wie jedoch können sich Absolutheit und Dispensabilität vom weltlichen Recht mit dem transhumanen Recht vertragen, wenn jenes diesem stets konform zu sein hat? Anders als die Monarchomachen macht Suárez deutlich, dass Konformität noch nicht Identität bedeutet. Weltliche Gesetzgebung besitzt in den Grenzen des natürlichen und göttlichen Rechts einen Spielraum, innerhalb dessen es z.B. etwas verbieten kann, was diese erlauben. Der Verfasser hat an genanntem Ort dies wie folgt ins Bild zu setzen versucht: Natürliches und göttliches Recht erlauben wohl das Schwimmen in Seen. Zum Zweck der Versorgung mit sauberem Trinkwasser verbietet das menschliche Gesetz eines Staates jedoch das Schwimmen in einem bestimmten See. Der Fürst dispendiert nunmehr einen einzelnen Untertan von diesem Verbot, und dies entweder aus gutem Grunde, etwa weil des Untertanen Kind in den See gefallen ist und gerettet werden muss. Dies stellt allerdings ohnehin ein höheres Gebot dar und wäre daher nicht eigentlich Dispens, sondern Billigkeit. Oder der Fürst dispendiert den Schwimmer ohne (gerechten) Grund, womit der Fürst nur etwas erlaubt, was vom natürlichen und göttlichen Recht ohnehin erlaubt ist. 201 Weiter trägt die autonome Rechtssetzungs- und Rechtsenthebungsgewalt der weltlichen Obrigkeit bei Suárez nicht. Alle jenen Befreiungen von naturrechtlichen Normen finden natürlich nicht im Rahmen dieses Spielraums der weltlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung statt, weil sie diesem nicht zugehören. Wenn wie in Thomas’ Beispiel vom Schwert, das dem Wahnsinnigen oder Mordlusti-
199 Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, II. 13. 7, S. 531. 200 Ders.: De legibus ac Deo legislatore, III. 35, Bd. 2, S. 322–363. 201 Bach: Juridische Hermeneutik, S. 302f.
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gen nicht zurückgegeben werden darf, das natürliche Recht auf Eigentum dem natürlichen Recht auf Leben untergeordnet wird, so vollzieht sich keine Dispens, sondern aequitas.202 Suárez ist es damit weniger um die Einengung des weltlichen Souveräns zu tun als vielmehr um den Nachweis, dass das transhumane Recht politisch umfassend leistungsfähig ist: Für alle statūs necessitatis ist im natürlichen und göttlichen Recht immer schon eine politisch machbare und rechtlich mögliche Handlungsanweisung angezeigt, die es ‚lediglich‘ aufzufinden gilt. Die Meinung der Politici, Maßnahmen im Ausnahmezustand seien entweder unmöglich rechtsförmig oder stifteten allererst Recht, hat im Lichte des Suárez also in nichts weniger ihren Grund, dass diese das ius divinum und naturale fälschlicher Weise als lückenhaft empfinden. Die iustitia ist nicht nur hehre Rechtsquelle des Staates, sondern sie ist selbst sowohl dessen als auch ihre eigene beste Verteidigerin. Machiavellisten argumentieren daher nie für, sondern stets gegen den Nutzen, den der Staat allein aus der Gerechtigkeit ziehen kann.
4.1.3.3 Georg Schönborner Als gewichtiger Ideengeber und Vorgänger von Andreas Gryphius darf sein Mentor Georg Schönborner (1579–1637) gelten. 1636 publiziert Gryphius seinen Parnassus renovatus, in dem der gerade Zwanzigjährige den hohen Rang seines Mentors poetisch denkbar stark ins Bild setzt: Niemandem Geringeren als den Göttern stellt Gryphius seinen Lehrer als Ratgeber zur Seite. Die Konfliktlagen des Olymp genausowenig überschauend wie die irdisch-menschlichen Probleme, benötigen die Götter den Rat Georg Schönborners; diesen empfiehlt Pallas Athene: „Est mihi VIR praestans studiis, sincera bonorum / Jn qvo congeries, in qvo vestigia recti, / Et mores video ductos meliore metallo“.203 Schönborner legt eine vermehrt differenzierte Sicht des machiavellischen Prudentismus an den Tag. Denn gerade indem er fundamentale Distinktionen Machiavellis sowie die Überzeugung von der pragmatischen Bedeutung der Geschichte teilt,204 vermag Schönborner eine politologische Kritik am
202 Ebd., S. 303. 203 Andreas Gryphius: Parnassus renovatus. In: Lateinische Kleinepik, Epigrammatik und Kasualdichtung. Hg., übers. u. komm. v. Beate Czapla und Ralf Georg Czapla. Berlin 2001 (Bibliothek seltener Texte 5), S. 9–35, hier S. 28. 204 Merio Scattola: ‚Historia literaria‘ als ‚historia pragmatica‘. Die pragmatische Bedeutung der Geschichtsschreibung im intellektuellen Unternehmen der Gelehrtengeschichte. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Frank Grunert, Friedrich Vollhardt. Berlin 2007, S. 37–63, besonders S. 51, Anm. 36.
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Italiener zu entwickeln, die nicht mehr nur dogmatisch auf dem Primat normativer Geltungsprinzipien beharrt, sondern in einer eigentümlichen Synthese politisch-theologischer und pragmatischer Erwägungen besteht. Über einen gerade nicht schon exklusiv rechtstheologischen Argumentationsgang, sondern vermittels einer genuin prudentiellen Perspektive wird Gott ebenso als Norminstanz gerettet, wie er als handelnder Akteur selbst in die politische Lehre eingeführt wird (4.4.5). Allzu wohlfeilen machiavellistischen Entgegnungen, dass der politische Bereich zunächst rein nonnormativ sei und daher normative Argumente diesem Bereich wesentlich unangemessen seien, weiß Schönborner mit seiner theologischen Politologie einen wirksamen Riegel vorzuschieben (4.2.3). Schönborner entnimmt die Forderung an den klugen Herrscher, „die Dinge zu erkennen und [entsprechend] auszuwählen, welche öffentlich und privat zu fliehen oder anzustreben sind“,205 bis in den Wortlsaut hinein ungenannt Justus Lipsius’ Politica:206 Klugheit ist das Mittel, Alternativen zu unterscheiden, um sich dann der Tugend gemäß für eine zu entscheiden und entsprechend zu handeln.207 Damit wird natürlich noch Aristoteles’ Unterscheidung von den dianoëtischen und ethischen Vorzügen der Tüchtigkeit übernommen.208 Schönborner misst der Klugheit genauso wie Lipsius hohe Bedeutung zu,209 wenn im Bilde des Architekten ohne Lineal und Wasserwaage ein von Klugheitserwägungen befreiter Moralismus als unwirksam diskreditiert wird.210 Dies ist Ausdruck derjenigen Konzessionen, welche die Zeitgenossen dem Pragmatismus Machiavellis um 1600 durchaus einzuräumen bereit waren: Diese als prudentia mixta umschrie-
205 Georg Schönborner: Politicorum libri septem. 7. Aufl. Amsterdam 1650, S. 160: „Post Clementiam, Prudentia Principi injungitur: quæ non aliud est, quam notitia rerum eventuumque & judicium in iis rectum: ut videlicet intelligere & deligere nôrit res, quæ publice privatimque fugiendæ, aut appetendæ, atque ea, quæ sibi, quæque aliis conducunt, dispicere possit. Arist. 4. Eth. 5 nec non præterita recordetur, futura provideat, præsentia ordinet.“. 206 Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina, lib. I, cap. VII, S. 20: „Quam [prudentiam] definio, INTELLECTVM ET DILECTVM RERVM, QUÆ PVBLICE PRIVATIMQVE FVGIENDÆ AVT APPETENDÆ“. Großschreibung im Text. 207 Ebd., S. 19f.: „VIÆ tuæ Ducem vnum habes, Virtutem: adiungo nunc alterum, quem Prudentiam dixi. Is non tuus solum, sed si inspicis, Virtutis ipsius rector, certe director. Sine prudentia enim quæ potest esse virtus? Caussa hæc. quòd Virtus omnis in Electione & Modo est: non hæc sine Prudentiâ: ergo nec Virtus. Atque vt architectis opus nullum recte processerit, sine labellâ & lineâ: non item nobis, sine normâ hac directrice.“ 208 Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1103 a14: „Διττῆς δὲ τῆς ἀρετῆς οὔσης, τῆς μὲν διανοητικῆς τῆς δὲ ἠθικῆς.“ 209 Weber: Prudentia gubernatoria, S. 111. 210 Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina, lib. I, cap. VII, S. 19.
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bene Klugheitslehre sah zum Einen den unklugen Moralisten als handlungsunfähig an. Er konnte bei aller ethischen Integrität Situationen und Sachverhalte nicht adäquat erfassen. Die prudentia mixta betrachtete aber zum Anderen den unmoralischen Pragmatiker als schädlich, denn dieser folgte trotz seiner dianoëtischen Befähigung nicht dem ethischen letzten Prinzip der Handlungsentscheidung.211 Abstrakter gesprochen: Die Zuständigkeit der prudentia besteht darin, die der προαίρεσις des Handelnden zur Wahl vorliegenden Optionen zu unterscheiden und in ihren Erfolgsaussichten zu bemessen. Der Entscheidungsgrund stellt jedoch nicht allein Machbarkeit, sondern auch und vorzüglich die moralische Güte der gewählten Option dar. Bei Aristoteles selbst spielt die Unterscheidung von technisch Machbarem und ethisch Praktikablem André Laks zufolge bemerkenswerter Weise keine Rolle für die Erläuterung der προαίρεσις.212 Dementgegen muss diese Unterscheidung für die nach-machiavellischen Staatsdenker eine eminente Bedeutung einnehmen. Erst sie kann die prudentia als entscheidungsleitende, nicht aber als entscheidungsgründende Fähigkeit und Lehre stark machen, als Mittel und Maßstab praktischer Erkenntnis, aber nicht als Geltungsgrund.213 Das Problem, das einer politischen Ideenhistoriographie hier begegnet, ist das eines historischen Homonyms: Die Zeitgenossen übertrugen in ihren
211 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 53f. und S. 60; Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus, S. 152. 212 André Laks: [Art.] Prohairesis. In: HWPh 7, S. 1451–1458, hier S. 1452. 213 Aristoteles unterschlägt den Aspekt des sittlich Guten als Zweck der Handlung durchaus nicht; im Gegenteil ist bei ihm dieser Aspekt eben nur im Hinblick auf die vorauswählende προαίρεσις, nicht aber hinsichtlich der φρονήεσις irrelevant. Auch wenn Aristoteles letztere unter den dianoëtischen Tüchtigkeiten abhandelt, sieht er in ihr ausdrücklich die gerade in der Abwägung von technisch Machbarem und ethisch Praktikablen gründende und in der Wahl eines auf den sittlichen Zweck final ausgerichteten Realisierbaren sich niederschlagende praktische Synthese von Normativität und Pragmatik gefasst: Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1140 a24–28: „Περὶ δὲ φρονήσεως οὕτως ἂν λάβοιμεν, υεωρήσαντες τίνας λέγομεν τοὺς φρονίμους. δοκεῖ δὴ φρονίμου εἷναι τὸ δύνασθαι καλῶς βουλεύσασθαι περὶ τὰ αὑτῷ ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα, οὐ κατὰ μέρος, οἷον ποῖα πρὸς ὑγάιαν ἢ ἐσχύν, ἀλλὰ ποῖα πρὸς τὸ εὖ ζῆν.“ / „Was Klugheit sei, können wir daraus lernen, dass wir betrachten, welche Menschen wir klug nennen. Ein kluger Mann scheint sich darin zu zeigen, dass er wohl zu überlegen versteht, was ihm gut und nützlich ist, nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in Bezug auf Gesundheit und Kraft, sondern in Bezug auf das gute Leben“. Übers. nach Rolfes/Bien: ders.: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hg. von Günther Bien. 4., durchgesehene Aufl. Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 5), S. 135 [Hervorhebungen O.B.]. Reiner Wimmer hält zu Recht fest, dass für Aristoteles ebenso wie schon für Plato die Klugheit immer sittlich gute Klugheit meint (Reiner Wimmer: [Art.] Klugheit. In: EPhW 2, S. 413–415, hier S. 413f.).
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Aristoteles-Übersetzungen den terminus technicus φρονήσις mit prudentia.214 Damit war mit diesem lateinischen Wort zum Einen diejenige praktische Erkenntniskraft angezeigt war, die Technik und Ethik, Machbares und Gutes in der Entscheidungsfindung subsumiert. Zum Anderen konzipierten sie selbst die prudentia bzw. das, was sie selbst mit prudentia bezeichneten, gerade nicht gemäß Aristoteles’ Begriff der φρονήσις. Sie meinten damit diejenige praktische Erkenntniskraft, welche die Wahloptionen nur erkennt, von der aber die entscheidungsgründenden ethischen Tugenden klar unterschieden sind. Dasselbe Wort prudentia beschreibt Anfang des siebzehnten Jahrhunderts also zwei unterschiedliche Gegenstände, zwischen denen ein Inklusionsverhältnis herrscht: Prudentia steht für ein Ganzes und ein ihm untergeordneten Teil gleichzeitig: die Lehre von der sittlich guten Entscheidung überhaupt sowie die zunächst nur technisch sinnvolle Alternativenfindung im Speziellen. Schönborner spitzt ebenso wie Aristoteles und Lipsius die Klugheit auf die sittliche Klugheit zu. Die guten Sitten haben schon in die Ausbildung des Herrschers zu zählen. Schönborner übernimmt also exakt Lipsius’ Begriff von prudentia: Denn wenn er davon spricht, dass großartige Lehren auch zu schändlichen Zielen führen können, so macht er deutlich, dass ihm das gute Ziel dem Begriff nach noch nicht in der Klugheit und ihrer Lehre enthalten ist: „In his omnibus nihil ornamenti deprehendes, quam præditos eos fuisse doctrina eximia; quam tamen fœdis suis factis conspurcarunt. Et quid doctrina absque moribus?“.215 Dennoch ist, wenn schon nicht terminologisch, so doch normativ, das kluge Handeln auf das sittlich Gute abzustellen. Denn auf Schönborners rhetorische Frage, „was eine solche Lehre ohne die Sitten“ sei, kann die zeitgenössische Antwort nur lauten: Machiavellismus. Aber gerade von diesem übernimmt Schönborner wie Lipsius die Erkenntnis, dass Zweck noch nicht den guten Zweck, zweckrationales Handeln noch nicht hinreichend das moralisch richtige Handeln bedeuten. Diesen machiavellischen
214 Vgl. Aristoteles: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλία Δέκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum, Lib. X. Ita Graecis interpretatione recenticum Latinis coniunctis, vt fermè singula respondeant, in eorum gratiam qui Graeca cum Latinis comparare volunt. Paris: Adrianus Turnebus, 1555, S. 130; ders.: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλια Δεκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum Libri Decem ab Antonio Riccobono Latine conversi: capitum partitionibus, ac periochis distincti […]. Hannover: Haeredes Claudii Marnii, 1610, S. 238; ders.: Αριστοτελους Ηθικων Νικομαχειων Βιβλία Δέκα. Aristotelis Ethicorum ad Nicomachum Libri Decem. Cum Dionysii Lambini Versione Latina, à Matthia Bergio interpolata. Accesserunt huic Editioni […] Singulorum capitum Summaria, & in Paragraphos sectio. Cura Samuelis Rachelii. Helmstädt: Henning Müller, 1660, S. 180. 215 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 163.
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Begriff von klugem Handeln teilt Schönborner mit Lipsius, gibt also die bei Aristoteles im Begriff selbst schon verborgen normative Stoßrichtung preis. Ist dem Klugheitsbegriff die Normativität nunmehr zwar äußerlich, so wird im Gegenzug der Endzweck jeder politischen Handlung umso deutlicher als gottgewollt gekennzeichnet.216 Erst das korrekte Verständnis von Machiavellis Moralindifferentismus gestattet Schönborner eine Kritik sowohl gegen unmoralisches als auch gegen nur opportun moralisches Handeln. Schönborner teilt mit Justus Lipsius zwar die Auffassung Machiavellis, dass mit Zweckrationalismus noch nichts über die Güte der Zwecke ausgesagt ist. Er unterscheidet aber von diesem Pragmatismus insofern seinen Prudentismus, als diesem das Gute, personifiziert und politisch umgesetzt im irdisch handelnden Gott, doch notwendiger Gegenstand sein muss. Schönborner kann Gott politisieren, indem er ihn aus einer exklusiv heilsgeschichtlichen Zuständigkeit befreit. Die politischen Handlungsanweisungen Schönborners sind vergleichsweise knapp und in ramistischer Form gehalten,217 dabei verhältnismäßig von eingehenden Reflexionen entschlackt, blickt man etwa auf die eingehenden Abwägungen, wie man sie bei Francisco Suárez vorfindet.218 Einzig die Frage der Tyrannis wie des Widerstandes empfindet Schönborner in einer Weise als dringend, dass er ihnen größere Aufmerksamkeit widmet und selbstständige Reflexionen anstellt. Im Rahmen dieser Überlegungen kommt auch der politisch, d.h. im Irdischen handelnde Gott zur vollen Entfaltung. Hierauf ist erst unten, vor allem in 4.4.5, zurückzukommen, nachdem in 4.2.3 Schönborners Grundlagen hinrei-
216 Hinsichtlich der oben erläuterten historischen Homonymie von prudentia1 (praktische Erkenntnis des Machbaren und Guten) und prudentia2 (praktische Erkenntnis des Machbaren) liegt also das merologische Verhältnis der Begriffe mit ihrem Verhältnis als Allgemeines und Besonderes in bemerkenswerter Weise über Kreuz: Obwohl im Sinne der φρονήσις Aristoteles’ prudentia2 disziplinärer Teil von prudentia1 ist, ist sie nichtsdestoweniger gegenüber prudentia1 das begriffslogische Allgemeine, insofern sie jedwede Zweckrationalität in ihrem Begriff fasst und eine sittlich gute Zweckrationalität in der Bedeutung von prudentia1 nur ihr Besonderes darstellt. In diesem Über-Kreuz-Liegen liegt die Spannung der neoaristotelischen Politiken der Frühen Neuzeit begründet: Staatsrechtslehrer wie Schönborner und Lipsius lehnen Machiavellis Pragmatismus zwar wegen seiner moralischen Indifferenz ab und bekräftigen die Subsumtion des Zweckrationalen unter das moralisch Gute, nicht nur um Aristoteles’ φρονήσις die wissenschaftliche Geltung zu erhalten, sondern auch aus letztlich polittheologischen Überzeugungen, die hier erst noch zu erläutern sind; gleichzeitig müssen sie Machiavelli aber wegen seiner größeren begriffslogischen Exaktheit ernst nehmen. 217 Vgl. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: 1600–1800, S. 118f. 218 Vgl. Stiening: Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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chend erläutert wurden. An dieser Stelle ist dem nur in den Punkten zum Machiavellismus vorzugreifen. Bevor Schönborner auf die politische Klugheit selbst als Tugend zu sprechen kommt, spricht er von der clementia, der er wie der Sittlichkeit einen hohen Rang einräumt. War diese ihm die ‚Fackelträgerin‘ aller Tugenden gewesen, so ist ihm unter Berufung auf Seneca die „Milde eine der eigentümlichen Tugenden, die am Steuerruder der Dinge sitzen“.219 Mit dieser Würdigung der Milde stellt Schönborner die der Stittlichkeit nicht unbedingt in Frage. In der Rangfolge geht die castitas der clementia wie den anderen Tugenden voran. Mit dem Bild vom Steuerruder jedoch scheint Schönborner der Milde dennoch die eigentliche operative Wirksamkeit zuzusprechen. Dabei betont Schönborner jedoch ebenso die Wirkung der clementia für die Erscheinung des Fürsten, wenn er sie als Schmuck bezeichnet: „Nullumque ornamentum Principis fastigio dignius, pulchriusque est, quam illa corona ob cives servatos“.220 Schönborner stützt sich hier zwar auf den das Telos der Herrschaft bildenden Gemeinwohlgedanken und nicht wie Machiavelli auf ein fundamentales Stabilitätsprinzip. Gleichwohl scheint schon mit der Rede vom ornamentum und der damit einhergehenden Wendung in die Sphäre von Erscheinen und Wahrnehmen eine Zuspitzung auf die Stabilität der Herrschaft durch. Diese mag in diesem Satz durchaus noch eher en passant, als willkommener Effekt, nicht als stets schon angezielter Zweck plausibilisierbar sein. Allerdings entwickelt Schönborner daraus wenige Sätze später in prudentieller Hinsicht einen Lehrsatz, der eigentlich der machiavellischen Klugheitslehre gerecht wird: „Errat, si quis existimat tutum esse ibi regem, ubi nihil à rege tutum est“.221 Diese Feststellung ist vermehrt prudentieller Natur und sie ist dies umso mehr, als Schönborner diesem Lehrsatz unverbunden die Feststellung folgen lässt, dass „Sicherheit durch gegenseitige Sicherheit bedingt“ sei: „Securitas securitate mutua paciscenda est“.222 Es geht um Sicherheit, d.h. Stabilität mit begründungslogischem Rang, dergegenüber in der Folge die zwar rhetorisch als Grund stark gemachte Tugend der Milde auch Schönborner unter den Händen zum bloßen Mittel dieser anvisierten Stabilität verkümmert. Die Erkenntnis, dass ein immer gegen die Moral erfolgendes Handeln des Fürsten gerade nicht klug wäre, stellt die prudentistische Wendung des Tugend-
219 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 158: „Clementia propria eorum virtus est, qui ad gubernacula rerum sedent.“ 220 Ebd., S. 159. 221 Ebd. 222 Ebd.
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argumentes dar und strebt der Sache nach gegen die üblichen antimachiavellistischen Fehlinterpretationen des Principe durch die Zeitgenossen und wird eine starke Wirkung auf Gryphius ausüben. Machiavellis wohl meistzitierter Satz, „Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein“,223 wurde vom zeitgenössischen Antimachiavellismus häufig in der Art ausgelegt, dass der Fürst notwendig und immer naturrechtswidrig bzw. wider die Moral handeln müsse. Bei dieser Auslegung wird jedoch der zweite Halbsatz Machiavellis unterschlagen: Der Fürst soll nämlich „[…] diese [i.e. Fähigkeit, O.B.] anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit“.224 Die für Machiavellis politische Klugheitslehre zu Recht konstatierte moralische Indifferenz meint, dass das politische Handeln weder notwendig naturrechtskonform noch notwendig naturrechtswidrig sein muss. Für Schönborners Fall ist daher festzuhalten, dass ihm das Begriffspaar klug/ unklug mehr interesseleitende Kategorie geworden ist, als er dies, der vordergründigen, expliziten Systematik seines Werks nach zu schließen, wohl eigentlich wollte. Georg Schönborner ist daher schon hier als Phänomen einer bemerkenswerten Zwischenstufe in der Wirkungsgeschichte des Machiavellismus festzuhalten: Hier hat in der theoretischen Sache weder eine bloße Ablehnung Machiavellis statt noch werden wie etwa bei Francisco Suárez bewusst Leerstellen der machiavellischen Lehre unter Anerkennung ihrer Problemstellung gefüllt mit moraltheologischer und rechtsphilosophischer Legitimationstheorie, die Machiavelli letztlich doch diskreditieren sollen und müssen.225 Bei Schönborner schleicht sich Machiavelli in eine der Absicht nach aristotelische Politica nachgerade ein.
4.1.4 Staatsräson als Gebot der Nächstenliebe: Luis de Molinas Versuch einer Reethisierung Auf Luis de Molina (1535–1600), wie Suárez ein Gewächs der Schule von Salamanca und Professor für Philosophie und Moraltheologie in Coimbra und Madrid, kann hier nur in gebotener Kürze eingegangen werden. Es gilt sich gewahr zu werden, wie weit die Versuche seitens der Theologie teilweise tragen, den status
223 Niccolò Machiavelli: Il Principe / Der Fürst. Italienisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Philipp Rippel. Stuttgart 1986 (RUB 1219), XV, S. 118/119: „Onde è necessario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono [...].“ 224 Ebd.: „[...] e usarlo e non lʼusare secondo la necessità“ [Hervorhebung O.B.]. 225 Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III).
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necessitatis und die Staatsräson in die Rechtstheologie einzubetten und unter das göttliche Gesetz zu subsumieren. Daher darf der Rechtstheologe der Societas Jesu hier nicht übergangen werden. Nicht nur innerhalb seines eigenen, des sechzehnten Jahrhunderts, sondern auch innerhalb des siebzehnten Jahrhunderts darf Luis de Molina als derjenige Rechtsdenker gelten, der die Staatsräson umfassend auf göttliches Recht zurückzuführen versucht, d.h. auch in ihren radikalen, um nicht zu sagen: machiavellistischsten Dimensionen. Dabei leistet auch Molina seinen Beitrag zum Völkerrecht und sieht ebenso wie Vitoria und Suárez eine Interventionsbefugnis von Souveränen über Souveräne gegeben, die es gestattet, obrigkeitliche Vergehen gegen das ius naturae, gentium oder gar divinum wirkmächtig zu ahnden. Dies gilt aus speziell missionarischen Gründen,226 aber auch allgemein das Recht auf Leben kann zur iusta causa eines Krieges werden: „Jeder Behinderung von Leben müsse ein Recht als Behinderung der Behinderung entgegentreten können, dessen Arsenal bis hin zur Todesverhängung zu reichen habe“.227 Wenn es jedoch um die Subjekte dieses Verhinderungsrechts geht, zeigt sich, dass dieses nur bei anderen Souveränen liegt. Daher mögen Unrechtstaten eines Herrschers durchaus evident auf der Hand liegen, dennoch wäre ein Vorgehen seiner Untertanen gegen ihn rechtswidrig. Von den Monarchomachen, die dem Gemeinwesen ein Entlassungsrecht zuschreiben, wendet Molina sich ab.228 Dass Molina jegliches Eingriffsrecht der Untertanen gegen Unrechtstaten ihres Herrschers als nichtig und unter keinerlei Bedingung konzedierbar denkt, zeigen seine Ausführungen zum Notwehrrecht in seinem rechtstheologischen Opus Magnum De Justitia et Jure (erschienen 1595–1609). Was eine Notwehrsituation unter Gleichrangigen betrifft, räumt Molina nicht nur ein Notwehrrecht ein, sondern sieht sogar eine Notwehrpflicht gegeben, durch die der Angegriffene unter Androhung der Todesstrafe (!) gehalten ist, den Angreifer zu töten, wenn das erstens möglich ist und das eigene Leben zweitens nicht anders geschützt
226 Vgl. Matthias Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik. Hg. von Matthias Kaufmann, Robert Schnepf. Berlin 2007 (Treffpunkt Philosophie 8), S. 205–226, hier S. 223f.; vgl. auch Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘ – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas. 227 Norbert Brieskorn: Luis de Molinas Weiterentwicklung der Kriegsethik und des Kriegsrechts der Scholastik. In: Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit I. Hg. von Norbert Brieskorn, Markus Riedenauer. Stuttgart u.a. 2000 (Theologie und Frieden 19), S. 167–190, hier S. 174. 228 Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei, S. 223.
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werden kann. Grund für diese Stärkung der Notwehr in dieser Hinsicht ist das Gebot der Nächstenliebe: Ducitur, primō, quoniam caritatis ordo obligat sub culpa lethali in re graui: sed ordine caritatis vita propria præferri: debet alienæ, amissioque propriæ vitæ est res grauis: ergo aggressus sub reatu lethalis culpæ tenetur interficere aggressorem si possit, quando aliter conseruare non potest vitam propriam. 229
Es ist nicht das Leben selbst, das als allein notwendige und hinreichende Bedingung der Notwehr gedacht wird. Insofern das Leben anderen geschuldet wird, ist es nicht eigentlich Akt einer Notwehr, sondern der Liebe zum Nächsten, um dessentwillen das eigene Leben erhalten wird. Diesem gereicht das eigene Leben der Möglichkeit nach zum Nutzen oder besser noch zum Heil. Dies bedeutet für Molina eine verstärkte Notwehrpflicht bei demjenigen, der als politische Führungsperson oder Vater für viele andere Menschenleben verantwortlich ist: Quando aggressus persona esset, cuius vita multum Reipublicæ, vel in spiritualibus vel in temporalibus, referret, teneretur sub reatu culpæ lethalis interficere aggressorem, si posset, vt vitam suam conseruaret. […] Quamuis enim cedere potest iuri suo, permittendo se ab aggressore interfici […]: non tamen posset cedere iuri suorum, quibus vita ipsius est necessaria, & quibus alimento, educationem, ac protectionem debet, quæ à vita ipsius pendent.230
Hier ist die unterlassene Notwehr ein rücksichtloses Vergehen an den Leben Anderer, denen diese Rücksicht aufgrund der lex charitatis geschuldet gewesen wäre. Das Notwehrrecht gilt ebenso wenig unbedingt, wie es einen unbedingten Anspruch auf das eigene Leben gäbe. Die Nächstenliebe ist allein die notwendige Bedingung des Schutzes der Nächsten. Was zu diesem Schutzinteresse als hinreichende Bedingung hinzutritt, ist allerdings variabel. Daher ist das Gebot der Nächstenliebe der Grund dafür, dass Notwehrpflicht ebenso wie Notwehrrecht eben nur bedingt statthaben. Die lex charitatis kann unter anderen gegebenen Umständen das genaue Gegenteil gebieten: Quando aggressor esset talis, cuius vita multum Reipublicæ interesset, aggressus verō esset persona communis, tunc aggressus sub reatu lethalis culpæ teneretur potiùs mortem pati, quam in sui defensionem talem interficere injustum aggressorem. Ratio autem est, quoniam lege caritatis teneretur præferre tantum commune bonum suæ proriæ vitæ.231
229 Luis de Molina: De justitia et jure. Mainz 1659, Tomus 4, Sp. 570 (Tract. 3, disp. 14). 230 Ebd. [Hervorhebung O.B.]. 231 Ebd.
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Hier ist die vollzogene Notwehr ein rücksichtsloses Vergehen an den Leben Anderer, denen diese Rücksicht durch das Gebot der Nächstenliebe geschuldet worden wäre. Ist das Leben Einzelner für das Gemeinwesen von besonderem Interesse, so ist dieses Leben nicht nur dann schützenswert, wenn dieser selbst der Angegriffene ist. Die Pflicht, sein Leben um des Gemeinwohls willen zu erhalten, besteht interpersonell auch dann, wenn er der Angreifer ist. Das Notwehrrecht besteht beim Angegriffen aus denselben Gründen nicht,232 wie es unter anderen Umständen besteht: der Nächstenliebe und dem Schutz anderer Leben, zu deren Realisierung das eigene Leben mal zu erhalten, mal zu opfern ist. Das ist weniger ein bloßer Vermittlungs-, sondern im starken Sinne ein Einbettungsversuch. Denn durch die eigentümliche Argumentation, wie Molina die Nächstenliebe als Fundament anführt, werden die Nezessität und mithin die Willkürbefugnisse des Herrschers, wie sie bei Machiavelli bestehen, gar nicht eingeschränkt oder abgemildert. Vom Souverän aus wird nicht argumentiert, sondern von der Pflicht des Untertanen, gegenüber dem Herrscher auf sein Notwehrrecht verzichten zu müssen, und zwar unter Absehung der Motivation des Fürsten. Die Anführung der lex charitatis ist für Molina gerade das Argument, das davon zu abstrahieren erlaubt: Der Untertan hat den eigenen Tod, auch den willkürlichen und zweckfreien, durch den König deshalb zu dulden, weil ihm die Nächstenliebe gebietet, den anderen Untertanen ihren König zu erhalten. Dieser ist, seiner situativen Willkür und Grausamkeit zum Trotz noch allemal der Geeignetste zur Staatsführung. Ihn in Notwehr zu töten, bedeutete, den ganzen Staat und mit ihm alle Mituntertanen zu gefährden. Diese Gefährdung verbietet das Gebot der Nächstenliebe. Dadurch behält er sein Herrschafts- und Lebensrecht auch dann noch, wenn er am Einzelnen – Molina sagt es selbst – Unrecht verübt („injustus aggressor“). Damit werden auch alle im Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen in ihrem vollen machiavellischen Umfang theologisiert, d.h. durch die Rechtstheologie nicht eingeschränkt, sondern begründet. Anders als Mattthias Kaufmann angibt, ist Molina in der Tat nicht weit von Hobbes’ Konstruktion eines vollständigen Rechtsverzichts entfernt.233 Mithilfe des Gebots der Nächstenliebe wird das Souveränitätsrecht als Recht auf Unrecht sogar enorm gestärkt.
232 Vgl. auch Eckehard Quin: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600. Berlin 1999 (Beiträge zur politischen Wissenschaft 109), S. 567f. 233 Kaufmann: Luis de Molina über subjektive Rechte, Herrschaft und Sklaverei, S. 223.
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4.1.5 Einig im Antimachiavellismus: Schlesien und die religions- und bildungshistorischen Dispositive eines politischen Denkstils Warum nach Schlesien? Warum nicht nach Schlesien? Golo Mann, Wallenstein234
Möchte man die Herausforderung begreifen, die der Machiavellismus ebenso wie seine versuchten Entgegnungen für Gryphius darstellten, ist der Blick auch nach Schlesien zu werfen. „Warum nach Schlesien? Warum nicht nach Schlesien?“ – Es ist diejenige Frage nicht gering zu achten, wie sich das Problem des Ausnahmezustandes, des Herrschafts- und Souveränitätsrechts dem Schlesier Gryphius präsentierte. Diese Frage drängt sich in doppelter Hinsicht auf: zum Einen in einer gleichermaßen spezifisch schlesischen Problemgeschichte der politischen Theologie, zum Anderen in der speziell schlesischen Bildungs- und Ideengeschichte, die der Bewältigung dieses Problems nur eingeschränkte Ressourcen bot. Was erlaubt oder gebietet politische Theologie dem evangelischen Schlesier, mit Blick auf die Auseinandersetzungen mit der katholischen Obrigkeit Habsburg zu denken – und zu tun? Was kann der evangelische Schlesier diesbezüglich überhaupt zu denken erlernen? Die große Studie Herbert Schöfflers Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung darf nach wie vor als Standardwerk zur Religions-, Geistesund Bildungsgeschichte Schlesiens gelten. Seit ihrer zweiten Auflage 1956 hat sie kaum nennenswerten Widerspruch erfahren. Die verdienstvollen Arbeiten und Impulse, die allen voran Gerhard Kosellek in diesem Bereich gegeben hat, sind weniger als Widersprüche zu werten denn als Vertiefungen und Differenzierungen. Die große These Schöfflers spiegelt sich freilich schon im allgemeingeschichtlichen Titel seines Buches wider: Dass es sich nämlich auf den besonderen Fall Schlesiens konzentriert, offenbart erst Schöfflers Vorbemerkung: Im katholisch regierten und lutherisch bevölkerten Schlesien, wo confessio Augustana und Tridentina durcheinanderwohnt, kann das Spektrum der verschiedenen Geisteshaltungen durch das Prisma der historischen Gegebenheiten wie in einen Brennpunkt zusammengestrahlt werden.235
Schöfflers Fokus auf Schlesien bedeutet für ihn gerade keinen geistesgeschichtlich unzulässigen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, sondern das All-
234 Golo Mann: Wallenstein. Frankfurt am Main 1971, S. 711. 235 Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, Vorbemerkung zur Neuausgabe [nicht paginiert].
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gemeine ballt sich im Einzelfall: Schlesien ist nicht meritologisch als Teil mitteleuropäischer Geistesgeschichte zu verstehen, sondern als ihr konzentrierter Ausdruck. Schon aus der Sicht einer konfessionshistorischen Geistesgeschichte lässt sich die Situation des gebildeten Schlesiers im siebzehnten Jahrhundert im Sinne einer Trias von lutheranischen, katholischen und calvinistischen Einflüssen ausdrücken: Der Lutheraner wird durch die Gegenreformation „in hundert kleinen und großen Einsprengseln“236 geprägt, um schließlich in Holland, vorzugsweise in Leiden, zu studieren und dort mit calvinistischer Kultur in Berührung zu kommen.237 Besonders mit Blick auf das Verhältnis des Protestantismus zum Katholizismus hält Siegfried Wollgast zu Recht fest: Freilich hat sich auch das protestantische Schlesien den künstlerischen und literarischen Einflüssen aus dem Süden, die von den Brennpunkten der katholischen Kultur seines Herrscherhauses weiterstrahlten, bereitwillig geöffnet. Die Blüte der Dichtung in der habsburgischen Zeit ist wesentlich auf diese Mittlerstellung zurückzuführen. Andreas Gryphius und Johannes Scheffler sind z.B. ohne diese geistige Lage nicht vorstellbar.238
Dass zumindest der Rechtsdenker Andreas Gryphius auch Elemente katholischer Scholastik aufnimmt, wird diese Untersuchung schließlich zeigen.
4.1.5.1 Politische Theologie und Konfession: Das bestimmte Interesse der Evangelischen in Glogau Als Gryphius am 3. Mai 1649 zum Glogauer Syndikus vereidigt wird,239 ist der Krieg noch kein Jahr vorbei und Niederschlesien hat den zwischenzeitlichen Höhepunkt der Gegenreformation noch vor sich: In den Jahren 1653 und 1654 werden so viele evangelische Kirchen geschlossen, dass Gottesdienste u.a. nur noch in Friedenskirchen wie derjenigen Glogaus stattfinden konnten.240 Es nimmt daher
236 Ebd., S. 27; vgl. auch Arno Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Hg. von Mirosława Czarnecka u.a. Breslau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 63–69, hier S. 66. 237 So vor allem Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 57. 238 Siegfried Wollgast: Morphologie schlesischer Religiosität in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S.113–190, hier S. 116. 239 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 39. 240 Vgl. Jan Harasimovic: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2010 (Neue Forschungen zur schlesi-
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nicht wunder, dass Gryphius in diesem Amt 1653 mit der Edition der Glogauisches Fürstenthumbs Landes Privilegia den Nachweis unternimmt, dass die Ansprüche der evanglischen Stände in Schlesien nicht lediglich einseitig beschränkte Aufenthaltsbefugnisse sind. Wären sie nur solche, würden sie nur von den Folgen der Rechtsfreiheit dispensieren (vor allem Vertreibung). Diese Rechtsfreiheit bliebe jedoch allemal beibehalten und die folglich nur temporäre Dispens könnte jederzeit wieder zurückgenommen werden. Gryphius ging es insbesondere um den Rechtscharakter der Zugeständnisse an die Evangelischen in Großglogau. In seiner Dokumentensammlung ließ Gryphius hoheitliche Urkunden von 1310 bis 1652 abdrucken, deren bedeutendste Sektion die Erteilungs- und Erneuerungserklärungen der Privilegien durch die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von Maximilian II. (1571) bis zu Ferdinand III. (1638) abbildet.241 Diese Privilegien gestatteten ohne Zweifel nur eine regional eingeschränkte, besonders aber nur abkünftige Souveränität der evangelischen Stände Glogaus gegenüber katholischen Übergriffstendenzen. Was die habsburgische Obrigkeit betrifft, werden auch Privilegien letztlich nur eingeräumt und bleiben gerade mit der Gnade juristisch wie rechtstheologisch eng verbunden. Die mangelnde Allgemeinheit des Privilegs als ius singularis stellt für die Rechtslehre vor Hobbes, Rousseau und Kant allerdings kein Problem für den Rechts- und Gesetzescharakter des Privilegs dar, wie Merio Scattola jüngst nachweisen konnte:242 Das Privileg lebt gerade von der Anerkennung derjenigen Instanz, die es erteilt – unabhängig davon, wie umfangreich diese Vorrechte sind: Von einem ‚Aufbegehren‘ Gryphius’ kann
schen Geschichte 21), S. 7; Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts, S. 65. 241 Andreas Gryphius (Hg.): Glogauisches Fürstenthumbs Landes Privilegia aus denn Originalen an tag gegeben Von Andrea Gryphio. Lissa 1653, S. 117–127. Vgl. Dirk Lentfer: Die Glogauer Landesprivilegien des Andreas Gryphius von 1653. Frankfurt am Main u.a. 1996 (Rechtshistorische Reihe 147), S. 51–54. 242 Merio Scattola: Das Privileg des Gesetzes. Francisco Suárez und die alte Lehre des Vorrechts (DL VIII). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 333–367, hier S. 342: „[W]enn sie [sc. die ältere Rechtslehre] das Gesetz definierte, verlangte sie von ihm keine Eigenschaft der Allgemeinheit. Gesetz war nämlich eine öffentliche Maßnahme zur Besorgung des Gemeinguts, das immer inhaltlich, d.h. im Sinne einer materiellen Gerechtigkeit, definiert wurde und sich daher auf unterschiedliche Subjekte als deren Träger, Erzeuger oder Ziele beziehen konnte: allgemeine, besondere oder sogar einzelne Subjekte. In diesem Sinn konnte das Privileg als eine echte Art des Gesetzes gelten und wurde eigentlich als ein ‚privates Gesetz‘ definiert, was in neuzeitlicher Auffassung ein klarer Widerspruch wäre.“
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in dieser Hinsicht daher nicht die Rede sein.243 Dass sich allerdings schon ein Pochen auf diese iura singularia gegen die habsburgische Obrigkeit allein wegen deren Souveränität verboten hätte,244 deren Recht Gryphius hier und andernorts enorm stärkt, muss allerdings ein tendenzieller Widerspruch bleiben, den Gryphius ebensowenig wie die Privilegientheorie aufzulösen in der Lage war. Dieser unmittelbare Blick in die politische Gegenwart Schlesiens lohnt natürlich nicht zuletzt, weil sie Gryphius’ eigene Amtstätigkeit betrifft. Jedoch lohnt er auch gerade, weil die zeitgenössische Bewertung von Gryphius’ Syndikat Aufschlussreiches über die geistesgeschichtliche Lage der Evangelischen in Glogau bereithält – besonders, wenn es darum geht, Gryphius politische Theologie und ihre Anschlussnahmen verstehen zu wollen. Es wurde soeben schon gezeigt, dass die Verteidigung der evangelischen Privilegien rechtsphilosophisch die Anerkennung der katholischen Obrigkeit mehr voraussetzte, als dass sie Widerstand bedeutet hätte. Die Stärkung der eigenen politischen Ansprüche des evangelischen Glogaus stellte diejenigen Habsburgs systematisch tatsächlich nicht wirklich in Frage. Ebensowenig bedeuteten solche Statusstärkungen seitens der Lutheraner die notwendige Ablehnung katholischer Größen. Es wird augenscheinlich nicht als Widerspruch empfunden, wenn Gryphius’ erster Biograph Baltzer Siegmund von Stosch bei der Leichenrede 1664 den verstorbenen Syndikus mit Cardinal Richelieu vergleicht. Genau wie Andreas Gryphius eine ‚Säule‘ seines Fürstentums war, war Richelieu eine Säule Frankreichs wie ganz Europas: „Cardinal Richelieu war ein Oraculum Ludwigs des Gerechten / welches en balance gantz Europa erhielt / und das wichtige Contrepoids allen mächtigsten Monarchen leistete“.245 Das Potential dieser Wertschätzung, mentalitätsgeschichtlichen Aufschluss über die Situation Schlesiens zu liefern, ist nicht zu unterschätzen. Richelieu wird als politischer Akteur wahrgenommen, der sich den Monarchen nicht durch Ungehorsam oder gar Aufruhr widersetzt, sondern ihnen mit gutem Rat sowohl Frieden als auch Macht erhalten hilft. Er wirkt sowohl gegen das Risikopotential des Absolutismus, aus dem Status legibus suis solutus eine Unabhängigkeit auch vom transhumanen Recht zu folgern; als auch widerlegt sein Wirken die Notwendigkeit monarchomachischer Widerstandslehren. Innenpolitisch stärkte Richelieu sogar die Zentralmacht des absoluten Herrschers und schwächte zu
243 So aber Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 207; vgl. dagegen Gerhard Spellerberg: Barockdrama und Politik. In: Daphnis 12 – 1 (1983), S. 127–168, hier S. 151. 244 Vgl. auch Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 271. 245 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 7.
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diesem Zweck im Gnadenedikt von Alès die politische Macht der französischen Protestanten. Er beließ ihnen einerseits ihre Religionsfreiheit, andererseits entzog er ihnen ihre militärischen Sicherungen.246 Wenn also der von Habsburg bedrängte Lutheraner Stosch dem katholischen Cardinal solche Wertschätzung zukommen lässt, liegt nahe, dass die Politisierung der Protestanten als Protestanten den Schlesiern, zumindest den Glogauern des Jahres 1664, kein primäres Anliegen mehr war. Ohne Zweifel geht es ihnen um eine Duldung ihres Glaubens und, insofern es dabei natürlich um Glaubenspraxis geht, ist dieses Anliegen notwendig politisch. Dieser Anspruch gipfelt jedoch nicht mehr notwendig in einem auch souveränitätspolitischen Unabhängigkeitsstreben. Er möchte diesem nicht einmal mehr nur soweit nachkommen, dass die Auswanderung in protestantische Staaten angedacht würde. Es geht den Lutheranern darum, dass ihnen der Genuss der Rechtssubjektivität nicht auf Grund ihrer lutherischen Konfession verwehrt wird. Das bedeutet allerdings nicht mehr, dass ihnen diese Rechtssubjektivität an ihr Luthertum geknüpft ist. Das Interesse am Recht ist kein lutheranisches, sondern politisches, insofern balance, d.h. Frieden unter der Bedingung ausgewogener Mächteverhältnisse gewünscht ist. Unter diesen Vorzeichen ist auch und gerade von Seiten schlesischer Lutheraner die hohe Achtung eines Katholiken wie Richelieu möglich: Schließlich handelt er aus ihrer rechtspolitischen Sicht nicht katholisch, sondern intervenierte im Gegenteil gegen die rechtliche Übergriffigkeit des Habsburger Katholizismus. Die Religion bleibt natürlich nachhaltig im Fokus der Rechtsdebatten; davon zeugt auch Stoschs Leichabdankung. Es geht jedoch nurmehr darum, dass Religion nicht mehr Rechtshindernis sein soll: Damit durfte sie gerade nicht mehr Rechtsgrundlage sein. Diese Sicht ist sichtlich neu und findet sich bei Gryphius Amtsvorgänger und frühen Mentor Georg Schönborner noch nicht: Wenn rechtes Recht nur unter rechtstheologischen Bedingungen zu haben ist, so ist für Schönborner dieses Recht auch nur unter der Bedingung zu verwirklichen, dass an die oberste Verpflichtungsinstanz Gott auch in der richtigen Weise geglaubt wird (4.2.3.2). Gryphius wird keine Exklusion Falschgläubiger mehr denken – ausgenommen freilich die Muslime (5.2.5.2): Stosch bescheinigt Gryphius, kein Argument vertreten zu haben, „dadurch er das Politisiren in Glaubens-Sachen hätte vertheidigen können“.247 Zwar wird Gryphius in seinem politisch-theologischen Denken das Schriftprinzip so sehr stärken (4.4, 5.4), dass sich natür-
246 Vgl. Ernst Hinrichs: Renaissance, Religionskriege und Begründung der absoluten Monarchie (1498–1661). In: Kleine Geschichte Frankreichs. Hg. von Ernst Hinrichs. Stuttgart 1994 (RUB 9333), S. 125–185, hier S. 175. 247 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 41.
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lich die Frage eröffnet, inwiefern ein Nicht-Lutheraner schon allgemein theologisch die Voraussetzungen erfüllt, göttliches Recht überhaupt adäquat zu erkennen. Dennoch gibt Stosch uns ein Bild eines politischen Denkens der evangelischen Schlesier, das mehr vom Interesse geleitet ist, nicht Opfer obrigkeitlicher Willkür im Allgemeinen zu werden, als nicht lutheranischer Untertan eines katholischen Kaisers und Königs sein zu wollen. Wie das hiesige Kapitel 4.1 bislang zeigen sollte, war seit Machiavelli die Willkür obrigkeitlicher Politik ein allgemeines Problem politischer Theorie. Zu ihm verhielten sich katholische Rechts- und Moraltheologen nur genauso wie die protestantischen dahingehend, dass der Princeps sich eben nicht moralisch indifferent verhalten durfte. Daher konnten die Glogauer in ihrem politischen Interesse durchaus Sympathie für den Katholiken Richelieu empfinden. Dass ausgerechnet die zeitgenössisch starken Repressionen ausgesetzten Lutheraner Schlesiens Rechtstheologeme katholischer Provenienz aufnehmen konnten, hat systematische genauso wie bildungsgeschichtliche Gründe.
4.1.5.2 Land ohne Hochschule: pädagogische Chance? Schlesien als Land im engeren Sinne zu verstehen und seine Geschichte als Landesgeschichte zu schreiben, fällt von vornherein schwer, denn „[s]eitdem Schlesien im hohen Mittelalter in Erscheinung getreten war, war es im Kern wohl weniger staatlich-politisch als vielmehr siedlungsgeschichtlich-gesellschaftlich und kirchlich-kulturell bestimmt gewesen“.248 Seitdem Schlesien 1526 unter habsburgische Hoheit kam, stand die lutheranische Bevölkerungsmehrheit zudem einer räumlich externen, aber mächtigen katholischen Obrigkeit gegenüber.249 Schlesien stellte ein komplexes Gebilde aus mittelbar und unmittelbar unterstellten Fürstentümern dar, zu deren letzten Gruppe Gryphius’ Heimat Glogau gehört.250 Schon dies macht das Vorhaben einer einheitlichen Geschichtsschreibung Schlesiens eigentlich fragwürdig, insofern eine Homogenität in der Sache nie bestand. Man schreibt weniger Geschichte als Geschichten über Schle-
248 Andreas Rüther: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Eine historische Grundlegung. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 3–47, hier S. 9. 249 Vgl. Gerhard Kosellek: Deutsche und Polen in Schlesien. In: ders.: Silesiaca. Literarische Streifzüge. Bielefeld 2003, S. 307–325, hier S. 308. 250 Vgl. Norbert Conrads: Regionalismus und Zentralismus im schlesischen Ständestaat. In: Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der frühen Neuzeit. Hg. von Hugo Weczerka. Marburg 1995 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 16), S. 159–170, hier S. 161.
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sien und diese rubrifizieren mehr die Negationen, in denen diese Geschichten allein ihr Gemeinsames zu haben scheinen: die Verwehrung des jus reformandi, der Bürgerrechte und veritabler Hochschulen. Durch die habsburgische Hoheit waren die schlesischen Fürsten vom Augsburger Religionsfrieden ebenso ausgenommen wie vom Reformationsrecht: Dennoch gingen weder Ferdinand I. noch Maximilian I. realpolitisch wirksam gegen die Ausbreitung des Protestantismus vor.251 Dies bedingte die eigentümliche Situation einer zwar katholisch ungewünschten, aber politisch ungehinderten Verbreitung des Protestantismus in Schlesien bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Besonders die relative Situation von Gryphius’ Heimat Niederschlesien darf nicht über Gebühr kleingeredet werden. Gerhard Kosellek erinnert zurecht daran, dass besonders Oberschlesien seit dem Tode Johann II. von Oppeln 1532 unter fortwährend wechselnder Obrigkeit nachlässig behandelt wurde.252 Ähnliches gilt für die Voraussetzungen in der Buch- und Literaturkultur. Während Wolfgang Kessler große Zweifel äußert, „ob es eine eigenständige ‚Literaturlandschaft Oberschlesien‘ im siebzehnten Jahrhundert gegeben hat“,253 ist allein nicht von der Hand zu weisen, dass alle namhaften Poeten aus Niederschlesien stammen.254 Dennoch sind auch die Möglichkeiten des jungen Niederschlesiers Andreas Gryphius deutlich eingeschränkt. Seitdem die Gegenreformation mit der Jahrhundertwende einen zweiten Anlauf nahm, greift sie zu zusehends drastischeren Mitteln, um das große Aufkommen protestantischer Untertanen überhaupt zu bewältigen: Die ab 1628 geübte Praxis, Liechtensteiner Dragoner bei der Stadtbevölkerung einzuquartieren und sie erst dann wieder abziehen zu lassen, wenn diese vom Luthertum abschwören, ist ebenso berühmt wie berüchtigt.255 Einer protestantischen Hochschulgründung auf katholischem
251 Jörg Deventer: Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 265–283, hier S. 267–270. 252 Gerhard Kosellek: Unterschiedliche Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung in Oberund Niederschlesien. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 11), S. 11–19, hier S. 11f. 253 Wolfgang Kessler: Das oberschlesische Buchwesen im 17. Jahrhundert. In: Die oberschlesische Literaturlandschaft im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerhard Kosellek. Bielefeld 2001 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 11), S. 389–404, hier S. 403. 254 Kosellek: Unterschiedliche Voraussetzungen der kulturellen Entwicklung in Ober- und Niederschlesien, S. 16. 255 Deventer: Konfrontation statt Frieden, S. 278.
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Hoheitsgebiet war der Weg zu Gryphius’ Lebenszeit noch mehr versperrt als zuvor.256 Das nachteilige Urteil Schöfflers bleibt nach den berechtigten Differenzierungsangeboten Koselleks bestehen. Für die Zeit ab den 1620er Jahren ist es sogar noch zu verschärfen: Zumindest am Falle des Andreas Gryphius ist festzustellen, dass es um den Bildungsstandort Schlesien nicht erst hinsichtlich der Hochschullehre schlecht stand. Auch schon um die schulische Bildung, den Zugang zu Lateinschulen und Gymnasien scheint es in der konzentrierten Gemengelage aus Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg wenig gut bestellt gewesen zu sein. Als Gryphius’ Heimatfürstentum Glogau ebenfalls Opfer der Dragoner wird, 257 ist dort kein Bleiben mehr. Nicht minder gefährlich als das Leben als Lutheraner in Schlesien ist in dieser Zeit jedoch jede Reise durch schlesisches Gebiet: Als Gryphius am 17. April 1631 mit noch nicht 14 Jahren nach Görtlitz aufbricht, um sich an der dortigen Schule einzuschreiben, scheitert dieses Vorhaben am Krieg: „Aber auch diese Hoffnung ist wegen der Martialischen Unruh zerschmolzen“.258 Gryphius geht ins weitaus nähere polnische Fraustadt. In die Jahre als dortiger civis scholasticus 1631–1634 fällt die Anfertigung der beiden Herodes-Epen (4.4.3).259 Wie Stosch berichtet, konnte sich Gryphius damit schon früh einen Namen beim „Fraustädtischen Rath und Volcke“ machen.260 Die Begeisterung Stoschs für das frühe öffentlichkeitswirksame Auftreten Gryphius’ als Dichter muss durchaus nicht allein dem Anlass einer Leichenschrift geschuldet sein: Blickt man auf die besondere Situation Schlesiens, sein akademisches Vakuum, leuchtet eine Mentalität der Begierde nach sichtbarer Exzellenz ein. Sie findet sich in jener Begeisterung Fraustadts für den fünfzehnjährigen Andreas Gryphius bestens bestätigt. Dennoch markiert diese Begeisterung die akademische Leere Schlesiens mehr, als dass sie sie verdeckte. Es ist auch Fraustadt, wo Gryphius während seiner Zeit als Hauslehrer im Hause Schönborner 1636–1638261 die dortige Bibliothek eines privilegierten Gelehrten und hohen Beamten benutzen kann. Dazwischen, in den Jahren 1634–1636 liegt schon das ‚Studium‘ am akademischen Gymnasium im vergleichsweise fernen Danzig (4.2.1).
256 Vgl. Herzig: Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts, S. 66. 257 Ebd. 258 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 25. 259 Ebd., S. 26–28. 260 Ebd., S. 27. 261 Ebd., S. 29f.
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Das Studium trieb den jungen Schlesier notwendig ins Ausland, vorzüglich nach Holland. Dies eröffnete Gryphius natürlich multiple Perspektiven und das Studium protestantischer genauso wie katholischer Autoren war vergleichsweise einfach. Je tiefer im Folgenden in das politisch-theologische Denken des Andreas Gryphius eingedrungen wird, umso deutlicher werden sich in der Tat Deckungen mit Positionen sowohl katholischer Rechtslehrer wie des Francisco Suárez als auch calvinistischer Staatslehrer wie des Justus Lipsius auftun. Es ist dies zumeist ein Teilen von Meinungen, das inhaltlich nicht auf der interkulturellen Prägung des Gryphius beruht. Schon für den Fall des Suárez und seiner Wirkung konnte hoffentlich kenntlich gemacht werden, dass die Zustimmungsfähigkeit seiner Rechtslehre beim Protestantismus weniger durch etwa synkretistische oder synergetische Vermittlungen ex post zustande kam, sondern sich aus der ex ante gemeinsamen Ablehnungshaltung gegen den allemal verdammungswürdigen Machiavelli speiste (4.1.3.2). Ähnliches gilt für die Debatte um das Widerstandsrecht. Dass der populäre Anschein, der Lutheraner müsste in der Widerstandsrechtsfrage notwendig mit Jesuiten und Calvinisten in Konflikt geraten, wenig bis gar nicht der Wirklichkeit der Rechtsphilosophiegeschichte entspricht, trat hier ebenso schon zu Tage. Weder die Jesuiten noch die Calvinisten genießen ein Monopol auf Widerstandsrechtslehre, noch viel weniger aber sind sie auf eine Bejahung des Widerstandsrechts abonniert. Im Gegenteil entpuppte sich mit Luis de Molina gerade ein Jesuit als der denkbar radikalste Vertreter obrigkeitlicher Unbelangbarkeit (4.1.4). Ein prominenter Calvinist wie Bartholomäus Keckermann legt große Skrupel gegenüber dem Widerstandsrecht offen (4.1.2.4). Der ohnehin breit rezipierte Justus Lipsius schließlich befürwortete weder ein Widerstandsrecht noch ließe sich diese Haltung an seiner Konversion zum Calvinismus oder Rekonversion zum Katholizismus festmachen: Seine sichtlich konfessionsindifferenten Argumente zum ius resistendi bleiben unverändert (4.1.2.1). Es ist vielmehr deren sichtliches Bemühen, gegen einen vollständig moralfreien Pragmatismus eine behutsame prudentia mixta zu etablieren, das Lipsius’ Staatslehre bei calvinistischen Hörern in Leiden genauso rezipierbar machte wie bei den katholischen Studenten in Löwen und beim lutheranischen Leser Andreas Gryphius. Dennoch bleibt Gryphiusʼ Status als schlesischer Sonderfall von enormer Bedeutung für sein antimachiavellistisches Denken. Denn zwar beruht das Teilen von katholischen und calvinistischen Lehrmeinungen systematisch nicht auf der interkulturellen Prägung des Gryphius. Dennoch verdankt sich deren Wahrnehmung und Aneignung allein der Tatsache eines notwendig auswärtigen Studiums sowie seiner peregrinatio academica durch West- und Südeuropa. Es ist in der Tat ein bildungsgeschichtlich bemerkenswertes Phänomen, dass Schlesien mit Gryphius, Lohenstein, Hoffmannswaldau, Opitz u.v.a.m. die
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unstrittig bedeutendsten poetae docti des gesamten deutschsprachigen Barock hervorbrachte,262 gerade weil es einer Hochschule im eigenen Lande ermangelte, welche die protestantische Mehrheit hätte aufnehmen können:263 Während in einem Territorialstaat mit Universität die Landeskinder – schon wegen des Förderungswesens mannigfacher Art – an der Landeshochschule studierten, mochte sie nun derzeit schlecht sein oder gut, haben die Schlesier sich stets die besten hohen Schulen der Ferne zum Ziel nehmen können, da sie ja ohnehin in die Ferne ziehen mußten.264
Gegenüber Schöfflers Umkehrschluss, dass der Mangel einer Hochschule selbst schon notwendig Indoktrination und diskursive Einfalt verhinderte, sind mit Blick auf das hiesige Interesse natürlich die im Grunde schon genannten Bedenken anzumelden. Weder nämlich kollidieren lutheranisches, katholisches und reformiertes Denken, solange bei der Ablehnung des großen gemeinsamen Feindes Machiavelli darin Einigkeit besteht, dass mit bewusst amoralischem Handeln Gott gelästert wird. Noch hätte jede beliebige Hochschule ein vielfältiges, um nicht zu sagen ‚befreites‘ Denken gefördert: Der Sonderfall Schlesien verdankt sich immer auch dem Sonderfall der liberalen Niederlande bis zum Sturz Johann de Witts, denen sich schließlich auch nicht-schlesische Innovatoren wie Baruch de Spinoza schon existenziell verdanken.265 Es liegt letzten Endes beim Einzelnen, wie Andreas Gryphius viele Eindrücke einzusammeln: in Schlesien, in Danzig, in Leiden, in Paris, Florenz, Rom, Venedig und Straßburg. Eine Bildungsgeschichte Schlesiens scheint als Präliminarium der Werkgenese Gryphius’ schon insofern kaum sinnvoll betrieben werden zu können, als mangels institutionalisierter schlesischer Bildung nur die Bildungsgeschichten schlesischer Landsleute zugänglich sind. Der Bildungsgang wird daher genauso individualisiert wie der Zugang, den die Studierenden zu ihren Lektüren gewinnen. So liegt es eben bei Andreas Gryphius, zum Beispiel in seinen Leichabdankungen den Jesuiten Athanasius Kircher zur meistzitierten Geistesgröße seiner eigenen Gegenwart zu machen und dabei dessen universalwissenschaftliches Denken dennoch in einer Weise zu rezipieren, wie sie dem theologischen Voluntarismus eines Lutheraners verträglich bleibt (4.4.2.2).
262 Siehe die reichhaltige Aufzählung Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 40 und S. 46. 263 Ebd., S. 32. 264 Ebd., S. 55. 265 Vgl. Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002 (UB 18193), S. 40f.
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Dass Gryphius gefestigter Lutheraner war, bezeugt schon Stosch in seiner Leichenrede auf Gryphius 1664: Billich htten wir unter die Res gestas oben an setzen sollen seine Gottesfurcht und Christenthumbh / da er sich der ungenderten Augspurgischen Confession iederzeit zugethan gestanden / auch das ostende fidem tuam herrlich practiciret.266
Die Besonderheit eines schlesischen Bildungsweges machte also nicht nur aus, heterogene, ja heterodoxe Gedanken wahrnehmen zu können, sondern auch, dass die eigene theologische Position hiervon weitgehend unberührt bleiben konnte. Die Distinktion eines Thomas von Aquin und Bartolus a Saxoferrato zwischen tyrannus absque titulo und tyrannus in exercitio zum Beispiel konnte auch deshalb aufgenommen werden, weil sie die Frage nach der Intelligibilität von Gottes Ratschluss zunächst nicht berührt (4.3.1 und 4.4.1f.). Sobald es jedoch in deren Sinne um die Bedingungen geht, unter denen dem Menschen das Wissen um das göttliche Recht möglich sein soll, kommt man auf fundamentaltheologisches Gebiet. Dessen vermehrt voluntaristische Warte ist vordringlich protestantisch besetzt, wohingegen die vermehrt intellektualistische Warte besonders von der katholischen Spätscholastik vertreten wird. Es ist der lex aeterna-Gedanke in seiner eben melanchthonischen Form der lex Dei, der sich als für Gryphius’ Rechtsdenken grundlegend herausstellen wird (4.2.2.1 und 4.4.3.1f.).
4.2 Beharrliche Tradition: Rechtstheologie Der Begriff Herausforderung wurde für die Überschrift des Abschnitts 4.1 bewusst gewählt. Ideengeschichtlich zeigt er zwar besonders den Innovationsanspruch an, den im vorliegenden Falle der Machiavellismus mit Blick auf den Ausnahmezustand bedeutet: Dabei wird die Tradition als Gegner auf Augenhöhe jedoch immer mitgedacht. Ein ohnehin erlahmtes, kaum satisfaktionsfähiges ‚Altes‘ machte eine Herausforderung kaum reizvoll, die Rede von ihr wäre mithin kaum treffend. Dies führt zu einem wichtigen Umkehrschluss: Wird einer Herausforderung begegnet, sei sie auch wie im Falle des Machiavellismus innovationsträchtig, so wäre es gerade widersinnig zu meinen, dass dieses Begegnen bloß affirmativ erfolgte. Es ist schon in 4.1 zu Tage getreten, dass Herausforderungen nicht nur angenommen werden, indem auch all ihre Prämissen angenommen werden. Der Begriff der Herausforderung unterstellt vielmehr eine Kollision derselben mit eigenen Prämissen, die es zu verteidigen gilt. Man kann diese Verteidigung zum
266 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 41.
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Einen unternehmen, indem Antworten auf Machiavellis Pragmatismus gesucht werden, die selbst im starken Sinne neu sind wie dieser selbst. Diese zu skizzieren, wird mitunter Aufgabe von 4.3 sein. Zum Anderen liegt jedoch vor einem solchen Innovationsaufwand nahe, die eigenen traditionellen Prämissen dahingehend zu prüfen, wie stark sie von Machiavelli überhaupt angefochten werden. Bevor nicht Inventur gemacht wurde, braucht auch konservatives Rechtsdenken nicht voreilig Insolvenz anmelden. Darum hat es im vorliegenden Abschnitt 4.2 zu gehen. Hier ist der in 3.2 erläuterte und entwickelte Gedanke aufzunehmen, dass sich Fortschritte für den heutigen Beobachter aspektuell ausprägen, Zeitgenossen bestimmte Teile von Ideen affirmieren und zu einer Weiterentwicklung vorantreiben, wohingegen andere Teile entweder bewusst abgelehnt oder als potentiell vorhanden gar nicht wahrgenommen, mithin die dadurch entstehenden Leerstellen mit Traditionellem gefüllt werden.267 Es muss im Folgenden also um die Prüfung der Validität dieser Tradition genauso zu tun sein wie darum, wie stark diese Tradition noch wirkt.
4.2.1 Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie Zu Recht wird das Danziger akademische Gymnasium – wobei nicht sicher ist, ob es die Bezeichnung schon zu Gryphius’ Zeit dort besaß268 – in den zeithistorischen wie sozialgeschichtlichen Darstellungen als weltoffener und vergleichsweise progressiver Kultur- und Studienort bezeichnet. Mithin wird eine geistesgeschichtliche Privilegierung derjenigen Dichter und Denker gefolgert, die vor allem im Falle der Schlesier ursprünglich mehr aus Mangel an eigenen Bildungseinrichtungen diesen Ranges nach Danzig gingen.269 Der erste GryphiusBiograph Stosch umschreibt die wissenschaftliche und wirtschaftliche Blüte der Stadt, in der Gryphius am 23. Juni 1634 eintrifft, mit den denkbar größten alle-
267 Vgl. zum Barock: Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 136–188 sowie S. 31–43. 268 Vgl. Theodor Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, in ihren Hauptzügen dargestellt. Danzig 1837, S. 18, hat die Vermutung, dass die Anstalt diese Bezeichnung erst seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts trug. 269 Vgl. etwa Willi Flemming: Andreas Gryphius und die Bühne. Halle an der Saale 1921, S. 29– 31; Szyrocki: Der junge Gryphius, S. 9–24; Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. In: Deutsche Dichter. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Hg. von Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max. 2. Aufl. Stuttgart 2000 (RUB 8612), S. 225–250, hier S. 230; Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 264.
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gorischen Mitteln, nämlich als die „Stadt / welche zugleich dem Phœbus und Mercurio geneigt ist“.270 Auch Danzig hatte keine Universität bzw. promotionsberechtigte Akademie, besaß aber mit dem Gymnasium eine Anstalt, die dies soweit zu kompensieren versuchte, als sie ihre Schüler in allen Fakultätswissenschaften ausbildete. Auch wurde versucht, eine gewisse universitätsähnliche Kultur und Schulpraxis zu etablieren. Walter Fabers Einschätzung ist daher darin zuzustimmen, dass dies zu einer eigentümlichen Mittelstellung des Gymnasiums zwischen ‚Trivialschule‘ und Universität führte.271 Dieser Status war auch extern anerkannt, insofern das Danziger Curriculum mit dem Einbezug von Philosophie, Jurisprudenz, Mathematik etc. „ein abgeschlossenes ‚kleines Studium‘“ darstellte, „das trotz seiner Schulmäßigkeit für Viele den Besuch einer Universität überflüssig machte und für den mittleren, ja sogar höheren Stadt- und Kirchendienst ausreichte“.272 Das zeigt auch das Beispiel des Andreas Gryphius selbst: Er immatrikulierte sich an der Universität Leiden bereits unter Führung des Magistertitels.273 Diesen hatte er zwar nicht vom Danziger Gymnasium erhalten, sondern von Georg Schönborner verliehen bekommen.274 Dass jedoch in der Tat auch seine inhaltlichen Kenntnisse bereits bedeutend vorgebildet waren, stellt allein seine umfangreiche Lehrtätigkeit in Leiden unter Beweis.275 Die Schüler des Gymnasiums führten schon kleinere Disputationen, die dem Namen nach zwar meist etwas verniedlichend „Geplänkel der Leichtbewaffneten“ (velitatio) genannt wurden, die sich in der Sache aber durchaus durch ein bestimmtes Niveau der Fachkenntnis, der Problemstellung, der Gliederung und des Latein auszeichneten und bisweilen auch in Druck gegeben wurden; über zwei solche velitationes ist gleich noch zu sprechen.
270 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 28. 271 Walter Faber: Johann Raue. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 68 (1928), S. 187–242, hier S. 209f. 272 Ebd. 273 Rieu: Album Studiosorum Academiae Lugduno Bataviae. Bd. 1: MDLXXV–MDCCCLXXV, S. 298: „26. [Jul. 1638] M. Andreas Gryphius Silesius. 22, P[hilosophiae studiosus; so die Notarum Explicatio auf S. 1]“. Ferner führen die Leidener Universitätsakten keine Notiz von einer Magisterpromotion Gryphius’ vor Ort: Philipp Christiaan Molhuysen: Bronnen tot de geschiedenis der Leidsche Universiteit. ʼs-Gravenhage 1913, S. 218–290. 274 Vgl. Szyrocki: Der junge Gryphius, S. 120; auch Heinz Ludwig Arnold: Zeittafel. In: Text+Kritik 7/8: Andreas Gryphius. 2., revidierte und erweiterte Aufl. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1980, S. 106–111, hier S. 107. 275 Vgl. Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 32.
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Die zurecht konstatierte Weltoffenheit und Progressivität des Standortes Danzig darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Progressivität und Weltoffenheit nur eine relative ist. Sie ist eingebunden in einen Entwicklungsgang, der wohl stetig und mit ziemlicher Sicherheit auch gegenüber anderen Studienstandorten weiter gediehen war. Wohl aber darf man sich, gerade wenn es um die Frage geht, wie modern, mithin säkular Gryphius’ Denken schon qua Ausbildung geschult ist, als Ideen- und Bildungshistoriker keine Wunderdinge vom Danzig der 1630er Jahre erhoffen. Schaut man in die wenigen Berichte über das Danziger Gymnasium wie diejenigen Theodor Hirschs oder Walter Fabers,276 so wird deutlich, dass jene Fortschrittlichkeit zum Einen natürlich in der Betonung einer breiten Bildung überhaupt ihren Grund hat. Wie gesagt, bot Danzig ähnlich dem nicht minder berühmten Breslauer Elisabeth-Gymnasium ein Curriculum an, das „über das übliche Gymnasialpensum hinaus“ geht.277 Zum Anderen jedoch stellen Hirsch und Faber die gelehrte Streitkultur in Danzig heraus, deren wichtigstes Zentrum mitunter das Gymnasium bildete. Hier wurden in den Jahren von 1629 bis 1669 wichtige Auseinandersetzungen geführt zwischen Calvinisten und anderweitig Reformierten, auch Socinianern, und strengen Lutheranern. Diese wussten seit 1630 in persona Johann Botsacks einen ebenso konservativen wie theologisch beflissenen Vertreter ihrer Konfession im Rektorenamt.278 Als wohl prominentester Fall zu Gryphius’ Lebens-, allerdings nicht Danziger Schulzeit, dürfte der Heinrich Nicolais gelten, der seit 1631 die Professur für Logik und Metaphysik innehatte und, unter dem Ruf der Heterodoxie stehend, in den Streit zwischen Irenikern um Georg Calixt und Zeloten um Abraham Calov geriet – nicht ganz ungewollt, wie der Titel seiner lange hinausgezögerten,279 aber 1645 doch erfolgten Stellungnahme Irenicum Sive De differentijs Religionum conciliandis, Succinta Commentatio zeigt. Es darf in der Tat als Zeichen einer gewissen Offenheit der Stadt Danzig wie seines Rats gelten, dass die unterschiedlichen Kontroversen hier ausgetragen werden konnten, ohne dass die Streitigkeiten über die sachliche Diskussion wesentlich hinausgingen: In jedem Fall zeitigten sie im Falle Nicolais keine ad personam gehenden, existenzgefährenden Konsequenzen in
276 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig; Faber: Johann Raue. 277 Vgl. Arno Seifert: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Hg. von Notker Hammerstein. München 1996, S. 197–374, hier S. 304: Dessen „Lehrplan umfaßte das ‚tyrocinium artium, philosophiae, linguarum, doctrinae Ecclesiae‘, also über das übliche Gymnasialpensum hinaus die Grundlagen von Philosophie und Theologie“. 278 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 24ff. 279 Vgl. August Bertling: [Art.] Nicolai, Heinrich. In: ADB 23, S. 591–592, hier S. 591.
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der Art, dass Nicolai sein Irenicum gegen Calovs Einflussnahmen nicht in Danzig hätte publizieren können, seine Anstellung verloren oder gar der Stadt verwiesen worden wäre. Erst ab 1647 nahm die konfessionelle Kontrolle seitens der Lutheraner zu,280 und Nicolai nahm 1651 den Ruf nach Elbing auf eine Professur für Theologie und Philosophie offensichtlich dankbar an.281 Als Ort der Auseinandersetzung war Danzig in den Jahren, in denen Gryphius dort studierte, mit Sicherheit einer, wo vielfältige Meinungen gehört werden konnten. Schon damit war eine bestimmte Möglichkeitsbedingung eines freieren Denkens als andernorts realisiert, nämlich schlicht die, heterodoxe Lehrmeinungen als Alternativen überhaupt wahrnehmen zu können, die allererst zur Auseinandersetzung nötigen. Nichtsdestoweniger wurden sie eben als durchaus heterodox von den gegenseitigen Konfliktparteien empfunden und bezeichnet: Die Möglichkeit der Auseinandersetzung, die Danzig bot, verunmöglichte gerade noch nicht die gegenseitigen Diskreditierungsversuche und das Bestreben, in den eigenen Reihen pädagogisch orthodox zu wirken. Die Streitkultur, die im Falle Nicolais etwa mit bisweilen durchaus bedächtigen, methodisch geleiteten Überlegungen vermeintliche Differenzen aufzulösen suchte, war eben keine radikal-relativistische: Auch in den Augen Nicolaus sollten die Streitpunkte nicht unter dem Leitbild etwa von absoluter Toleranz indifferent gesetzt werden, sondern nach ihrem Ursprung, Gründen, Umständen usw. erklärt und soweit dogmatisch möglich geklärt werden.282 Rainer Forst hat in seiner systematischen wie historischen Rekonstruktion der Toleranzdebatten herausgearbeitet, dass solche vermehrt auf eine Inklusions- oder Reduktionsstrategie setzenden Vermittlungsversuche
280 Hans Joachim Müller: Konfession, Kommunikation und Öffentlichkeiten. Der Streit um die Irenik in Danzig 1645–1647. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. von Kaspar von Greyerz u.a. Heidelberg 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201), S. 151–178, hier S. 168. 281 Bertling: [Art.] Nicolai, Heinrich, S. 591. 282 Vgl. z.B. Heinrich Nicolai: Irenicum Sive De differentijs Religionum conciliandis, Succinta Commentatio. Danzig 1645, S. 2: „QVi differentias ac diversitates in negotio aliquo ad concordiam redigere velit, eum ad differentiarum originem, occasiones, causas, modos, formales rationes, attributa, circumstantias, ac similia attendere oportet, & ut ista omnia vel removeantur, vel moderatiùs ponantur“ [Hervorhebungen im Text]. Auch mit Toleranz überhaupt hat diese Situation wenig zu schaffen, schließlich geht es Nicolai nicht darum, etwas zu erdulden, was als andersartig und heterodox verbleibt, sondern darum, vordergründige Differenzen als eben nur scheinbare zu entlarven. Was über die systematische Prüfung hinaus als andersartig bleibt, ist mithin als heterodox nicht notwendig zu dulden.
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gerade noch nicht dahingehend konzeptualisiert waren, dass das Andere als Anderes in seinem Anderssein akzeptiert und toleriert wurde.283 Konkret wird das Danziger Gymnasium für die Einordnung der gryphschen Trauerspiele von Bedeutung, blickt man auf das schon erwähnte breite Curriculum sowie die bestimmte Hierarchie der Wissenschaften. Dabei interessieren natürlich Rang und Gestalt der politischen Lehre und Jurisprudenz, wie sie in der Danziger Anstalt vertreten und vermittelt wurden. Hirschs ausführliche Übersicht beinhaltet auch die Professorenlisten: Laut diesen waren die Rektoren des Gymnasiums immer Theologen, womit institutionell eine Vorrangstellung der Theologie bereits angezeigt ist. Ferner wurden auch die unteren Professuren meist mit Theologen besetzt. Wenn 1631 eine Stelle für „reine Philosophie“ eingerichtet wird,284 so darf dies nicht zu übereilten Schlüssen hinsichtlich der Systematik der somit betriebenen Philosophie verleiten. Denn dass es sich dabei tatsächlich nicht um eine theologiefreie Philosophie handelt, sondern schlicht um die Denomination der Professur, beweist e contrario ein Blick in die systematische Gestalt der philosophischen Abhandlungen. Dies lässt schon Hirschs eigene Auskunft durchscheinen: „Der Prof. Philos. lehrt Metaphysik und Politik und wendet in Disputationen jene auf theologische, diese auf juridische Materien an“.285 Es ist anhand der genannten velitationes zu zeigen, dass nicht etwa nur die Metaphysik auf theologische Materien angewendet würde, nur die Politik auf juridische Gegenstände: Vielmehr ist aus diesen Disputationen der umfassende Fundamentalcharakter der Theologie für Politik und Jurisprudenz ersichtlich. Diese velitationes sollen dem Schüler Gelegenheit bieten, sich in gelehrter Disputation zu üben. In speziell politischer Materie fanden solche Übungen unter der Schirmherrschaft des Professors für Geschichte und Jurisprudenz Christophorus Riccius (1590–1643) statt. Neun dieser velitationes, abgehalten 1626, wurden im selben Jahr in Danzig gedruckt. Die erste, zweite, dritte, vierte und neunte velitatio sind heute noch in der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten. Sie zeigen ihren eigentümlichen Charakter in ihren Titeln explizit auf: „Palæstræ Politicæ, Velitatio Prima [Secunda etc.], in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, respondendo pugnabit [Name des respondieren-
283 Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt am Main 2004 (stw 1682), S. 104f. 284 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig; S. 39: „Für die untern Professuren wurden meist Theologen ernannt und ihnen verschiedentlich einzelne Theile der philosophischen und philologischen Wissenschaften zugewiesen. Seit 1631 jedoch wurde eine Stelle ausschliesslich der reinen Philosophie [...] gewidmet.“ 285 Ebd., S. 50.
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den Schülers]“.286 Auf diesem Übungsplatz („palæstra“) findet also die Disputation unmissverständlich als „Übung eines Leichtbewaffneten“ statt („velitatio“). Jedoch wird die Rolle des Professors nicht als die eines bloßen Vorsitzenden („praeses“) umrissen, sondern als die eines Beschirmenden („umbo“). Dem gehaltlichen Ernst dieser Veranstaltungen und Publikationen tut dies mitnichten Abbruch. Die erste velitatio des Respondenten Karl von Nittenberg widmet sich der Wissenschaftlichkeit der Politica überhaupt. Dabei wird schon hier die große Bedeutung von Gryphius’ Mentor Schönborner als instruktiver Autorität deutlich: Ausdrücklich soll „in den meisten Dingen der Methode des großen Rechtsgelehrten Herrn Schönborner gefolgt werden“.287 Leitend ist die Absicht, die Meinung zu widerlegen, die Politik könne nicht aus sicheren Vorschriften erschlossen und gelehrt werden: Diese Meinung unterliegt schon früh dem Verdikt, „schnatterhaft“ („clanguida“) zu sein und entspringt gerade mangelnder Bildung in Sachen politischer Klugheitslehre.288 Es dürfe durchaus nicht in Abrede gestellt werden, dass eine solch große Mannigfaltigkeit der politischen Sachlagen vorliege, die nur schwer zu sicheren Regeln hinführe. Diese seien mithin auch nicht apodiktisch, sondern nur als Wahrscheinlichkeitssätze zu erschließen: „Sanè diffiteri non licet, tantam inibi reperiri varietatem, quæ ad certas haud facile conducatur regulas. Atque ideò etiam non apodictica, sed probabilia tantum hic èxpetenda ac expectanda“.289 Das in der Formulierung verwendete Gerundiv legt jedoch genauso wie die noch folgenden Ausführungen offen, dass alle Anstrengungen Riccius’ und Nittenbergs dem Nachweis gelten, dass sich diese Wahrscheinlichkeitssätze selbst wiederum bestimmten Grundlagen verdanken. Aus diesen ergeben sich die probabilia in ihrer Gesamtheit zwingend: „probabilia tantum hic expetenda ac expectanda“.290 Auch dasjenige, was sich augenscheinlich beständig verändert, ist der Sache nach notwendig: „ob oculos perpetim versetur, necessum est“.291 Wenn daher festgehalten wird, dass das „Übrige“ aus dem „Viergestirn“ von erstens Usus, zweitens Geschichte, drittens Reiseberichten und viertens dem
286 Vgl. Christoph Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, resondendo pugnabit Carolus â Nittenberg, Nob. Moravus. die 19. Jan. hor. pom. 1. in auditorio primo. Danzig 1626, Titelblatt [Hervorhebungen im Text]. 287 Ebd., § 2. 288 Ebd.: „[Q]uæ plerisque nunc fermè inolevit opinio, Politicam certis non posse concludi aut doceri præceptis, clanguida nimis est, neque studiosam facile turbabit mentem.“ 289 Ebd. 290 Ebd. 291 Ebd.
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‚Austausch‘ mit weisen Lehren zu ziehen ist,292 kann nicht übersehen werden, dass auch die politische Klugheitslehre über ein systematisch festes, d.h. dem Anspruch nach gewisses Fundament verfügt. Dieses Fundament bildet für die praktische Vernunft, d.h. im Verabfolgen praktischer Syllogismen, stets den Obersatz: An dessen Geltung ist nicht zu zweifeln, er selbst ist mithin kein bloßes probabile. Usus, Geschichte, Reiseberichte und korrelierte Lehren beliefern somit nur das ‚Übrige‘, nämlich den Untersatz des jeweiligen Syllogismus. Insofern ist dieser Untersatz variant und damit auch der Schluss des Syllogismus. Probabilia sind diese praktischen Schlüsse also ausschließlich aufgrund der Varianz der Untersätze, sie teilen jedoch allesamt das feste Fundament ihres gemeinsamen Obersatzes. Der Probabilismus der Staatslehre ist damit kein absoluter, sondern nur ein relativer. Er gilt nur hinsichtlich der handlungstheoretischen Folgerungen, wohingegen die Staatslehre im Hinblick auf ihr Fundament doch eine politische Wissenschaft ist. Diese systematische Abstufung von gesichertem Fundament und varianten Schlussfolgerungen schlägt sich entsprechend in der Ordnung dieser politischen Wissenschaft selber nieder. Hierfür wird sich abermals an Schönborner angelehnt: 11. Definitur à Schönbornero, quod sit prudentia bené de Rep. judicandi, eamque recte constituendi & ad salutem civium administrandi. 12. Eaque ipsa prudentiæ politicæ disciplina, ut conveniente pertractetur ordine, omniū primū de Reip. (quæ unica est politicæ possessione) constitutione, tum de administratione, & tandem de ejusdem eversione fuerit explicandum.293
In der Bestimmung von Respublica wird direkt an Aristoteles Anschluss genommen, insofern Staat neben der Ordnung der Bürgerschaft wie anderer Herrschaftsformen vordringlich auf die Ordnung der umfassenden, obersten Macht zielt („μάλιστα τῆς κυρίας πάντων“).294 Diejenige Frage schließlich, die das genannte feste Fundament der politischen Wissenschaften bildet, ergibt sich für Riccius und Nittenberg mit durchaus frühaufklärerischem Interesse aus dieser aristotelischen Bestimmung: Wenn nämlich der Staat eine Ordnung zweifacher Übereinkunft ist – nämlich erstens über die Staatsgründung, zweitens über die Übertra-
292 Ebd., § 3: „Reliquum quod est, ex usu, historiis, peregrinatione, selecta cum sapientioribus conversatione hauriendum. Illa enim appropriata quadriga est, quâ enixus studii politici conatus tandem consummatur“. Im Detail §§ 4–7. 293 Ebd., §§ 11, 12. 294 Ebd., § 13: „Resp. ab Aristotele 3. Pol 6. dicitur ταξις τῆς πὸλεως τῶντε ἄλλων καὶ μάλιστα τῆς κυρίας πάντων: id est ordo civitatis tum aliorum imperiorum, tum præcipuè summæ Majestatis.“
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gung der höchsten Macht an einen Herrscher295 –, worauf baut diese Ordnung dann eigentlich auf, was drängt zu dieser Übereinkunft?296 Dass die nunmehr in den Fokus genommene Staatsentstehung etwa zufällig oder auch nur unüberlegt geschehe, wird explizit bezweifelt.297 Ebenso abgelehnt wird die These vom Zusammenschluss aus bloßer Furcht.298 Damit gelangt der frühaufklärerische Impetus prompt an seine Grenze, insofern er sich dieser proto-hobbesianischen Überlegung kategorisch verschließt. Das Fundament der vertretenen Staatslehre, der Anlass der Staatsentstehung, liegt in einem theologisierten Aristotelismus, nämlich in der gottgewollten Neigung des Menschen zur Vergemeinschaftung: „Naturalis hominum inclinatio, divino afflatu incitata, causam huic rei dedit“.299 Diese theonome Grundlegung der Respublica, wie sie nahezu wortwörtlich von Schönborner übernommen wird,300 plausibilisiert dabei nicht nur die Notwendigkeit von Staat und Ordnungsfindung, sondern wirkt gleichzeitig verbindlich auf die Gestalt des Staates und seiner Gesetzgebung (4.2.3). Wenn es nämlich um Erhalt und Wachstum des nunmehr gebildeten Staates geht, erzeugt die göttliche Instanz auch Verbindlichkeit hinsichtlich der hierfür aufzuwendenden Mittel. In direkter Auseinandersetzung mit Machiavellis Discorsi sollen dessen „merkwürdige Anweisungen“ zurückgewiesen werden: Juvant autem Rerump. incrementa mirum in modum I. Vicinarum Rerump. ruina. Ita Roma ruinis crevit Albæ. Liv. libr. I. Et alibi etiam occasio unius pereuntis orienti alteri non semel initium præbuit Chokier in disp. pol. cap. 13. q. 5. v. Machiav. disp. lib. 2. Cap. 3. Ea vero expectanda magè, quàm facienda. Nam quod aliqui ruinam & accessionem non vicinarum tantùm sed & aliarum Rerump. quovis etiammodo ac impetus quærendam suadent, Christianum satis non est, & periculosum omninò. Multi enim, ut verè Valerius Max. lib. 4. sua perdiderunt, inhiando alienis […]. Res ipsa loquitur: & loquetur amodò. Dii omen avertant tristius.301
Riccius und Nittenberg führen dabei schon ein bestimmtes Argument, das den Keim für Gryphius’ politisches Denken bilden wird. Dass bisweilen ein Staat vom Untergang eines anderen profitiert, ja aus diesem erst hervorgeht, darf nicht zu
295 Ebd., § 16. 296 Ebd., § 17: „Cum igitur Respub. sit ordo cœtus duplicis, haud immeritò quæri possit, quomodo is congestus sit?.“ 297 Ebd.: „Sed an fortuitum aut temerarium? dubitamus.“ 298 Ebd., § 18: „Alii enim metus causa cöivisse homines clamitant […] alii defensionis […]. Sed frustrà.“ 299 Ebd. 300 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 6: „Naturalis hominum inclinatio est divino afflatu incitata.“ 301 Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, § 24 [Hervorhebungen im Text].
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Machiavellis Fehlurteil führen, dass dieser Untergang vom politischen Akteur aktiv herbeizuführen sei: Es ist allerhöchstens erwartbar („expectanda magè, quàm facienda“). Das eigenhändige Bezwecken des Untergangs benachbarter und fremder Staaten ist vielmehr unchristlich und gefährlich. Dass es gefährlich, weil unchristlich, im weiteren Sinne gegen göttliches Gebot, ist, zeigen die letzten beiden zitierten Sätze. Die Erkenntnis, dass viele Herrscher „das Ihrige verlieren, indem sie nach Fremdem gieren“, zielt dabei auf mehr als einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Der gierige Herrscher verliert das Seine nicht etwa, weil er dieses in der Gier nach Fremdem vernachlässigt oder unbeaufsichtigt lässt. Solcher pragmatischen Überlegungen war Machiavellis Prudentismus allemal habhaft. Vielmehr stehen die Gier nach Fremdem und der Verlust des Eigenen in einem kaum mehr nur impliziten Verhältnis von Rechtsbruch und Strafe: Die Gier nach dem Fremden ist als Verstoß gegen das neunte und zehnte Gebot sowohl unchristlich als auch gegen das als universal empfundene göttliche Gesetz. Der Anrufung, „die Götter mögen ein elenderes Unglück abwenden“, korrespondiert der neben Machiavelli angeführte Jurist, Kanonist und Theologe Jean de Chokier (1571–1650).302 Im 13. Kapitel sowohl des fünften als auch des sechsten Buches seines Thesaurus Politicorum Aphorismorum (1611) ist ein unmittelbarer, einschlägiger Bezug zur verhandelten Frage zu finden: Sowohl gehöre es zu den vordringlichen Zielen politischer Klugheit, die schändliche Begierde abzulegen;303 als auch ist höhere göttliche Gewalt die eigentliche Ursache des Unterganges von Staaten zum Zwecke der Bestrafung verübten Unrechts: „[A]nnon regna de gente in gentem transferuntur propter iniustitias, & contumelias, & diuersos dolos? transferuntur sanè“.304 Dieses Denken vom theonomen Fundament und der damit auch juridischen Grundlegung der politischen Klugheit und politischen Wissenschaft schlägt sich in den „Corollaria Juridica“ nieder, die zum Schluss der velitatio angeführt werden. Sie sind jurisprudentielle Grundüberzeugungen, die mehr axiomatisch veranschlagt als aus der vorangegangenen velitatio gefolgert sind. Nichtsdestoweniger korrespondieren sie den polittheoretischen Sätzen der velitatio: 1. An error, aut opinio jus faciat? Neg[atur]. 2. An sint in jure, seu legibus, quæ tribus præceptis, honestè vivere, neminem lædere, suum cuiq; tribuere, contrarientur? N[egatur].305
302 Herbert Jaumann: [Art.] Chokier, Jean de, Baron de Surlet. In: ders.: Handbuch der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Berlin 2004 , S. 182. 303 Jean de Chokier: Thesavrvs Politicorvm Aphorismorvm. Rom 1611, S. 364–366. 304 Ebd., S. 476. 305 Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Prima, Corollaria Juridica [nicht paginiert].
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Wenn weder Irrtum noch bloße Meinung rechtsbegründend sein kann, und zwar weder diejenige der Menschen der Gemeinschaft insgesamt noch diejenige des Herrschers, was gewährleistet dann die objektive Korrektheit des Rechts? Staatliches Recht stützt sich demnach auf ein ihm übergeordnetes Recht, dessen Prinzipien in den Digesten Ulpians festgehalten wurden: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“.306 Dieses universale Recht wiederum ist selbst sowohl widerspruchsfrei als auch enthält es konkrete allgemeingültige Vorschriften für den Menschen, im Staat genauso wie im Naturzustand: Wie Gerald Hartung abschließend festgestellt haben dürfte,307 ist die Kollisionsfreiheit dieser drei Vorschriften vom anständigen Leben, der Schadensfreiheit des Anderen und dem Zugeständnis des natürlichen Rechts eines jeden auf das Seine vor Hobbes nur denkbar unter dem systematisch erst versichernden Einschluss einer göttlichen Verpflichtungsinstanz. Sie überwacht die Kollisionsfreiheit von menschlichem und transhumanem Recht. Martin Honecker bemerkt zurecht, dass schon die dem ulpianischen Naturrechtsgedanken zugrunde liegende stoische Metaphysik in der Weltvernunft Gott gerade nicht ausschließt, sondern ihn mit Mensch und Welt vereint denkt.308 Hier ist er nicht mehr bloßer Teil dieser Einheit, sondern Gott ist Grundlage der inhaltlichen Geltung sowie handlungswirksamen Umsetzung dieses allgemeinverbindlichen Naturrechts. Diese Haltung expliziert abschließend die neunte velitatio, gehalten von Adrian von Linde, in den Jahren 1635–1682 Protoscholarch des akademischen Gymnasiums:309 „Nos verô in Scholâ Christianâ causam efficientem primam Legum agnoscimus DEUM opt.: Max. causam & fontem omnis boni in naturâ“.310 Gott ist für Riccius und Linde nicht nur erste Wirkursache der Gesetze, womit sie bloß an den allgemeinen Konsens jeder Rechtstheologie anschließen. Die velitatio bestätigt darüber hinaus die vordringlich melanchthonianische Prägung der in Danzig gelehrten Jurisprudenz und Politologie. Die universale Kenntnis
306 Dig. 1. 1. 10 (CIC 1, S. 29b). 307 Hartung: Die Naturrechtsdebatte; ders.: Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit. In: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik. Hg. von Frank Grunert, Kurt Seelmann. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 68), S. 381–402. 308 Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Berlin, New York 1990 (De-GruyterLehrbuch), S. 113f. 309 Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 64. 310 Christoph Riccius: Palaestrae Politicae, Velitatio Nona, in quâ apud Gymnasium Dantiscanum Sub Umbone Christophori Ricci, respondendo pugnabit Andrianus de Linda Dantiscanus die 18. Apr. hor. 9. antem. in auditorio primo. Danzig 1626, § 6.
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des Naturrechts wird durch seine Angeborenheit angenommen: Gott ist nämlich ferner auch die Instanz, „qui divinos mentibus hominum indidit igniculos, ex quibus, quid æqum & justum, quidque iniqum & injustum sit, perspicere possunt“.311 Zum ideengeschichtlichen Status quo des Danziger akademischen Gymnasiums, wie er sich Gryphius präsentierte und wie er auf Gryphius auch prägend wirkte, ist zunächst zu resümieren: Wenn man schon an der Bestallung ausschließlich von Theologen mit dem Rektorenamt einen großen Stellenwert der Theologie allgemein feststellen konnte, so wird anhand der behandelten velitationes deutlich, wie es um diesen Stellenwert der Theologie genau bestellt ist. Die Theologie ist nicht etwa irgendwie hoch angesehen oder nur irgendwie wichtiger, weil etwa die Religion im Leben des Menschen des siebzehnten Jahrhunderts eine größere Rolle spielt und Leerstellen der heilsgeschichtliche Sinngebung füllt (wohingegen die übrigen Disziplinen diese Funktion nicht erfüllen). Die Theologie hat vielmehr eine systematisch übergeordnete Stellung inne in der Hierarchie und im Verbund der Einzelwissenschaften. Sie ist ihnen sachlich übergeordnet und liefert ihnen, wie im Falle der velitationes gesehen, die erst entscheidenden Unterscheidungs- und Bewertungskategorien. Es gibt mithin keinen den Disziplinen äußeren Bewertungsmaßstab, der über eine größere Relevanz der Theologie entscheidet. Entscheidend ist die immanente Architektur des frühneuzeitlichen Systemgebäudes, in der die Theologie nicht komparativ wichtiger ist als andere Wissenschaften, sondern als Grundlagenwissenschaft für die anderen schlicht unentbehrlich und damit absolut wichtig ist.
4.2.2 Schlesischer Philippismus: Melanchthons Naturrecht Es gehört zu den Eigentümlichkeiten und besonderen Herausforderungen einer jeden Ideengeschichte, gerade solche Denker als wirkmächtig zu entdecken, die von den zeitgenössischen Rezipienten nicht namentlich genannt werden. Deren Wirkungen drohen unverdienter Maßen verdeckt zu werden. Philipp Melanchthon ist – anders als Georg Schönborner – eine der wirkmächtigen Gestalten, die Andreas Gryphius weder in seinen ‚theoretischen‘ Schriften, den Leichabdankungen, noch in seinen Trauerspielen explizit beim Namen nennt – ebenso wenig wie den Niccolò Machiavellis. Genau so wie dieser hat jedoch auch Melanchthon Gryphius’ Bildung beeinflusst und nachhaltigen Eingang in sein theologisch fundiertes Rechts- und Staatsdenken gefunden. Es ist dieser Arbeit also auch
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um die Erhärtung der Hinweise Wilhelm Kühlmanns auf die vermehrt melanchthonianische Tradition des gryphschen Rechtsdenkens zu tun.312 Zurecht stellt Anton Hügli im Historischen Wörterbuch der Philosophie unumwunden fest: „Der eigentliche, bis zum Ende des 17. Jh. dominierende N[aturrechts]-Lehrer des Protestantismus blieb Ph[ilipp] Melanchthon“.313 Dies liegt schon durch den wissenschafts- und theologiegeschichtlichen common sense nahe, dass Melanchthons Loci methodisches Vorbild für die Orthodoxie sowohl der Altlutheraner als auch der Altreformierten wie auch für katholische Denker wie Melchior Cano waren – natürlich „z.T. unter Tilgung des Autornamens“.314 Der Philipporamismus war ferner im protestantischen Deutschland seit 1580 schulbildend.315 Ebenso besaß der Philippismus u.a. in Gryphius’ Heimat Schlesien eines seiner Zentren.316 Melanchthons Status als praeceptor Germaniae gilt auch für den Fall des Danziger Gymnasiums: Hier sind bis zum Rektorat Samuel Schelwigs (1685–1715) die loci communes verbindlicher Lehrstoff für alle Schüler, ungeachtet derer besonderen akademischen Ambitionen.317 Vor allem aber behandelt Melanchthon systematisch auch die Frage nach einem Gott, der im Rahmen des weltlichen Regiments bestraft, und beantwortet sie in jener Weise, wie sie für Schönborner und besonders für Gryphius bestimmend sein wird. Dies kommt in seinem Hauptwerk, den Loci theologici tertiae aetatis (1559), aber auch schon in der dem Titel nach von Justus Jonas, vermutlich aber in weiten Teilen von Melanchthon selbst angefertigten deutschen Fassung Heubtartikel Christlicher Lere von 1556 zur vollen Entfaltung,318 die gegenüber den Loci secundae aetatis bereits deutliche Erweiterungen beinhaltet.
4.2.2.1 Angeborene Ideen: Naturrecht oder theonomes Vernunftrecht? Die politische Bedeutung eines transhumanen Rechts einerseits und der juridischen Grundlegung eines göttlichen Strafeingriffs andererseits müssen angemessen eingeordnet werden. Hierfür sind Fragen der inhaltlichen Herkunft der
312 Wilhelm Kühlmann: Der Fall Papinian. Ein Konfliktmodell absolutistischer Politik im akademischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 11 (1982), S. 223–252. 313 Anton Hügli: [Art.] Naturrecht IV. Neuzeit. In: HWPh 6, S. 582–594, hier S. 583. 314 Vgl. Heinz Scheible: [Art.] Melanchthon, Philipp (1497–1560). In: TRE 22, S. 371–410, hier S. 395. 315 Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 144. 316 Vgl. Scheible: [Art.] Melanchthon, Philipp (1497–1560), S. 395. 317 Vgl. Hirsch: Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig, S. 48f. 318 Vgl. Stupperich: Melanchthons deutsche Bearbeitung seiner Loci nach der Olmützer Handschrift.
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transhumanen Gesetze sowie der Herkunft ihrer Verpflichtungskraft genauso zu klären wie die stets schon politischen Fragen selbst. Denn schon die wissenschafts- und disziplintheoretische Vorrede Melanchthons haben gezeigt, dass der ungeheuerliche Anspruch eines umfassend theologischen Denkens kein geringerer ist, als vordergründig juridische Fragen der Rechtsherkunft wie der Rechtsgeltung und vordergründig politologische Fragen des Handlungsdrucks – gerade im Ausnahmezustand – im Vollzug einer Antwort klären zu können (4.1.3.1). Die Antworten auf jene sind als Rechtstheologie, die Antworten auf diese sind als politische Theologie und theologische Politologie nichts anderes als der Ausdruck der einen, sich in ihren Subdisziplinen vollziehenden Generalwissenschaft Theologie. Es muss gerade für Melanchthons Fall geklärt sein, unter welchen Bedingungen das irdische politische Eingreifen Gottes beim Reformator steht. Diese Bedingungen werden sich hinsichtlich Gryphius’ Denken als differenzbildend herausstellen. Damit kann im Rahmen der hier vertretenen, für aspektuale Veränderungen offenen Ideenhistoriographie allererst präzise aufgezeigt werden, welche Wirkung das melanchthonianische Naturrecht beim Schlesier zeitigt. Denn Gryphius wird zwar die Idee eines politisch strafenden Gottes als solche über Schönborner von Melanchthon übernehmen (4.4.4.2, 4.4.5.3). Allerdings wird er dessen anthropologische Grundlagen – so sei hier schon behauptet – nicht teilen. Daher müssen diese Grundlagen betrachtet werden, um Gryphius später entweder eine anschlusslose, willkürlich eklektische Rezeption des Deus politicus oder aber eine solche Rezeption präzise nachweisen zu können, die eine Neueinbettung des politischen Gottes darstellt. Philipp Melanchthons natürliche Gesetze sind nicht bloß natürlich in der Weise, dass sie im Naturzustand Geltung besitzen, sondern sie sind auch im Menschen je schon vorhanden. Jeder Mensch hat moralisches Wissen unabhängig von seiner Konstitution, Herkunft und Konfession. Dem Inhalt nach entsprechen die natürlichen Gesetze dem Dekalog, womit dieser gleichzeitig naturalisiert und umgekehrt die spätestens seit der Spätscholastik übliche leges-Hierarchie von lex aeterna, lex divina, lex naturalis und lex humana gewissermaßen ‚dekalogisiert‘ wird: In jedem Fall bietet Melanchthon eine Vermittlungsleistung an, die den Dekalog nicht als additives positives Gesetz Gottes erscheinen lassen möchte wie die mittelalterliche Naturrechtslehre.319 Das Naturrecht ist dem Menschen nicht
319 Vgl. Norbert Brieskorn: Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? Sinn und Notwendigkeit des Naturrechts aus philosophischer und theologischer Sicht. In: ‚Vom Rechte, das mit uns geboren ist‘. Aktuelle Probleme des Naturrechts. Hg. von Winfried Härle, Bernhard Vogel. Freiburg im Breisgau S. 97–126, hier S. 104 und S. 122f.
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mehr äußerlich. Durch seine propositional-innatistische Internalisierung kann ein persönliches Unrechtsempfinden mit diesem äußeren Recht unmöglich mehr kollidieren. Daher gehen bei Melanchthon Jurisprudenz und Ethik in eins, wie Merio Scattola zurecht konstatiert.320 Die praktischen Prinzipien, in deren Einhaltung Gott zu gehorchen ist, die gesamte Unterscheidung von Gut und Schlecht, sind im Menschen vorhanden: Ut lumen oculis divinitus inditum est, Ita sunt quaedam notitiae mentibus humanis inditae, quibus agnoscunt et iudicant pleraque. Philosophi hoc lumen vocant notitiam principiorum, vocant κοινὰς ἐννοίας et προλήψεις. Ac vulgaris divisio nota est, alia esse principia speculabilia, ut notitias numerorum […] Alia sunt principia practica, ut totum discrimen naturale honestorum et turpium. Item, Deo est obendiendum. Ac debebant quidem haec practica principia tam illustria nobis esse et firma, quam sunt notitiae numerorum.321
Melanchthons auf Röm 2,14–15 aufruhende innatistische Lehre322 gewährleistet für eine Natur- und Staatsrechtslehre gleich Mehrfaches. Schon Günter Frank, Merio Scattola und Gideon Stiening weisen zurecht darauf hin, dass mit der Idee von den notitiae communes als ideae innatae zugleich erstens ihre propositionale Universalität, zweitens ihre kognitive Ubiquität und drittens ihr Normcharakter garantiert ist.323 Die eingeborenen Ideen gelten (ad 1) inhaltlich für jeden Menschen, da Gott sie gegenüber ihrem Gegenstand invariant in die menschlichen
320 Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 50f.: „Das Naturrecht gehört also nicht zur Jurisprudenz, sondern fällt mit der gesamten Ethik zusammen [...] Die Grundsätze des Naturrechts gelten als Prinzipien der Ethik, und da sie zugleich auch die Prinzipien des Rechtes sind, liegt der Schluß nahe, daß das Recht aus den Grundsätzen der Ethik hergeleitet werden soll.“ 321 CR XXI, Sp. 711f. 322 Röm 2,14–15: „Denn so die Heiden / die das Gesetz nicht haben / vnd doch von natur Das natürliche Gesetz ist / Was du wilt dir gethan vnd vberhaben sein von einem andern / das thu vnd vberhebe du auch einen andern. Darinnen das gantze Gesetz Mosi begriffen ist / wie Christus sagt / Math. 7 An welchem Gesetz die Heiden auch nicht mehr denn das eusserliche werck thun / wie die Jüden an Moses Gesetz. Vnd das verklagen vnd entschüldigen ist / das eine sünde grösser ist / denn die andere / wider das Gesetz. thun des Gesetzes werck / dieselbigen / dieweil sie das Gesetze nicht haben / sind sie jnen selbs ein Gesetz / amit / das sie beweisen / des Gesetzes werck sey beschrieben in jrem hertzen / Sintemal jr Gewissen sie bezeuget / da zu auch die gedancken / die sich vnternander verklagen oder entschüldigen.“ 323 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 112ff.; Gideon Stiening: ‚Deus vult aliquas esse certas noticias‘. Philipp Melanchthon, Rudolf Goclenius und das Konzept der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Ausstellungskatalog. Hg. von Barbara Bauer. Bd. 2. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 89), S. 757–787; Merio Scattola: ‚Notitia naturalis de Deo et de morum gubernatione‘: Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons und ihre Wirkung im 16. Jahrhundert. In: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627). Ausstel-
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Geister gelegt hat. Daher ist dieser Gehalt universal. Neben der somit gültigen Wahrheit der Ideen ist durch ihr schon propositionales Vorhandensein im Menschen (ad 2) auch die Wahrheit ihres Erkennens plausibilisiert:324 Da Gott Autor der notitiae communes genau so ist wie das Subjekt der Innation, sind diese Kenntnisse dem korrumpierenden Vor- und Eingriff des Menschen in gleicher Weise entzogen, wie das bei der conscientia schon bei Luther und später bei Schönborner der Fall ist. Die von Gott selbst eingegebenen Kenntnisse sind deutlich klarer als die von der menschlichen mens selbst gebildeten.325 Die moralischen Prinzipien sind also nicht nur überall identisch, sondern sie werden auch von jedem Menschen adäquat gewusst. Durch die Göttlichkeit ihrer Erlassungsund Geltungsinstanz ist zudem (ad 3) der Normcharakter der moralischen Prinzipien schon unmittelbar gegeben. Dies gilt extern, insofern die moralischen Prinzipien durch einen strafend eingreifenden Gott zwangsbewehrt und vor allem von diesem gewollt sind.326 Dies gilt allerdings auch intern, insofern das systematisch erste Gebot dasjenige der Verehrung Gottes ist. Gegenüber diesem stehen alle übrigen principia practica nurmehr in einem reinen Ableitungsverhältnis. In seiner Lehre von den Graden der Sünde wider den Dekalog folgert Melanchthon somit jeden Verstoß letztlich auch als mittelbaren Verstoß gegen diese Pflicht der Gottesverehrung. Dies ist die die systematische Folge, die Melanchthon aus einer letztlich externen voluntaristischen Rechtsgründung zieht: Der letzten Bestimmung des ‚Naturrechts‘ aus dem göttlichen Willen – und allein aus diesem – korrespondiert die Liebe des Menschen zu Gott als Gebot. Nur in dieser Liebe wird der Mensch seiner Gottesebenbildlichkeit gerecht und ist mithin nur so wirklich Mensch.327 Für alle anderen leges divinae ist diese lex Dei Geltungsgrund und Praemissa Maxima zugleich.328
lungskatalog. Hg. von Barbara Bauer. Bd. 2. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 89), S. 865–882, S. 865–882. 324 Stiening: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 14. 325 CR XXI, Sp. 1084: „NOTITIAE sunt actiones mentis et cerebri, quibus formantur imagines, quae sunt lumen, quo res monstrantur, ut Iulius cogitans Pompeium absentem ea ipsa cogitatione format imaginem eius. […] Fiunt autem illustriores Notitiae, quando Deus ipse hoc lumen accendit.“ 326 Scattola: Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons, S. 869f. 327 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 109. 328 CR XXI, Sp. 1077: „LEX DEI, quae nominatur Lex moralis, est sapientia aeterna et immota in Deo, et norma iustitiae in voluntate Dei, discernens bona et mala, quae est patefacta rationali creaturae in creatione, et postea saepe repetita et sancita voce divina in Ecclesia, ostendens quod sit Deus, et qualis sit, et quod sit iudex, obligans omnes rationales creaturas, ut sint conformes illi normae Dei, et damnans omnes ac denuntians horribilem destructionem omnibus, qui non congruent ad illam normam Dei“. Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 38.
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Viertens jedoch erlaubt der Gedanke eines inhaltlich eingeborenen moralischen Wissens, das Vorhandensein einer zutreffenden Normenkenntnis als anthropologische Konstante zu denken, ohne dass hierfür ein aristotelischer Naturzustand angenommen werden müsste. Für Melanchthons Innatismus ist es entscheidend festzustellen, dass dieser im Unterschied zum cartesianischen dispositionalen Innatismus nicht nur propositional ist,329 sondern zudem eine doppelte Beweiswirkung besitzt: Melanchthons Absicht nach lassen sich nämlich mit den Gemeinbegriffen sowohl Moraltheologie und Ethik universal gültig nachweisen, insofern sie aus diesen eingeborenen Prinzipien deduziert sind; als auch geben die „‚natürlichen Kenntnisse‘ als Strahlen der göttlichen Weisheit im menschlichen Geist offenkundige Zeugnisse von Gott“330 selbst. Der Gedanke eines inhaltlich eingeborenen moralischen Wissens erlaubt also, das Vorhandensein einer zutreffenden Normenkenntnis als anthropologischer Konstante zu denken, ohne dass hierfür von einem aristotelischen Naturzustand ausgegangen werden müsste. Für den Innatisten ist die Frage, wie sich aus dem natürlichen Stande des Menschen Fundamentalnormen des Naturrechts erschließen lassen, unzulänglich, mehr noch sogar unzutreffend gestellt, denn schließlich ist das Wissen um Recht und Unrecht beim Menschen qua Geburt je schon vorhanden, unabhängig davon, in welchem äußeren Stand er sich befindet, – ob allein oder in (regel)loser Vergemeinschaftung im Naturzustand oder in einem guten oder schlechten Staat. Der Begriff Naturrecht trifft bei Melanchthon also nur bedingt, nämlich für lediglich einen bestimmten Geltungsbereich der moralischen notitiae communes zu, nämlich denjenigen außerhalb des Staates und seines gesatzten Rechts. Die notitiae entstammen diesem Bereich jedoch nicht. Dem Rechtsurheber nach handelt es sich in starkem Sinne immer um göttliches Recht, weil es seinen Weg in die Natur des Menschen ohne Umweg über die Natur findet. Der Erschließbarkeit seiner Subnormen per modum determinationis nach ist es Vernunftrecht, wie schon Clemens Bauer überzeugend festhält.331 Der Anthropozentrismus der natürlichen Gesetze gilt lediglich aspektuell, insofern die Geltung und Kenntnis des Naturrechts in der Gottesebenbildlichkeit jedes
329 Dieser dispositionale Innatismus entwickelt lediglich die allgemeine Befähigung zur Begriffsbildung unabhängig von sinnlichen Eindrücken, nicht jedoch schon diese Begriffe selbst: vgl. Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 14. 330 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 109. 331 Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, hier S. 87: „Von der Erkennbarkeit her ist das jus naturae Vernunftrecht, d.h. rational einsichtig. Die Lehrsätze des Naturrechts präsentieren sich dem erkennenden Verstand als ‚communes sententiae‘ im Sinne von Axiomen. Sie zu sichten und zu entfalten, ist Sache der Philosophie“.
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Menschen liegt:332 Bedingung der Geltung ist jedoch die vis obligativa Gottes, da allein Gott die Gesetze erlassen und in die menschliche mens hineingelegt hat.
4.2.2.2 Leistungen und Aporien des propositionalen Innatismus gegenüber der Herausforderung Die Beweiskraft fällt allerdings unterschiedlich aus. Die Deduktion des ‚Naturrechts‘ aus den eingeborenen moralischen Ideen erfolgt mit dezidiertem Gewissheitsanspruch.333 Schließlich eignen den ideae innatae sowohl Allgemeinheit als auch Unveränderbarkeit. Daher kann kein gültiger Rechtssatz gedacht werden, der zugleich zutreffend und nicht aus diesen Ideen abgeleitet oder nur zeitlich eingeschränkt zutreffend wäre. Der Gewissheitsanspruch dieser eingeborenen Ideen gründet aber gerade auf ihrer Stiftung durch Gott als einer aus schon dogmatischen Gründen unbezweifelbaren Instanz. Wissenschaftstheoretisch gesprochen, werden die eingeborenen Ideen ebenso wie ihre Gültigkeit schlicht gesetzt. Damit ist der Gewissheitsanspruch wider eine Nachweisforderung der letzten Gründe selbst nur um den Preis zu haben, dass er eine Gewissheitsbehauptung bleibt.334 Dabei unternimmt Melanchthon durchaus einen theologischen Begründungsversuch der Gewissheit der angeborenen Ideen. Dessen offensichtlicher Anspruch bleibt allerdings, nicht in gotteslästerlicher Weise einen weiteren Regress in die dem Menschen notwendig unzugängliche Sphäre des göttlichen Willens zu unternehmen. Dies leitet über zur zweiten Beweiswirkung der ideae innatae: Die angeborenen Ideen bilden selbst ein Gottesindiz – noch nicht den Gottesbeweis. Dies hat ein schon ideeninhaltliches und aber besonders ein empirisches Moment. Im Kapitel „Von Gott“335 der Heubtartikel geht es weniger um die angeborenen Ideen als solche, sondern zunächst steht Gott selbst im Zentrum der Fragestellung. Gerade hier aber weist Melanchthon hinsichtlich des Inhalts der eingeborenen Ideen zuerst darauf hin, dass Gott die „erkentnis der Tugenden in die menschen eben darumb gepflantzet, das wir jn dabey erkennen und mercken“.336 Der Verweischarakter dieser eingeborenen Ideen ist also ein mittelbarer, insofern
332 Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon. 333 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 125. 334 Insofern ist Gideon Stiening streng wissenschaftstheoretisch zuzustimmen: Die letzthinnige Gesetztheit der notitiae naturales ist nicht zu bestreiten: Stiening: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 15; ders.: ‚Notitiae principiorum practicorum‘. Melanchthons Rechtslehre zwischen Machiavelli und Vitoria, S. 143. 335 CR XXII, Sp. 64–72. 336 CR XXII, Sp. 67.
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sie selbst zunächst nur die Unterscheidung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht erlauben. Sie lassen auf einen diese Unterscheidungen stiftenden Gott nur schließen, da sie einer Instanz bedürfen, die zum Einen nur aus einer ihr wesentlichen Absolutheit heraus diese fundamentalen Distinktionen vollziehen kann. Diese Instanz kann daher zum Anderen wegen dieser ihrer Absolutheit nur durch eigenen Willensentschluss zur Leistung dieser Distinktionen bewegt werden. Eine Subordination unter schon präexistente Vernunftregeln schließt sie gerade aus. Melanchthon stellt zudem an gleicher Stelle fest: „[I]st doch menschlicher vernunfft erkendnis von Gott eingebildet, wie erkendnis der zal, Alle menschen wissen von natur, das ein ewig, allmechtig Wesen ist“.337 Damit sind eingeborene Ideen von unmittelbarem Verweischarakter angesprochen: In ihnen gibt Gott, ohne den Umweg über einen seiner Schöpfungsgegenstände zu nehmen, ersten Aufschluss über sich selbst. Diese Ideen von Gott sind vom Menschen nicht regredierbar. Dieses umweglose Kundtun Gottes zumindest davon, dass er ist, ist dergestalt nur noch unter der Voraussetzung denkbar, dass Gott diese Selbstauskunft will. Damit sind wieder die Absolutheit wie auch die Allmacht Gottes angesprochen. Sie machen gleichermaßen die göttliche Gewolltheit der Gotteserkenntnis selbst und diejenige der moralischen Prinzipien notwendig. In beiden Fällen schlägt sich eine von Luther überkommene streng voluntaristische Geltungstheorie der principia practica nieder, unabhängig von der streng rationalistischen Intelligibilität der aus ihnen deduzierten Subnormen. Mehr noch: Diese rationalistische Einsehbarkeit der verabfolgten Subnormen ist für Melanchthon eben nur um den voluntaristischen Preis zu haben, dass die prämittierten praktischen Prinzipien nur durch göttlichen Willen hinreichende Gewissheit gewinnen, um wiederum gewisse Konklusionen rational ableiten zu können. Das angesprochene empirische Moment des Gottesindiz’ ist im schon angeführten Zitat enthalten: „Alle menschen wissen von natur, das ein ewig, allmechtig Wesen ist“.338 Hier möchte Melanchthon eine bestimmte Indizkraft verstärken, indem er die empirische Tatsache vom ubiquitären Wissen um Gott als Argument für die Wahrheit dieses Wissen als auch für die Existenz Gottes benutzt. Dieses Argument ist – so hält schon Clemens Bauer fest – entscheidend, wenn es Melanchthon um eine eben universale, ubiquitäre, aber systematische Geltung des ‚Naturrechts‘ zu tun ist. Es ist auch bei jenen Menschen bekannt und in Kraft, die nicht das Offenbarungswissen besitzen.339 Nimmt man nämlich an, dass alle
337 CR XXII, Sp. 66. 338 CR XXII, Sp. 66 [Hervorhebung O.B.]. 339 Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, hier S. 65f.
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Menschen dieses Wissen besitzen, ohne dass sie sich über dieses Wissen intersubjektiv ausgetauscht haben können, so kann dieses Wissen nur von dritter Seite eingegeben worden sein, nämlich von Gott. Damit versucht Melanchthon, die unterschiedlich relationierbaren Wissens- und Wahrheitsbegriffe im ens perfectissimum zusammenzuführen: Nur Gott kann diese bemerkenswerte intersubjektive Übereinstimmung der ideae innatae in den Menschen gewährleisten. Als Verfasser und Eingießer dieser Ideen garantiert er sowohl ihre objektive als auch ihre subjektive Geltung. Nichtsdestoweniger wird das Vorhandensein des Wissens um Gott und die ersten moralischen Prinzipien in allen Menschen von Melanchthon letztlich nur empirisch behauptet, nicht empiristisch nachgewiesen. Die Zustimmung des zeitgenössischen Lesers zur unbestreitbaren Evidenz der empirischen Tatsache setzt Melanchthon schlicht voraus. Melanchthon bleibt sich innerhalb seiner eigenen Argumentation darüber bewusst, dass der Indiziencharakter der ideae innatae gerade noch nicht die umfassende Auskunft über Gott gibt, um die es ihm zu tun ist: Manifest sind Existenz, Absolutheit und Allmacht Gottes sowie eine gewisse Güte insofern, als er die Kenntnis von Recht und Unrecht gespendet hat. Über weitere entscheidende Dogmen, etwa der Trinität, die hier nicht diskutiert werden kann und soll, besonders aber hinsichtlich des hier interessierenden göttlichen Eingreifens geben diese Indizien noch keine differente Auskunft: Sie können etwa für einen Theismus wie Deismus gleichermaßen gelten. Schließlich ist mit der Feststellung von Gottes Existenz, Omnipotenz und Schöpfung von Recht sowie Rechtskenntnis nichts darüber ausgesagt, ob Gott die concordia iuris nur jenseitig oder auch diesseitig stabilisiert. Nicht umsonst fragt Melanchthon schon in den Heubtartikeln unverzüglich: „Ist dieser verstand von Gott nicht gnug? Antwort. Dieser Gesetz verstand von Gott ist nicht gnugsam“.340 Offensichtlich geben die eingeborenen Begriffe von Recht und Unrecht selbst keinen exakten Aufschluss über die Bestrafung derjenigen Untaten, über die ein irdischer Gesetzgeber und Richter nicht richten kann. Gemeint sind Untaten, die sich gerade auf der Ebene des irdischen Souveräns selbst abspielen: Weiter bleiben auch die selbigen Weisen nicht bey dem natürlichen verstand, fallen in zweiffel, die weil sie diese vngleicheit sehen, Das öffentliche Gottes verechter vnd Tyrannen, die vielen menschen vnrecht thuen, reichthumb vnd ein frölich Leben haben, Dagegen aber tugentliche Leute in elend vnd kumer leben, werden vnschüldiglich von den Tyrannen getödtet.341
340 CR XXII, Sp. 67. 341 CR XXII, Sp. 67.
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Gott gibt in den eingeborenen Ideen von Recht und Unrecht noch keine Auskunft über sein irdisch politisches Eingreifen. Hinsichtlich der Existenz von Tyrannei und ihrer zumindest nicht sofortigen Bestrafung ziehen daher viele ‚Weise‘ in Melanchthons Augen einen ethischen Fehlschluss: Die fundamentalen natürlichen Gesetze besäßen keine Geltung, insofern die Geltendmachung dieser Gesetze nicht evident ist. Daher leugnen sie die eingeborenen Ideen oder, schlimmer noch, sie leugnen Gott oder seine Allmacht: Darumb sprachen Cato vnd Pompeius, sie wusten nicht, ob Gott regire oder nicht, dieweil sie in einer guten Sache (wie sie meineten) vnfall hetten, also wird das natürliche liecht in den selbigen weisen Leuten gantz verblendet, vnd meinen Gott sey kein Richter vnd kein Helffer, suchen darnach andere fantaseyen, werden Epicurei, oder Stoici, Epicurei sageten, Gott sey nichts, Stoici liessen Gott etwas sein, aber sie bunden jm hende vnd füsse, sageten, alles wie es geschehe, gutes vnd böses, müste also geschehen aus natürlicher vnwandelbarer ordnung.342
Dies berührt freilich die Frage der Theodizee, interessiert an dieser Stelle jedoch allgemeiner hinsichtlich der Geltung von Gottes Geboten. Ohne Polemik gegen Epikureer und Stoiker, aber systematisch pointierter formuliert Melanchthon den referierten Zweifel schließlich in der tertia aetas aus – mithin ein Zeichen, dass er diesen Zweifel ernst nimmt und nicht schon als Frage dogmatisch abtut: „Quia enim poenae differuntur, et bonis male est, et malis bene, ambigit ratio de providentia, hoc est, de ipsa prima Lege, An Deus benefaciat bonis et puniat malos“.343 Es dies eine Frage, die wie gesehen auch Justus Lipsius beschäftigen wird (4.1.2.1), und dies schon in einem eigenen Kapitel seiner De Constantia libri duo (1584). Dort wird sie allerdings mit der Gleichsetzung der Erstursächlichkeit und Güte des göttlichen Willens zügig erledigt, womit Lipsius auf Maß und Mittel seiner Gerechtigkeit kein Eingehen nötig scheint: Cedò caussas, inquis, cur diuina vltio hos prætereat, illos tangat. Caussas? tutissimè dicam me nescire. Non enim cepit me vnquam cælestis illa curia, nec ego eius decreta. Hoc tantùm scio, caussam antè omnes caussas esse, voluntatem dei. A quâ qui quærit aliam, vim & potentiam ignorat naturæ diuinæ. Nam caussam omnem necessum est, genere quodam, priorem & maiorem esse suo effectu. at deo & eius voluntate nihil prius aut maius. non ergo vlla eius caussa. Deus præteriit, deus tetigit. quid vltrà hîc vis? Summa iustitia est, vt rectè & piè Saluianus ait, voluntas dei.344
342 CR XXII, Sp. 67f. 343 CR XXI, Sp. 713. 344 Lipsius: De Constantia libri duo, II, 12, S. 112f.
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Wie gesehen, wird Lipsius’ Haltung zur göttlichen Strafe über Tyrannen in der Politica noch zurückhaltender und ganz auf tormenta interna beschränkt. Philipp Melanchthon, wenngleich selbst auch theologischer Voluntarist, macht es sich mit der Beantwortung dieser Frage sichtlich nicht so einfach. Der offensichtlich unergründbare Weg der göttlichen Strafe verleitet viele zu der, wenn auch falschen, so doch reflektierten Annahme, dass die Begriffe von Recht und Unrecht entweder nicht existierten oder zumindest keinen Bestand hätten. Denn ihre Geltendmachung erfolgt nicht gleichermaßen reguliert und erwartbar wie bei einer weltlichen Jurisdiktion. Dies ist etwas entscheidend Anderes als die von Melanchthon ebenso besprochene Verdunkelung des menschlichen Geistes durch den Sündenfall: Dieser begegnet er dadurch, dass die ideae innatae im Zustand der Sünde als dennoch vorhanden behauptet werden.345 Der Unterschied zwischen diesen beiden Bedingungen von Zweifeln an den ideae innatae – hier die verdunkelte Erkenntnisfähigkeit im postlapsaren Zustand, dort der Widerspruchsvorwurf an göttliche Gesetze – besteht also im Kern darin, dass der Irrtum einmal einer unreflektierten, jedenfalls passiven Verwirrung entstammt, ein andermal aus reflektierter Betrachtung resultiert.
4.2.2.3 Die Notwendigkeit der nicht-innatistischen Lösung Es ist gerade der Widerspruchsvorwurf, den Melanchthon ernst nehmen muss, rührt er doch an die grundlegende Frage jeder Rechtsphilosophie: Warum nämlich soll Gesetz überhaupt gelten? Diese konnte vor Thomasius (4.3.5), besonders aber vor dem kategorischen Imperativ nur mit einer dem Gesetz stets äußerlichen Zwangsbewehrtheit und Strafandrohung beantwortet werden.346 Melanchthon ist sich der drohenden falsifikatorischen Wirkung des Widerspruchsvorwurfs vollkommen bewusst: Da die Strafen sich unterscheiden und nicht klar ersichtlich ist, dass Gott die Unrechten bestraft, ist die Vernunft unschlüssig hinsichtlich des ersten Gesetzes selbst („ambigit ratio […] de ipsa prima Lege“).347 Da dieses erste
345 CR XXII, Sp. 147.: „Aber da Adam vnd Eva in die sünde vnd Gottes zorn gefallen sind, vnd Gott von jnen gewichen ist, da sind auch die natürlichen kreffte seer schwach in jnen worden, Das liecht im verstand ist viel tunckeler worden, wiewol noch etwas bleibet, als zal, vnd vnterschied guter vnd böser werck, vnd gesetzlere, denn Gott will haben, das alle Menschen die sünde erkennen, vnd will vns mit vnserem eigenen Gewissen richten vnd straffen, will auch haben, das alle menschen eusserliche zucht halten, Darumb bleibet noch in dieser verderbten Natur, dennoch ein erkentnis, wiewol sie tunckel ist“. 346 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau; Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit. 347 CR XXI, Sp. 713.
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Gesetz wie gesagt allen übrigen systematisch übergeordnet ist, droht mit seiner Widerlegung nichts weniger als der Zusammenbruch des gesamten ethisch-naturrechtlichen Theoriegebäudes. Dem Widerspruchsvorwurf kann Melanchthon mit dem Innatismus selbst nicht mehr begegnen. Denn dieser Vorwurf resultiert aus dem stringenten Gesetzesbegriff, den Melanchthon selbst vertritt, mehr noch: hinsichtlich seines obligationstheoretischen Voluntarismus’ vertreten muss. Tatsächlich erhält nämlich auch in Melanchthons Augen ein Gesetz erst dann seine normative Kraft, wenn es entsprechend zwangsbewehrt ist und das Rechtssubjekt zur Einhaltung angehalten bzw. im Verstoßfall bestraft wird: Gebot nennet man die von nötigem gehorsam reden, also, das alles so wider die gebot Gottes ist, ist sünde, vnd bringet ewige straffe […] Radt nennet man diese lere, die nicht Gebot ist, vnd macht das werck nicht nötig, aber sie lobet das werck, als vnstrefflich, vnd etwa zu nützlich.348
Diese normative Kraft können die Gesetze jedoch nicht in sich selbst haben – etwa im Sinne einer rechtslogischen Widerspruchsfreiheit mit entsprechenden normativen Folgen wie später bei Rousseau und Kant.349 Sie wird als dem Gesetz selbst notwendig äußerlich gedacht: Es bedarf einer Instanz, die das Gesetz selbst nicht ist. Diese Instanz muss entsprechend mächtig sein, um das Gesetz geltend zu machen und d.h. für den Verstoßfall eine Strafe zu vollstrecken. Für die Situation des Gesetzverstoßes innerhalb des Staats ist die Frage dieser Geltendmachung empirisch eindeutig gelöst: Es gibt Gerichte und Strafvollzug. Über die Geltendmachung der positiven Gesetze besteht also kein empirischer Zweifel, mithin kein rechtslogischer Zweifel über ihre Geltung und Existenz. Was aber gilt für die Gesetzesverstöße außerhalb des Staates, wenn ein weltlicher oberster Herrscher, Gesetzgeber und Richter derjenige ist, der entweder wider göttliches Recht verstößt oder qua Umsturz seiner Handlungsmacht
348 CR XXII, Sp. 284. Bemerkenswerter Weise erfolgt diese Unterscheidung in den späteren Loci tertiae aetatis nicht annähend so prägnant wie hier: CR XXI, Sp. 719f. 349 Das Rechtssubjekt kann – auch nicht willentlich demokratisch! – kein Gesetz erlassen, das ihm rechtslogisch letztlich diesen Status als Rechtssubjekt gerade abspricht, weder unmittelbar faktisch noch auch nur der Möglichkeit nach. Das Gesetz wäre inhaltlich und in seiner Konstitution gleichermaßen widersinnig und daher nichtig, da das notwendige Rechtssubjekt, das jedes Gesetz braucht, sich den Status des Rechtssubjekts abspricht, womit das Gesetz kein Rechtssubjekt besitzt und daher gegenstandslos ist. Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, hier S. 172–189. Eine solche normative Kraft des Logischen, wie sie Rousseau und vor allem Kant unstrittig bewiesen haben, kann ein Denken, das selbst den Satz vom Widerspruch nicht als absolut anerkennt wie der lutheranische Voluntarismus, nicht erkennen.
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beraubt ist? Damit ist der Bogen wieder zurückgeführt auf die Gryphius entscheidend interessierende Frage: Hinsichtlich der empirischen Tatsache von Tyrannei und Umsturz muss schon Philipp Melanchthon auf diese vordergründig politische Frage unter jenem außerordentlichen Druck eine Antwort finden, unter den er sich durch seinen eigenen Gesetzesbegriff, seine eigene voluntaristische Geltungstheorie und seinen eigenen weltlichen Souveränitätsbegriff selbst gesetzt hat. Tatsächlich ist die Frage des politischen Ausnahmezustands bei Melanchthon zunächst eine, die aus der rechtstheologischen Systematik des Reformators selbst resultiert. Durch die empirische Tatsache der Existenz von Tyrannei und Umsturz wird sie hingegen nur angestoßen, sie hat in dieser Tatsache jedoch nicht ihren systematischen Grund. Dabei wird deutlich, dass es eines der zentralen Irrtümer Carl Schmitts ist zu meinen, dass Probleme des Ausnahmezustands mit politischer Theologie nur gelöst werden, nie aber in dieser selbst gründen könnten.350
350 Schmitt hat in der Tat nicht verstanden, dass die von ihm durchaus richtig erkannte Tatsache, dass allgemeine Normen logisch unmöglich ihr eigenes Nichtwirken formulieren können, nicht notwendig auf eine politische Zwangsgewalt verweisen muss. Diese Tatsache ist nämlich nur bei jenen Normen fatal, bei denen es tatsächlich einen möglichen Bereich ihres Nichtwirkens gibt. Schmitt übersieht demgegenüber die entscheidende Erkenntnis Rousseaus wie Kants, dass es gerade die souveränitätsrechtlichen Normen sind, die selbst logisch fundiert sind und daher logisch unmöglich ihr eigenes Nichtwirken formulieren können, insofern sie logisch unmöglich ihre eigene Bejahung und Verneinung setzen können. Dies gilt für den allgemeinen Fall von Gesetzen, in denen Rechtssubjekte im Rahmen einer Selbstunterwerfung auf ihren Status als Rechtssubjekte verzichten. Vgl. nochmals Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 172–189. Es ist diese normative Kraft des Logischen, etwas zu gebieten, was unmöglich anders gedacht werden kann, die Schmitt verkennt und die ihn Lügen straft, wenn er behauptet, „[d]ie Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung“: Schmitt: Politische Theologie, S. 24. Es gibt keinen möglichen Bereich des Nichtwirkens vom Widerspruchsverbot und es ist dieses, das gleichermaßen Begründung ist und rechtliche Kraft hat. Wenn Schmitt daher beharrlich von denknotwendigen politischen Theologemen und ihren per analogiam halbgar vollzogenen Säkularisaten spricht, verkennt er entweder den Satz vom Widerspruch und dessen eigene rechtslogische Wirkung und Macht (Macht tatsächlich im eigentlichen Sinne) oder er betrachtet diesen nur gleichfalls als säkularisiertes Theologem (ebd., S. 37f.), mithin also als historisch variant. Die Konsequenzen sind dabei dieselben: Die autonome und invariante Geltung des Satzes vom Widerspruch ist, samt dessen durchaus komplexem Zusammenhang mit dem Identitätssatz und dem Satz vom Grund, grundlegend für jedwede wissenschaftliche Argumentation: vgl. Michael Wolff: Der Satz vom Grund, oder: Was ist philosophische Argumentation?. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 89–114. Es ist erst Schmitts Theologisierung des Widerspruchverbots, die es in Anschluss an Nietzsches Gott ist tot erlaubt, das Widerspruchsverbot als gleichermaßen tot zu erachten, und damit häufig fatale Konsequenzen in den Geisteswissenschaften zeitigt. Dass Schmitt demgegenüber eine politische Theologie – ob nun eine bekennende oder
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4.2.3 Theologischer Politologe: Gryphius’ Mentor Georg Schönborner Der aufgewiesene Mangel an Schönborner-Untersuchungen ist nicht als Mangel der politischen Philosophiegeschichte misszuverstehen: Denn tatsächlich gibt es im Rahmen dieses Fokus’ gute Gründe, sich nicht mit Georg Schönborner (1579– 1637) zu beschäftigen. Weder gewinnt Schönborner selbst einschneidende Neuerkenntnisse, noch vollzieht er auch nur besondere Volten in der Auslegung der politologischen Tradition. Auf wirkmächtige Denker der politischen Theorie hat Schönborner selbst kaum gewirkt. Gleichwohl ist seine Bedeutung im Rahmen einer ideengeschichtlichen Perspektive nicht zu unterschätzen: Seine Politicorum libri septem (1609) sind allein bis zum Tode des Andreas Gryphius elfmal aufgelegt worden, wobei sie nie inhaltlich überarbeitet wurden. Den Erschütterungen bestimmter Überzeugungen und Perspektivenwechseln zum Trotz, die der Dreißigjährige Krieg im politischen Denken der Zeitgenossen unbestreitbar evozierte, blieb Schönborners Lehrbuch Standard, ohne auf diese Erschütterungen und Wechsel selbst durch inhaltliche Nachsteuerung reagieren zu müssen. Zum Einen ist in Schönborner ein Phänomen politischen Denkens jenseits des theoriegebenden Höhenkamms zu erkennen, das im Rahmen ausschließlicher Theorielehre einen dauerhaften Erfolg zeitigt. Diese Lehre schien bestimmte Fragestellungen der Zeit nachhaltig zu befriedigen und daher durch die verschiedenen Auflagen hindurch als aktuell wahrgenommen worden zu sein. Zum Anderen kann hierin Grund und Anlage dessen vermutet werden, wie sich mit diesem Erfolg konservative Denktraditionen wie juridische Theologeme u.ä. im breiten politischen Denken des Gryphius’ und seiner Zeitgenossen perpetuieren konnten. Über die besondere Hervorhebung des Deus politicus hinaus (4.4.5) sind Schönborners Politicorum libri septem also nicht als Theoriegebung zu verstehen. Schon diesen konzipiert er nicht selbst, sondern übernimmt ihn aus der Theolo-
scheinsäkularisierte – als durchaus denknotwendig folgern möchte, im Vollzug also auf die Gültigkeit des Satzes vom Grund wie dessen vom Widerspruch gerade setzt, beweist nur die Unmöglichkeit des Vorhabens, widerspruchsvoll und schlüssig argumentieren zu wollen. Die sich nur absolut vollziehende Hingabe an die Beliebigkeit einer den Grundgesetzen der Logik angeblich entzogenen Instanz verkennt also volens nolens (!), dass diese Gesetze notwendig gelten und ihre Leugnung unmöglich plausibilisierbar ist. Vor ihnen können nur noch lustvoll die Augen verschlossen werden: Der Lust am Irrationalismus ist mit rationalen Argumenten nicht mehr beizukommen. Schmitts Leugnung der Geltung des Satzes vom Widerspruch korrespondiert daher nur die empirische Leugnung oder gar Selbstleugnung des Rechtssubjekts: Sie kann nicht widerspruchsfrei rechtskräftig sein, sondern nur noch aufgezwungen werden. Insofern Schmitts Begriff einer politischen Theologie nur so greift, sind nicht erst die empirischen Diktaturen, sondern Carl Schmitts Politische Theologie selbst notwendig faschistisch.
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gie des späten Melanchthon (4.4.4). Auch in der allgemeinen Strukturierung des Textes ist eine mehr didaktisch-einführende als wissenschaftlich-behandelnde Anlage nicht zu übersehen. Schönborner spricht alle für die prudentia civilis relevanten Lehren an, eine Besprechung erfolgt jedoch nur selten: weder im Sinne einer Reflexion auf die Begründungsbedingungen der in Rede stehenden Normen oder Handlungsanweisungen noch im Sinne einer Reflexion auf die möglicher Weise kollidierenden Folgerungen aus diesen Normen und Anweisungen. Häufig nennt Schönborner noch nicht einmal die juristische oder juridische Quelle der von ihm vertretenen Lehrsätze: Diese werden dann schlicht gesetzt oder als schon bekannt bzw. je schon zustimmungsfähig ‚präsentiert‘. Dementgegen problematisiert und diskutiert Andreas Gryphius gerade Begründungs- und Kollisionsfragen intensiv. Ein solches Denken hat er an Schönborners Politica jedenfalls nicht geschult.351 Des Weiteren wird eine grundlegende Legitimationstheorie von Schönborner weder geliefert noch referiert: Die legitimationstheoretischen Annahmen des Lipsiusschülers bleiben weitgehend stumm und sind im Folgenden überhaupt erst zu rekonstruieren. In den Kapiteln über die Herrscherpflichten spricht Schönborner ausschließlich von Tugendpflichten wie der magnanimitas, der clementia und der fortitudo.352 Gerade darum scheint es Gryphius jedoch auch oder sogar vordringlich zu gehen: Er problematisiert Herrscherpflichten stets als Rechtspflichten, wenn nicht vor dem Volk, so doch vor Gott.
4.2.3.1 Theonome Begründung von Staat, Recht und Machterwerb Schönborner führt seinen Traktat mit der Feststellung ein, dass die hervorragendste Tugendlehre die politische ist.353 Es wird schnell deutlich, dass dieses Urteil relativ auf das Telos der von ihm favorisierten prudentia eingeschränkt ist. Es wird durch die Gottesinstanz verbürgt, die im Folgenden vor allem nicht nur
351 Es können weitere allgemeine Aspekte angeführt werden, in denen Schönborner sich grundlegend vom Denken und Interesse seines Schülers Gryphius unterscheidet und die schon jetzt anzeigen, dass sich die Kontexteinbettung der Trauerspiele mit der Erörterung der schönbornerschen Politica nicht erschöpft haben wird. In der Auseinandersetzung mit dem Machiavellismus etwa zeigt sich Schönborner ganz defensiv und entzieht sich der unmittelbaren Reflexion über dessen Prudentismus’, indem er Machiavelli nur als historischen Quellengeber zitiert: Zwar werden historische Beispiele zur Veranschaulichung politischer Problemlagen angeführt, die Schönborner immerhin namentlich dem Principe entnimmt, jedoch schließt er sich weder dem eigentlich von Machiavelli entwickelten Lehrsatz an noch diskutiert er ihn auch nur: Schönborner: Politicorum libri septem, S. 128f. 352 Ebd., S. 139–160. 353 Ebd., S. 1
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als Ursache der Schöpfung, sondern auch mit Blick auf ihre vis obligativa thematisiert wird. Vor dem Hintergrund einer unvermittelten Theologisierung der aristotelischen politischen Anthropologie, ist für Schönborner Gottes Schöpfungsakt gleichermaßen Schöpfung und Verpflichtung des Menschen: „Deus enim est, qui hominum animis inclinationem ad civilis vitæ societatem insevit, unde illud Philosophi ἄνθρωπον τῇ φύση ζῶον πολίτικὸν ἔισιν. Aristot. I. Polit. 2“.354 Die Neigung des Menschen zur Vergemeinschaftung ist eine anthropologische Konstante. Die von Aristoteles eingeführte Natur wird von Schönborner unvermittelt, aber in der üblichen Weise als Gottes Schöpfung gelesen. Die inclinatio zur bürgerlichen Gemeinschaft wird somit als von Gott in den Menschen hineingelegt gedacht. Schönborner lässt hier weder systematisch noch rhetorisch irgendeinen Zweifel darüber aufkommen, dass seinem politischem Denken über die anthropologische Anlage hinaus eine unverbrüchliche Theonomie zugrundliegt. Hinsichtlich der Rechts- und Staatsbegründung sowie ihrer Erhaltung darf Gottes ordnender Eingriff nicht bloß deistisch gedacht werden: Deus enim est, qui hominum animis inclinationem ad civilis vitæ societatem insevit [...] Deus est, qui populi sui politiam fundavit legibus: Deus est, cujus lege immobilis rerum humanarum ordo seritur [...] qui transfert & stabilit regna.355
Der Parallelismus wie auch die Anapher verdeutlichen: Schönborner legt die Gottesinstanz nicht nur systematisch zugrunde, er pocht regelrecht auf diese Grundlage. Diesem Fundament stellt er zudem das glückliche Leben der Bürger als den Zweck der politischen Herrschaft zur Seite. Damit scheint schon hier ein willkürlicher Absolutismus verunmöglicht. Schließlich ist der Handlungsraum des Herrschenden derart zwischen Gottes Willen und dem je schon vorgegebenen Staatszweck eingeschränkt, dass Schönborner an dieser Stelle nicht von rex, imperator o.ä., sondern zurückhaltender vom bloßen moderator spricht.356 Doch Schönborners Einengung des herrschaftlichen Spielraums durch dem Staat präexistente und äußerliche Vorgaben reicht noch weiter: Zwischen Gott als Wirk ursache und der beata vita der Bürger als Zielursache von Staat und Recht steht auch ihre Materialursache schon vor und außerhalb der politischen Gestaltungs-
354 Ebd. Der tatsächliche Wortlaut lautet nach Bekker: „ἐκ τούτων οὖν φανερὸν ὅτι τῶν φύσει ἡ πόλις ἐστί, καὶ ὅτι ἄνθρωπος φύσει πολιτικὸν ζῷον“. (Aristoteles: Πολιτικων, 1253a1–3 [Hervorhebung O.B.]). 355 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 1 [Hervorhebungen O.B.]. 356 Ebd.: „Vt gubernatori cursus secundus, Medico salus, Imperatori victoria: sic moderatori Reipubl. beata civium vita proposita est.“
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kraft. Schönborner spricht von vorstaatlichen, für den Staat gleichermaßen konstitutiven Gesetzen: „Leges certas esse dico, quæ constituunt Remp. nam si hæ absint, mera ἀταξία & confusio est, qua deterius nullum est malum“.357 Entscheidend ist hier die diesen Gesetzen selbst zugrundegelegte Spannung, insofern sie zwar schon konstitutiv wirken, aber selbst noch nicht vollständig realisiert sind: Sie sind im Stand der Natur nur normativer Art, sichern aber selbst noch nicht das geschützte und zufriedene Leben in diesem Zustand. Im Naturzustand besteht vielmehr Chaos, das als größtes Übel angesehen wird. Schönborner sieht darin keinen Widerspruch gegenüber der mit Aristoteles nicht minder als natürlich konstatierten Gesellschaftlichkeit des Menschen. Die Natur ist gleichzeitig chaotisch und drängt doch schon selbst auf Ordnung. Dies hat seinen Grund in einer Naturteleogie. Durch dieses Spannungsverhältnis von Naturzustand und der Gefahr des Chaos’ scheint nämlich schon der Zweck der Staatsbildung und -erhaltung als das eigentlich Schöpfungsgemäße und Gottgewollte hindurch.358 Hier liegt nicht etwa eine säkulare Staatsentstehungstheorie vor, insofern der überlebensfeindliche Naturzustand zur Notwendigkeit der Staatsbildung bereits hinreichte. Schönborner führt Gott als letztlich einzige Ursache ein und konstatiert schon hier die ständige Teilhabe alles Seienden an Gott über seine Erschaffung hinaus: Quemadmodum vero omnia entia esse suum dependens & participatum habent à summo illo Ente: Ita & Imperia ab unico hoc fonte. [...] Deus varias Rerumpub. formas, vices, & mutationes ordinat, gaudetque distinctione Statuum, & ordinata hominum pro diversitate donorum in quemcunque eorum collatorum dispositione.359
Sich der Nähe seiner bisherigen Ausführungen zu Entwürfen einer pessimistischen Anthropologie offenbar bewusst, grenzt sich Schönborner von solchen Ansichten unmissverständlich ab: „Neque enim Epicuri probanda est opinio, qui homines temere & fortuito casu coaluisse somniat. Cic. I. & 2. de Nat. Deor. nec eorum qui dicunt, homines initio instar pecudum in campis esse obvagatos [...]“.360 In seinem Begriff von der Partizipation des Menschen wie alles Seienden an einem höchsten Seienden („participatum habent à summo illo Ente“) schließt sich Schönborner stillschweigend, aber unverkennbar der thomistischen Tradition an: Während für Hobbes der Urtrieb des Menschen in dessen conatus der
357 Ebd., S. 5. 358 Ebd., S. 5: „Bonum publicum addidi: nam moderatori Republ. beata civium vita proposita est , Cic. 5. de Republ.“ 359 Ebd., S. 5. 360 Ebd., S. 6.
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Selbsterhaltung liegen wird,361 sieht der Thomismus den Kern dieses Strebens eben in der Partizipation der endlichen Dinge am höchsten, d.h. dem absoluten Sein.362 Entsprechend lehnt Schönborner auch die auf der Nimrod-Gestalt Bezug nehmende These Jean Bodins ab, initialer Ursprung der Staatsbildung sei Gewalt.363 Entscheidend und allein hinreichend konstitutiv ist trotz aller Gewalt, die der Obrigkeit im Ergebnis zugesprochen wird, die freie Willensentscheidung zur Übereinkunft über gegenseitige Rechte und Pflichten: „Sane non videtur hoc: Voluntarium enim est non violentum, quod homines inter se mutuorum officiorum causa conveniunt“.364 Aufgrund dieser wesentlichen Freiwilligkeit der konstitutiven Konvention droht die Staatsbildung kontingent zu sein. Dieses zweite Problemmoment seiner kurzen Staatsentstehungstheorie fängt Schönborner abermals theologisch ab: Denn was kann es vor dem Hintergrund dieses Paradoxons noch sein, was den interhuman freien Willen notwendig auf die Staatsbildung hindrängt, außer die den menschlichen Willen lenkende Gottesinstanz?: „Quid ergo est, quod causam huic rei dederit? Naturalis hominum inclinatio est divino afflatu incitata“.365 Diese letztendlich transhumane Unfreiheit des Willens erlaubt es Schönborner einerseits, Bodins These von der Herrschaft als je schon wesentlicher Zwangsgewalt abzulehnen. Andererseits löst er damit die Problematik eines liberum arbitrium willenstheologisch im üblichen lutheranischen Denken vom servum arbitrium auf. Zwei entscheidende Bedingungen für Schönborners Staatsentstehungstheorie sind daher Panrationalismus und eben die Naturteleologie. Ersterer verbürgt die Naturgesetzlichkeit, mithin die Gesolltheit aller Ordnung überhaupt.366 Damit versucht Schönborner abermals die These vom chaotischen Naturzustand abzulehnen und gleichzeitig den menschlichen Gemeinschaften eine Ordnung naturrechtlich zuzuschreiben. Hier tut sich ein nicht unerhebliches Problem auf, wie es schon vor dem Hintergrund der anarchistischen
361 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie. 362 Hieronymus Friedrich: Begehren, appetitus naturalis. In: HWPh 1, S. 776–777, hier S. 776. 363 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 6: „Quid vero Bodini tribuendum assertion. 1. De Repub. Cap. 6. & 4. cap. 1. qui imperia omnia, vi primum cœpisse colligit, quandoquidem primus Nimrod in fundatione Imperii Assyriaci visus fuerit homines à domestico partioque communionis jure ad publicam eamque severam redegisse consociationem?“ 364 Ebd. 365 Ebd. 366 Ebd., S. 6f.: „Et nihil in toto hoc universo constitit absque ordine, qui est proprium naturæ effectum. Denique imperare & parere, non solum necessariorum sunt, verum etiam utilium.“
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Utopien367 und der Arkadienliteratur hervortritt: Weshalb nämlich verbleibt der Mensch denn nicht im Naturzustand, wenn dieser doch ebenso vom ordo durchdrungen ist? Dem hilft Schönborner unverzüglich mit der Naturteleologie ab: Quod vero melius semper intendit natura: atque etiam ideo homini articulatus sermo datus, qui quasi quidam portitor animi nostri est, cujus communicatione civiles conventus indicuntur, artes coluntur, sapientiæ necessitudines homini cum hominibus intercedunt. Scal. I. Poet. I. pr.368
Die außer- bzw. vorstaatliche Natur drängt selbst zur Staatengründung und damit zum Austritt des Menschen aus ihr selbst. Sie hat dem Menschen schließlich die Sprache als „Fährmann seiner Seele“ gegeben, womit dieser sich austauschen und in bürgerlicher Vergemeinschaftung zusammenkommen konnte und musste. Dem liegt keine auf eine Staatengründung hinführende Dialektik von Natur und Unnatur zugrunde, sondern vielmehr die Annahme einer ‚eigentlichen Natur‘. Die genannte vor- und außerstaatliche Natur ist nur ein Teil dieser eigentlichen Natur und würde mit dieser nur unzutreffend identifiziert. Aus dieser Natur ist der Staatszustand schließlich genauso zu deduzieren wie die vor- und außerstaatliche Natur. Der status civilis ist nur genauso von Natur. In Schönborners Theorie ist eigentlich zu unterscheiden zwischen vor- bzw. außerstaatlicher Natur einerseits und natürlichem Staat andererseits.
367 Vgl. Richard Saage: Die moderne Utopie und ihr Verhältnis zur Antike. Leipzig 2000 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; Philologisch-Historische Klasse 137,2); ders.: Die ‚anthropologische Wende‘ im utopischen Diskurs der Aufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber, Heinz Thoma. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 24), S. 307–321. Die Begründungsverhältnisse von Natur und Staat bzw. nichtstaatlicher Vergemeinschaftung liegen im Vergleich gesehen über Kreuz: Die archistische Utopie hat einen anarchistischen Naturzustand zur Prämisse, welche die Gründung eines die politische Ordnung überhaupt erst einführenden Staates notwendig macht; die anarchistische Utopie setzt eine selbst schon archistische Natur voraus, in der sich je schon politisch geordnet leben lässt. Allerdings differenziert diese ursprünglich von Voigt herkommende Unterscheidung nicht ausreichend hinsichtlich der Frage, ob die archistische Natur selbst die Gesetze und Regeln der staatsfreien Vergemeinschaftung nur formuliert oder auch selbst schon immer realisiert: Während im ersten Falle immer noch eine gegenüber der Natur akzidentielle, also artifizielle Zwangsgewalt als Realisierungsbedingung der gesollten Ordnung hinzuzutreten hat – womit dies den meisten optimistischen Naturstandsutopien des siebzehnten Jahrhundert nahekommt –, ist im zweiten Falle alles bereits faktisch und nicht nur normativ besorgt, und auch theoretisch denkbare Konfliktfälle sind dadurch ausgeräumt, dass die Menschen in immer schon vorgängiger Harmonie gar nicht in dergestalte Interessenkonflikte geraten. 368 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 7.
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Damit wird der Staat bei Schönborner nicht zum Fluchtpunkt vor, sondern zur Erfüllungsinstanz der Natur. Das Streben der Natur zum Besseren („melius semper intendit natura“) ist keines aus sich heraus, kein letztlich selbstverleugnendes Streben der Natur. ‚Das Bessere‘, nämlich die staatliche Ordnung, ist im Arsenal der Natur selbst ebenso schon angelegt wie der vorstaatliche Naturzustand und die damit immanente Dynamik, die immer in der Natur von diesem vorstaatlichen Naturzustand hin zum natürlichen Staat treibt.369
4.2.3.2 fides in der ratio status? – status in der ratio fidei! Wie von einer Staats- und Regierungslehre zu erwarten, verwendet Schönborner einige Mühe auf Klugheitsregeln, welche die Erhaltung der Macht betreffen. Sie zu erlernen und sich anzueignen, ist für die Staatsführung wie den Machterhalt essenziel.370 Diese Klugheitsregeln sind bei Schönborner vor allem Verhaltensregeln, die ihre Quelle zwar vor allem im neostoizistischen Denken haben – hier darf vor allem Justus Lipsius’ Einfluss gesehen werden –, die von Schönborner allerdings besonders unter pragmatischen Gesichtspunkten erwogen werden. Solange Schönborner nicht zu den Fragen des Widerstandsrechts kommt, behält sein Traktat diese prudentistische Stoßrichtung bei. Geradezu unverblümt ist in dieser Hinsicht das bloß halbseitige Kapitel über die Gerechtigkeit. Hier geht es Schönborner nicht um wesentliche oder gar begründungslogische Fragen des Rechts- bzw. Gerechtigkeitsbegriffes, sondern um ihre sinnvolle, d.h. kluge Verwaltung: „De Iustitia Subditis æquabiliter administranda“.371 Dieses Kapitel wird ohne jede Umschweife mit einer Erwägung politischer Klugheit eingeführt und von dieser durchweg bestimmt: „IVstitia stabilitur principatus“.372 Unter den in 4.2.3.1 skizzierten theonomen Vorzeichen von Schönborners Denken darf jedoch nicht übersehen werden, dass dies eben nicht einen Prudentismus bedeutet. Wie z.B. bei Bornitz und Besold auch (4.1.2.3, 4.1.2.6) wird die Klugheit unter die Bedingung der Gerechtigkeit gestellt. Denn der principatus legt die Gerechtig-
369 Diese Sicht stützt Schönborner zuletzt mit einer historischen Deutung des aristotelischen Stufenmodells von Familie, Dorf, Stadt und Staat: „Dixi naturaliter homini esse inditum, ut simili cohabitet: Nunc videndum quomodo certis gradibus societas illa creverit. Primo omnium sola fuit maritalis conjunctio: deinde tota domestica societas coaluit: ex illa integræ familiæ gentilitæ, quibus extraneæ accesserunt, sic ut distinctis locis habitantes primo vicos, deinde pagos, post oppida & urbes, denique provincias & regna constituerent“. (Ebd., S. 7f.). 370 Lernfaulheit – die Schönborner u.a. dem historischen Michael Balbus vorwirft – bedeutet mithin den Verlust der herrscherlichen Macht von der Wurzel an: ebd., S. 164. 371 Ebd., S. 158 [Hervorhebung O.B.]. 372 Ebd.
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keit nicht nach eigenem Belieben fest, sondern verwaltet sie lediglich. Nicht nur in seiner schon erläuterten Staatsentstehungstheorie, sondern auch in seinen Kapiteln über die Gesetze und die Religion macht Schönborner daher eine unverbrüchliche Theonomie von Rechts- und Staatslehre deutlich. Dabei profiliert er seine politische Theologie im Sinne einer Zivilgesetzgebung als Amt. Die große politische Bedeutung der Gesetze und ihre Operationalisierung auf den Staatszweck hin – die gottgewollte irdische Glückseligkeit der Bürger – ist ebenso wenig autonom wie dieser Staatszweck selbst. Unter dem zugegeben theonomen Telos des Staates wäre eine selbstständige Wahl der Mittel zur Erreichung dieses Telos sogar noch denkbar: Das weltliche Regiment würde nach dem Erhalt seines Auftrags durch Gott gewisser Maßen in die ‚Weltlichkeit entlassen‘.373 Dennoch ist auch diese Wahl der Mittel eingeschränkt durch eine den Gesetzen selbst vorgängigen und theologisch fundierten Gerechtigkeit: Denn Schönborners Rede davon, dass die Gesetze mit Beginn des Staates selbst geschrieben werden,374 meint ausdrücklich nur das positive Recht. Diese Setzung soll jedoch nicht willkürlich erfolgen, sondern ist selbst wiederum reguliert, nämlich zunächst von der Vernunft: „Lex enim ex ratione semper æstimanda est, ut ubi ratio non est, ibi nec lex sit“. 375 Gegenüber dem natürlichen und göttlichen Recht buchstabiert der oberste positive Gesetzgeber rechtslogisch nur aus und aktualisiert sozusagen nur, was in diesen transhumanen Rechten als normatives Potential je schon enthalten ist. Diese Bindung und Unfreiheit des weltlichen Herrschers hält Schönborner gerade dort fest, wo es ihm mit Ulpian376 um die Freiheit des Souverän vom positiven Recht geht: „A superiori regula excipitur princeps, qui cum ferendi & abrogandi leges potestatem habeat, legibus est solutus. l. 13. ff. de legib. nempe supra leges civiles est, non enim supra eas, quæ sunt juris naturæ aut gentium“.377 Was die dem Gesetz wesentliche ratio gewährleistet und worin sie gründet, ist gleich ausführlicher zu erörtern. Jedoch gilt bereits hier: Sobald die Vernünftigkeit der Gesetze zur Bedingung der Gesetzgebung, ja sogar des Gesetzesbegriffes gemacht wird, ist der Souverän schon an eine ihm vorgängige und übergeordnete Instanz gebunden. Dass diese Vernünftigkeit nicht nur mit einer formellen
373 So eine Formulierung Böckenfördes bezüglich Martin Luthers Begriff vom weltlichen Regiment: Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 411: „Die weltliche Herrschaft wird – theologisch begründet und orientiert – in die Weltlichkeit entlassen“. 374 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 179: „LEx anima & spiritus est Civitatis: & una cum ipsius Civitatis primordiis scribe coepit.“ 375 Ebd., S. 182. 376 Dig. 1. 3. 31 (CIC 1, S. 34b): „Princeps legibus solutus est“. 377 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 184.
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Schlüssigkeit des positiven Gesetzeskorpus selbst abgegolten ist, sondern schon gehaltlich geprägt ist, wird durch Schönborners Hinweis auf eine leges-Hierarchie deutlich: Der Fürst steht nicht über dem Natur- und Völkerrecht. Festzuhalten ist entsprechend dieser juridischen Subordination des Herrschers, dass seine positive Gesetzgebung nur eine vernünftig schließende ist. Das menschliche Gesetz darf nichts gebieten, was das natürliche und das göttliche Recht verbieten; umgekehrt darf es nichts verbieten, was das natürliche oder göttliche Gesetz gebieten: Diese Haltung teilen so gut wie alle zeitgenössischen Naturrechtslehren (4.1.3.2). Ebenso hält Schönborner daher fest, dass „das Gesetz immer nach der Vernunft zu veranschlagen ist“.378 Die Vernunft des Legislators zieht ihre juridischen Schlüsse ausgehend von der transhuman geltenden Gerechtigkeit. Schönborner richtet sich nach der systematischen leges-Hierarchie des Thomismus und bringt sie in seiner Regierungslehre zur Anwendung. Respektive Luthers eigener expliziter Ablehnung des Thomismus wie der Scholastik überhaupt zeigt Schönborners Fall, wie doch gerade die thomasische Beschränkung weltlicher Gesetzgebungsbefugnis auf letztlich bloße Ausführung vereinbar war mit dem lutherischen Verständnis vom weltlichen Amt als einer gegenüber Gott ebenso nur ausführenden Instanz.379 Politisches Handeln meint bei Schönborner auch für die positive Gesetzgebung immer nur Amt im strengen Sinne: Es führt normativ nur aus, es ideiert nie. Schon damit ist eine politische Theologie im Sinne einer letztlich theonomen Begründung von weltlichem Recht und weltlicher Ordnung angezeigt. Im Kapitel „Über die Religion“380 macht Schönborner darüber hinaus deutlich, dass dieses weltliche Amt Gott nicht nur zum begründungslogischen Fundament hat. Nicht nur eine angemessene Gotteserkenntnis, sondern auch die Verehrung Gottes ist für das weltliche Regiment grundlegend: SVmmum illud & æternum Numen neque mutabile, neque interiturum, quod interest animis nostris, & cogitationibus mediis intervenit, ex quo omnia, per quod omnia, in quo omnia, recte agnoscere, & sincere colere, fundamentum est & columna totius Reipubl.381
378 Ebd., S. 182: „Lex enim ex ratione semper æstimanda est, ut ubi ratio non est, ibi nec lex sit“ [Hervorhebung O.B.]. 379 Vgl. Böckenförde: Rechts- und Staatsphilosophie, S. 402; im Einzelnen Denis R. Janz: Luther on Thomas Aquinas. The angelic doctor in the thought of the reformer. Stuttgart 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 140); gegenüber Luther selbst systematisch revidierend Lohse: Luthers Theologie, S. 49–52. 380 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189–193. 381 Ebd., S. 189.
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Hiermit ist Luthers Lehre von den zwei Regimentern insofern zurückgenommen, als Schönborner dem weltlichen Regiment Kompetenzen in Fragen der Religionsausübung zuerkennt. Dass Schönborner damit jedoch weniger mit Luther bricht, als nur eine Problematik aufgreift, die der späte Luther selbst schon angestoßen hat, zeigt schon die Lutherforschung selbst: Das Gebot einer Nichtintervention der weltlichen Herrschaft in Glaubensfragen hört auch für den Wittemberger dort auf, wo diese ihrerseits den weltlichen Frieden der Politia bedrohen.382 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist Schönborners Formulierung, laut der die Verehrung Gottes dem Staat nicht nur irgendwie zur Pflicht gemacht, sondern als fundamental angesehen wird („SVmmum illud & aeternum Numen […] sincere colere, fundamentum est“). In jedem Falle konstatiert Schönborner eine politische Funktion von Glauben. Es stellt sich entsprechend die Frage, ob entweder diese Funktion einen je schon wesentlichen Effekt des Glaubens selbst darstellt, mithin vom politischen Akteur gar nicht zu vermeiden und notwendig zu berücksichtigen ist, oder diese Funktion in der religio selbst enthalten ist und vom politisch Klugen erst hergestellt wird: Im ersten Fall spräche man lediglich von einer Berücksichtigung der immer statthabenden politischen Funktion von Religion, im zweiten Fall erst von einer aktiven Funktionalisierung von Religion. Dass es Schönborner anders als Machiavelli um ersteres geht, verdeutlichen seine weiteren Ausführungen. Eine politisch erfolgreiche Funktion nämlich kann nicht jedweder, sondern ausschließlich der richtige Glaube übernehmen.383 Damit ist zunächst eine Instrumentalisierung des Glaubens zumindest darauf eingeschränkt, dass nicht jeder beliebige Glaube zum politischen Mittel gemacht werden darf. Auch könnte nicht jeder beliebige Glaube politisch erfolgreich sein. Für Machiavelli war in seinen Discorsi die Frage, um welche Religion es sich handelt, insoweit irrelevant, als der Herrschende schlicht den meist verbreiteten Glauben für seine politischen Zwecke benutzt. Dies bedeutet eine politisch geleitete Wahl des Glaubens und nicht umgekehrt eine theologisch geleitete Wahl der Politik.384 Bei Machiavelli liegt eine Instrumentalisierung eines Mittels vor, bei
382 Vgl. Böckenförde: Rechts- und Staatsphilosophie, S. 421. 383 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189: „Vtrique autem tam qui imperant, quàm qui parent, arcta quadam catena inter se devincti, magnum Imperio robur & fulcrum addunt, si non ficte, non perfunctorie, non superstitionis animis Religionem tueantur & propagent: magnam è contra eidem ruinam & stragem accersunt, si susceptæ fuerint, contra quam fas est, impiæ religiones.“ 384 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,14, S. 81: Machiavelli behandelt unter dem Leitthema politischer Instrumentalisierung von Religion den antiken Vielgötterglauben genauso wie den jüdisch-christlichen Monotheismus, ohne dass ihr Unterschied hinsicht-
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dessen Wahl nichts anderes als sein Zweck zum Maßstab gemacht wird. Indem Schönborner demgegenüber die Rechtgläubigkeit zum Kriterium erhebt, liegt eine zusätzliche, nicht vom Zweck her bestimmbare Einschränkung in der Wahl der Mittel vor. Der rechte Glaube ist unstrittig, ja notwendig von politischem Nutzen. Er ist insofern auch bei Schönborner tatsächlich ein Mittel in der Hand von Obrigkeit und Untertanen. Sie können „dem Reich Stärke und Stütze hinzufügen, wenn sie […] den Glauben beschützen und verkünden“.385 Allerdings sind sie nur Subjekte der Nutzung, nicht der Wahl dieses Mittels: Diese bestimmt sich danach, dass es sich um den rechten Glauben handeln muss und falsche, unfromme Glauben abzulehnen sind. Wenn Schönborner fordert, dass der rechte Glaube zu schützen und zu verkünden sei, dann nicht aus einem politischen Kalkül. Dieses erlaubt schließlich, das Mittel nach seiner erfolgreichen Nutzung zu vernachlässigen oder neu gegebenen Umständen anzupassen. Die Forderung erfolgt aus einem Grund, der dem Glauben selbst innewohnt: Den rechten Glauben anzunehmen, zu wahren und zu verbreiten ist gegenüber der politischen Handlung ein Selbstzweck. Dessen Nichtverfolgung ist unmissverständlich unter Strafe gestellt, denn „sie ziehen große Zerstörung und Verwüstung auf sich, wenn sie einen unfrommen Glauben annehmen“.386 Das Ausbleiben dieser Strafe als Effekt der Rechtgläubigkeit kann also nur im Rahmen einer bloß scheinbar zweckrationalen Handlung des weltlichen Regiments ‚angezielt‘ werden: Tatsächlich aber ist der weltliche Entscheidungsträger nicht eigentlicher Herr über dieser Zwecksetzung, denn vor dem Hintergrund der ruinösen Strafe mangelt es ihm an sinnvollen Alternativen. So prudentistisch sich Schönborner hier abermals in so mancher Formulierung ausnehmen mag, so bleibt dennoch deutlich, dass die Religion bei ihm gerade keinem Prudentismus unterworfen ist: Der Nutzen, den der Staat aus der Pflege des rechten Glaubens zieht, ist Wirkung des Einhaltens eines göttlichen Gebots. Mit Blick auf den legitimationstheoretischen Aspekt dieser Erkenntnis ist hier eine unbestreitbar starke politische Theologie festzustellen. Schönborner vollzieht jedoch mit einem Zitat aus Senecas Tragödie Thyestes die neuerliche Volte in die politische Klugheit: „Canit […] Seneca. Vbi non est pudor, Nec cura
lich des in Aussicht gestellten politischen Erfolgs differenzbildend ist: „Né ad altro fine questo modo dello aruspicare, che di fare i soldati confidentemente ire alla zuffa, dalla quale confidenza quasi sempre nasce la vittoria.“ 385 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 189: „Vtrique autem tam qui imperant, quàm qui parent, […] magnum Imperio robur & fulcrum addunt, si […] Religionem tueantur & propagent“. 386 Ebd.: „magnam è contra eidem ruinam & stragem accersunt, si susceptæ fuerint, contra quam fas est, impiæ religiones“.
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juris, sanctitas, pietas, fides, Instabile regnum est“.387 Diese Volte ist nicht etwa ein wiederum prudentistisches Gegenstück zur doch gerade erst entwickelten legitimationstheoretischen Theonomie, sondern sie ist ihre pragmatische Folgerung: Die fatalen politischen Folgen des falschen Glaubens lassen dem Menschen zwar nur eine binäre Wahl. Dennoch sind sie genau so notwendiger Teil des menschlichen politischen Kalküls wie im Umkehrschluss der Nutzen der Rechtgläubigkeit. Wer wie Machiavelli die rechte Religion als für politische Fragen irrelevant erachtet, verkennt daher die Tatsache, dass der falsche wie der rechte Glaube nicht nur einer normativen oder gar nur jenseitigen Sphäre angehören. Sie zeitigen durch ihre diesseitigen Wirkungen gerade politische Effekte, die sie für das politische Kalkül des weltlichen Regiments relevant machen. Ein säkularer Prudentismus ist also gerade unkluger Prudentismus, insofern er eine Art politischer Ereignisse kategorisch außer Acht lässt, nämlich die irdischen Strafhandlungen Gottes. Damit erfährt schon die politische Theologie Schönborners durch das Zitat aus dem Thyestes eine Zuspitzung auf ihre pragmatische Konsequenz, eine theologische Politologie. Diese bildet bei Gryphius’ Mentor auch die Basis einer fatalen konfessionspolitischen Intoleranz, die ihm theologisch und politisch notwendig gleichermaßen ist. Denn der Glaube ist einmal der Lebensgeist des Staates. Ein andermal gilt dies nur für den einen wahren Glauben –, so Schönborners auch hier nachdrückliche Formulierung: Vnum Imperii corpus una religione regi necesse est: Istud est vinculum, per quod Resp. cohæret: ille spiritus vitalis, quem hæc tot millia trahunt: nihil ipsa per se future, nisi onus & præda, si mens illa Imperii subtrahatur. Quod si is, qui anathematis nomine invisus est, fugiendus, quid statuendum de eo, qui neglecta vera religione, alienam amplectitur? Consortium ejus evitandum: præcidendum putridum aliquod membrum, ne pars sincera trahatur.388
Durch den falschen Glauben schwächen einzelne Glieder die gesamte politische civitas: Um wieviel schwächer muss daher eine Kette sein, die ausschließlich aus schwachen Gliedern besteht! Für jemanden wie Schönborner lieferte der von Ernst-Wolfgang Böckenförde als Säkularisierungsmotor gewürdigte Augsburger Religionsfrieden389 daher nur die Realisierungsbedingungen, unter denen
387 Ebd., S. 190. 388 Ebd., S. 192 [Hervorhebung O.B.]. 389 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main 1976 (stw 163), S. 42–64, hier S. 50.
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Lutheraner im lutheranischen Regiment in Frieden leben konnten. Nichtlutheraner jedoch waren in notwendiger Ermangelung eines guten Staates notwendiger Weise dem Untergang geweiht.390 Die von Böckenförde angesprochene, durch Augsburg in ihren ersten Ansätzen gewonnene Freiheit kann im Lichte von Schönborners politischer Theologie nur die Freiheit bedeuten, falsch zu liegen. Von den harten Konsequenzen dessen ist der Nichtlutheraner allerdings nicht befreit. Der Status Schönborners als konfessionspolitischer Hardliner gegenüber der positiven realgeschichtlichen Wirkmacht des Religionsfriedens, die Böckenförde zutreffend beobachtet, überrascht nur vordergründig. Systematisch ist er in fataler Weise folgerichtig. Bleibt es nämlich bei der Annahme, dass es einen richtigen Glauben gibt, dem andere Glauben bloß als falsche Glauben gegenüberstehen können – und diese Behauptung und dieser Anspruch wurden mit dem Religionsfrieden weder von der katholischen noch der evangelischen Kirche unmittelbar aufgegeben391 –, so muss es entsprechend eine richtige Theologie geben, neben der andere nur falsche, jedenfalls unzutreffende Theologien sein können. In der weiteren Folge muss es eine richtige politische Theologie entgegen
390 Dieser Rigorismus des Lutheraners Schönborner gegenüber Andersgläubigen bildet eine markante historische Pointe in jenem Jahr 1609, in dem doch ausgerechnet die Lutheraner durch den schlesischen Majestätsbrief seitens der Habsburger „gantz und vollkhomblich in Fried vnnd ruehe gelassen“ zu werden erreicht hatten. Zit. n. Christian-Erdmann Schott: Der Augsburger Religionsfrieden und die Evangelischen in Schlesien. In: Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches. Hg. von Gerhard Graf, Günther Wartenberg, Christian Winter. Leipzig 2006 (Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 6), S. 93–106, hier S. 96. 391 Vgl. dazu bereits die deutlichen Worte des katholischen Kirchenhistoriker Nikolaus Paulus: Religionsfreiheit und Augsburger Religionsfriede. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 149 (1912), S. 356–367 und 401–416, hier S. 416: „Für den Gedanken der Religionsfreiheit in modernem Sinn hat man auf dem Augsburger Reichstag von 1555 weder auf katholischer noch auf protestantischer Seite ein Verständnis gehabt“.; vgl. weiter Martin Brecht: Der Westfälische Friede – ein Modell für den Religionsfrieden?. In: Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden. Hg. von Detlef Kröger. Osnabrück 2000, S. 41–47, hier S. 42. Vgl. dazu auch im Rahmen einer immanenten juristischen Analyse des Vertragswerks Heiner Lück: Der Augsburger Religionsfrieden und das Reichsrecht. Rechtliche Rahmenbedingungen für ein epochales Verfassungsdokument. In: Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches. Hg. von Gerhard Graf, Günther Wartenberg, Christian Winter. Leipzig 2006 (Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte 6), S. 9–23, hier S. 17–20. Lück spricht vom Religionsfrieden als einer „formal provisorischen und faktisch endgültigen (Nicht-)Lösung des Religionskonflikts“ (S. 17). Vgl. außerdem Jan-Dirk Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste. In: Calvin et l’humanisme. Actes du symposium d’Amiens et Lille III (25–26 novembre 2009). Hg. von Bénédicte Boudou, Anne-Pascale Pouey-Monou. Genève 2012 (Cahiers d’Humanisme et Renaissance 99), S. 237–258, hier S. 238.
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anderen falschen, unzutreffenden politischen Theologien geben. Als Phänomen und Ergebnis dieser Folge präsentieren sich Schönborners Politicorum libri septem.
4.2.4 Der Straßburger Einfluss: Johann Heinrich Boeclers Geltungsvoluntarismus Als ein weiterer Ideengeber des Andreas Gryphius muss der Straßburger Staatshistoriker und -theoretiker Johann Heinreich Boecler gelten (1611–1672). Die Einflüsse im Rechtsdenken, die Gryphius außerhalb ‚seiner‘ Universität Leiden aufnehmen konnte, sollten nicht als marginal eingestuft werden. Denn Gryphius’ erster Biograph Stosch berichtet, dass Gryphius seine prudentia civilis besonders auf seiner am 4. Juni 1644392 begonnenen peregrinatio academica vertieft: „Vber dieses hat er das Glcke gehabt / seine Civilische prudentz hher zu bringen / durch die vorgestossene Gelegenheit / fernere Lande zu sehen“.393 Seine Reise führt Gryphius 1646 nach Straßburg, das er erst am 25. Mai 1647 wieder verlässt. Dort macht er die Bekanntschaft mit zahlreichen Gelehrten,394 als deren wichtigster Johann Heinrich Boecler gelten darf. Als Sohn Johann Boeclers und Enkel Simon Boeclers, der beiden letzten lutheranischen Pfarrer seiner Geburtsstadt Cronheim,395 erfährt Boecler früh interkonfessionelle Spannungen, deren Auflösung er, wie Wilhelm Kühlmann zurecht anmerkt, vermehrt im Naturrecht suchen wird.396 Bekannt ist er vor allem als philologischer wie politischer Kommentator des Tacitus,397 besonders aber als Kommentator von Hugo Grotius’ De Jure Belli ac Pacis. Boecler nimmt mit dieser Doppelkompetenz am Oberrhein, wo das tacitistische Schrifftum besonders blühte,398 eine Mittlerrolle ein. Vergangenheit sollte Teil „entscheidungsbezogener Konsultationsverfahren“ werden;399 gleichwohl ging es Boecler dabei sichtlich um ihren prudentiell bloß devianten Charakter: Handlungen durchschauen hilft die Geschichte – Handlungen zu leiten, erlaubt letztlich nur das Recht.
392 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 34. 393 Ebd., S. 33. 394 Ebd., S. 36. 395 Paul Wentzcke: [Art.] Boeckler (Boecler), Johann Heinrich. In: NDB 2, S. 372f. 396 Wilhelm Kühlmann: [Art.] Boeckler, Boeclerus, Johann Heinrich. In: Killy 2, S. 22f., hier S. 22. 397 Vgl. ebd.; Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 259–261. 398 Vgl. Kühlmann: Geschichte als Gegenwart, S. 45f. 399 Ebd., S. 48.
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Auf die In Hugonis Grotii Ius Belli Et Pacis, Ad Illustrißimum Baronem Boineburgium Commentatio kann hier nur eingeschränkt Bezug genommen werden, schließlich ist sie erst 1663/64 gedruckt worden und so dem 1664 verstorbenen Gryphius wohl nur bedingt bekannt geworden. Ideen, die sich in diesem Kommentar niederschlagen und sich auch bei Gryphius finden, sollten daher auch in früheren Schriften Boeclers gesucht werden, um eine Rezeption und nicht bloße Koinzidenz annehmen zu können.
4.2.4.1 Majestät: Denknotwendigkeit des Gottesgnadentums Als besonders hilfreich erweist sich eine vergleichsweise kurze und m.E. noch unbeachtete Schrift Christi Servatoris Fasciae, gedruckt 1643 in Straßburg. Sie verdient Aufmerksamkeit nicht nur auf Grund ihrer zeitlichen Nähe zu Gryphius’ Aufenthalt in Straßburg 1646,400 bei dem er mit Boecler eine offensichtlich gute Bekanntschaft machte und pflegte: Hiervon zeugt schließlich der einzig erhaltende Brief des Gryphius, den er im Juli 1647 aus Amsterdam an Boecler schreibt.401 Dieses Opusculum formuliert ein bestimmtes politisches Theologem, das für alle politischen Trauerspiele des Gryphius wegweisend sein wird. Besonders im Leo Armenius wird es seine ausführliche dramatische Verhandlung erfahren: Es handelt sich um das Theologem herrschaftlicher Majestät. Deren göttliche Abkünftigkeit ist natürlich keine neue, genuin boeclersche Erkenntnis. Der Diskurs um das Herrschaftsrecht erfährt in den Christi Servatoris Fasciae jedoch eine besondere Schärfung. Boecler zählt das ius dominationis und die Majestät unter die Arcana: „Nostris fasciis Arcana Majestatis inuoluuntur, quæ sunt vere arcana, quia profundissimæ meditationis sunt; & sola arcana, quia quidquid in ceteris boni est includunt; & suprema arcana, quia nihil majestate est superius“.402 Insofern es sich um die Arcana der Majestät selbst handelt, ist ihre Verborgenheit jedoch nicht menschengemacht. Dass Majestät darin bestehe, die Schärfe menschlichen Intellekts zu übersteigen, ist auch für Boecler nur unzureichende Deskription, denn sie lässt die Ursache unbeachtet:
400 Eberhard Mannack: Kommentar. In: Andreas Gryphius: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 67), S. 851–1317, hier S. 882. 401 Andreas Gryphius: I. H. Boeclero (Brief, 1647). In: Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts. Nach Handschriften. Hg. von Alexander Reifferscheid. Bd. 1. Heilbronn 1889, S. 616f. 402 Johann Heinrich Boecler: Christi Servatoris Fasciae. Straßburg 1643, S. 14.
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Majestatis enim profundissima est notitia: vt solet in rebus, quae ipsa magnitudine sua & splendore humani intellectus aciem obtundunt. Multum dicunt, qui de summa potestate & summa dignitate hic pronuntiant: sed vtriusque fontem, ipsumque majestatis genium nondum assequitur, qui ista audiuit.403
Die Quelle der politischen Majestät kann nicht in ihren Phänomenen gefunden werden, denn diese sind unbegreiflich und übersteigen die menschliche Verstandeskraft. Diese Unfassbarkeit selbst ist nicht überwindbar: Eben darin liegt der arkane Charakter der Majestät begründet. Boecler hält es daher im Umkehrschluss für naheliegend, die notwendig unerkennbare Größe von Majestät dort zu suchen, wo sich diese Größe in besonderer Unbegreiflichkeit kundtut: Nos vt altius ascendamus, rursum descendemus in speluncam Betlehemiticam, ad eum, qui nostra caussa è cælo in tam angusta hospitia descendit, ibique denuo fascias admirandi Infantis tractabimus: quæ solæ continent, quod nulla capiunt Palatia, ingens decus majestatis. Illae fasciæ non regem modo vincunt, sed qui Rex ab æterno, ex regia stirpe rex in tempore natus est, vt regibus regna daret, & quæ ipsis regnis est augustior, regiam majestatem. Nemo meretur potestatem in alios: nemo dignitatem supra omnes. omnis à Deo potestas, omnis à Deo dignitas necesse est.404
Die größte, weil ‚unfassbarste‘ Majestät – nämlich die göttliche – muss auch Ursache und Grund der politischen Majestät sein. Der Zielpunkt von Boeclers Argumentation ist unübersehbar die nur leicht paraphrasierte Sentenz aus Röm 13: „Non est potestas nisi a Deo“.405 Der kaum zu bestreitende Voluntarismus von Boeclers Gedankengang gewährleistet dabei gleich zweierlei: Der göttliche Wille ist erstens der selbst nicht regredible Grund aller Majestät. Schon insofern ist der Majestät genauso wie dem göttlichen Willen nicht ohne Gotteslästerung zu widersprechen. Boecler hebt aber zweitens auch die epistemologische Konsequenz dessen hervor: Ebenso wenig wie die göttliche Majestät fassbar ist, kann die politische Majestät fassbar sein bzw., aus welchen Gründen sie bestimmten Trägern zukommt. Boecler folgert nicht nur rechtslogisch das Herrschaftsrecht aus Gott. Er folgert ebenso umgekehrt, dass das Herrschaftsrecht notwendig göttlich sein muss, weil es in einer Weise unbegreiflich ist, dass es nur göttlich sein kann. Die Zirkularität dieser Denkfigur ist hier nicht zu diskutieren: Transzendenz und Transrationaliät sind gerade dann denknotwendig, wenn die ermessende menschliche Vernunft an ihre Grenzen stößt. Die göttliche Konzession politischer Majestät ist grundsätzlich nicht zu verstehen. Da Majestät qualitativ (splendore)
403 Ebd. 404 Ebd., S. 14f. [Hervorhebung O.B.]. 405 Röm 13,1.
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wie quantitativ (magnitudine) unbegreifbar ist, fehlt auch ein Maß, dass es dem Menschen erlaubte, politische Majestät zu beurteilen, wichtiger aber: im Zweifelsfall zu verurteilen. In diesem Sinne kann Macht nicht verdient werden: „Nemo meretur potestatem in alios“. Dem Gedanken eines verdienstlogischen Herrschaftserwerbs, von Meritokratie, setzt Boecler denjenigen väterlicher Zueignung entgegen. Sie hat in nichts Sachlichem, sondern allein im väterlichen Willen ihr rechtsbegründendes Moment. Majestät ist zudem ebenso wenig vom Menschen zuteilbar: Octavian etwa irrte sich in der Meinung, seinen status augustus dem Senat und Volke Roms zu verdanken. Obwohl Augustus kein Christ war, verdankte er seine Macht allein dem ihm unbekannten göttlichen Willen: Gaudet nouo sanctoque nomine Augustus: eiusque gratiam SPQ Romano se debere credit. Erras Auguste. dixerunt te Romani, non fecerunt Augustum. neque te fecisti ipse talem, sed qui te Augustum voluit, iussit, nec agnoscitur in tua aula, nec colitur. & interim tamen (vide bonitatem ignorati tibi numinis!) quod orbis pleramque partem sub ditione tua contines [...].406
Die Pflicht guter politischer Berater ist es daher, alles zu vermeiden, was dem Ursprung und dem Wesen der Majestät widerstrebt. Dabei ist nicht zu übersehen, welche Künste Boecler mit dieser Anspielung im Auge hat: Præcipuum boni consultoris & administri opus est, majestatis decori & vsibus se in solidum dedicare, id est, quæ majestatis origini & naturae repugnant, sedulo semper euitare. Malarum artium breuis gratia, infelix præmium, æterna turpitudo est.407
Diese schlechten artes sind mit Blick auf die Politik natürlich diejenigen, die von Gottes sowohl schöpfungs- wie rechtstheologischem Primat absehen und weltliche Majestät nicht auf göttlich-rechtlicher Zuweisung fußen lassen wollen – etwa auf Verdienstethik, List oder physischer Gewalt. Boecler wendet sich gegen den Pragmatismus Machiavellis und verweist ihn, selbst unklug zu sein, verspielt er doch die Gnade, erwirbt unglücklichen Preis und ewige Schmach. Boecler ist damit ein Beispiel eines lutheranischen Rechtsdenkers, der in fundamentalen Angelegenheiten göttlichen Rechts – der Majestät – das Befolgen des Gesetzes auch als eminent heilsrelevant ansieht, ja wegen der Strafbewehrtheit von Gesetzen als heilsrelevant ansehen muss.
406 Boecler: Christi Servatoris Fasciae, S. 17. 407 Ebd., S. 18.
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4.2.4.2 Naturrecht als göttliches Recht: Boeclers Kritik an Hugo Grotius Der Stiftungs- und Bedingungscharakter der Gottesinstanz beschränkt sich bei Boecler jedoch nicht nur auf das Herrschaftsrecht und bleibt auch nicht Episode: Die Theonomie seiner Rechts- und Staatsauffassung ist ebenso systematisch umfassend wie werkgenetisch konstant. Dies wird besonders am prominenten Beispiel seines Grotius-Kommentars deutlich. Seine theonome Perspektive trifft einen wunden Punkt der grotianischen Prolegomena, der Gryphius im Carolus Stuardus intensiv beschäftigt (5.4.6). Dabei schätzt der Straßburger De Jure Belli ac Pacis durchaus und macht schon in der Leservorrede seine Bewunderung für Grotius’ Werk deutlich. Boecler verurteilt sogar das Verbot von De Jure Belli ac Pacis durch die katholische Kirche scharf: Er selbst habe kaum „zwei oder drei Dinge gefunden, die es verdienten, mit dem Schwamm weggewischt oder korrigiert zu werden“.408 Würde gegen alle Bücher so rigoros vorgegangen – so Boecler –, so würde der Index der verbotenen Bücher immens anwachsen.409 Dennoch kommt Boecler nicht umhin, seine schon in den Christi Servatoris Fasciae zur Denknotwendigkeit erhobene Theonomie zu verteidigen gegen Grotiusʼ berühmte These von der Profanibilität des Naturrechts. Grotius habe nicht „behutsam“ genug formuliert, als er bezüglich der Vernünftigkeit des ius naturae sagte, dass es auch dann statthätte, wenn es Gott entweder nicht gäbe bzw. er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmere.410 Boecler begründet dies, indem er den Gesetzesbegriff mit einem theologischen Voluntarismus verbindet: Ceterum in ratione iuris naturalis assignanda per dictamen rectæ rationis, non satis caute locutus est Grotius, cum dicit, illa locum habitura, etiamsi daretur, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab illo negotia humana. Certum enim est iuris rationem non dari, nisi per imperium & obligationem: adeoq; iuris naturalis rationem, sine imperio & indicatione supremi Numinis, in dictamine rectæ rationis, & per illud, nullam esse. sicut grauiter & erudite ostendit Seldenus.411
408 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, Leservorrede, f. 1r: „Perlustraui librum: vix duo vel tria notaui, quæ spongiam aut correctionem merentur.“ 409 Ebd., f. 1v: „[S]i eodem rigore agendum esset cum plerisque libris aliis, in immensum augeretur index librorum prohibitorum.“ 410 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres. In quibus jus naturae & Gentium: item juris publici praecipua explicantur. Editio secunda emendatior, & multis locis auctior. Amsterdami 1631, Prolegomena f. 3: „Et hæc quidem quæ jam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus […] non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana.“ 411 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, In Prolegomena, S. 7.
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Es gibt überhaupt keine Ursache und keinen Grund von Recht – ratio meint in dieser Hinsicht Ursache bzw. Grund – außer einem vorgängigen Befehl (imperium) und einer daraus folgenden und in das Gesetz hineingelegten Verpflichtungskraft (obligatio). Es ist vor allem auf den besonders voluntaristischen Gehalt des Wortes numen zu achten: Ohne den Befehl und die Anzeige des höchsten göttlichen Willens ist ein Grund des Naturrechts im Urteil der rechten Vernunft gar nicht vorhanden, sodass sie aus diesem irgendwelche Normen bzw. praktische Syllogismen ableiten könnte. Durch die rechte Vernunft selbst ist kein Grund des Naturrechts in ihr vorhanden. Solange eine der Vernunft externe Stiftungsinstanz des natürlichen Rechts angenommen wird – und dies tut Grotius –, darf von dieser nicht abstrahiert werden: Es würde erstens die Vernunft unter den unerfüllbaren Leistungsdruck gesetzt, eine ihr unmögliche Prinzipienbildung zu vollziehen. Es würden zweitens der Befehls- und Zwangscharakter des Gesetzes verloren gehen, die für Boecler nur als vernunftexterne Bestimmungen des Gesetzes denkbar sind. Die recta ratio kann sehr wohl die Prinzipien des Naturrechts erkennen, sie kann sie jedoch nicht selbst generieren. Die rechte Vernunft kann sehr wohl begrifflich bestimmen, was ein Gesetz ist,– nämlich ein mit Verpflichtungskraft ausgestatteter, weil zwangsbewehrter Befehl. Sie kann jedoch nicht selbst gewährleisten, dass es ein Gesetz ist, d.h. sie kann selbst nicht die Verpflichtungskraft ausüben, derer ein Gesetz bedarf. Es ist dieser Geltungsvoluntarismus, der Boecler auf John Selden verweisen lässt, der 1640 in seinen De Iure Naturali Et Gentium, Juxta Disciplinam Ebraeorum, Libri Septem, in Boeclers Wirkungsstätte Straßburg 1665 gedruckt, in derselben Weise feststellt, dass ein Naturrecht ohne die Verpflichtungskraft des Höchsten weder Konsistenz noch Verpfichtungskraft erhalte: „Ex Rationis solo & simpliciter sumto usu, tum quia adeo incertus est & sibi inconstans, tum quia sine Superiori, cui subsit, imperio obligationem non inducit, non rite satis edifici Jura Naturalia“.412 Augenscheinlich fällt es Boecler nicht schwer, Grotius hier nur eine unvorsichtige Formulierung, aber keinen systematischen obligationstheoretischen Intellektualismus zu unterstellen. Nicht zufällig – und durchaus nicht unberechtigt – zitiert Boecler auch Grotius’ Parenthese, dass die hypothetische Abstraktion von der Gottesinstanz nicht ohne größtes Verbrechen geschehen könnte („quod sine summo scelere dari nequit“): Grotius benennt letztlich den Rechtscharakter, den die Anerkennung der Stiftungsinstanz selbst besitzt. Diese lex Dei ist für Boecler ganz im Sinne Melanchthons das Fundament des Naturrechts (4.2.2.1), seiner Formulierung nach sogar mit diesem identisch: „[C]ivita-
412 John Selden: De Iure Naturali Et Gentium, Juxta Disciplinam Ebraeorum, Libri Septem. Straßburg 1665, I,7, S. 85; vgl. Lutterbeck: Jurisprudenz als ‚ausübende Rechtslehre‘?, S. 63.
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tem humani generis demonstrat, commendat, constituit, regitque lex naturæ, quæ est lex Dei“.413 Aus eben demselben Grund lehnt Boecler auch den Naturzustand des Thomas Hobbes ab: „Male ergo Hobbesius statum mere naturalem nominat, & fingit: […] ut omnibus omnia liceat agere, appetere, possidere, nulla est ratio, nulla natura recte atque integre judicans, quæ dictet“.414 Boeclers Anschlussnahme an Philipp Melanchthons lex Dei reicht noch weiter: Besonders der Dekalog bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Achtung der Gottesinstanz selbst Norm ist und damit das Fundament bildet für die übrigen Prinzipien des Naturrechts. Damit ist der Dekalog für Boecler die vorzügliche Quelle des Naturrechts: Jus naturæ enim egregie est in Decalogo expressum: atque ita quidem accurate perfecteque, ut prorsus existimem, ethnicos hanc methodum unice amplexuros fuisse, si ab ipso DEO promulgatam tabulisque comprehensam Legem naturæ credidissent. Multum certe minueretur de labore requirendi & exprimendi capita juris naturalis, eademque à Jure gentium distinguendi, si præmonstratam ab ipso DEO disciplinam, citra ambages sequeremur, quod faciendum esse demonstravit instituta enumeratione Philippus Melanchthon in Philosophia morali.415
Die weitreichenden Folgen für den Innatismus Melanchthons stechen ins Auge: Das Naturrecht findet sich in den zehn Geboten Moses’ dergestalt luzide ausgedrückt, dass sie die Mühen es zu erkennen erheblich mindert. Umgekehrt ist dem Heiden die Erkenntnis des angeborenen Naturrechts zwar möglich, sie ist jedoch nur unter erheblich größerer Anstrengung zu haben. Dieser Herausforderung sind die ethnici offensichtlich nicht allseits gewachsen, denn sichtlich ist Boecler nicht der Auffassung, dass sie die Lehre des Naturrechts umfassend begriffen hätten. Wie gezeigt, ist diese Grenze des Innatismus auch bei Melanchthon selbst schon angelegt (4.2.2.3). Die negativen Folgen eines solchen christlichen Naturrechts416 für seinen Anspruch, eine Universaljurisprudenz zu begründen, reflektiert Boecler nicht. Er liefert nämlich nicht den bestimmten Grund, weshalb das Naturrecht als angeborenes schlechter erkennbar sein soll als durch die Schriftoffenbarung der zwei Tafeln. Bei Melanchthon findet sich dieser Grund und deshalb wird auf ihn zurückzukommen sein (4.4.4).
413 Boecler: In Hugonis Grotii Ius Belli et Pacis, Ad Illustrissimum Baronem Boineburgium Commentatio, In Prolegomena, S. 50. 414 Ebd. 415 Ebd., Præfatio, S. 4. Hervorhebung im Text. 416 Vgl. Falk Wagner: [Art.] Naturrecht II. Neuzeitliche und evangelische Interpretationen seit der Reformation. In: TRE 24, S. 132–185, hier S. 159.
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Wie gesagt ist es unwahrscheinlich, dass Gryphius diese Ausführungen Boeclers noch vor seinem Tod zu Gesicht bekommen hat. Zudem wäre eine Rezeption des 1663 gedruckten Kommentars mit Blick auf die früher erschienen Trauerspiele grundsätzlich nicht zu plausibilisieren. Dennoch konnte anhand der früheren Schrift Christi Servatoris Fasciae und des dort niedergelegten Majestätsbegriffs aufgezeigt werden, wie stark Boecler sein Naturrecht und Staatsdenken theonom begründet. Die Theonomie darf als Konstante des boeclerschen Denkens vom Recht und vom Staat gelten. Wenn sich im Carolus Stuardus eine Kritik Gryphius’ an Grotius’ vernunftrechtlichem Anspruch in eben derselben Weise finden wird (5.4.6), wie sie in Boeclers Kommentar erscheint, so darf zudem zweierlei vermutet werden: Gryphius blieb erstens wohl weit über den Straßburger Aufenthalt 1646 und den Amsterdamer Brief von 1647 hinaus mit Boecler in Verbindung und nahm auf diesem Wege dessen Gedanken zum Ursprung des Rechts zur Kenntnis, so dass er sie schon in den Carolus Stuardus einarbeiten konnte. Zweitens darf für eine Werkgeschichte Boeclers angenommen werden, dass der Straßburger diesen zentralen Punkt seiner Grotius-Kritik schon 1659 ausgearbeitet hatte, insofern sie sich schon zu diesem Zeitpunkt in der ersten Fassung des Carolus Stuardus seines Schülers Gryphius in genau derselben Weise wiederfindet, wie sie aus seiner eigenen Feder erst 1663 gedruckt werden sollte.
4.3 Schlagkräftige Innovation: Finalismuskritik Der Gliederung der Kapitel 4.2–4.4 wurde zwar der Antagonismus von Tradition und Innovation zugrunde gelegt und sein Münden in eine neuerliche Antwort ist keineswegs konstruktivistisch. Dennoch hat Kapitel 3.1 verdeutlicht, dass auch und gerade den ideenhistorischen ‚Frontgängern‘ keineswegs unterstellt werden darf, für bestimmte Herausforderungen oder Ideenelemente des Neuen zum Preis entsprechender Elemente des Alten vollkommen verschlossen gewesen zu sein – und umgekehrt. Im Gegenteil ergibt eine neuerliche Antwort nur Sinn, wenn die Innovatoren zumindest soviel von der Tradition übernehmen bzw. insofern auf traditionellem Felde ihre Ansprüche erheben, als dass eine konservative oder gar restaurative Antwort überhaupt noch erfolgen kann und muss. Dieses Kapitel soll daher selbst schon mehr Ambivalenzen aufdecken, als das alte Konstrukt eines einheitlichen Frontverlaufs von ‚Neuem‘ und ‚Altem‘ rehabilitieren.
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4.3.1 Der Leidener Einfluss: Gryphius’ ‚Wissenschaftslyrik‘ am Ausgang des Neuen „Dichterphilosophen haben seit der Renaissance Probleme des Erkennens, die in der epistemischen Defizienz des erkennenden Subjekts oder in der grundsätzlichen Unzugänglichkeit der Dinge außer ihm ihren Grund haben, in Parabeln, Allegorien, Mythen und Märchen gekleidet“:417 Mit diesen treffenden Worten lenkt Barbara Bauer den beständigen Fokus der Barockforschung von der vanitas-Frage auf Aspekte erkenntnistheoretischer Auseinandersetzungen der Poesie. Sie gelten auch für Andreas Gryphius. Dabei verhandelt der Schlesier epistemologische Fragen keineswegs isoliert oder in Konkurrenz zum Topos der Vergänglichkeit. In Leiden verfasste Gryphius 1639 das Sonett Auff das Fest der Heiligen Dreyfaltigkeit Rom 11. Joh. 3, das in zwei Varianten vorliegt: einmal in der Druckfassung von 1639 der Sammlung Son- undt Feyrtags Sonnete418 und in andermal in überarbeiteter Form von 1657 im dritten Sonettbuch.419 Dem Römerbrief wie auch dem Johanneskapitel geht es sowohl um „beide der weisheit vnd erkentnis Gottes“ als auch um die Unbegreiflichkeit von Gottes Gericht und Ratschluss:420 Entsprechend reflektiert Gryphius das Verhältnis von Wissenschaften und Gotteserkenntnis. Hieraus lässt sich auch das Verhältnis von Diesseits und Jenseits erschließen, wie Gryphius es verstand. Es soll mithin gezeigt werden, dass dieses Verhältnis einer schriftzentrierten Offenbarungstheologie (dazu 4.4) genau so entspricht wie das Selbstverständnis vieler neuen Naturwissenschaften des siebzehnten Jahrhunderts: [1639] [1657] O reiche wissenschaft! wer kan O Reiche Wissenschaft! wer kan die weisheit grunden die Kunst ergrnden Durch die man Gott recht kent. Durch die man Gott erkennt’ / mag dieser augen licht mag dieser Augen=Licht
417 Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 33. 418 GdW 1, Sonntagssonette, 38, S. 150. 419 GdW 1, Sonette. Das Dritte Buch, XXXVII, S. 207. 420 Röm 11,33–36: „O welch ein tieffe des reichthums / beide der weisheit vnd erkentnis Gottes / Wie gar vnbegreifflich sind seine gerichte / vnd vnerforschlich seine wege. Denn wer hat des HERRN sinn erkand? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat jm was zuuor gegeben / das jm werde wider vergolten? Denn von jm / vnd durch jn / vnd in jm / sind alle ding / Jm sey Ehre in ewigkeit / Amen“; Joh 3,11–12: „Warlich warlich ich sage dir / Wir reden / das wir wissen / vnd zeugen / das wir gesehen haben / Vnd Jr nemet vnser zeugnis nicht an. Gleubt jr nicht / wenn ich euch von jrdischen dingen sage / Wie dürdet jr gleuben / wenn ich euch von Himelischen dingen sagen würde.“
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Erforschen seine weg, begreiffen Begreiffen seine Weg / erforschen sein’ gericht? Sein Gericht? VVer wirdt des Herren sin’ durch Wird man deß HErren Sinn durch seine sinne finden? Durch vnser Sinnen finden? Uns mus verstandt undt geist, vor seinen Vns muß Verstand vnd Geist vor seinen wercken, schwinden, Wercken schwinden: VVir wissen was die erdt, undt was Wir wissen was die Erd / vnd was sie einschleust, nicht. Sie einschleust / nicht: VVer könnte dan verstehn, was er Wer sol verstehn was Er von seinem vom Himmel spricht. Himmel spricht. (GdW 1, Sonntagssonette, 38, S. 150, (GdW 1, Sonette. Das dritte Buch, XXXVII, v. 1–7) S. 207, v. 1–7)
Die Würdigung der Wissenschaft als reich ist nicht ironisch gemeint und schwindet unter der voluntaristischen Demutsgeste keineswegs dahin. Dies legen nicht erst Gryphius’ Studium, eigene Lehre und besonders auch anatomische Gelehrsamkeit nahe: Auch seine weitere poetische Reflexion bestätigt den Eindruck einer hohen, wenn auch bedingten Würdigung der Wissenschaften. Daher ist ein notwendiger Seitenblick vom Dreifaltigkeitssonett weg auf zwei Epigramme Gryphius’. Uber die Himmels Kugel konstatiert die erstaunliche Leistung menschlicher Erkenntnistätigkeit, Phänomene und Gegenstände zu erkennen, die der Mensch mit all seinen Sinnen doch eigentlich nicht mehr erfahren kann: Schaw hir des Himmels Bild / diß hat ein Mensch erdacht/ Der doch auff Erden saß: O bergrosse Sinnen / Die mehr denn iemand schawt durch forschen nur gewinnen! Soll diß nicht himlisch seyn was selber Himmel macht? (GdW 2, Bey-Schrifften [Epigramme]. Das Dritte Buch, S. 206, XXII)
Ein auf physiologische Wahrnehmung zugespitzter Empirismus ist Gryphius gerade nicht alleinige Ermöglichungsbedingung zutreffender Erkenntnis. Der Begriff Sinne wird mit bergrosse ins Metaphorische gewendet und dient gerade der Abgrenzung von einem Wissenschaftsverständnis, das nur die physische Perzeption achtet (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken). Besonders gegenüber dem unterprivilegierten ‚schawen‘ kann Wissenschaft einen Mehrwert erbringen, und dies bündelt Gryphius im Begriff des Forschens. Eben dieses ist ihm ein ‚bergrosses Sinnen‘, insofern es mehr ist als die einzelnen menschlichen Sinne und auch mehr als ihre Summe.421 Worin dieser Mehrwert schließlich besteht bzw. wie er methodologisch überhaupt gedacht und erbracht werden kann, um epistemologisch statt zu haben,
421 Vgl. Kühlmann: Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts, S. 525f.
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erklärt das unmittelbar folgende Epigramm Uber die Erd=Kugel. Auch hier wird die vom Forscher ausdrücklich in absentia erbrachte und dabei doch erfolgreiche, d.h. zutreffende Erkenntnis gefeiert: Der Erden rundes Hauß das Vih und Menschen trgt / Ist noch nicht gantz beschawt / doch ist es gantz gemessen. Was nie der Leib bezwang hat doch der Geist besessen. Der Land und Wellen Zill hir / auch abwesend / legt. (ebd., XXIII)
Mit der Erde ist hier zwar von einem Erkenntnisgegenstand die Rede, der den physischen Sinnen des Menschen nähersteht als die Himmelskugel. Dennoch ist auch hinsichtlich dieses Gegenstandes nicht notwendig, ihn allein sinnlich zu erfahren, um wahre Erkenntnisse über ihn zu gewinnen. A fortiori gilt also: Wenn der Geist tatsächlich ‚besitzt‘, „was nie der Leib bezwang“ und wenn er es vermag, „der Land und Wellen Zill hir / auch abwesend“ zu legen, so ist bei Gryphius in jedem Fall ein Eintreten für den Rationalismus festzustellen. Im Folgenden gilt es herauszufinden, welcher Rationalismus genau Gryphius vermehrt zuzuschreiben ist – absoluter bzw. metaphysischer oder epistemologischer Rationalismus. Schon das Epigramm selbst deutet an, welches Mittel bzw. genauer: welche Methode dem Geist diese Erkenntnisleistung erlaubt. Wenn nämlich festzuhalten ist, „der Erden rundes Hauß […] Ist noch nicht gantz beschawt / doch ist es gantz gemessen“, so drückt sich hierin die Zuversicht eines Wissenschaftsverständnisses aus, die sich den Möglichkeiten eines nicht nur maßnehmenden, sondern schon abstrakt berechnenden Messens verdankt. Eine solche im siebzehnten Jahrhundert besonders von Descartes eingeleitete Algebraisierung der Geometrie422 hatte ihre Konsequenz im Anspruch eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns, den eine analytische Methode im Unterschied zu bloßer Ableitung schon feststehender, impliziter Wissensinhalte gegenüber der Synthese erhob. Gryphius’ Würdigung der reichen Wissenschaft ist also auch im Dreifaltigkeitssonett, wo es um die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaften geht, ernst gemeint und ernst zu nehmen.423 Diese Leistungsfähigkeit besteht nicht trotz ihres Scheiterns an der Erkenntnis von Gottes Ratschluss. Vielmehr stellt der Grund der Notwendigkeit dieses Scheiterns erst die Ermöglichungsbedingung der Rationalisierung derjenigen Wissenschaften dar, die sich mit dem Diesseits befassen. Ihre Grenze erfährt die Wissenschaft in der Gotteserkenntnis,
422 Vgl. Hans Freudenthal: [Art.] Geometrie. In: HWPh 3, S. 324–327, hier S. 325. 423 Vgl. Ferdinand van Ingen: Holländisch-deutsche Wechselbeziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Bonn 1981 (Nachbarn 26), S. 14.
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insofern es von dieser keine scientia, auch keine ars gibt, die ein Instrumentarium zur Verfügung stellte, mit der man Gott ‚beobachten‘ könnte. Die beiden in diesem Vers differenten Versionen verdeutlichen, dass dieser systematische Sachverhalt Gryphius selbst vor ein terminologisches, wenn nicht gar wiederum systematisches Problem stellt. Denn in der Bezeichnung derjenigen ‚Disziplin‘, die eine Gotteserkenntnis ermöglichen soll, wechselt er zwischen den Fassungen die Begriffe: Spricht er 1639 noch von Weisheit, so wechselt er 1657 zu Kunst. Gotteserkenntnis kann, den ersten Versen folgend, in jedem Fall weder durch Apodeixis aus ersten allgemeinen Prinzipien erfolgen noch durch Induktion aus vereinzelter oder auch gesammelter Beobachtung. Die Unmöglichkeit der Apodeixis ist dabei aus dem Gottesbegriff nicht nur der reformatorischen, sondern eigentlich aller christlichen Allmachtstheologie evident: Würde Gott aus Prinzipien erkannt bzw. deduziert werden können, so wären ihm diese Prinzipien vorgängig. Mithin existierte etwas vor Gott und dies ist in einem schöpfertheologischen Monotheismus denkunmöglich. Interessanter ist allerdings der Fall der von Gryphius weitaus deutlicher zur Sprache gebrachten unmöglichen induktiven Gotteserkenntnis: Gott ist aus seinen Werken nicht erkennbar. Gott hat diese Werke, seine Schöpfung, mithin die Welt und die Dinge in ihr, in einer Art und Weise angelegt, dass sie von ihm nichts preisgeben außer seine Existenz (insofern sie von irgendwem ex nihilo geschaffen worden sein müssen). Über Gottes Wesen und seine Sphäre, über die Kohärenz seiner Beschlüsse lässt sich aus der Natur nichts erschließen: „mag dieser Augen=Licht Begreiffen seine Weg / erforschen sein Gericht?“. Selbst einer Gotteserkenntnis aus der Offenbarung wird im letzten Vers kritisch begegnet, zumindest wohl insofern, als die Selbstauskünfte aus dem eigenen Wort Gottes nicht über sich selbst hinaus transzendiert werden können. Warum schränkt Gryphius seine Behauptung, Gotteserkenntnis sei als Weisheit unmöglich (1639), 1657 dahingehend ein, dass er nurmehr die Kunst ausschließt? Dies ist hier nicht eindeutig zu beantworten. In jedem Fall bezeichnet sapientia etwas weitaus Umfassenderes: Sie schließt scientia, artes und prudentia ein und verknüpft sie dergestalt, dass theoretisches Wissen allererst in einer dienlichen Praxis Sinn erhält, andersherum Praxis durch adäquates Wissen nicht droht in unklugen, nachgerade blinden Aktionismus zu verfallen. Mithin scheint Gryphius’ Unzulänglichkeitsverdikt 1639 ein umfassenderes als 1657 zu sein, da es sich dort nur auf eine Kunst, d.h. eine τέχνη, bezieht. Die Problemlage gestaltet sich komplexer: Diese nur scheinbare Einschränkung folgt lediglich einer Erkenntnis Gryphius’, dass es die umfassendere Weisheit sehr wohl gibt. Hingegen gibt es nicht diejenige Kunst, um diese Weisheit außer Gott noch dem Menschen zugänglich zu machen. Es liegt also eine Umbesetzung des Weisheitsbegriffs vor, insofern Gryphius 1657 bei der Rede von einem
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Erkenntnismittel die Weisheit nicht mehr als den treffenden Begriff empfindet. „[W]er kann die weisheit grunden Durch die man Gott recht kent“,424 macht dort keinen Sinn, wo Weisheit das Ziel von Erkenntnis und mithin mit Erkenntnis identisch ist. Mittel – gerade in dem starken Sinne, wie Gryphius schon 1639 von Instrumentarien der Erkennens spricht (Sehen, Verstand und Geist ) – sind eine Frage der ars. Insofern also Weisheit 1657 nicht bestritten, ihr Erreichen vor dem Hintergrund der Gotteserkenntnisdiskussion jedoch für den Menschen bezweifelt wird, findet beim späten Gryphius demnach eine verstärkte Retheologisierung des Weisheitsbegriffs statt: Erstens können Wissenschaften die vollkommene Weisheit unmöglich erreichen helfen, obgleich sie exhaustiv betrieben werden. Dies hat gerade in der Frage der Gotteserkenntnis seinen Grund, insofern an dieser alle Wissenschaften scheitern müssen. Zweitens wird die Existenz einer vollkommenen Weisheit nicht bestritten. Daher ist schließlich das Subjekt dieser vollkommenen Weisheit während des Interims allein Gott, der Mensch allererst sub lumen gloriae.425 Als Grund jener begrifflichen Präzisierung von weisheit (1639) hin zu kunst (1657) hat jedoch dasjenige metaphysische und kosmologische Dispositiv zu gelten, wie es im letzten Vers beider Fassungen pointiert zur Geltung kommt: „Wer könnte dan verstehen, was er vom Himmel spricht“ bzw. „Wer sol verstehn was Er von seinem Himmel spricht“. Als Aussage im letzten Vers bildet ihr Inhalt nur didaktisch den Zielpunkt des Sonetts. Systematisch bezeichnet diese Aussage allererst Grund und Ursache des bis dahin Entwickelten. Es geht Gryphius hier mitnichten um philosophische Resignation, sondern gerade um die Erkenntnis desjenigen Sachverhalts, der für das lutheranische Denken tragend ist, nämlich des theologischen Voluntarismus. Denn es ist die Tatsache, dass Gott vom Himmel spricht, nämlich seine Schöpfung genauso wie seinen Ratschluss. Gott widerspricht sich zwar nicht; dennoch wird das nicht als notwendiger Hinweis auf einen Intellektualismus zugelassen. Gerade Philipp Melanchthon versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um ein Unterworfensein Gottes unter den Satz vom Widerspruch handelt, sondern um ein im Rahmen des freien Willen Gottes vollzogenes Selbstbinden an den Satz vom Widerspruch: Dies wird in 4.4.4 ausführlich zu erläutern sein. Es ist jedenfalls gerade dieser, in eigentümlicher Weise autonom rationalisierte Voluntarismus, dessen epistemologische Folgen das Sonett genauso reflektiert wie es den Grund im Schlussvers konstatiert: Denn zwar sind einerseits das Interim und die in ihm weilende Welt, Natur und Menschheit zuverlässigen Gesetzen unterwor-
424 Hervorhebung O.B. 425 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212–216.
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fen. Diese Gesetze sind konsistent und konstant und können daher durch Wissenschaft erschlossen werden. Dies macht diese zu eben nichts geringerem als einer reichen Wissenschaft. Andererseits bedeutet der Spruchcharakter dieser Gesetzmäßigkeiten, so widerspruchsfrei sie auch sind, gerade auch, dass sie als Notwendigkeit anzeigende Gesetze selber nicht notwendig sind. Gryphius wählt die Metapher des Sprechens im Hinblick auf ihren Kontingenz anzeigenden Charakter bewusst: Gott hätte die Gesetze auch anders sprechen können. Sie sind nicht alternativlos, d.h. nicht dergestalt notwendig und hinreichend in Gott vorhanden, dass von der Erkenntnis der Gesetze auch auf Gottes Willen geschlossen werden könnte. Die Gesetze sind nur Ausdruck seines Wollens und nicht etwa Phänomene seines Wesens. Im Hinblick auf ihre Ursache Gott sind diese Gesetze kontingent. Eben diese Kontingenz des Notwendigen426 räumt das Verstehen von Gottes Willen dort aus, wo es um seine freien möglichen Alternativen geht. Dass Gottes Wille für Gryphius im starken Sinne frei und besonders in der Schöpfungshandlung nicht an eine bestimmte, endliche und dem Willen damit vorgängige Auswahl von Alternativen gebunden war, zeigt sich im Nachlasssonett An GOtt den Vater: „Dir war es leicht aus nichts mich / Schpffer / vorzubringen“ (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XIV, S. 101 [Hervorhebung O.B.]). Das spätestens seit der Gnosis drängende Problem einer theologischen Philosophie, die Weltentstehung unter monotheistischen Vorzeichen zu denken,427 soll in einem solchen theologischen Voluntarismus seine Auflösung finden. Denn zum Einen bestätigt der Gedanke der creatio ex nihilo Gottes absolut voraussetzungsloses Wollen und Vermögen („aus nichts mich / Schpfer / vorzubringen“). Zum Anderen wird dieser Gedanke mit der Überzeugung des ex nihilo nihil fit vermittelt, indem allemal der Wille des selbstursächlichen Gottes der Schöpfung vorausgeht. 1643 veröffentlicht Andreas Gryphius in seinem ersten Sonettbuch das gleichfalls aufschlussreiche Sonett In Bibliothecam Nobiliss. Amplissimiq Domini Georgii Schonborneri &c.. Auch hier kommt die Weisheit zur Sprache. Noch deutlicher aber als noch 1639 kommt hier zur Geltung, dass die Theologie mit dieser sapientia nicht identisch ist: DIs ist der trawte sitz den Themis ihr erkohren. Dran Svada sich verlibt / der hohen weisheitt zelt Das aller knste schar in seinen schrancken hlt. Vnd was berhmte leut aus ihrem sin gebohren.
426 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 99–126. 427 Vgl. Gerhard May: Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo. Berlin, New York 1978 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 48), S. 40–46.
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Hier les ich was vorlngst Gott seinem volck geschworen Hier sindt gesetz vndt recht’ hier wird die grosse welt In bchern / vnd was mehr in bildern vorgestelt. Hier ist die zeitt die sich von anbegin verlohren. Hier find ich was ich will / hier lern’ ich was ein Geist. Hier seh ich was ein leib / vnd was man tugend heist. Schaw aller stdte weiß’ vnd wie man die regiret. Hier blht natur vnd kunst / vndt was man seltzam nnt. Doch als ich diesen mann / der alhier lebt erknt; Befandt ich / das ihn diß vndt mehr den dises zihret. (GdW 1, Sonette. Das erste Buch, XIV, S. 38)
Findet hier im Gegensatz zum Dreifaltigkeitssonett eine Enttheologisierung der Weisheit statt, insofern die Theologie ihr mereologisch untergeordnet ist? Die Einschränkungen, die schon in den Erläuterungen zum Dreifaltigkeitssonett erörtert wurden, treffen auch hier zu: Mit der Rede von dem „was vorlngst Gott seinem volck geschworen“, ist zunächst nur die Heilige Schrift, mithin mit einer Theologie nur die Schrifttheologie angesprochen. Sicherlich ist dem Lutheraner alle wahre Theologie nur diejenige der Schrift. Dies gilt allerdings nur als Beschränkung des Menschen auf die einzig Zugang bietende Autorität der Schrift, ohne dass damit schon behauptet wäre, dass die Bibel alles Wesen von Gott preisgäbe. Ausgeschlossen ist damit gerade noch nicht ein der Schrifttheologie übergeordneter Überbau umfassender Weisheit. Der theo-epistemologische Erkenntnisanspruchs der Schrifttheologie wird gegenüber der göttlichen Weisheit selbst eingeschränkt. Das Sonett In Bibliothecam stimmt damit der lutherischen Epistelauslegung zu, wie sie Gryphius im Dreifaltigkeitssonett auf die neuen Wissenschaften appliziert hatte: Luther betont eben, „daß wir Gott erkennen (so), wie er hat erkannt werden wollen“.428 Die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Weisheit gilt erst sub lumen gloriae und insofern – und nur insofern – ist säkulare Wissenschaft nichtig und eitel. Es ist unumgänglich, an dieser Stelle über den Eitelkeits-Topos bei Andreas Gryphius zu sprechen. Denn auch und gerade an Gryphiusʼ dichterischer Entfaltung der vanitas ist die Korrosion finalursächlicher Erklärungsmuster zu beobachten. Schon im Eitelkeitssonett wird ex negativo eine bestimmte Unverbundenheit von irdischen Dingen bzw. irdischen Ereignissen konstatiert. Erst diese Unverbundenheit stellt den systematischen metaphysischen Grund der verhaltensethischen Folgerungen dar:
428 Martin Luther: Epístel=Auslegung. 1. Band: Der Römerbrief. Hg. von Eduard Ellwein. Göttingen 1963, S. 185 [Hervorhebungen O.B.].
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ICh seh’ wohin ich seh / nur Eitelkeit auff Erden / Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein / Wo jtzt die Stdte stehn so herrlich / hoch vnd fein / Da wird in kurtzem gehn ein Hirt mit seinen Herden: Was jtzt so prchtig blht / wird bald zutretten werden: Der jtzt so pocht vnd trotzt / lst vbrig Asch vnd Bein / Nichts ist / daß auff der Welt knt vnvergnglich seyn […]. (GdW 1, Lissaer Sonette, VI, S. 7f., v. 1–7)
In jeder einzelnen Feststellung von Vergänglichkeit liegt eine unausgesprochene Verwunderung, die sich aus der Textlogik allemal erschließen lässt: Dass Gryphius die vordergründig ohne Weiteres einleuchtenden, scheinbar trivialen Antithesen mit aller Bedacht setzt, macht nur dann Sinn, wenn sie dem zeitgenössischen Diskussionsstand nach gerade nicht als trivial gelten dürfen. Sie konstatieren eine Unverbundenheit und sogar Gegenläufigkeit eben dort, wo sich das lyrische Ich eigentlich eine Verbindung hätte erwarten mögen. Gerade im zweiten Vers wird das Staunen über das Unerwartete in nachgerade physikoteleologischer Perspektive ins Bild gesetzt: Derjenige, der etwas „heute bawt“, kann dadurch nicht auch hinreichend gewährleisten, dass dies nicht ein anderer sogar „morgen“ schon, mithin in unmittelbarer zeitlicher Folge „einreißt“. Dies deutet bereits auf den Kern eines finalitätskritischen Problembewusstseins hin. Wenn etwas gewirkt wurde, so dass es im ganz perfektiven Sinne erbaut ist, so ist dieser Prozess insofern abgeschlossen, als er nicht mehr gegen einen ihm entgegengesetzten Prozess – den des Einreißens – selbst schon ankommen kann. Die prinzipielle Abgeschlossenheit von Prozessen, Ereignissen, Handlungen ist also grundlegend für Gryphius’ hiesige Feststellung. Mit ihr einher geht die Erkenntnis, dass prinzipiell abgeschlossene Handlungen eben kein Fortwirken mehr haben, das ein Entgegenwirken anderer Kräfte je schon aufheben, mehr noch überkompensieren könnte. Dies legt allerdings nahe, dass hier Aktion – das Erbauen durch den Einen – schon vordringlich als reines Wirken gedacht wird, demgegenüber eine Finalität als Fortwirken eben grundfalsch sein muss. Denn ein Wirken über das eine Gewirkte hinaus erscheint unsinnig, weil doch das andere Gewirkte – das Einreißen bzw. Eingerissene – von etwas bzw. jemandem vollkommen Anderen gewirkt ist. Damit handelt es sich eben um eine bestimmte Unverbundenheit der beiden Ereignisse – hier von Erbauen und Einreißen –, nämlich eine teleologische. Dieser wird eine ebenso bestimmte, nämlich vermehrt wirkursächliche Verbundenheit der Ereignisse selbst gegenüber gestellt. Gryphius setzt hier nicht etwa eine „Ordnung des Chaos“
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ins Bild: 429 Weder werden Ereignisse und Prozesse in keinerlei Weise mehr beschreibbar – nichts anderes vollzieht sich schließlich im Sonett –, noch ist in irgendeiner Weise von Urstoffen die Rede.430 Gryphius geht es auf Grundlage einer jedenfalls diesseitskosmologischen Kausallogik um einen notwendig folgenden Orientierungsverlust. Die Ordnung der Dinge erlaubt keine heilsgeschichtliche Aussage mehr und in dieser Hinsicht sind die Dinge eitel bzw. nichtig. Die nichtsdestoweniger statthabende Ordnung eines a-soteriologischen Diesseits ist also mitnichten Chaos. Damit ist freilich noch nicht angezeigt, dass der Schlesier alles, sogar Intention selbst als kausallogisch verursacht ansähe wie wenige Jahre später Thomas Hobbes. Allerdings lässt sich bei Gryphius dasselbe Problembewusstsein feststellen: Denn zwar lässt sich die Absicht hegen, das Gewirkte durch genuin neues, eben auf die Erhaltung gerichtetes Handeln zu bewahren. Selbst diese Absicht vermag selbst nicht die Realisierung dieses Vorhabens zu garantieren. Dies hat in nichts Anderem seinen Grund, als dass der Bewirkende selbst vergänglich ist: „Der jtzt so pocht vnd trotzt / lst vbrig Asch vnd Bein“. In pochen und trotzen kommt eben ein willentliches Ausrichten der Handlung zum Ausdruck, das sich der Gegenwirkung widriger Einflüsse durchaus bewusst ist. Mit dem mangelnden Erfolg dieser Absicht ist daher umso mehr Vergeblichkeit ausgedrückt: Im notwendigen Ausrichten einer Handlung auf ein Ziel kann nicht schon die hinreichende Erfolgsbedingung dieses Ziels gesehen werden. Zweck und Wirkung sind Gryphius nicht nur grundverschiedene Erklärungsmodelle von Entwicklung, sondern Gryphius verschiebt auch Ziel- und Zwecksetzung ganz in den Bereich des Psychologischen und Handlungstheoretischen. Der Bereich der Wirkungen ist davon eben strikt getrennt. Zudem ist Gryphius in dieser impliziten Finalismuskritik offenbar gar nicht mehr in der Lage, von Mittel-Zweck-Rationalismen anders als im Rahmen eines grundsätzlich kausallogischen Verständnisses zu sprechen. Denn zwar ist und bleibt die angesprochene Verwunderung des lyrischen Ichs diejenige darüber, dass einmal erfolgte Ereignisse und Handlungen über ihr mutmaßliches Ziel hinaus nicht wirken: Gerade diese Problembeschreibung allerdings erfolgt schon ganz im Rahmen eines Denkens von Ursache-Wirkung-Relationen. Denn „dieser“ wie „jener“ werden ganz als Wirkursachen und das ‚Erbaute‘ wie das ‚Eingerissene‘ ganz als Wirkungen begriffen. Das Sonett inauguriert mithin weder kausallogisches Denken noch Finalismuskritik überhaupt. Es illustriert nur die
429 Vgl. Will Hasty: The order of chaos. On ‚vanitas‘ in the work of Andreas Gryphius. In: Daphnis 18 (1989), S. 145–157. 430 Vgl. Ulrich Dierse, Rainer Kuhlen: [Art.] Chaos II. In: HWPh 1, S. 982–984.
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Unmöglichkeit, de intentione finalistische Erklärungsmodelle im Rahmen einer kausallogischen Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt fassen zu können. Der polemisierte Irrtum ist nicht derjenige eines tatsächlich noch finalistischen Denkens, sondern nurmehr derjenige, an Finalursachen noch festhalten zu wollen, obwohl die Weltsicht schon von der Ursache-Wirkungs-Relation bestimmt ist. Es ist der Irrtum eines eigentlich bereits kausallogischen Denkens aus sich heraus, das sich noch in finalistische Fragen verirrt, die es doch als solche schon gar nicht mehr beim Namen nennen kann: Wirkende bleiben Wirkende, Wirkungen bleiben Wirkungen und nur die Tatsache, dass über die Wirkung hinaus vom Wirkenden nichts Notwendiges mehr zu erwarten ist, ist noch Grund dieses residualfinalistischen Staunens. Dies zeitigt zwei Folgen: Zum Einen stellt Gryphius die innerlichkeitstheologische Kernaussage seiner gesamten vanitas-Dichtung auf eine Basis, die im neuen naturwissenschaftlichen Weltbild nicht ihren Gegner hat, sondern einen Lieferanten schlagender Argumente. Philosophie- und Ideenhistoriker wie Hans Blumenberg, Manfred Riedel, Barbara Bauer und jüngst Holger Glinka431 unterstrichen bereits die eigentümlich starke Vermittelbarkeit von lutherischer Orthodoxie und neuen Wissenschaften: Die neue Weltwahrnehmung widersprach weniger den theologischen Lehren der Diesseitsenthaltung, sondern sie gab ihr vielmehr von sich aus das erst entscheidende Argument in die Hand, dass weltliche Dinge nicht auf das Heil hin ausgerichtet sind. Das belegt auch der eigentümliche Doppelsinn des dritten Verses: Mit dem Hirten nämlich, der in Kürze dort seine Herde hüten wird, wo jetzt noch Städte stehen, ist nicht etwa nur der menschliche Hirte gemeint, sondern gemäß Psalm 23 auch Gott. Die heilstheologische Nichtigkeit der Welt, ihr ateleologischer Charakter sind eben nichts anderes als von Gott selbst gewollt: Die Stadt – vor allem die Stadt Babylon – kann schon darum nicht teleologisch auf Gott ausgerichtet sein, da sie nach Offb 18–19 doch vor dem Weltgericht untergehen soll: Gottes Herrschaft als Hirte nach dem Jüngsten Gericht will sich vom vormaligen depravierten Zustand gerade absetzen und nicht als dessen Zielform gelten. Das Dogma des soteriologischen sola fide musste nicht mehr aus sich selbst allein wirken, sondern wusste in dem vermehrt ateleologischen Denken gute Gründe dafür auf seiner Seite, dass nichts Anderes
431 Vgl. etwa Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus. Zur Geschichte der Dissoziation von Theologie und Naturwissenschaft; Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie; Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 15–20; Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und in der Aufklärung. Hamburg 2012 (Paradeigmata 31), S. 71–74.
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als das Wort Gottes über das Heil Auskunft gibt. Gryphius’ vanitas-Dichtung ist mithin ‚nur‘ noch hinsichtlich der verhaltensethischen Folgerungen eigentlich geistliche Dichtung. Respektive des undogmatisch aus Wirklichkeitsbeobachtungen entwickelten Bewusstseins von der ateleologischen Beschaffenheit der Dinge ist sie nachgerade weltlich. Zum Anderen hat dies Folgen für ein natürliches Recht und jedwedes Verständnis von Erkenntnis und Geltendmachung transhumaner Normen, wie sie für Gryphius’ gesamte Problemwahrnehmung und -behandlung von Bedeutung sind. Einer starken teleologieverhafteten Tradition zum Trotz machte Gryphius schon frühzeitig entscheidende Ent-Teleologisierungen der physischen Natur mit. Hinsichtlich dieser Vermutung ist nicht nur seine Dichtung zu konsultieren und der zentral anentelechische Charakter der vanitas zu reflektieren. Es ist im Folgenden auch zu vergegenwärtigen, dass schon im siebzehnten Jahrhundert die vermehrt kausallogische Denkweise eine gute Alternative darstellte, und zwar weniger nur zur anmaßenden aristotelischen Lehre substantialer Formen, sondern auch besonders als theologisch bessere Alternative zur Gnosis bzw. zum Manichäismus: Hans Blumenberg hält zurecht fest, dass Gnosis und Manichäismus die Entelechie aufrechtzuerhalten versuchten, durch die sich die Frage schlechter Teloi eigentlich stellte. Sie beantworteten sie mit dem unvollkommenen Demiurgen, der diese schlechten Teloi setzte und gegenüber dem der eigentliche Gott zwar übergeordnet blieb, aber schöpfungstheologisch in den Hintergrund rückte. Die fundamentale Verabschiedung der substanzialen Formen und damit auch der Entelechie stellte demgegenüber allemal die auch theologisch befriedigendere Lösung dar, so sehr sie die diesseitswissenschaftliche Säkularisierung auch vorantrieb: Der monotheistische gütige Gott blieb so näher an der Welt und dennoch unverantwortlich für das Böse in ihr.
4.3.2 Funktionalismus jenseits der Teleologie: Niccolò Machiavellis Pragmatismus Besonders mit Blick auf die politische Theorie ist zu vergegenwärtigen, dass die Teleologie nicht nur und nicht erst durch die expliziten Verabschiedungen seitens der Physik und Metaphysik ins Wanken geriet. Die Teleologie wurde hier nicht erst geschwächt, als sie theoretisch bestritten wurde. Sie brach schon früher ein, nämlich im wissenschaftspraktischen Vollzug einer Staatslehre, die vermehrt auf wirkursächliche Gegebenheiten als auf zielursächliche Gesolltheiten schaute. Die Rede ist wiederum von Niccolò Machiavellis politischem Denken. Stefano Saracino bemerkt jüngst, dass sich hier in einer für das sechzehnte Jahrhundert wohl einmaligen Weise ein nahezu rein kausallogisches Denken realisiert: „Es
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ist offensichtlich, dass Machiavelli mit dem klassischen (aristotelischen) teleologischen Naturverständnis bricht. Die Natur vermag bei Machiavelli nicht mehr Ziel- und Formursache menschlicher und politischer Entwicklungsprozesse zu sein“.432 Schon Leo Strauss hatte – wenngleich in systematisch abwehrender Haltung – mehrfach die frühe Beteiligung Machiavellis „an der Zerstörung des klassischen Naturrechts- und Physis-Begriffs“ festgehalten.433 Die Definalisierung der Natur gilt nicht nur für die Natur im Allgemeinen, sondern auch für die menschliche Natur im Besonderen. Missverständnisse sind bei diesem Aspekt von Machiavellis Denken unbedingt zu vermeiden: Natürlich geht es Machiavelli erstens besonders im Principe, aber auch in den vermehrt politkonsultativen Passagen der Discorsi stets um eine Handlungslehre. Eine solche ist natürlich immer, d.h. auch unter systematischen Gesichtspunkten, teleologisch, insofern sich Handlungen von anderen Prozessen durch „gehaltvolle Absichten“ konstitutiv unterscheiden:434 Setzung von Zielen ist für Handlungen wesentlich, von Zielen zu sprechen daher für eine Handlungslehre unabdingbar. In eben dieser Weise reflektiert auch Machiavelli zweitens stets die Ziele, die sich zu setzen für einen ambitionierten Politiker sinnvoll ist. Ebenso handelt er von den Mitteln, die erfahrungsgemäß mehr oder minder wahrscheinlich diese Ziele zu erreichen helfen. Damit ist jedoch schon das bestimmte Moment, mithin die Grenzen der Teleologie einer modernen wie auch der machiavellischen Handlungslehre angezeigt: Ziele sind mal mehr, mal weniger sinnvoll. Damit ist schon von vornherein die Rede von der moralischen Güte dieser Ziele eingeschränkt. Ziele werden nicht etwa gesteckt, weil sie dem Handelnden von außen zu setzen aufgetragen würden. Ziele werden sich jedoch besonders nicht etwa deswegen gesetzt, weil sie selbst schon ursächlich wirkten auf den Erfolg sie zu erreichen. Wäre dem so, d.h. zöge ein Ziel in der Tat die Dinge auf sich, die dem Augenschein nach auf es zulaufen, wäre schon die Überlegung überflüssig, ob das Setzen des Ziels selbst sinnvoll ist. Tatsächlich aber vollzieht schon die aristotelische Handlungs- und Entscheidungstheorie die Reflexion auf Zielsetzung – und das nicht nur in normativer Hinsicht, sondern auch respektive der Realisierbarkeit von Zielen (siehe in 4.1.3.3). Erst Machiavelli setzt dieses gerade rein kausallogische Moment innerhalb von Zweck-Mittel-Rationalismen konsequent um: Die Frage nach der Realisierungsbedingung wird vom Ziel auf die Mittel umgelagert und damit wird ein wirkursächliches Denken vorherrschend. Welche Bedingungsfaktoren sind in
432 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 298. 433 Ebd., S. 299f.; 434 Wolfgang Detel: Philosophie des Sozialen. Stuttgart 2007 (Grundkurs Philosophie 5), S. 15.
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welchem Maße vorhanden, um unter ihrer tatkräftigen Instrumentalisierung das gesetzte Ziel zu bewirken? Welche anderen Bedingungsfaktoren sind in welchem Maße vorhanden, die das Ziel zu bewirken verhindern? ‚Teleologisch‘ ist daher bei Machiavelli das Ziel nurmehr, insofern es als beabsichtigtes prospektiv ist. Es ist nur noch der chronologische Aspekt der Zukünftigkeit, der von Ziel sprechen lässt, nicht eigentlich mehr eine Systematik. Schon die Absicht selbst wird von Machiavelli meist auf wirkursächliche Bedingungsfaktoren zurückgeführt. Auch vordergründig freiwillige Entscheidungen bemüht sich der Fiorentiner noch auf Notlagen oder auf gute Gründe, in jedem Fall auf etwas zurückzuführen, das der zielgebenden Entscheidung sachlich vorausliegt, und sich rational erschließen lässt. So heißt es z.B. zur Übergabe der civitas unter fremde Herrschaft: Was die Eroberung der Städte durch Übergabe betrifft, so kann diese freiwillig oder gezwungen erfolgen. Die Freiwilligkeit ist entweder auf eine äußere Notwendigkeit zurückzuführen, die sie zwingt, sich unter deinen Schutz zu begeben wie Capua unter den Schutz der Römer; oder die Freiwilligkeit gründet in dem Wunsch, gut regiert zu werden, wenn eine Stadt durch die gute Regierung eines Herrschers verlockt wird, dem sich schon andere freiwillig überantwortet haben, wie Rhodos, Massilia und andere Städte, die sich den Römern ergeben haben.435
Erst das vordringlich wirkursächliche Denken lässt Machiavelli die Notwendigkeit von Erneuerung hervorheben, um den Staat zu erhalten. Mantenere lo stato ist keine auf sich selbst als Zweck rückführbare Handlung, sondern beruht auf rinovare lo stato, ohne dass dies noch als widersprüchlich empfunden würde. Kausallogisch ist dieser Gedanke darin, dass Machiavelli ausschließlich jene Erneuerungen als erfolgsversprechend deklariert, die sich auf die faktischen Ursprünge des Staates besinnen: Da ich hier von kollektiven Gemeinschaften spreche, wie es die Staaten und die Sekten sind, so behaupte ich, dass ihnen nur diejenigen Veränderungen zum Heil gereichen, die sie zu ihren Anfängen zurückführen. […] Es ist klarer als das Tageslicht, dass solche Gemeinschaften ohne Erneuerungen nicht von Dauer sind. Das Mittel zur Erneuerung aber ist, wie
435 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, II,32, S. 352: „Quanto allo acquisitare le terre per dedizione, o le si danno volontarie o forzate. La volontà nasce, o per qualce necessità estrinseca, che gli constringe a riffuggirtisi sotto, come fece Capova ai romani, o per desiderio di essere governati bene, sendo allettati da il governo buono che quel principe tiene in coloro che se gli sono volontari rimessi in grembo, come fecero i rodiani, i massilensi ed altre simili cittadi che si dettono al popolo romano“ [Hervorhebung O.B.]. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, II,32, S. 281.
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gesagt, sie zu ihren Anfängen zurückzuführen; denn in ihren Anfängen müssen ja alle Religionen, Freistaaten und Königkreiche notwendig etwas Gutes gehabt haben, dem sie ihr ursprüngliches Ansehen und ihre ursprüngliche Durchschlagskraft zu verdanken hatten. Da dieses Gute im Laufe der Zeit verdirbt, muss der betroffene Körper notwendigerweise absterben, solange nichts eintritt, das das ursprünglich Gute wieder herstellt.436
Auch die Beibehaltung vorgenommener Teloi wird von Machiavelli nur als Re stitution bedingender Wirkursachen gedacht. Machiavelli reflektiert hier schon ebenjenes Bedingungsgefüge, wie es auch in Gryphius’ Sonett Vanitas, Vanitatum, et omnia Vanitas aufgezeigt wurde. Bei Gryphius genauso wie bei Machiavelli kann derjenige, der etwas „heute bawt“, nicht schon dadurch auch hinreichend gewährleisten, dass dies nicht ein anderer „einreißt“. Anders als Gryphius verkündet Machiavelli natürlich nicht die Eitelkeit des Versuchs, auf der absichtsvollen Zielsetzung zu „pochen“. Ebenso wenig münden seine Gedanken im heilsökonomischen Pessimismus von der Nichtigkeit jedweden aktiven Handelns gegen widrige Umstände: Diese Perspektive spielt bei Machiavelli gar keine Rolle mehr. Damit läuft sein säkularer kausallogischer Fokus auf eine Wahrnehmung von Zusammenhängen hinaus, die allein in Wirkursachen noch angemessen ist und dennoch nicht handlungshemmend wirkt. Wenn die Klugheit die gegebenen Umstände sowie die zur Verfügung stehenden Mittel nur ausreichend berücksichtigt, vermag sie durchaus, projektierte Ziele zu ‚perpetuieren‘. Im Übrigen erklärt sich Machiavelli selbst die Absicht der Staatserhaltung und -erneuerung selbst wiederum wirkursächlich: Diese Rückführung auf den Ursprung erfolgt bei Staaten durch ein von außen kommendes Ereignis oder aus inneren Impulsen. Was das erstere betrifft, so sieht man, wie notwendig für Rom die Eroberung durch die Gallier war, notwendig für seine Wiedergeburt, für die Erneuerung seines Lebens und seiner Tüchtigkeit.437
436 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III,1, S. 355f.: „E perché io parlo de’ corpi misti, come sono le republiche e le sètte, dico che quelle alterazioni sono a salute che le riducano inverso i principii loro. […] Ed è cosa piú chiara che la luce, che non si rinovando questi corpi non durano. Il modo del rinnovargli è, come è detto, ridurgli verso e’ principii suoi. Perché tutti e’ principii delle sètte e delle republiche e de’ regni conviene che abbiano in sé qualche bontà, mediante la quale ripiglino la prima riputazione ed il primo augumento loro. E perché nel processo del tempo quella bontà si corrumpe, se non interviene cosa che la riduca al segno, ammazza di necessità quel corpo“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III,1, S. 284. 437 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III,1, S. 356f.: „Questa riduzione verso il principio, parlando delle republiche, si fa o per accidente estrinseco o per prudenza intrinseca. Quanto al primo, si vede come egli era necessario che Roma fussi presa dai franciosi a volere che
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Bestimmend ist die anthropologische438 Annahme, der Mensch vernachlässige in Ermangelung von Herausforderungen seine angestammten Tugenden. Der psychologische Mechanismus drohender oder hereinbrechender Missstände wirkt daher ursächlich auf die Herausbildung derjenigen Absicht, ebendiesen Missständen entgegenzuwirken oder zumindest deren Folgen zu verhindern. Damit einher geht jene in 4.1 geschilderte Temporalisierung des Herrschaftsrechts: Die Besinnung auf variante wirkende Umstände und ihre Bevorzugung vor gleichbleibenden Normen bedeutet eine Dynamisierung des politischen Handelns, das sich der Beurteilung durch apriorische Legitimität entzieht. Dass der in der Notdiktatur notwendig monokratische ordinatore zweifellos andere Befugnisse haben muss, als die vorzugsweise republikanische Regierung im funktionierenden Staat, kennzeichnet schließlich Machiavellis Denken vom Ausnahmezustand: Eine normative Beurteilung der monokratischen Notstandsdiktatur von Seiten der republikanischen Blüte verbietet sich für Machiavelli nicht nur genauso wie der umgekehrte Fall. Vielmehr wäre sie unter der Maßgabe seines rein auf faktenpolitische Kausalbedingungen konzentrierten Denkens regelrecht unsinnig. Die politische Handlung ist nur danach beurteilbar, ob sie den herrschenden Bedingungen angemessen ist. Dementsprechend geht der Streit, ob Machiavelli kategorischer Förderer der Tyrannei oder der Republik sei, schon an den physischen wie metaphysischen Grundlagen des Fiorentiners vorbei.439 Wohlbemerkt behält Machiavelli das Vokabular der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre durchaus bei: „[P]erché altri ordini e modi di vivere si debbe ordinare in uno suggetto cattivo che in uno buono, né può essere la forma simile in una
la rinascesse, e rinascendo ripigliasse nuova vita e nuova virtú […]“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, III,1, S. 285. 438 Vgl. dazu Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, S. 648, der mit guten Gründen bei Machiavelli kein prinzipielles Anthropologisieren erkennt. Machiavelli „drückte nicht etwa die theoretische Ansicht aus, die Gesamtheit der Menschen (oder ihre überwiegende Mehrheit) handle immer schlecht. Selbst wenn Machiavelli sich gelegentlich so ontologisch ausdrückte, intendierte er eine Einsicht anderer Art: Zu den Bedingungen politischen Erfolgs gehört es, zu unterstellen, der Handlungsraum sei von politischen Mächten umstellt, die ohne Rücksicht auf moralische Normen ihre Interessen durchzusetzen versuchen würden. […] Der ‚anthropologische Pessimismus‘ muß angenommen werden, als Handlungsregel, wenn Politik als Machterhaltung und Machterweiterung verstanden und wenn Sicherung von Macht als oberster Wert des Zusammenlebens von Menschen angesehen wird“. (ebd. [Hervorhebung im Text]). 439 Dies darf als die entscheidende Erkenntnis von Saracinos penibler Text- und Kontextanalyse des machiavellischen Opus’ gelten: Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 435–441.
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materia al tutto contraria“.440 Form bedeutet für Machiavelli jedoch nur noch dem Begriffe nach Aktualisierung der Möglichkeiten, die dem Stoff innewohnen. Die Beschreibungskategorien Form und Materie haben bei ihm nurmehr aposteriorische Geltung. Die Eignung von (Regierungs)Formen für bestimmte Zustände der Gemeinschaft bestimmt Machiavelli nach benennbaren vorausliegenden Bedingungen, nicht nach einer notwendig unzugänglich-mythischen Entelechie. Form und Stoff werden von Machiavelli de re nur genauso auf Wirkursachen heruntergebrochen wie Ziel und Intention. Damit ist das Geschäft der politischen Klugheit zwar auch für ihn ohne Zweifel kompliziert. Dennoch ist es nicht mehr auf Auspizien angewiesen. Denn gerade dank der Benennbarkeit von Bedingungsfaktoren wird das politische Kalkulieren endlich zur Vernunftsache. Es ist ein menschenmögliches Geschäft, in dem nicht mehr der Haruspex, sondern „ein kluger Mann den Übelstand bereits voraussehen“ kann, „wenn er noch in weiter Ferne liegt und erst zu entstehen beginnt“.441 Wenn Machiavelli der tatsächlichen Entteleologisierung die fortdauernde Rede von Form, Stoff und Zweck gegenüberstellt, so ist dies zwar nicht nur als bloß rhetorisch konzessive Sprachregelung gemeint. In einem eigens hierfür vorgesehenen Kapitel (II,29) beschäftigt sich Machiavelli gerade damit, dass das Schicksal durchaus Absichten und Ziele habe.442 Gemäß einem Livius-Zitat verblendet Fortuna jedoch die Geister hinsichtlich dieser Ziele, weshalb Machiavelli nur wieder zu der Folgerung gelangt: […] Titus Livius […] schließt mit den Worten: „So verblendet das Schicksal die Geister, wenn es nicht will, daß seine hereinbrechende Gewalt gehemmt wird“. Nichts ist wahrer als diese Schlussfolgerung. Deshalb verdienen auch die Menschen wegen des großen Unglückes, in dem sie leben, weniger Lob oder Tadel. Denn meistens sieht man, dass sie ins Unglück oder zu ihrer Größe gekommen sind, weil ihnen der Himmel die Gelegenheit zu trefflichen Taten schenkte oder nahm. […].443
440 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, I,18, S. 95 [Hervorhebungen O.B.]. 441 Ebd.: „[A] volergli rinnovare pocco a pocco, conviene che ne sia cagione uno prudente che vegga questo inconveniente assai discosto, e quanto e’ nasce“. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, I,18, S. 68. 442 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, II,29, S. 336–340 („La fortuna acceca gli animi degli uomini, quando la non vuole che quegli si opponghino a’ disegni suoi“). 443 Ebd., II,29, S. 338: „Tito Livio […] conchiude dicendo: ‚Adeo obcaecat animos fortuna, cum vim suam ingruentem refringi non vult‘. Né può essere vera questa conclusione: onde gli uomini che vivono ordinariamente nelle grandi avversità o prosperità meritano manco laude o manco biasimo. Perché il piú delle volte si vedrà quelli a una rovina ed a una grandezza essere stati convinti da una commodità grande che gli hanno fatto i cieli, dandogli occasione o togliendoli di potere operare virtuosamente“ [Hervorhebungen O.B.]. Übersetzung nach Zorn: Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, II,29, S. 271.
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Dem Menschen ist die Erkenntnis von den Zielen des Schicksals von diesem selbst, bzw. vom Schöpfergott verunmöglicht worden.444 Es präsentiert sich ihm nur in den sichtbaren wirkenden Ursachen. Kurt Flaschs Urteil, Machiavelli „beschrieb […] zwar das Anwachsen des Schicksalsglaubens, aber er teilte ihn nicht“,445 trifft insofern nicht exakt den Punkt: Fortunas Zielsetzungen sind Machiavelli offensichtlich zwar unstrittig, hingegen für das menschliche Erkennen und Entscheiden müssen sie folgerichtig indifferent sein. Deshalb kann man Saracino darin zustimmen, dass Fortuna selbst nur wieder zu einer „Kausalkraft in Machiavellis naturalistischem Weltbild“ wird,446 – unter dem Zusatz, dass Machiavelli dennoch versucht, die exklusive Wirkursächlichkeit, in der sich die Natur dem Menschen präsentiert, als dennoch vom Schicksal teleologisch verfügte zu denken. Auch Machiavellis Fortuna-Kapitel II,29 ist der bemerkenswerte Versuch eines frühmodernen Denkers, seine effektive Innovation traditionellkonservativ aufzufangen.
4.3.3 Bacon und Descartes: Gottes freier Wille und die Priosierung der causa efficiens Die Philosophiegeschichte hat hinreichend gezeigt, dass die epistemologische Wende des siebzehnten Jahrhunderts keineswegs schon deshalb eine notwendige Abwendung von der Theologie bedeutete, weil sie gegen die Scholastik Stellung bezog. Auch wenn man Panajotis Kondylis’ Auffassung nicht teilen muss, dass „[d]as Bekenntnis zum voluntaristischen Gott […] ja eine Pflichtübung jedes Gegners thomistischer Scholastik“ gewesen sei,447 trifft sie auf entscheidende Akteure dieser Wende zu. Hans Blumenberg hat es im Hinblick auf Melanchthons Kopernikusrezeption schon gezeigt, dass ein gediegen reflektierter Voluntarismus mit dem neuen wissenschaftlichen Weltbild keineswegs nur kompossibel sein musste (3.1.4):448 Dieser Ausweg auf den tönernen Füßen der Kontingenz musste nicht beschritten werden, um einen systematischen Zusammenhang von der Allmacht Gottes und der anentelechischen Struktur von Natur und Welt zu sehen. Zurecht beschreibt Kondylis die Verbindung von Voluntarismus und Entteleologi-
444 Vgl. Kablitz: Il Principe, Kapitel 24–26, S. 152. 445 Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, S. 643. 446 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 290 [Hervorhebung O.B.]. 447 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 184 [Hervorhebung O.B.]. 448 Blumenberg: Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus.
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sierung unter den Bedingungen postscholastischer und präkantianischer Annahmen als historisch dringend: Denn nicht nur je schon theologische, sondern auch metaphysische Bedürfnisse gegen die Theorie der substanzialen Formen legten die Verteidigung des freien Willens Gottes nahe. Es waren die Finalursachen, die in der thomistischen Scholastik in der Weise apriorisch gedacht wurden, dass die in Gottes Intellekt vorhandenen Wahrheiten seinem Willensentschluss insofern vorgängig waren, als sie gerade diesen Willen zielorientierten.449 Wenn Gryphius daher im Dreifaltigkeitssonett die Erkenntniskunst am Wesen Gottes scheitern sieht, widerstrebt das nur scheinbar dem aufkommenden Anspruch der philosophischen Gottesbeweise. Die Diagnose einer sachlichen Unvereinbarkeit von Gryphius’ ‚New Philosophy‘-Rezeption einerseits und seines Schriftglaubens andererseits ist in der Gryphius-Forschung nach wie vor wirkmächtig: Für Hugh Powell liegt bei Gryphius eine „Inkonsistenz“ vor, insofern profane und sakrale Themen bei diesem „nebeneinander exisitieren“450 – ohne Interferenzen, höchst widersprüchlich und schon gar nicht in systematischer Vereinbarkeit. Dabei ist dieses Missverständnis nicht dadurch zu korrigieren, dass ein falsch verorteter Standpunkt des Gryphius richtiggestellt würde. Vielmehr müssen die Ansprüche der neuen Philosophie angemessen in Betracht kommen, vor allem im Hinblick auf die Autorität der Offenbarung und des Willen Gottes. Die Zurücknahme eines philosophischen Universalanspruchs funktioniert bei Gryphius nicht als bloßer ideenhistorischer Rückschritt. Denn diesem Universalanspruch geht es gerade nicht um die Erkenntnis des So-Seins des Willens Gottes. Die Gottesbeweise beschränken sich noch auf das Da-Sein des ens perfectissimum. Auf der anderen Seite ist es Gryphius’ praktischem Interesse besonders um die Unhintergehbarkeit des göttlichen Willens zu tun. Der Schlesier nimmt in den Dissertationes funebres ausdrücklich und vollkommen unbefangen auf Bacon und Descartes Bezug. Daher fragt sich, wie sehr er einen (rechts)theologischen Voluntarismus vom theoretischen Empirismus Bacons’ einerseits und vom theo-
449 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 185. 450 Hugh Powell: Andreas Gryphius and the ‚New Philosophy‘. In: German Life & Letters 5 (1951/52), S. 274–278, hier S. 275f.: „Our poet accepted the dogma of the Lutheran Church and yet recognized as valid the results of practical investigations which were at variance with that set of doctrinal beliefs. […] For Gryphius, as for many of his European contemporaries, there were most probably two kinds of truth – one ofe faith or religion, the other of reason or science. […] [H]e does seem to have been able to live in ‚divided and distinguished worlds‘ […] In his poetry sacred and profane motifs exist side by side. […] It is from this amphibious quality that the above-mentioned inconsistency derives.“
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retischen und epistemologischen Rationalismus Descartes’ andererseits überhaupt gefährdet sehen musste.
4.3.3.1 Bacons ars-Begriff als Beleg göttlicher Unverfügbarkeit Wenn Gryphius im Dreifaltigkeitssonett 1657 die ars als perfektibles Mittel menschlicher Selbstbehauptung begreift, bedient er sich des vordringlich baconschen ars-Begriffs. Erst die baconsche Ablehnung all der Künste, die „auf Phantasie und unkritischem Vertrauen auf Autorität beruhen“,451 gibt Gryphius die Möglichkeit, diese Ablehnung autoritätshöriger Künste in eine Selbstlimitation der neuen Wissenschaften umzudeuten. Hierin liegt der Kern der historischen Möglichkeit, gerade als protestantischer Zeitgenosse wie Gryphius die neuen Wissenschaften samt ihrem diesseits-epistemologischen Anspruch affirmativ zu rezipieren und dabei den hohen Rang der Theologie nur noch mehr zu stärken, – ohne dass dies einen Widerspruch darstellte, wie auch Kondylis bemerkt: Es mag paradox klingen, und doch ist es so, daß die weltanschaulich-ontologische Gesamtaufwertung der Natur eine Verachtung derselben Natur in ihrer qualitativen Vielfalt nach sich ziehen mußte – denn nur deren Beseitigung, d.h. nur die Quantifizierung der Natur konnte dieselbe ganz berechenbar und daher auch zum höchsten Erkenntnisgegenstand machen.452
In den Augen der eigenen Polemik war es gerade der präbaconsche Kunstbegriff, der dem Schrift- und Allmachtstheologen ein Dorn im Auge sein musste. Denn dieser implizierte die Möglichkeit einer menschlichen Gotteserkenntnis aus päpstlicher Autorität, schlimmer noch aus poetischer Intuition.453 Es ist die Besinnung auf die Natur als dem Menschen kognitiv und empirisch durchaus verfüg-
451 Alfons Reckermann: [Art.] Kunst, Kunstwerk II. Der Kunst-Begriff vom Hellenismus bis zur Aufklärung. In: HWPh 4, S. 1365–1378, hier S. 1373. 452 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 91. 453 Dies hat zwar seine auch vorreformatorische und sogar vorbaconsche Tradition: Schon Paracelsus war bereits relativ „unbeeinflußt von teleologischen Prinzipien“ (Vgl. Erwin Metzke: Erfahrung und Natur in der Gedankenwelt des Paracelsus (1939). In: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. von Karlfried Gründer. Wittenberg 1961 (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 19), S. 20–58, S. 47). Insofern hatte schon bei ihm jede Spekulation über das Wesen Gottes gefehlt. Sie fehlte jedoch gerade in Anerkennung der Gottesinstanz, insofern bei ihm „in der Gottes-Erfahrung […] die Besinnung auf die Natur als die unverfügbare Wirklichkeit [erfolgt], innerhalb derer als begrenzender und tragender Macht, über die sich das Leben weder erheben kann noch soll, der Mensch seine Existenz hat“ (Ders.: Mensch, Gestirn, Geschichte bei Paracelsus (1941). In: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte. Hg. von Karlfried Gründer. Wit-
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bare Wirklichkeit, wie sie die ‚Scientific Revolution‘ bestärkte. Sie ist deshalb von Gott dergestalt getrennt, dass der ungehindert mögliche Zugang zur Wirklichkeit gerade nichts mehr mit Gotteserkenntnis zu tun hat, mehr noch: Dieser Zugang hat seine Möglichkeitsbedingung gerade darin, dass die natürliche Wirklichkeit von Gottes letztlich unhintergehbaren Beschlüssen nicht durchdrungen ist. Das eben ist auch im Schlussvers von Gryphius’ Dreifaltigkeitssonett ausgesagt. Erst so wird der Unterschied von Gott und Welt sowie ihrer jeweiligen Erkenntnis kategorisch. Diese Kategorizität wird gleichermaßen von der neuen Epistemologie begründet und von der reformatorischen Theologie begrüßt: Selbst die Schrift liefert nur beschränkten Aufschluss über Gott und dementsprechend hatte sich auch schon in Luthers Augen die Theologie von dem Versuch zu distanzieren, Gottes Wesen verstehen zu wollen.454 Die einzig vorliegende Stelle, an der Andreas Gryphius Bacon ausdrücklich anführt und zitiert, zeugt davon, dass er bei Francis Bacon eine gleichzeitig wissenschaftlich behutsame und im Anspruch zurückhaltende Haltung realisiert sah. In der Dissertatio funebris Schlesiens Stern in der Nacht (1649) heißt es: Verulamio redet sehr vernnfftig / wenn er spricht: Ein trefflicher Artzt und weltweiser Mann bekomme kaum ein Werck vor sich / in welchem er seiner Kunst und Tugend rechte Probe geben knne; sondern der Ausgang bringe beyderseits die Ehre darvon. Woraus denn ein gar ungerechtes Urtheil entstehe / weil ja der wenigste erkenne / ob der Krancken Tod oder Gesundheit / und des gemeinen Wesens Untergang oder Erhaltung dem unversehenem Fall oder wolbedachtem Rath zuzuschreiben. (GdW 9, Schlesiens Stern in der Nacht, S. 36–50, hier S. 44)
Die Einschränkung auf den Arzt und Politiker erfolgt dabei nicht aus systematischen, sondern aus gelegenheitspoetischen Gründen, ist doch der Verstorbene der ehemalige Grünberger Syndikus und schwedische Oberkriegskommissar Sigismund Müller (1612–1649). Hinter der in der Marginalie nur groben Zitatangabe „IV. de Augmento Scient.“ verbirgt sich Bacons Feststellung im zweiten Kapitel des vierten Buches, dass für alle Wissenschaften und Künste gleichermaßen das Problem der „Veränderlichkeit und Verschiedenheit“ der Dinge gelte. Der Fachmann ist in Ermangelung umfassenden Wissens dergestalt auf Mutmaßungen angewiesen, dass er nicht nach dem Erfolg und dem Ergebnis selbst beurteilt werden dürfe, sondern nur nach seiner Tüchtigkeit und Verrichtung:
tenberg 1961 (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 19), S. 59–116, hier S. 114f.) 454 Vgl. Martin Seils: [Art.] Gott VII. Renaissance und Reformation 2. Reformation a) Luther. In: HWPh 3, S.751–753, hier S. 753.
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Ergo demum ista subjecti inconstantia et varietas artem reddidit magis conjecturalem; ars autem tam conjecturalis cum sit, locum ampliorem dedit non solum errori, verum etiam imposturæ. Siquidem omnes aliæ propemodum artes et scientiæ virtute sua et functione, non successu aut opera, judicantur. […] At Medicus, et fortasse politicus, vix habent actiones aliquas proprias quibus specimen artis et virtutis suæ liquido exhibeant; sed ab eventu præcipue honorem aut dedecus reportant, iniquissimo prorsus judicio. Quotus enim quisque novit, ægroto mortuo aut resituto, item republica stante vel labante, utrum sit res casus an consilii?455
Gryphius kapriziert sich auf den von Bacon stark gemachten „unversehenen Fall“, der den seriösen Fachmann Abstand von der Hybris des Vollkommenheitsanspruchs nehmen lässt, mit anderen Worten: Abstand davon, ‚Gott zu spielen‘. Hinsichtlich der innersäkularen Systematik von Varianz und Kontingenz gilt für alle Künste die Limitation des epistemologischen Erfolgsanspruchs. Dies muss für Bacon a fortiori für die Erkenntnis von Gottes Willen gelten. Der Empirist Bacon sah sein naturwissenschaftliches Weltbild mit entscheidenden Dogmen der Schrift wesentlich vereinbar: Zwar strebt der forschende Mensch nach abgesichertem Wissen. Gerade im Hinblick auf Gottes Willen scheint für Bacon dieser Erkenntnisanspruch mit guten Gründen ausgeschlossen. Schon der Versuch scheint gefährlich zu sein, wie seine Schrift Of interpretation of nature verdeutlicht: For if any man shall think by view and inquiry into these sensible and material things, to attain to any light for the revealing of the nature or will of God, he shall dangerously abuse himself. It is true that the contemplation of the creatures of God hath for end (as to the natures of the creatures themselves) knowledge, but as to the nature of God, no knowledge, but wonder […] so doth the sense discover natural things, but darken and shut up divine. And this appeareth sufficiently in that, there is no proceeding in invention of knowledge but by similitude; and God is only selflike, having nothing in common with any creature, otherwise than in shadow and trope.456
Bacon kommt unter zwei Prämissen zum Schluss einer wissenschaftlich unmöglichen Gotteserkenntnis. Da ist erstens das wissenschaftstheoretische Argument des induktiven Empirismus: Wissen wird durch die Ähnlichkeit der Phänomene
455 Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum (Libri I–VI). In: The Works. Ed. by James Spedding, Robert Leslie Ellis, Douglas Denon Heath. Vol. 2. New York, Boston 1864, S. 97– 498, hier S. 321f. 456 Francis Bacon: Of interpretation of nature. In: The Works. Ed. by James Spedding, Robert Leslie Ellis, Douglas Denon Heath. Vol. 3. London 1857, S. 217–252, hier S. 218 [Hervorhebung O.B.]; vgl. Ulrich Dierse: [Art.] Gott VIII. Der philosophische Gottes-Begriff vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: HWPh 3, S. 756–783, hier S. 756f.
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generalisierend erschlossen. Da ist zweitens ein theologisches Dogma, nämlich die auch von Bacon schlicht gesetzte Einmaligkeit Gottes. Wissenschaftliche, epistemologische und methodologische Neuerungen gehen mit fundamentaltheologischen Doktrinen bisweilen noch Hand in Hand, und dies auch bei einer „Persönlichkeit der Zeitenwende“ wie Bacon.457 Dabei ist bemerkenswert, dass es nicht mehr allein das theologische Dogma ist, das auf den wissenschaftlichen Anspruch limitierend wirkt. Dieses kommt bei Bacons Argumentation ‚nur‘ noch im Untersatz zur Geltung. Entscheidend kommt das genuin wissenschaftliche Argument im Obersatz zum Tragen. Es setzt mit dem Kriterium der Ähnlichkeit gerade selbst die Grenze. Mit der Akzeptanz der zweiten, theologischen Prämisse wird diese Grenze berührt: Da gilt, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur durch den Vergleich mehrerer ähnlicher Phänomene möglich ist (Obersatz), und da ebenso gilt, dass Gott einmalig ist (Untersatz), lautet Bacons Schluss konsequent, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis von Gott unmöglich ist.
4.3.3.2 Descartes’ epistemologisch-rationalistische Anerkennung der Offenbarungsautorität René Descartes’ Denken scheint Gryphius schon früh bekannt gewesen zu sein. Denn unter den Kollegien, die Gryphius in Leiden hielt, hebt Baltzer Siegmund von Stosch eines hervor, in dem Gryphius „Philosophiam Peripateticam und Neotericam“ verglich.458 Der umwälzende Charakter von Descartes’ Denkens ist unbestritten. Dennoch sieht sich die Philosophiegeschichtsschreibung gegenüber vereinfachenden Zuschreibungen zurecht wiederholt in der Pflicht, denjenigen Irrtum zu betonen, Descartes artikuliere mit der umfassend rationalistischen Erklärbarkeit der Welt immer auch einen umfassenden Erkenntnisanspruch über Gottes Willen.459 Indem Descartes göttlichen Intellekt und Willen verschränkt, entzieht er gerade nur der Teleologie ihre göttliche Grundlage: Gott schafft die Welt als causa efficiens, genauso wie er der Schöpfer der Wahrheiten ist.460 Insofern zehrt Gryphius auch von der cartesischen Tradition. Um die Beseitigung der Teleologielehre war es diesem nämlich nicht nur zum Zweck der
457 Röd: Die Philosophie der Neuzeit I, S. 21. 458 Stosch: Danck- und Denck-Seule, S. 32; vgl. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, S. 132f.; Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk, S. 30. 459 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes; Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, S. 180. 460 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 185.
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Anerkennung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tun. Auch der frei wollende Gott ließ sich verteidigen. Die Frage nach einer Descartes-Rezeption Gryphius’ wurde von der Forschung wiederholt gestellt, aber eher zurückhaltend oder gar nicht beantwortet. Das Interesse für einen cartesischen Kontext des Schlesiers ist dabei mit dem gleichzeitigen Aufenthalt Gryphius’ und Descartes’ in Leiden biographisch zwar gut begründet. Die Exklusivität dieses Interesses allerdings scheint unzulässig aus einem bestimmten philosophiegeschichtlichen Fokus zu resultieren, nämlich dem auf umfassende Systementwürfe – weshalb eben auch Bacon zur Sprache kommen musste.461 Dabei ist in dieser Studie nicht der Ort, exhaustiv Systeme abzugleichen. Für das hiesige Vorhaben ist es schließlich nicht notwendig. Parallelen zwischen dem Denken Gryphius’ und Descartes’ sind hier eben nur im Hinblick auf die rechts- und politisch-theologischen Zuspitzungen aufzuzeigen, wie sie für Gryphius von Bedeutung sind. In der Tat darf dabei nicht aus dem Blick geraten, dass die Geltung göttlichen Rechts metaphysischen Möglichkeitsbedingungen anhängig ist. Diese dürfen nicht deshalb schon unter den Tisch fallen gelassen werden, nur weil sie selbst noch nicht rechtstheologisch sind. Das betrifft zum Ersten den Status des vollkommensten Wesens als Verursacher der je nur unvollkommenen Dinge, mithin deren ausnahmslose Verursacht- und nicht Zweckgerichtetheit. Zum Zweiten betrifft es das damit aufgeworfene Problem eines natürlichen Rechts und die Auflösung der emimenten Geltungsfrage im göttlichen Willen und seiner Offenbarung. Die einzige explizite Bezugnahme Gryphius’ auf Descartes findet sich abermals in einer Leichabdankung, Winter=Tag Menschlichen Lebens (1653). Bezeichnender Weise bezieht sich Gryphius hier auf den Essay Les Météores (1637),462 der ebenso wie die Dioptrik und Geometrie dem epochemachenden Discours de la méthode angehängt war. Descartes’ Meteorologie als Wissenschaft derjenigen offenbar unregelmäßigen, traditionell als wundersam empfundenen Phänomene gehört genau so in das Systemganze seines Rationalismus wie das Cogito, die Geometrie und Dioptrik. Dass der Gegenstand dieser Schrift ein per se empirischer ist, hat zu schon allein editorischen Irrtümern geführt: Der Discours wurde
461 Vgl. Wolfgang Röds Kritik allein an dieser philosophiehistorischen Konzeption: Die Philosophie der Neuzeit, S. 14: „Wenn man das 17. Jh. vor allem als die Zeit Descartes’, Hobbes‘ und Spinozas [...] und nicht sosehr als die Zeit Bacons und Gassendis betrachtet, dann erklärt sich aus dem Umstand, daß die ersteren, anders als die letzteren, philosophische Systeme schufen, die auf wenigen, dem Anspruch nach vernünftig einzusehenden Prinzipien beruhten. Die umfassenden Systementwürfe wirken meist eindrucksvoller als die Ergebnisse eines Denkens, das sich nicht im Rahmen von Systemen entfaltet.“ 462 Gryphius bezieht sich auf die Formen von Schneekristallen: GdW 9, Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 94–121, hier S. 116.
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schon früh von den drei Essays entkleidet ediert. Die empirischen Gegenstände der Essays erschienen offensichtlich als Fremdkörper gegenüber der rationalistischen Grundlagentheorie des Discours. Wie Claus Zittel in seiner Edition der Météores zurecht erinnert, trügt dieser Schein: Der Anspruch, mit Hilfe des Rationalismus je nur rationale Gegenstände handhaben zu können, wäre nicht nur banal, sondern ist schlicht nicht der Anspruch des Descartes.463 Eine solche reduktionistische Edition des Discours ereignete sich bereits zu Gryphius’ Lebzeiten, in der englischsprachigen Londoner Drucklegung von 1649,464 d.h. nur zwölf Jahre nach Erscheinen der französischsprachigen Erstausgabe. Diese Reduktion blieb jedoch zwischen der Erstausgabe 1637 und Gryphius’ Tod 1664 die einzige: Alle vordringlich in Amsterdam und Leiden gedruckten französisch-, lateinisch- und holländischsprachigen Ausgaben umfassten auch ‚den empirischen Descartes‘,465 der in den Météores laufend Bacon zitiert.466 Und wie zu sehen ist, verliert gerade Gryphius diesen Descartes nicht aus dem Blick. In einem Brief vom April 1637 stellt Descartes klar, dass die Behandlung der Meteore scharfe und geduldige Beobachtung genauso verlangt wie gediegene Reflexion von deren Ergebnissen. Deshalb sieht er hierin ein Beispiel gerade rein philosophischer Beschäftigung.467 Descartes’ rationalistisches Vorhaben wollte
463 Claus Zittel: Einleitung [zu Descartes’ ‚Les Météores / Die Meteore‘]. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 10 – 1/2 (2006), S. 1–28, hier S. 5f.: „Der Discours de la Méthode war nur die Einleitung zu einem Corpus von Essays, das aus der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie bestand. […] Die schon früh vorgenommene und seither fast immer beibehaltene gewaltsame editorische Trennung und separate Rezeption dieser Einleitung von den die Methode exemplarisch vorführenden Essays ist daher Faktor und Symptom zugleich für das bis heute vorherrschende reduktionistische Descartesbild“. Dieses reduktionistische Descartesbild führt vor allem in der Rezeptions- und Bildungsgeschichte zu Irrtümern, z.B. Edward G. Ruestow: Physics at 17th and 18th-Century Leiden: Philosophy and the New Science in the University. Den Haag 1973, S. 89: „Descartes had sought that certainty which only rational demonstration from indubitable first principles could ensure. The bias of his method was towards the purely mental, and he opposed the powers of the isolated mind to the uncertain experience of the senses“. Natürlich war der Irrtum bald historischer Fakt; jedoch droht die wirkungsgeschichtliche Rekonstruktion fehlzutreten, wenn sie von den Irrtümern der Rezipienten auf den entsprechenden Irrtum des Rezipierten schließt. 464 René Descartes: A discourse of a method for the well-guiding of reason, and the discovery of truth in the science. London 1649. 465 Verwiesen sei hier auf die Suchergebnisse der elektronischen Verbundkataloge, vor allem des Karlsruher Virtuellen Katalogs, zum betreffenden Zeitraum 1637–1663. 466 Zittel: Einleitung [zu Descartes’ ‚Les Météores / Die Meteore‘], S. 15. 467 René Descartes: Descartes a *** [Leyde? 27 avril 1637]. Correspondance LXXIV. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam; Paul Tannery. Vol. 1. Paris 1897, S. 368–371, hier S. 370: „Ie propose à cet effet vne Methode generale, laquelle veritablement ie n’enseigne pas, mai ie tasche d’en donner
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gerade auch die Erfahrungswissenschaften subsumieren können,468 ohne sich ihnen mit einem unangemessenen Apriori deduktiven Vorgehens einfach nur aufzudrängen: Der mos geometricus ist für Descartes eine vermehrt analytische Methode.469 In eben dieser Gestalt wird der geometrischen Methode von Gryphius im Epigramm Uber die Erd=Kugel gehuldigt (4.3.1). Wenn Gryphius daher Descartes’ Météores benutzt, verliert er gerade nicht aus dem Blick, dass sie dem Discours auch systematisch anhängig sind. Descartes’ pointierte Polemik wider die Wundertätigkeit in der Natur zum Beginn und Ende der Meteorenschrift musste starken scholastischen wie allgemein religiösen Widerspruch erfahren: Als umso stärker hat daher Gryphius’ Überzeugung zu gelten, dass diese Polemik den wollenden Gott, wie ihn der Discours und die Principia philosophiae stark machten, nicht nur nicht trifft, sondern sich in das dort begründete Systemganze des epistemologischen Rationalismus einfügt. Gerade die Verve, mit der Descartes ausgerechnet das bislang als göttlich überhöhte Unverstandene als „leicht zu verstehen“ bezeichnet, musste unter Zeitgenossen den Eindruck einer Hybris regelrecht erzwingen: „[I]’espere que ceux qui auront compris tout ce qui a esté dit en ce traité, ne verront rien dans les nuës a l’auenir, dont ils ne puissent aysement entendre la cause, ny qui leur
des preuues par les trois traitez suiuans, que ie joins au discours où i’en parle, ayant pour le premier vn sujet meslé de Philosopie & de Mathematique [i.e. la Dioptrique]; pour le second, vn tout pur de Philosophie [i.e. les Météores]; & pour le 3(e), vn tout pur de Mathematique [i.e. la Géométrie], dans lesquels ie puis dire que ie ne me suis abstenu de parler d’aucune chose, (au moins de celles qui peuuent estre connuës par la force du raisonnement), pource que i’ay crû ne la pas sçavoir; en forte qu’il me semble par là donner occasion de iuger que i’vse d’vne methode par laquelle ie pourois expliquer aussi bien toute autre matiere, en cas que i’eusse les experiences qui y seroient necessaires, & le temps pour les considerer“ [Hervorhebung O.B.]. Bei dem Empfänger handelte es sich vermutlich um einen Freund von Marin Mersenne (1588–1648; vgl. S. 368). 468 Vgl. als Beispiel eines Philosophiehistorikers, auf den Zittels Reduktionismusverdikt nicht zutrifft Bernard Williams: Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung. Aus dem Engl. v. Wolfgang Dittel u. Annalisa Viviani. Königstein i.T. 1982, S. 16 und S. 220–222. 469 Vgl. nach wie vor führend Hans Werner Arndt: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1971 (Quellen und Studien zur Philosophie 4), S. 47: „Der enge Zusammenhang, der für Descartes zwischen dieser als einer allgemeinen, den einzelnen Wissenschaften übergeordneten Grundlehre der mathematischen Wissenschaften und dem Gedanken einer Einheit aller Wissenschaften besteht, welche die ‚sapientia humana‘ ausmachen, wird in den ‚Regulae‘ deutlich und ist in der Literatur oft hervorgehoben worden. Dieser Zusammenhang kommt jedoch bei Descartes nicht in einer tatsächlich unternommenen Untersuchung und Darstellung der deduktiven Abhängigkeit der einzelnen Wissenschaften zum Ausdruck“. Vgl. Carl Friedrich Gethmann: [Art.] Methode, analytische/synthetische. In: HWPh 5, S. 1332–1336, hier S. 1333.
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donne suiet d’admiration“.470 Unter dem Eindruck der rhetorischen Wucht, mit der Descartes eine Übernatürlichkeit im Natürlichen bestreitet, formierte sich der Irrtum einer Descartes-Kritik, er leugne Gottes Macht. Dabei zeigt im Grunde schon Descartes’ Formulierung zu Beginn des Traktats, dass es vielmehr die traditionellen Zuschreibungen seien, die Gottes Status unterschätzen: Sie lozieren Gott in einer zwar ihnen unverständlichen, aber nichtsdestoweniger sichtbaren Sphäre: „[T]outefois a cause quil faut tourner les yeux vers le ciel pour les [i.e. les nuës] regarder, nous les imaginons si relevées, que mesme les Poëtes & les Peintres en composent le throsne de Dieu“.471 Gott aus der Natur herauszuhalten, dient ‚nur‘ auf der einen Seite der Rationalisierung der diesseitigen Welt. Auf der anderen Seite vermeidet Descartes damit gerade, Gott so nah an die Welt zu holen, wie es der notwendig äußerlichen Position eines allmächtigen Schöpfers nur inadäquat sein kann: Deshalb ist für Descartes mit den Wolken eben nicht der Ort von Gottes Thron gefunden. Jede Zuschreibung eines konkreten Ortes in der Welt ist gegenüber dem allmächtigen Gott anmaßend. Die Erhöhung (relevées) der Wolken kann nur eine scheinbare (imaginons), schlussendlich vor allem aber nur eine falsche sein, da sie doch den Augen (tourner les yeux vers le ciel) sichtbar sind und bleiben. Falsch kann Descartes diese Vorstellung allerdings nur unter den wesentlichen Maßgaben einer voluntaristischen Allmachtstheologie sein: Der rationalistische Impetus hätte für sich gar nicht hingereicht, um hinter einem erklärbaren Phänomen schon Gottes Sitz zu leugnen, nur weil es nunmehr erklärbar ist. Ein solcher Impetus hätte Gottes Sitz im Erklärbaren rundheraus affirmieren können, um allererst so einen absoluten Erkenntnisanspruch zu artikulieren. Daher kann das ebenso entschiedene wie selbstverständliche Ausschließen Gottes aus dem Rationalisierbaren selbst gar nicht rationalistisch erfolgen: Es folgt allein einer bestimmten, genuin theologischen Überzeugung. Damit wird deutlich, dass der theologische Voluntarismus Descartes’ nicht bloß „ein nur nicht konsequent überwundener Restbestand überholter Scholastizität“ ist, wie Jürgen Goldstein zurecht herausarbeiten konnte.472 Denn in der Tat hat „die Annahme, daß Gott in seiner Allmacht die ewigen Wahrheiten wie ein König erlassen hat, […] erkennbare Konsequenzen für die Integrität der humanen Vernunft“.473 Diese nämlich kann sich nur deshalb auf die Dauerhaftigkeit der
470 René Descartes: Les Météores / Die Meteore. Faksimile der Erstausgabe 1637. Hg., übers., eingel. und kommentiert von Claus Zittel. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 10 – 1/2 (2006), S. 30–305, hier S. 302–304 [Hervorhebung O.B.]. 471 Ebd., S. 30. 472 Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 101. 473 Ebd., S. 116.
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Ordnung in der Welt verlassen, weil ein autonomer und mächtiger Gott sich weder widerspruchsvoll in dieser Welt bewegt noch in ihre Gesetze verändernd eingreift.474 Dass dieser Eingriff ausbleibt, folgert Descartes dabei weniger aus dem Allmachtsbegriff selbst als aus einem Verständnis von Vollkommenheit, das Gottes Güte je schon impliziert: Primum Dei attributum quod hîc venit in considerationem, est, quòd sit summè verax, & dator omnis luminis: adeò ut plane repugnet ut nos fallat, sive ut propriè ac positive sit causa errorum, quibus nos obnoxios esse experimur. Nam quamvis forte posse fallere nonnullum ingenii argumentum apud nos homines esse videatur, nunquam certè fallendi voluntas nisi ex militia vel metu & imbecillitate procedit, nec proinde in Deum cadere potest.475
Täuschen ist stets die unzweifelhafte Folge von Bosheit, Furcht oder Schwäche und kann darum nie von Gott gelten.476 Mit dieser Verteidigung des frei wollenden Gottes vermag Descartes Ansprüche der christlichen Metaphysik einzuholen, die ihr mit dem Bezug auf Aristoteles’ Bewegungslehre nicht hat gelingen können: Wie Blumenberg zeigt, hat sich die mittelalterliche Scholastik ihren Hemmschuh selbst angezogen, indem sie Bezug nahm auf Aristoteles’ ersten Beweger. Dieser jedoch sah nur die initiale Bewegung bereits vorhandener Materie vor, nicht noch deren Erschaffung aus dem Nichts.477 Wenn daher Descartes gegen scholastische Traditionen opponiert, dann besonders gegen deren Pseudoaristotelismus.478 Er
474 Ebd., S. 118: „Die Reflexion des Auseinanderfallens von göttlicher Schöpfungskreativität und humaner Verstandes-kapizität soll zur cartesischen Grundbedingung gehören, über die Natur ‚richtig zu philosophieren‘. Die Beachtung des theologischen Voluntarismus wird dadurch zu einer Grundbedingung des cartesischen Rationalismus.“ 475 René Descartes: Principiorum Philosophiae Pars Prima. De principiis cognitionis humanae. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 8/1. Paris 1905, S. 5–39, hier S. 16. 476 Inwiefern dies im Grunde einen ‚Taschenspielertrick‘ Descartes’ darstellt, insofern die bonitas Dei dessen einmal sub specie creationis manifestierten Willen durchaus rationalisierbar macht, ist hier nicht der Ort zu diskutieren. Wenn Goldstein festhält, „[d]ennoch läßt Descartes keinen Zweifel daran, daß Gott nicht der Verwirklichungstendenz seiner Bonität unterliegt, da er erst durch seinen Entscheid festlegt, was als gut anzusehen ist“ (Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 111), so wäre demgegenüber durchaus einzuwenden, wie Gott gegen seine Güte verstoßen können solle, wenn ein solcher Verstoß gar nicht als ein solcher zu verstehen wäre, sondern als eine Änderung dessen, was als gut zu gelten hat. 477 Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, S. 166f. 478 Ebd., S. 170: „Zwar sollte Aristoteles der Bezugspunkt der Selbstabstoßung und Gegenformierung der neuzeitlichen Wissenschaft werden; aber genauer muß festgestellt werden, daß in entscheidenden Punkten ganz einfach eine Art Pseudoaristotelismus der Scholastik den Bezugspunkt der Gegnerschaft abgibt.“
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konnte ihren eigentlichen, von Descartes konsentierten Anspruch nur behindern, „im Begriff der Kontingenz erst die radikale Auslegung des Schöpfungsgedankens“ zu finden.479 Wenn Descartes Gottes einmal sub specie creationis manifestierten Willen als ebendort unveränderlich denkt, erklärt er Gott als reine causa efficiens und mit ihm jede Relation als Wirkursächlichkeit. Denn Finalursachen anzunehmen und zu erwägen, ist Descartes hinsichtlich der Gott unzählig möglichen Ratschlüsse ohne Vermessenheit nicht möglich: Es hieße, Gottes Willensabsichten erkennen zu wollen. Diese allmachtstheologische Dimension der Verabschiedung der Teleologie ist weder in den Principia philosophiae noch in den Meditationes de prima philosophia zu übersehen: Ita denique nullas unquam rationes, circa res naturales, à fine quem Deus aut natura in iis faciendis sibi proposuit, desumemus: quia non tantum nobis debemus arrogare, ut ejus consiliorum participes esse putemus. Sed ipsum ut causam efficientem rerum omnium considerantes […].480 Cùm enim sciam naturam meam esse valde infirmam & limitatam, Dei autem naturam esse immensam, incomprehensibilem, infinitam, ex hoc satis etiam scio innumerabilia illum posse quorum causas ignorem; atque ob hanc unicam rationem totum illud causarum genus, quod a fine peti solet, in rebus Physicis nullum usum habere existimo; non enim absque temeritate me puto posse investigare fines Dei.481
Es ist dies das Vermessenheitsverdikt gegen eine aristotelische Naturphilosophie, wie es schon den Eingang des von Gryphius gelesenen Meteorentraktats auszeichnet. Der theologische Voluntarismus drängt auf eine teleologiefreie Naturphilosophie genauso wie auf die Annahme einer voraussetzungslosen, nur in diesem freien Willen gründenden Schöpfung aus dem Nichts, wie sie Gryphius im Sonett An GOtt den Vater so stark macht (4.3.1). Selbstbewegt ist nurmehr Gott. Die Dinge hingegen verharren selbst in Ruhe, solange sie nicht von einer stets ihm äußerlichen und damit Wirkursache angestoßen und so in Bewegung gebracht werden.482
479 Ebd., S. 165. 480 Descartes: Principiorum philosophiae pars prima, S. 15f. 481 Ders.: Meditationes de prima philosophia. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 7. Paris 1904, S. 17–90, hier S. 55. 482 Ders.: Principiorum philosophiae Pars Secunda. De principiis rerum materialium. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam; Paul Tannery. Vol. 8/1. Paris 1905, S. 40–79, hier S. 62: „Atque ex hac eâdem immutabilitate Dei, regulæ quædam sive leges naturæ cognosci possunt, quæ sunt causæ secundariæ ac particulars diversorum motuum, quos in singulis corporibus advertimus. Harum prima est, unamquamque rem, quatenus est simplex & indivisa, manere, quantum in se est, in eodem simper statu, nec unquam mutari nisi à causis externis.“
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Die nonnormativen, deskriptiven Vorteile dieses ersten Schrittes einer Entteleologisierung der Wissenschaften bestehen nur zum Einen in der Rettung eines theologischen Voluntarismus. Zum anderen vermag die vermehrt wirkursächliche Anlegung der Welt Katastrophen zu plausibilisieren, mit welchen gerade das siebzehnte Jahrhundert massiv aufbot. Ereignisse streben als Lauf der Natur nicht per se auf ein bestimmtes Ziel zu. Insofern stellt es keinen Widerspruch zu einem etwaigen guten Telos der Natur dar, wenn sie dieses Telos nicht erreichen. Der vordergründige normative, präskriptive Nachteil erwächst allerdings gerade erst aus dieser Weltsicht: Denn was ist nun noch der Geltungsgarant eines Naturrechts, das seinem Begriffe nach immer teleologisch angelegt ist, wenn dieses Telos an der Natur gar nicht mehr abgelesen werden kann? Es darf im Hinblick auf diese Frage nicht übersehen werden, dass Descartes den Entelechie-Ausschluss auf den Bereich der körperlichen Natur beschränkt: „[T]otum illud causarum genus, quod a fine peti solet, in rebus Physicis nullum usum habere existimo“.483 Die menschliche und Gesellschaftsgeschichte ist im Unterschied zur Naturgeschichte eine Gemengelage aus der wirkursächlich bestimmten, für unumgängliche Wirkungen nicht zur Verantwortung zu ziehenden Veranlagung des Menschen als res extensa einerseits und seiner davon unterschiedenen Seelen- und Erkenntniskraft als res cogitans andererseits.484 Letztere wiederum ist im Hinblick auf den handlungstheoretischen Rahmen durchaus in der Lage, Teloi zu bestimmen und zu verfolgen. Dass diese unter Einwirkung widriger Gegenwirkungen bisweilen nicht verwirklicht werden können, war im Grunde schon jeder Imputationstheorie bewusst, die nicht mehr auf einem plumpen Erfolgsprinzip aufbaute. Descartes traktiert diese Lücke einer Ethik und Moralphilosophie nie eigens und ausführlich,485 sondern versucht sie durch eine provisorische Ethik zu schließen. Im Unterschied zum radikalen Zweifeln der theoretischen Vernunft orientiert sie sich doch an tradierten Normen, solange diese bewährt sind, und erfolgt durch das Abwägen von lang- und kurzfristig günstigeren Handlungen.
483 Ders.: Meditationes de prima philosophia, S. 55. 484 Im Vokabular der gegenwärtigen Handlungs- und Entscheidungstheorie wäre dies mit einer Mischung aus der physikalischen Einstellung und der intentionalen Einstellung ausdrückbar: Detel: Philosophie des Sozialen, S. 13. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass eben die gegenwärtige Handlungstheorie auch Intentionen letztlich auf den Charakter von Wirkursachen herunterzubrechen versteht: ebd., S. 17f. 485 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 284: „Sämtliche Äußerungen, die Descartes zur Moralphilosophie gemacht hat, gehen aber nicht über das Maß einer provisorischen Moral (vne morale par prouision), wie er sie nennt, hinaus“. Auch Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 761.
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Dieser Neostoizismus ist mit seiner Güterabwägung so gesehen kein Wertelieferant. Bei Descartes tritt er nicht einmal mehr mit einem solchen systematischen Anspruch an. Vielmehr ist er im strengen Sinne eine Verhaltensethik. Sie gewinnt Verhaltensregeln gegenüber anderen Menschen nicht aus schon Gewissheit beanspruchenden sittlichen Normen. Descartes’ Stoizismus ist vielmehr auf höherer Ebene eine Ethik, die sich gerade dem Mangel schon gewisser Fundamentalnormen gegenüber zu verhalten erlauben soll.486 Zu diesem neostoizistischen Provisorium, das gerade „ohne die Hilfe der Religion oder der Philosophie“ auskommen soll, wie der Untertitel der Recherche de la verité betont,487 gesellt sich in den Principia philosophiae die Autorität der Offenbarung. Zwar reflektiert Descartes dort nicht den normativen Gehalt der Heiligen Schrift und wendet diese Normen und Vorschriften entsprechend nicht auf seine ethischen Überlegungen an. Allerdings liefert Descartes durchaus ein – von ihm selbst unausgeschöpftes – Angebot zur Frage moralischer Normgeltung, und zwar im Hinblick auf eine nicht bloß provisorische Entscheidungslehre, sondern eine Gewissheit beanspruchende und damit manifeste Normenkenntnis. Denn der Offenbarung gesteht Descartes die immer schon größere Glaubwürdigkeit zu, selbst „wenn das Licht der Vernunft auf das Klarste und Einleuchtendste etwas Anderes darzubieten scheint“: Præter cætera autem, memoriæ nostræ pro summâ regulâ est infigendum, ea quæ nobis à Deo relevata sunt, ut omnium certissima esse credenda. Et quamvis fortè lumen rationis, quàm maxime clarum et evidens, aliud quid nobis suggerere videtur, soli tamen authoritate divinæ potiùs quam proprio nostro judicio fidem esse adhibendam.488
Entsprechendes hätte in der Folge für das geoffenbarte Sittengesetz Gottes zu gelten. Diese Folgerung zieht Descartes selbst nicht. Gerade sie bietet jemandem wie Gryphius eine valide Alternative zu einem solchen Denken, das die Teleologie nicht nur wie Descartes aus der Physik, sondern auch aus der Metaphysik verabschiedet. Erst hier wird eine universale Rechtsgeltung jenseits der allein wir-
486 Vgl. Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 285. 487 René Descartes: La recherche de la vérité par la lumière naturelle. In: Oeuvres. Publ. p. Charles Adam, Paul Tannery. Vol. 10. Paris 1908, S. 495–514, hier S. 495: „La Recherche de la vérité par la lumière naturelle Qui toute pur, & sans emprunter le secours de la Religion ni de la Philosophie, determine les opinion que doit avoir un honneste homme.“ 488 Ders.: Principiorum Philosophiae Pars Prima, S. 39. Vgl. schon an früheren Stellen: „Ita si fortè nobis Deus de se ipso vel aliis aliquid relevet, quod naturales ingenii nostri vires excedat, qualia jam sunt mysteria Incarnationis & Trinitatis, non recusabimus illa credere, quamvis non clarè intelligamus.“ (S. 14) und „[M]emores tamen [sumus], ut jam dictum est, huic lumini naturali tamdiu tantùm esse credendum, quandiu nihil contrarium à Deo ipso relevatur.“ (S. 16).
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kursächlichen Willensleistung des Menschen denkunmöglich. Möchte Gryphius die sittlich normative Kraft Gottes als ubiquitäre und nicht nur jenseitig-heilsgeschichtliche beibehalten, muss er diese bei Descartes angelegte Alternative nutzen, um nicht den Weg einer allererst absolut anentelechischen Denkweise mitgehen zu müssen.
4.3.4 Thomas Hobbes: Eliminierung der Vier-Ursachen-Lehre und Selbsterhaltungstrieb Diesen Weg schlug Gryphius’ unmittelbarer Zeitgenosse Thomas Hobbes ein. Seine Rechtsphilosophie hat daher als Horizont- und Fluchtpunkt der Debatten zu gelten, die hier referiert werden. Hobbes vollzieht einen Bruch in der Staatsrechtslehre, wie ihn die bisherigen Theorien, ob sie nun vordergründig scholastisch oder antischolastisch gesinnt waren, nicht erbracht hatten. Auch an dieser Stelle ist es im Hinblick auf das Vorhaben entscheidend, denjenigen Aspekt zu erfassen, der für Gryphius’ Rechtsdenken ideenhistoriographischen Aufschluss verspricht. Während Gryphius’ Bezugnahmen auf Machiavelli aus den Dramentexten selbst, auf Bacon und Descartes aus den Leichabdankungen augenscheinlich bzw. explizit erfolgen, ist ein direkter Hobbes-Bezug des Schlesiers nur schwer zu belegen. Es ist auf der einen Seite nicht ausgeschlossen, dass Gryphius die 1647er Amsterdamer Ausgabe Elementa philosophica de cive schon druckfrisch bei Elzevir zu Gesicht bekommen hat.489 Schließlich hielt er sich im Juli 1647 in Amsterdam auf, wie sein Brief an Johann Heinrich Boecler belegt.490 Auf der anderen Seite war die erste Auflage von De cive (1642) so klein gewesen, dass z.B. Günter Gawlick ihr eine geringe, den nachfolgenden Auflagen allerdings immense Wirkung bescheinigt.491 Immerhin zeugt eben jener Brief an Boecler von Gryphius’ regem Interesse am Fortgang der englischen Revolution und auch das Schicksal von Charles’ I. Kindern verfolgt er noch bis ins Privateste: Der Brief nennt dabei jedoch nur das eheliche Verhältnis von Prinzessin Mary und William of Orange.492 Ob Gryphius darüber hinaus exakt vom Leben des Prä-
489 Thomas Hobbes: Elementa Philosophica de Cive. Amsterdam 1647. 490 Gryphius: I. H. Boeclero, S.616f. 491 Günter Gawlick: Vorwort des Herausgebers. In: Thomas Hobbes: Vom Menschen / Vom Bürger. Elemente der Philosophie II / III. Eing. u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek 158), S. IX–XXXIV, hier S. XVIf. 492 Andreas Gryphius: I. H. Boeclero, S. 617: „Inter Arausionesem et sponsam, regis Britanni filiam, gliscunt simultates, cum haec illius vagas libidines, iste huius fastum non aeque ferat. Nuperi ex Anglia rumores immensum hic turbarunt; Fairfaxium ad regem defecisse. Londinum
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tendenten, des künftigen Königs Charles’ II., informiert war, mithin davon, dass eben Thomas Hobbes seit Herbst 1646 der Mathematiklehrer des Prince of Wales war,493 muss Spekulation bleiben. Dasselbe gilt für die Vermutung, dass Gryphius Hobbes schon aus der Pariser Ausgabe von Descartes’ Meditationes de Prima Philosophia von 1641 kannte, in deren Anhang unter anderem Hobbes’ Einwände gegen Descartes abgedruckt sind.494 Zwar hat sich auch Boecler mit Hobbes auseinander gesetzt, jedoch findet sich ein nachweislicher Niederschlag dessen erst in seinem Grotius-Kommentar. Dieser erschien erst 1663/64, kurz vor Gryphius’ Tod (4.2.4.2).495 In früheren Drucken Boeclers, die eine Auseinandersetzung mit Hobbes thematisch durchaus nahegelegt hätten, waren keine Hobbesbezüge zu finden.496 Es existieren keine de dicto-Lektürezeugnisse wie in den Dissertationes funebres und auch keine schlagwortartigen Aufrufe hobbesianischer Theoreme in den Trauerspielen, so dass Figuren etwa vom Recht Aller auf Alles sprächen oder den homo homini lupus in der Rede führten. Zwar klingt Ähnliches in Wilhelm Lauds Rede im Carolus Stuardus an, wenn er die Situation nach der Machtübernahme durch die Independenten wie folgt beschreibt: „Die Herde geht zustreu’t und irr’t in hchster Noth; / Wie wenn der Wolff einreist / und Hirt und Wchter tod“ (Carolus Stuardus B, II,1, S. 76, v. 99f.).497 Allerdings
armis ferme septam, e directoribus comitiorum potissimos celeri fuga Roterodamum appulisse, provincias aliquot, et quod maxime Batavis formidandum, maritimas totumque Tamesin in regis verba iurasse. Adeoque nova videtur et atrocior Britannis imminere tempestas.“ 493 Gawlick: Vorwort des Herausgebers, S. XIIf. 494 Thomas Hobbes: Objectiones tertiae ad Cartesii Meditationes. In: René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia, in qua Dei existentia, & animae immoralitas demonstratur. Sequuntur objectiones… cum responsionibus authoris. Paris 1641, S. 233–271. 495 Vgl. systematisch Hartung: Gesetz und Obligation, S. 393. 496 Durchgesehen wurden: Johann Heinrich Boecler: Orationes Quaedam. Straßburg 1654; De Potentia Civitatum. In Inclyta Argentoratensi Academia, Praeside Ioh. Henrico Boeclero Historiarum Professore Ordinario in publico & Solenni congressu respondebit m. Augusti d. Iacobus Maclier. Straßburg 1655; De Dominio Eminente Disquisitio Politica. De qua in Inclyta Argentoratensium Academia, Praeside Joh. Henrico Boeclero Historiar. Professore, & h.t. Academiae Rectore: Respondebit M. Michael von Oppenbusch. Straßburg 1659; Iosephus Philonis, Siue Bios Πολιτικου, Vita Viri ciuilis. De quo libro in Inclyta ARgent. Academia praeside Jo. Henrico Boeclero, Historiarum Professore prdinario, respondebit in Auditorio Solenni Ioh. Adamus Otto. Straßburg 1660; Qvies in tvrbis sive Societatis bellicae declinatio. De qua in Inclyta Argentoratensi Academia Praeside Jo. Henr. Boeclero Histor. Prof. Ordinario, Collegii Philosof.h.t. Decano In Solenni auditorio respondebit Johannes Sibrandus. Straßburg 1660; De eo qvod civitas egit. In incluta Argentoratensi Academia Praeside Joh. Henrico Boeclero, Historiarum Professore ordinario. publice more Academico respondebit Johannes Zechius. Straßburg 1660. 497 Auch GdW 4, Carolus Stuardus A, I,1, S. 6, v. 99f.
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sind mit dem Wolf allein die Independenten ins Bild gesetzt. Die Wolfsmetapher beschreibt daher hier vermehrt eine Asymmetrie. Hobbes jedoch meint das reziproke Verhältnis eines jeden zu einem jeden als dessen Wolf. De re-Bezüge Gryphius’ auf hobbesianisches Gedankengut werden also zum Einen als besondere Bezüge in den Relektüren noch herauszuarbeiten sein. Zum Anderen ist hier bereits der Charakter der Rechtslehre Hobbes’ zu umreißen, wie er für die Fragen der Souveränität, des Ausnahmezustands und der Geltung transhumanen Rechts bedeutsam ist. Ob Gryphius nämlich Hobbes Schriften gekannt hat oder nicht: Erst Hobbes beantwortet diese Fragen in einer derart neuen Weise, dass seine Zeitgenossenschaft nicht außer Acht gelassen werden darf, um Gryphius’ ideengeschichtliche Stellung beurteilen zu können. Entscheidendes über Hobbes’ Rechtsdenken, besonders den eminent rechtslogischen Charakter seiner Begriffsfindung, brachte bereits die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt in 3.2 zur Sprache. Kurze Erinnerungen des dort Erläuterten werden hier also ausreichen.
4.3.4.1 Vermittelbarkeit der hobbesschen Metaphysik an lutheranische Theologie Wie Julius Ebbinghaus zutreffend festhält, ist Hobbes „der erste moderne Staatsdenker […], der den Bruch mit der peripatetisch-stoischen lex naturalis auf dem moralischen Felde vollzog, nachdem die Physiker es auf dem theoretischen längst getan hatten“,498 nämlich eine Befreiung von natürlichen Zweckmäßigkeiten. Für die vorhobbessianische Naturrechtstradition ist der Zustand der Menschheit, gedacht als natürliche Rechtsgemeinschaft, letztlich ein Zustand prästabilierter Harmonie. Natürlich gibt es Kriege und Verbrechen, diese jedoch sind schon Ausnahmen von diesem Zustand, Verstöße gegen seine rechtsförmige Gesetzmäßigkeit. Die Natur ist zweckmäßig eingerichtet, entsprechend hat der Mensch sowohl das Recht als auch die Pflicht, diese ihm nur natürlichen Zwecke zu verfolgen. Manfred Riedel arbeitet luzide heraus, dass Hobbes nicht nur den politischen Aristotelismus überwindet, sondern in der Teleologiekritik auch bedeutend weiter geht als Descartes: Descartes bevorteilt das Kausalitätsargument innerhalb der Vier-Ursachen-Lehre nur, löst diese allerdings noch nicht auf:
498 Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit, S. 402.
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Der Einwand, der die causa efficiens aus der Verklammerung mit dem Schema der vier Ursachen löst und die Kausalität in dem uns geläufig gewordenen Begriffssinn auf den mechanischen Wirkungszusammenhang der Natur umstellt, ist von demselben Gedanken des Zwecks bestimmt, den er destruieren soll.499
Descartes konnte die Teleologie nicht endgültig überwinden, weil seine kausallogische Philosophie von einem Wirkursachenbegriff lebt, der sich selbst wiederum aus der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre speist: Es liegt also immer noch ein Begriff der causa efficiens zugrunde, der Finalursachen metaphysisch allemal anerkennt. Ob dies im starken Sinne einen Zirkel darstellt, wie Riedel systematisch behauptet, ist hier nicht der Ort zu diskutieren. Historisch stellt Riedel jedenfalls zutreffend für Hobbes’ Innovationsleistung fest: Der Punkt, an dem Hobbes den genannten Zirkel in der Argumentation durchbricht, läßt sich ziemlich genau angeben; er liegt, mit einem Satz gesagt, darin, daß er die causa finalis in seinem System nicht nur aus der Physik, sondern auch aus der Metaphysik ausschließt.500
Gelingen konnte dies Hobbes nur, indem er nicht etwa nur die Vier-UrsachenLehre auflöste, sondern schon deren systematische Grundlage, nämlich die aristotelisch-scholastische Unterscheidung von Akt und Potenz.501 Diese Unterscheidung hatte ein Hervorgegangenes gerade deshalb als Ziel ansehen lassen, weil es als Akt die Verwirklichung einer Möglichkeit (Potenz) darstellte, die dem Hervorbringenden innewohnt bzw. dieses selbst ist. Hobbes sah in diesem Konzept gerade eine Widersprüchlichkeit, insofern einerseits der Akt die Potenz immer schon auf sich hin bestimmen soll. Anders machte die Rede von Möglichkeit nämlich keinen Sinn: Der Akt bestimmt die Potenz als Möglichkeit-zu-sich. Andererseits muss für alle nicht-verwirklichten Potenzen angenommen werden, dass der Akt sie sowohl auf sich hin bestimmt als auch nicht, zumindest nicht hinreichend. Diese nicht-verwirklichten Potenzen sind allerdings gemäß Aristoteles unbedingt zu berücksichtigen, denn die Wirklichkeit gewinnt gerade im Hinblick auf sie ihren ontologischen Vorrang.502 Schon im Hinblick auf Aristoteles hält Dieter Schlüter fest: „Das Mögliche bedurfte eines anderen Wirklichen, um ins Sein zu kommen“.503 Gerade daraus ergibt sich für Hobbes schon die Hinfälligkeit des Akt-Potenz-Konzepts genauso wie die der Teleologie: Eigentliche
499 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 420. 500 Ebd. [Hervorhebung O.B.]. 501 Ebd., S. 421. 502 Vgl. Dietrich Schlüter: [Art.] Akt/Potenz. In: HWPh 1, S. 134–142, hier S. 137. 503 Ebd. [Hervorhebung im Text].
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Relevanz besitzt dasjenige, was das Ins-Sein-Kommen von etwas wirkt, und dies ist nichts anderes als die Wirkursache.504 Sie ersetzt die Finalursache genauso, wie das Konzept von gleichgerichteten – mal realisierten, mal nicht realisierten – Potenzen ersetzt wird durch das Konzept von einander entgegengerichteten Bewegungen: Bewegung und Gegenbewegung. Ruhe als prinzipieller Zustand, aus dem heraus ein Telos etwas auf sich zieht, wird verabschiedet. Sie ist nurmehr denkbar als die gegenseitige Aufhebung zweier entgegengesetzter Bewegungen. Manfred Riedel hat auf die Attraktivität hingewiesen, die der Sache nach in dieser Teleologiekritik für die reformatorische Theologie bestehen musste: Gegenwärtige Dinge zielen nicht auf zukünftige Dinge, insofern diese jene anzögen. Daher ist auch jenseitiges Heil nicht durch gute Taten anzielbar. Die den Reformatoren unerträgliche gotteslästerliche Vorstellung gerade der aktiven Potenz, dass also der Mensch, nicht Gott das Heil ausmachte, konnte nur aus dem eigenen Weltbild ausgeschlossen werden, wenn das Heil nur von Gott selbst gewirkt, vom Menschen nur empfangen werden kann. Eine Metaphysik, die alle Dinge einschließlich der intentionalen Handlungen des Menschen nur nach dem Kausalitätsprinzip organisiert sieht, schließt die Frage kategorisch aus, auf die jede Teleologie notwendig hinführt: Wenn alles auf irgendetwas abzielt, zielt es letzthin auf Gott ab und soll mithin Gott nur der Akt der Potenz seiner eigenen Schöpfung sein? Auch menschliche Intention ist nicht mehr innere „Anlage oder Potenz zur Bewegung“ hin auf „jenen Akt, den sie nie erreicht und der sie doch von sich her bestimmen soll“.505 Damit sind Natur und Gott, Diesseits und Jenseits, irdisches Leben und Heil in der Weise getrennt, derer die reformatorischen Theologien bedurften. Riedel hält insofern überzeugend fest: [D]ie Kritik bei Hobbes ist weder ein theoretisches Lehrstück neben anderen noch das Ergebnis oder gar die Voraussetzung der mechanistischen Naturtheorie, sondern wesentlich ein Bestandteil seines Kampfes gegen die Dogmatik der Schule, die den ursprünglichen Sinn des biblischen Christentums durch die Rezeption der heidnisch-antiken Philosophie verkehrt hat. In diesem Kampf, der die neue Naturwissenschaft und die theologischen Lehren der Reformation (Luther und Calvin) als Bundesgenossen sieht, steht Hobbes im 17. Jahrhundert nicht allein.506
504 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 425–427. 505 Ebd., S. 427. 506 Ebd., S. 432. Vgl nochmals Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 15– 20.
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Die Theologien der Reformation können die „mechanische Theorie als Hinwen dung zum wahren Christentum“ begreifen, „weil sie mit den substantiellen Formen und Zwecken die heidnischen Götter und Dämonen vertreibt, die auf dem Umweg über die Philosophie wieder Eingang in die Natur gefunden hatten“.507
4.3.4.2 Hobbes’ Naturrechtsanalyse Genauso wie Julius Ebbinghaus hat sein Schüler Georg Geismann schon mehrfach herausgestellt, was die rechtsphilosophischen – nicht ethischen! – Mängel des aristotelischen und scholastischen Naturstands- und Naturrechtskonzeptes sind und warum Thomas Hobbes zurecht als Revolutionär gelten darf.508 Die Ergebnisse Riedels zur Metaphysik Hobbes’ erhellen dies zusätzlich: Ist das Konzept natürlicher Zwecke nämlich erst einmal verabschiedet, bleibt für Hobbes nur noch der wirkende conatus der Selbsterhaltung übrig. Dasjenige Naturrecht, welches bei Hobbes damit einzig Bestand hat, ist das auf Selbsterhaltung: Fertur enim unusquisque ad appetitionem eius quod sibi bonum, & ad Fugam ejus quod sibi malum est, maxime autem maximi malorum naturalium, quae est mors; […] Non igitur absurdum neque reprehendendum neque contra rectam rationem est, si quis omnem operam det, ut à morte & doloribus proprium corpus & membra defendat conservetque. Quod autem contra rectam rationem non est, id juste & Iure factum omnes dicunt. […] Itaque Iuris naturalis fundamentum primum est, ut quisque vitam & membra sua quantum potest tueatur.509
Dieses Recht läuft per exercitium – nicht per definitionem – auf seine rechtslogische Widersprüchlichkeit hinaus:510 Der Rechtsanspruch eines Jeden auf Alles konfligiert mit dem Rechtsanspruch eines jeden Anderen auf ebenso Alles. Damit führt das Selbsterhaltungsrecht im Naturzustand nur auf die Erkenntnis seiner Nichtigkeit hinaus: Das ius omnium in omnia ist ein Recht auf nichts, weil das Recht des einen auf etwas nur genauso gut und damit genauso schlecht ist wie
507 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 432. 508 Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau; ders.: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ Politischen Philosophie. In: Jahrbuch für Politik 2 – 2 (1992), S. 319–336; ders.: Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die ‚klassische‘ Naturrechtslehre – besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version – wiederzubeleben. In: Jahrbuch für Politik 5 – 1 (1995), S. 141–177. 509 Hobbes: De Cive, S. 11f. [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Menschen / Vom Bürger. Elemente der Philosophie II / III. Eing. u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek 158), S. 81. 510 Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, S. 69–75.
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das des anderen. Das natürliche Recht der Selbsterhaltung ist als Naturrecht nicht widerspruchsfrei denkbar. Einzulösen ist es notwendiger Weise nur durch den Eintritt in den status civilis und die Schaffung eines positiven Rechts. Daher besteht Souveränitätsrecht nicht in einem natürlichen Rechtsüberschuss des Herrschers, sondern in einem Rechtsverzicht seitens der Untertanen: Iuris autem translationem in solâ non resistentiâ consistere, ex eo intelligitur, quod ante iuris translationem, is in quem transfertur, jus habebat jam in omnia; unde novum jus dare non potuit, sed justa transferentis resistentia, propter quam, jure suo alter frui non potuit, extinguitur.511 Voluntatum haec submissio omnium illorum, unius hominis voluntati, vel unius Concilii tunc fit; quando unusquisque eorum unicuique caeterorum se Pacto obligat ad non resistendum voluntati illius hominis, illius Concilii cui se submiserit.512
Wie soll derjenige, der nun Herrscher ist, im Naturzustand mehr Recht auf die Macht gehabt haben, wenn alle das Recht auf alles hatten? Mehr als alles ist nicht denkbar, daher also die Denknotwendigkeit des Rechtsverzichts seitens der Untertanen. Die Verpflichtungskraft gewinnt dieses vom Herrscher geschaffene positive Recht nur zum Einen aus dessen Strafandrohungen und Strafvollzug. Es zieht seine vis obligativa zum Anderen vor allem aus der denknotwendigen Vorzüglichkeit jedweden positiven, auch des tyrannischen Rechts gegenüber dem nichtigen Naturrecht: Im status civilis ist allemal irgendeine Ordnung rechtsförmig gewährleistet, auch wenn sie den einen Herrscher einseitig bevorteilt. Im Naturzustand droht hingegen allemal der Konflikt mit allen Menschen. Die vis obligativa resultiert aus dem Selbsterhaltungstrieb, der reflektierter Weise darum weiß, dass er sich selbst nicht gerecht zu werden vermag. Mithin resultiert sie aus der schlichten Angst, im Naturzustand den Tod zu erleiden, den dort kein Recht verhindert. Mit Thomas Hobbes wird mit einer Theonomie sowohl in der gehaltlichen als auch in der verpflichtungstheoretischen Grundlegung von Recht überhaupt gebrochen. Verpflichtungskraft kommt durch die Übereinkunft zustande, die im Hinblick auf die Nichtigkeit eines Rechts Aller auf Alles rechtslogisch – und nicht mehr theologisch oder anthropologisch – notwendig wird.
511 Hobbes: De Cive, S. 23 [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Bürger, S. 88. 512 Ders.: De Cive, S. 86 [Hervorhebung im Text]. Vgl. ders.: Vom Bürger, S. 128.
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4.3.4.3 Widriger Naturzustand bei Gryphius Ohne dass bei Gryphius explizite hobbesianische Lesefrüchte nachzuweisen sind, lässt sich durchaus danach fragen, wie es um den Zustand des Menschen außerhalb des status civilis bei Gryphius beschaffen ist. Antworten bietet nicht erst seine politische Trauerspieldichtung, sondern auch seine Lyrik. Im Sonett zum Geburtstag seiner Tochter Maria Elisabeth nimmt sich der Dichter den auf dieses Datum fallenden Tag der Concordia513 zum Anlass über Eintracht zu sprechen: Komm Pfand der Eintracht komm / die grimmen Vlcker wtten / […] Du findest nichts allhier / als ungebundne Sitten / Ach wenn des Hchsten Hertz von Menschen zu erbitten Daß Er / der einig nur die Eintrachts Mittel kennt / Durch seines Geistes Glut / die nur bey Frieden brennt / Wolt aller Menschen Sinn / weil du noch lebst / begten. Ists mglich / es gescheh: Bit aber ich zuviel / So bleibe deinem Gott mit Eintracht doch verbunden […] Erreichst du diesen Wuntsch / so wirst du nicht nur mein: Nein: sondern auch dreymal mehr / des Hchsten Tochter seyn. (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XXXV, S. 112.)
Das Sonett hat unbestritten einen geistlich-religiösen Fluchtpunkt darin, dass die Eintracht mit Gott gesucht werden soll, wenn schon die Eintracht unter den Menschen nicht verwirklicht wird. Es nimmt allerdings seinen Anstoß an der Diagnose der politischen Gegenwart. Gryphius konstatiert eine empirische Rechtsfreiheit des Natur- bzw. Kriegszustandes und benennt dabei einen bestimmten Grund: Eintracht ist dem Menschen nicht angeboren. Das hat natürlich nichts mit einer rechtslogischen Reflexion des Naturrechts wie bei Hobbes zu schaffen. Gryphius reflektiert den allgemein staatsrechtsfreien Zustand anthropologisch wie schon die scholastische und neoscholastische Tradition: Er kapriziert sich auf eine bestimmte Eigenschaft des Menschen, nämlich die nur kontingente, nicht angeborene Eintracht. Dieses Anthropologisieren von wesentlichen und akzidentiellen Eigenschaften stellt Gryphius der vor- bzw. (später) anti-hobbesianischen Tradition nahe. Sehr deutlich sieht Gryphius allerdings, dass die Kontingenz der Güte eben nicht der Notwendigkeit der Schlechtigkeit gleichbedeutend ist. Er hält nämlich 1663 im Weicher-Stein fest, dass ihm die umfassende moralische Verdorbenheit der Menschen ein Phänomen seiner Gegenwart ist:
513 Den Namenstag nach zu schließen also der 13. August.
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In der hchstbetrbten Zeit / Drinne wir nach Gottes Willen schweben; Hat der dicke Schlamm der Neid Schir den meisten Theil der Welt umbgeben. (GdW 3, Weicherstein, S. 44, v. 41–44)
Darüber hinaus imaginiert Gryphius im Ersten Straff-Gedichte einen menschheitsgeschichtlichen Abschnitt, der umgekehrt von eminenter Tugendhaftigkeit geprägt war: Diß reden / was man meint / so leben / wie man lehret / War jene Zeit gemein; da man die Tugend ehret / […] Als ein Gesetz alleine Fr tausend Lnder stund […] (GdW 3, Vermischte Gedichte, [VI], S. 187, v. 177f. und 182f.)
Gryphius erachtet die Moralität des Menschen als kontingent, indem er ihre historische Varianz herausstellt. Daher ist auch seine Anthropologie nicht notwendig pessimistisch. Ebenso wenig erfolgt bei Gryphius der Umkehrschluss, dass einer mangelnden natürlichen Eintracht ein wiederum natürliches Streben zu bürgerlicher ‚Eintracht‘ notwendig folgen müsste: Dieser Schluss vom unwirtlichen Naturzustand auf einen appetitus societatis wie bei Grotius oder auf eine zur bloßen Anlage depotenzierten socialitas wie bei Pufendorf514 erfolgt bei Gryphius nicht. Das Vertrauen in die Geltung des Naturrechts, das „alleine fr tausend Lnder stund“, scheint beim Schlesier nachhaltig erschüttert: Er kann weder die für eine Universalität notwendige Ubiquität noch Perennität feststellen. Bei Gryphius ist zwar kein Vertrauen in einen Selbstregulierungsmechanismus einer prekären Natur zu finden, der schon in dieser Natur selbst veranlagt wäre wie bei Schönborner. Gryphius geht jedoch noch nicht den Schritt, den hinreichenden Grund von Vergemeinschaftung in des Menschen Vernunft- und Willensbegabung zu sehen wie Hobbes. Damit wird Frage nach einem Ausweg dringend.
514 Fiammetta Palladini hat die keineswegs univoke Verwendung von socialitas durch Pufendorf aufgezeigt. Pufendorf bezeichnet damit erstens den Fundamentalsatz des Naturrechts, d.h. die Pflicht zum Erhalt und zur Förderung der societas; zweitens benutzt Pufendorf socialitas als Bezeichnung für dessen Bedingung, also das menschliche Bedürfnis nach einer oder der societas, mithin also im Sinne von Soziabilität: Fiammetta Palladini: Pufendorf disciple of Hobbes: The nature of man and the state of nature: the doctrine of socialitas. In: History of European Ideas 34 (2008), S. 26–60. Diese Unschärfe ist Pufendorf im Hinblick auf seine Beweisführung, aber nicht terminologisch vorzuwerfen. Denn selbst noch im achtzehnten Jahrhundert ist die Trennung von socialitas und sociabilitas nicht geläufig.
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Nach den von Menschen an Menschen verbrochenen Greueln des Dreißigjährigen Krieges, die er in der Tat in extenso miterlebte, musste dem Schlesier die These von einem Vergemeinschaftungsstreben schlicht wirklichkeitsfremd sein. Ob Gryphius dabei das aristotelisch-schönbornersche double bind einer sich selbst fliehenden Natur des Menschen systematisch erkannte, lässt sich nicht entscheiden: Sein empirisches Verdikt hat es eigentlich widerlegt. Fest steht, dass Gryphius ebenso vor dem hobbesschen Lösungsansatz zurückschrecken musste: Schließlich war ihm doch der Wille des Menschen gerade so vom ‚eitlen‘ amor sui geprägt, dass er auch von der Vernunft kaum einholbar sein konnte, um das langfristige Interesse der Selbsterhaltung sich kurz- und mittelfristige Interessen unterordnen zu lassen. Besonders die handlungstheoretisch fokussierte Eitelkeits-Dichtung Gryphius’ atmet durchweg denjenigen Pessimismus, dass der Mensch en gros auch selbstbestimmter Zwecksetzung unfähig sei. Durch sein kurzfristiges Strebens verblendet, fährt der Mensch langfristige Verluste ein.515 Diese ‚Tollheit‘ – so die Überzeugung Gryphius’ im Weicher-Stein – macht die Unerträglichkeit des Diesseits gerade aus: Drumb weil alles Neides voll / Und fast nimand nach der Tugend ringet; Rennet auch die Welt so toll In den Abgrund / der sie gar verschlinget. (GdW 3, Weicherstein, S. 45, v. 65–68)
Der theologische vanitas-Topos bringt neostoische Ethik insofern ins Wanken, als die Menschen sie nicht annähernd erfüllen können. Sie können aus ihr keine Sozial-‚Ethik‘, geschweige denn eine Grundlage über- und zwischenstaatlicher Rechtssicherheit jenseits von Gewalt schaffen. Mehr noch: Das gryphsche vanitas-Subjekt reicht mehrheitlich noch nicht einmal an diejenige Kompetenz epikureischen voluptas-Kalküls heran, wie Cicero sie in De finibus tradiert hatte: „Temporibus autem quibusdam et aut officiis debitis aut rerum necessitatibus saepe eveniet, ut et voluptates repudiandae sint et molestiae non recusandae“.516 Es ist bemerkenswert, dass Gryphius den Weg des Hobbes deshalb nicht einschlägt, weil ihm dessen Anthropologie nicht zu ‚pessimistisch‘, sondern im Gegenteil noch zu optimistisch sein musste.517
515 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 26. 516 Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Hg. von Harris Rackham. Cambdrige, Massachusetts 1971 (The Loeb classical library), I, 33, S. 36, weiter: „Itaque earum rerum hic tenetur a sapiente delectus ut aut reiciendis voluptatibus maiores alias consequatur aut perferendis doloribus asperiores repellat.“ 517 Wobei nicht aus dem Blick zu verlieren ist, dass für Hobbes selbst eine pessimistische politische Anthropologie schlicht deshalb nicht zu konstatieren ist, weil anthropologische Er-
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Gryphius’ intensive Auseinandersetzung mit der Tyrannei, besonders im Herodes, der Catharina und im Papinian wird allemal deutlich machen, dass ihm Hobbes’ Staatsrechtslehre keine zu befürwortende Alternative darstellte. Tatsächlich wird der Willensentschluss zur Selbstunterwerfung schon deshalb nicht dem Selbsterhaltungstrieb gerecht, weil das Selbsterhaltungsrecht gegen mehrere empirische Willküren dadurch gesichert werden soll, dass man auf all sein Recht gegenüber einer empirischen Willkür verzichtet.518 Hobbes gesteht sogar durchaus zu, dass der Selbsterhaltungstrieb auch im status civilis rechtlich dergestalt gewahrt bleibt, dass der wehrdienstpflichtige Soldat aus Angst vor dem Kampf davonlaufen darf: Upon this ground, a man that is commanded as a Souldier to fight against the enemy, though his Soveraign have Right enough to punish his refusall with death, may neverthelesse in many cases refuse, without Injustice […] there is allowance to be made for naturall timorousnesse, not onely to women, (of whom no such dangerous duty is expected), but also to men of feminine courage. When Armies fight, there is on one side, or both, a running away; yet when they do it not out of trechery, but fear, they are not esteemed to do it unjustly, but dishonourably. For the same reason, to avoyd battell, is not Injustice, but Cowardise.519
Die im Vollzug dieses Gedankens sich ergebenden Alternativen sind jedoch beide für eine Staatslehre mit systematischem Anspruch unbefriedigend: Denn einmal ist fraglich, ob der geflohene Soldat im Staat tatsächlich nicht verurteilt wird oder ob seine Flucht aus dem Staat ihn nur in den allemal prekären Naturzustand versetzt, so er nicht umgehend Bürger eines anderen Staates wird. Ein andermal fordert das Recht aller Soldaten, ihren Selbsterhaltungstrieb geltend zu machen,
wägungen für seine rein rechtslogische Prüfung der Naturrechtsidee schlicht indifferent sind. Gleichwohl gerade Georg Geismann mehrfach hierauf hingewiesen hat, zeitigt dieses vor allem vom zeitgenössischen Anti-Hobbesianismus überkommene Verdikt einer pessimistischen politischen Anthropologie nach wie vor Folgen: vgl. z.B. Wolfgang Dietrich: Variationen über die vielen Frieden. Bd. 1: Deutungen. Wiesbaden 2008 (Schriften des UNESCO Chair for Peace Studies der Universität Innsbruck 1), S. 213; Jan Rohls: Geschichte der Ethik. 2., umgearb. und erg. Aufl. Tübingen 1999, S. 614, obgleich Rohls zuvor die Widersprüchlichkeit des ius omnium in omnia durchaus erfasst (S. 331f.). 518 Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 169; vgl. ebd.: „Der einzige Wille, der mit diesem Vertrag erklärt wird, ist der Wille, sich der (angeblich dadurch legitimierten) Herrschaft des Staates und der durch sie als Recht deklarierten Freiheitseinschränkung bedingungslos, also welche es auch sei, zu unterwerfen“. 519 Thomas Hobbes: Leviathan Or the Matter, Form and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. London 1651, S. 112 [Hervorhebung O.B.]. Vgl. : Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Eing. u. hg. von Iring Fetscher. 9. Aufl. Frankfurt am Main 1999 (stw 462), S. 169.
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zur Frage heraus, wie der Staat so noch angemessen gesichert werden soll, wenn seine gesamte Schutzmacht potenziell die Waffen strecken dürfte. Gryphius geht Hobbes’ Lösungsweg nicht mit, so sehr seine Dichtung davon zeugt, dass er das Problembewusstsein einer offensichtlichen Zweckfreiheit der Natur in physischer wie moralisch-gesetzlicher Hinsicht teilt. Er geht aber genauso wenig den Weg solcher Antihobbesianer wie Samuel Pufendorf, der den in der Tat dezisionistischen Despotismus bei Hobbes durch die Einführung einer dualistischen Seins- und Sollens-Ordnung zu umgehen sucht.520 Noch weniger geht Gryphius auf dem rechtslogisch eigentlich richtigen Wege weiter wie erst Rousseau und Kant – nämlich den, Hobbes’ Denkfehler eines denkunmöglichen Verzichts der Rechtssubjekte auf ihre Rechtssubjektivität zu vermeiden.521 Gryphius fällt aber auch nicht auf ‚naiv‘ scholastische Gleise zurück, indem er etwa an der Ablesbarkeit von Recht und Unrecht sowie ihrer Geltung aus der Natur festhielte. Welchen Weg Gryphius einschlägt, zeigt 4.4.
4.3.5 Ausblick: Nulla lex sine poena? Christian Thomasius’ Bruch mit dem praeceptum-Charakter der göttlichen und natürlichen Gesetze Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Charakter des Naturrechts als einer Vorschrift (praeceptum) noch lange über Gryphius’ Wirken und Tod hinaus Geltung besaß und behielt. Die z.T. zähen Diskurse und Mühen, Gottes Willen mit seinem legislator-Charakter und Fragen der Theodizee zu vermitteln (4.4), lassen sich nicht erklären ohne den allemal statthabenden Konsens, dass Gottes natürliche Rechte nicht bloße Ratschläge (consilia) sind. Besäße das Naturrecht ähnlich den consilia keinerlei Verpflichtungskraft, wäre dem Staunen darüber jeder Grund entzogen, dass Gott einerseits Gebote erlässt, diese aber nicht strafend geltend macht. Vor Christian Thomasius (1655–1728) und dessen Fundamenta iuris naturae et gentium (1705) wird niemand mit der Prämisse brechen, dass göttliches und natürliches Recht verpflichtende Vorschriften sind. Es ist daher zu skizzieren, wie Thomasius diesen Bruch vollzieht. Üblicherweise als ‚Vater der deutschen Aufklärung‘ gefeiert, wird Thomasius ausgerechnet in seinem rechtsphilosophischen Kerngebiet häufig vorgeworfen,
520 Pufendorf übernahm von seinem Lehrer Erhard Weigel die Distinktion von Entia Physica und Entia Moralia: vgl. Klaus-Gert Lutterbeck: Pufendorfs Unterscheidung von physischem und moralischem Sein und seine politische Theorie. In: Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf. Hg. von Dieter Hüning. Baden-Baden 2009 (Staatsverständnisse 23), S. 19–35. 521 Vgl. abermals 3.2 und Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 170f.
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„unselbständiger Schüler S. Pufendorfs“ zu sein.522 Schon Thomasius’ rechtsdidaktische und interpretationstheoretischen Neuerungen widerlegen diesen Vorwurf.523 Den entscheidenden Umbruch im Naturrechtsdenken vollzog Thomasius auf der obligationstheoretischen Ebene. Gegenüber seinem ersten Naturrechtsentwurf, den Institutiones iurisprudentiae divinae (1688),524 übt Thomasius selbst 1705 vor allem darin Selbstkritik, bislang von der naturständlichen Dominanz der Vernunft über den Willen ausgegangen zu sein: Er spricht vom „Haupt-Irrthum / von der geschickten Ubereinstimmung des Verstandes und Willens / das ist / von der Herrschaft des Verstandes ber den Willen“.525 Von besonderem Interesse ist Thomasius’ Verabschiedung eines jus divinum positivum universale und damit die Verabschiedung des Strafkriteriums aus dem Naturrecht. Zur Aufgabe des positiven göttliche Universalrecht zwingt Thomasius seine strikte Unterscheidung der Zuständigkeitsbereiche und Teloi des göttlichen und natürlichen Rechts, dass nämlich „der End-Zweck der Heiligen Schrifft das glckseelige Leben der zuknfftigen Welt ist / die Sitten-Lehre aber und die gantze Rechts-Gelahrheit bloß zur wahren Glckseeligkeit des gegenwrtigen Lebens abzielet“.526 Zwar anerkennt Thomasius wie schon in den Institutiones die Existenz göttlicher Offenbarungsgesetze, die sich durchaus irdisch zwischenmenschlicher Angelegenheiten annehmen.527 Diese sind jedoch zeitlich wie auch im Geltungsbereich begrenzt erlassen worden und insofern gehören sie nicht der Universaljurisprudenz zu.528 Die vorausgehende Begründungsleistung macht den
522 Matthias J. Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 28), S. 52; vgl. auch Christoph Bühler: Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius (1655–1728). Regensburg 1991 (Theorie und Forschung: Rechtswissenschaften 3), S. 4. 523 Vgl. Friedrich Vollhardt: Vorwort. In: Christian Thomasius: Cautelen zur Erneuerung der Rechtsgelehrtheit. Hg. von Friedrich Vollhardt. Hildesheim u.a. 2006, S. V–XXXVI, hier S. IXf.; Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 423–437; Schröder: Recht als Wissenschaft, S. 137. 524 Vgl. zum dortigen Verhältnis von Theologie und Jurisprudenz Grunert: Normbegründung und politische Legitimität, S. 173. 525 Christian Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. Hg. von Frank Grunert. Hildesheim u.a. 2003, Vorrede § 6. 526 Ebd., Vorrede § 19 [Hervorhebung O.B.]. 527 Vgl. Oliver Bach: Natur als juridisches Argument an der Schwelle zur Aufklärung. Zu den theonomen, rationalistischen und voluntaristischen Systemstellen des Denkens vom Naturzustand bei Samuel Pufendorf und Christian Thomasius. In: Jahrbuch Aufklärung 25 (2014), S. 23– 50, hier S. 41–44. 528 Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts, I. Buch, 5. Hauptstück, § 52: „[D]ie Verrichtungen / wovon das offenbarte Recht qua tale handelt / seyn nicht nach der Natur allen Menschen und allezeit gut und bse“
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Unterschied: Thomasius nimmt die Relevanz der Kriterien Ubiquität und Perennität für die Universaljurisprudenz nicht begriffslogisch an, sondern er gewinnt sie aus einer Unterscheidung von Gottvater und Strafgott, mit der er den eigentlichen Unterschied von natürlichem und positivem Recht aufzeigt. Thomasius geht es um die perseitas natürlicher Güte bzw. Schlechtigkeit, die ihm für ein qua Vernunft erkennbares Naturrecht notwendige Ermöglichungsbedingung ist: [W]enn ein GOtt / als ein absoluter Gesetz-Geber / der den Menschen usserlich zur Straffe verbindet / concipiret und die Ehrligkeit und Schndligkeit mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit vor einerley genommen wird; so ist falsch / daß es solche Verrichthungen gibt / die vor sich ihrer Natur nach und vor den gttlichen Willen ehrlich oder schndlich seyn.529
Thomasius ist damit nicht etwa auf einen theologischen Intellektualismus aus; in der Tat nämlich hat Gott als Urheber auch der natürlichen Gesetze die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit von Handlungen durch seinen Willen festgelegt. Thomasius geht es um eine konsequent als additiv verstandene Strafandrohung, wie sie einen Gesetzgeber und ein Gesetz im strengen Sinne ausmachen. Diese wäre zum Einen ein den natürlichen Dingen unmöglich wesentliches Attribut, sondern notwendig äußerlich und akzidentiell. Zum Anderen bedeutet diese Akzidentialität für Thomasius im Umkehrschluss den Wesentlichkeitsverlust der Naturrechtsnormen und damit nichts weniger als den Verlust ihres Universalitätsanspruchs: Das Naturrecht wäre nur solange in Kraft, wie die Strafandrohung durch Gott gilt, oder schlimmer noch nur solange, wie diese Strafandrohung unter den Menschen ausreichend bekannt ist. Da dieses Recht nur für diese Zeit Geltung besäße, wäre es mehr auf die Offenbarung dieser Strafandrohung angewiesen als auf inhaltliche Schlüssigkeit. Das Ergebnis wäre kein universales Naturrecht, sondern ein begrenztes positives Offenbarungsgesetz. Demgegenüber sieht Thomasius im consilium-Charakter, der für die gesamte Tradition noch das wesentlich Unterschiedene von jedwedem Recht dargestellt hatte, die epistemologische Chance für sein universales Recht. Dessen obligationstheoretische Schwächen nimmt er bewusst in Kauf nimmt: Aber weñ Gott / als ein Vater / Rath oder Lehrer concipiret wird / und die Ehrligkeit und Schndligkeit mehr die Gte u. Boßheit oder das Laster berhaupt / als ins besondere die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bedeutet / so ist es wahr / daß die Verrichtungen / von welchen das so wohl, als stricte genommene Recht der Natur handelt / vor sich und ihrer moralischen Natur nach / in Ansehung des gantzen menschlichen Geschlechts bse und gut seyn.530
529 Ebd., I, 5, § 51. 530 Ebd., I, 5, § 52; vgl. auch ebd., I, 6, § 6.
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Weil sich das consilium auf Inhaltliches beschränkt, ist jede Anzeige von Gut oder Böse als wesentlich anzusehen und allererst natürlich zu nennen. Hingegen schlägt das Naturrecht unter der Annahme einer göttlichen Strafandrohung notwendig in Positivismus um. Dem Unterschied von Wesentlichkeit und Akzidentialität entspricht der von Allgemeinheit und Besonderheit zwangsfreier Naturrechtsnormen und positiver Zwangsgesetze. Dieser Bruch mit dem praeceptum-Charakter des transhumanen Rechts ist auch deshalb bemerkenswert, weil Thomasius den Unterschied von innerer Verpflichtung und äußerem Zwang aufgreift, wie er der Spätscholastik ebenso wie dem philippistischen Naturrecht eigentlich bereits bekannt war, ihn jedoch anders umsetzt: Thomasius bestreitet wie gesagt weder die Akzidentialität äußerer Zwangsandrohung, noch bestreitet er die exklusiv naturrechtliche Gewissensverpflichtung; noch auch jedoch bestreitet Thomasius, dass Gott als Urheber des Naturrechts dieses der Sache nach mit Strafen ausstattet. Jedoch „die Ubel / so GOtt denen Ubertretern des natrlichen Rechts gesetzet hat / kommen verborgen und heimlich“.531 Damit ist der Vernunft dem Begriffe nach unmöglich, sich in der Erkenntnis des Naturrechts an Strafandrohungen zu halten: „Die blosse Vernunfft weiß nicht / daß sie sich GOtt vorstellen soll / als einen Knig oder Herrn / der diejenigen mit usserlicher willkhrlicher Straffe belegen wolle / die wieder die Gebothe des natrlichen Rechts handeln“,532 denn „die Verknpffung des Ubels mit der Snde fllet nicht in die Augen / obgleich vielleicht das Ubel selbst sichtbar ist“.533 Die Verpflichtungskraft der positiven menschlichen Gesetze als rein äußerlich zwingender Vorschriften ist auf die Sichtbarkeit ihrer Strafandrohungen und Strafen angewiesen, um seine Gewissensneutralität kompensieren zu können. Das Naturrecht bedarf dessen für seine Erkennbarkeit gerade nicht. Im Gegenteil verhinderte die räumlich wie zeitlich notwendige Eingeschränktheit einer nur als Offenbarungsakt möglichen Strafandrohung das Erkennen des Naturrechts als universalen Rechts. Insofern vollzieht Thomasius in der Tat nur eine Positivierung des Rechtsbegriffs, zumal nur des engeren. Gegen eine „radikale Positivierung“534 arbeitet Thomasius hingegen gerade an. Auch in Thomasius’ reifem Naturrecht wird also ein eminent theologisches Argument veranschlagt, insofern es „der Vollkommenheit gttlicher Gtigkeit
531 Ebd., I, 5, § 39. 532 Ebd., I, 5, § 37. 533 Ebd., I, 5, § 39. 534 So Jan Schröder: ‚Naturrecht bricht positives Recht‘ in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?. In: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat. Hg. von Dieter Schwab, Dieter Giesen, Joseph Listl. Berlin 1989, S. 419–433, hier S. 426.
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eher zukommet / der Menschen bestes zu suchen / als in denen der Menschen Hertzen eingeschriebenen Gesetzen auf despotische Art und Weise seinen Nutzen zu suchen“.535 Die Erkenntnis der natürlichen Gesetze kommt ohne eine explizierte Versicherung einer Zwangsbewehrtheit aus. Die traditionelle Veranschlagung des Strafkriteriums würde umgekehrt nur die Verunsicherung des göttlichen Vollkommenheitsgedankens zur Folge haben. In einem bloß symmetrischen Verhältnis von bedrohten Befehlsempfängern und drohendem Befehlsgeber stünde Gott in Thomasius’ Augen gerade nicht als allmächtiger Gottvater, sondern als verunsicherter Rachegott da, der die concordia juris seiner Schöpfung von der mangelnden Furcht seines Geschöpfes Mensch bedroht sieht. Thomasius betont die notwendige Unmöglichkeit einer natürlichen Erkenntnis von Gottes Strafandrohung und Straftätigkeit durch seine Positionierung im theologischen Voluntarismus: Gottes Wille ist jenseits des Offenbarungszeugnisses nicht erkennbar, Thomasius ist mithin vollkommen schleierhaft, „woher ich erkenne / ob dieses oder jenes der Wille Gottes sey“.536 Thomasius’ zweiter Naturrechtsentwurf leistet einen deutlichen Säkularisierungsschub, wenn der menschliche Verstand nunmehr weder inhaltlich noch verpflichtungstheoretisch auf die Gottesinstanz zu regredieren hat. Nichtsdestoweniger ist die thomasianische Befreiung des Naturrechts vom Kriterium göttlicher Strafe allenthalben auf ihre allmachtstheologische Begründung angewiesen.
535 Thomasius: Grundlehren des Natur- und Völkerrechts, I, 5, § 41. 536 Ebd., I, 6, § 3.
Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus
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4.4 Die schrifttheologische Antwort: Theonomer Säkularismus und der Deus politicus als Entscheider über den Ausnahmezustand [D]eshalb glauben die Utopier, daß nach diesem Leben Strafen für unsere Verfehlungen festgesetzt, Belohnungen für unsere Tugenden uns bestimmt sind. Wer das Gegenteil glaubt, den zählen sie nicht einmal unter die Menschen […]; noch viel weniger denken sie also daran, ihn unter die Bürger zu rechnen: würden ihm doch alle bürgerlichen Einrichtungen und moralischen Grundsätze keinen Pfifferling gelten, wenn ihn nicht die bloße Furcht in Schranken hielte. Thomas Morus, Utopia.537
In den Kapiteln 4.2 und 4.3 wurden wie angekündigt nicht statische ‚Kombattanten‘ von Tradition und Innovation erläutert, sondern es wurde versucht, das entscheidende Schlaglicht auf deren durchaus wechselseitige Dynamik zu werfen. Dabei kristallisierte sich als wohl wichtigster Konsenspunkt die Vereinbarkeit von theologischem Voluntarismus einerseits und epistemologischem Rationalismus wie Empirismus andererseits heraus. Wo es besonders lutheranischem Denken vordringlich um die Unmöglichkeit zu tun war, den göttlichen Willen zu verstehen, kamen ihr de re weder Bacons Empirismus noch Descartes’ Rationalismus ‚ins Gehege‘: Bacon enthielt sich mit genuin empiristischen Gründen ganz des Anspruchs, eine Gottesinstanz wissenschaftlich erkennen zu wollen. Descartes’ ontologischer Gottesbeweis beschränkte sich auf die Erkenntnis von Existenz und Allmacht des vollkommensten Wesens, ohne ihm dessen Willen ablesen zu wollen. Gryphius darf als einer jener Zeitgenossen gelten, die im Denken Descartes’ genauso wie im Denken Bacons die Chance sahen, die neuen Wissenschaften zu befürworten, und zwar nicht nur, ohne um ihren allmächtigen Gott fürchten zu müssen, sondern auch, um ihn allererst durch diese szientologische Säkularisierung angemessen anerkannt zu sehen. Wenn in diesem Kapitel nunmehr eine weitere Antwort präsentiert wird, dann kann das sinnvoller Weise nur geschehen, insofern diese Antwort auf eine Frage gegeben wurde, die sich trotz der grundsätzlichen Vereinbarkeit von theologischem Voluntarismus und epistemologischen Rationalismus bzw. Empirismus nach wie vor stellte: Was ist gültig zu erwarten, wenn der Herrscher ent-
537 Thomas Morus: Utopia. Übers. von Gerhard Ritter, Nachw. von Eberhard Jäckel. Stuttgart 2009 (RUB 18875), S. 130f.
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weder zum Tyrann wird oder seiner Macht durch Widerstand beraubt ist? Diese Frage ist beleibe nicht neu. Allerdings präsentiert sie sich erst jetzt geschärft, in ihrer eigentlichen ideen- wie problemgeschichtlichen Disposition: Sie ist die Frage nach dem Geltungsgrund transhumanen Rechts, wie sie von der Politiklehre Machiavellis aufgeworfen wurde, und damit gleichzeitig die Frage danach, inwiefern dieser Geltungsgrund für politisches Handeln different ist. Mit Blick auf den Geltungsgrund konnte sich eine Rechtstheologie durch die Innovationen der neuen Wissenschaften gestärkt sehen: Als Obligationsinstanz eines materialen natürlichen bzw. göttlichen Rechts muss Gott vordringlich als wollender Gott gedacht werden, wie ihn sowohl lutheranische Theologie als auch die neuen säkularen Systementwürfe wie der cartesische aus allgemeinen Gesichtspunkten ihres jeweiligen Vorhabens stark machten. Jedoch mit Blick auf die Differenz dieser Obligationsinstanz für irdisches politisches Handeln hatte jener Konsens noch keine hinreichende Lösung liefern können. Vielmehr produzierte allererst er das entscheidende Problem für eine konsequent verstandene politische Theologie: Der göttliche Voluntarismus war schließlich durch die Selbstbehauptung der säkularen Wissenschaften insofern gerettet worden, als von den weltlichen Dingen nicht auf Gottes Willen geschlossen werden konnte. Damit stellte sich nur umso stärker die Frage, warum und inwiefern Gott nunmehr dennoch für die weltliche Politik differenzbildend sein sollte. Diese Frage ist mitunter keine geringere als die, warum ausgerechnet für die prudentia civilis nicht derselbe Säkularisierungscharakter gelten sollte – und diese Frage stellt sich in der Tat ausgerechnet für die politische Klugheitslehre, ist doch gerade von Luther das weltliche Regiment klar vom geistlichen getrennt worden. Soll das göttliche Recht für den irdisch handelnden Politiker gelten und dieser sich vor dem präthomasianisch strafenden Gott fürchten (4.3.5), dann muss der theologische Voluntarismus die Politiklehre gerade darin einholen, dass ausgerechnet sie diejenige mit weltlichen Dingen befasste Wissenschaft und Kunst darstellt, die nicht umfassend säkularisiert sein kann und darf. Der offene Ausgang des Carolus Stuardus in der Fassung von 1657 benennt das Problem: Wie und vom wem ist im Falle dessen zu entscheiden, dass beide Konfliktparteien sich auf göttliches Recht berufen und dadurch allein eben noch kein politischer Friede zu erzielen ist? Besonders aber: Welchen politischen Wert hat ein rein jenseitiges Strafversprechen über einen Gotteslästerer wie Cromwell, wenn dieser weder sein Unrecht erkennt noch unter dem Korrektiv eines drückenden Gewissens leidet und die englische civitas dem Untergang entgegensteuert? Thomas Morus’ obige Herausstellung der Notwendigkeit von Strafe seitens des Gesetzgebers bzw. der Notwendigkeit von Furcht seitens der Gesetzesempfänger ist daher nur als Motto anzuführen: Morus benennt zwar früh das Problem, das
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sich noch lange ungelöst durch die politischen Theologien von Lipsius über Arnisaeus bis Besold bewegen sollte (4.1.2). Klarer und lauter als mancher von diesen betont schon Morus, dass ein Gesetz, dessen zwangsbewehrte Geltendmachung nicht zu befürchten ist, wirkungslos zu werden droht, ja schon wirkungslos ist. Morus’ Problemlösung ist allerdings von den faktenpolitischen Problemen, wie sie besonders im Deutschen Reich in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts virulent sind, noch weit entfernt: Denn Morus sieht Gottes Straftätigkeit als allein jenseitig an. Unter den Menschen muss also zur politisch wirksamen, d.h. irdischen Geltung des göttlichen Gesetzes doch zumindest soviel Minimalkonsens herrschen, dass an dieses Jenseits geglaubt und es allemal gefürchtet wird. Diese Transzendierung der Gottesfurcht aber empfinden gerade Gryphius’ Zeitgenossen und ebenso seine Trauerspiele als entscheidendes Problem: Was nützt eine auf das Jenseits verweisende Gottesfurcht dem weltlichen Regiment, wenn der Dreißigjährige Krieg die Annahme verstärkte, dass zahlreiche Menschen die Gesetze Gottes nicht angemessen kannten oder sie das Jenseits nicht kümmerte? Mag auch Gryphius’ lutheranisch vermittelte neostoizistische constantia den Menschen von der Nichtigkeit der Welt ebenso versichern wie sie ihm ertragen helfen: Dennoch muss eine im Irdischen wirkende Macht gedacht werden, die das weltliche Regiment dauerhaft stabilisiert, indem sie auch den Irrenden, Verblendeten, den Häretiker oder gar Atheisten trifft, und zwar unabhängig davon, welche Vorstellungen diese Unrechtstäter vom Jenseits haben. Daher muss Gott vermehrt als selbst politisch Handelnder gedacht werden. Der gesetzgebende Gott der Rechtstheologie muss sich vermehrt zum gesetzesvollziehenden Gott einer politischen Theologie, mehr noch aber einer theologischen Politologie säkularisieren lassen. Gerade wenn die weltlichen Dinge keine Auskunft über Gottes Gesetzeswillen mehr geben, müssen diese Gesetze wie auch Gott von außen ins irdische politische Geschehen hineinstoßen, – das Gesetz als geoffenbartes und Gott als Deus politicus.
4.4.1 Gryphius’ Kirchhofsgedanken: Jenseitiges Gericht 1656, siebzehn Jahre nach dem Dreifaltigkeitssonett, hat Gryphius an seinem Wissenschaftsverständnis nichts verändert: In diesem Jahr veröffentlicht er seine Kirchhofsgedanken, fünfzig systematisch aufeinander bezogene Stanzen, die eine klar bestimmbare Argumentation verfolgen. Hier entfaltet Gryphius ausführlich sein in der Heiligen Dreyfaltigkeit angedeutetes Verständnis von Wissenschaft, und zwar sowohl im Allgemeinen hinsichtlich ihrer Zuständigkeit und ihrer kognitiven Möglichkeiten als auch im Speziellen, d.h. respektive der Leistungsfähigkeit einzelner Disziplinen und historischer Theorieentwürfe. Ihre Ausführlichkeit
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macht die noch relativ unbearbeiteten Kirchhofsgedanken zu einem zentralen Schlüsseltext. Beim imaginierten Gang über den Kirchhof sinniert das lyrische Ich538 über die Bedeutung des Todes für den Menschen. Schon in der dritten Stanze erfolgt die Feststellung, dass diese Frage nicht in den Kompetenzbereich einer säkularen Wissenschaft fällt, insofern sie das Heil betrifft: Ob diß nicht wol bebaute Land Mit keinen Granadillen pranget: Doch trgt es / wornach mich verlanget Vnd Welt-gesinnte nie erkand. (GdW 3, Kirchhofsgedanken, S. 5, v. 21–24)
Diese Erklärung einer eminenten Unzuständigkeit in Fragen des Heils richtet sich auf jedwede Wissenschaft, die sich von theologischen Fundamenten entweder befreit hat oder auf diese gar nicht aufbaut. Ebenso richtet sie sich gegen eine welt-gesinnte Philosophie, die sich in der Reflexion auf die Gottesinstanz mit reinen Vernunftmitteln versucht, ohne apriori je schon theologische Kategorien zu veranschlagen. Die ‚weltweise Anmaßung‘ besteht besonders in heilsgeschichtlichen Aussagen auf Basis rein philosophischer Kategorien und war gerade den Lutheranern unerträglich, widerspricht sie doch dem Offenbarungsprinzip überhaupt. Daher waren dem reformatorischen Denken solche naturwissenschaftlichen und philosophischen Positionen durchaus nahe, die ihrer eigenen Säkularität zum Trotz die offenbarungstheologische Sache stärkten, indem „sie mit den substantiellen Formen und Zwecken die heidnischen Götter und Dämonen vertreib[en]“539 und selbst keine heilsgeschichtlichen Aussagen mehr formulieren.
538 Dieser Begriff ist hier zunächst rein formal gemeint, insofern ein Subjekt pronominal im Text identifizierbar ist. Begriffsverständnisse vor allem bereits interpretativer oder gar literaturkritischer Art, dass etwa Subjekt und Objekt vereinigt wären oder es sich um ein biographisches Ich handele, sind hier nicht eingeschlossen. Vgl. dazu Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1995, S. 35–68. Karl Pestalozzi gelang bereits der Nachweis, dass das lyrische Ich-Verständnis zwar historisch variant ist, dabei aber die je variierende Stellung des Ich zwischen Selbst- und Fremdbezug durch die Geschichte systematisch festgestellt werden kann: Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich, S. Xf., bzgl. des Barock S. 43–77. 539 Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, S. 432; vgl. schon im Hinblick auf die Scholastik Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 22–24. vgl. Wolfgang Röd: Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie. München 2009 (Beck’sche Reihe 1876), S. 55–70.
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Gryphius ist es in den Kirchhofsgedanken weniger um eine exklusive Legitimationsstrategie der Theologie zu tun. Die Relevanz der Heilsfrage soll mitnichten dadurch verteidigt werden, dass die Gegenstandsbereiche anderer Problemfelder für hinfällig erklärt würden. Von besonderem Interesse ist daher die fünfte Stanze: O Schul! ob der / was in der Welt Vor klug geachtet; sich entsetzet! Die / was verpicht auff Ehr vnd Geld Vor mehr / den hchst-erschrecklich schtzet O Schul! ob der der Seelen graut Die alles weiß / ohn was Gewissen: O Schul! ob welcher Zittern mssen Die mehr auff Stahl als Recht getraut. (GdW 3, S. 6, v. 33–40)
Schon auf den ersten Blick ist nicht zu übersehen, dass Gryphius gegen die Lehre Niccolò Machiavellis Front macht. Mit denjenigen, die „mehr auff Stahl als Recht getraut“ haben, sind unmissverständlich diejenigen praktischen wie theoretischen Politici angesprochen, denen das Recht der Gewalt nachgeordnet ist. Sie befürworten und betreiben eine Klugheitslehre, die Handlungsentscheidungen von rechtlichem, ethischem und moralischem Regulierungsdruck befreit ansehen.540 Damit ist der Gegner Machiavelli klar umrissen (4.1, 4.3.2). Ursache dieses moralindifferenten Prudentismus ist in Gryphius’ Augen seine unangemessene Säkularität. „[W]as in der Welt Vor klug erachtet“ wird, ist weniger systematisch moralindifferent als vielmehr moralisch blind, weil einem eben systematisch unangemessenen Fokus unterworfen. Die ‚Schul‘, vor der eine rein weltliche Lehre immer unterprivilegiert ist, ist die Theologie. Eine Lesart als ‚Schule des Sterbens‘541 trifft insofern den Punkt, als der Ursprung aller Dinge, der Geltungsgrund allen rechten Rechts und Zentralgegenstand der Theologie – eben Gott – erst nach dem Tod voll begriffen werden kann: Da der Tod allerdings nicht die einzige Schwelle hin zum vollendeten Zustand der cooperatio Dei et hominum im lumen gloriae ist,542 ist mit dem Sterben allein noch nicht allzu viel ‚schul‘ zu machen.
540 Vgl. Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 53 und S. 67. 541 So Johann Anselm Steiger: Schule des Sterbens. Die Kirchhofgedanken des Andreas Gryphius (1616–1664) als poetologische Theologie im Vollzug. Heidelberg 2000, S. 36–41. 542 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212–216; auch Eilert Herms: Opus Dei gratiae. Cooperatio Dei et hominum. Luthers Darstellung seiner Rechtfertigungslehre in ‚De Servo Arbitrio‘. In: Lutherjahrbuch 78 (2011), S. 61–136, hier S. 110.
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Inwiefern die Theologie übergeordnet ist, verdeutlicht Gryphius schon in der vierten Stanze: O Schul / in der die hchste Kunst Vns sterblichen wird vorgetragen! In der nicht Bltter voll von Dunst / Kein Buch voll Wahn wird auffgeschlagen! (ebd., v. 25–28)
Der für Gryphius berechtigte Anspruch der Theologie ist kein geringerer als derjenige der Unfehlbarkeit: Die Theologie ist letztlich die einzige Wissenschaft, die weder der Gefahr nebulöser Argumentationen („Dunst“) noch gar dem Risiko des Irrtums („Wahn“) ausgesetzt ist. Interessant und für die gesamte hiesige Fragestellung sinnfällig ist nun der Multifunktionalismus, den Gryphius in der Theologie wesentlich realisiert sieht. Denn in der Tat ist die Gewissheitsgarantie, die in der unmittelbaren Selbstauskunft Gottes offenbarungstheologisch verbürgt ist – Gott lügt nicht543 –, von Gryphius zwar unbezweifelt. Darstellerisch aber wird sie nicht als erstes genannt: Was zuerst von der ‚Schul‘ gesagt wird, ist, dass sie eine Kunst, und zwar die höchste ist. Mit Anrufung des Begriffs der ars ist zunächst der Praxisbezug der Theologie angesprochen. Wenn Gryphius in der Folge auf ihre Eigenschaft als scientia zu sprechen kommt, d.h. auf das Merkmal der Gewissheit, dessen die Kunst dem Verständnis des Aristoteles nach gerade entbehrt,544 so ist das nicht inkonsequent oder gar widersprüchlich. Vielmehr wird deutlich, welch ungeheure Leistungsfähigkeit Gryphius der Theologie zuerkennt: Die Theologie kann als Kunst Gewissheitssätze formulieren und umgekehrt als Wissenschaft eminent praktische Folgerungen ziehen.545 Gerade dieser Charakter der Theologie als immer auch praktischer Theologie, die sich entgegen allen übrigen artes unter Gewissheit vollzieht, ist dasjenige, was Gryphius einen säkularen, apriorischen Prudentismus zu diskreditieren erlaubt: Was klug ist, ist gerade nicht durch Loskoppelung von Rechtsfragen herauszufinden. Damit erreicht sein Machiavellismusverdikt eine ganz bestimmte Schlagkraft: Eine säkulare Klugheitslehre hat nicht einfach darin ihren Mangel, dass sie immoralisch ist, sondern insofern sie wegen ihres Immoralismus unklug ist. „In der Welt“ wird nur „Vor klug geachtet“ – der Malus der weltlichen Klug-
543 So Mal 3,6: „[I]ch bin der HERR / der nicht leuget / Ders nicht endert. Ders da bey bleiben lesst“. Vgl. dazu auch 4.4.4. 544 Vgl. Armin Müller: [Art.] Kunst, Kunstwerk I. Der Kunstbegriff in der Antike. In: HWPh 4, S. 1357–1365, hier S. 1362. 545 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt am Main 1973 (stw 676), S. 232–234.
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heitslehren und sein Grund sind hier in einem Satz konzentriert: Sie können für klug nur erachten, d.h. lediglich Vermutungen anstellen, was klug sein könnte. Sie besitzen kein Wissen hiervon. Das ist insofern kein neuer Gedanke, als schon Aristoteles die Klugheitslehren nicht unter die apodiktischen Wissenschaften zählte.546 Anders, als Machiavelli das in Gryphius’ Augen geglaubt hatte, formuliert die Theologie eben nicht nur Sätze von Gut und Schlecht, Recht und Unrecht: Das war für Gryphius nur das entscheidende Missverständnis der Machiavellisten. Die Theologie formuliert auch Sätze von Klug und Unklug. Dass sie dies in steter Verbindung zu den juridischen Bestimmungen tut, ist Gryphius’ Anspruch nach eben nicht paradox, sondern weißt auf den Kern dieses Anspruchs hin: Es ist unklug, unrecht zu handeln, da man „zittern“ muss vor dessen Konsequenzen. Hier scheint konzeptionell bereits durch, was im Hinblick auf die nächsten Kontexte des Gryphius, Melanchthon und Georg Schönborner, noch weiter zu erhärten sein wird: Dem göttlichen Recht korrespondiert offenbar eine Strafanordnung, die nicht nur heilsgeschichtliche, sondern auch diesseitig-irdische Ausdehnung besitzt. Wer einer solchen irdischen göttlichen Strafe nicht gewahr ist, unterlässt die Einbeziehung dieser irdischen Wirkmacht in sein irdisches Handlungskalkül. Die Kirchhofsgedanken verhalten sich zudem in der siebten Stanze auch explizit zu den Hauptautoritäten der traditionellen Philosophie: O Schul! Ich Komme voll begier / Die wahre Weißheit zu ergrnden! Durchforsche mich / du wirst bey mir Ein munter Ohr vnd Auge finden! Was mich ie Socrates gelehrt / Hlt ja nicht Stich: der Stagirite Vorfllt itzt gantz! der weise Scythe Wird nun auff keinem Stull geehrt. (ebd., S. 6f., v. 49–56)
Wenn die ‚Schul‘ den Anspruch hat, die „wahre Weisheit zu ergründen“, so wird dieser Anspruch hier weniger systematisch gestärkt als in den schon besprochenen Stanzen 4 und 5. Vielmehr spricht das lyrische Ich von einem Bedürfnis des Menschen, Weisheit zu erlangen. Insofern die Frage des Lebens nach dem Tod als dergestalt virulent betrachtet wird, wird die Relevanz der Theologie auch subjektiv gestärkt und anschaulich aus der theoretischen Isolation befreit. Dass es sich bei dieser Theologie allerdings um die evangelische handelt, wird im dritten Vers dieser siebten Stanze deutlich. Nur scheinbar überraschend
546 Vgl. Müller: [Art.] Kunst, Kunstwerk I, S. 1362.
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verkehren sich nämlich hier die Rollen von Forscher und zu Erforschendem: „Durchforsche mich“. Offensichtlich ist jene begehrte Weisheit keine, die auch nur irgendwie durch forschende Tätigkeit proprio sensu erlangt werden kann. Dem menschlichen Subjekt verbleibt nur ein gewisses Prädisponieren seiner selbst: „du wirst bey mir Ein munter Ohr vnd Auge finden!“. Eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit fällt tatsächlich in jeder Hinsicht unter den Tisch: Weder apodiktisch-deduzierendes Beweisen noch empirisches Sammeln und induktives Abstrahieren bieten einen Zugang zu dieser Weisheit. Nicht umsonst richtet sich die unmittelbar folgende Polemik sowohl gegen den platonischen Idealismus – denn jenen darf man in der Rede von Sokrates vertreten sehen, ist dieser doch vor allem über Platons Dialoge bekannt – als auch gegen den mehr empirischen Stagiriten Aristoteles. Für Gryphius entscheidet die ‚wahre Weisheit‘ der evangelischen Theologie diesen schon 2000 Jahre alten Streit zwischen Peripatetikern und (Neo)Platonikern nicht, sondern hält beiden ihren je unangemessenen Aktionismus vor. Sie durchforscht den Menschen und nicht umgekehrt. Mit der Vorstellung einer den Menschen durchdringenden Weisheit ist der Heilige Geist ins Bild gesetzt. Dieser vermittelt die Wahrheit von Christus durch sein Wirken, gebunden an die äußeren Mittel von Wort und Sakrament: Der Mensch ist demgegenüber passiv, er durchforscht nicht, sondern wird durchforscht.547 Damit leuchtet auch die Polemik gegen den im Text selbst durchaus als „weise“ gewürdigten Skythen Anacharsis ein: Dieser wurde seit der Geschichtsschreibung vor allem des Diogenes Laertios, der ihn zu den sieben Weisen zählte, dem Kynismus zugerechnet.548 Dessen Einsicht in die Unbegründbarkeit ethischer Normen durch Tradition und Konvention kommt zwar der theologischen Auffassung entgegen, Gewohnheitsrecht als solches für nicht ausreichend obligativ zu erachten. Der Rückzug der Kyniker in eine gesteigerte Natürlichkeit aber widerspricht gerade der reformatorischen Auffassung, dass die diesseitige Natur als depravierter Einflussbereich des princeps mundi unmöglich Quelle eines göttlichen Rechts sein kann. Die Annahme, allgemein-verbindliche Normen in der Natur vorzufinden, war bei aller zutreffenden Problemanalyse der Irrtum des Kynismus. Daher wird sein Vertreter Anacharsis in Gryphius’ Augen zurecht „auff keinem Stull geehrt“. Die achte Stanze wiederholt ex negativo diese passive Wahrheitserlangung. Das lyrische Ich lässt sich in seinem in Stanze 7 eigentlich schon kundgetanen Kenntnisstand zurückfallen in die Position, nochmals nach Möglichkeiten eigenen Schlussfolgerns aus Gründen zu fragen:
547 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 252–255. 548 Vgl. Franz Kiechle: [Art.] Anacharsis. In: Pauly 1, S. 325.
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Wer aber ists / der mir erklr Was ich zu lernen mich bemhe? Vnd der die Grnde mir bewehr? Vnd fest Schlsse darauß ziehe? (ebd., S. 7, v. 57–60)
Es ist diese Form von curiositas, illegitimer Neugier, die nicht nur gotteslästerlich ist, sondern schlicht dem Gegenstand unangemessen. Die folgenden Stanzen 9–16 imaginieren ein selbstständiges Öffnen der Gräber und Särge, die Stanzen 22–25 und 27–31 stellen den Verwesungszustand aller Leichen vor. Die dazwischen liegenden Stanzen 17–21 und 26 reflektieren das Gesehene: Der Tod ist absolut indifferent. Sterblichkeit realisiert sich bei Lasterhaften ebenso wie bei Tugendhaften und Frommen: Sind diese die / die vnser Land Beherrscht / getrotzt / gepocht / geschtzet! Die dolch vnd Spiß vnd Schwerdt gewetzet / Die stets gedruckt mit Stahl vnd Brand? Sind diese die / die Gottes Hertz/ Erweicht mit Seufftzen=reichem Beten? Die (Trotz dem jammerschwangern Schmertz!) Vor sein erzrnt Gesich getreten. Die nichts denn ihre Schuld beklagt? (ebd., S. 9, v. 125–133)
Schon wenig später wird deutlich, dass es in der Hauptsache um Konformität bzw. Nonkonformität gegenüber göttlichem Recht geht (ebd., v. 137–140).549 Wenn Gryphius in diesem Zusammenhang auch die Wissenschaft zur Sprache bringt (ebd., S. 10, v. 165–168),550 berührt er folglich nicht den nonnormativen Aspekt neben dem normativen. Er setzt vielmehr die Fehlerhaftigkeit einer bestimmten Wissenschaftsform in das Licht einer göttlich-rechtlichen Beurteilung. Es kommt darin die normative Kehrseite des hohen Ranges der Theologie zur Geltung: Eine säkular begründete Wissenschaft muss nicht nur sachlich falsch, sondern auch moralisch schlecht sein. Die Leugnung der notwendigen Bedingung – Gott – ist nicht nur ein Irrtum, sondern auch Sünde gegen nichts weniger als das erste Gebot. Die Verse 199–202 der 25. und 26. Stanze stellen vorübergehend wieder die Erkenntnisfrage nach der ‚wahren Weißheit‘ in den Vordergrund: Das lyrische
549 „Sind diese die / die Scham vnd Zucht Vnd das entweyhte Recht verjaget? Die was deß Himmels Zorn verflucht Auß seiner Hell ins Licht vertaget?“ [Hervorhebung O.B.]. 550 „Wo sind / ob derer Wissenschafft Sich das entzckte Volck entsetzet / Die man der Weißheit Vter schtzet! Die Zeit hat all’ hinweg gerafft.“
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Ich beklagt, dass es selbst tugendhafte Menschen nicht von Sündern unterscheiden kann. Die ausführlich dargestellte Verwesung lässt keinerlei Hinweise auf den Lebenswandel, mithin die moralische Integrität des Verstorbenen mehr zu. Entscheidend ist allerdings der in der 47. Stanze reflektierte Umstand, dass auch vor dem Tod die Urteilsfähigkeit des Menschen über die moralische Integrität Anderer bedeutend eingeschränkt ist: Viel / die man groß vnd heilig schtzt; Schtzt Gottes Außspruch vor verlohren! Viel / die man schmeht / verspeyt / verletzt: Sind zu dem grossen Reich erkohren. Starrt ob dem schnen Marmel nicht / Stein Schmuck vnd Grabschrifft knnen trgen. Die Leiche nur weiß nicht von Lgen: Nichts von betrgen diß Gericht. (ebd., S. 17, v. 369–376)
Dieser eingeschränkten Erkenntnis-, mithin Urteilsfähigkeit des Menschen wird die Unfehlbarkeit des göttlichen Gerichts gegenübergestellt. Die bislang unabhängig voneinander entwickelten Diskurse von Wissenschafts- und Rechtstheorie werden zusammengeführt: Die allumfassende ‚Erkenntnisfähigkeit‘, d.h. das Allwissen Gottes ist Grund des Supremats der Theologie und Ursache einer universalen Gerechtigkeit gleichermaßen. Das Verhältnis des menschlichen Subjekts zu diesem Wissen kann, wie schon gezeigt, nur ein letztlich passives sein. Dies gipfelt bereits in der 43. Stanze in einem radikalen, aber theologisch gut fundierten Aufschub: Da werd ich / euch / die ich itzt schau / Vnd doch nicht weiß zu vnterscheiden / Wie ich voll fester Hoffnung trau Sehn ganz vertufft in Freud vnd Leiden! In Freuden / die kein Sinn’ ersinn’t; In Leid / das Niemand kann ermssen! In Lust / die aller Angst vergessen / In Leid / das nimmer nicht zerrinnt. (ebd., S. 16, v. 337 – 344)
Evidenz darüber, wer in der Tat tugendhaft und wer Sünder ist, kann es nur nach dem Tod geben, in Ansehen des Jüngsten Gerichts. Damit nimmt sich die Theologie in ihrem eigenen, genuin theologischen Erkenntnisanspruch natürlich auch selbst zurück: Wie schon im Dreifaltigkeitssonett ist der Theologie eine Gotteserkenntnis über den Beweis, dass Gott ist, und seine geoffenbarten Selbstauskünfte, wie er ist, hinaus nicht möglich. Eine spekulative oder natürliche Theologie, die sich nicht an die exklusive Autorität der Heiligen Schrift gebunden fühlt, wird abgelehnt. Das schadet allerdings nicht dem hohen Rang der Theologie:
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Erstens nämlich gilt die eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen für alle Wissenschaften und Künste. Zweitens ist die Erkenntnis von dieser Eingeschränktheit wiederum eine theologische. Damit behält die Theologie ihren Führungsanspruch bei. Was dem Menschen hinsichtlich dessen zu tun übrig bleibt, ist zwar in eine Parenthese verschoben, aber dennoch entscheidend für Erkenntnis-, Geltungsund Verhaltensfragen: „Wie ich voll fester Hoffnung trau“. Dem diesseitigen Schauen („euch / die ich itzt schau“) ist sein unzuverlässiger, Unterschiede gerade nicht ausmachender Charakter („nicht weiß zu vnterscheiden“) schon nachgewiesen. Dem Schauen wird nun nicht nur über die Reimform, sondern auch systematisch das Trauen gegenübergestellt: Dieses Vertrauen zeichnet sich durch einen Zugang zum angestrebten Erkenntnisgegenstand aus, der von den Sinnen unabhängig ist und der darin dennoch nicht seinen Nachteil hat, sondern seinen Vorteil gewinnt. Während die Sinneswahrnehmung das lyrische Ich gerade verunsichert hatte, kann das Vertrauen auf die letzthinnige Herstellung der Gerechtigkeit in fester Hoffnung erfolgen. Der Indikativ unterstreicht die Überzeugung, dass im jenseitigen Zustand dem Menschen die Einsicht über Gottes Ratschlüsse zugänglich sein wird: „Da werd ich / euch […] Sehn“. Es ist abermals der zentrale Baustein lutherischer Theologie, dass über die Rätsel des Deus absconditus erst sub lumine gloriae Aufschluss gegeben wird.551 Dass auf das Jenseits nicht nur zu hoffen bleibt, sondern in aller Zuversicht gehofft werden kann, schlägt sich im fest nieder: Das Hoffen auf die jenseitige Einsicht in Gottes Ratschlüsse ist gerade nur in den Begriffen des diesseitigen Denkens epistemologisch unterprivilegiert. Das Festhalten an Hoffnung folgt im Gegenteil einer Überzeugung. Dies stellt nur eine Seite der von Gryphius lyrisch verarbeiteten Drei-LichterLehre dar. Zwar ist es den Kirchhofsgedanken im Wesentlichen um das Potenzial menschlicher Reflexion auf heilsgeschichtliche Fragen zu tun. Die Frage des tätigen menschlichen Verhaltens wird allerdings notwendig mit aufgerufen, und zwar nicht getrennt von, sondern in systematisch-theologischem Zusammenhang mit der Frage der menschlichen Erkenntnis von Gottes Ratschluss. Es geht den Kirchhofsgedanken schließlich nicht um jedwede Ununterscheidbarkeit, nicht um beliebige Phänomene. Das Interesse liegt durchweg auf der Unterscheidung von Rechtsbrechern und Unbescholtenen. Das jenseitsgerichtete Erkenntnisinteresse des lyrischen Ichs ist immer ein ethisches Interesse. Nur konsequent steht in der genauen Mitte des 400 Verse umfassenden Textes die Frage des lyrischen Ichs nach einem ethischen Urteil: „Wehn sol ich hoch / wehn edel nennen?“ (ebd., S. 11, v. 199). Mit der Prekarisierung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit
551 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212.
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in Angelegenheiten göttlichen Rechts geht eine ebenso große Verunsicherung des menschlichen Subjekts darin einher, sich entsprechende Urteile über Andere zu bilden und diese vor allem selbst auszuführen. Denn wie die 47. Stanze deutlich macht, richtet sich dieses Urteil nicht nur auf Verstorbene, sondern ebenso auf noch Lebende: Mithin geht es in diesem vordergründig ganz auf Jenseitsfragen konzentrierten Gedicht auch um bedeutende Fragen diesseitigen Handelns. Die rechtstheologische Basis führt dabei über die offenbarungstheologische Erkenntniskritik hin zu einer neostoischen Ethik auf lutheranischer Basis: Gerade im Hinblick auf Gryphius’ Papinian wurde die altbekannte constantia mit dem Begriff des leidenden Gehorsams zu fassen versucht:552 Im Zweifelsfall korrespondiert dem epistemologischen Gedulden ein praktisches Dulden des zweifelhaften Status quo.553 Gryphius widmet sich solchen Zweifelsfällen, d.h. Ausnahmezuständen, ausgiebig in seinen politischen Trauerspielen. Ein solcher leidender Gehorsam kennzeichnet etwa das papinianische Dilemma, zwischen zwei göttlichen Geboten nicht mehr vermitteln zu können: Papinian darf weder den Brudermord schönreden noch den nach wie vor legitimen Kaiser Bassian stürzen. Das Unterlassen eigener politischer Maßnahmen folgt nicht nur der persönlichen Unsicherheit über das ethische Urteil des menschlichen Subjekts selbst. Es resultiert auch aus dem überzeugungsgleichen Vertrauen in die tatsächliche Geltendmachung des göttlichen Rechts, mithin in den tatsächlichen Vollzug eines rechtlichen Urteils, das nicht mehr eigenhändig zu fällen ist. Die feste Überzeugung, dass die göttliche Strafe tatsächlich stattfindet, ist es schließlich, die den Machiavellismus als gerade unklug begreifen lässt. Ein sich als säkular für möglich haltender Pragmatismus verkennt apriori, dass es sich bei den göttlichen Gesetzen nicht um allein normative Spekulation handelt: In ihrer Geltendmachung, in Gottes Strafvollzug, werden sie zu Tatsachen. Indem Gryphius in der Annahme einer wahren, unfehlbaren Theologie eine unter Gewiss-
552 Z.B. Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste, S. 239. 553 Reiner Strunk betont den schon für Luther selbst bedeutsamen Zusammenhang von Vertrauen und theologischer Ethik: Reiner Strunk: [Art.] Vertrauen I. Ethisch. In: TRE 35, S. 71–73, hier S. 72f.: „Luthers theologische Zentrierung des Vertrauens in der Gottesbeziehung bedeutet freilich nicht, daß Vertrauen ausschließlich für die Glaubenslehre und nicht ebenso für die Ethik relevant wäre. Seine Interpretation von fides durch fiducia erfolgt immerhin in Auslegung des ersten Gebots und damit im Zusammenhang der theologischen Grundlegung einer Ethik der Gebote. Die Entfaltung dieser Gebotsethik in einzelnen Verhaltensregeln intendiert dabei grundsätzlich eine gelingende Kommunikation zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch, die in der Vertrauensrelation des ersten Gebots ihre Basis hat und ihre Zielrichtung findet. So wenig deshalb Vertrauen zu den konkreten Forderungen einer materialen Ethik gerechnet werden darf, so sehr gehört es doch in den Begründungszusammenhang einer theologischen Ethik.“
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heit operierende Klugheitslehre denkbar macht, vermag er genuin prudentielle Erwägungen in Moral- und Rechtstheologie zu integrieren, ohne sie unvermittelt unter einen normativen Primat zu stellen und damit ihres Prudentismus zu benehmen. Gryphius’ hat begriffen, dass die Universalität der Theologie gerade von der Not befreit, die normative Sphäre nur als solche verteidigen zu können: Sie erlaubt hingegen, vom Klugen zu sprechen, ohne damit schon von normativen Kategorien getrennt zu sein. Naturrechtsdenker des sechzehnten Jahrhunderts wie Francisco de Vitoria hatten die Rechtstheologie nur normativ und damit im Grunde gegen jedwede Klugheitslehre verteidigt: Damit hatten auch sie die Trennung von normativer und nonnormativer Sphäre mitgemacht, die in Ansehen der Theologie selbst und ihres umfassenden Charakters gerade unzutreffend ist: Spätscholastische Verteidigungsversuche der Rechtstheologie mussten letztlich erfolglos bleiben, da ihre Distinktionskategorie normativ-nonnormativ bereits zu säkular war. Ihr Fehler lag in der unzulässigen Ontologisierung dieser Distinktionskategorie im Hinblick auch auf Gott und die Theologie selbst. Für den Lutheraner Gryphius zeigte sich darin nur die scholastische Distinktionswut: Sie ging über den Absolutheitscharakter Gottes wie der Theologie hinweg, insofern ihr die Aufhebung dieser Unterschiede in Gott unklar war. Dies ist schließlich die eigentlich inklusive Legitimationsstrategie der Theologie. Sie setzt sich von anderen, vermeintlich säkularen Disziplinen nicht einfach ab im Verweis auf die außerordentliche Dignität eines Gegenstandes. Sie ordnet sich diesen Disziplinen insofern über, als sie sie sich einverleibt. Jurisprudenz, Politik, Ethik usw. sind nur dem Anwendungsbereich, nicht aber der Begründungstheorie nach säkular. Für die politische Ideengeschichte wird damit auch deutlich, dass sich das Luthertum und mit ihm die Zwei-Reiche-Lehre nur eingeschränkt als Motoren der Säkularisierung plausibilisieren lassen: Das weltliche Regiment ist zwar nicht mehr geistlich, sondern säkular institutionalisiert und organisiert. Dennoch aber ist Recht nur auf Basis einer ‚Schul‘ zu haben, die selbst nicht nur ‚in der Welt achtet‘, ja vor der sich eine reine Weltlichkeit nachgerade „entsetzet“. Die Weltlichkeit des vom protestantischen Naturrecht konzipierten Staates ist nur als theonome Säkularität gedacht.
4.4.2 Philosophia perennis? Gryphius und die (Selbst)Limitation der neuen Wissenschaften In Gryphius’ erläuterter ‚Wissenschaftslyrik‘ ist von ewiger Weisheit die Rede und diese Weisheit ist ebenso unüberwindlich wie dem Menschen als ganze unzugänglich. Daher ist zu prüfen, inwiefern Gryphius eine Nähe zum traditionsrei-
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chen Denken der philosophia perennis zu attestieren ist. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat einen systematisch wie historisch umfassenden Umriss dieses Denkens vorgelegt, auf den sich hier ohne Einschränkungen gestützt werden kann.
4.4.2.1 Philosophia perennis und Gryphius’ Begriff von universaler sapientia Gryphius’ Wissenschaftsverständnis steht dem Gedanken einer solchen Weisheitslehre nahe, ohne in der systematischen Begründung den Spiritualismus der philosophia perennis zu teilen. Denn hinsichtlich des Einheitsgedankens von Philosophie und Theologie, wie er für die philosophia perennis charakteristisch ist, hält Schmidt-Biggemann fest: Es ist die Bedingung dieser Wissenschaft, daß sie zwischen Philosophie und Theologie nicht trennt. Philosophia perennis ist Philosophie unter den Rahmenbedingungen der Theologie mit der erklärten philosophischen Absicht, die Theologie zu stützen. Sie will nichts weniger als die Philosophizität der Theologie beschreiben, sie nimmt die Konfrontation von Philosophie und Theologie gar nicht erst wahr. Die Philosophia perennis steht deshalb nicht unter Anklage, sie muß sich nicht verteidigen.554
Übereinstimmungen mit Gryphius finden sich einmal in der sachlichen Ununterschiedenheit von Philosophie und Theologie, zumindest hinsichtlich des grundlagentheoretischen Charakters letzterer. Übereinstimmungen finden sich weiter in der angesprochenen „Absicht, die Theologie zu stützen“. In den übrigen Punkten differieren allerdings sowohl Gryphius’ Problembewusstsein als auch seine Problemlösung. Sie scheinen sogar von einer regelrechten Umkehrung derjenigen Verhältnisse geprägt, wie sie in der philosophia perennis vorzufinden sind: Gryphius stützt erstens die Theologie nicht, indem er „die Philosophizität der Theologie beschreibt“: Er weist umgekehrt die Theologizität wenngleich nicht der Philosophie als solcher, wohl aber ihrer Grenzen nach. Gleichwohl treiben ihn dabei zweitens die wissenschaftlichen Neuerungen dazu, durchaus einen Konflikt zwischen Philosophie und Theologie wahrzunehmen. Wenn daher Gryphius’ Wissenschaftslyrik drittens nichts anderes ist als eine Verteidigung der Idee einer ewigen Weisheit, dann insofern er nachzuweisen sucht, dass die Konfrontation von Philosophie und Theologie sachlich unrichtig ist und auf falschen Annahmen über philosophische und theologische Kategorien gründet. Im Wesentlichen wurde bereits gezeigt, dass diese Annahmen in Gryphius’ Augen deshalb falsch sind, weil sie die absolute, nicht relative Eigenständigkeit
554 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt am Main 1998, S. 49.
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dieser Kategorien behaupten. Gryphius hingegen geht es in seiner Wissenschaftslyrik darum, dass die philosophischen Kategorien und Methoden durchaus zur Anerkennung der theologischen führen, nämlich dort, wo die Philosophie über die Grenzen ihrer eigenen Leistungsfähigkeit reflektiert. Für die philosophia perennis war die Einheit bzw. das Zusammengehen von Theologie und Philosophie im obersten Prinzip und der ersten Ursache der Welt schlicht gesetzt: Sie nahm „die Konfrontation von Philosophie und Theologie gar nicht erst wahr“. Gryphius problematisiert diese einfache, implizite Setzung. Ihren Inhalt aber versucht er durch die Angabe seiner Gründe zu bestärken. Während Gryphius die Existenz einer ewigen wie umfassenden, dem Menschen aber unerreichbaren Weisheit auf der einen Seite affirmiert, kritisiert er auf der anderen den apriorischen Mystizismus ihrer Grundlegung in der philosophia perennis. Diese Gründe entstammen dabei einer philosophisch geleiteten Erkenntniskritik. Theonom ist ‚nur‘ die Setzung des Vorhandenseins der ewigen Weisheit. Gryphius’ Erkenntnis ihrer Unerreichbarkeit für den Menschen ist insofern philosophisch, als sie auf Verstandes- und Sinnesvermögen reflektiert. Gryphius ist also Rationalist und selbst Sensualist genug, um den erkenntniskritischen Wert von Verstand und Sinneswahrnehmung gegen jedwede mystische Tendenz zu würdigen. Dieser sein bloß erkenntnistheoretischer Rationalismus führt Gryphius allerdings noch nicht zu einem metaphysischem Rationalismus, der ihn schließen ließe, dass es die ewige Wahrheit auf Grund ihrer verstandesmäßigen Unzugänglichkeit gar nicht gäbe. Die Existenz der ewigen Weisheit beruht schlicht auf göttlicher Setzung. Hierin schließlich und nur hierin teilt Gryphius ein Fundament der philosophia perennis. Die Unerreichbarkeit der ewigen sapientia wird nicht quantitativ begründet, etwa mit der Kürze des Lebens oder mangelnder Verstandeskapazität. Die ewige Weisheit ist aus qualitativen Gründen nicht zu erreichen: Denn erstens sind das menschliche ingenium und die menschlichen Sinne dem Wesen Gottes apriori inadäquat. Zweitens aber ist die Tatsache, dass die gesetzdurchwirkte Welt gegenüber ihrem Schöpfergott dennoch kontingent ist. Es war unter den neuen Denkern schließlich auch Francis Bacon, der – eigentlich Empirist – diese qualitative Unmöglichkeit behauptet hatte: „God is only selflike, having nothing in common with any creature“.555 Gottes Einmaligkeit macht ihn einem generalisierenden Empirismus von vornherein unzugänglich, da dieser notwendig auf secunda comparationis angewiesen ist (4.3.3.1). Entscheidende Traditionen wie diejenige des für das Luthertum so gewichtigen Augustinus werden dabei unter verkehrte Vorzeichen gestellt: In dessen
555 Bacon: Of interpretation of nature, hier S. 218 [Hervorhebung O.B.].
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Augen macht empirisches Beobachten den Menschen seiner selbst insofern verlustig, als er dafür des Blicks nach innen bedarf – diese Doktrin aus Confessiones X, 8 bildet auch den pointierten Höhepunkt von Francesco Petrarcas Mons Ventosus-Brief.556 Anders als Augustinus erkennt Gryphius’ Wissenschaftsverständnis dem rationalen Denken und empirischen Forschen mehr Wert zu. Im Hinblick auf die Gotteserkenntnis bzw. die Erkenntnis seines Gesetzes aber ist die Natur gerade nicht Erkenntnisquelle: Das ist das augustinische Erbe im Luthertum, wie es Gryphius im neuen Wissenschaftsverständnis gerade nicht widerlegt, sondern rundheraus bestätigt sieht. Die Raum- und Zeitlosigkeit der Gottesinstanz hat notwendig zur Folge, dass sie den räumlich wie zeitlich umschränkten Gegenständen der Schöpfung nicht greifbar innewohnen kann.557 Gryphius übernimmt das schon von Melanchthon depotenzierte Erbe nicht als universal-epistemologischen Augustinismus, sondern als theologischen Augustinismus. Dieser braucht die Autorität der Schrift von den neuen säkularen Erkenntnisansprüchen gar nicht als bedroht anzusehen, solange das rechtstheologische Substrat, nämlich die normative Kraft der Schrift und die Geltungsleistung durch die göttliche Strafinstanz Geltung behält. In diesem Sinne hat man es bei Gryphius’ Wissenschaftslyrik mit einer bemerkenswerten Entwicklungsstufe in der Säkularisierung der Wissenschaftsphilosophie zu tun: Die Feststellung einer theonomen sowie dem Menschen unerreichbaren Universalweisheit ist ohne Zweifel konservativ. Es ist allerdings nunmehr die Philosophie selbst, die diese Limitation ihrer Mittel mit diesen Mitteln zu erkennen vermag: Die Philosophie ist zwar noch beschränkt, sie ist dies jedoch nicht mehr per definitionem aus theologischer Doktrin, sondern weiß darum per exercitium ihrer selbst.
556 Aurelius Augustinus: Confessiones. Lat.-dt. Übers. u. hg. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf 2004 (Sammlung Tusculum), S. 442, X, 8: „eunt homines mirari altra montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos“. Francesco Petrarca: Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten. Übers. u. hg. von Berthe Widmer. Bd. 1. Berlin, New York 2005, S. 185. 557 Vgl. auch Augustinus: Confessiones, S. 433–435, X, 6: „amo […] amplexum interioris hominis mei, ubi fulget animae meae, quod non capit locus, et ubi sonat, quod non rapit tempus […]. hoc est, quod amo, cum deum meum amo. et quid est hoc? interrogavi terram, et dixit, non sum. et quaecumque in eadem sunt, idem confessa sunt. interrogavi mare et abyssos et reptilia animarum vivarum, et responderunt, non sumus deus tuus. interrogavi auras flabiles, et inquit universus aer cum incolis suis, fallitur Anaximenes; non sum deus. interrogavi caelum, solem, lunam, stellas: neque nos sumus deus, quem quaeris, inquiunt. […] homines autem possunt interrogare, ut ‚invisibilia dei per ea, quae facta sunt, intellect conspiciant‘, sed amore subduntur eis et subditi iudicare non possunt“ [Hervorhebungen O.B.]. Vgl. Norbert Fischer: Augustins Weg der Gottessuche. ‚foris‘, ‚intus‘, ‚intimum‘. In: Trierer Theologische Zeitschrift 100 (1991), S. 91–113.
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Die docta ignorantia ist bei Gryphius eine zweifellos fromme, jedoch keine verfügte mehr. Gelehrt an dieser Unwissenheit ist nicht mehr nur die Beflissenheit im Bereich dessen, was zu wissen übrig bleibt, sondern gelehrt ist nunmehr auch die Herleitung ihrer Tatsache: Die Unwissenheit hat bestimmte und auch bestimmbare Gründe. In der Tat ist es die Erkenntnis, dass etwas qualitativ nicht mehr gewusst werden kann, und keine Verfügung mehr, dass etwas normativ nicht gewusst werden soll. Wer meint, das dem Menschen zugängliche Wissen über seine sachlichen Grenzen hinaus transzendieren zu können, ist bei Gryphius weniger mehr nur ein Häretiker, der sich der Hybris schuldig macht, sondern ein Narr. Er ist weniger nur ein schlechter Christ als vielmehr auch ein schlechter Philosoph. Dass dies homolog für die Staatslehren und die prudentia civilis bei Gryphius zu gelten hat, wird im Folgenden detaillierter aufzuweisen sein. Im Kern kann diese These wie folgt formuliert werden: Gryphius verteidigt die Geltung des fundamentalen Theologems von der Unerreichbarkeit von Gottes Wesen und Wissen nicht mehr dogmenschwer gegen die Philosophie, sondern er ergründet es mit der Philosophie. Entsprechend geht es Gryphius’ staatsrechtlichem Denken um den Nachweis, dass ein von göttlichem Recht und göttlicher Strafe kategorisch absehender Prudentismus nicht nur amoralisch, sondern gerade auch unklug ist.
4.4.2.2 Gryphius’ Kircher-Rezeption und Kritik einer Universalwissenschaft: Ein Widerspruch? Verwirrung vermag Gryphius’ affirmative Rezeption Athanasius Kirchers stiften: Kircher ist in Gryphius’ Leichabdankungen mit vier Nennungen die namentlich meistzitierte Autorität.558 Dessen Geschichte machender universalwissenschaftlicher Ansatz gilt als synkretistisch und steht daher dem expliziten Verdikt Gryphius’ gegen den Synkretismus scheinbar unversöhnlich gegenüber, das sich in der Leichabdankung Uberdruß menschlicher Dinge auf Adam Henning (1655) findet. Zum Verständnis dieser Rezeptionshaltung bedarf es eines differenzierteren Blicks sowohl auf Kirchers Werk als auch auf das gryphsche Denken. Letzteres wurde hier bereits entsprechend entfaltet und wird auch noch entsprechend zugespitzt werden. Kirchers wissenschaftliches Denken und Wissenschaftsdenken – was gerade bei Gryphius nicht dasselbe ist – können hier ohne Zweifel nicht im Entferntesten angemessen ausgebreitet werden. Hier kann es nur um den Hinweis gehen, dass Kirchers universalwissenschaftlicher Ansatz keineswegs von der Magie oder gar dem Okkultismus geprägt ist, welche die Kircher-
558 GdW 9, S. 82, 114, 135, 173f.
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Forschung lange Zeit vermutete. Bereits Barbara Bauer kritisierte diese „Stilisierung Kirchers zur tragischen Figur des Verlierers im Prozeß der neuzeitlichen Emanzipation der Einzelwissenschaften aus der Oberherrschaft der Theologie“ und sah deren Ursache zurecht in „einer einseitig-eklektischen Lektüre aller derjenigen Schriften Kirchers, die Magisches im weitesten Sinne berühren“.559 Vielmehr erinnert schon Bauer daran, „daß man Kircher auch ganz entgegengesetzt als empirischen Naturwissenschaftler verstehen kann, der sich entsprechend dem Wissenshorizont seiner Zeit bemühte, theoretische Begriffe, die durch eine hermetische oder alchemistische Tradition vorbelastet waren, mit einem neuen empirischen Sinn zu füllen“.560 Thomas Leinkauf korrigiert schließlich die von Bauer angemahnten Fehler, die eine eklektische Lektüre in der Philosophiegeschichte hinterlassen hat, und vermittelt Athanasius Kircher in den seinem Werk allein adäquaten Differenzierungen. Leinkauf unterschlägt freilich nicht, dass „[d]ie Indifferenzierung von Sache und Methode […] zum intrinsischen Problem universalwissenschaftlicher Theorien und deren Umsetzung seit R[aimund] Lull“ gehört.561 Daher nähert sich Leinkauf dem Vorhaben Kirchers mit besonders aufmerksamem Blick dafür, inwieweit der Anspruch dieser Universalwissenschaft im Hinblick auf das menschliche Wissenssubjekt denn tatsächlich statthat. Gleichfalls macht Leinkauf besonders anhand des Iter exstaticum (1656) deutlich, dass auch und gerade das menschliche Wissen begrenzt, allemal also ein „Konfinium menschlichen und göttlichen Wissens präsent“ gehalten wird.562 Gerade „das kühnste hypothetische Extrapolieren“ wird, „wenn es durch den ekstatischen Blick haltbar erscheint, als nur im göttlichen Intellekt sicherbares Wissen und nur durch das Syndrom Offenbarung/ Evidenz zugängliches Wissen erwiesen“:563 Eben darin hat Kirchers Vorhaben von Universalwissenschaft mit Gryphius’ Verständnis von allgemeiner Weisheit mehr gemein, als es Gryphius’ Synkretismus-Kritik und ein verzerrtes Bild von Kirchers Wissenschaftsphilosophie prima vista vermuten ließen.
559 Barbara Bauer: [Rez. v.] John E. Fletcher (Hg.): Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. In: Arbitrium 9 – 1 (1991), S. 59–62, hier S. 60. 560 Ebd. Bauer stützt sich dabei auf William Hine: Athanasius Kircher and Magnetism. In: Athanasius Kircher und seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. Hg. von John E. Fletcher. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 17), S. 79–97. 561 Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). 2., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl. Berlin 2009, S. 29. 562 Ebd. Der iter exstaticum hat insofern, um mit Barbara Bauer zu sprechen, etwas Faustisches an sich: Bauer: Nicht-teleologische Geschichte der Wissenschaften, S. 24. 563 Leinkauf: Mundus combinatus, S. 29 [Hervorhebungen im Text].
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Ihren Unterschied haben die Positionen Kirchers und Gryphius’ in der Begründung dieser jeweiligen Exklusivität göttlichen universalen Wissens. Für Gryphius ist vor allem der Voluntarismus leitend, insofern die ersten Prinzipien der Welt als rein willentliche Ratschlüsse Gottes gar nicht intelligibel sein können. Bei Athanasius Kircher hingegen herrscht ein theologischer Intellektualismus vor. Die „eingeschränkte menschliche Optik“ findet ihre Scheidewand nicht an einer überhaupt jenseits von Erkennen liegenden Willentlichkeit, sondern an der „Tiefenschärfe des idealen Intellekts“.564 Damit präsentiert sich Kircher zum Einen als Forscher, der sich der Herausforderung empirischer Sinnfüllung der Einzeldisziplinen in der Weise stellt, wie es Bauer nahelegte. Zum Anderen erscheint er auch als Denker, der in dieser allein einzelwissenschaftlichen Sinnfüllung gerade keine Verunmöglichung einer universalwissenschaftlichen Kategorien- und Ansatzbildung sieht: Diese liegt ohnehin beim idealen und somit nur göttlichen Intellekt. Sinnfällig wird dies im ‚Magnetismus‘, dessen Prinzip Kircher seinen Be obachtungen nach in der ‚Einheit der Gegensätze‘ sieht und welches er zum „Erklärungsmodell aller Wissenschaften“ erhebt.565 An der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung anorganischer wie organischer Körper und Dinge, d.h. eben auch von Lebewesen,566 macht Kircher seine fundamentalen Begriffe von Sympathie und Antipathie fest. In Kirchers Formulierungen lässt sich ein ansatzweise vorhandenes, wenn auch eingeschränktes induktiv-empirisches Moment nicht übersehen: Seine Formulierungen arbeiten sich doch sehr behutsam am allemal Beobachtbaren entlang, dass sich nämlich Dinge genauso wie Lebewesen einander nähern und voneinander entfernen.567 Für die Interpretation der gemachten Beobachtungen leitend und insofern von einem echten Empirismus entfernt ist schließlich die immer schon aufgewandte Terminologie von appetitus und appetere: Sie prädisponiert die magnetistische Systematisierung, insofern sie im Rahmen einer petitio principii eine andere Rede als die von Anziehung und Abstoßung gar nicht zulässt (etwa diejenige von Impuls, steter Bewegung und
564 Ebd. 565 Jürgen Mittelstraß: [Art.] Kircher, Athanasius. In: EPhW 2, S. 397–400, hier S. 398. 566 Athanasius Kircher: Magnes siue De Arte Magnetica. Rom 1641, S. 751–773 (lib. III, pars VI Ζωομαγνετισμὸς, ìdest, De Magnetica facultate, siuè magnetismo Animalium). 567 Ebd., S. 751 (lib. III, pars VI, cap. VI): „Triplicem Magnetismi rationem in animalibus reperio, vel enim est appetitus, quo certo loco & regioni quouis animal ita alligatur, vt extra eam viuere non possit; Secundò est vis quædam in animalibus, qua simile trahit sibi simile, quod est fundamentum omnis sympathiæ, & antipathiæ animalium cum animalibus, alijsq; rebus. Tertiò, specifica quædam virtus, siue dos quædam particularis à tota substantia promanans, vis inquam magnetic, qua aliud corpus naturaliter appetit.“
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Gegenbewegung/Gegenimpuls; vgl. 4.3.4.1). Die generalisierende Beschreibung der Näherungen und Entfernungen von Dingen als Anziehungen und Abstoßungen ist voraussetzungsvoll. Daher wird auch die Universalität des Magnetismus gefolgert, mithin unter theistischen Vorzeichen die Einheit der Gegensätze als denknotwendig angesehen. Das Aufgehen von Sympathie und Antipathie in der „absoluten Einheit“568 Gottes erfolgt vor theologischem Hintergrund genauso, wie er auf diesen Hintergrund bekräftigend zurückverweisen soll. Der zeitgenössischen Philosophie vor Hobbes stand gerade noch kein reifes an-entelechisches Begriffsinventar zur Verfügung (vgl. 4.3.4.1).569 Die (theo-)teleologische Erklärung von Anziehung und Abstoßung war also mangels etablierter Alternativen gleichsam unumgänglich. Daher darf nicht geringgeschätzt werden, wie sehr Kirchers Magnetismus tatsächlich beobachtungsgeleitet ist. Im prinzipiell teleologischen Begriffsrahmen konnten diese Beobachtungen schlechterdings nicht anders, als auf Gott als das eine Telos, den einen Anziehenden, den einen Magneten hinzuweisen: Ebenso begreift es später Gryphius in der Magnetischen Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen (GdW 9, S. 70). Kircher selbst prägt dafür vor allem den Begriff der Weltseele.570 Andreas Gryphius nimmt gerade den empirischen Naturwissenschaftler Kircher wahr. In seinen Leichabdankungen zitiert er zweimal dessen so wichtige Magnetlehre, zweimal die Lehre Kirchers von Licht, Lichtbrechung und Schattenwurf. Es lässt sich dabei feststellen, dass Gryphius die naturwissenschaftlichen Sätze Kirchers nicht durchweg metaphorisch, allegorisch oder anderweitig
568 Leinkauf: Mundus combinatus, S. 320. 569 Vgl. Riedel: Kausalität und Finalität in Hobbes’ Naturphilosophie, sowie Stephan Schmid: Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen. Berlin, New York 2011 (Quellen und Studien zur Philosophie 99). 570 Vgl. Mittelstraß: [Art.] Kircher, Athanasius, S. 398, dies natürlich mit den entsprechenden Zweideutigkeiten, diese Weltseele als natürlich-immanent, göttlich-transzendent oder natürlich-göttlich gleichermaßen aufzufassen, wie Leinkauf: Mundus combinatus, S. 54, deutlich macht: „Gerade ein nicht mechanistisches Verständnis des Naturganzen mußte die relative Eigenständigkeit und damit Substantialität eines organisierenden Prinzips immer wieder betonen und zwar gerade dann, wenn es zugleich galt, eben dieses Prinzip – als instrumentum resp. ars – immer intensiver als innere Kraft zu denken. Denn als solche innere Kraft mußte sie als ein gegenüber den einzelnen Kraftäußerungen, den konkreten verschiedenen Naturprozessen, ein selbst Nicht-Einzelnes, Allgemeines bleiben, für das es streng genommen keine ontologische Position mehr gab“ [Hervorhebungen im Text]. Vgl. besonders ebd., Anm. 36: „Als ‚Inhalt‘ zur Besetzung dieses Allgemeinen bot sich daher entweder das absolute Naturprinzip selbst (Gott) an oder zumindest das, was man als dynamisches Wirkpotential, als göttlichen Mandatsträger bezeichnen könnte: Natur als ars Dei oder virtus/ potestas Dei.“
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bildspendend auf seinen eigentlichen Gegenstand appliziert.571 Gryphius erfasst diese Sätze ihrem zeitgenössischen, naturwissenschaftlich-empirischen state of the art gemäß. Gerade mit Blick auf die genannte Leichabdankung Magnetische Verbindung des Herrn Jesu darf nicht für ausgemacht gelten, dass Gryphius den Magneten nur als Bildspender verwendet, d.h. bloß als äußerlichen und somit nur rhetorischen Vergleich, der über ein weitgehend unbestimmtes Anziehungsprinzip als dem tertium comparationis funktionierte und daher keine sachliche systematische Relation anzeigte.572 Zwar legen Gryphius’ Formulierungen prima vista eine dergestalt allein vergleichende Inbezugsetzung nahe: Wie nun der Magnet dem Eysen seine Krafft mittheilet: Eben so hat man verspret daß der HErr die Seele unserer nunmehr seligsten Jungfrauen Mariane und gleicher Begierde entzndet / daß sie nach nichts als dem verlanget / der einig nach ihr getrachtet. (GdW 9, S. 65 [Hervorhebung O.B.])
571 In seiner ersten Bezugnahme auf Kircher in Folter menschlichen Lebens (1648) nimmt Gryphius einen Bericht Kirchers auf, wonach in einer Schlangenhöhle nahe Rom „die Ausstzigen und mit schweerenden Kranckheiten angesteckte Leiber von den Nattern umschlinget und belecket / und durch solches Mittel von ihrer Abscheuligkeit gereiniget / und von Grundaus geheilet“ werden (GdW 9, Folter menschlichen Lebens, S. 173f.). Die von Gryphius selbst nicht genau bibliographierte Stelle findet sich in Kircher: Magnes siue De Arte Magnetica, S. 802– 806 (lib. III, pars VII, § 11 De spelunca serpentum & mirabilibus eius). Zweitens wird in der Leichabdankung Winter-Tag Menschlichen Lebens (1653) die Eigenschaft von Rauch, Schatten abzubilden, „aber wegen der steten Bewegung“ dennoch zu verzerren, mit einem Charakteristikum des Neides verglichen, nämlich „die Tugenden berhmter Gemther“ durchaus zu erkennen, „aber selbe andern (wie unsaubere Spiegel) gantz verkehrt und schrecklich“ vorzustellen; Kircher wird hier aus seiner Ars magna lucis et umbrae von 1646 zitiert (GdW 9, Winter-Tag Menschlichen Lebens, S. 114). Das gleiche Werk Kirchers wird in der Leichabdankung Uberdruß menschlicher Dinge (1655) zitiert, wo Gryphius drittens Schattenbilder und Ruhm auf ihre – einmal lichtphysikalische, mal diesseitig-irdische – Einseitigkeit hin vergleicht; genauso wie das Bild jenseits des Schirms, im Dunkeln nicht mehr existiert, so besitzt Ruhm jenseits des Todes keine soteriologische Relevanz (GdW 9, Uberdruß menschlicher Dinge, S. 135). Schließlich wird viertens die „vereinigende Krafft“ von Magneten und Jesu Christi dergestalt verglichen, dass Gryphius titelgebend von der „Magnetischen Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen“ (1660) spricht; Athanasius Kircher wird mit seinem astronomischen Itinerarium extaticum (1656) zitiert, wonach auf die Erde gefallenes Mondgestein alsbald wieder an seinen Ursprungsort gezogen würde (GdW 9, Magnetische Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen, S. 82). 572 Z.B. Misia Sophia Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz. Überlegungen zur Magnetbildlichkeit in der Leichabdankung ‚Magnetische Verbindung des HErrn JESV / und der in Jhn verliebten Seelen‘ von Andreas Gryphius. In: Daphnis 38 (2009), S. 9–37, behandelt die gryphsche Anwendung des Magnetismus auf christlich-seelische Aspekte nur als metaphorisch (besonders S. 14–21).
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Es bildet auch diese Verstrckung des Magnets durch das Eysen die Vereinigung der Menschlichen Natur mit der Gttlichen an unserm Heyland ab. (ebd., S. 70 [Hervorhebungen O.B.])
Als bloß bildspendend und bloß vergleichend darf allerdings nur die Applikation des Ferromagnetismus auf das seelische Angezogensein zu Christus gelten. Damit ist jedoch noch nicht ausgemacht, dass ein allgemeiner Magnetismus, dessen der Ferromagnetismus auch bei Kircher nur ein Teil ist, bloß metaphorisch auf die Attraktion von Psyche und Herr Jesus angewandt würde. Ferromagnetismus und animalischer bzw. seelischer Magnetismus sind als zwei unterschiedene Besondere auf einander tatsächlich nur in Form uneigentlicher Rede zu bezeichnen. Im Magnetismus überhaupt jedoch haben sie ihr gemeinsames Allgemeines. Auf dieses wird der seelische Magnetismus nicht metaphorisch, allegorisch oder sonstwie nur bildlich bezogen, sondern er gehört ihm de re systematisch zu.573 So spricht schon Hans-Jürgen Schings zu Recht, wenn auch unter Aufwendung anderer, nämlich testamentlicher und theologiehistorischer Argumente, von der „objektiven Verbindlichkeit“ der „Gleichung Christus-Magnet“574 und nicht etwa von einer rhetorischen Bildlichkeit eines Vergleichs. Gryphius nimmt die einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse Kirchers auf, nicht aber den tatsächlichen Gedanken einer menschenmöglichen Universalwissenschaft: Auch ein ekstatisch-fingierter Blick in den göttlichen Intellekt, wie er bei Kircher ‚möglich‘ bleibt, verbietet sich dem theologischen Voluntaristen. In der Dissertatio funebris Uberdruß menschlicher Dinge erklärt Gryphius die Theologie zur höchsten der Wissenschaften, beobachtet aber auch innerhalb ihrer selbst Streitigkeiten: Und was sollen wir sagen / wenn wir alle Wissenschaften durchgehen / welche ist wol hher als diese / die uns GOTT selbst entdecket / und die den Weg zu einem unsterblichen Leben zeiget? Wer ist aber der nicht erkenne / daß wir ihre verborgene Geheimnß nur als in einem Spiegel schauen / wie viel Zwietracht und Uneinigkeit findet sich allhier / in dem schier ieweder seine eigene Gedancken und Glossen dem ausgedruckten Wort vorzeucht. (GdW 9, S. 132)
573 Natürlich erinnert Doms zu Recht daran, dass zu bedenken wäre, „[o]b die Ähnlichkeit des Magneten mit dem Menschen in den einzelnen hier [i.e. aus dem Artikel von Zedlers UniversalLexicon] angeführten Zitaten erst durch die zu seiner Beschreibung gewählten Begriffe zustande kommt (d.h. durch eine bewusst oder unbewusst anthropomorphe Darstellungsweise generiert wird)“: Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz, S. 11. 574 Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Köln, Graz 1966 (Kölner germanistische Studien 2), hier S. 105. Gerade auf Schings bezieht sich Doms jedoch in extenso: Doms: Die ‚Wirklichkeit‘ der Transzendenz, z.B. S. 21f.
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Hiermit reicht Gryphius natürlich in den Toleranzdiskurs hinein – mit einem, wie Rainer Forst deutlich gemacht haben dürfte, bedingt erfolgreichen Ansatz: Denn schon Gryphius’ Problemsicht legt den lutheranischen Lösungsweg als den Königsweg nahe, schließlich verdanke sich aller Dissens in theologischen Fragen der Abweichung vom sola scriptura-Prinzip. Doch um die Validität von Gryphius’ irenischem oder gar Toleranzdenken hat es hier nicht zu gehen. Für sein Wissenschaftsverständnis ist entscheidend festzuhalten, dass Gryphius als Lösung des theologischen Konfliktproblems den Synkretismus575 gerade ausschließt, und zwar mit einem Argument, das in Gryphius’ Augen für die Theologie genauso gilt wie für andere Wissenschaften: Mit kurtzem / es bleibet darbey / daß der allein Weise der Menschen Weisheit verlache / und daß sich die Theologi vergebens mit dem Syncretismo, die Rechtsgelehrten umsonst mit richtiger Vergleichung der Antinomiarum, die Medici sonder Furcht mit dem Universal, die Politici sonder Fortgang mit der allgemeinen Monarchi, die Geometræ mit der Qvadratura Circuli, die Mechanici mit dem Mobili perpetuo, die Chymici mit ihrem Lapide bemhen / daß ich nicht erwehne / wie offt grosse Wissenschafft mit einem geringen Urtheil und schlechten Verstande vermhlet. (ebd., S. 133)
In allen aufgezählten Wissenschaften verortet Gryphius bestimmte Fundamentalprobleme, die er für den Menschen als unauflösbar ansieht. Sie sind dem „allein Weisen“, nämlich Gott, zugänglich, schlicht weil er sie in seinem absoluten, dem Verstand nicht einsichtigen Willen gesetzt hat, wie die Analyse des DreyfaltigkeitSonetts (4.3.1) zeigte. Gott hat die Gesetze der jeweiligen Disziplin – theologische Dogmen, Naturgesetze, Naturrecht etc. – ebenso wie ihre Aporien und Unauflösbarkeiten gestiftet. Von besonderer Relevanz ist hier natürlich die Bedeutung dieses Denkens für die Rechtslehre, wie sie Gryphius explizit benennt: „Es bleibet darbey […] daß sich […] die Rechtsgelehrten umsonst mit richtiger Vergleichung der Antinomiarum […] bemhen“ (ebd.). Andreas Gryphius befindet auch 1655 die grundlegenden Normen des göttlichen Rechts für einander unvermittelbar. Das göttliche Recht ist zwar universal, aber es ist nicht konsistent. Es konfligieren vor allem
575 Wie Rainer Forst in seiner kritischen Argumentationsgeschichte aufzeigt, sind reduktive Konzeptionen von Toleranz tatsächlich und aus anderen Gründen als dem gryphschen zum Scheitern verurteilt. Ist zwar die Intention, in den Grundlagendogmen die entscheidend einheitliche Basis zweier oder mehrerer im Dissens befindlicher Konfessionen zu suchen, vordergründig tadellos, so muss dennoch schon an dem Punkt der Dissens von Neuem und um so heftiger ausbrechen, wo eine der anderen Konfliktpartei auferlegen möchte, was diese als fundamentales Dogma, was als bloßes Adiaphoron anzusehen habe: Forst: Toleranz im Konflikt, S. 137–142.
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das allein Gott verpflichtete Souveränitätsrecht einerseits und andererseits die Herrscherpflicht zur Einhaltung des göttlichen Rechts: Diese stehen einander antinomisch gegenüber, weil ein Widerstandsrecht (zu Lasten des Herrscherrechts, zu Gunsten der Herrscherpflicht) ebenso wenig angedacht wird wie ein tatsächlicher, hobbesscher Absolutismus (zu Gunsten des Herrscherrechts, zu Lasten jeder Herrscherpflicht). Für das göttliche Recht bedeutet das im Hinblick auf seine Geltendmachung nichts anderes, als dass es letztlich nur von Gott geltend gemacht werden kann. Nur so wird die Antinomik von absolutem weltlichem Herrschaftsrecht und Herrscherpflicht zwar nicht aufgelöst, aber ihrer praktischen Brisanz benommen.
4.4.3 Gryphius’ lateinische Epik und Melanchthons privatio: Notwendigkeit, Ort und Status des Bösen Die obligationstheoretische Frage hat sich daher zugespitzt und lässt sich präziser fasen: Inwiefern sind göttliche Normen nicht nur different für menschliches Rechtsempfinden, sondern unmittelbar für das menschliche Handeln? In einem insgesamt theologischen Denken liegen die Bestimmungsgrundlagen dessen jenseits der speziell rechtlichen und politischen Erwägungen selbst: Gottes Haltung zu Recht und Unrecht gründet allein in seinen Willensentscheidungen, die Bestimmungen von Recht und Unrecht überhaupt zu setzen. Dies ist nicht wenig problematisch, schließlich ist im abrahamitisch-abendländischen Diskurs Gottes Befürwortung des Guten/Rechten bzw. seine Ablehnung des Bösen/Unrechten ebenso mitgedacht wie die Schöpfung allen Seins und seiner Bestimmungen allein durch ihn, d.h. auch derjenigen des Bösen und Unrechten. Wie jedoch dieses Böse bzw. Unrechte nunmehr ins Sein kommt, wie und besonders von wem es verursacht wird: dies zu denken führt zu dilemmatischen Konflikten mit Gottes Güte. Prominenter Maßen versuchten der Manichäismus und die Gnosisphilosophie, Gottes Allmacht bzw. seine Alleinursächlichkeit mit seiner Güte vereinbar zu denken (4.3.1). Ihr Schicksal zeugt nicht nur von diesen systematisch-theologischen Konflikten. Sie zeugen auch vom diskursiven Konfliktpotential, das sich erst mit den Lehren der Manichäer bzw. der Gnosis voll auftat und das Blumenberg diese zurecht zu wiederholten Protagonisten seiner philosophiegeschichtlichen Darstellungen machen lässt: Ihr Versuch, Gottes Güte durch die Verursachung des Bösen durch einen differenten Demiurgen zu verteidigen, führte zum Vorwurf des Poly-, allemal des Bitheismus: Sie sprächen Gott die Allmacht ab. Die Sprengkraft dieser Problematik auch und gerade für Staatsrechtslehren war deren frühneuzeitlichen Protagonisten durchaus bewusst. Dies zeigt u.a. das Beispiel Jean Bodins, der in seiner Dæmonomania
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Magorum (1580) die Herkunft des Bösen ebenso wie Melanchthon und Gryphius privationistisch erklärt.576 Das vor- und frühmoderne menschliche Rechtsdenken war mit allmachtsund schöpfungstheologischen Fundamenten verbunden, die dieses Denken nicht nur untermauern sollten, sondern auch selbst erschüttern konnten. Es ist daher kein Zufall und abermals kein poetisches Belieben, wenn ein poeta doctus wie Andreas Gryphius epische Darstellungen der göttlichen Bestrafung menschlichen Unrechts verbindet mit Darstellungen der göttlichen Haltung zum und der göttlichen Verursachung des Bösen überhaupt: Die Rede ist von seinen lateinischen Epen Herodis Furiae & Rahelis lachrymae (1634), Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus (1635) und Olivetum libri tres (1648). In der barocken Tragödie hätten göttliche wie teuflische Gestalten höchstens per analogiam, nicht aber unmittelbar auftreten können. Die Trauerspielbühne war cum grano salis dem menschlichen Handlungspersonal vorbehalten. Daher ist es ein Glück für die Gryphiusforschung, dass es unmittelbaren poetischen Darstellungen von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Gut und Böse aus Gryphius’ Feder gibt: Sie erlauben anders als seine Trauerspiele einen direkten Einblick, wie Gryphius erstens das Verhältnis von Gut und Böse konzipiert, zweitens das Zustandekommen und Wirken des Bösen denkt und drittens Gottes Bestrafung des Bösen begreift. Direkt ist dieser Blick dadurch, dass Gott genauso wie der Teufel in den Herodes-Epen und dem Olivetum in unmittelbare Erscheinung treten. Damit ist die vorgenannte poetische Beliebigkeitsfrage wieder aufgenommen: Gryphius lässt den Teufel als Verführer des Herodes bzw. des Judas und Gott als Bestrafer der beiden auftreten. Damit stellt sich ihm im Rahmen der zeitgenössischen Nöte sowie einer (rechts)systematisch ambitionierten Theologie zwingend auch die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Teufel. Um sein eigenes Interesse willen konnte Gryphius gar nicht umhin, die Figuren Gott, Teufel und menschlicher Missetäter in einem Dreiecksverhältnis proprio sensu darzustellen: Es handelt sich nicht bloß um zwei zwar parallele, aber weitgehend voneinander isolierte Figurenkonstellationen Mensch-Gott und Mensch-Teufel. Diese Konstellationen generieren nicht etwa erst aus dem dichterischen Genie, sondern sind
576 Jean Bodin: De la Démonomanie des Sorciers. Paris 1581,f. 4r–5r, besonders f. 4r–v: „[I]l y ayt iniquité en Dieu, comme faisoit Manes Persan chef des Manicheans, lequel pour euiter, comme il disoit, l’absurdité que le mal vint de Dieu, s’il confessoit qu’il eust creé sathan maling par nature: ny pareillement que Dieu eust creé sathan en perfection, qui par consequēt ne pouuoit pecher, (comme il disoit) ne degenerer en nature maligne, & peruerse: posa deux principes égaux en puissāce & origine: l’vn principe de bien, l’autre du mal: qui est la plus detestable Heresie, qui fut onques, & de laquelle S. Augustin s’est departy, disant que le mal n’est que priuation de bien […].“
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für Gryphius der systematisch-theologischen Sache nach notwendig. Insofern kann hier auch Aufschluss gewonnen werden für die Interpretation der politischen Trauerspiele: Gott und Teufel treten dort zwar nicht als Figuren auf wie im Epos. Ihre theologisch-systematische Bedeutung als Sachrelationen gilt jedoch hier wie dort. Denn in den Epen genauso wie in den politischen Trauerspielen ist die Frage nach der Geltung göttlichen Rechts systematisch bestimmend. Das Wie der poetischen Figurenkonstellationen ist fremdbestimmt aus den Sachrelationen der leitenden theologischen Lehre. Poetischer Konvention folgt ‚nur‘ das Ob ihrer unmittelbaren Darstellung. Wenn daher die Darstellung dieser Sachrelationen als Figurenkonstellationen in den Trauerspielen ausbleibt, darf hiervon nicht auf die Hinfälligkeit ihrer hintergründigen Geltung und Bedeutung geschlossen werden. Umgekehrt ist die handlungstragende Relevanz der Sachrelationen sehr wohl auch dort zu veranschlagen, wo sie den Gesetzen der tragischen Gattung nach nicht als dramatis personae figuriert werden, – und zwar sobald die Geltung dieser Sachrelationen beim Dichter Gryphius unter gleichen Voraussetzungen (dem juridisch-politischen Diskurs) nachgewiesen ist. Ebendiesen Nachweis erlauben die drei lateinischen Epen: Indem sie die Gott-Mensch-Teufel-Relationen offen darstellen, erleichtern sie den Zugang zu einem juridisch wie politisch fundamentalen Zug von Gryphius’ Denken, der auch den Hintergrund der politischen Trauerspiele bildet. Klaus Kipf hat jüngst das frühe politische Interesse gerade an Herodes als Tyrann bzw. Wüterich (frmhd. wuoterich, wuetrich, wüetrîch) betont.577 Dementsprechend kehren auch Gryphius’ Herodes-Epen das außerordentliche Unrecht, das von einem Souverän begangen und von Gott bestraft wird, schon im Titel hervor: Der „Wut des Herodes“ („Herodis Furiae“) antwortet „der Sturm des strafenden Gottes“ („Dei Vindicis Impetus“). Das erste Epos umreißt das juridische Problem des Ausnahmezustandes: Mit Herodes handelt gerade der irdische Souverän und Gesetzgeber selbst wider göttliches Recht. Das zweite Epos nimmt die Lösung dieses Problems in den Fokus, nämlich Gottes eigenhändige Geltendmachung seines Rechts. Gott tritt allerdings nicht erst im zweiten Epos in Erscheinung. Die wesentliche Anlage von Problem und Lösung ist schon im ersten Epos zu finden. Diese Anlage kann wie folgt umrissen werden: Der Luzifer-Akolyth Beelzebub578 verwendet Herodes als Instrument, um Gottes Sohn im Vollzug eines
577 Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses, S. 38. 578 Zur Tradition einer bestimmten Hierarchie der gefallenen Engel vgl. Isabel Grübel: Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München 1991 (Kulturgeschichtliche Forschungen 13), S. 39–42.
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ganz Betlehem erfassenden Kindermordes zu töten. Luzifer erkennt sehr richtig, dass Gott mit seiner Menschwerdung die zweite Strafhandlung gegen den gefallenen Engel seit dessen Verbannung aus der Himmelsburg anzielt: Die Höllenwesen sollen ihr Wirken endgültig nicht mehr eigenmächtig von der Hölle auf die ‚Oberwelt‘ ausdehnen. Es wird also nicht nur Herodes’ Verstoß gegen das fünfte Gebot verhandelt, sondern auch das ursprüngliche Vergehen des Teufels sowie wie dessen Herkunft und seine positive, von Gott ihm zugedachte Funktion: Luzifer ist wie auch die himmlischen Engel ein Geschöpf Gottes und seine Aufgabe ist die Marter der Sünder nach dem Tod. Er ist das jenseitige Strafinstrument Gottes gegen das Unrecht. Sein höllisches Wirken ist rundheraus gottgewollt. Sein Verbrechen besteht in der Versuchung des Menschen zur Sünde. Wenn nunmehr von Beginn an klar ist, dass der Teufel als gleichzeitig Bestrafter und Bestrafender in Gottes Dienst steht, so ist vorgezeichnet, dass sein erneutes, unerhörtes Verbrechen gegen den Gottessohn wiederum Gott selbst als Strafenden auf den Plan rufen wird: gegen Herodes und gegen Luzifer. Jedoch wird Herodes’ Schuld am Kindermord dadurch nicht relativiert, dass er von Beelzebub dazu verführt wurde, sondern seine Schuld behält ihr Gewicht bei, ohne zur bloßen ‚Beihilfe‘ zu schrumpfen. Daher muss ein bestimmes Verständnis von Verschulden unterstellt werden, wie es offensichtlich speziell gegenüber den göttlichen Gesetzen vorliegt und das weder nach einem simplen Verursacherprinzip noch nach einem ebenso einfachen Schuldunfähigkeitsprinzip veranschlagt werden kann. Auch der Olivetum, obwohl er weder das juridische Problem noch seine Lösung titelgebend macht, täuscht von Beginn an nicht darüber hinweg, dass dieses Problem auch hier zentral ist. Zwar bilden unbestritten die Passion Christi das Setting und die Erlösung der an ihn Glaubenden den Fluchtpunkt des religiösen Epos. Gryphius lässt jedoch durch den gesamten Text- und Handlungsverlauf keinen Zweifel daran, dass die entscheidenden epischen Beobachtungskategorien die von Recht und Unrecht sind. Sie bleiben dies auch mit Christi Erlösungstat. So lässt Gryphius zu Beginn Gott der personifizierten Rache versichern, dass die Erlösung von der menschlichen Schuld an Christus gebunden ist und er dadurch Richter derjenigen ist, die nicht an ihn glauben und mit ihrem Unrecht vor ihm schuldig werden.579 Ebenso wünscht der personifizierte Fluss Kedron zum Schluss in wütendem Antisemitismus dem schuldigen Jerusalem „bittere Strafen“ („accerba supplicia“) für das „gotteslästerliche Vergehen“ („nefandum scelus“).580 Auch im Olivetum wird dieselbe Relation von Gott, Teufel und
579 Olivetum I, S. 172–174, v. 181–203. 580 Olivetum III, S. 254, v. 568–570: „At tibi quam rabiem, quae digna furentibus ausis / Imprecer infelix Solyme? quis acerba nefando / Supplicia indicet sceleri […]“. Die ausführlichen
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menschlichem Verbrecher entfaltet wie im Herodes: In einem letzten und sinnlosen Versuch, gegen Gott aufzubegehren, verführt Luzifer Herz und Sinn des Judas, um diesen zum Verrat an Jesus und dessen Vernichtung zu bewegen. Abermals ist die Motivation des Teufels deutlich: Er möchte der Einschränkung seines Wirkens auf den Höllenkreis und seine göttlichen Strafpflichten entgegenwirken. Ebenso wie im Herodes ist damit die Motivation des Menschen zum Unrecht zwar angezeigt: Sie ist eine äußerliche und teuflische. Dennoch folgt daraus ebenso wenig wie beim judäischen Vasallenkönig die Entschuldigung des Judas nach einem Verursacher- oder Schuldunfähigkeitsprinzip, das alle eigentliche Schuld bei Luzifer liegen sieht. Ist die Verbrechenstat also in beiden Fällen letztlich vom Teufel gewirkt, so muss das menschliche Verbrechen in einem zusätzlichen, aber in systematischem Zusammenhang stehenden Unrecht bestehen. Dieses unterscheidet sich von der bloßen Tatschuld und bedarf daher einer eigenen Bestrafung. Der fundamentale Kontextgeber dieser lateinischen Epik des Gryphius ist abermals Philipp Melanchthon: Er entwickelt eine Theorie vom ontologischen Status und vom Ursprung des Bösen genauso wie von der Zurechenbarkeit von Unrecht, wie sie für Gryphius’ Epen konsistenzstiftend ist.
4.4.3.1 privatio: das nicht-wesentliche Böse Für eine Rechtstheologie ist von geltungstheoretisch entscheidender Bedeutung, dass das Böse und Unrechte in der Welt, wie eingangs erläutert (4.4.3), nicht von Gott als dem Schöpfer aller Dinge selbst gewollt ist. Auch für eine theologische Rechtslogik wäre es paradox, wenn die Instanz, die Gesetz erlässt und Verbrechen straft, diese Verbrechen verursacht. Die Geltung allen Rechts drohte zerstört zu werden. Der allmächtige Gott kann nicht alles wollen, seine Allmacht darf nicht das Böse positiv hervorbringen, wenn diese seine Allmacht nicht mit Indifferenz gleichzusetzen sein soll. Diese Problematik wird sich jedoch systematisch eingehandelt, wo gerade von einem allmächtigen und all-alleinigen letzten Verursacher gesprochen wird: Ist das Böse wesentlich, dann ist auch das Unrechte letztlich Gottes Schöpfung. Jedoch nur wenn die Gottesinstanz das Böse und Unrechte nicht schafft, macht sie als gerechter Gesetzgeber, Richter und Bestrafer Sinn, weil nur dann die Gesetze sich auf ein konsistentes System von jeweils antinomischen Rechten und Unrechten stützen können.581
Beschreibungen der erwünschten Strafen, zu denen u.a. verhaltene Fehlgeburt und Versklavung zählen, erfolgen in v. 573–598. 581 Julius Ebbinghaus erkennt zurecht, dass die Konsequenzen eines Voluntarismus entspre-
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Melanchthon hat diese Spannung wahrgenommen und sie in einer Zulassungstheorie aufzulösen versucht, die vom zentralen Gedanken der Privation ausgeht. Für deren Erläuterung kann an die gründlichen Analysen Günter Franks angeschlossen werden. Auf die Frage nach der Ursache der Sünde wird schon früh in den Heubtartikeln und Loci tertiae aetatis Antwort gegeben: Ihre Grundlage bildet die Feststellung, dass Gott die Sünde nicht wolle und genauso wenig ihre Ursache sei.582 Melanchthon lehnt in Abgrenzung zur stoischen λόγος-Philosophie einen Determinismus entschieden ab. Im Determinismus sieht Melanchthon nicht nur die Problematik einer menschlichen Handlungsunfreiheit, sondern mehr noch die häretische Leugnung von Gottes Allmacht, die Melanchthons Begriff nach an nichts gebunden gedacht werden kann und darf.583 Es gibt grundsätzlich immer zwei Handlungsalternativen, nämlich zumindest die binäre Wahl von Aufnahme und Unterlassung einer Handlung auch dort, wo eine gänzlich andere Alternative fehlt. Unter Bezugnahme auf die Problematik des von Gott verstockten Pharao hält Melanchthon den Unterschied zwischen Wirken und Wirkenlassen fest.584 Damit führt Melanchthon den Gedanken eines von Gott gewirkten Freiheitsgeschehens ein, das dem Menschen die Alternative lässt, Gutes oder Böses zu tun. Wenn Melanchthon an späterer Stelle die Theodizeefrage auf die Tyrannis zuspitzt, bedeutet das für diesen Fall, dass Gott die Tyrannei nicht wirkt, sondern
chend gar nicht mehr als strafrechtliches Verpflichtung beschreibbar sind, sondern nur noch als das Befolgen inhaltlich beliebiger Anordnungen, deren Rechtscharakter schlicht unerheblich ist: Ebbinghaus: Die Idee des Rechts, S. 155f. 582 CR XXI, Sp. 644: „Estque haec vera et pia sententia, utraque manu et verius toto pectore tenenda, Deum non esse caussam peccati, nec velle peccatum, nec impellere voluntates ad peccandum, nec approbare peccatum. Sed vere et horribiliter irasci peccato, ut toties suo verbo, assiduis poenis et calamitatibus mundi, comminatione aeternae irae declarat.“ 583 CR XXII, Sp. 138f.: „Es folget auch, Das man es nicht dafür halten sol, das alles, was geschihet, müsse also geschehen, wie die Stoici von jrem Fato geredt haben, vnd Gott vnd menschlichen willen angebunden, vnd gesaget, Alles was geschihet, msse also geschehen, Nero müsse solche grausame vntugent vben etc.“ 584 CR XXII, Sp. 139: „Darauff ist diese warhafftige, bestendige, vnd richtige Antwort. Das grosse vnterschied ist, zwischen selbs wircken, vnd andere lassen wircken, vnd nicht verhindern, Was Gott selbs wircket vnd schaffet, das ist gut, Daneben wenn die Teuffel oder Menschen wider Gott thuen, das wircket Gott nicht, ob gleich Gott solches geschehen lesset, vnd verhindert es nicht thetlich, bis zu seiner zeit“. Allerdings löst Melanchthon die spezifische Problematik von Ex 4,21 tatsächlich nicht: Er verhält sich nicht zu der Tatsache, dass Gott hier das Unrecht des Pharaos nicht nur zulässt, sondern ausdrücklich will: Ex 4,21: „VND der HERR sprach zu Mose / Sihe zu / wenn du wider in Egypten kompst / das du alle die Wunder thust fur Pharao / die ich dir in deine hand gegeben habe / Jch aber wil sein hertz verstocken / das er das Volck nicht lassen wird.“
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im Rahmen des freien Willens des Tyrannen nur zulässt. Die moralisch schlechte Wahl des Tyrannen bestraft Gott schließlich.585 Damit ist Gott zwar nicht mehr hinreichende Ursache des Bösen selbst. Das Böse ist allerdings noch nicht im Rahmen einer Privatio deontologisiert. Hierauf ist Melanchthon ab diesem Punkt jedoch angewiesen. Unter der Prämisse, dass Gott nicht Ursache des Bösen ist, sind grundsätzlich zwei mögliche Folgerungen denkbar: Erstens, es gibt das Böse wesentlich und muss damit eine Ursache haben, die nicht Gott ist, aber Schöpfungsmacht hat wie dieser auch. Das wäre ein Teufel, wie er weder im Herodes noch im Olivetum beschrieben ist – ein Teufel eigener Provenienz, der nicht Teil von Gottes Schöpfung und ihm daher nicht untergeordnet ist. Satan wäre ein zweiter, böser Gott, hinsichtlich dessen Wesen und Herkunft nicht Theologie, sondern Theogonie betrieben werden müsste. Zweitens, es gibt das Böse nicht wesentlich und muss daher keine Ursache haben, die Gott dadurch gleichgestellt wäre, dass sie etwas im starken Sinne schöpferisch herstellte. Die erste Möglichkeit muss Melanchthon ablehnen, denn in ihr sieht er nichts weniger als die manichäische Annahme zweier Götter: „Manichaei ex corrupta Philosophia orti horribiles furores contumeliosos in Deum et perniciosos moribus excitaverunt de duobus diis, bono et malo […]“.586 Das Böse besteht in der Zuwiderhandlung gegen Gottes Gebote. Dies ermöglicht argumentativ gleich zweierlei: Das Böse bestimmt sich nicht selbst nach etwaigen eigenen Begriffen, sondern es ist nur die Privation des Guten und Rechten. Es ist ausschließlich als Unrecht denkbar. Zugleich wird es so als widergöttlich konzipiert und damit Gottes Ablehnung des Bösen automatisch mitgedacht. Das Böse bzw. Unrecht ist so schon seiner Bestimmung nach nicht autonom. Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit dem Freiheitsgeschehen auch die metaphysische Nichtigkeit des Bösen begründet.587 Diese allein erlaubt erst, Gott nicht als Urheber des Bösen denken zu müssen: Gott ist Ursache und Ursprung einer „von der Schöpfung her gut geschaffenen Willensfreiheit“,588 die der Teufel und die Menschen nicht zur Erfüllung des Guten nützen. Das Böse und
585 CR XXII, Sp. 606: „Item, er [i.e. Paulus] zeiget an, das Regiment ein ordnung sein mus, vnd das die ordnung Gottes werck ist, Nicht die zerrüttung, vnzucht, mord, vnrechte vnterdrückung, die der Teuffel vnd die Tyrannen des Teuffels gliedmassen, mit eindringen, welche Gottes ordnung gern zerstören wolten.“ 586 CR XXI, Sp. 644. Indem er zudem den eigentlich subordinierten Charakter des demiurgischen Schöpfergottes gegenüber dem eigentlich gütigen Gott des Heils unter den Tisch fallen lässt, erscheint Melanchthon die gnostisch-manichäische Möglichkeit als entscheidende Gefahr für Monotheismus und Allmachtsprinzip. 587 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298. 588 Ebd.
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Unrecht hat keinen eigenen ontologischen Status, sondern ist in seiner Abkehr vom allein wesentlichen Guten und Rechten bloß defizitär: „Haec mala esse defectus non obscurum est, nec sunt res conditae a Deo, sed horribilis destructio humanae naturae“.589 Damit integriert Melanchhon seine augustinische Lehre vom Bösen in die christliche Tradition von der Sündhaftigkeit des Menschen.590 Außerdem systematisiert er die Vorstellung vom Teufel als gefallenem Engel,591 wie sie Gryphius in seiner lateinischen Epik adaptiert. Dem Teufel kommt zwar genauso wie Herodes substantielle, positive Wirklichkeit zu, da er von Gott wirklich geschaffen ist. Da aber auch er mit jener „gut geschaffenen Willensfreiheit“ ausgestattet ist, kann er gegen Gottes Gebot verstoßen und damit das Böse als nicht-wesentliche, nur negative Wirklichkeit ‚realisieren‘. Der eigentliche Wirklichkeitsmangel des Bösen sticht ins Auge, wenn Melanchthon das Böse als mendacium charakterisiert: Discernit autem Christus mendacium a substantia, quasi dicat: Substantiam quidem habet Diabolus aliunde acceptam. Nam omnes Angeli a Deo creatae sunt, quorum aliqui postea lapsi sunt. Habet autem proprium quiddam Diabolus, non a Deo acceptum, videlicet mendacium, id est, peccatum, quod libera voluntas Diaboli peperit. Neque haec inter se pugnant, ut postea longius dicemus, substantiam a Deo conditam esse et sustenari, et tamen voluntatem Diaboli et voluntatem hominis caussas esse peccati; quia voluntas abuti libertate sua potuit seque a Deo avertere.592
Das Böse, als Lüge, Vorspiegelung, Erdichtung, in jedem Fall als grundsätzlich fingiert gedacht, ist gerade nicht nur das Andere der Wahrheit, sondern auch der Wirklichkeit und damit nichtig.593 Die Dürftigkeit, mit der Andreas Gryphius seinen Teufel besonders im Herodes darstellt, erfährt also bei Melanchthon ihre systematische Begründung. Sie erlaubt zu zeigen, dass Gryphius’ Figurenzeichnung nicht nur epischen Form-
589 CR XXI, Sp. 645f. 590 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298. 591 Vgl. Grübel: Die Hierarchie der Teufel, S. 38f. 592 CR XXI, Sp. 645. 593 Ohne sich hier ausführlich damit auseinandersetzen zu können, ist dennoch anzumerken, dass mit Melanchthons Bestimmung des Teufelswerks als mendacium dem Lügenverbot eine systematisch außerordentliche Bedeutung innerhalb des Dekalogs zukommt: Denn Lüge ist bei Melanchthon nicht mehr nur einfach die tatsachenwidrige Rede, sondern das grundsätzliche Verfahren des Teufels, der das Böse nicht schaffen, sondern das Unrechte nur vorspiegeln kann. Das achte Gebot verbietet damit nicht nur eine Sünde neben anderen, sondern betrifft das ‚Prinzip‘ alles Unrechten, nämlich im Mangel eigener Prinzipialität und Substantialität nur das Rechte und Gute leugnen zu können.
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gesetzen gehorcht und nicht ausschließlich in der didaktischen Absicht eines – unstrittig gewollten – Ablehnungsaffekts des Lesers ihren Grund hat: Der Teufel ist selbst von Gott geschaffen und kann über diese substantielle Uneigenständigkeit hinaus sein teuflisches Werk nur darin bestehen lassen, Gottes Schöpfung und Gebote abzulehnen.594 Allgemein kann Konkurrenz als Aufeinanderstoßen zweier Gegner gedacht werden, die ihren Standpunkt grundsätzlich originär, in jedem Fall weitgehend unabhängig von einander gewinnen können: Dieses Konfligieren kann gegenüber der Standpunktbildung allemal kontingent sein. Dementgegen vollzieht sich der Teufel ausschließlich im Widerspruch zu Gott, handelt unmöglich in itiativ, sondern immer nur in Reaktion auf Gottes Gebot. Handlungstheoretisch gesprochen, erfolgt auch das Handeln des Teufels selbst nur im Zuge einer προαίρεσις, und zwar zwischen Alternativen, die der Teufel nicht selbst bestimmt hat, sondern Gott – nämlich rechtmäßig oder unrechtmäßig zu handeln. Eben diese Abkünftigkeit des Teufels wie des Bösen setzt Gryphius mit den Monologen des Höllenherrschers ins Bild. Durch die Figuration des Luzifer systematisiert Gryphius den Gedanken des gefallenen Engels anhand Melanchthons privatio durch. Der Teufel tritt nicht als Wesen originärer Herkunft Gott gegenüber, sondern als eines seiner Geschöpfe, das von ihm abgefallen und von diesem erst in die Hölle verstoßen wurde: Immitis Domitor, flagranti turbine quondam Aethereâ superum nosmet descendere sedê Atque humiles habitare plagas, obscura coëgit Tartara, sic poenas inimicas e gente recepit Heu nimium tragicas! nobis pro luce serena Perpetuas tenebras, & sole carentia regna Reddidit, ac flammis jussit torquere severus Injustas animas hominum.595
Der Teufel widerspricht Gott stets nur darin, dass die göttlichen Gesetze, mithin das Gute nicht herrschen soll. Dieser Widerspruch reicht nicht soweit, Gott in der Bestimmung des Guten überhaupt zu widersprechen und die eigene Haltung zum alternativen Guten zu etablieren: Der Teufel stimmt Gott gerade darin zu, dass sein teuflisches Wirken und seine teuflischen Ziele böse sind. Mehr noch: Luzifer muss Gott insofern darin zustimmen, dass das Böse böse ist, darf also
594 Ein im Grunde immer auch selbstzerstörerisches Vorhaben, bedenkt man seine eigene Gottgeschaffenheit. 595 Herodes I, S. 20, v. 61–68.
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gar nicht die absolute Perversion der Maßstäbe intendieren. Schließlich steht er auch und gerade als Herr der Hölle in Gottes Dienst und übt den jenseitigen göttlichen Strafvollzug an den „ungerechten Seelen der Menschen“ aus: „Domitor […] jussit torquere severus / Injustas animas hominum“. Die teuflischen Martern in der Hölle sind göttlich und bedürfen insofern der Konformität mit Gottes Gesetz. Dies wird auch im Olivetum deutlich, wenn die gottesergiebige Personifikation der Rache als „mit Luzifers Fackeln bewaffnet“ versinnbildlicht wird.596 Genuin teuflisch sind ‚nur‘ jene Befugnisübertretungen Luzifers, in denen er außerhalb des Höllenzirkels agiert und die menschlichen Seelen allererst zum Rechtsbruch anstacheln will. Frank stellt überzeugend fest, dass sich „das Problem des Bösen auf die Frage nach der Sünde des Menschen und damit der Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit konzentriert“.597 Für den hiesigen Zusammenhang ist dennoch zu bemerken, dass Melanchthon – wie Frank im Grunde selbst festhält – das Problem besonders in dessen rechts- wie handlungstheoretischem Moment registriert: Der […] Einwand gegen eine Vorsehung ergibt sich aus der Theodizeeproblematik mit den Erfahrungen menschlichen Übels oder – wie Melanchthon einräumt – der offenkundigen Tatsache, daß viele Straftaten auf der Erde ungesühnt bleiben.598
Geht es im Rahmen einer christlichen Theologie immer um die Allmacht und Güte Gottes, so stellt sich gerade nicht nur die Frage des Fakts des Bösen, mithin seiner faktischen Ursache, sondern auch die seines normativen Grundes. Dem rein epistemologischen Staunen über Existenz und Herkunft des Bösen korrespondierte cum grano salis immer ein Ungerechtigkeitsempfinden. Gerade in Zeiten menschlicher Katastrophen gab dieses den heftigeren Impuls zur wiederholten Fragestellung, als die dem christlichen Omnipotenzkonzept selbst inhärente Problematik dies konnte. Nicht erst die Allmachtstheorie hat also die Frage von der Herkunft des Bösen zu lösen, sondern gerade die Rechtstheologie hat ein politisch wie theologisch virulentes Interesse an dieser Lösung. Sollte Gott selbst Böses und Unrechtes wollen, warum sollte dann der Mensch recht handeln, mehr noch: recht handeln müssen und können, wenn das Unrechte Gottes Willen mutatis mutandis gerade nicht wider-, sondern entspricht? Jenseits des Elfenbeinturms des Theoretikers war es dieses breite Ungerechtigkeitsempfinden, das die Frage
596 Olivetum I, S. 164, v. 29–33: „Icta fragore gravi intremuit vastusque procellis / Sulphuris, & rutilis incanduit ignibus aether, / Dum gladios armata truces, fulmenque facesque / Luciferis delapsa globis Vindicta nocenteis / Terruit […].“ 597 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 294. 598 Ebd., S. 286.
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nach dem Ursprung des Bösen als diejenige nach der Güte Gottes begriff. Damit wurde diese Frage in einer Weise virulent, die das Denken der Gnosis nicht schlichtweg zu ridikülisieren erlaubte, sondern gediegene theoretische Anstrengungen notwendig machte und Hans Blumenberg alles Recht gibt, die profunde ideengeschichtliche These aufzustellen: Der Systemwille der Gnosis hat die sich konsolidierende Großkirche gezwungen, sich zu dogmatisieren […] Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüberzuretten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die Hochscholastik reicht. […] Die Welt, die sich beständiger als erwartet erwies, zog wieder die alten Fragen nach ihrer Herkunft und ihrer Verläßlichkeit auf sich, forderte Entscheidung zwischen Vertrauen und Mißtrauen, Einrichtung des Lebens mit ihr statt gegen sie. Man kann leicht sehen, daß die schließlich gegen die Gnosis fallende Entscheidung nicht im inneren Übergewicht des dogmatischen Systems der Kirche lag, sondern in der Unerträglichkeit des Bewußtseins, daß diese Welt der Kerker des Bösen sein sollte und dennoch von der Macht des nach seiner Offenbarung zur Erlösung entschlossenen Gottes nicht zerschlagen wurde.599
Es ist wenig verwunderlich, dass Melanchthon genauso wie Jean Bodin intimer Kenner Augustins war. In der Auseinandersetzung mit dem fraglichen Ursprung des Bösen konnte er Anschluss an einen Denker nehmen, der, selbst des Manichäismus bezichtigt, die gnostische Herausforderung ernst nahm.600 Der dogmatische Horizont Melanchthons verwundert dabei ebenso wenig: Seine Theorie vom Status des Bösen als Privation des Guten beweist die Güte Gottes schließlich weniger, sondern geht von dieser immer schon aus. In der apriorischen Verneinung einer metaphysischen Prinzipialität des Bösen wird das einzig noch denkbare, einem Freiheitsgeschehen des Menschen zugeschriebene Ausbleiben des Guten mehr impliziert als tatsächlich gefolgert. Melanchthon stellt Gottes Güte als fundamentum inconcussum letztlich unbezweifelt an den Anfang seines Argumentationsganges und nicht an dessen Ende.601 Damit plausibilisiert er das Weltgeschehen und eine vordergründige Unrechtserfahrung, beweist jedoch nicht die Güte Gottes, was ihm als Schrifttheologen auch kaum möglich war. Die im Fahrwasser der sola-scriptura-Doktrin als Selbstauskunft Gottes verabsolutierte
599 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 143f. 600 Vgl. zu Augustinus Johannes van Oort: Augustin und der Manichäismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46 (1994), S. 126–142; zu Jean Bodin siehe Glinka: Zur Genese autonomer Moral, S. 110f. 601 Vgl. nochmals die präzise wie knappe Darstellung des Beweisganges bei Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 298.
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Bestätigung, dass sein Werk gut gelungen war,602 ließ auch für Melanchthon in seiner theoretischen Bemühung keine Alternative, als sich letzthin in der Weise zu dogmatisieren, wie sie Blumenberg nur für die „Großkirche“ feststellt. Es ist mithin kein Zufall, sondern bezeichnend für Melanchthons kaum verborgen dogmatische Haltung zu seiner ersten Prämisse, dass er für sie nicht nur Wahrheit, sondern auch Gottesfürchtigkeit in Anspruch nimmt. Dies gipfelt schließlich in der durch den Gerundiv unmissverständlich normativen Aufforderung, diese Prämisse wahrhaft im Herzen halten zu müssen: „Estque haec vera et pia sententia, utraque manu et verius toto pectore tenendo“.603
4.4.3.2 imputatio: Wirkliches Verschulden des Handelnden Die Lösung des malum-Problems, der Gedanke eines von Gott gewirkten und dem Menschen überlassenen Freiheitsgeschehens, ist für die Rechtstheologie von imputationstheoretisch entscheidender Bedeutung. Denn diese Lösung beantwortet auch die Frage, ob unrechte Handlungen dem menschlichen Handlungssubjekt überhaupt zurechenbar sind (imputatio). Insofern Gott nicht Ursache des Bösen und Unrechten ist, ist ihm dem Verursacherprinzip nach das Unrechte auch nicht zuzuschreiben. Dennoch stellt sich weiterhin die Frage, ob eine unrechte Handlung dem ‚Versucher‘, nämlich dem Teufel, zuzurechnen ist. Diese Frage stellt sich um so dringender, als Gryphius im Herodes wie auch Olivetum nichts anderes unternimmt als die sowohl bilderreiche als auch sachlich ausdifferenzierte Schilderung der Arten und Weisen, wie der Teufel seinen perfiden Einfluss auf die menschliche Psyche, Herz und Verstand unternimmt: Er lässt Zorn aufwallen, er fördert bei Herodes Verlustängste und bei Judas die unverhältnismäßige Gier nach Geld. Inwiefern besitzt das versuchte menschliche Handlungssubjekt dennoch angemessene Mittel, Recht und Unrecht zu unterscheiden, und angemessene Mittel und Kräfte, der Versuchung zu widerstehen? Ersteres erscheint Melanchthon mit dem Gedanken der praktischen ideae innatae bereits hinreichend gewährleistet (4.2.2.1). Der Mensch handelt, wenn er Unrecht verübt, immer wissentlich unrecht. Der princeps mundi kann den Menschen zwar beeinflussen, indem er diesen rasend werden und die intramental vorhandenen Normen missachten lässt.604 Das forum conscientiae als den Sitz der eingeborenen Normen jedoch kann der Teufel nicht
602 Gen 1,4,10,12,18,21,25,31; vgl. nochmals Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 145. 603 CR XXI, Sp. 644 [Hervorhebung O.B.]. 604 CR XXI, Sp. 1099: „[N]ominatur διάβολος, quia verbum Dei calumniis in hominum mentibus corrumpit.“
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korrumpieren, da dieses bloß Gott zugänglich ist. So bleibt ein widerrechtliches Handeln immer im starken Sinne wissentlich widerrechtliches Handeln und erfolgt gegen das eigene Gewissen.605 Bei Melanchthon kommt die Imputationsfrage besonders mit Blick auf den Zusammenhang von göttlichem Recht und göttlicher Vorsehung zum Tragen und damit auch in der Weise, wie sie Gryphius im Herodes und seinen politischen Trauerspielen diskursiviert. Melanchthon ist es nicht möglich, eine speziell willensmetaphysische, handlungstheoretische oder straftheoretische Diskussion über die Imputation zu führen. Denn diese Bereiche bauen auf Tatsachen der Schöpfung auf, die als vorgängig angenommen werden können. Den ‚Luxus‘
605 Zwar wird erst Samuel Pufendorf die Tradition der Imputationslehre wirkmächtig in das Zentrum der praktischen Philosophie stellen und um systematische Differenzierungen wie der der actiones mixtae auch entscheidend erweitern: Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 4: De jure naturae et gentium. Hg. von Frank Böhling. Berlin 1998, I. V. § 9, S. 54: „Praeterea & hoc observandum, voluntatem quandoque ab imminentibus gravissimis malis, & quae communem animi humani firmitatem judicantur excedere, ita vehementer urgeri, ut in aliquid suscipiendum consentiat, abs quo extra illam necessitatem constituta maxime abhorrebat. Quales actiones solent vocari mixtae ex spontaneis & invitis“. Insofern allerdings für Pufendorf die grundlegende Bestimmung der Handlungszurechnung auch aus der Handlungsmacht abzuleiten ist, nämlich zwischen mindestens zwei Alternativen des Handelns oder Unterlassens willentlich wählen zu können, und Pufendorf damit Wissentlichkeit und Willentlichkeit als Kriterien der Imputabilität allerst angemessen systematisch korreliert, schließt auch er an bereits vorhandene Vorbilder an, als deren eines u.a. wiederum Thomas von Aquin gelten kann. Ebd., I. V. § 5, S. 58: „Caeterum quod actio moralis ad aliquem pertinere, eique imputari possit (in quo formalem ejusdem rationem consistere diximus), ejus causa nulla est alia, quam quod in potestate & facultate alicujus fuit, illam fieri vel non fieri, suscipi vel omitti“; vgl. Joachim Hruschka: Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 96 (1984), S. 661–702; STh I–II q. 22, a. 2, co: „[D]icitur aliquis actus culpabilis vel laudabilis, quod imputatur agenti, nihil enim est aliud laudari vel culpari, quam imputari alicui malitiam vel bonitatem sui actus. Tunc autem actus imputatur agenti, quando est in potestate ipsius, ita quod habeat dominium sui actus. Hoc autem est in omnibus actibus voluntariis, quia per voluntatem homo dominium sui actus habet“. Auch einer der Hauptkritiker Luthers, Luis de Molina, versucht in der Frage nach der Zurechenbarkeit zwischen Augustinus und Aristoteles zu vermitteln und – in ähnlicher Weise wie Melanchthon – durch die Unterscheidung von Handlungsund Willensfreiheit einen Weg zu finden, dass Handlungsentscheidungen als Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen genuin willentlich getroffen werden, die Vergegenwärtigung dieser echten Alternativen und ihrer jeweiligen Güte aber gerade ein Vernunftakt ist. Vgl. Alexander Aichele: Moral und Seelenheil. Luis de Molinas Lehre von den zwei Freiheiten zwischen Augustin und Aristoteles. In: Politische Metaphysik. Die Entstehung moderner Rechtskonzeptionen in der Spanischen Spätscholastik. Hg. von Matthias Kaufmann, Robert Schnepf. Berlin 2007 (Treffpunkt Philosophie 8), S. 59–84, hier S. 59f. und 70f.
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dieser Spezialdiskussion kann sich nur erlauben, wer den Fokus auf das menschliche Rechtssubjekt beschränkt, das der Schöpfung selbst je schon unterworfen ist. Wird aber der Fokus auf die Gottesinstanz selbst gelegt, so kann die Schöpfung eben unmöglich vorgängig gedacht werden. Die Schöpfungstheologie reicht vielmehr selbst in die Imputationsfrage different hinein, und zwar gleichsam straftheoretisch und geltungstheoretisch. Das göttliche Recht, besonders aber die lex Dei, kennt keine ihm bzw. ihr übergeordnete Instanz mehr.606 Daher muss in Gott die Identität von Schöpfer, Richter und Bestrafer gedacht werden. Insofern lässt die augenscheinliche Existenz des Bösen in der Welt allererst in der Weise nach dem Verhältnis des Normativen zum Nonnormativen fragen, wie sie Gryphius und seine Zeitgenossen unübersehbar quält. Da das widerrechtliche und gewissenswidrige Handeln aus einer teuflischen Raserei resultiert, fragt sich – zumindest systematisch –, ob für den Menschen imputationstheoretisch nicht doch eine Entschuldigung zu folgern wäre. Mithin fragt sich, warum Gryphius die menschlichen Verbrecher seiner Epen unter göttliche Strafe fallen lässt. Schließlich breitete er höchselbst die potenziellen Schuldunfähigkeitsargumente aus, als er ausführlich Luzifers listige Einflussnahmen schilderte. Weil Gryphius aber gerade beides zur Darstellung bringt, liegt die große Nähe zu Melanchthon so nahe. Damit ist die Frage nach angemessenen Mitteln und Kräften im Menschen berührt, der Versuchung durch den Teufel zu widerstehen. Wenn Gryphius nämlich im ersten Buch des Olivetum Judas’ Motivation zum Verrat bei Kaiphas ins Bild setzt, so ist das Wirken teuflischer Mittel nur eine Bedingung seiner Unrechtstat. Die als ein solches Mittel des Teufels stilisierte Erinnye Alekto „entfacht“ zwar „mit höllischer Fackel in dem Besessenen neue Flammen des Wahns, vertrieb aus seinem Herzen alle Scham“: Ecce autem noua lymphato truculenta furorum Suggerit Alecto stygijs incendia taedis Reliquiasque animi, totumque è mente pudorem Emouet; […].607
Dieses Wirken Alektos ist jedoch weder allein notwendige noch allein hinreichende Bedingung von Judas’ Verrat. Schon an der zitierten Stelle wird deutlich, dass nicht erst und allein Alekto alles Rechtsempfinden (pudor) aus Judas vertrieben hat, sondern lediglich deren Reste. Der Anfechtung Judas’ geht eine aktive Handlung seiner selbst voran: das Ausstoßen des „diuinus vigor“. Diesen über-
606 Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 39f. 607 Olivetum I, S. 182, v. 378–380.
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setzt Ralf Georg Czapla treffend mit „Kraft des göttlichen Glaubens“,608 wobei hier zu zeigen ist, warum: Ergo cadens, & tali saucius ictu, Paulatim tepidâ, diuinum mente vigorem Exuit, […]609
Der Glaube wird nicht nur als dasjenige Mittel herausgestellt, das nach lutheranischer Auffassung allein das Heil erwirken kann. Vielmehr kommt noch die eigentümliche, in der evangelischen Theologie nicht unumstrittene Auffassung hinzu, dass der Glaube von Unrechtstaten abhalte und dass umgekehrt der Glaubensverlust eines einmal Bekehrten dessen Handlungen wider das göttliche Gesetz bedinge (ausführlich 4.4.4.3). Ist also die menschliche Handlung wider göttliches Recht zwar eine eigentlich teuflische, so ist sie letztlich dennoch dem Menschen zuzurechnen. Seine Raserei – um nicht zu sagen ‚Besessenheit‘ – ist nur wieder Resultat einer Handlung, die ihm als Menschen zuzurechnen ist. Sie ist das Resultat des mangelnden Glaubens an Gott und seine Gesetze. Hier wird deutlich, wie weit der Begriff Glaube zeitgenössisch trägt: Nämlich Glaube an Gott ist schon praktische Theologie; und Glaube ist eng mit dem Wissensbegriff verbunden. Jeder Mensch besitzt das angeborene Wissen um die Göttlichkeit der ihm eingeborenen praktischen Prinzipien. Aus diesem Wissen resultiert gemäß Melanchthon schließlich das verpflichtende Vertrauen auf die Richtigkeit des göttlichen Ratschlusses auch in Rechtsfragen. Gerade diese Wissentlichkeit betont Gryphius sowohl im Falle des Herodes als auch in dem des Judas. Herodes expliziert, dass ihn die göttlichen „fatalia“ wider den, der Unrechtes tut, nicht schrecken.610 Er beruft sich zum Schutz seiner Herrschaft sogar ausdrücklich auf Luzifer611 und betont damit höchstselbst die Gotteslästerlichkeit seiner Bestrebungen. Luzifers und Beelzebubs Verführungskünste reichen gerade nicht soweit, Herodes absolut zu verblenden – und damit imputationstheoretisch zu entschuldigen. Wie auch in ihrem eigenen Verhältnis zum göttlichen Recht können Luzifer und Beelzebub Herodes im weitesten Sinne nur emotiv dazu verführen, gegen dieses göttliche Recht handelnd zu verstoßen. Sie können ihn jedoch nicht dazu bringen, in plötzliches Unwissen über dieses Recht zu verfallen. Sie können auch nicht seine Wahrnehmung von Rechtem und Unrechtem umkehren, auf dass er dieses
608 Olivetum I, S. 181. 609 Olivetum I, S. 180, v. 348–350. 610 Herodes I, S. 40, v. 448f.: „In furias, & in arma ferar! fatalia nil me / Terrent, quae solymi jactant response Tonantis.“ 611 Herodes I, S. 46, v. 576f.: „Proh! Lucifer ibit / Sic ait, & sceptris illuserit advena nostris!“
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Handeln auch für legitim halte. Eine Vorspiegelung falscher Tatsachen bezüglich des Rechts überhaupt gelingt dem Teufel nicht. Folglich kann eine solche Vorspiegelung nicht zu Herodes’ Entschuldigung angeführt werden. Er handelt nicht etwa in bestem, aber falschem Wissen und Gewissen, sondern entgegen besseren Wissen und Gewissen. Die eigentliche Sprengkraft dieses Gedankens und sein Niederschlag bei Gryphius sind noch zu erläutern.
4.4.3.3 Fazit: Erste Folgerungen aus dem Privationismus für einen politischen Gott Für eine stringente politische Theologie sind der ontologische Status und die Herkunft des Bösen klugheitstheoretisch relevant. Die göttliche Allmacht und der freie göttliche Wille sind für die Rechtsgeltung ebenso different wie für das politische Handeln. Es ist unbedingt zu vergegenwärtigen, warum der zeitgenössische, theologisch geleitete Diskurs dies beweisen muss: Eine Allmachtstheorie nämlich, die das Böse als wesentlich und gottgewollt dächte, würde aus dem Innersten der Theologie selbst heraus die Indifferenz der Göttlichkeit für politische Entscheidungen konstatieren müssen. Sie würde den Machiavellismus theologisch stützen und begründen helfen. Dahingegen weiß Melanchthons Privationismus-These die Geltung des Guten und Rechten durch einen ebenso allmächtigen wie auch gütigen Gott zu plausibilisieren. Dieser gütige Gott wird bei Gryphius im Ausnahmezustand auch dazu ‚gedrängt‘ seine lutheranische Stereotype als Deus absconditus aufzugeben und unmittelbar, d.h. nicht sub contrario als politisch Strafender in Erscheinung zu treten: SAEpè quidem superum Princeps qui fulgida coeli Sidera, perpetuasque faces, mundumque gubernat Nudibus obscuris crepitantia fulmina condit; Et rabidos hominum tacitus, sinit ire furoris, Observans mentes rigidas; tragicosque tumultus Despectat; ridetque minas; quas corde Tyranni Vesani, incassum, turgenti pectore volvunt. Ast tandem assiduis precibus, tremulisque querelis Commotus, rapit arma manu, tonitruque tremendum Displodit […]612
Nicht nur legt Gryphius offen, dass er – aus rechtssystematisch guten Gründen – mit der Tyrannei diesen Ausnahmezustand gegeben sieht. Er betont in Gottes
612 Herodes II, S. 84, v. 1–10.
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Figurenrede auch, dass dieser den Rechtsbruch des Herodes nicht tatenlos dulden wollen kann. Ein Bruch göttlichen Gesetzes durch einen höchsten irdischen Herrscher ist einer Weise gotteslästerlich, die es nicht erlaubt, den Gedanken der Verborgenheit Gottes (Deus absconditus) zu verabsolutieren. Gott muss sich zeigen: Sat spurca risit mea Numina linguâ! Stipitibus fudit Latiis sat thura per aras. Sanguinis exhaustum satis est! mea vera voluptas Sat tulit exilii latebras: […] […] hinc jura jacent violate sacrati Foederis hinc […] […] venit illa dies, quâ corda superbi Ulciscar tumefacta Ducis: quâ funere lento Abrumpam stolidae, regalia tempora, vitae.613
Die Strafe des Herodes erfolgt erstens durch dessen Gewissensqual („conscia mens“),614 zweitens durch das postmortale Elend im Feuer der – wieder auf ihren Platz verwiesenen – Hölle,615 drittens durch elende Krankheiten, eine unmittelbare irdische Strafung also, deren Schilderung Gryphius den größten Raum gibt.616
4.4.3.4 Exkurs: Daniels Heinsius’ Herodes Infanticida (1632) – Politische Theologie zwischen Tradögienform und stofflich gebotener Episierung Schon mit Blick auf die historische Nähe zu Gryphius’ Herodes-Epen darf Daniel Heinsius als deren aktuellster Ideengeber gelten. Ebenso übernimmt Gryphius die Exzessivität der Gewaltschilderung ohne Zweifel von Heinsius.617 Hier hat es jedoch vielmehr darum zu gehen, dass Gryphius in seiner Bearbeitung des Stoffes die Epenform wohl in der Tat bewusst gewählt hat, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Heinsius die Dramatisierung des Stoffes versucht hat. Ferdinand Stürner stellt zurecht fest, dass im Herodes Infanticida „kaum miteinander verknüpfte Subplots“ vorliegen.618 Heinsius weicht also von der strengen Drei-
613 Herodes II, S. 88–90, v. 116–127 [Hervorhebungen O.B.]. 614 Herodes II, S. 114, v. 608. 615 Herodes II, S. 116, v. 675–678. 616 Herodes II, S. 123–127. 617 Vgl. z.B. Daniel Heinsius: Herodes Infanticida. Tragœdia. Leiden 1632, V,2, S. 62–64 und Herodes I, S. 58. 618 Ferdinand Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘. In: Daniel Heinsius. Klassischer Philologe und Poet. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2008 (NeoLatina 13), S. 415–439, hier S. 424.
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Einheiten-Lehre ab, die seit Lodovico Castelvetros Aristoteles-Kommentation Eingang in die präskriptivistische Tragödienpoetik gefunden hat619 und die Heinsius in seinen poetischen Abhandlungen doch eigentlich selbst vertrat. Diese Abweichung war so prominent, dass Jean-Louis Guez de Balzac sich im selben Jahr der berühmten Querelle du Cid620 zu einer scharfen Polemik in Form eines Discours sur une tragédie de M. Heinsius intitulée Herodes Infanticida (1636)621 veranlasst sah. Auch Gryphius, wenngleich noch jung, nahm diese Spannung wahr. Eben weil er sein noch fragiles Standing nicht durch verfrühte Gewagtheiten gegenüber der noch immer starken Regelpoetik gefährden durfte, war seine Entscheidung zur Epenform ebenso konsequent wie klug. Der arriviertere Poet und Poetiker Heinsius unternimmt demgegenüber eine Episierung der Tragödie. Allerdings konnte er sie wegen seines größeren Rufes nicht nur leichter wagen. Weil er den Herodes-Stoff und die Tragödienform nun einmal gewählt hatte hatte, musste er die Episierung nachgerade mit in Kauf nehmen. Stürner hat zu Recht gezeigt, dass Heinsius’ Dramendichtung „auch im Zusammenhang mit den besonderen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen werden“ muss.622 Jedoch reduziert Stürner diese auf einen realgeschichtlichen Kontext, insofern „[l]ediglich Stücke mit patriotischem oder christlichem Inhalt […] Aussicht [hatten], auch beim calvinistischen Klerus auf eine gewisse Akzeptanz oder gar Wohlwollen zu stoßen“.623 Man kann darüber hinaus zeigen, dass die Verwendung eines Bibelstoffes selber einer bestimmten argumentativen Strategie geschuldet ist, nämlich einer vermehrt offenbarungstheologischen Beweiskultur in politischen Fragen der Tyrannei: Es geht um eine offenbarungstheologische Geltungstheorie. Schon in der Vorstellung des Argumentum wird Herodes als „Rex immanis“ herausgestellt.624 Die doppelte Bedeutung von immanis wurde vom Altphilologen Heinsius ohne Zweifel mit aller Bedacht gewählt: Mit diesem Attribut wird erstens Herodes’ ungeheuerlicher Herrschaftsanspruch angezeigt, d.h. die Herausnahme bestimmter Befugnisse, die auch seine Stellung als König überschreiten. Zweitens wird auch seine Herrschaftspraxis als schrecklich und grausam vorgestellt. Dass es Heinsius dabei um Legitimitätsfragen geht, zeigt seine Bezeichnung von
619 Vgl. Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1975, S. 201f., S. 232. 620 Vgl. Herta Schmid: [Art.] Dramentheorie. In: RLW I, S. 402–406, hier S. 404. 621 Vgl. Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 434–436. 622 Ebd., S. 418. 623 Ebd. 624 Heinsius: Herodes Infanticida, S. 7: „Herodes Ascalonita, Antipatri filius, Idumæus, templi restitutor, Rex immanis […].“
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Herodes’ Taten als Verbrechen. Sie werden durch den bethlehemitischen Kindermord noch übertroffen: „[I]mpietati suæ delictus, vno scelere superiora excessit“.625 Im Ablativus Absolutus ist zudem der Bedingungscharakter ersichtlich, den Herodes’ Gottlosigkeit („impietas“) gegenüber diesen Verbrechen einnimmt: Sie ermöglicht diese allererst. Der Dramenverlauf weist dementsprechend nichts anderes auf, als dass das Verbrechen eines Herrschers eben eines gegen Gottes Gesetze ist. Diese Gesetze besitzen aufgrund ihrer Universalität auch für den Heiden Herodes Geltung, auch wenn Heinsius auf diese Universalität nicht eigens reflektiert. Wie auch in Gryphiusʼ Fall ist der Zielpunkt der Herodes-Verarbeitung des Heinsius zwar christologisch-heilsgeschichtlich. Nichtsdestoweniger ist die Verhandlungsbasis auch dieser poetischen Gerechtigkeit eine juridische und dies eben in (rechts)theologischem Rahmen. Anders als Gryphius lässt Heinsius Gott und Teufel als Auftretende weg, bringt aber mit dem Engel einen nicht nur instanziell mächtigen Mittelsmann Gottes auf die Bühne, der προλογίζων den gesamten ersten Akt füllt. Dieser bestätigt von Beginn an die juridische Rahmung des Stückes, wenn er erinnert, dass Gott bereits einmal als Gesetzgeber auf die Erde kam: „Huc ipse quondam legifer venit Deus“.626 Von dieser, im Alten Bund manifestierten Autorität wurde sich jedoch, so der Engel weiter, alsbald wieder abgewandt: „[D]umque partitur scelus, / Mens à parente tota deflexit suo“.627 Herodes ist somit gleichzeitig Ausdruck dieser allgemeinen Missachtung göttlichen Rechts und derjenige, der dessen Restituierung als Lex Nova durch Jesus Christus verhindern will. Herodes’ Schuld gegenüber dem göttlichen Recht ist also eine doppelte. Er befolgt zum Einen dessen Inhalt nicht, zum Anderen bekämpft er seine Geltung überhaupt. Besonders deshalb ist Herodes Tyrann: „Natum tyrannus credit, & lethum pàrat“.628 Ebenso konsequent steht gegen Prologschluss die Ankündigung himmlischer Hilfe: Succurret æther. fulmen in partes trahet, Tonitruque vires addet infanti suas Ruptæque nubes. […] […] ipse succurret Pater, Vnumque terræ soluet, aut franget, latus: Fractoque mundo, totius mundi simul Frangentur artes, & tyrannorum minæ.629
625 Ebd. 626 Ebd., I,1, S. 11. 627 Ebd., I,1, S. 12. 628 Ebd., I,1, S. 15. 629 Ebd., I,1, S. 16 [Hervorhebung O.B.].
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Es fällt auf, dass der göttliche Eingriff nicht nur die Tyrannen trifft, sondern auch die weltlichen Künste in ihre Schranken weist. Damit ist vor allem diejenige Ausprägung politischer Klugheitslehre angesprochen ist, die meint, sich rein weltlich konstituieren zu können. Auch Heinsius lässt seinen Engel nichts anderes als die praktische Widerlegung des Machiavellismus ankünden. Die Angst des Herodes vor der Konkurrenz des Jesuskindes wird im dritten Akt breit dargestellt. Auch dieser besteht wiederum aus einem einzigen Monolog, diesmal des Herodes. Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Angst auf einem Missverständnis aufruht. Er fürchtet die Konkurrenz des christlichen Regnums für seine Herrschaft nur, weil er den Unterschied des geistlichen und weltlichen Regiments nicht begreift: „Si regna cœlum parturit, regna eripit“.630 Dies ist nicht nur unter lutheranischer Perspektive eine Missdeutung: Mit Francisco de Vitoria hatte auch ein katholischer Rechtstheologe betont, dass Christi Herrschaft nicht in temporalibus bestand.631 Mit Blick auf Christi Geburt allein hätte Herodes also um seine Herrschaft eigentlich nicht zu fürchten. Wie auch später Gryphius stellt Heinsius Herodes nun als wissentlichen Missetäter dar: Herodes weiß, dass seine Taten gegen göttliches Gesetz verstoßen. Herodes weiß, dass es ebenso gefährlich wie sträflich ist zu regieren, wenn „dem Gestirn erlaubt ist alles wegzunehmen, was Verstand oder Tüchtigkeit einem gibt“: Obnoxium est regnare, si stellæ licet Auferre, quicquid ratio vel virtus dedit; Et syderum sub jure, majestas jacet.632
Herodes ist also alles andere als eine durchweg „irrational agierende Tyrannengestalt“.633 Diese Einschätzung ginge gerade an der Polemik vorbei, die Heinsius an dieser Stelle kunstvoll ausgestaltet. Heinsius konzipiert Herodes nicht nur als Sinnfigur der Tyrannei, sondern auch als Vertreter des machiavellischen Denkens, eines unverbesserlichen Machiavellismus obendrein: Herodes weiß darum, dass die „Majestät dem Recht der Gestirne [i.e. dem himmlischen, göttlichen Recht] unterliegt“. Im Unterschied zu Machiavelli, der dem göttlichen Recht keine diesseitspraktische Wirklichkeit zumisst, weiß Herodes sogar um diese Wirklichkeit, wenn er feststellt, dass „das Gestirn“ Macht nimmt. Und dennoch bleibt Herodes verdrossen darüber, dass menschliche Vernunft und Tüchtigkeit dem unterlegen
630 Ebd., III, 1, S. 30. 631 Vgl. Scattola: Menschheit und Völker in der naturrechtlichen Kriegslehre von Francisco de Vitoria, S. 101–103. 632 Heinsius: Herodes Infanticida, III,1, S. 30. 633 So Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 433.
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sind und sein Zweckrationalismus nicht dauerhaft die Früchte trägt, die er sich erhofft hatte. Herodes’ Prudentismus erweist sich dadurch als unverbesserlich, dass er ratio und virtus dem göttlichen Recht und seiner Kraft gegenüberstellt. In einer umfassend theologisch untermauerten Wissenschaftsphilosophie jedoch ist eine solche Gegenüberstellung falsch. Die Vernunft konkurriert nicht mit dem göttlichen Ratschluss, sondern hat ihn zu berücksichtigen, um allererst so zu zutreffenden Erkenntnissen zu kommen. Entsprechendes gilt für die politische Klugheit: Lässt sie den göttlichen Ratschluss unbeachtet, handelt sie unvernünftig und unklug. Heinsius zeichnet hier nicht einfach eine „irrational agierende Tyrannengestalt“, sondern einen machiavellistischen Herrscher, der gerade darum zum Tyrannen geworden ist, weil er einen falschen Begriff von ratio hat. Dieser Fehler des Herodes speist sich wiederum aus einem falschen Begriff der Gottheit und ihrer Allmacht: Herodes’ Ärger darüber, dass es „dem Gestirn erlaubt ist“ Macht zu nehmen, ist vor dem Hintergrund eines monotheistischen Allmachtsdenkens nicht nur gotteslästerlich, sondern schlicht unsinnig. Heinsius kehrt an der personifizierten Kontrastfolie Herodes deutlich die normative wie politisch wirksame Verbindlichkeit der frei wollenden Gottesinstanz hervor. Eher unbemerkt markiert Heinsius jedoch genauso, dass diese politische Theologie auf das menschliche Wissen um die Alleinigkeit dieses Gottes angewiesen ist: Eigentlich ist Herodes durch sein falsches Verständnis vom göttlichen Recht insofern zu entschuldigen, als er gerade um dessen absolute Verbindlichkeit nicht angemessen weiß. Bemerkenswert ist besonders Szene IV,3, in welcher ein senex Herodes von seinem Vorhaben abzubringen versucht. Dieser argumentiert zunächst gar nicht juridisch-normativ, sondern verbleibt selbst im Rahmen pragmatischer Erwägungen.634 Er empfindet herrschaftliche Grausamkeit als herrschaftsbedrohend, weil die Volksmenge vor allem den Elenden geneigt ist: „Circumstat omne vulgus, ac miseris fauet“.635 Mag der Verhasste auch herrschen, das vergossene Blut wird dennoch auf den Urheber zurückkommen: […] Invitus licet, / Moderare. fusus cruor ad auctorem redit. Obsequia modicus suadet, immodicus fouet Inobsequentes, ac suas vires docet.636
634 Ebd., IV,3, S. 50f. 635 Ebd., IV,3, S. 52. 636 Ebd.
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Der gemäßigte Herrscher überzeugt mithin zum Gehorsam, der maßlose befeuert den Ungehorsam und stärkt darüber hinaus dessen Kräfte. Der Sache nach findet zwischen Herodes und dem Senex also keine Auseinandersetzung zwischen Prudentismus und Moralismus statt, sondern ein innerprudentieller Disput über die zu erwartenden Folgen von Grausamkeit. Im letzten Versuch, Herodes zu überzeugen, argumentiert der Senex zwar mit einer übernatürlichen Kraft, die das Volk schon immer bewegt hat und weiter bewegen wird. Rechtstheologisch bleibt seine Argumentation allerdings weiter unbestimmt. Der senex kann nur damit schließen, dass aus Sicht des Menschen alles genauso zufällig zugrundegehe, wie es zufällig entstehe:637 Der Herrscher kann sich über diese übernatürliche, dem Senex weitgehend unbegreifliche Kraft nicht hinwegsetzen, um seine Macht zu sichern. Dieser eine von bloß zwei Dialogen im Drama legt besonders Herodes’ Beratungsresistenz offen: Sein monokratischer Machtanspruch ist dergestalt übersteigert, dass er nicht einmal pragmatischen Ratschlägen offensteht. Dieser einzige Dialog des Herodes weist daher mitunter die Gründe dafür auf, dass er ansonsten bloß monologisch spricht. Er zeigt mithin auf, warum Heinsius’ Tragödie vermehrt episch gerät. Stürner hält zu Recht fest, dass es Heinsius „in seiner Tragödie nicht so sehr um die Darstellung“ geht, „als vielmehr um die Deutung des biblischen Sujets“638 und – so ist zu ergänzen – seines politischen Substrats, d.h. der Folgerungen für eine bestimmte politische Theologie. Formengeschichtlich hält Stürner zutreffend fest: „An Stelle eines darstellend-dramatischen Grundzugs herrscht dementsprechend allenthalben ein episch-kommentierender Duktus vor“.639 Bei Heinsius lässt sich ebenso der Vorzug epischen Erzählens im Hinblick auf den gewählten Stoff und seine spezifischen Probleme feststellen wie bei Gryphius. Anders aber als dieser wählt Heinsius dennoch die Dramenform und dies natürlich zum Preis einer weitgehenden Episierung der Gattung und das heißt auch: zum Preis einer weitgehenden Entaristotelisierung bzw. Entscaligerisierung der Tragödienpoetik (siehe dazu auch 6.5). Bei Stürner selbst findet sich lediglich das formengeschichtliche Staunen über diesen Vorgang. Dabei ist dieses Staunen durchaus berechtigt, vertritt doch Heinsius selbst in seiner Poetik die Position eines scaligerisierten Aristotelismus, d.h. einer Tragödienpoetik unter den Leitre-
637 Ebd., IV,3, S. 54: „Fama, astra, vates, Rex nouus, dubios agunt / Versantque populous. mota plebs, plebem mouet. / Detur furori tempus, exiguum licet; / Quæ sponte oboritur, sponte tempestas cadet.“ 638 Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 424. 639 Ebd.
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geln der Einheitsnorm und des moraldidaktischen Lehrzwecks. Im Herodes hingegen findet sich ein vermehrt „statisch-oratorienhafter Charakter“ mit „langen Monologen“ und „monologhaften Dialogformen“.640 Für die Formen- und Gattungsgeschichte lässt sich gerade gewinnbringend aufzeigen, dass Heinsius’ Episierungstendenz dem Charakter seines Stoffes, der komplexen Diskurslage von dessen Problematik geschuldet ist. Dass Heinsius die Dialogform meidet, ja meiden muss, hat nicht dramatisches und nicht einmal genuin episches System: Das Problem des Stoffes ist eben durch den monokratischen Herrschaftsanspruch und -duktus des Herodes geprägt. Herodes entzieht sich in diesem Anspruch gerade der Konsultation externer Quellen des Rechts und des guten Rats. Er tritt daher auch nicht in Dialog mit ihnen: Das Gespräch mit dem Senex ist dabei nicht Widerspruch, sondern Ausdruck dieses Verhaltens. Stürner sagt es im Grunde selbst: Herodes ist ein „überheblicher Tyrann“.641 Er geht in keinster Weise auf den Senex ein. Das Gespräch ist ein bloß monologischer Dialog, in dem Handlungsentscheidungen nicht gefunden werden, sondern in dem nur noch autoritär kommuniziert wird, dass diese Entscheidungen bereits gefallen sind. Heinsius kann seinem Herodes mithin gar keine veritablen Dialoge aufzwängen, solange es ihm um ebenjene Problematik geht, die ein in sich einkapselnder, apriorischer Herrschaftsanspruch in sich birgt: Die Immunität gegen besseren Rat, der Rückzug eines solchen politischen Anspruchs auf die bloß eigene Überzeugung und Entscheidungskompetenz lässt keine andere Form als die monologische zu. Kommentierung kann dieser Anspruch mithin nur noch in epenhafter Form erfahren, in Gegenmonologen und Chorgesängen. Die Devianz vom aristotelischen Einheitsdogma ist also nicht kontingent, sondern dem gewählten Stoff geschuldet. Wenn daher die einzigen zwei Stichomythien der Tragödie in IV,2 und IV,3 einmal zwischen Herodes und dem Senex und ein andermal zwischen Anna und Joseph stattfinden, so dient dies eben nicht nur einer „rhetorisch zugespitzten, dramatisch aber folgenlosen, statischen Kontrastierung zweier unterschiedlicher Standpunkte“.642 Heinsius bringt im Mittel dieser Kontrastierung diejenige Problematik zur Darstellung, die eben durchaus dramatische Folgen zeitigt: Per contrarium stellt das Stück damit heraus, dass Herodes’ monokratischer Herrschaftsanspruch hier und der Lebensanspruch der Menschen dort eigentlich einer Vermittlung und eines Dialogs gerade bedürften. Herodes’ Einkapselung, seine Dialogverweigerung macht seinen Fehler und sein Unrecht aus.
640 Ebd. 641 Ebd., S. 432. 642 Ebd., S. 426.
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Das Befolgen eines regelpoetischen Apriorismus, die dramatische Zwangsdialogisierung des Herodesstoffes hätte Heinsius also den Problemkern dieses Stoffes radikal verfehlen lassen: die Handlungsnot der ‚guten Sache‘, die der ebenso absoluten wie willkürlichen Durchsetzungsmacht der bösen gegenübersteht und ausschließlich durch himmlischen Beistand aufgelöst werden kann. Daher wird in Heinsius’ Tragödie die Bestrafung des Herodes genauso wenig in der Form eines agierenden Strafgottes auf die Bühne gebracht wie in Gryphius’ Trauerspielen. Gryphius’ epische Verarbeitung kennt für die Handlungsmotivation des Herodes genauso wie für ihre Bestrafung bestimmte Personen als ihre Träger, nämlich den Teufel, Beelzebub und Gottvater. In Heinsius’ Darstellung liegt mehr eine Psychologisierung dieser Strafe vor. Auf die Nachricht seines Nuntius hin, dass Jesus, Maria und Joseph die Flucht nach Ägypten gelungen sei,643 verfällt Herodes in eine „Raserei“.644 Diese jedoch ist im Rahmen des zeitgenössischen Gewissensverständnisses eigentümlich rationalisiert. Es ist nicht nur darstellerischen, deiktischen Aspekten geschuldet, dass Herodes schon das Einsetzen seiner Gewissensqual benennen kann: „Nunc totus ardet animus, atque exæstuat, / Nunc fluctuatur cor, & exundat, meum“.645 Schon die Ausführungen zur Tradition des Denkens vom Gewissen in 4.1.2.1 dürften gezeigt haben, dass es den eigentümlichen Doppelcharakter des Gewissens bzw. der conscientia ausmacht, dass neben dem Wahnsinn dennoch die Wissentlichkeit um das Unrecht beibehalten wird. Diese Wissentlichkeit ist sogar notwendige Bedingung der Gewissensstrafe: Denn nur sie verhindert, dass sich der Schuldige in Unkenntnis seines Unrechts in einer falschen Überzeugung seines Rechts befindet. Herodes’ Gewissensqual lässt ihn daher allemal präzise erkennen, dass er sich an Unschuldigen verbrochen hat und nun selbst einer Strafe anheimfallen wird: „Satis alienus cruor / Vrbi immerenti fluxit. accedat meus“.646
4.4.4 Ex 20,2, Mal 3,6 und Melanchthons schrifttheologisches Substrat des Deus politicus Gryphius’ – ebenso wie Heinsius’ – Unterfangen, die Heilige Schrift auch als historische Quelle von Beispielen der göttlichen Straftätigkeit stark zu machen, steht auf tönernen Füßen, insofern das Matthäusevangelium die Bestrafung des
643 Heinsius: Herodes Infanticida, V,1, S. 65. 644 Stürner: Daniel Heinsius’ Tragödie ‚Herodes Infanticida‘, S. 423. 645 Heinsius: Herodes Infanticida, V,1, S. 65. 646 Ebd., V,1, S. 66f.
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Herodes eigentlich nicht erläutert: Nahe liegt nur der für einen theologischen Text plausible Schluss auf einen Tod unter Strafe. So ist Mt 2,19–21 zumindest unmissverständlich zu entnehmen, dass Herodes kurz nach dem bethlehemitischen Kindermord gestorben sein muss: Der Engel überbringt Joseph diese Nachricht im ägyptischen Exil und fordert ihn auf, mit Maria und dem „Kindlin“ nach Israel zurückzukehren.647 Weiter lässt sich auf einen Straftod aus der Formulierung in Mt 2,20 schließen, „[s]ie sind gestorben / die dem Kinde nach dem leben stunden“:648 Ein solcher Schluss wäre im Falle eines Beobachtungssatzes als post hoc ergo propter hoc-Schluss zwar falsch. Bei dem Satz einer privilegiert informierten Autorität hingegen, nämlich eines Engels, liegt die legitime Annahme nahe, dass der Kindermord in der Tat Ursache des Todes der Mörder war. Nichtsdestoweniger schweigt sich das Evangelium über die Gestalt des Todes von Herodes und seiner Mitstreiter aus. Dies mag mitunter Grund für Gryphius gewesen sein, mit dem Olivetum und dem Verrat des Judas 1648 einen weiteren Bibelstoff zu bemühen, der auch innerhalb der Heiligen Schrift die göttliche Bestrafung des Judas darbietet: in Form von Verzweiflung und Selbstmord.649 In der Apostelgeschichte reicht die Strafe sogar soweit, dass Judas „mitten entzwey geborsten / vnd alle sein Eingeweide ausgeschüt“.650 Nichtsdestoweniger kann die Bemühung wesentlich historischer Beispiele der Bibel systematische juridische Argumente nicht ersetzen, obwohl sie besonders in der politischen Streitkultur ihre große Bedeutung behalten wird (4.4.6). Es erstaunt daher wenig, dass abermals auf Melanchthon zurückzukommen ist. Melanchthon führt im Unterschied etwa zum späteren Schönborner den Gedanken der göttlichen Strafe ausführlich aus. Er erlaubt es mithin, die bei Gryphius virulente Frage zu beantworten, wie diese göttliche Strafe im Einzelnen vorzustellen ist. Es ist bemerkenswert, dass Melanchthon sich das Problem, dass das Naturrecht eine gleichermaßen universale und damit transhumane Strafinstanz benötigt, selbst einhandelt. Er löst die gehaltliche Bekanntheit der principia practica vom Offenbarungsakt der Gottesinstanz, um die Universalität dieses Gehalts behaupten zu können: Universalität besteht zum einen in Ubiquität. Der Dekalog besitzt deshalb Geltung für alle Menschen, da seine Prinzipien im Unterschied zu
647 Mt 2,20. 648 Ebd. 649 Mt 27,3–5. 650 Apg 1,18.
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den Zeremonialgesetzen natürlich erkennbar sind.651 Universalität besteht zum anderen in Perennität. Die natürlichen Gebote haben schon vor dem Alten Bund Geltung besessen und diese Geltung auch nach ihm behalten. Natürlich hat Melanchthon erstens das universale Wissen um die Existenz Gottes ebenso schon in den ideae innatae untergebracht. Sie erlauben und gebieten die Anerkennung Gottes gleichermaßen intramental. Zweitens verweist Melanchthon auf die ebenso intramentale Bestrafung der Sünde in und durch das Gewissen: „Gott will haben, das alle Menschen die sünde erkennen, vnd will vns mit vnserem eigenen Gewissen richten vnd straffen“.652 Innersystematisch hätte Melanchthon die Geltungsinstanz der principia practica also eigentlich genügend nachgewiesen, deren Verpflichtungskraft mithin ausreichend erwiesen.653 Allerdings scheint Melanchthon selbst eine Strafung weltlicher Sünden durch das forum internum allein nicht mehr zu genügen. Er nimmt den empirischen Einspruch ernst, dass die äußerliche göttliche Strafe augenscheinlich nicht statthabe (4.2.2). Damit begibt sich Melanchthon selbst in neuerlichen begründungstheoretischen Druck hinein. Wird nämlich daran festgehalten, dass die vis obligativa eines Gesetzes erst durch den externen Gesetzesstifter gegeben ist, so muss ein Problem dort auftreten, wo die Strafgewalt dieses externen Gesetzgebers bezweifelt wird.
651 CR XXI, Sp. 687f.: „Ceremoniae Mosaicae et forenses leges nec mandatae sunt caeteris Gentibus nec obligant nos, ut fuerunt ad tempus isti populo Israël traditae […] Sed est alius gradus legum, quae vocantur Morales, quae sunt aeterna Dei sententia et regula nec mutantur temporibus. Semper ab aeterno voluit Deus hanc propositionem: Creatura diligat et timeat Deum, Creatura rationalis sit casta. Sunt autem leges morales, quae praecipiunt de agnitione Dei in mente et de obedientia cordis erga Deum et de virtutibus erga hominess, ut de iustitia, castitate, veritate, temperantia. Praecipuae autem legume moralium simul in una parva tabella miro consilio Dei comprehensae sunt, quae tabella vocatur Decalogus. […] Hae cum sint aeternae regulae mentis divinae, simper sonuerunt in Ecclesia, etiam ante Moysen, et simper mansurae sunt, et ad omnes gentes pertinent.“ 652 CR XXII, Sp. 147. Vgl. CR XXI, Sp. 1083: „CONSCIENTIA est syllogismus practicus in intellectu, in quo maior propositio est Lex Dei, seu quodcunque verbum Dei nobis aliquid praecipiens. Minor vero et conclusio sunt applicatio approbans recte factum vel condemnans delictum, quam approbationem in corde sequitur laetitia, et condemnationem dolor naturali ordine sancito a Deo, qui vult in creatura rationali hanc notitiam sui iudicii esse et executionem accedere, ut sit testimonium de ipso ostendens, esse Deum et praecipere iusta et prohibere iniusta et punire“. 653 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 332–333.
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4.4.4.1 Naturrechtssystematische Redundanz des Offenbarungsaktes? Dass Melanchthon diese Einwände als empirische Entgegnungen ernst nimmt, zeigt sich daran, dass er ihnen nun nicht mehr systematisch, sondern zunächst selbst empirisch zu begegnen sucht: „Non frustra maledictiones in Lege Dei propositae sunt, quas non esse irritas universa mundi historia testatur“.654 Historischen Exempla, in denen das Ausbleiben der göttlichen Strafe wider einen Tyrannen behauptet wird, entgegnet Melanchthon mit einer Erweiterung des innerexemplarischen Fokus: Denn wiewol viel vnfletiger Tyrannen gewesen sind, vnd sein werden, So gibet doch zu zeiten Gott widerumb einen Man, der die zerfallene Regiment widerumb anrichtet, Als gewesen sind, Nabogdonosor, Cyrus, Solon, Themistocles, Fabius, Scipio, Augustus, Constantinus, Theodosius etc.655
Entscheidend ist hier der historisch-empirische Hinweis, dass göttliche Strafen statthatten. Wer behauptet, auf ein irdisches Unrecht (wie etwa das von Mark Anton verübte) sei keine göttliche Strafe (in Form des Augustus) gefolgt, hat nicht lange genug geduldig gewartet. Von den Kritikern des Naturrechts wurde in der historischen Betrachtung ein zu kurzer Zeitraum herausgenommen und damit der göttlichen Strafe letztlich eine zu kurze Frist gesetzt – was nachgerade gotteslästerlich ist. Damit bekommt Melanchthons empirische Entgegnung natürlich wieder ein dogmatisches Fundament. Gott Ungerechtigkeit vorzuwerfen, wäre eine Sünde ausdrücklich ersten Grades gegen das erste Gebot: Der erste Grad der sünden wider das erste Gebot, ist tichten oder sagen, Es sey kein Gott, oder Gott sey nicht ein gerechter Richter, achte der Menschen nicht. […] diese unsinnigkeit ist wider die vernunfft vnd wird in Epicuro vnd dergleichen durch der Teuffel angeblasen gesterckt.656
Rechts- und geltungslogisch mag hier vordergründig eine zirkuläre, jedenfalls unbefriedigende Argumentationsbewegung Melanchthons vorliegen: Die empirische Frage nach den göttlichen Strafhandlungen wird nicht beantwortet, sondern sie wird für unzulässig, ja verboten erklärt. Die vordergründige Begründung ihrer Unzulässigkeit nimmt sich rationalistisch aus: „diese unsinnigkeit ist wider die vernunfft“, verweist aber nur zurück auf die harten theologischen Prämissen
654 CR XXI, Sp. 998. 655 CR XXII, Sp. 603; vgl CR XXI, Sp. 998: „Ruunt postea in poenas Caligula, Claudius, Nero, Domitianus, Commodus et alii innumerabiles.“ 656 CR XXII, Sp. 208.
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des Theologen Melanchthon. Dass die Haltung der Epikureer ebenso wie die der Stoiker und Philosophen für Melanchthon weniger vernunftwidrig sind im heutigen Sinne, sondern vor allem wider das Dogma des ersten Gebotes selbst, weisen schon die einleitenden Worte zum ersten Gebot in den Heubtartikeln aus: Nu wissen alle Heiden aus dem dunckeln natürlichen verstandt, das Himel vnd Erden, Menschen vnd andere Creaturn, nicht selbs also zusamen geflossen sind, sondern das ein weises, allmechtiges Wesen ist, das alle ding erstlich erschaffen hat vnd noch erhelt, Aber die Heiden vnd andere Abgöttischen weichen vff mancherley wege, vom warhafftigen Gott, Darumb ist hie eine Regel gestellet, die vns zum warhafftigen Gott weist, vnd leret, wie man Gott recht erkennen sol, nemlich, Gott hat allezeit ein eusserlich Zeugnis fürgestellet, Dabey wil er erkandt sein, vnd unterschieden von allem, das andere menschen anruffen, vnd ist hie dieses zeugnis, die ausführung aus Aegypto, diesen soltu für Gott halten, der das Volck Israel aus Aegypto geführet hat, vnd die grossen Mirakel gethan.657
Den allererst hinreichenden Beweis der Gültigkeit der zehn Gebote – auch des ersten – erbringen diese selbst nicht: Sie sind selber zwar notwendige Bedingungen der Gesetzes- und Gotteserkenntnis. Jedoch erst die Selbstauskunft Gottes in seinen äußeren Zeugnissen erlaubt hinreichende Gewissheit derselben. Wenn Melanchton allerdings noch an selber Stelle die inhaltliche Redundanz des Dekalogs gegenüber den praktischen ideae innatae ausdrücklich hervorhebt,658 wird diese Selbsteinschätzung bezüglich der letzten Beweiskraft der eingeborenen Ideen fraglich. Die Redundanz des Dekalogs trifft zwar propositional zu, insofern in ihm „die summa der Gebot […] seer ordenlich vnd kurtz gefasset“659 ist. Dies hindert jedoch nicht die schlussendliche geltungstheoretische Externalisierung des gültigen Beweises von Gottes Straftätigkeit und damit des Beweises der Geltung der zehn Gebote als Gesetze. Zugestanden also, dass die Behauptung von Gottes Ungerechtigkeit ‚vernunftwidrig‘ ist, so ist damit bei Melanchthon dennoch allein die Form der Schlussfolgerung, nicht die gehaltliche Begründung der Praemissa Maxima selbst gemeint. Es ist nicht die Widersprüchlichkeit gegenüber einer modernen reinen Vernunft gemeint, sondern nichts anderes als die Widrigkeit gegen diejenigen rationalen Schlüsse, die aus Theologemen, nicht aus Philosophemen zu ziehen sind.
657 CR XXII, Sp. 203f. 658 CR XXII, Sp. 203: „Der Text im andern Buch Moisi, Cap. Xx. sol allen Menschen bekandt sind, darinne die herrliche Historia beschrieben ist, wie die Göttliche stimme vom Berg Sinai, die zehen Gebot selbs gesprochen hat, Nu ist da keine newe Lere gegeben, sondern die summa der Gebot ist seer ordenlich vnd kurtz gefasset“. 659 Ebd.
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Erst drei Jahre später geht Melanchthon in den Loci tertiae aetatis bewusst den letzten Schritt hin zur einer letztlich aninnatistischen Geltungstheorie: Die ausdrückliche Reduktion des Offenbarungsaktes am Berge Sinai auf eine lediglich göttlich-positive Summierungshandlung wie in den Heubtartikeln findet sich im entsprechenden einführenden Absatz Decalogus nicht mehr.660 Stattdessen gesteht Melanchthon hier den Vorteil einer Gesetzesoffenbarung Gottes, die gegenüber den ideae innatae keineswegs mehr redundant ist: Das erste Gebot schreibt das höchste und grundlegende Werk vor, nämlich die wahrhafte Kenntnis Gottes und den vollkommenen Gehorsam gegenüber Gott, in vollkommener Gottesfurcht, Gottvertrauen und Gottgefallen. Es umfasst die zwei größten Dinge, nämlich die Art, Gott zu erkennen, und Gott zu verehren. Was die Art betrifft, so ist Gott durch sein Wort und Zeugnis zu erkennen. Weil nämlich Gott unsichtbar ist, ist es notwendig, dass von ihm ein deutliches Zeugnis hervortritt, durch das er erkannt und wahrgenommen wird. Zwar erkennt der menschliche Geist an der Schöpfung der Welt Gott als ihren Urheber, aber diese Kenntnis reicht noch nicht aus. Denn auch die Heiden und Mohammedaner besitzen sie, und dennoch wird dieses Wissen bei vielen vom Teufel vertrieben. Obwohl Gott also uns allen nahe ist, bleibt trotzdem der Zweifel, ob jener Schöpfergott sich um uns sorgt und erhört, ob er verehrt werden will und wie er verehrt werden will. Hierfür ist das Wort Gottes und sein Zeugnis vonnöten. Daher sei hier das sichere Wort und Zeugnis angeführt: „Ich bin der Herr Dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat“.661
Die Herausführung aus Ägypten wirkt nur vordergründig als empirisch-augenscheinlicher Beweis von Gottes gütiger Handlung am Volke Israel, mithin als Beweis seiner strafenden Handlung wider den Phararo und sein Gefolge: Die letzte Beweiskraft erwirkt auch hier noch nicht der empirische Charakter des Exodus selbst. Ein solches Offenbarungsverständnis, das der Rettungshandlung Gottes als solcher einen Offenbarungscharakter im Sinne eine revelatio peculiaris zuschriebe, kommt für Melanchthon nicht in Frage.662 Auch Melanchthon weicht
660 CR XXI, Sp. 690. 661 CR XXI, Sp. 690f.: „Primum mandatum praecipit de eo opere, quod summum et praecipuum est, videlicet de vera notitia Dei, de vera et perfecta obedientia erga Deum, perfecto timore, fiducia et dilectione Dei. Complectitur autem duas maximas res, scilicet modum cognoscendi Dei et verum cultum. Modus est, ut apprehendatur Deus per suum verbum et testimonium. Quia enim Deus est invisibilis, necesse est de eo aliquod testimonium extare, per quod agnoscatur et apprehendatur. Ut mens humana intuens mundi opificium cogitat de auctore Deo, sed haec notitia nondum sufficit, quam et Ethnici et Mahometistae tenent, quanquam haec quoque multis a Diabolo excutitur. Sed ut maxime adsit, manet tamen dubitatio, An ille conditor Deus nos curet, exaudiat, an sic velit coli, et quomodo velit coli. Hic opus est verbo Dei et testimonio; Ideo hic propositum est certum verbum et testimonium: Ego sum Dominus Deus tuus, qui eduxi te de terra Aegypti“ [Hervorhebung O.B., Übersetzung O.B.]. 662 Diese lehnt Martin Luther im Rahmen des sola fide fundamentaltheologisch ab: Vgl. Ulrich
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nicht von der schrifttheologischen Prämisse Luthers ab, dass der Gedanke einer Werkoffenbarung unhaltbar sei. So ist auch bei Melanchthon der Modus der Gotteserkenntnis ausdrücklich der von Wort und Zeugnis. Die Selbstoffenbarung Gottes erfolgt nicht in der Herausführung aus Ägypten, sondern in seinem geoffenbarten Wort über die Befreiung aus Ägypten: Ex 20,2.663 In Zweifelsfällen, die durch den Innatismus nicht aufgefangen werden, ist das Wort und Zeugnis Gottes notwendig („Hic opus est verbo Dei et testimonio“). Dabei ist dieses „gewiss wahre Wort und Zeugnis hier“ – also in Ex 20,2 – „vorgestellt“ („Ideo hic propositum est certum verbum et testimonium“), d.h. an einem bestimmten Ort. Daher gilt für Melanchthon nichts anderes als: Die geltungstheoretische conditio sine qua non für ein göttliches Gesetz, nämlich den Nachweis der Tatsache des strafenden Gottes, kann Melanchthons propositionaler Innatismus selbst nicht erbringen. Erst die Offenbarung im Wort Gottes erbringt die letzte Wahrheitsgarantie. Erst hier ist kein weiterer Regress mehr notwendig. Erst die Offenbarung kann endlich auch ihre eigene Widerspruchsfreiheit begründen. Zwar kann auch sie diese selbst nur voluntaristisch setzen; dafür tut sie dies ausdrücklich. In den Ausführungen zum Lügenverbot begründet Melanchthon dessen Geltung mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der gemäß der Mensch ebenso wenig lügen darf wie Gott selbst: Und ist erstlich diese Tugent in Gott volkomen vnd fürnemlich, denn er verstehet alles gründlich wie es ist, vnd redet also da von, vnd ist nicht vnbestendig, Darumb spricht Gott, in Zacharia im dritten Cap. Ich bin der HERR vnd ich verendere mich nicht, Darumb sollen wir von seinen reden nicht zweifeln.664
Mithin weißt Melanchthon mit dem Zitat – das tatsächlich dem Buch Maleachi entstammt665 – die Widerspruchsfreiheit der Gottesinstanz selbst auf. Damit wehrt Melanchthon einer anti-voluntaristischen Polemik, mit der Annahme eines absolut freien Willen Gottes wären dessen Beschlüsse faktisch unbefolgbar.666
Dierse, Wenzel Lohff: [Art.] Offenbarung III. Neuzeit bis zum 18. Jh. In: HWPh 6, S. 1114–1121, S. 1114. 663 Ex 20,2: „JCH bin der HERR/ dein Gott/ der ich dich aus Egyptenland […] gefürt habe.“ 664 CR XXII, Sp. 244. 665 Mal 3,6: „Denn ich bin der HERR / der nicht aleuget [a Marg.: „Ders nicht endert. Ders da bey bleiben lesst“] / Vnd es sol mit euch kindern Jacob nicht gar aus sein“. Vgl. CR XXI, Sp. 709f. 666 Im Rahmen des von Duns Scotus angestoßenen Voluntarismus-Streits wurde vor allem davon ausgegangen, dass die lex naturalis nicht aus der göttlichen Ordnung ableitbar sei, da es sich nicht wesentlich aus dieser, sondern aus Gottes Wille ergibt. Merio Scattola weißt allerdings genauso wie Ernst-Wolfgang Böckenförde zurecht daraufhin, dass dieser begründungstheologische Voluntarismus nicht geltungstheoretisch dahingehend überschätzt werden sollte, dass von
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Die prinzipielle Zügellosigkeit eines antiintellektualistischen göttlichen Willens, der nicht einmal an das Widerspruchsverbot gebunden ist, ist in der Tat nicht wenig problematisch. Melanchthon weiß dieses Problem zu entschärfen, indem er den absoluten göttlichen Willen auf sich selbst anwenden lässt: Gott unterwirft sich dem Widerspruchsverbot nicht aus Zwängen seitens der ratio, sondern aus seinem eigenen Willensentschluss. Ein hinsichtlich der Omnipotenz allgemeiner Voluntarismus wird so gerade gegen einen bloß speziellen Voluntarismus verteidigt: Mit dieser geschickten Volte Melanchthons kann der Mensch auf die Beständigkeit des von Gott geoffenbarten Wortes zählen. Dass diese Beständigkeit des Wortes Gottes gilt, entnimmt Melanchthon wiederum dem Wort Gottes – Mal 3,6 – selbst.667 Wenn Melanchthon also die These von der universalen Geltung des Naturrechts zu verteidigen sucht, argumentiert er letztlich offenbarungstheologisch. Begründungs- und geltungstheoretische Fundierung der praktischen ideae innatae ist aus dem Innatismus selbst heraus nicht zu gewinnen. Inwieweit Melanchthon dies selbst reflektiert und als problematisch erkannt hat, ist hier nicht der Ort zu erörtern. Fest steht, dass der Christ durch die Kenntnis der Offenbarung, des unmittelbaren Wortes Gottes auch hinsichtlich des Gesetzes privilegiert ist: Das schöpfungstheologische Moment der ideae innatae tritt hinter das offenbarungstheologische Verbürgungsmoment zurück.668 Zudem ist der schrifttheologische Primat zu berücksichtigen, das Wissen also, dass Gott und sein Wille allein der Schrift zu entnehmen sind. Damit spitzt sich das offenbarungstheologische Fundament konsequent auf das einer Theologie der Schriftoffenbarung zu. Angemessene Furcht vor Gottes Strafe kann daher nur der Lutheraner haben, insofern nur er sowohl die Heilige Schrift kennt als auch ihren Status als allein sicheres Offenbarungszeugnis beherzigt.
namhaften Voluntaristen tatsächlich die Konstanz und Geltung des göttlichen und natürlichen Recht bestritten worden wäre: Scattola: Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 32: „Auch Willhelm von Ockham, der radikalste unter den Voluntaristen und Nominalisten, ging davon aus, daß einige göttliche Gebote jedem Menschen angeboren und ‚der natürlichen Vernunft angemessen‘ sind.“; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 306. 667 Dass Melanchthon etwa in umgekehrter Weise den Offenbarungsakt selbst schon als redundant den eingeborenen Ideen einverleiben wollte, scheint die unwahrscheinlichste aller Deutungsvarianten. Da er unmöglich so unvermittelt die Offenbarung resystematisieren wollen kann – das wäre hinsichtlich seines Voluntarismus der weitaus fundamentalere Selbstwiderspruch –, bleibt als Folgerung in der Tat nur, dass die letzthinnige Gewissheit der göttlichen Strafhandlung, mithin der ideae innatae und der natürlichen Gesetze doch nur durch Offenbarung erlangt werden kann. 668 Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 328.
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4.4.4.2 Melanchthons politischer Gott Gerade wenn sich Melanchthon mit dem freien Willen des Menschen auseinandersetzt, unternimmt er einen nachgerade reziproken Beweis des liberum arbitrium und der Existenz des göttlichen Rechts sowie dessen aktiv-göttlicher Strafbewehrtheit: Wo nun solche [äußerliche] gerechtigkeit ist, da ist auch dieses vermögen das man die eusserlichen Glieder, als zungen, hende, vnd füsse zu gebotenen wercken vnd geberden, regen vnd brauchen kann, Denn sonst köndte auch solche eusserliche gerechtigkeit niemand haben, Diese folge ist klar vnd gewiss […] Vnd nach dem das junge Volck gehöret hat, das die werck nicht vergebunge der sünden verdienen, werden sie wilder, mit teuflicher füllerey vnd vnzucht […] Wider diesen schedlichen vnfleis sol man wissen, Das Gottes ernstlicher wille ist, das alle Menschen durch rechte zucht, im zaum gehalten werden. […] diese Regel bleibet gewisslich war, Eusserliche offentliche sünde, als Todschlag, Ehebruch, Blutschande, vnd andere unzucht, Raub, Betrug, falsche Eide, Epicurische Gotteslesterung, Abgötterey, zeuberey etc. Straffet Gott gewislich auch in diesem jetzigen Leben / mit leiblichen Strafen.669
Das Freiheitsgeschehen ermöglicht eine Handlungsalternative und erst durch diese machen Gebots- und Verbotsgesetze Sinn. Die Negation der Werkgerechtigkeit bedeutet daher nicht die Negation der Willensfreiheit: Der Mensch kann zwar sein Heil nicht tatkräftig wirken. Dennoch wäre es ein unzureichender Schluss vom Besonderen der Heilsfrage auf das Allgemeine der Handlungstheorie, deshalb schon zu meinen, der Wille des Menschen wäre unfrei. Der zweite Fehlschluss, den Melanchthon seinen Gegnern vorwirft, lautet dabei, dass Gott kein Interesse an der irdischen Einhaltung seiner Gesetze hätte, weil diese das Heil nicht berührt. Die Wirkung der guten Werke für das Heil zu negieren, darf gerade nicht dazu führen, die Wirkung der guten Werke auf Gottes irdischen Zuspruch bzw. Zorn zu unterschätzen. Zwar wird nicht nur Luthers, sondern auch Melanchthons politisches Denken zurecht als Motor der Säkularisierung begriffen. Dennoch trifft dies nur insofern zu, als die äußere Ordnung kein heilsgeschichtliches Telos mehr besitzt. Wenn aber diese säkulare umfassende Gerechtigkeit nach wie vor nur theonom gewährleistet und daher nur theologisch konzipiert werden kann, dann hat diese Säkularisierungsleistung bei Melanchthon allemal ihre Grenzen. Gott wird von einer exklusiv heilsgeschichtlichen Zuständigkeit befreit und bleibt dennoch Geltungsund Strafinstanz der äußerlichen weltlichen Ordnung.
669 CR XXII, Sp. 149f. [Hervorhebung O.B.].
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Dass an den irdischen Strafen Gottes nicht zu zweifeln ist, wird in der Folge wiederholt betont. Wenn Melanchthon von den wirklichen Sünden handelt, gibt er abermals den Grund und die Ursache dieser Zweifellosigkeit an: Vnd ist nicht zweiffel, das nach groben, wircklichen sünden folgen leibliche straffen in diesem Leben […] vnd bleibet diese Regel gewislich war, das in diesem Leben nach groben wircklichen sünden, leibliche straffen folgen, Denn Gott will, das diese straffen eine erinnerung sind, wie Er sey, nemlich, Weis, vnd gerecht, der vnterscheid halte zwischen tugend vnd vntugend, vnd tugend liebe, vnd ernstlich zürne vber vntugend, Vnd werde die sünde straffen, ob es gleich nicht also balde geschiehet.670
Melanchthon korreliert hierbei in eigentümlicher Verknüpfung Gottes Wille mit der Fraglosigkeit seiner irdischen Strafhandlung. Gottes Strafhandlung ist unbezweifelbar, weil er sie will. Dass er sie seinem freien Willen gemäß nicht nicht wollen kann, geht aus Gottes Versprechen in Mal 3,6 hervor, sich nicht zu widersprechen. Im letzten Halbsatz räumt Melanchthon ein, dass die irdische Strafe Gottes nicht immer umgehend erfolgt. In jedem Fall ist ihr Eintreten und ihre Gestalt nicht berechenbar. Damit greift er den Vorwurf wieder auf, der ihm schon Anlass zur Behandlung des Ursprungs des Bösen gegeben hatte. Die Tatsache der göttlichen Strafe ist für Melanchthon an dieser Stelle bereits unstrittig. Die Frage nach Gottes Strafhandlung und damit nach der Geltung seiner Gesetze wurde also indirekt eingeschränkt auf die Frage nach ihrer Evidenz: Gottes Strafe kommt. Melanchthon ist sich – das gilt es zu wiederholen – hinsichtlich seines Gesetzesbegriffs unzweideutig im Klaren darüber, dass „Gesetz one straffe […] eine vergebliche Rede“671 ist: „Dabey sind aber auch grosse grausame straffen in diesem Leben von Gott geordnet, vnd ist Gott selbs der straffer“.672 Unklar ist lediglich noch, wann und wie die göttliche Strafe wider eine straffällig gewordene Obrigkeit erfolgt. Auf die Frage des Zeitpunkts gibt Melanchthon keine präzisere Auskunft, als dass Missetäter für ihre Untaten durchaus in diesem Leben bestraft werden. Melanchthon hat allerdings an selber Stelle schon eine genauere Vorstellung davon, worin die göttliche Strafe besteht: „[V]nd stellet vns Gott die grausamen
670 CR XXII, Sp. 187. 671 CR XXII, Sp. 249. 672 CR XXII, Sp. 215. Schon für den Fall, dass ein Untertan straffällig wird, die von Gott schutzwie strafbefohlene Obrigkeit diesen allerdings nicht straft, hält Melanchthon fest, dass Gott diesen dann eigenhändig straft: „Vnd so […] die Oberkeit faul sind, vnd nicht straffen wollen, ist Gott selbs der gerechte Richter, straffer vnd Henger“ (CR XXII, Sp. 223f.).
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straffen für augen, Todt, Kranckheit, Armut, Hunger, Krieg, Galgen, Radt, vnd alle Plagen, das, wir seinen grossen Zorn wider die Sünde betrachten können“.673 Die Bestrafung weltlicher Obrigkeit darf ausdrücklich nicht von den Untertanen vollzogen werden: Ihnen ist gemäß Röm 13,2 der Widerstand verboten. Widerstand griffe Gottes Urteil vor und maßte sich die entsprechenden Befugnisse unzulässig an.674 Melanchnthon interpretiert politischen Widerstand sogar als Verstoß gegen das vierte Gebot, indem er Herrscher und Vater analogisiert.675 Das Regiment stammt von Gott und kann nur von diesem wieder genommen werden.676 Dessen Mittel benennt Melanchthon jedoch ebenso deutlich: Denn wiewol viel vnfletiger Tyrannen gewesen sind, vnd sein werden, So gibet doch zu zeiten Gott widerumb einen Man, der die zerfallene Regiment widerumb anrichtet, Als gewesen sind, Nabogdonosor, Cyrus, Solon, Themistocles, Fabius, Scipio, Augustus, Constantinus, Theodosius etc.677
Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass Melanchthon ausschließlich andere Souveräne als menschliche und befugte Strafinstanzen gegenüber diesen Tyrannen ansieht: „Diesen Bluthunden vnd schandflecken geburt nicht Ehrerbietung oder vergebung, sondern andere Regenten sollen jnen ordentlicher weis, als tollen Hunden wehren“.678 In anderer Weise wird eine menschliche Strafbefugnis über Souveräne bei ihm nicht angedacht. Jean Bodin wird dies in seine Vermittlung von Herrschersouveränität und Tyrannisverdikt integrieren: „Non pas que ie veuille dire qu’il ne soit licite aux autres Princes poursuyure par force & par armes le tyrans“.679 Besonders Francisco Suárez formuliert pointiert den Umkehrschluss: Unter Aufrechterhaltung des Widerstandsverbots bleibt der sündhafte Herrscher legitimer Herrscher, solange er nicht durch eine souveräne Intervention von außen seiner Macht enthoben wird: „Quocirca licet peccator forte mereatur privari regno, tamen quamdiu illo non privatur ab habente potestatem, verus rex perseverat“.680 Gryphius übernimmt diese traditionsreiche, von Saxoferrato über Vitoria, Melanchthon und Suárez herkommende Auffassung von einer subsidiären Strafbefugnis
673 CR XXII, Sp. 187f. 674 CR XXI, Sp. 706; CR XXII, Sp. 285f. 675 CR XXII, Sp. 223f. 676 CR XXII, Sp. 601f. 677 CR XXII, Sp. 603. Vgl CR XXI, Sp. 998: „Ruunt postea in poenas Caligula, Claudius, Nero, Domitianus, Commodus et alii innumerabiles.“ 678 CR XXII, Sp. 623 [Hervorhebung O.B.]. 679 Jean Bodin: Les six Livres de la Republique. Paris 1577, II, 5, S. 260. 680 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 10. 10, Bd. 1, S. 186.
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anderer Souveräne681 und bringt sie im Sonett An einen hchstberhmten Feldherrn / bey Uberreichung des Carl Stuards deutlich zum Ausdruck. Vom Adressat, dem von ihm geschätzten brandenburgischen Kurfürsten (siehe 1), fordert er genauso wie von den übrigen Herrschern Europas die Rache des Königsmordes: „Die Unschuld, die den Geist in solchem Hohn auffgiebt / Erfordert was gerecht / und rechte Waffen liebt / Zu rchen diesen Fall. Heer Schwerdter aus der Scheiden!“ (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XLVII, S. 118, v. 12–14).
4.4.4.3 Rechtes Handeln und Heil Aus Melanchthons Bestimmung von Gut und Böse bzw. von der letztlich schriftoffenbarungstheologischen Grundlage der göttlichen Rechtsgeltung ergeben sich heilsrelevante Konsequenzen für das Verständnis von weltlichem und geistlichem Regiment: Ihre Unterscheidung bleibt zwar bei Gryphius genauso wie bei Melanchthon systematisch unbestritten. Das weltliche Regiment kann und soll wegen der Unmöglichkeit des Glaubenszwangs nicht in das Geschäft des geistlichen hineinreichen. Umgekehrt aber ist diese Trennung zu relativieren: Das weltliche Regiment kann aus dem geistlichen Regiment – gleichsam in einem Akt von Amtshilfe – allererst diejenigen Kenntnisse gewinnen, die eine Zivilgesetzgebung und politische Entscheidungsfindung erlauben, die mit Sicherheit der lex Dei konform sind. Für den Heiden hingegen gilt zwar nach wie vor die propositionale Universalität der natürlichen Gesetze, insofern er diese Gesetze inhaltlich angemessen wissen kann. Dass sie jedoch göttliche, strafbewehrte Gesetze sind, kann ihnen in Ermangelung des schrifttheologischen Offenbarungswissens nicht angemessen bekannt sein. Eine der lex Dei konforme Zivilgesetzgebung und politische Führung ist im heidnischen Staat nur kontingenter Weise vorzufinden. Es ist gerade diese Kontingenz des Verfolgens allgemeiner Normen, die Melanchthon in einer teleologischen Typologie drei Formen des Staates unterscheiden lässt: erstens denjenigen, der um Gott weiß und deshalb dessen Normen einhält; zweitens denjenigen Staat, der um Gott nicht weiß und dennoch dessen Normen einhält; und drittens denjenigen Ketzerstaat, der um Gott weiß und dessen Normen bricht, gerade um ihm zu lästern.682 Es ist weiterhin diese Kontin-
681 Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, S. 73f. 682 CR XXII, Sp. 623: „Vnd ist hie seer not vnterscheid zu mercken, In allen Herrschafften sol man vff das Heubtstücke sehen, wo zu fürnemlich vnd entlich da das Reich gemeint sey, als nemlich, Etliche Reich sind fürnemlich da hin gericht, Gottes ehre, wort vnd erkentnis zu erhalten. Als das Königreich Juda gewesen, das Gott furnemlich dazu gebrauchet, vnd grosse Wunderwerck darin erzeiget hat. Etliche wiewol sie Gottes vergessen, so sind sie doch nicht da zu fürnemlich vffgericht, Gottes Wort zu verfolgen, sondern in Landen gemeinen frieden zu erhalten.
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genz, die schon Melanchthon gegen den machiavellischen Pragmatismus Front machen lässt: Ein säkularer politischer Prudentismus ist gerade unklug, weil er die politische Bedeutung der Naturrechtsnormen und ihrer Bestrafung geringschätzt. Mehr noch: „Valde errant, qui Soloni aut Augusto maiorem tribuunt politicam sapientiam, quam his viris, qui divina luce regebantur et Deum vere invocabant, Ioseph, Danieli, Esdrae et similibus“.683 Die politische Weisheit des Menschen kann gar keine andere sein, als den Befehlen Gottes zu gehorchen.684 Schon der gut regierte Staat wie der Principat des Augustus ist mithin nur zufällig gut regiert, weil er um die Geltungsinstanz der politisch relevanten Naturrechtsnormen als einer Strafinstanz nicht angemessen weiß. Melanchthon zeigt daher ein weiterreichendes Problembewusstsein dafür, dass nicht nur die Frage der Herkunft und der Wesentlichkeit des Bösen (4.4.3) rechtstheologisch different ist, sondern auch die Frage nach Gottes Stellung und irdischer Stellungnahme zum Bösen. Wenn Melanchthon sowohl in den Heubtartikeln als auch in den Loci tertiae aetatis die Frage behandelt, warum gute Werke eigentlich getan werden sollen, knüpft er zwar an die Frage von Gottes Verhältnis zum Bösen an. Er modifziert sie jedoch insofern, als er sie vordringlich säkular stellt und beantwortet. Das Problem stellt sich nämlich im Hinblick auf die von Melanchthon ausdrücklich bejahte lutherische Lehre: Gute Werke erwirken kein Heil, sondern dieses wurde allein durch Christi Schuldaufnahme und Erlösungstat erwirkt. Das Irdische droht eitel zu werden, insofern in ihm die Güte der Werke indifferent für das Heil sind. Damit stellt sich die von Melanchthon ernst genommene Frage, warum hinsichtlich dieser Indifferenz gute Werke noch getan, d.h. Recht noch eingehalten werden soll: Warumb vnd wo zu sol man gute werck thun? Ist diese antwort. Erstlich ist nötig zu wissen, Das vnsere gute werck oder angefangener gehorsam nicht verdienst ist der vergebung der
Als die vier Monarchien haben dazu gedienet, Haben derhalben erbare Gesetze gemacht, vnd die Gericht in Landen ordentlich gehalten […] Das nu solche Reich zu ehren sind, vnd für sie zu bitten, das ist leicht zuuerstehen, Als für Davids Reich, Item, für das Reich Augusti. […] Dagegen ist die dritte Form, so ein Reich fürnemlich zu verfolgung Göttliches worts, vnd zu mord vffgerichtet ist. Als Mahomets reich ist fürnemlich dazu angefangen, den Namen vnsers Heilands Christi zu tilgen, Vnd ist nicht ein weltliche Regierung, wie die Monarchien gewesen sind, zu Frieden vnd Recht gemeint, Sondern fürnemlich zu Gotteslesterung, vnzucht, vnd mord. Denn das Mahometisch Gesetz, darauff das Saracenisch vnd Türckisch Reicht gegründet ist, gebeut nicht frieden zu halten, sondern die Friedlichen anzugreiffen vnd zu morden.“ 683 CR XXI, Sp. 995. 684 CR XXI, Sp. 1085: „Est igitur sapientia generaliter notitia vera illustris aut mediocris, agnoscens res, quas Deus vult aspici et considerari, sicut Deuteron. 4 dicitur: Haec est sapientia vestra, audire praecepta Dei.“
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sünden, ist auch nicht erfüllünge des Gesetzes […] Darnach ist vff diese Frag bericht zu thun, Warumb vnd wozu sol man gute werck thun? Antwort. Von wegen des gehorsams, dazu Gott alle vernünfftige Creaturn erschaffen hat. Dieses ist die Heubtantwort, daraus hernach etlich mehr antwort folgen. Dises ist Gottes ewiger, vnwandelbarer wille, das jm alle vernünfftige Creaturn sollen gehorsam sein.685
Es ist ein Fehlschluss zu meinen, das Einhalten des Gesetzes sei für Gottes Reaktion indifferent, nur weil es für das Heil indifferent ist. Dieser Fehlschluss gründet in einer unzulässigen Gleichsetzung von Gottes Wille und Handlungssphäre mit den Strukturfragen des Heils. Die Theologie ist nicht auf die Soteriologie beschränkt; ebensowenig ist es die politische Theologie. Gottes Haltung zur irdischen Befolgung seiner Gesetze, zur iustitia carnis, ist von den Heilsfragen relativ unabhängig, weil sein Wille sich nicht auf die Heilssphäre beschränkt. Die Frage des strafenden Gottes stellt sich bei Melanchthon in gewisser Weise also gerade nicht zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz, sondern zugunsten letzterer, ohne deshalb schon enttheologisiert worden zu sein: Melanchthon möchte die Werkgerechtigkeit ebenso negieren wie die letzthinnige irdische Geltung des göttlichen Gesetzes affirmieren. Da dies notwendig dessen ausreichende Strafbewehrung einschließt, muss Melanchthon einen irdisch strafenden Gott annehmen. Melanchthon unterscheidet die göttlichen Strafen nicht nur nach ihrem Modus, sondern auch nach dem Empfänger der göttlichen Strafe. Tatsächlich spielt die Heilsfrage auch für die Geltendmachung des Gesetzes doch insofern eine differente Rolle, als renati in anderer Weise bestraft werden als die übrigen Menschen. Dies deutet Melanchthon schon früh, in der Behandlung der wirklichen Sünde, an: Dem renatus droht bei Verstoß gegen das Gesetz ‚nur‘ Gottes Strafe auf Erden, während sein jenseitiges, ewiges Heil durch seinen Glauben und Christi Erlösungstat davon unberührt bleibt. Hingegen drohen dem nichtrenatus für sein Unrecht dies- und jenseitige Strafen.686 Es wird deutlich, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nur für den renatus heilsdifferent ist. Melanchthon hält daher in der Behandlung der göttlichen Gesetze gleichfalls fest:
685 CR XXII, Sp. 623. 686 CR XXII, Sp. 188: „Wiewohl nu die leibliche straffen, auch schreckliche wercke sind des Göttlichen zorns, vnd vergeltungen von Göttlicher weissheit vnd gerechtigkeit geordnet zur zerstörung der sündigen natur, so ist doch die fürnemeste vnd gleiche vergeltung, die ewige grausame straffe, die gewisslich vber alle Sünder komet, die nicht zu Gott bekeret werden, durch den Glauben an den Heiland Christum, Wie Johannes spricht, im dritten Kapitel, Wer nicht gleubet an den Son, der wird das Leben nicht sehen, sondern der zorn Gottes bleibet vff jm.“
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Vnd sollen alle menschen wol vnterrichtet werden, das sie warhafftiglich in jrem hertzen schliessen, vnd festiglich gleuben, das Gott auch in diesem jetzigen Leben den eusserlichen vngehorsam mit vielen leiblichen Plagen grausam straffet […] ist erstlich zu wissen, das gleichwol das Evangelium vergebung der sünden vnd gnade allen anbeut. Wer nu zu dem HErrn Christo bekeret wird, der hat vergebung der sünden, vnd wird selig […] Wo aber nicht bekerung ist, da bleibet Gesetz, Gottes zorn, straffe leiblich vnd ewig.687
Es wäre eine eigene Untersuchung wert und nötig, wie Melanchthon an diesen Stellen das Gesetz nachgerade gegen einen falschen Primat des Evangeliums verteidigt. Um dies an dieser Stelle in gebotener Kürze zu skizzieren, ist festzuhalten, dass Melanchthon im Gesetz – nicht im Evangelium – ein mittelbares heilstheologisches Telos des weltlichen Regiments durchaus angelegt sieht: [D]ieweil Gott in diesen zeitlichen straffen anzeiget, das er vnterschied halte zwischen Tugend vnd vntugend, vnd das Er ein gerechter Richter sey, werden wir durch diese Exempel erinnert, das auch nach diesem leben alle Sünder gestraffet werden, die nicht zu Gott bekeret sind.688
Die Säkularität des weltlichen Regiments hält sich also nicht nur hinsichtlich seines theonomen legitimationstheoretischen Fundaments in Grenzen, sondern auch hinsichtlich seines Zwecks. Es hat nicht nur die Funktionsfähigkeit der weltlichen Ordnung zu gewährleisten, damit die Menschen in Frieden leben und der Teufel nicht gar so wüten kann. Das rechte Leben bzw. die Strafen gegen irdische Taten sollen auch ein Abbild für Leben und Strafe nach dem Tod sein. Das göttliche Strafversprechen erstreckt sich im Falle der Nicht-Wiedergeborenen auch auf eine jenseitige Strafe. Damit werden die Sphären von Jenseits und Diesseits in eigentümlicher Weise vermischt, ohne allerdings die Distinktionen von Gesetz und Evangelium einerseits und geistlichem und weltlichem Regiment andererseits systematisch aufzuheben.689 Der heilsgeschichtliche Geltungsver-
687 CR XXII, Sp. 216. 688 CR XXII, Sp. 224. 689 Jenseitige Strafe für diesseitiges Unrecht erfolgt in funktionaler Korrelation, nicht etwa durch Aufhebung einer der zentralsten Unterscheidungen Luthers. Melanchthon verkehrt nicht Luthers Lehre, sondern macht zunächst nur deutlich, dass vielmehr umgekehrt der Unterschied von Gesetz und Evangelium effektiv nur für renati gilt, mithin nur für den renatus der rechte Glaube und Christi Erlösungstat darin resultieren, dass seine Missetaten ‚nur‘ irdisch bestraft werden. Was die Strafung Ungläubiger betrifft, „so ist doch die fürnemeste vnd gleiche vergeltung, die ewige grausame straffe, die gewisslich vber alle Sünder komet, die nicht zu Gott bekeret werden, durch den Glauben an den Heiland Christum“ (CR XXII, Sp. 188). Dies gilt sowohl für die Erbsünde, da sie bei den Nicht-Wiedergeborenen nicht durch Erlösungstat und rechten Glauben abgegolten ist, als auch für jedwedes moralisch falsches Handeln des Einzelnen, insofern
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lust des Gesetzes kann nur durch das Evangelium und seine Annahme gewirkt werden: Er trifft für den nicht-renatus nicht zu. Unter heilsgeschichtlicher Perspektive gesehen und mit juristischer Terminologie ausgedrückt, bedeutet das Evangelium bei Melanchthon nichts weniger als eine jenseitige Generalamnestie vom Gesetz. Dass nur der renatus diese Möglichkeitsbedingungen irdischen Handelns besitzt, ohne negative Folgen für sein Heil befürchten zu müssen, und dies gerade von einer Theologie – nämlich der evangelischen – formuliert ist, rechtfertigt die ideenhistorische These vom Zusammenhang von Luthertum und Säkularisierung.690 Gerade bei Melanchthon nämlich scheint dieser Zusammenhang ein systematischer zu sein: Für das diesseitige und politische Handeln des renatus ist gerade aus heilstheologischer Perspektive der vordergründig paradoxe Begriff einer theonomen Säkularisierung treffend. Dennoch darf nicht übersehen werden: So sehr naheläge, dass ungerechte renati ausschließlich diesseitig bestraft würden, so wenig macht Melanchthon diesen Schluss tatsächlich mit: Zwar wird systematisch der Gedanke aufrechterhalten, dass der renatus für Brüche des Gesetzes jenseitig nicht gestraft wird, weil er durch seinen Glauben und Jesu Erlösungstat eigentlich von aller jenseitigen Strafe befreit ist – dies hatte das eigenhändige politische Eingreifen Gottes im Irdischen mitunter ja erst denknotwendig gemacht. Allerdings ist im Effekt bei Melanchthon wieder die Möglichkeit vorhanden, hinsichtlich schlechter Werke das Heil zu verwirken. Melanchthons Begründung dieser effektiven Möglichkeit ist so komplex wie geschickt, so dass etwa der Terminus negative Werkgerechtigkeit nicht zuträfe. Melanchthon meint nicht, dass das Heil durch unrechte Taten verwirkt würde. Das wäre der Erklärungsversuch einer negativen Werkgerechtigkeit: Melanchthon negierte das Erwirken des Heils durch gute Werke (positive Werkgerechtigkeit), affirmierte allerdings das Verwirken des Heils durch schlechte
dieses seine Höllenqualen, die er durch seinen falschen Glauben sowieso erleiden muss, nur noch verstärkt. In dem, was der unmoralische Ungläubige an jenseitiger Strafe über dasjenige für seinen Unglauben verhängte ‚Strafmaß‘ hinaus erleiden muss, findet sich also eine jenseitige politische Strafhandlung Gottes. Sie existiert für den Nicht-Wiedergeborenen eben schon, weil das Gesetz in seinem Fall gerade nicht im Jenseits seine Geltung verliert. Mehr noch ist Melanchthon im Anschluss an Augustinus das Ausbleiben irdischer Strafe bisweilen gerade der Beweis für die Existenz des ewigen Jenseits: Dieser Beweis funktioniert allerdings nur vermittels des Obersatzes von Gottes Gerechtigkeit und des Untersatzes, dass im Falle einer nicht-diesseitigen Strafung des Ungläubigen dieser göttliche Gerechtigkeit dennoch Geltung verschafft wird. Vgl. Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. S. 292f., 300. 690 Z.B. Klaus-Michael Kodalle: Sterbliche Götter: Martin Luthers Ansichten zu Staat, Recht und Gewalt als Vorgriff auf Hobbes. In: Hobbes oggi. Atti del Convegno Internazionale di Studi Promosso da Arrigo Pacchi. A cura di Andreas Napoli, Guido Canziani. Mailand 1990 (Pubblicazioni del Centro di Studi del Pensiero Filosofico del Cinquecento e del Seicento I,34), S. 122–142.
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Werke (negative Werkgerechtigkeit).691 Melanchthon meint jedoch nicht, dass der Heilsverlust im schlechten Werk seine Ursache hat. Auch das gute Werk ist schließlich nur Ausdruck des Glaubens, der allein (sola fide) Heil erwirkt. Ebenso ist auch das wissentlich und willentlich schlechte Werk Ausdruck eines mangelnden Glaubens bzw. eines Glaubensverlustes. Dieser stellt die eigentliche Ursache des Heilsverlustes dar: Nam hos, qui ruunt in delicta contra conscientiam, certum est non manere in gratia, nec retinere fidem, iustitiam, Spiritum sanctum, nec potest stare cum malo proposito contra conscientiam fides, id est, fiducia acceptationis divinae.692
Dies ist eben jenes Lossagen von der Kraft des göttlichen Glaubens („exuere diuinum vigorem“), wie sie auch in Gryphiusʼ Olivetum die Möglichkeitsbedingung von Judas’ Unrechtstat darstellt (4.4.3.2). Mit dem wahren Glauben ist eine vorsätzliche Unrechtstat offenbar denkunmöglich. Das Gewissen ist damit nicht nur moralische, sondern auch Vollzugsinstanz des wahren Glaubens. Insofern Gewissen genauso Wissen vom Recht ist wie von seiner göttlichen Bestimmung, ist ein wissentliches Handeln gegen das Gewissen immer auch ein Handeln gegen den Glauben. Dies ist es allerdings nicht in Tateinheit mit dem Delikt, sondern ist diesem offenbar vorgängig: Um wissentlich und willentlich gegen das Gewissen und dabei sorg- und furchtlos handeln zu können, ist eine Leugnung der Gründungs- und Geltungsinstanz dieses Gewissens notwendig, d.h. eine Leugnung Gottes, also Unglauben.693
691 Vgl. Christian Peters: [Art.] Werke, Gute. IV. Kirchengeschichtlich. In: TRE 35, S. 633–641, hier S. 638; vgl. ähnliche Einordnungen bereits hinsichtlich Luthers: Lohse: Luthers Theologie, S. 281–283. 692 CR XXI, Sp. 780; vgl. CR XXII, Sp. 382: „Dieses ist gantz gewiss, wenn der mensch wider sein Gewissen, das ist, wissentlich vnd williglich wider Gottes gebot thuet, wenn er gleich zuvor in Gottes gnade vnd heilig gewesen ist, so betrübet er doch den heiligen Geist, vnd stösset jn aus, vnd ist als denn nicht in Gottes gnade, vnd so er nicht widerumb zu Gott bekeret wird in diesem leben, kompt er in ewige straffe“ [Hervorhebung O.B.]. 693 Z.B. CR XXI, Sp. 781f.: „Quod autem excidant ex gratia, et effundant fidem et Spiritum sanctum, et fiant rei irae Dei et aeternarum poenarum, qui admittunt delicta contra conscientiam, id multae sententiae clare testantur […] Dixi, quae peccata maneant in renatis, scilicet quaedam interiora mala, quibus ipsi repugnant; Sed cum peccata contra conscientiam admittuntur, effunditur et perturbatur Spiritus sanctus, et amittitur gratia, et excutitur fides.“
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4.4.4.4 Fazit: Melanchthon zwischen traditionellem Problem und innovationskompatibler Lösung Philipp Melanchthons Rechtslehre sticht gerade darum als Kontext von Gryphius’ politischen Trauerspielen heraus, weil sie in doppelter Hinsicht symptomatisch ist: Zum Einen trägt sie im versuchten Jusnaturalismus die Tradition weiter, nämlich in der Theorie von der natürlichen Erkennbarkeit der gottgewollten transhumanen Gesetze. Er versucht sie sogar auf seine eigene, nämlich innatistische Weise noch zu stärken. Diesen Versuch werden Gryphius’ Trauerspiele vermehrt mit Skepsis begegnen. Zum Anderen birgt Melanchthons Rechtslehre selbst ebenso schon Lösungsangebote für Gryphius’ Skepsis in sich: Mit der letztlich allein schriftoffenbarungstheologischen Geltungsgrundlage des göttlichen Rechts gibt Melanchthon einen Schlüssel zur Bewältigung des Ausnahmezustands in die Hand, wie er Gryphius interessiert. Einerseits folgt Gryphius Melanchthon also nicht, insofern er den Gedanken einer umfassenden natürlichen Erkenntnis der göttlichen Gesetze nicht mehr teilt. Andererseits aber greift er die schriftoffenbarungstheologische Stoßrichtung Melanchthons auf. Für Gryphius ist die umfassende Kenntnis auch der göttlichen Gesetze – und das meint ihren Inhalt und den Grund ihrer Verpflichtungskraft – umfassend nur durch Offenbarung zu haben. Er konnte sich darin auch durch seinen Straßburger Lehrer Johann Heinrich Boecler bestärkt fühlen, der in ähnlicher Weise den Gedanken vom relativen Naturrecht stärkte: Gerade weil dem Menschen nach dem Sündenfall die absolute Einsicht in das Naturrecht nicht mehr natürlich möglich ist (absolutes Naturrecht), bedarf es einer Erkenntnisstütze des Naturrechts in der Offenbarung, im Dekalog.694 Die Überschätzung des Vernunftpotentials durch Hugo Grotius war für Boecler schließlich der hauptsächliche Makel von dessen De Jure Belli ac Pacis gewesen (4.2.4.2). Andreas Gryphius konnte an Melanchthon anschließen, ohne dessen streng innatistische bzw. naturrechtliche Lehrabsicht mitmachen zu müssen. Das in Ex 20,2 und Mal 3,6 grundgelegte Fundament einer schriftoffenbarten Rechtsgeltung war gerade so eigener Art und von so übergeordnetem Rang, dass es vom Innatismus im Grunde gänzlich zu abstrahieren erlaubte. Melanchthon hat offensichtlich nicht erkannt, dass die von ihm festgehaltene Selbstunterwerfung Gottes unter den Satz vom Widerspruch in Mal 3,6 sowie das von Gott wörtlich in Ex 20,2 abgegebene Strafversprechen nicht nur eine ultima ratio für den besonderen Fall des Ausnahmezustand liefern. Sie liefern vielmehr die prima ratio des gesamten universalen Rechts im Allgemeinen. Diese aninnatistische prima ratio macht den Innatismus zwar nicht überflüssig, wenn es einerseits um die universale proposi-
694 Vgl. Wagner: [Art.] Naturrecht II, S. 159.
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tionale Erkenntnis der practicae notiones geht. Wenn allerdings andererseits das Wissen um den Status dieser practicae notiones als göttliche Gesetze nicht innatistisch, sondern nur durch das Schriftzeugnis hergestellt werden kann, macht die prima ratio diese Spannung praktisch unproblematisch. Der gütige Gott verändert weder das Gesetz noch seine eigene Haltung dazu, sondern er verschafft ihm strafbewehrt Geltung: Solange ein solcher rechtspolitischer Gott angenommen wird, ist das theonome Vernunftrecht Melanchthons um seiner Geltung willen weder notwendig noch hinreichend darauf angewiesen, dass die menschliche Vernunft diese Rechtssätze auch tatsächlich begreift und als Gesetze beherzigt. Melanchthon bietet mit seinem rechtstheologischen wie rechtspolitischen Voluntarismus selbst einen Ausweg aus seinem eigenen Innatismus an, der den skizzierten wissenschaftsphilosophischen Innovationen des siebzehnten Jahrhunderts durchaus zupasskommt. Er emanzipiert die Rechtstheologie schon von Naturteleologismen, wie es danach die vermehrt kausallogischen Physiken und Metaphysiken des siebzehnten Jahrhunderts für ihren Bereich gleichfalls vollziehen. Dass dieses offenbarungstheologische Recht Melanchthons im Effekt weder Natur- noch Vernunft- noch überhaupt Universalrecht war, würde erst Thomasius angemessen erkennen (4.3.5).
4.4.5 Der unmittelbar irdisch strafende Gott bei Georg Schönborner Auch Georg Schönborner kennt das Eingreifen Gottes in die politische Wirklichkeit des Diesseits. Seine in 4.2.3 bereits erläuterte Anthropologie sowie sein Naturbegriff haben nichts mit einem Naturzustand gemein, der in jedem Fall regellos, konfliktträchtig und daher problematisch wäre im Sinne eines echten Ausnahmezustands. Nach den anentelechischen Umwälzungen des Mechanismus und epistemologischen Rationalismus müssten Schönborners Staatsrechtsdenken und dessen Naturteleologie eigentlich ausgedient haben. Für Schönborner treibt diese Teleologie den Menschen zur Gemeinschaftsbildung und scheint damit die Regelungsfrage eines Naturzustandes überflüssig zu machen. Dennoch bleibt Schönborner für Gryphius in erstaunlicher Weise anschlussfähig. Er führt Gott als eine zusätzliche externe Sicherungsinstanz der natürlichen Ordnung ein, die über die Eigenmacht der Natur selbst hinausgeht. Entweder nämlich ist eine solche Sicherungsinstanz überflüssig; oder – und das scheint den Stich zu machen – die göttliche Geltungsinstanz macht umgekehrt die Naturteleologie für die Realisierung der Fundamentalgesetze überflüssig. Die Natur, d.h. auch die des Menschen, ist gar nicht darauf angewiesen, von selbst auf das Gute hinzustreben, solange das Gesollte im Verstoßfall und im äußersten Regelungskonflikt von Gott eingeholt wird.
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4.4.5.1 Tyrannis als Verstoß gegen göttliches und natürliches Recht Schönborner spricht zunächst mehrdeutig als magistratus improbus:695 Die Bedeutung schlechte Verwaltung kann also zunächst auch schwache bzw. unfähige, also keine per intentionem schlechte Regierung anzeigen. Trotzdem macht Schönborner umgehend deutlich, dass er den Tyrannis-Begriff nach dem göttlichen und natürlichen Recht bestimmt: Est autem Tyrannis violentum unius imperium præter mores & leges. Lips. 6 pol. 5. id est, in quo unus homo, divinis ac naturæ legibus solutus, rebus alienis ut suis, & liberis hominibus quasi mancipiis ad libidinem abutitur. Bodin. lib. 2 pol. 4.696
Schönborner nennt nur zwei von eigentlich drei Traditionen beim Namen. Von seinem Lehrer Justus Lipsius übernimmt er die Definition der Tyrannis in juridischer Hinsicht, d.h. die Tyrannis als Verstoß. Dabei unterschlägt Schönborner bemerkenswerter Weise Lipsius’ einengende Erläuterung zum Verständnis des violentum imperium: Wie in 4.1.2.1 gezeigt, sieht Lipsius wie auch schon Machiavelli in einem schon statthabenden Zorn des Volkes die Ursache des Herrschers, zur Tyrannis zu greifen. In diesem Punkt schließt sich Schönborner seinem Lehrer Lipsius gerade nicht an. Damit vollzieht sich eine Distanzierung von einem lipsianisch vermittelten Machiavelli. Mithin gelingt Schönborner eine allgemeinere Definition der Tyrannis, was ihm späterhin erlaubt, ein größeres Feld möglicher Ursachen der Tyrannis in Betracht zu ziehen, vor allem den illegitimen Machterwerb. Lipsius hingegen spricht von der Tyrannei nur im Sinne einer fehlgehenden Herrschaftspraxis, die sich ex post gegenüber göttlichem und natürlichem Recht delegitimiert. Lipsius kommt außerdem auf die Tyrannis als Ursache eines Bürgerkrieges und auschließlich eines solchen zu sprechen: Umgekehrt ist ihm also der Bürgerkrieg das einzige zu erwartende Resultat einer Tyrannenherrschaft. Auch diese Einengung übernimmt Schönborner nicht. Schönborners zweiter expliziter Bezug, nämlich auf Jean Bodin, bietet für seine Begriffsbestimmung neben der juridischen auch eine intersubjektive Dimension an: In der Tyrannis dient der Herrscher nicht dem Volke, sondern er bedient sich, so schon Aristoteles, des Volks:697
695 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 171: „HActenus de Magistratu probo, ejusqui muniis dictum est. Succedit Tractatio de Magistratu improbo, nempe Tyranno“. 696 Ebd., S. 172. 697 Aristoteles: Πολιτικων, 1310 b40 – 1311 a5: „βούλεται δ’ὁ βασιλεὺς εἴναι φύλαξ, ὅπως οἱ μὲν κεκτημένοι οὐσίας μηθὲν ἄδικον πάσχωσιν, ὁ δὲ δῆμος μὴ ὑβρίζηται μηθέν. ἡ δὲ τυραννίς, ὥσπερ εἴρηται πολλάκις, πρὸς οὐδὲν ἀποβλέπει κοινόν, εἰ μὴ τῆς ἰδίας ὠφελείας χάριν. ἔστι δὲ σκοπὸς τυραννικὸς μὲν τὸ ἡδύ, βασιλικὸς δὲ τὸ καλόν“. / „Der König nämlich soll ein Wächter sein darü-
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Die tyrannische Monokratie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Alleinherrscher die Gesetze der Natur mit Füßen tritt, die freien Untertanen missbraucht, als wären sie seine Sklaven, und das Eigentum Anderer wie sein eigenes benützt. […] Das vornehmste Unterscheidungsmerkmal des Königs vom Tyrannen besteht darin, dass der König sich den natürlichen Gesetzen unterwirft, während der Tyrann sie mit Füßen tritt, und darin, dass der eine Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Treue hochhält, während der andere sich weder um Gott, noch um Gesetz und Treue schert. Der König lässt nichts unversucht, wenn er meint, es könnte dem gemeinen Wohl und dem Schutz der Untertanen dienen. Der Tyrann tut alles nur um seines eigenen Vorteils, der Rache oder des Vergnügens willen.698
Auf normativer Ebene zielen Bodin und in der Folge Schönborner zwar wieder auf den Gemeinwohlgedanken. Die interpersonale Perspektivierung ist gegenüber der rein auf das göttliche und natürliche Recht abstellenden Definition dennoch ungleich politischer, ohne von juridischen Erwägungen absehen zu müssen. Der Rechtsverstoß des Tyrannen spielt sich im Rahmen der spezifischen ‚Dreiecksbeziehung‘ ab, welche die bodinsche Souveränitätslehre prägt: Der Souverän ist Gott für das Volk verantwortlich. Schönborners dritter und ungleich wichtigerer, dabei aber ungenannter Traditionsbezug folgt unmittelbar nach den Definitionen Lipsius’ und Bodins: Estque tyrannus in duplici differentia: alius est absque titulo, alius exercitio: ille remp. sine ullo legitimo titulo vel electionis vel successionis, sed vi aut malis artibus invasit: hic quidem legitimè constitutus est princeps, sed tamen tyrannice administrat.699
Innerhalb der Gryphius-Interpretation zitierte schon Henri Plard diesen Absatz Schönborners,700 ordnete ihn rechtsideengeschichtlich jedoch nicht korrekt ein. Diese Distinktion von tyrannus absque titulo und tyrannus exercitio kann Schön-
ber, dass die Besitzenden kein Unrecht erleiden und das Volk nicht misshandelt wird. Die Tyrannis hingegen denkt, wie schon oft bemerkt, überhaupt nicht an die Gemeinschaft, außer zu ihrem eigenen Nutzen. Denn das Ziel der Tyrannis ist das Angenehme, das des Königtums die Ehre“. Übers. nach Gigon: ders.: Politik. Übers. u. hg. von Olof Gigon. 4. Aufl. München 1981, S. 188f. 698 Bodin: Les six Livres de la Republique, II, 4, S. 245–247: „LA monarchie tyránique, est celle où le Monarque foullant aux pieds les loix de nature, abuze de la liberté des francs sugets, comme de ses esclaues, & des biens d’autruy, comme des siens. […][L]a plus notable difference du Roy, & du Tyran est, que le Roy se conforme aux loix de nature: & le tyran les foulle aux pieds. l’vn entretient la pieté, la iustice, & la foy: l’autre n’a ny Dieu, ny foy, ny loy: l’vn fait tout ce qu’il pense seruir au bien public, & tuition des sugets: l’autre ne fait rien que pour son profit particulier, vengeance, ou plaisir“. Übers. nach Wimmer: ders.: Sechs Bücher über den Staat. 2. Bde. Übers. und mit Anm. vers. von Bernd Wimmer, eingel. und hg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. Bd. 1. München 1981–1986, S. 351 und 353. 699 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 172. 700 Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius, S. 166f.
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borner erst unter der genannten Bedingung treffen, Justus Lipsius’ Bestimmung des Volkszorns als einziger Ursache der Tyrannis abzulehnen. Nur so öffnet sich sein Begriff von einer Tyrannis, die lediglich schlechte administratio ist, hin zu einem vorausgehenden illegitimen Machterwerb. Damit greift Schönborner die übliche Tradition wieder auf, die – wie Plard zurecht festhielt – unter den Zeitgenossen von Johannes Calvin zwar prominent vertreten war:701 Sie selbst aber geht zurück bis auf die spätantiken Historia Augusta, in denen als frühestem Zeugnis Usurpatoren als tyranni bezeichnet werden.702 Systematisch bestimmt wurde die Unterscheidung eines tyrannus ex parte exercitii und eines tyrannus absque titulo von Thomas von Aquin.703 Mit Bartolus a Saxoferrato wurde diese Bestimmung
701 Ebd., S. 164 und S. 167. 702 Vgl. Giuseppe Zecchini: I Tyranni Triginta. La scelta di un numero e le sue implicazioni. In: Historiae Augustae Colloquium Bonnense. À cura di Giorgio Bonamente. Bari 1997 (Munera 9), S. 265–274, S. 265–274. 703 Im Scriptum super Sententiis hatte schon Thomas festgehalten: „Dictum est autem, quod praelatio potest a Deo non esse dupliciter: vel quantum ad modum acquirendi praelationem, vel quantum ad usum praelationis“ (II Sent., d. 44, q. 2, art. 2, resp.). Es darf ein göttliches Recht der Herrschaft nicht dergestalt unterschieden werden, dass eine zwar illegitim erworbene, aber gut verwaltete Regierungsgewalt denkbar würde. Der naturrechtskonforme Machterwerb ist Thomas in jedem Fall die notwendige Bedingung der Legitimität von Herrschaft. Dabei richtet sich für den Aquinaten weiter die Frage nach der Konformität dieses Erwerbs nur nach dem Modus, nicht nach dem Subjekt der Machtaneigung: „Quantum ad primum contingit dupliciter: aut propter defectum personae, quia indignus est; aut propter defectum in ipso modo acquirendi, quia scilicet per violentiam vel per simoniam, vel aliquo illicito modo acquirit. Ex primo defectu non impeditur quin jus praelationis ei acquiratur; et quoniam praelatio secundum suam formam semper a Deo est (quod debitum obedientiae causat); ideo talibus praelatis, quamvis indignis, obedire tenentur subditi. Sed secundus defectus impedit jus praelationis: qui enim per violentiam dominium surripit non efficitur vere praelatus vel dominus; et ideo cum facultas adest, potest aliquis tale dominium repellere: nisi forte postmodum dominus verus effectus sit vel per consensum subditorum, vel per auctoritatem superioris“ (ebd.). Nicht eine persönlich-charakterliche Defizienz des neuen Herrschers, sondern nur eine als Akt auf defizitäre Art und Weise vonstattengehende Aneignung berechtigt hinreichend zum aktiven Widerstand; dann jedoch ist dieser Widerstand im starken Sinne erlaubt, d.h. ein Widerstand gegen diese Herrschaft als solche („tale dominium repellere“). Widerstand gegen schlechte Verwaltung bzw. Missbrauch von Herrschaft ist, gesetzt den Fall, es handelt sich um eine legitim erworbene Herrschermacht, erstens nur als partikularer Widerstand erlaubt, d.h. gegen eine Anweisung des Regierenden und nicht schon gegen diesen als solchen, und dies zweitens höchstens als passiver Widerstand, d.h. als ledigliche Gehorsamsverweigerung: „Abusus autem praelationis potest esse dupliciter: vel ex eo quod est praeceptum a praelato, contrarium ejus ad quod praelatio ordinata est, ut si praecipiat actum peccati contrarium virtuti ad quam inducendam et conservandam praelatio ordinatur; et tunc aliquis praelato non solum non tenetur obedire, sed etiam tenetur non obedire, sicut et sancti martyres mortem passi sunt, ne impiis jussis tyrannorum obedirent:
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auch in das gelehrte Recht eingeführt704 und blieb – wie hier zu beobachten – bis ins siebzehnte Jahrhundert wirkmächtig. Mit der Anbindung an die scholastisch-thomistische Tradition stärkt Schönborner den absolutistischen Gedanken, insofern der Modus des Machterwerbs, nicht derjenige der Machtausübung eine hinreichende Legitimation der Absetzung des Herrschers liefert. Das bedeutet erstens, dass im Falle eines vorausgehenden illegitimen Machterwerbs von einem Absetzen des Herrschers im eigentlichen Sinne gar nicht die Rede sein kann: Denn de jure war er nie Herrscher im eigentlichen Sinne. Es bedeutet zweitens, dass erfahrenes Unrecht durch den Obrigen allein noch nicht legitimiert, diesen Obrigen zu entmachten.705
4.4.5.2 Tyrannenmord Erstaunlicher Weise liefert Schönborner im Kapitel zur „Abschaffung der Tyrannis“706 weder einen normativen Hinweis noch eine prudentielle Lehre zu dieser Frage: Der Feststellung, dass die Tyrannenherrschaft für gewöhnlich verflucht
vel quia cogunt ad hoc ad quod ordo praelationis non se extendit; ut si dominus exigat tributa quae servus non tenetur dare, vel aliquid hujusmodi; et tunc subditus non tenetur obedire, nec etiam tenetur non obedire“ (ebd.). 704 Bartolus wählt lediglich andere Termini, nämlich den des tyrannus ex defectu tituli und den des tyrannus ex parte exercitii: Bartolus de Saxoferrato: De tyranno. In: Diego Quaglioni: Politica e diritto nel trecento italiano. Il ‚De tyranno‘ di Bartolo da Sassoferrato (1314–1357). Florenz 1983 (Il pensiero politico 11), S. 171–213, hier S. 184f. 705 Damit steht Schönborner noch komplett jener sich bereits im siebzehnten Jahrhundert langsam herausbildenden Frühform einer Idee von Rechtsstaatlichkeit entgegen, wie sie sich prominenter Weise erstmals 1690 in den Two Treatises of Government von John Locke äußert. Dort konstatiert Locke – in dieser Auflage noch mit gutem Grund anonym – das exakte Gegenteil, dass nämlich die tyrannis ex parte exercitii die immer illegitime Herrschaft sei, wohingegen die Usurpation zwar ein Unrecht sei, dies jedoch zunächst bloß mit Blick auf zwei einzelne Rechtspersonen, den Usurpator als Subjekt und den gestürzten Herrscher als Objekt, nicht jedoch schon mit Blick auf alle Bürger: „As Usurpation is the exercise of Power, which another hath a Right to; so Tyranny is the exercise of Power beyond Right, which no Body can have a Right to [...] Where-ever Law ends, Tyranny begins, if the Law be transgressed to another’s harm. And whosoever, in Authority, exceeds the Power given him by the Law, and makes use of the Force, he has under his Command, to compass that upon the Subject which the Law allows not; ceases, in that, to be a Magistrate, and acting without Authority, may be opposed, as any other Man, who by force invades the Right of another“. (John Locke: Two Treatises of Government. London 1690, S. 420, 423 [Hervorhebung O.B.]). Vgl. gerade mit Blick auf den Begriff der Rechtsstaatlichkeit Jürgen Hüllen: [Art.] Tyrannis II. Mittelalter und Neuzeit. In: HWPh 10, S.1611–1618, S. 1615. 706 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 176f.: „De abolitione tyrannidis in genere“.
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und nicht von Dauer sei,707 lässt Schönborner nur historische Beispiele „tragischer Niedergänge“ von Tyrannen folgen,708 angefangen bei Herodes über Kaiser Commodus bis zum ägyptischen Pharao. Erst im folgenden Kapitel über den Tyrannenmord behandelt Schönborner die grundlegenden legitimationstheoretischen Fragen, ob „jene [Tyrannenmörder] etwa zu entschuldigen sind, so dass die Tyrannen als gerechter Maßen getötet gelten können“.709 Wie nur selten in seinen sieben Büchern über die Politik diskutiert Schönborner selbst eingehender eine drängende Frage seiner Gegenwart. Er referiert erst fünf Argumente für, dann fünf Argumente gegen das tyrannicidium. Schon die Reihenfolge legt nahe, dass Schönborner zu den Kontra-Argumenten tendieren wird. Die Pro-Argumente für einen aktiven Widerstand sind der Befreiungsgedanke, die schlichte Gottgewolltheit des Tyrannenmordes, Ehre, die gerechte und damit zu bannende Furcht vor dem Tyrannen und die Vergeltung der tyrannischen Übeltaten.710 Bei den KontraArgumenten fällt auf, dass sie sich ausschließlilch auf Bibelstellen berufen. Vor allem aber zeichnen sie sich durch eine nicht summarische, sondern systematische Struktur aus: Das erste Argument legt fest, dass die weltlich-irdische Macht durch ihre Gottgegebenheit nicht vom Menschen genommen werden darf.711 Von diesem aus bestimmen sich die folgenden vier Argumente. Das zweite folgert nämlich im Umkehrschluss, dass für die Regierung sogar gebetet werden muss, anstatt gegen sie zu agitieren. Das dritte führt den entscheidenden Röm 13,1 in Zusammenhang mit 1 Sam 28,15–18 an. Das vierte verweist auf die postmortale Höllenstrafe des Tyrannen. Das fünfte verweist auf die spezifisch neutestamentliche Bestätigung der Herrschergehorsams.712
707 Ebd., S. 176: „Non diuturna solet esse tyrannica gubernatio [...] Tyrannorum execrabilis brevisque potestas est“. 708 Ebd.: „exitus tragici“. 709 Ebd., S. 178: „Num verò excusandi illi, ut juste cæsi dicantur Tyranni?“. 710 Ebd., S. 178.: „1. Quod favendum illi fit, qui pro libertate introducenda pugnat […] 2. Quod nulla pinguior Deo posit mactari victim, quam rex iniquus. […] 3. Quod Græci homines honorem Tyrannicidis velut libertatis assertoribus habuerint. […] 4. Quod justus sit metus, cui resistere omnia jura permittunt. […] 5. Quod dignissimum sit eum tali perire supplicio quod optat cæteris.“ 711 Ebd.: „1. Quod nulli privatorum liceat adversum Magistratum, utpote à Deo ordinatum, arma sumere. Ep. Iudæ v. 9. 2 Petr. 2. v. 11.“ 712 Ebd., S. 178f.: „2. Quin potius pro Magistratu quovis concipiendae preces, 1 Tim. 2. 3. Et insistendum Sanctorum vestigiis; Michaelis Archangeli; Davidis qui, Sauli Tyranno violentas manus inferre noluit, ut maxime potuerit. 1. Sam. 24 & 26. Pauli, qui nec verbis Sacerdotem lædi decere innuit, Act. 23. v. 5. utpote cum omnem Magistratum à Deo esse ordinatum idem scribat Rom. 13. v. 1. quod Petrus comprobat, 1 ep. 2. v. 13. 4. Quod satis illi [tyranni] post mortem puniti.
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Gerade indem im dritten Argument Röm 13,1 mit 1 Sam in Zusammenhang gebracht wird, erfährt die Auslegung der paulinischen Lehre eine Zuspitzung, wie sie für Gryphius’ Problembehandlung und Trauerspielgestaltung richtungsweisend sein wird:713 Ebenso wie alle Regierungsgewalt von Gott gegeben ist, so kann alle Regierungsgewalt auch nur von Gott genommen werden. Damit können Widerstand und Umsturz abgelehnt werden, andererseits lässt es notwendig von Gottes politischem Eingreifen sprechen: In 1 Sam 15–18 ist schließlich nicht die Rede von einer jenseitigen Strafe Sauls. Diese ist zwar gleichfalls nicht ausgeschlossen, dennoch heißt es ausdrücklich, dass „der HERR solchs jtzt gethan“.714 Obwohl Schönborner intuitiv zu den Kontra-Argumenten zu neigen scheint, spricht er von einer „Diskrepanz dieser Meinungen“. Diese Diskrepanz meint er erst mit der bartolistischen Unterscheidung von Tyrannida auflösen zu können: Quid dicendum in hac opinionum discrepantia? Distinctio nodum solvet: Is, qui Tyrannus est absque titulo, tolli potest; alius qui legitima successione regnum sibi acquisivit, aut recognoscit superiorem, & tum potest ei resisti mediis ordinariis; aut non recognoscit, & si is interemptus, Tyrannicidæ nullam excusationem tribuimus.715
Für die Frage nach rechtmäßigem politischen Widerstand versucht Schönborner, Bartolus fruchtbar zu machen. Dessen Bestimmung löst nicht nur die normative Frage nach der Legitimität von Tyrannis und Widerstand wider sie. Sie erlaubt auch die politische Frage anzugehen, was zu tun ist: Der Tyrann, der gar nicht legitimer Herrscher ist, kann enthoben und sogar getötet werden. Der rechtmäßige, aber tyrannisch herrschende Herrscher allerdings ist nur Gott als Richter verantwortlich.
5. Denique quod ipse Christus honorem Cæsari Tyberio exhibendum mandavit; qui tamen impotentius in gubernatione se gerere solitus est.“ 713 Dabei ist es gleichgültig, ob dieser Zusammenhang tatsächlich von den Vertretern des durch Schönborner nur referierten Kontra-Arguments oder eigentlich von Schönborner selbst hergestellt und jenen nur zugeschrieben wird. 714 1 Sam 28,15–18: „15SAmuel aber sprach zu Saul / Warumb hastu mich vnrügig gemacht / das du mich erauff bringen lessest? Saul sprach / Jch bin seer geengstet / Die Philister streitten wider mich / vnd Gott ist von mir gewichen / vnd antwortet mir nicht / weder durch Propheten / noch durch Trewme. Darumb hab ich dich lassen ruffen / das du mir weisest was ich thun solle. 16SAmuel sprach / Was wiltu mich fragen / weil der HERR von dir gewichen / vnd dein Feind worden ist? 17Der HERR wird dir thun / wie er durch mich geredt hat / vnd wird das Reich von deiner hand reissen / vnd Dauid deinem Nehesten geben / 18Darumb das du der stimme des HERRN nicht gehorcht / vnd den grim seines zorns nicht ausgerichtet hast wider Amalek / Darumb hat dir der HERR solchs jtzt gethan.“ 715 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 179.
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4.4.5.3 Die göttliche Strafung jeglicher Tyrannei An diesem Punkt lassen sich zwei erwartbare Strafen bei Schönborner ausmachen, einmal die Gewissensqual, ein andermal die unmittelbar irdische Strafe Gottes. Der Begriff des Gewissens birgt für Schönborner vor allem zwei Aspekte, wobei der eine schlicht die Furcht vor den irdischen Gegnern betrifft, der andere die Angst vor Gott. Schönborner führt eine Reihe historischer Beispiele an, von denen hier natürlich der von Gryphius verwertete Caracalla zu nennen ist: Er verschanzte sich vor seinen Gegnern und Untertanen und wollte diesen im Notfall durch Selbstmord zuvorkommen.716 Derlei Beispielen lässt Schönborner das scheinbar induktive Erfahrungsurteil folgen: Ex hac Tyrannorum formidine colligimus torqueri eos infinitis conscientiæ tormentis; nam si Tyrannorum mentes recluderentur, possent aspici laniatus & ictus, quando ut corpora verberibus, ita sævitia, libidine, malis consultis animus dilaceretur. Tacit. 6 ann. adeoque facinora atque flagitia sua ipsis quoque in supplicium vertunt. Tacit. idid.717
Hier wird alles andere als schon empirische Politikwissenschaft betrieben und die Induktion ist lediglich eine scheinbare: Zwar suggeriert Schönborners Rede vom colligere einen Erfahrungssatz. Jedoch birgt erst der folgende Nam-Satz mit seinem Gedankenexperiment einer Introspektion den eigentlichen Grund in sich, der den Schluss auf die „unendliche Gewissensfolter“ zulässt. Demgegenüber haben die angeführten Exempla nur den Status von Indizien. Schönborner sieht die conscientia nicht nur als Mittel der Androhung einer Strafe an, die dem Gewissen selbst äußerlich ist. Im Rahmen einer Psychologie schreibt Schönborner dem Gewissen selbst schon den Status einer Strafinstanz zu: Für den Tyrannen „verwandeln sich seine Schand- und Greueltaten insoweit in Strafe“.718 Schönborner entspricht ganz den traditionellen (rechts-) theologischen Vorstellungen vom menschlichen Gewissen. Mit dem Gedankenexperiment von der intramentalen Hölle stärkt Schönborner das eigentlich erst ausschlaggebende Argument, nämlich die Vorstellung vom forum conscientiae als forum Dei. Denn auschließlich Gott ist „Herr über die Gewissen“, der darin „weder einen Ebenbürtigen neben sich dulden will noch kann“: Dies hält Schönborner im Kapitel über die Religion fest.719
716 Ebd., S. 173: „Caligula & Caracalla arcas venenis plenas secum circumferebant, tum ut alios, tum ut seipsos tollerent, si forte esset opus, ne in manus hostium vivi inciderent.“ 717 Ebd., S. 174. 718 Ebd.: „adeoque facinora atque flagitia sua ipsis quoque in supplicium vertunt“ [Hervorhebung O.B.]. 719 Ebd., S. 190: „Deum tria sibi reservasse, in quibus nec velit nec posit habere parem, dominari conscientiis, scire futura, & ex nihilo aliquid facere.“
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Offensichtlich nimmt Schönborner die Wirklichkeit dieser Gewissensqual für alle Tyrannen an: Schließlich lautet seine Formulierung nicht ‚si quorundam Tyrannorum mentes recluderentur‘. Der Tyrann handelt also immer wissentlich unrecht. Der Fall, dass ein Tyrann unrecht handelt und dabei keine Gewissensqual erleidet, weil er entweder um die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht weiß oder kein Gewissen besitzt, ist bei Schönborner nicht angedacht. Die Funktionstüchtigkeit der conscientia ist unbezweifelte Konstante. Schönborners Vorstellungen einer im forum externum statthabenden göttlichen Strafe vervollständigt schließlich das Bild seiner umfassenden politischen Theologie, und damit auch seiner theologischen Politologie. An der Schwelle zum Dreißigjährigen Krieg ist sich Schönborner der schweren politischen Missstände durchaus bewusst, ohne darin schon eine Ausweglosigkeit zu sehen. Gerade hinsichtlich der Dimension der üblichen Grausamkeiten ist es nun Gott, der eingreifen wird: Omnem enim injustitiam aversatur Dominus Deut. 25 & adversus iniquos judicia æquissime exercet. Psal. 97 v. 1. Idque etiam metuendum hoc nostro seculo, quo Victa jacet pietas, & virgo cæde madentis [/] Vltima cælestûm terras Astræa reliquit.720
Die „besiegt darniederliegende Frömmigkeit“ wird nicht als Indiz für Gottes Scheitern oder das seiner Schöpfung gesehen. Schönborner betrachtet sie als Tatbestand, als strafenswürdiges Delikt, das im Gegenteil auf Gottes künftigen Eingriff schließen lässt. Die Allgemeinheit des zweiten zitierten Halbsatzes Schönborners steht ein für die systematische Bedeutung desselben: Dass Gott Gericht hält, steht für Schönborner schlechterdings außer Zweifel. Gott hält Gericht gegen die Ungerechten und damit auch gegen Tyrannen. Zudem hält Gott dieses Gericht ‚gerechtest‘ („æquissime“): Damit ist natürlich in effectu angezeigt, dass dieses Gericht zu niemandes unverdientem Nachteil gehalten wird, wie auch die Deuteronomium-Stelle andeutet.721 Gleichzeitig wird die Dignität der von Gott selbst angewandten Rechtsquelle hervorgehoben: Denn den rechtssystematischen Superlativ – „æquissime“ – bildet in der leges-Hierarchie allein das göttliche Recht. Das ius divinum wird damit zu unmittelbar ausgeübtem Recht: At vero an non cessante executione legis civilis, qua multentur [scelera], divina vindicta sese exercet? Ita sane est, ubi consummata est infelicitas, cumque placet & delectat Turpitudo, definitque remedio esse locus, pœnam promeritam Deus exigit.722
720 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 488. 721 Dtn 25,16: „[W]er solchs thut / der ist dem HERRN deinem Gott ein Grewel / wie alle die vbel thun.“ 722 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 488.
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Bündiger als an dieser Stelle könnte Schönborner die Frage, um die sich Gryphius’ politische Trauerspiele drehen, nicht formulieren: Wenn das Zivilrecht nicht mehr ausgeübt wird, wird dann göttliche Strafe vollzogen? Nachdrücklicher als an dieser Stelle könnte Schönborner diese Frage nicht beantworten: „So ist es in der Tat“ („Ita sane est“). Dies gilt ausdrücklich sowohl für den Herrscher, der nicht mehr gerecht herrschen will, also zum Tyrannen geworden ist: „Deus principes superbos detrudit solio, atque humiles evehit“.723 Als auch gilt dies für den Fall, dass der Princeps nicht mehr gerecht herrschen kann, weil ihm seine Macht von Verschwörern unrechtmäßig genommen und eigenes Handeln unmöglich geworden ist: „[I]deoque Deus variis modis patefacere solet machinationes istas hostiliter subtiliterque structas“.724 Vom politisch strafenden Gott spricht Schönborner weniger in den Kapiteln über die Tyrannis selbst, sondern im Kapitel „De Eversionibus Rerump. ob Magistratuum Injustitiam & Impunitatem delictorum“.725 Dies hat seinen Grund in der von Schönborner gewählten Ordnung des Werkes: Der Fokus seiner Politica richtet sich auf die Aufgaben der politischen prudentia. Daher kommt er auf die göttliche Strafhandlung über Tyrannida weniger als bloßes Anhängsel einer Normfrage zu sprechen. Schönborner behandelt die göttlichen Strafen vielmehr als ein politisches Geschehen von eigenem Rang. Diesem ist im Rahmen einer Staats- und Klugheitslehre ein ebenso politischer Ort einzuräumen. Infolge seiner politischen Theologie nimmt Schönborner die göttliche irdische Strafhandlung als Handlung ernst und macht sie damit für eine Handlungslehre relevant. Gottes Strafen sind für Anweisungen der Handlungslehre different. Schönborner räumt der göttlichen Strafhandlung konsequent ihre politische wie politologische Systemstelle ein. Wie erläutert, hatten andere Staatslehren hiervon abgesehen (4.1.2): Sie hatten sich für Gottes strafendes Eingreifen höchstens im Ausgang obrigkeitlicher Normverstöße interessiert. Sie hatten jedoch übersehen, dass dieses Eingreifen selbst zum Ereignis von eigenem politischen Gewicht wird. Die göttliche Strafe bleibt nicht hinter der Norm verborgen und ins Jenseits verschoben. Natürlich erschließt auch Schönborner die göttliche Strafhandlung im Rahmen eines rechtstheologischen, also eines wesentlich jurisprudentiellen Argumentationsganges: Sie bleibt eine Strafhandlung. Dennoch ist es Schönborner, der 1609 in der Abfassung einer Politik ein verstärktes Bewusstsein dafür zeigt, dass unter seinen politisch-theologischen Prämissen die Strafhand-
723 Ebd., S. 498. 724 Ebd., S. 511. 725 Ebd., S. 487–489.
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lung Gottes im Verstoßfall ein erwartbares Ereignis ist und damit notwendig zum Gegenstand politprudentieller Erwägungen werden muss. Damit erfolgt eine deutliche Retheologisierung der frühen politischen Wissenschaften: Gott ist nicht nur eine den Paragraphen abstrakt hinterlegte obligationstheoretische Annahme. Er wächst aus dem Bereich des rein Normativen wieder hinein in das Politische selbst und wird zur konkret entgegentretenden obligationspolitischen Wirklichkeit. So ist für Schönborner nicht nur der Theorie-Praxis-Hiatus in der Theologie je schon aufgelöst:726 Vielmehr ist in der Gottesinstanz der Hiatus von normativer und non-normativer Sphäre bzw. der Hiatus von physischem und moralischem Sein727 überhaupt aufgelöst. Aller vordergründigen Diskrepanz zum Trotz, welche die depravierte menschliche Erkenntnisfähigkeit diesbezüglich wahrnimmt, ist die eigentliche Kongruenz immer schon gewährleistet. Beim Menschen ist das Verhältnis von Regel und Regelung immer prekär: Die dem Gesetz gemäße Handlung erfolgt gerade nicht immer – ansonsten befände sich der Mensch noch im Paradies. In Gott hingegen stehen Regel und Regelung im Verhältnis von Voraussetzung und notwendiger Folge zueinander. Der Mensch kann sub lumen naturae bzw. sub lumen gratiae diese Folge lediglich nicht berechnen. Die bisherigen Politiken seit Aristoteles hatten das göttliche Handeln nie als solches für die prudentia civilis berücksichtigt. Sie thematisierten Gottes Strafe nur im Rahmen einer ausschließlichen Normativierung der politischen Klugheitslehre sub jure divino, aber nicht sub actione divina (4.1.2). Schönborners Integration dieser actio divina in die politische Handlungstheorie ist innovativ. Insofern handelt es sich bei seinen Politicorum libri septem nicht eigentlich um eine Retheologisierung, sondern in der Tat allererst um eine Theologisierung der politischen Klugheitslehre.
726 Dies weist Stiening für die prominenten Rechtstheologien Vitorias und Melanchthons nach: Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 9: „Hier zeigt sich ein wesentlicher Grund für die Annahme der eminenten Zuständigkeit der Theologie in politischen Fragen: Anders nämlich als für die Philosophie sowie für die Einzelwissenschaften prägend und vor allem für ihre Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert konstitutiv, ist für die Theologie der Theorie-Praxis-Hiatus – sowohl innertheoretisch als auch in Bezug auf das Verhältnis der theologischen Wissenschaften zur empirischen Praxis – je schon überwunden. Sie steht jenseits der Alternative zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und sie ist sowohl strenge Wissenschaft als auch handlungsanleitende Klugheitslehre.“ 727 Vgl. nochmal Lutterbeck: Pufendorfs Unterscheidung von physischem und moralischem Sein; Konrad Moll: Naturerkenntnis und Imitatio Dei als Norm der Humanität in der deutschen Frühaufklärung. Ein Hinweis auf die Philosophia mathematica Erhard Weigels. In: Studia Leibnitiana 38/39 – 1 (2006/2007), S. 42–62.
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Allerdings erörtert Schönborner diese Problemlösung, ohne prudentielle oder speziell politische Rückschlüsse für die Entscheidungsfindung der menschlichen Akteure zu ziehen. Er belässt es bei der Feststellung, dass auch tyranni ex parte exercitii ihre Strafe erfahren, und zwar unter Wahrung des Widerstandsverbots einerseits und unter Berücksichtigung des politischen Stabilitätsbedürfnisses andererseits. Was genau daraus für das Handeln des Menschen zu folgern ist, erörtert Schönborner selbst nicht. Damit denkt Schönborner in diesem Punkt aus menschlicher Perspektive nicht prudentiell, sondern rein theologisch. Gryphius hingegen wird aus der irdischen göttlichen Strafe wiederum Regeln für das politische Kalkül des Menschen ableiten.
4.4.6 Claudius Salmasius: Die historische Verbürgung von Gottes Straftätigkeit Claude de Saumaises (1588–1653) Auftragsschrift Defensio Regia, Pro Carolo I. verdient besondere Beachtung. Mit dem ‚Fürst der Gelehrten‘ war Gryphius bereits seit seiner Leidener Zeit persönlich bekannt.728 1647 war er als ‚wissenschaftspolitischer‘ Fürsprecher Johann Heinrich Boeclers neuerlich bei Salmasius in Leiden zu Besuch.729 Saumaises royalistischer Traktat wurde zudem schon 1650, ein Jahr nach Erscheinen der lateinischen Originalausgabe, ins Deutsche sowie ins Französische übersetzt. Als ebenso ausführliches wie im Duodezformat handliches Taschenbuch versuchte es eine verhältnismäßig breite Öffentlichkeit zu erreichen. Besonders aber fügt sich Salmasius in die Reihe der hier angeführten politischen Denker ein, und zwar nicht nur, indem er ein Thema behandelt, das Gryphius den Stoff für Carolus Stuardus liefert. Saumaise vertritt allgemeine souveränitätstheoretische Positionen, die dem herrschaftspolitischen Denken aller Trauerspiele vorarbeitet. Dennoch lässt auch Saumaise Fragen offen und Probleme ungelöst, um deren Lösung es Andreas Gryphius in der dramatischen Behandlung noch zu tun sein wird.
728 Zusammen mit Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: vgl. Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679). Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 51), S. 91; auch Mannack: Kommentar, hier S. 1087. 729 So zeigt gleich der Beginn von Gryphius’ Brief an Boecler am 12. Juli 1647: Gryphius: I. H. Boeclero, S.616: „Iam vero, cum abunde suppetat, quo tibi fidem meam probem: litteras illustri Salmasio axarare visum. Apud eundum quam tuam et academiae vestrae causam egerim […]“ [Hervorhebungen im Text]; vgl. Stefan Kiedrón: Andreas Gryphius zwischen Straßburg und Leiden. Ein unbekannter Brief von Johann Heinrich Boecler an Claude de Saumaise. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 19 (1992), S. 86–89.
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4.4.6.1 Der Fall Charles Stuart: Historisches Ereignis und transhistorisches Problembewusstsein Die Vorrede der Königlichen Verthtigung Fr CARL den Ersten betont die Beispiellosigkeit des britischen Skandals.730 Sie ist alles andere als bloß das rhetorische Präludium einer nur spezifischen Einzelfallanalyse. So sehr Saumaise später auch in die Details der Entthronung und Ermordung Charles’ I. eintaucht: Ihm ist es vor allem um das Problem zu tun, dass der Fall beispielhaft werden könnte, und zwar nicht nur in politischer, sondern vor allem in normativer Hinsicht. Die Verteidigungsschrift wird von einer allgemeinen Sorge um die politische Theologie monarchischer Herrschaftssouveränität überhaupt getragen. Gegen deren befürchtete allgemeine Korrosion schreibt Saumaise an. Aus der Tatsache, dass ein solches Verbrechen am göttlichen Recht geschehen konnte und zumindest bislang (1650) noch keine Strafe erfahren hat, dürfe nicht gefolgert werden, dass das Verbot von Umsturz und Herrschermord nicht mehr gelte.731 Von Beginn an anerkennt Saumaise das faktenpolitisch sich aufdrängende Problem, dass Recht diese seine Geltung mitunter aus seiner Geltendmachung zu beziehen habe: Auch das göttliche Recht ist auf diese Geltendmachung angewiesen, nicht nur um seine Wirkmacht beizubehalten, sondern um überhaupt noch als Recht erkannt und anerkannt zu werden. Solange vor Thomasius die Zwangsgewalt auch dem Gesetzesbegriff des göttlichen Rechts wesentlich war, gipfelt dieser Gesetzesbegriff in eigentümlicher Umkehrung im Grundsatz nulla lex sine poena (4.3.5). Die politischen Denker, die in 4.1.2 referiert wurden, hatten diesen Grundsatz zwar implizit verinnerlicht, wurden jedoch nicht auf seine wahre Sprengkraft aufmerksam. Saumaise ist sich dieser durchweg bewusst. Gerade darum formuliert der französische Polyhistor das politische Problem auch als normatives. Daher verurteilt er zum Einen das Handeln der Independenten: Ihnen sei es nicht nur um einen bloß politischen Wechsel unter juridisch fragwürdigen Mitteln gegangen. Sie wollten nicht nur den englischen, sondern jeden König seiner Herrschaft berauben. Saumaise versucht den Anhängern Cromwells den politischen Einzelfall Großbritanniens als potentielle Rechtferti-
730 Claudius Salmasius: Königliche Verthtigung Für CARL den Ersten. Geschrieben An dessen Eltesten Sohn / Erben / und rechtmäßigen Nachfahr / Den Durchlauchtigsten Knig von Groß=Britannien CARL den Andern. o.O. 1650, S. 2. 731 Ebd., S. 4: „Dann wann ein Ding /sonderlich / wann es wider alle Zucht und Ehrbarkeit lufft / wann es der menschlichen Natur zu wider ist / und zu einer schndlichen Lasterthat außschlgt / für unglublich gehalten wird / und fngt doch hernach an geglaubt zu werden / so kan ihm kein Recht und Billigkeit mehr widerstehen / sondern verursachet / daß was zuvor verboten war / nunmehr auß einem Vorurtheil scheinet / erlubt zu seyn / darumb daß es schon auch noch einmahl geschehen ist.“
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gungsstrategie sogleich zu entziehen. Sie wollen das königliche Herrschaftsrecht selbst beseitigen und damit nichts weniger als göttliches Recht ungültig machen: Ach / es ist in der gantzen Christenheit kein Obrigkeit / und auff dem gantzen Erdkreiß keine Gewalt / wie ordentlich sie auch sey / Ja wie auch von Gott so gar selbst angestellet / (als dann alle / die vorhanden / daher jhren Ursprung haben) deren sie nicht gleichen Haß zutragen / und sie zuverfolgen / bereit sein / die sie auch nicht ebenmssig mit aller macht außgerottet zu sein begehren.732
Zum Anderen hievt Saumaise den politischen Diskurs auf eine allgemeinere, juridische Ebene. Erst auf dieser kann die Verteidigung des Herrschaftsrechts der Stuards gelingen. Die Vermutung, man könnte vom politischen Gelingen des britischen Königsmordes auf seine Legitimität schließen, weist Saumaise von Anfang an als wohlfeil, weil zirkulär zurück. Das politische Gelingen Cromwells wollte nicht seine Legitimität suchen, sondern sie durch den Bruch mit geltendem Recht selbst herstellen. Saumaise Kontra-Argument beraubt ihn allerdings der Möglichkeit, nunmehr selbst die Legitimität königlicher Herrschaft nur mit ihrer Legitimität zu beweisen.
4.4.6.2 Die Heilige Schrift als juridische und historische Quelle In der Tat muss Saumaise jetzt, nachdem er sowohl das Problem der Geltendmachung von Gesetz angesprochen als auch die Wohlfeilheit zirkulärer Rechtfertigungsmuster angeprangert hat, das monarchische Herrschaftsrecht mit mehr als nur dem Hinweis auf dessen propositionale Verlautbarung verteidigen. Er muss nicht nur nachweisen, dass es in diesem seinen königsfreundlichen Inhalt geschrieben steht. Saumaise sieht sich zu einem Nachweis gedrängt, dass dieses göttliche Gesetz von seinem göttlichen Gesetzgeber so ernst gemeint ist, dass im Verstoßfall die angedrohte Strafe folgt. Diesen Nachweis scheint Saumaise nicht mehr als bloß additiv, sondern als notwendig anzusehen. Vordergründig beschäftigt sich zwar auch Saumaise nur eingeschränkt mit der Diskussion historischer bzw. als historisch erachteter Zeugnisse göttlicher Strafhandlungen. Stattdessen offenbart Saumaises Argumentation ein nach wie vor intensives Vertrauen in die eigenständige Überzeugungskraft der traditionellen Rechtsquellen. Dies jedoch gilt eben nur vordergründig: Denn umgekehrt zeigt sich, dass Saumaise der Heiligen Schrift nicht nur zubilligt, Aufschluss über den normativen Gehalt der göttlichen Gesetze zu geben. Sie gibt in seinen Augen auch Aufschluss über die politische Verwirklichung dieser Gesetze durch Gottes Straftätigkeit. Es
732 Ebd., S. 26.
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zeichnet Saumaises gesamten Argumentationsduktus aus, in extenso Bibelstellen anzuführen, wenn es um die Legitimation der absoluten Herrschermacht und das Widerstandsverbot geht. Gerade die Offenbarung – vor allem natürlich die üblichen Röm 13 und Spr 8,15 – wird als Rechtsquelle stark gemacht: „WAs der Knige Recht sey / haben wir […] auß dem Gttlichen Gesetze Altes Testaments gelehret“.733 Die Verwendung der Samuelbücher sticht besonders hervor. Hier kann es nicht darum gehen, das tatsächliche monarchiekritische Potential dieses Teils des Alten Testaments zu besprechen (in der Bevorzugung Davids vor dem regierenden, aber von Gott abgefallenen König Saul tut sich dies allemal kund).734 Es hat vielmehr um ein Herrschaftsrecht zu gehen, wie Saumaise es vertritt, und um dessen theonome Gestaltungs- und Einhegungsmöglichkeiten, wie Saumaise sie in den Samuelbüchern konzipiert sieht. Hinter dem Herrschaftsverlust Sauls sieht Saumaise unmittelbar göttliche Kräfte wirken; es ist keine anthroponome Eigenmacht Davids am Werk. Im Gegenteil fokussiert Saumaise darauf, dass David sich einem eigenhändigen Vergreifen an Saul gerade verweigert und auf dessen Königtum verweist. David fällt Sauls Macht vielmehr „wie von selbst zu“.735 Damit versucht Saumaise einerseits den Nachweis der interhuman unbedingten Geltung des Königsrechts. Andererseits weist auch er darauf hin, dass dieses Königsrecht von Gottes Seite nur bedingt gewährleistet wird: Gott nimmt dem Tyrannen die Herrschaft – aber auch nur Gott. Damit kann Saumaise nicht nur die politisch-theologischen Bedürfnisse der Herrscherinstanz befriedigen, sondern gleichzeitig auch die Bedürfnisse der Untertanen: Die Exklusivität der göttlichen Strafinstanz garantiert dem Herrscher, dass Widerstand gegen ihn verboten ist; den Untertanen garantiert sie, dass ein solcher Widerstand überflüssig ist. Es darf nicht übersehen werden, dass Saumaise sich in diesem Punkt ebenso auf den Charakter der Bibel als Quelle historischer Fakten stützt, der ihr bis weit in die Aufklärung hinein zugestanden wurde. Die Heilige Schrift ist für ihn und seine Zeitgenossen nicht nur normatives Zeugnis von Gottes Willen, sondern auch faktenhistorisches Dokument von dessen Durchsetzung. Saumaise bestreit zwar durchweg eine tatsächliche Schuld Charles’ I.736 Dennoch versucht er sich auch gegen diese theoretische Möglichkeit abzusichern. Saumaise möchte eben nicht mit der Kontingenz des historischen Einzel-
733 Ebd., S. 147. 734 Vgl. Dietrich: Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk, S. 105–111. 735 Ders.: [Art.] Samuel- und Königsbücher. In: TRE 30, S. 5–20, S. 5; 1 Sam 19 – 2 Sam 5, besonders 1 Sam 26 und 1 Sam 28,16–18. 736 Salmasius: Königliche Verthtigung, S. 9.
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falls argumentieren, sondern mit der Universalität einer systematischen Rechtsidee. Die menschliche Unantastbarkeit des Königsrechts gilt auch im Falle der Tyrannis: Auß demselben [i.e. Alten Testament] haben wir auch erwiesen / daß / wie nicht allein die Gerechte Knige / sondern auch die Tyrannen / alles was sie wollen / straff-frey thun knnen; Also sie auch vom Volcke / welches sie drucken / ohne Straff nicht abgesetzet oder getdtet werden können / weil GOtt die Rach ber sie / seinem Gericht-stuel vorbehalten hat.737
Saumaise weist diese Geltung des divine right of kings doppelt nach. Einmal stützt sich Saumaise mit Blick auf dessen propositional-normativen Charakter vorzüglich auf das vierte Gebot des Dekalogs: Geneßt also dieser mrderische Ertzbßwicht [ie. Cromwell] / eben als wann er einen Tyrannen umbbracht hette / zur vergeltung seines Tyrannen mords / selbst der Tyranney da er doch einen schndlichen Vattermord am Knig begangen hat / und die wolverdiente Straff dafr außstehen und leiden solte.738
Wie schon Melanchthon bezieht er sich weniger auf das fünfte Gebot des Dekalogs, sondern auf das vierte und setzt somit Vater und politischem Herrscher gleich (4.4.4.2). Damit gelingt ihm der polittheoretisch wirksamere Einspruch gegen die Independenten. So kann er nämlich nicht nur Königsmord und Tyrannizid, sondern jedweden Umsturz und Widerstand als verboten herausstellen. Saumaise beruft sich jedoch auch auf den historischen Misserfolg monarchomachischer Revolution – on the long run: [W]ie sie jhren eigenen Knig mit dem Beil ermordet / also ermorden sie in jhres Hertzen begierde / alle frembde Knige: Und wann jhr Gebet statt finden solte / und GOtt die Snder zuerhren pflegte / so wrde heute auff diesen TAg / kein eintziger Knig in der Christenheit mehr regiren.739
737 Ebd., S. 147; vgl. ebd., S. 431: „Hat er aber seinen Unterthanen in seiner Erwehlung oder Krnung geschworen / daß er nach den Rechten und Gesetzen deß Reichs die Gerechtigkeit verwalten wolle / und wann er solches nicht thun werde / daß sie als dann von dem Eyd ihrer Treu / den sie jhm geleistet haben / frey sein sollen / und daß auch er alsdann thtlich von seiner Gewalt abstehen wolle / so ist er zwar für GOtt / dem ers versprochen verbunden / den Vertrag und Eydschwur treulich zuhalten / und so er in dem fall betreugt / wirds jhm ungestrafft nicht hingehen, / aber die Straff sol nicht von Menschen / sondern von GOtt begehret und erbeten werden.“ 738 Ebd., S. 13. 739 Ebd., S. 28.
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Saumaise schließt zwar ebenso wie die Independenten vom Sein auf das Sollen: Er sieht den Vorteil seines Schlusses allerdings offensichtlich in dessen summarischen Charakter. Im Hinblick auf den britischen Einzelfall kann und darf der Induktionschluss schließlich nicht gelingen, spräche er doch bis dato für die Legitimität der Independentenrevolution. Hiermit schließt die Legitimationsstrategie Saumaises allererst ab. Allerdings darf unter keinen Umständen übersehen werden, dass Saumaise sehr wohl die prospektive Offenheit der politischen Wirklichkeit als problematisch empfindet: Die Strafung der britischen Independenten steht noch aus. Sie ist mit historischen Induktionsargumenten nicht zu erweisen. Dies darf deshalb nicht übersehen werden, weil dies als die entscheidende Movitation für Gryphiusʼ Neubearbeitung des Carolus Stuardus gelten kann. Unübersehbar ist Saumaise verunsichert, ob sein historisches Argument für eine politische Prognose schon hinreicht, – so sehr er das eigentlich anstrebt. Denn seine Argumentation erfährt unter dem normativen Aspekt einen vergleichsweise späten, zusätzlichen Schwenk ins Innatistisch-Naturrechtliche. Zudem erwägt er den politisch-wirklichen Umsetzungsaspekt dieser Normen von Anfang an auch unter säkularen Perspektiven internationaler Intervention. Salmasius buchstabiert einen naturrechtlichen Innatismus zwar nicht aus, aber die Intention seines Vorhabens ist nicht von der Hand zu weisen: Der ethnologische Blick auf die Gebräuche und Sitten anderer, besonders aber heidnischer Völker soll belegen, dass zumindest das fundamentale Königsrecht ohne Offenbarung unmittelbar einsichtig ist.740 Dabei geht es Salmasius ausdrücklich um die Deckungsgleichheit von natürlichem und göttlichen Recht: Dann dieselbe [die Schwärmer] / in dem sie merckten / daß man jhnen pflegte vorzuwerffen / wie sie kein einziges geschriebenes Gesetz vorbringen knten / krafft dessen man einen Knig anklagen und zum tod verdammen knte / seind so weit komen / daß sie vorgegeben / wo kein geschriebenes Gesetz sey / da msse man sich zum Natrlichen wenden. So kan ja nun eben daß sie auffs aller strckste widerlegen / wann wir werden erweisen / daß sie gantz wider das Gesetz der Natur gehandelt / zu welchem sie uns doch selbst weisen und fhren. Was fast alle Vlcker auß dem eingeben der Natur / und was andere von GOtt durch seine Diener erlanget haben / daß kan man anderst nicht ansehen als daß es der gemeinen Natur menschliches Geschlechts gemß und einstimmig sei.741
Natürlich unternimmt Saumaise seine naturrechtlichen Überlegungen, um die Berufung der Independenten auf die Natur gegen sie selbst zu wenden. Ganz in
740 Ebd., S. 274ff. 741 Ebd., S. 275 [Hervorhebungen O.B.].
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der Tradition Melanchthons stehend, vertritt er die propositionale Identität der im Dekalog geoffenbarten göttlichen Gesetze und der angeborenen natürlichen Gesetze. Insofern er dies durch die ethnographischen Erkenntnisse der zeitgenössischen Reiseberichte zu untermauern sucht, unternimmt er abermals eine vermehrt faktenhistorische Unterstützung, wenn auch nicht Fundamentenlegung der transhumanen Gesetze: 23 Jahre nach ihm wird Samuel Pufendorf in seinem Hauptwerk De jure naturae et gentium die gleiche Strategie verfolgen.742 Die politische Verwirklichung von Gottes Strafe kann nicht vorausgesagt werden – was besonders unter den lutheranischen Vorzeichen des Deus absconditus ohne Frevel kaum unternommen werden könnte. Saumaise vollzieht daher nur eine aspektuale Säkularisierung, wenn er über die Zukunft der britischen causa spekuliert. Hier erörtert Salmasius nicht das eigenhändige Eingreifen Gottes, sondern erwägt nur das gemeinsame Auftreten aller Könige gegen um sich greifende Umsturztendenzen: Ey was warten dann nun die Knige lang / wann sie anderst sicher / wann sie ruhig / wann sie beybehalten bleiben wollen / daß sie aus der gantzen Welt nicht zusammen tretten / und mit gesamblet Hand und Macht / die Waffen / zur außreuttung dieser der Knigreichen und Republicken gifftiger Pestilentzen / ergreiffen?743
Ohne Zweifel ist dies eine eben nur aspektuale Säkularisierung: Sie ist es erstens deshalb, weil sie nur eine bestimmte Handlungsalternative intersouveräner Kooperation betrifft. Diese Handlungsalternative wird nicht anthropo- oder etwa gar autonom begründet. Damit hat diese Säkularisierung zweitens nur insofern aspektuell statt, als die Legitimation der anderen Souveräne zur Bestrafung von Widerständen und Tyrannen in einem fremden Land aus dem göttlichen Recht erwächst: Die international Strafenden sind zwar säkulare Personen – Menschen –, aber ihre Befugnis ist eine theonome. Hinsichtlich seines Prognoseproblems sieht Saumaise hier die verstärkte Chance, eine Aussage zu treffen, die den Boden lutheranischer Rechtstheologie nicht verlässt: Sobald sich die Königreiche zum Eingriff gegen Cromwell entschließen, ist dessen Strafung ebenso gewiss wie vom göttlichen Recht legitimiert. Claude Saumaises Beispiel zeigt abermals, dass der Bibel bis weit in die Frühe Neuzeit hinein nicht nur theologischer und auch nicht nur juridischer, sondern
742 Vgl. Oliver Bach: Recht und Vernunft. Reiseberichte aus der Neuen Welt und ihre Bedeutung für die Schriften Samuel von Pufendorfs (1632–1694). M.A.-Arbeit. Betr. v. Friedrich Vollhardt, Norbert Brieskorn. München 2010. 743 Salmasius: Königliche Verthtigung, S. 28.
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darüber hinaus auch historischer Quellencharakter zugemessen wurde. Die Heilige Schrift ist nicht nur Quelle sakraler Monumente menschlicher Handlungsideale, sondern auch empirischer Dokumente göttlicher Handlungswirklichkeit. Im siebzehnten Jahrhundert ist die Bibel noch das weitgehend einzige Zeugnis der außereuropäischen vorchristlichen Geschichte: Die Archäologie etabliert sich als Wissenschaft erst seit dem achtzehnten Jahrhundert: Der erste Lehrstuhl für Archäologie etwa wurde 1735 in Leipzig eingerichtet.744 Noch 1655 hält der junge Samuel Pufendorf einen Vortrag über die Bibel als Geschichtsquelle745 und verwendet Bibelstellen noch 1672 neben antiken Dichtungen und Reiseberichten als empirische Belege universaler Rechtsgeltung, besonders zum Nachweis der Perennität seines reifen, epochemachenden Naturrechts.746 Mehr noch: Pufendorf behauptet sogar den Quellencharakter der Bibel für antike Dichtung: So sei etwa die Herkulesfigur von Samson inspiriert, das heidnische Elysium vom Garten Eden.747 In der Tat vollzieht sich bei Pufendorf schon eine „stillschweigende Säkularisierung“,748 insofern die Heilige Schrift ‚nur‘ noch als historische Quelle Belege einer Rechtswirklichkeit liefert: Deren Normen werden aus einem zwar noch theonomen, aber in seiner Entfaltung bereits vermehrt profanen Naturrechtsdenken erschlossen. Dieser Ansatz sucht in der Heiligen Schrift historische Belege für die Geltung eines weitgehend säkularen Naturrechts und bildet cum grano salis das Gegenstück zu einem Geschichtsdenken, das etwa in persona Christian Weises auch die profane Geschichte als Beleg der Geltung der Heiligen Schrift ansieht.749 Wenn Gryphius genauso wie Heinsius und Saumaise die Bibel für sein spezifisch juridisches und rechtspolitisches Interesse in Anschlag bringt, ist er vermehrt letzterer Denkart zuzuschlagen: Schon Wilhelm
744 Vgl. Konrad Krause: Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis zur Gegenwart. Leipzig 2003, S. 480f.; Henning Wrede: Die Entstehung der Archäologie und das Einsetzen der neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin. Frankfurt am Main 1994, S. 95–119. 745 Samuel Pufendorf: Die Bibel als Quelle zahlreicher antiker Überlieferungen. Vortrag vor dem Collegium Anthologicum am 8.9.1655. In: Kleine Vorträge und Schriften. Texte zu Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Kirche und Völkerrecht. Hg. von Detlef Döring. Frankfurt am Main 1995, S. 50–53; vgl. Detlef Döring: Pufendorfs Vorträge vor dem Collegium Anthologicum in Leipzig (1655–1658). Einleitung. In: Samuel Pufendorf: Kleine Vorträge und Schriften. Texte zu Geschichte, Pädagogik, Philosophie, Kirche und Völkerrecht. Hg. von Detlef Döring. Frankfurt am Main 1995 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 72), S. 1–20, hier S. 15. 746 Vgl. Bach: Recht und Vernunft, S. 37f. 747 Pufendorf: Die Bibel als Quelle zahlreicher antiker Überlieferungen, S. 52f. 748 Döring: Pufendorfs Vorträge, S. 16. 749 Vgl. ebd., S. 16, Anm. 40.
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Vosskamp hat herausgestellt, dass sich die Deutung der Geschichte bei Gryphius „keineswegs in einer absoluten Zeitlichkeit erschöpfe“.750 Vielmehr erfolge „[d]ie Vergegenwärtigung des Ewigen in der Zeit und im Augenblick […] bei Gryphius im Horizont einer heilsgeschichtlichen Fragestellung – nicht unter dem Gesichtspunkt der ‚Abbildung‘“.751 Für diejenigen historischen Fälle, welche die Bibel selbst überliefert, gilt der Beweischarakter der Heiligen Schrift gleich doppelt: Für Heinsius, Saumaise und Gryphius offenbart sie nicht nur Gottes Wille als bloße Normquelle, die Bibel beschränkt sich in ihren Augen nicht nur auf Bekundungen dieses Willens. Die Heilige Schrift gibt auch Auskunft darüber, dass Gott seinen Gesetzeswillen sowohl als legislator als auch als vindicator aktualisiert.752 Gerade Letzteres betont Gryphius schon im Titel seines zweiten Herodes-Epos: Dei Vindicis Impetus. Heinsius in seinem Herodes-Drama, Gryphius in seinen Herodes-Epen und Saumaise in seiner politischen Verteidigungsschrift machen die Bibel gleichzeitig als Rechtsquelle und als Quelle der Rechtswirklichkeit stark. Die Heilige Schrift ist hinsichtlich dieser beiden Bedürfnisse von Recht nur darum eine so starke Quelle, weil ihre Autorität unstrittig ist – noch. Eine Quellenkritik der Heiligen Schrift selbst, wie sie Spinoza in seinem Tractatus Theologico-Politicus vornimmt,753 ist noch nicht angedacht und – wie das Beispiel Spinozas zeigt – der Häresie gleichbedeutend. Vielmehr darf davon ausgegangen werden, dass Gryphius gerade in diesem Punkt der Bibelauslegung des Hugo Grotius folgt. Für diese bekundet er in seinem Brief an Johann Heinrich Boecler 1647 besonderes Interesse.754 1660 folgt er der grotianischen Bibelhermeneutik in seiner Leichabdankung auf Marianne von Popschitz.755 Auch Grotius wagt zwar schon die zumindest vordergründig kritische Frage nach der Wahrheit der christ-
750 Vosskamp: Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 101. 751 Ebd., S. 105. 752 So auch Kipf: Tyrann(ei). Der Weg eines politischen Diskurses, S. 42: „Auch die Geschichte des Alten Testaments bietet den Dramatikern des 16. Jahrhunderts Beispiele für das (durch göttliche Providenz garantierte) böse Ende unrechtmäßiger Herrscher, die für die jeweilige Gegenwart Vorbildcharakter besitzen.“ 753 Vgl. Ursula Goldenbaum: Die philosophische Methodendiskussion des 17. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für den Modernisierungsschub der Historiographie. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin. Frankfurt am Main 1994, S. 148–161, hier S. 153f. 754 Gryphius: I. H. Boeclero, S.616f.: „Grotii Commentarius in Epistolas N.T. prostat, illius etiam liber posthumus de Potestate Ecclesiastica.“ 755 GdW 9, Magnetische Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen, S. 84: „Grotius [Marg. in Apoc] erinnert gar sinnreich / daß durch die Sonne nichts als Christus zu verstehen / sintemal er durch und durch in der Schrifft stets mit der Sonnen verglichen werde.“
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lichen Lehre – nicht anders ist sein bekanntestes theologisches Werk schließlich betitelt. Nichtsdestoweniger verteidigt er die Wahrheit der christlichen Religion besonders mit der Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schrift: „[D]ie Bibel ist auch historisch irrtumsfrei“.756 Salva auctoritate der Heiligen Schrift ist durch Heinsius, Saumaise und Gryphius also lediglich die Dimension ihrer historischen Faktizität hervorzukehren, um auf die Wirklichkeit der concordia juris hinzuweisen. Dass die Bibel den Charakter historischer Fakten innehat, ist ihnen jedoch ebensowenig eines Beweises bedürftig wie der Status der Heiligen Schrift als Gottes Wort. Diesen Status verbürgt sie als Forum von Gottes widerspruchsfreier Selbstauskunft (Mal 3,6) nur genauso selbst wie die Geltung der göttlichen Gesetze. Dementsprechend bilden die Geschichtszeugnisse der Heiligen Schrift einen Berührungspunkt der christlich-theologischen und der humanistisch-aufgeklärten Geschichtswissenschaften: Nach Ulrich Muhlack bereitet erstere durch weltliches Wissen auf außerweltliche Wahrheiten vor; letztere setzt weltliches Wissen zur Vorbereitung auf weltliche Wahrheiten ein.757 Die den Testamenten entnommene Geschichte schließlich ist von einem steten Doppelcharakter geprägt: Sie gewinnt aus göttlich verbürgtem, aber in der Welt sich ereignetem Faktenwissen Wahrheiten über die weltliche Verbindlichkeit außerweltlicher Normen. Mag zwar die Zwecksetzung dieser Geschichte immanent sein und bleiben – gemäß Muhlacks Beschreibung der Zwecksetzung der humanistischen und aufgeklärten Geschichtswissenschaften758 –, so handelt es sich hier um eine transzendent abgegoltene Immanenz. Es ist deutlich, dass in dieser nur theologisch bedingten immanenten Wendung noch nicht die „Anfänge einer immanenten Erkenntnistheorie hervortreten, die, statt Subjekt und Objekt voneinander abzuheben, die Konstituierung des Objekts als produktive Leistung des Subjekts faßt“.759 Die vom menschlichen Subjekt nach wie vor gelöste Konstitution des historischen Objekts durch Gottes Wort macht seine doppelte Attraktivität aus: Es ist weltliches und göttlich gesichertes Geschichtswissen. Dieser Berührungspunkt von heiliger und profaner Geschichte ist noch von großem Interesse. Zeitgenossen wie Saumaise und Gryphius hegen ein (rechts)systematisches Bedürfnis nach diesem Berührungspunkt und sind damit noch weit entfernt von der „Deklarierung der pro-
756 Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Band III: Renaissance, Reformation, Humanismus. München 1997, S. 218. 757 Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 72. 758 Ebd., S. 76: „Ihre Erneuerung hat […] die Pointe, daß der Zweck der Geschichte, im Gegensatz zur religiös-transzendenten Zwecksetzung der christlich-theologischen Geschichtswissenschaft, immanent wird.“ 759 Ebd.
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fanen Geschichte zur Geschichte schlechthin“.760 Hier kann eine unmittelbare Nachwirkung Bartholomäus Keckermanns auf den ehemaligen Danziger Gymnasiasten Gryphius vermutet werden: Der für das Gymnasium so wirkmächtige Lehrer und Direktor (siehe schon 4.1.2.4) hielt 1610 in seinem De natura et proprietatibus historiæ, Commentarius zum Geschichtsquellencharakter der Bibel fest: Extraordinaria causa est inspiratio & patefactio diuina, quæ potissimum locum habet in Historia sacra. Ita Moses etsi libros manuscriptos fortassis aliquos à primis parentibus & Patriarchis accepit de creatione mundi, lapsu primorum parentum, de diluuio, incendio Sodomæ, & aliis rebus quæ ante ipsum natum acciderunt: tamen dubium nullũ est Spiritum sanctum Mosi historiam scribenti, peculiariter adfuisse & talia ei inspirasse, quod idem de aliis Biblicæ Historicæ autoribus meritò statuitur.761
Der herausragende Charakter dieser Quellensorte liegt in der qua Inspiration gewährleisteten Versicherung des Wahrheitsgehalts der überlieferten Geschichte. Die Autoren der Heiligen Schrift schrieben nicht menschliches, sondern göttliches Wissen nieder. Daher ist für Keckermann Geschichte eben noch nicht „schlechthin identisch mit empirischer Einzelerkenntnis“.762 Besonders dank Abraham Calov, Keckermanns Nachfolger im Amte des Danziger Gymnasialrektors 1643–1650, behält diese inspirationistische Verteidigung des Wahrheitsstatus der Bibel ihre Wirkung noch über Gryphius’ Lebzeiten hinaus.763
760 Ebd., S. 89f., Zitat S. 90. Entsprechend kann auch Grotius – so macht Reventlow deutlich – „nicht als unmittelbarer Vorläufer der historisch-kritischen Exegese in Anspruch genommen werden“ (Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Band III, S. 224). 761 Bartholomäus Keckermann: De natura et proprietatibus historiae, Commentarius, Privatim in Gymnasio Dantiscano propositus. Hanau 1610, S. 15. 762 So aber Horst Walter Blanke: Von Chytraeus zu Gatterer. Eine Skizze der Historik in Deutschland vom Humanismus bis zur Spätaufklärung. In: Aufklärung und Historik. Aufsätze zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichte und Geschichtstheorie in der deutschen Aufklärung. Hg. von Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer. Waltrop 1991, S. 113–140, hier S. 120; vgl. Arno Seifert: Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976 (Historische Forschungen 11), S. 96ff. 763 Vgl. Reventlow: Epochen der Bibelauslegung. Band III, S. 225–233.
5 (Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele Wie zu sehen war, findet sich bereits bei Melanchthon selbst eine zunehmende Skepsis gegenüber dem Innatismus seiner Naturrechtslehre. Diese Verunsicherung mündet in eine neuerliche Stärkung des expliziten Offenbarungscharakters des Dekalogs und von Gottes Strafhandlungen. Es wird versucht, mit einer Versicherung der göttlichen Normen und ihrer Sanktionen zu antworten, die sich letztlich allein der Ausdrücklichkeit des widerspruchsfreien Willens Gottes verdankt. Die Problemwahrnehmung und ihr Lösungsversuch werden über Boecler und Schönborner an Gryphius weitergegeben. Die Verunsicherung gegenüber dem Innatismus findet sich auch bei ihm und nimmt von Trauerspiel zu Trauerspiel zu. Was die politische Theologie des Gryphius anbelangt, kann inhaltlich von einer Werkgenese gesprochen werden. Hinsichtlich dieser Werkgenese ist nicht, wie sonst üblich, der Æmilius Paulus Papinianus (1659) als das letzte Trauerspiel des Schlesiers zu erachten, sondern die zweite Fassung des Carolus Stuardus von 1663. Gryphius legt eine politische Theologie an den Tag, die mit Melanchthon insofern bricht, als der Innatismus geschwächt wird. Die Lösung aber kann Gryphius nur genauso Melanchthon entnehmen. Melanchthon hatte in Mal 3,6, einem Zeugnis der Schriftoffenbarung, die eigentliche Garantie dessen gefunden, dass das Naturrecht göttliches Recht ist und als solches konstant, d.h. invariant ist. Deshalb schließlich kam Melanchthon selbst sowohl in 4.2 als auch in 4.4 zur Sprache. Ebendies ist Phänomen einer Ideengeschichte, deren Blick besonders für aspektuale Veränderungen geschärft ist und wie sie in 3.1 skizziert wurde. Diese soll den Eindruck der vordergründigen Widersprüchlichkeit eines ›mit Melanchthon gegen Melanchthon‹ reduzieren erlauben. Sie soll plausibilisieren, dass ein und dieselbe Theorie in einem Aspekt scheitern kann – hier im Innatismus –, aber in einem anderen Aspekt selbst schon das Angebot einer Lösung abgibt – hier in der schriftoffenbarungstheologischen Versicherung durch Mal 3,6. Akteure der politischen Ideengeschichte wie Andreas Gryphius Innovation können eben daher versuchen, neue Probleme aus der Tradition zu meistern.
5.1 Leo Armenius: Göttliches oder verdientes Recht? Die Leservorrede seines ersten politischen Trauerspiels leitet Andreas Gryphius mit dem Gedanken der Vergänglichkeit ein. Mit Blick auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges ist ihm die vanitas der entscheidende Fluchtpunkt seines dramatischen Unternehmens:
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(Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele
JNdem vnser gantzes Vatterland sich nuhmehr in seine eigene Aschen verscharret / vnd in einen Schawplatz der Eitelkeit verwandelt; bin ich geflissen dir die vergnglichkeit menschlicher sachen in gegenwertigem / vnd etlich folgenden Trawerspielen vorzustellen. Nicht zwar / weil ich nicht etwas anders vnd dir vielleicht angenehmers vnter hnden habe: sondern weil mir noch dieses mal etwas anders vorzubringen so wenig geliebet / alß erlaubet. (GdW 5, Leo Armenius, Leservorrede, S. 3)
Trauerspieldichtung fungiert nicht als unterhaltende, sondern funktionale Dichtung, sie hat nicht „angenehm“ zu sein, sondern etwas vorzustellen, d.h. Didaxe zu leisten. Diese Funktion liegt nicht im Belieben des Dichters. Gleiches gilt für den Gegenstand seiner Dichtung, die Vergänglichkeit menschlicher im Unterschied zur Ewigkeit göttlicher „sachen“. Ein poeta doctus zu werden, ist Erfolgsbedingung des barocken Dichters, ein poeta docens zu sein, seine Pflicht. Ebenso aber ist festzuhalten, dass der noch junge Schlesier sich mit der Ermordung des byzantinischen Kaisers Leo V. Armenius (775–820) am Heiligen Abend 820 eines problematischen Stoffes annimmt. Gryphius verhält sich poetologisch explizit zu diesem Problem: Für den Zweck der „[a]lten“ Poetiken, nämlich „menschliche Gemtter von allerhand vnartigen vnd schdlichen Neigungē zu subern“ (ebd.), stellt der Armenius-Stoff ein keineswegs so „bequemes mittel“ (ebd.) dar wie etwa derjenige der späteren Catharina von Georgien. Dort wird Gryphius die Titelheldin von Beginn an als ein „kaum erhretes Beyspiel vnaußsprechlicher Bestndigkeit“1 feiern können. Im Leo Armenius muss er schon früh Vorbehalte eingestehen: „Gleichwohl muß ich nur erinnern daß / wie vnser Leo ein Griechischer Keyser / also auch viel seinem Leser auffweisen wird / was bey jetzt regierenden Frsten / theils nicht gelobet / theils nicht gestattet wird“ (GdW 5, S. 3). Nicht nur der Antagonist Michael Balbus, dem Gryphius die „vorwendung geheimer Offenbarungen“ zum Vorwurf macht (ebd., S. 4), sondern auch der Titelheld geht alles andere als unbescholten aus der Leservorrede hervor.2 Diese Vorbehalte speisen sich aus Gryphius’ historischen Quellen des zwölften Jahrhunderts, Georgios Kedrenos und Johannes Zonaras, „[w]elche nicht nur von seinem [sc. Leos] Tode schier mit einer Feder schreiben / sondern auch so eigentlich alles entwerffen / daß nicht von nthen gewesen viel andere erfindungen einzumischen“ (ebd.). Besonders die Hauptquelle, Kedrenos’ Συνοπσις
1 GdW 6, Catharina von Georgien, Leservorrede, S. 133. 2 Vgl. Jean-Louis Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphiusʼ Trauerspielen. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Jean-Daniel Krebs. Bern u.a. 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 42), S. 189–206, hier S. 192.
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Ιστοριων,3 scheint für Gryphius Fragen nach Leos Geschichte offensichtlich genauso zu erledigen wie diejenige nach seiner relativen Legitimität. Besonders in der Authentizitätserklärung, gegenüber den Quellen weder additiv noch modifikativ gedichtet zu haben, bekundet Gryphius seine allemal statthabende Überzeugung, dass Leos herrschaftliche Legitimität ihm fraglos erscheint. Die politische Theologie ist im historischen Stoff enthalten und ist ihm nicht erst durch einen poietischen Akt einzuschreiben. Die Dichtkunst, so gesteht der Dichter offen ein, hat „auff diesem Schawplatz jhr wenig freyheit nehmen dürffen“ (ebd.). Die Lehren politischer Theologie möchte Gryphius dem Drama durch analytische, nicht kreative inventio integrieren. An dieser Analyse wird sich das Trauerspiel jedoch allemal abarbeiten. Die Invention ist kein von der Ausarbeitung des Dramentextes (elucotio) isolierter Akt: Das Trauerspiel fragt nach Leos Legitimität und präsentiert die Suche nach der politischen Theologie auf der Handlungsebene als ein work in progress. Zu seinem didaktischen Zweck präsentiert das Trauerspiel seine Inhalte nicht als zu fertigen Lehrsätzen geronnene Schlüsse, sondern indem es die Diskussion um sie auf die Bühne bringt (siehe schon 4.1.1). Dem Lutheraner Gryphius scheint vor dem Hintergrund der menschlichen pravitas die Möglichkeit relativer Legitimität offensichtlich nur folgerichtig zu sein. Die carentia iustitae originalis, mit Luthers Worten „aine darbunng der erbgerechtigkait“,4 macht dem Menschen eine umfassende Einhaltung des göttlichen Gesetzes ohnehin unmöglich.5 Damit ist die Erlösungsbotschaft des Evangeliums allererst auf den Platz gerufen, wenngleich in behutsamer Dialektik mit dem Gesetz.6 Leos einstmalige Machtübernahme unterscheidet sich von einer Usurpation wie von derjenigen Michael Balbus’. Ihr Unterschied ist im Detail zu suchen, besonders in den überlieferten und dramatischen Motivationen.
3 Georgios Kedrenos: Γεωργιου του Κεδρηνου Συνοπσις Ιστοριων. Georgii Cedreni Compendium Historiarum. Tomus Prior. Hg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1864 (Patrologiæ Græcæ 121). Vgl. den Quellenvergleich bei August Heisenberg: Die byzantinischen Quellen von Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte 8 (1895), S. 439–448. 4 WA 39 I, S. 11622–1172. Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 268f. 5 Ebd., S. 289. 6 Ebd., S. 285f.
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5.1.1 Leo Armenius zu den Paradoxien verschwörerischer Legitimationsversuche Andreas Gryphius lässt sein Trauerspiel mehrere Versuche unternehmen, Herrschaft genauso wie Widerstand und Umsturz zu legitimieren. Der erste Dialog, der hier interessiert, findet gleich zu Beginn der Dramenhandlung statt (I,1). Da er unter den Verschworenen um Michael Balbus allein geführt wird, stünde zu erwarten, dass andere als monarchomachische Argumente hier nicht werden zur Geltung kommen können. Man möchte meinen, dass die von vornherein pro domo geführten Beweise schon auf Grund ihrer Selektivität nichts anderes als einheitsbildend wirken können. Im Gegenteil aber nutzt Gryphius die exklusiv verschwörerische Figurenkonstellation des „Ersten Eingangs“ gerade dazu, eine weitreichende Selbstwidersprüchlichkeit der Argumente aufzuzeigen, welche die Verschwörer zu ihren Gunsten anzuführen suchen.
5.1.1.1 Meritokratie Von Beginn führt Michael Balbus vordringlich meritologische Argumente: Er empfindet den Rang und die Behandlung als zu gering, die der Kaiser Leo ihm und seinen Mitstreitern hinsichtlich ihrer Verdienste zuerkennt: […] Wer sind wir? sind wir die: Vor den der Barbar offt gesuncken auff die Knie; Vor den sich Saracen vnd Pers vnd der entsetzet Der wenn er fleucht vielmehr / alß wenn er steht verletzet? Wer sind wir? sind wir die? die offt in staub vnd noth Voll blut voll muth vnd geist / gepocht den grimmen Todt? (GdW 5, I,1, S. 7, v. 9–14)
Das Verdienstdenken wird jedoch nicht nur mit Blick auf obrigkeitlichen Lohn veranschlagt, den hohe Amtsträger genießen sollten. Vielmehr liefert die Meritologie eine Begründungstheorie von Herrschaft selbst. Die Vorwürfe, die Balbus nunmehr gegen Leo erhebt, richten sich zwar auch auf dessen Grausamkeit, so z.B. dass „Leo sich in blut der Vnterthanen wscht“ (ebd., v. 21). Balbus’ umgehender Motivwechsel zeigt jedoch, dass sein eigentliches Unbehagen darin gründet, dass Leo unverdienter Maßen herrschte: Wer artig pflaumen streicht / vnd leugt so viel er kann Den zeucht man Frsten vor: ein vnverzagter Man Der ein gerstet Heer offt in die flucht geschlagen / Steht vnerknt / vnd schmacht! […]. (ebd., S. 8, v. 25–28)
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Gryphius besetzt diese meritologische Warte ausschließlich durch den Antagonisten. Es ist daher kein Zweifel, dass der Schlesier somit die Diskreditierung dieser reduktiven politischen Verdienstethik vorhat. Gryphius steht hierbei in einer durchaus starken wie namhaften Tradition: Thomas von Aquin ordnet dieses Verdienstdenken dem Hauptlaster des Hochmuts zu und systematisiert es als unvernünftige, weil maßlose Neigung zur Exzellenz: Der Stolz besteht in einem ungezügelten Streben nach Größe, einem Streben also gegen die rechte Vernunft. Man muß aber bedenken, daß jedes Überlegensein den Besitz eines Gutes voraussetzt. Dies kann unter dreifachem Gesichtspunkt betrachtet werden. Zunächst an sich. Offensichtlich ergibt sich aus dem Besitz eines höheren Gutes ein größeres Überlegenheitsgefühl. Wenn sich daher jemand ein höheres Gut zuschreibt, als er tatsächlich besitzt, so strebt er nach einer Überlegenheit, die ihm nicht zusteht. Dem entspriucht die dritte Art des Stolzes: ›man brüstet sich mit etwas, das man nicht hat‘. Sodann von der Ursache her gesehen: Es ist großartiger, ein Gut, durch eigene Leistung zu besitzen, als es von einem anderen empfangen zu haben. Wenn daher jemand ein Gut, das er von einem anderen hat, für die Frucht eigener Leistung hält, so übersteigert er sein Überlegenheitsgefühl über sein Maß hinaus.7
Bereits sich größere Verdienste zuzuschreiben, als man an Lohn besitzt, geht über das zulässige Maß hinaus. Gryphius wird ebenso wie Thomas diese Ablehnung der Meritologie noch präziser mit dem Vorwurf des Undanks verbinden (5.1.2.1). Balbus’ Meritologie zeigt ihre persuasive Wirkung für einen Umsturz vor allem, als ‚der von Crambe‘ Balbus beifällt. Er greift Balbus’ Rede von den militärischen Verdiensten auf. Balbus hatte diese bislang nur insofern veranschlagt, als er sich militärisch um Byzanz verdient gemacht habe, Leo Armenius hingegen nicht.
7 STh II–II, q. 162, art. 4: „[S]uperbia importat immoderatum excellentiae appetitum, qui scilicet non est secundum rationem rectam. Est autem considerandum quod quaelibet excellentia consequitur aliquod bonum habitum. Quod quidem potest considerari tripliciter. Uno modo, secundum se. Manifestum est enim quod quanto maius est bonum quod quis habet, tanto per hoc maiorem excellentiam consequitur. Et ideo cum aliquis attribuit sibi maius bonum quam habeat, consequens est quod eius appetitus tendit in excellentiam propriam ultra modum sibi convenientem. Et sic est tertia superbiae species, cum scilicet aliquis iactat se habere quod non habet. Alio modo, ex parte causae, prout excellentius est quod aliquod bonum insit alicui a seipso, quam quod insit ei ab alio. Et ideo cum aliquis aestimat bonum quod habet ab alio, ac si haberet a seipso, fertur per consequens appetitus eius in propriam excellentiam supra suum modum“. Übersetzung nach Die deutsche Thomas-Ausgabe. Lat./dt., 36 Bde, übers. von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hrsg. v. Katholischen Akademikerverband. Heidelberg, Graz, Wien, Salzburg 1933–2004, Bd. 22, S. 248.
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5.1.1.2 Stratokratie Crambe stellt die militärischen Verdienste des Heerführers und die Souveränität des Herrschers in ein Verhältnis von Erfolgsbedingung und Erfolg. Allererst er unternimmt es, den Gedanken von Verdienst und Lohn legitimationstheoretisch auf den Begriff zu bringen. Die systematische Hierarchie von potestas und vis dreht sich um: Was ist ein Printz? ein Mensch! vnd ich so gut als er! Ja besser! wann nicht ich / wenn nicht mein degen wer / Wo bliebe seine Cron? die liechten Diamanten / Das purpur guldne Kleidt / die Schaaren der Trabanten / Der Zepter tockenwerck / ist eine leere pracht. Ein vnverzagter Arm ists / der den Frsten macht / Vnd wo es noth / entsetzt. […] (GdW 5, I,1, S. 8, v. 41–46)
Nicht Macht befugt zur Ausübung naturrechtlich umschränkter Gewalt, sondern umgekehrt generiert möglichst ungebundene Gewalt allererst politische Macht und damit auch immer das Recht auf diese Macht. Für Crambe ist Herrschaftsrecht nur als Recht des Stärkeren denkbar. Insofern der Einzelne unmöglich ausreichende Stärke aufbringen kann, ist Herrschaft immer nur ein Zugeständnis der Mehrheit der unter Waffen stehenden Untertanen – und nur dieser. Ein Herrschaftsauftrag bottom up wird hier nicht als Demokratie und damit nicht im Sinne konstitutiver Überzahl gedacht, sondern allein im Sinne konstitutiver Übermacht und damit als Stratokratie: Die eigentliche Macht hat das Heer. Überhaupt scheint hier ein Verständnis von Herrschaftsrecht durch, das mehr gemacht als erworben wird. Souveränität wird temporalisiert, was unten ausführlicher zu besprechen sein wird (5.1.3.3). Zuvor stellt sich eine andere Frage: Geht es Crambe um die politische Kraft nur als Realisierungsbedingung von Recht – bzw. dem, was er für Recht hält? Oder sieht er in ihr auch die Geltungsbedingung von Recht, insofern der tatkräftige Untertan den König nicht nur einsetzt und „entsetzt“, sondern auch den vorausgehenden Maßstab bestimmt? Gryphius wird zwar den ersten Verschworenen sowohl Gott als „Richter aller sachen“ anrufen (ebd., v. 47) als auch Argumente objektiven, nicht mehr allein subjektiven Rechts gegen Leo vorbringen lassen. Dennoch hat Gryphius mit dem sich über fünfzig Verse erstreckenden, vordringlich verdienstlogischen Lamentieren der Verschworenen erreicht, dass ihre weitere Argumentation von ihrer Hauptmotivation des Neides überlagert bleibt. Neid ist zwar in lutherischer Theologie keine Todsünde mehr, dennoch verurteilt Luther ihn heftig: „Neid ist ein ungezähmtes Übel, das allezeit den Frommen in der Welt sehr zu schaffen gemacht hat. […] Es ist die Gepflogenheit des gemeinen Volkes, daß es dem
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Zuwachs an Macht und Würde mit Neid zusieht“.8 Neid ist ein malum und insofern weder Legitimationsgrund noch Mittel politischer Autorität.
5.1.1.3 Usurpation Leos oder Abdikation Michael I. Rhangabes? Dass der Dialog dieses ersten Eingangs nachhaltig neidvergiftet ist, darf allerdings nicht übersehen lassen, dass besonders die Rede des ersten Verschworenen durchaus auch Bedenkenswertes anspricht. Es kann nicht ohne Weiteres mit dem Neidverdikt abgetan werden. Balbus kommt auf Leos vormalige Usurpation im Jahre 813 zu sprechen: Der mehr denn fromme Frst / das Bild der linden gte. Der trawte Michael / must alß der Lw entbrant Vnd jhn mit grimmer list vnd toller macht anrant / Ablegen Stab vnd Cron. Er ließ den Purpur fahren / Vnd kiest ein hrin Kleid / in meinung bey Altaren Den Rest der kurtzen zeit zu liefern seinem Gott! Nein! Leo der auf nichts entbrant als mordt vnd spott Er brach die einsamkeit / vnd bann’t auß Kirch vnd reichen Den / der sich vor jhm zwang vom Stuel in staub zu weichē. Er must auf Proten zu der dieses grosse Landt In sein gebiette schloß / den schloß ein enger Sandt / Den jeden augenblick / die wste See absplet! (GdW 5, I,1, S. 8f., v. 52–63)
Der behaupteten Listklugheit und Wahnhaftigkeit Leos wird die Frömmigkeit seines Vorgängers Michael I. Rhangabes gegenübergestellt. Damit lässt der erste Verschworene ein theonomes Moment in seine Argumentation einfließen. Er gibt die Vorgänge durchaus so wieder, wie sie Gryphius seiner Hauptquelle Georgios Kedrenos entnommen hatte. Wie Kedrenos erwähnt jedoch auch der Verschworene ungewollt legitimationstheoretisch Bedeutendes: Michael Rhangabe hatte seinen „Purpur fahren lassen“. Zwar tat er dies unter Leos Druck, doch verblieb eine restliche Entscheidungsfreiheit Michaels I.: Rhangabe hatte die Aufforderung seiner Gefolgsleute zur kriegerischen Gegenwehr entschieden zurückgewiesen. So berichtet Kedrenos: Michael aber, als der friedliebende Mensch, der er war, wollte in einer so schwerwiegenden Angelegenheit keine solche Entscheidung fällen und widersprach denjenigen aufs Schärfste, die ihn zum Bürgerkrieg anstachelten. Er schickte einen seiner Vertrauten mit dem Diadem, dem Purpurmantel und den scharlachroten Schuhen, den Symbolen des
8 WA 43, S. 18733f., S. 18810f; übers. von Kurt Aland (Hg.): Lutherlexikon. Göttingen 1989 (UTB 1530), S. 241.
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Königtums, zu Leo, um ihm zu zeigen, dass er ihm die Herrschaft überlässt. Er schätzte es sogar für besser, sein eigenes Leben zu verlieren, als nur den kleinsten Trophen Blut eines Christen zu vergießen, und ließ Leo mitteilen, dass er ohne jede Furcht oder Zweifel kommen und die Herrschaft übernehmen solle.9
Es war vor allem die Vermeidung eines Bürgerkriegs, derentwegen Michael I. „sich vor jhm zwang vom Stuel in staub zu weichē“ (GdW 5, I,1, S. 9, v. 60). Die historische Motivation des „so friedliebenden Menschen“ Michael („εἰρηνικός τις ἄνθρωπος“), nicht auch nur „den kleinsten Tropfen Blut eines Christen zu vergießen“ („χεομένην ἰδεῖν ῥανίδα μικρὰν ἅιματος Χριστιανικοῦ“), wird aus der Kedrenosquelle in der Rede von seiner „linden gte“ in diese Figurenrede getragen (ebd., S. 8, v. 52). Vor allem merkt der Verschworene selbst an, dass Michael I. die Macht mehr übergeben als verloren hat. Auch jüngere Forschung hält Leos Status als Usurpator immer noch für ausgemacht.10 Jedoch schon Henri Plard hat zurecht darauf hingewiesen, den Blick auf die Auseinandersetzung Georg Schönborners mit dem Tyrannizid zu werfen (4.4.5.2): Is, qui Tyrannus est absque titulo, tolli potest; alius qui legitima successione regnum sibi acquisivit, aut recognoscit superiorem, & tum potest ei resisti mediis ordinariis; aut non recognoscit, & si is interemptus, Tyrannicidæ nullam excusationem tribuimus.11
Mit Blick auf den Kontext Kedrenos und das textimmanente Zugeständnis des ersten Geschworenen, dass Michael I. seine Macht abgetreten hat, erlangt Henri Plards Urteil erst seine Stichhaltigkeit: Demzufolge ist „Leo, der durch die Armee ausgewählt und dem von seinem Vorgänger die Macht rechtmäßig übertragen wurde, […] ein Tyrann, jedoch ein legitimer“, wohingegen Balbus schlicht „eine Verschwörung gegen seinen Souverän plant, voll von Hochmut
9 Kedrenos: Γεωργιου του Κεδρηνου Συνοπσις Ιστοριων, S. 932: „οὗτος δὲ εἰρηνικός τις ἄνθρωπος ὣν, καὶ πράγμασιν ἑαυτὸν ἐπιῥῥῖψαι μὴ θέλων ἄοηλον ἔχουσιν ἀποτέλεσμα, τοῖς μὲν οὔτω λέγουσιν ἐπετίμα, μὴ ἐρεθιζειν αὐτὸν πρὸς ἐμφύλιον χωρῆσαι μιαιφοωίαν, τινὰ δὲ τῶν οἰκειοτάτων ἑξέπεμψε πρὸς τὸν Λέοντα, τὰ τῆς βασιλείας ἐπαγόμενον σύμβολα, τὸ διάδημα, τὴν ἁλουργίδα καὶ τὰ κοκκοδαφῆ πέδιλα, αὑτὸς μὲν ὑπισχούμενος παραχωρῆσαι τούτῳ τοῦ θρόνου, καὶ βέλτιον εἰναι κρίνον καὶ αὐτὴν προἡκασθαι τὺν ζωὺν ἤ χεομένην ἰδεῖν ῥανίδα μικρὰν ἅιματος Χριστιανικοῦ, αὐτὸν δὲ πᾶσαν ἀποθέμενον πτοίαν καὶ δισταγμὸν ἐλθεῖν καὶ παραλήψεσθα τὰ βασίλεια“ [Übersetzung O.B.]. 10 Z.B. Blake Lee Spahr: Andreas Gryphius. A Modern Perspective. Drawer 1993, S. 72; Kaminski: Andreas Gryphius, S. 84; Mahlmann-Bauer: „Leo Armenius‘ oder der Rückzug der Heilsgeschichte von der Bühne des 17. Jahrhunderts, S. 424; Albrecht Koschorke: Das Volk als Gerücht. Zur Labilität souveräner Herrschaft im Barockdrama. In: Die Kommunikation der Gerüchte. Hg. von Jürgen Brokoff u.a. Göttingen 2008, S. 68–78, hier S. 71. 11 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 179.
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und Neid“.12 Das theologische Argument des Verschworenen von der Frömmigkeit Michaels I. verliert seine monarchomachische Wirkung, weil dieser seine Macht an Leo übergeben hat. Wie fromm dessen Herrschaftspraxis sich nunmehr gestaltet, berührt die Frage seiner legitimen Installation nicht. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie weit der Verweis der Verschworenen auf eine eigentliche Legitimität des vormaligen Herrschers Michael I. trägt, wenn nicht dessen Re institution als Kaiser angezielt wird: Es ist schließlich nicht zu unterschlagen, dass Michael Rhangabe zum Zeitpunkt der Verschwörung 820 noch lebt.13
5.1.1.4 Rache Die Verschwörer widersprechen sich zudem darin, dass sie diejenigen Grausamkeiten, derer sich Leo ihrer Ansicht nach schuldig gemacht habe, nunmehr selber ausüben wollen: [I. ver schw.] Du Bluthund. Du Tyrann / kan ich den frevel rechen! So mag mich auf dem platz ein schneller spieß erstechen. II. Ver schw. Er leide was er that! […] (GdW 5, I,1, S. 9, v. 71–73)14
Diese Absicht ist schon insofern illegitim, als Rache nicht zu jenen „media ordinaria“ zählt, mit denen einem legitimen Herrscher zu begegnen ist. Darüber hinaus ist ein simples Talionsprinzip längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Es ist hier daran zu erinnern, dass Schönborner in seiner Auseinandersetzung mit dem Tyrannenmord auch den Rachegedanken anspricht, was es hier nun zu vertiefen gilt. Das fünfte der von ihm referierten Pro-Argumente führt diesen vergeltungstheoretischen Gedanken: „5. Quod dignissimum sit eum tali perire supplicio quod optat cæteris“.15 Wenn Schönborner ebenso wie Gryphius die Vertreter
12 Plard: La sainteté du pouvoir royal dans le Leo Armenius d’Andreas Gryphius, S. 167 : „Les deux adversaires, l’Empereur de Byzance, Léon l’Armenien et le général qui le renverse pour la faire assassiner et prendre sa place, Michel le Bègue (Michael Balbus) illustrent tout simplement la distinction de Schönborn : Léon, élu par l’armée, et à qui son prédécesseur a légalement transféré le pouvoir, a dû prendre des mesures cruelles pour défendre son trône et l’orde : il est tyran, mais légitime, legitime constitutus princeps, sed tyrannice administrat. Michael, qui forme une conjuration contre son Souverain, enflé d’orgueil et d’envie […]“ [Hervorhebung im Text]. 13 Bei aller berechtigten Kritik an Henri Plard und Gerhard Kaiser entgehen auch Schmelzeisen diese bestimmten Zusammenhänge: Gustaf Klemens Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. In: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), S. 93–126, hier S. 113. 14 GdW 5, Leo Armenius, I,1, S. 9, v. 71–73. 15 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 178.
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eines ius tyrannicidii in dieser schlichten Art für ein ius talionis eintreten sehen, so ist ihre Ablehnung dieser Position kaum mehr zu übersehen.16 Zwar ist, wie Norbert Brieskorn zurecht feststellt, der Vergeltungsgedanke konstitutiv für jedwedes Strafdenken: Es wird nach einem irgendwie gearteten Nachteil verlangt, den der Täter erfahren soll, nachdem er zu jemandes anderen Nachteil gehandelt hat.17 Dennoch interessiert das Talion von jeher eigentlich hinsichtlich der Strafbemessung, also nicht nur als Konstituens, sondern auch und vor allem als Maßstab für Art und Ausmaß von Strafen.18 In der abendländischen praktischen Philosophie ist das Talion als Prinzip, gar als Telos von Strafe schon seit Protagoras, spätestens aber seit Platon und Aristoteles diskreditiert: Bereits Protagoras lässt die ältere Auffassung fallen, gerechte Strafe meine, den Täter für das, was er anderen angetan hat, leiden zu lassen. An ihre Stelle setzt er den Aspekt der Vorbeugung, d.h. einer Abschreckung zur Prävention, oder einer Läuterung in pädagogischem Sinne, also dem eines „Denkzettels“.19 Sokrates hält in Platons Criton-Dialog unmissverständlich fest, dass das Vergeltungsprinzip unsinnig ist: Unrecht kann nicht vor dem Hintergrund eines vorangegangenen Unrechts in Recht umgewandelt werden.20 Aristoteles gesteht in De anima dem Wunsch nach Vergeltung sogar zu, einem ethischen Urteil gleichzukommen. Denn bei allem Affekt erkennt die Vergeltungssucht die Geltung bestimmter Normen an.21 Dennoch betont auch er, dass die rein kommutative Vergeltung nicht der Idee einer verteilenden Gerechtigkeit genüge. Denn die bloße Vergeltung berücksichtigt weder die Absicht des Täters noch den Zweck der Strafe. In der Polis besteht der Zweck der Strafe eben nicht nur in der Genugtuung des Geschädigten,
16 Vgl. Armin Schäfer: Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel. In: Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Hg. von Maximilian Bergengruen, Roland Borgards. Göttingen 2007, S. 387–431, hier S. 413. 17 Norbert Brieskorn: Rechtsphilosophie. Stuttgart u.a. 1990 (Urban-Taschenbücher: Grundkurs Philosophie 14), S. 139: „Der Vergeltungstheorie geht es vorrangig, so scheint mir, um die Verknüpfungsfrage von Tat und Strafe, nicht aber um die Rechtfertigung der Gegenreaktion selbst. Das besondere Anliegen der Vergeltungstheorie ist folgerichtig das Maß der Strafe“. 18 Vgl. Lennart Pinomaa: [Art.] Gesetzlichkeit I. In: HWPh 3, S. 533. 19 Vgl. Trevor J. Saunders: Protagoras and Plato on punishment. In: The Sophists and their legacy. Proceedings of the 4. International Colloquium in Ancient Philosophy. Ed. by George B. Kerferd. Wiesbaden 1981 (Hermes, Einzelschriften 44), S. 129–141; Rainer Schottlaender: [Art.] Malum II. Altertum. In: HWPh 5, S. 656–665, hier S. 660. 20 Vgl. Walter Burkert: [Art.] Strafe I. Antike A. Griechische und römische Antike. In: HWPh 10, S. 208–216, hier S. 209; vgl. Gregory Vlastos: Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991, S. 179–199. 21 Christine Walde: [Art.] Zorn I. In: HWPh 12, S. 1383–1385, hier S. 1383; vgl. Robert Renehan: Aristotle’s definition of anger. In: Philologus 107 (1963), S. 61–74.
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sondern auch im Wohl der Gemeinschaft genauso wie in der Heilung des Täters.22 Mit ihrem Ansinnen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, lässt Gryphius die Verschwörer um Balbus vor die Vorsokratiker zurückfallen. Die Verschworenen generieren einen weiteren Widerspruch: Michaels I. Thronverzicht ließe sich nur genau jenem Prinzip zuordnen, das sie bei Leos Sturz veranschlagen wollen: „[W]enn nicht mein degen wer / Wo bliebe seine Cron?“ (GdW 5, I,1, S. 8, v. 43). Im Lichte ihrer meritologischen und stratokratischen Hauptargumente müssten die Verschwörer Michaels „linde gte“ nur genauso negativ beurteilen, wie seinerzeit Leos Truppen Michael I. „Feigheit“ und „mangelnde Mannhaftigkeit“ vorwarfen.23 Schon die widerspruchsvolle Argumentation der gryphschen Verschwörer führt eigentlich zu einer Pattsituation der Thronansprüche Leos und Michaels I. – um den es ihnen aktuell ohnehin nicht geht. Der historischen Quelle nach liegt Leo durch die willentliche Übergabe der Reichsinsignien („τὰ τῆς βασιλείας σύμβολα“) durch seinen Vorgänger24 sogar im Vorteil, wenn man Schönborners Tyrannenlehre berücksichtigt.
5.1.1.5 Ambigue Emblematik als Sinnbild pragmatischer Legitimationsstrategien Ihren rechtlichen Nachteil werden die Verschwörer durch einen Königsmord also unmöglich kompensieren können. Daher verlegt sich der zweite Verschworene auf ein Gemälde, dessen Deutung ihr Vorhaben legitimieren soll. Dieses Gemälde zeigt einen wutentbrannten Löwen, von dem es nun heißt:
22 Insofern sittliche Tüchtigkeit es mit Taten und Affekten zu tun hat und jeder Tat und jedem Affekt Lust oder Unlust folgen, verfährt für Aristoteles diese Heilung vor allem durch das Prinzip des Gegensatzes: Aristoteles: Εθικων Νικομαχειων, 1104 b13–18: „ἔτι δ’εἰ ἀρεταί εἰσι περὶ πράξεις καὶ πάθη, παντὶ δὲ πάθει καὶ πάση πράξει ἕπεται ἡδονὴ καὶ λύπη, καὶ διὰ τοῦτ ἂν εἴη ἡ ἀρετὴ περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας. μενύουσι δὲ καὶ αἱ κολάσεις γινόμεναι διὰ τούτων· ἰατρεῖαι γάρ τινές εἰσιν, αἱ δὲ ἰατρεῖαι διὰ τῶν ἐναντίων πεφύκασι γίνεσθαι“ / „Die Tugenden bewegen sich zudem um das Tun und das Leiden. Da aber mit allem, was man tut und leidet, Lust und Unlust verbunden ist, so wird die Tugend sich um Lust und Unlust bewegen. Dies zeigen auch die Strafen an, die darin bestehen, daß Genußbringendes entzogen und Schmerzliches angetan wird. Sie sind gleichsam ein Heilverfahren; die Heilung eines Übels aber pflegt von seinem Gegenteil auszugehen“. Übers. nach Bien: ders.: Nikomachische Ethik, S. 30 [Hervorhebung O.B.]. 23 Hiervon berichtet Kedrenos: Γεωργιου του Κεδρηνου Συνοπσις Ιστοριων, S. 932 [Hervorhebung O.B.]: „ἀπρεπεῖς καὶ ἂναισχύντους ἀπερριπτουν εἰς βασιλέα, δειλὸν αύτὸν ἀποκαλοῦντες καὶ ἅνανδρον […].“ 24 Ebd.
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(Re)Interpretationen der politischen Trauerspiele
Was mag wol klrer seyn? den starcken rcken decket / Ein purpur rothes Creutz / wodurch ein Jger stecket Mit mehr denn schneller Hand ein scharff geschliffen schwert / Das durch haut fleisch vnd bein biß an das hertze fhrt. Jhr kent das rawe thier: das Creutz ist Christus zeichen: Ehr sein geburtstag hin / wird dieser Lw erbleichen. (GdW 5, I,1, S. 10f., v. 115–120)
Im Kreuzeszeichen auf dem Rücken des Löwen sowie im zeitlichen Herannahen des Christfestes sehen die Verschworenen das tertium comparationis von Löwenjagd und Tyrannenmord. Gryphius schreibt damit den Verschwörern zweifelsohne argumentationslogische Schwächen zu: Sie identifizieren unvermittelt topologische mit chronologischer Deixis. Daher meinen sie, Leo Armenius an Weihnachten gleichsam post hoc ergo propter hoc töten zu dürfen. Seit Habersetzer und Strasser wird wiederholt auf die Mehrdeutigkeit des Löwenbildes hingewiesen.25 Nicola Kaminski macht zudem darauf aufmerksam, dass dem Gemälde die inscriptio fehlt, womit sich das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten nurmehr erweitert:26 Umgekehrt kann gerade der Löwe Symbol Christi sein.27 Diese Mehrdeutigkeit sieht Gerhard Strasser jedoch mit Blick auf den Dramenausgang aufgehoben, in dem sich der literale Sinn des Emblems bewahrheitet, und schließt, dass Gryphius damit die „Korrektheit seiner [sc. des Bildes] Interpretation durch die Verschwörer“ aufzeigen möchte.28 Dies ist für sich nicht zu bestreiten: Die Verschwörer setzen ihre Interpretation um und realisieren damit ein Vorhaben, das ihnen je schon im Sinn stand. Insofern ist Strassers Feststellung ebenso zutreffend wie einfach. Die Verschwörer setzen eine Handlung um, die auf dem Emblem dargestellt ist. Sie realisieren damit jedoch noch nicht einen normativen Zweck des Emblems. Dieser kann gerade auch auf das gesollte Gegenteil dessen hinauswollen, was das Emblem – per contrarium – darstellt. Das Emblem lässt nicht nur irgendwie plurale, sondern einander widersprechende Deutungsmöglichkeiten zu. Balbus und seine Anhänger suchen schon die gesamte Szene eigentlich eine juridische Legitimation, nicht bloß eine faktenpolitische Prophezeiung. Das wird bis zum Schluss ihr ungelöstes Problem
25 Karl-Heinz Habersetzer, Gerhard F. Strasser: Zum Löwen-Orakel in Andreas Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5 (1978), S. 186–188. 26 Kaminski: Andreas Gryphius, S. 89. 27 Ebd., S. 88. 28 Gerhard F. Strasser: Andreas Gryphius’ ‚Leo Armenius‘. An Emblematic Interpretation. In: Germanic Review 51 (1976), S. 5–12, hier S. 10: „Did Gryphius fashion it [sc. the murder] so closely after the emblem in order to show the correctness of its interpretation by the conspirators in the first scene? The answer must be guarded yes.“
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bleiben. Die Verschwörer bewahrheiten nicht den objektiven Sinn eines widersprüchlichen Emblems. Dementgegen unterstreicht Kaminski nachdrücklich die Ambiguität des Löwenorakels und integriert sie in ihre These von einer allgemeinen gryphschen Korrosion menschlicher Zeichen und Zeichendeutung.29 Allerdings erscheinen nur solche Zeichen schwer interpretierbar, deren Doppeldeutigkeit wie im Falle des Löwenemblems immer schon gemacht ist: Dies ist nicht gleichbedeutung mit einer gesamt-semiotischen Verunmöglichung des Verstehens aller Zeichen. Ebenso wie ihre Kontradiktionalität bleibt bei Gryphius die Differenz divergierender Argumente allemal bestimmbar. Gryphius geht es um Differenz, nicht um différance – wie sollte es auch:30 Solange Kontradiktionalität eben bestimmbar bleibt, bedeutet sie nicht die Krise jeden Argumentierens, sondern der Satz vom Widerspruch ist systematisch konstitutiv für den Satz vom Grund.31 Gryphius stellt eine Argumentation der Verschwörer dar, die nicht von kontingenten, sondern von den notwendigen Widersprüchen pragmatischer Legitimationsstrategien gezeichnet ist: Ihre meritologischen Argumente können zu ihren Ungunsten umschlagen, sobald sie ihrer Verdienste verlustig werden oder ein Anderer ihre Verdienste überbietet. Ihre stratokratische Argumentation kann sich gegen sie wenden, sobald ein anderes Heer sie dergestalt an Schlagkraft übertrifft, dass dieses Balbus nur genauso seiner Cron „entsetzen“ kann, wie er Leo abzusetzen sucht. Ihr Talionsdenken scheint beinahe den Gipfelpunkt ihrer Selbstwider-
29 Kaminski: Andreas Gryphius, S. 84–97. 30 Jacques Derrida: Die différance. In: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1988 , S. 29–52, hier S. 31: „Man wird einwenden, daß die graphische Differenz aus denselben Gründen in Finsternis und nie die Fülle eines sinnlichen Terminus erreicht, daß sie vielmehr eine unsichtbare Beziehung ausspannt, den Bezug einer nicht erscheinenden Verbindung zwischen zwei Spektakeln. Gewiß“. Eben! Aber: „Wenn jedoch unter diesem Gesichtspunkt der ausgeprägte Unterschied in der ‚différ( )nce‘ zwischen dem e und dem a sich dem Blick und dem Gehör entzieht, legt dies wohl auftreffende Art nahe, daß man sich hier auf eine Ordnung verweisen lassen muß, die nicht mehr der Sinnlichkeit angehört. Aber auch nicht der Intelligibilität, einer Idealität, die nicht zufällig an die Objektivität des theorein oder des Verstandes gebunden wäre“. Diese gewollte Suche nach dem Transrationalen verläuft nicht einmal mehr entlang Widersprüchlichkeiten: Schließlich setzen diese immer noch die Binarismen voraus, die Derrida bekämpfen will. Was bleibt also, wofür Derrida – anders als Gryphius – nur noch plädieren, statt argumentieren kann?: Sokal, Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. 31 Vgl. Wolff: Der Satz vom Grund, oder: Was ist philosophische Argumentation?, S. 91f.: „Wer den Satz vom Widerspruch negiert, der negiert damit zugleich eben diese seine Negation. […] Wer sich gegen den Satz vom Grund entscheidet, behauptet, es gebe einen wahren Satz ‚p‘, dessen Wahrheit aus keinem Sachverhalt q folgt. Er behauptet demnach nur dezisionistisch die Wahrheit von ‚p‘, da es keinen Wahrheitsgrund für ‚p‘ gibt.“
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sprüchlichkeit darzustellen: Denn es beruht darauf, diejenigen Unrechtstaten zu verüben, die dem Anderen zur Last gelegt werden. Doch eigentlich sollte ihm gegenüber eine Überlegenheit und kein Ausgleich erreicht werden. Den wahren End- und Höhepunkt von Widersprüchlichkeit nimmt daher nicht zufällig der Interpretationsversuch eines ambiguen Emblems ein. Die Suche eindeutiger juridischer Legitimation im notwendig indifferenten Mittel eines zwiespältigen Sinnspenders muss im Ergebnis erfolglos bleiben. Diese Suche ist nicht etwa vergebens, sondern es wird schlicht an der falschen Stelle gesucht.32 In der gesamten Szene I,1 stellt Gryphius nichts anderes dar als die Vergeblichkeit einer Suche nach konsistenten wie guten Handlungsregeln im Pragmatismus. Diese Regeln jedoch sind allein im Recht, und zwar im transhumanen ius divinum und ius naturae zu suchen und zu finden. Dies bildet den einheitlichen Kern aller frühneuzeitlicher Machiavelli-Polemik: Der Pragmatismus kann auf Grund seiner immer persönlichen Interessensbildung unmöglich Regeln überpersönlichen Handelns begründen. Mit dem ambiguen Löwenemblem setzt Gryphius dieser Heterogenität persönlicher Interessen im Pragmatismus ein Sinnbild: Ebenso heterogen, muss seine Deutung notwendig in Selbstwidersprüche münden. Mit Widersprüchlichkeiten ist kein Staat zu machen, mit dem Pragmatismus ebenso wenig wie mit der Emblematik. Dass es dem Löwenemblem an der in- oder subscriptio als Eindeutigkeit stiftendem Zusatz von außen fehlt, steht für das analoge Problem des machiavellischen Pragmatismus: Ihm fehlt der Eindeutigkeit stiftende Zusatz des göttlichen Rechts. Das göttliche und natürliche Recht aus pragmatischen Ansätzen herleiten zu wollen, ist für Gryphius ebenso widersinnig wie der Versuch, Gottes Willen aus einem mehrdeutigen Emblem abzulesen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Balbus mit der angestoßenen christologischen Basis seiner Legitimationsstrategie umgehend bricht und einen neuerlichen Widerspruch produziert, wenn er seine Handlungsmotivation dezidiert vom theologischen Fluchtpunkt abkoppelt: Wer Rach’ vnd lohn begehrt / wer todt vnd ewigkeit Mit fssen tretten kann / der steh’ in dieser zeit Mit Rath vnd hnden bey / vnd helff auf mittel spren Den anschlag ohn verzug vnd argwohn außzufhren. (GdW 5, I,1, S. 11, v. 125–128)
32 In diesem Sinne beurteilt Solbach Balbus zurecht als „schlechten Hermeneutiker“: Andreas Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Leo Armenius‘. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hg. von Gabriela Scherer, Beatrice Wehrli. Bern u.a. 1996, S. 409–425, hier S. 413.
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Wollten die Verschworenen tatsächlich universales Recht wiederherstellen, so dürften sie rechtstheologisch nicht ausgerechnet die Transzendenz „mit fssen tretten“, der dieses Recht entstammt. Gryphius wird besonders in der Catharina und im Papinian deutlich machen, wie sehr Michael Balbus’ Anspruch seine rechtstheologischen Grundlagen verdreht: Vielmehr folgt für Gryphius aus dem hohen Anspruch des göttlichen Rechts die Notwendigkeit, im Zweifelsfall Leben und Diesseits ‚mit Füßen zu treten‘, um dieses hohe Recht noch einhalten zu können. Ein verkehrter Fokus auf das Diesseits kann dem ius divinum nur genauso wenig gerecht werden wie jene Mittel, die Michael Balbus zu suchen auffordert.
5.1.2 Leo Armenius zu den Paradoxien pragmatistischer Sicherheitspolitik Wie oben angekündigt hat Andreas Gryphius sein Dramenpersonal damit nur den ersten mehrerer Versuche unternehmen lassen, Herrschafts- bzw. Widerstandsrecht zu legitimieren. Der Dialog in I,1 versuchte, Widerstands- als Herrschaftsrecht zu denken, um mit dem Umsturz als Machtentzug immer auch die Berechtigung der eigenen Machtnahme gleich mitzubegründen. Dementgegen erfolgen die unmittelbar folgenden Argumentationsversuche der Leo-Partei disjunktiv (I,2 und I,3): Souveränität schließt ein Widerstandsrecht gerade aus und impliziert im Gegenteil das Recht zu einer besonderen Sicherheitspolitik. Genauso wie in I,1 die Verschwörer unter sich waren, sind hier mit dem Kaiser, seinem „Geheimesten“ Exabolius und dem Hauptmann der Leibwache Nicander ausschließlich Befürworter der leontischen Sache vertreten. Auch diesen Dialog nutzt Gryphius nicht dazu, eine wohlfeile Einigkeit absolutistischer Argumente darzustellen. Er würde so kaum unter die bloße Oberfläche des Rechtsdiskurses dringen. Gryphius wird im Gegenteil auch hier in die Tiefe gehen: Die Argumente Leos, Exabolius’ und Nicanders werden einer Prüfung unterzogen, die gleichfalls eine nicht unbeträchtliche Heterogenität und auch Selbstwidersprüchlichkeit zu Tage fördert.
5.1.2.1 Politischer Hochmut, relativer Ausnahmezustand und obrigkeitliche Notwehr Als der zweite Eingang einsetzt, hat Exabolius von seiner Unterredung mit Michael Balbus schon soviel berichtet, dass dieser sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lässt. Zuschauer und Leser präsentiert sich umgehend die Diskussion der möglichen Ursachen dieser Achtlosigkeit:
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Leo. So nimbt er weder rath noch warnung mehr in acht? Exab. So ists? Vermahnen / Bitt vñ drewen wird verlacht. Er laufft wie wenn ein Pferd die ziegel hat durchrissen. (GdW 5, I,2, S. 11, v. 133–135)
Nach Ansicht Leos führte dieser Vernunftverlust Balbus in seine Umsturzpläne: „[T]rewloser aberwitz“ bedingt Balbus’ „Undanck dem Laster selbst kein Laster gleichen kan“ (ebd., v. 141f.). Der scholastischen Auffassung gemäß sieht Leo den Undank insofern als höchstes Laster an, als Undank von Thomas von Aquin als höchste Form des Hauptlasters superbia ausgemacht wird: Scheinbar unzutreffend bestimmt Gregor vier Arten von Stolz, indem er schreibt: ‚Auf vier Arten und Weisen zeigt sich die Aufgeblasenheit der Überheblichen: sie glauben, daß sie die Güter, die sie besitzen, von sich selber haben; oder sie bilden sich ein, sie von oben für ihre Verdienste erhalten zu haben; oder sie prahlen wegen etwas, das sie gar nicht besitzen; oder, indem sie andere verachten, möchten sie als alleinige Besitzer dessen erscheinen, was sie haben‘. Der Stolz ist nämlich ein Laster, das sich vom Unglauben unterscheidet, wie die Demut eine Tugend ist, die sich vom Glauben unterscheidet. Doch meinen, etwas zu besitzen, was nicht von Gott kommt, oder das Gut der Gnade wegen eigener Verdienste zu haben, gehört zum Unglauben. Also dürfte dies nicht dem Stolz zugerechnet werden. […] Hieronymus sagt nämlich: ‚Nichts riecht mehr nach Stolz als Undankbarkeit‘.33
Der Lasterhafte schreibt das Gute, das er besitzt, sich selber zu. Diese Erläuterungen des Thomas erfolgen in eben derselben Quaestio seiner Summa Theologica wie jene zum Hochmut aus Verdienstdenken (5.1.1.1). Schon hier gilt es dreierlei festzuhalten: Erstens sieht Thomas eine systematische Verbindung von Hochmut, Undank und Verdienstdenken. Das eigene Verdienst bzw. die eigene Leistung kann nur dann als überragend empfunden werden, wenn die im Wechsel eingebrachten Leistungen des Anderen geringgeschätzt werden und ihnen daher mit Undank begegnet wird. Zweitens zeichnet sich damit eine Pa rallelstruktur der beiden Eingänge I,1 und I,2 ab. Der dortigen Meritologie wird hier mit ihrer Widerlegung als Undanksethik thomasisch begegnet: Leo spricht
33 STh II–II, q. 162, art. 4: „Videtur quod inconvenienter assignentur quatuor superbiae species quas Gregorius assignat, XXIII Moral., dicens, quatuor quippe sunt species quibus omnis tumor arrogantium demonstratur, cum bonum aut a semetipsis habere se aestimant; aut, si sibi datum desuper credunt, pro suis hoc accepisse meritis putant; aut cum iactant se habere quod non habent; aut, despectis ceteris, singulariter videri appetunt habere quod habent. Superbia enim est vitium distinctum ab infidelitate, sicut etiam humilitas est virtus distincta a fide. Sed quod aliquis existimet bonum se non habere a Deo, vel quod bonum gratiae habeat ex meritis propriis, ad infidelitatem pertinet. Ergo non debent poni species superbiae. […] Dicit enim Hieronymus quod nihil est tam superbum quam ingratum videri“. Übersetzung nach der Deutschen ThomasAusgabe, Bd. 22, S. 246f. [Hervorhebung im Text].
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mit dem Vorwurf des Undanks Michael Balbus gerade das ab, was diesem den Anlass zu seinem Hochmut und Neid gibt, nämlich den Kaiser an Verdienst zu übertreffen. Drittens ist damit ideengeschichtlich abermals zu beobachten, wie in bestimmten Detailfragen sowohl das siebzehnte Jahrhundert im Allgemeinen als auch lutheranische Moral- und Rechtstheologie im Speziellen noch an die scholastische Tradition anschließen, die sie explizit meist entschieden ablehnten.34 Balbus’ wahnhafter Undank verursacht schließlich nach Meinung der Diskutanten seine rechtspolitische Unkontrollierbarkeit: „Er laufft wie wenn ein Pferd die ziegel hat durchrissen“, und genauso wie bei einem solchen geht von ihm eine akute Gefahr aus, die sich durch die üblichen Mittel – dort die Zügel, hier Rechtsmittel – nicht beseitigen lässt. Die Strafandrohung der Gesetze geht bei Balbus ins Leere: „drewen wird verlacht“. Das sich hieran anschließendes Bedauern Leos bildet gleichermaßen den Auftakt zu den Debatten um Anklage- und Prozessführung: Warumb hat man dich nicht erwrgt auf frischer that / Eh man die Vntrew noch entdeckt dem grossen rath? Hat vnß der hohe muth / vnd der verstand bethret? Strck ich den Arm der sich nun wider vnß empret? (GdW 5, I,2, S. 12, v. 149–152)
Offensichtlich befürwortet Leo Armenius eine Form obrigkeitlicher Notwehr und damit des ‚kurzen Prozesses‘, die ein ordentliches Verfahren nicht nur ersetzt. Sie missbilligt darüber hinaus sogar das ordentliche Verfahren. Gryphius lässt Leo ganz im Sinne relativer status necessitatis-Überlegungen argumentieren (4.1). Lange Beweis- und Prozessführung helfen die bislang nur versuchte Tat eines Balbus zu realisieren, statt sie zu verhindern. Relativ sind diese Begründungsfiguren eines Ausnahmezustandes und daher auch der Ausnahmezustand selbst zu nennen, weil der Staat noch nicht ohne Regierung und daher noch nicht in den einstweiligen Naturzustand eingetreten ist. Der Souverän eines funktionstüchtigen Staatsgefüges versucht gerade dessen Funktionstüchtigkeit gegen Angriffe zu verteidigen. Diesen Zweck erfüllt normaler Weise das Recht. Leo sieht allerdings mit der Verschwörung des Michael Balbus den Fall eines einflussreichen wie schlagkräftigen politischen Akteurs vorliegen, dessen Unrecht mit Mitteln des Rechts nicht mehr zu verhindern ist. In diesem relativen Ausnahmezustand besitzt das Recht nach Geltung. Lediglich seine Geltendmachung scheint opportun nicht mit seinen eigenen Mitteln realisierbar. Im Gegenteil können in dieser Situation Rechtsmittel gerade gegen
34 Vgl. Hartung: Gesetz und Obligation; Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 185; Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 402.
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den Rechtszweck stehen: „Strck ich den Arm der sich nun wider vnß empret?“ In diesem Sinne bringt in Leos Augen ein relativer Ausnahmezustand ein Notwehrrecht hervor.35 Dieses überschreitet das üblicher Weise zugestandene Maß wiederum darin, dass es augenscheinlich nicht Alternativlosigkeit zum Kriterium hat:36 Leos Parteigänger hatten schließlich allemal die Alternative, Michael Balbus nicht zu töten, sondern seine „Vntrew“ dem „grossen rath“ zu melden. Leo wünscht sich ein obrigkeitliches Notwehrrecht, das einerseits dazu berechtigt, „auff frischer that“ zu „erwrgen“, das andererseits aber nicht erst dann gilt, wenn dem Betroffenen ein Zurückweichen unmöglich geworden und der normale Rechtsweg verschlossen ist. Ein solches Prinzip des Stand your ground sieht von einer tatsächlich alternativlosen Zwangslage ab, in der eine Bedrohung bereits realisiert ist. Es hält schon die begründete Annahme einer solchen Bedrohung für ausreichend. Widersprüchlich ist dieses Denken natürlich darin, dass es einer einseitigen Arbitrarität überlässt, darüber zu befinden, ob eine solche begründete Annahme besteht: Dass auch die andere Seite in dieser Frage angehört würde (audiatur et altera pars!), wird von einem so pauschalen Notwehrrecht nicht nur nicht berücksichtigt, sondern verunmöglicht.
5.1.2.2 Affektanthropologie und politische Mittellosigkeit Leo vertieft seine Überlegungen nunmehr zusehends in pragmatische Momente. Er stellt diese jedoch immer unter diejenige anthropologische Perspektive, die auch für das Rechtsdenken relevant sind. Auch hier verdeutlicht sich wieder eine Parallelstruktur von I,1 und I,2: Wie auch schon Crambe fragt Leo nach dem eigentlichen Status des Fürsten. Seine Antwort fällt überraschender Weise pessimistischer aus als die des Verschwörers: Was ist ein Printz doch mehr alß ein gekrnter Knecht Den jeden augenblick was prchtig vnd was schlecht Mit hand vnd mund verletzt. den stts von beyden seiten Neyd / Vntrew’ Argwohn / Haß / Schmertz / Angst vnd furcht bestreitten. Wehm traw’t er seinen Leib / weil er die lange Nacht In lauter sorgen theilt / vnd fr die Lnder wacht / Die mehr auff seinen Schmuck’ als rawen kummer sehen / Wen nimbt er auff den Hoff? den er sein Leben wagt /
35 Diese Situation wird meist als strafrechtlicher Notstand vom Staatsnotstand unterschieden: Klaus Lichtblau: [Art.] Notstand. In: HWPh 6, S. 940–946, hier S. 940–942. Insofern strafrechtlicher Notstand ein jedem Bürger zustehendes Notwehrrecht meint, wird diese Terminologie hier nicht übernommen, weil im vorliegenden Fall beide Male der Souverän betroffen ist. 36 Ebd., S. 941f.
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Bald fr bald wider jhn / vnd jhn vom hofe jagt / Wenn sich das spiel verkehrt. […]. (GdW 5, I,2, S. 12, v. 153–163)
Leo folgert aus der Affektbeladenheit der Menschen – er nennt hier zuvorderst den Neid – eine regelrechte Umkehrung, zumindest aber Indifferentsetzung des aristotelischen Herr-Knecht-Dualismus. Eine natürliche Bevorteilung des Herrschenden in seinen persönlichen Fähigkeiten ist schon darum nutzlos, weil sie ihm als nur persönliche Vorteile bei der Konfrontation mit anderen Menschen nichts helfen. Die Affektbeladenheit der Menschen führt Leo Armenius seiner Ansicht nach in eine unüberwindbare Notlage: Neid legt dem Herrscher seine Pracht zum Nachteil aus und verblendet hinsichtlich der Leistungen und Sorgen des Fürsten. Die Wahrnehmung des Fürsten ist in jedem Fall nachteilig. Sein Leben ist im Grunde von jedem bedroht, der seine Affekte nicht kontrollieren kann. Dass Leo Armenius selbst auch den Affekten ausgeliefert ist, ist dabei gar nicht zu bestreiten. Nicanders Einwände gegen den Wankelmut des Kaisers treffen durchaus zu. Dennoch tut dies der Triftigkeit derjenigen Überlegungen keinen Abbruch, die Leo hier anstellt. Eine verfälschende Doppelung eines Redens im Affekt über den Affekt ist hier nicht Gryphius’ poetische Absicht. Eine „Tendenz, alles in Affektrede und Rede über den Affekt zu verwandeln“, ist nicht zu erkennen.37 Das Reden über den Affekt bleibt vom systematischen Interesse politischer Theorie geleitet. Es erlaubt daher dem Leser, auf die Zuverlässigkeit der Figurenreden setzen, solange nicht eindeutige Markierungen unsinniger oder widersprüchlicher Rede erfolgen – wie später im Falle von Balbus’ Verteidigungsrede (5.1.4.2). Für Leo können auch versuchte Schutzmaßnahmen diese Ausweglosigkeit nicht überwinden, sondern eröffnen allererst die Paradoxie, die ihn Aristoteles’ Herr-Knecht-Unterscheidung hat verabschieden lassen: Der Fürst kann sich zu seinem Schutz nur wieder am Bestand der neidvergifteten Menschheit bedienen, gegen die er sich eigentlich zu schützen sucht. Die nötige Innensicht in die mentes seiner nächsten Umgebung wäre noch allein ein Mittel, sich Neider vom Hof zu halten. Doch auch diese Fähigkeit geht dem angeblich privilegierten Herren ab: „Man muß den todtfeind ehren / Mit blinden Augen sehn / mit tauben ohren hren“ (GdW 5, I,2, S. 12, v. 163f.). Gryphius lässt seinen Titelhelden mit deutlichem Pessimismus den Vorschlägen begegnen, mit denen sein Lehrer Schönborner und schon Machiavelli eine falsche Wahl ranghoher Bediensteter zu ver-
37 Erwin Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert. In: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur. Hg. von Erwin Rotermund. Würzburg 1994, S. 11–42, hier S. 26.
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meiden suchten. Zwar nimmt Machiavelli in diesem Zusammenhang die ministri in den Fokus, Schönborner die consiliarii, dennoch bleiben beider Gedanken für den Fall des Michael Balbus relevant: Von nicht geringer Wichtigkeit ist für einen Fürsten die Auswahl seiner Minister; ob diese gut sind oder nicht, hängt von der Klugheit des Fürsten ab. Das erste Urteil, das man sich über die Intelligenz eines Fürsten bildet, richtet sich nach den Männern seiner Umgebung; wenn sie fähig und treu sind, kann man ihn stets für klug halten, weil er es verstanden hat, die Fähigen zu ermitteln und sich deren Treue zu erhalten.38 Consiliarios suos intus & in cute noverit Princeps, ut sciat distinguere sanabilia ingenia à deploratis. Nam ubi discrimen inter malos bonosque sublatum est, confusio sequitur.39
Leos Zweifel zielen auf das Zirkelproblem, dass der Fürst über den politischen Verstand seiner künftigen Räte und Minister urteilen zu können hat. Der Fürst muss eine umfassende Kompetenz bereits dort haben, wo ihm besonders seine Räte eigentlich allererst helfen sollen, diese Kompetenz zur vollen Entfaltung zu bringen. Machiavelli sah hierfür eine in seinen Augen untrügliche Lösung vor: Wie aber ein Fürst sich ein Urteil über seinen Minister bilden kann, dafür gibt es ein Mittel, das nie trügt: Wenn du merkst, daß der Minister mehr an sich denkt als an dich und bei all seinen Handlungen den eigenen Vorteil sucht, so wird dieser nie ein guter Minister und du kannst ihm niemals trauen […].40
Im Lichte des Leo-Stoffes versucht Gryphius sichtlich aufzeigen, dass es sich Machiavelli allzu einfach macht. Denn zu dem Zeitpunkt, an dem Leo die Untreue des Balbus erst umfassend realisiert, ist die Verschwörung bereits zu einer echten Bedrohung seiner Macht gediehen. Der pessimistischen Sicht auf den Erfolg von Verschwörungen, die Machiavelli vor allem in den Discorsi breit
38 Machiavelli: Il Principe, XXII, S. 180/181: „Non è di poca importanzia a uno principe la elezione de’ ministri ; li quali sono buoni o no, secondo la prudenzia del principe. E la prima coniettura che si fa del cervello di uno signore, è vedere gli uomini che lui ha d’intorno ; e quando e’ sono sufficienti e fideli, si può sempre reputarlo savio, perché ha saputo conoscerli sufficienti e mantenerli fideli.“ 39 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 157. 40 Machiavelli: Il Principe, XXII, S. 182/183: „Ma come uno principe possa conoscere il ministro, ci è questo modo che non falla mai ; quando tu vedi el ministro pensare piú a sé che a te, e che in tutte le azioni vi recerca drento l’utile suo, questo tale cosí fatto mai fia buono ministro, mai te ne potrai fidare […]“. Vgl. zu den hieraus folgenden Problemen Dirk Brantl: Der Umgang des Fürsten mit seinen Untertanen (Kapitel 20–23). In: Niccolo Machiavelli – Der Fürst. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2012 (Klassiker Auslegen 50), S. 121–137, hier S. 134–136.
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erläutert,41 steht Leos pessimistische Einschätzung der Möglichkeiten entgegen, sich als Herrscher vor einer coniuratio zu schützen. Der Fall Balbus erbringt sogar den Nachweis, dass dasjenige Mittel, das Machiavelli prominent zur Vermeidung von Verschwörungen anführt, nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar kontraproduktiv ist: In den Augen des Fiorentiners darf ein Machthaber „seinen Günstlingen nur so viel Ansehen geben, daß zwischen diesen und ihm immer noch ein Abstand bleibt“.42 Bei einem meritologisch verfahrenden Denken wie dem des Michael Balbus hatte jedoch gerade dies seinen Undank, Neid und Hochmut bedingt (5.1.1.1). Georg Schönborner versucht dem in Anschluss an Seneca zumindest im Ansatz abzuhelfen: Et sane magna est ingeniorum diversitas […] ita suum cuique ingenium est, suus cuique mos. Sed quæ sunt illa indicia? Docet hoc Sen. ep. 52. Argumentum morum ex minimis quoque licet capere: Impudicum & incessus ostendit, & manus mota, & unum interdum responsum, & relatus ad caput digitus, & flexus oculorum, improbum risus, insanum vultus habitusque demonstrant: illa enim in apertum per notas exeunt.43
Durch das zugrundegelegte Denken vom Inside-Out, einem Konzept charakterologischer Physiognomik, soll dem Herrscher bei seinen Personalentscheidungen eine Handhabe geboten werden. Die externen Äußerungen des Menschen besitzen Indiziencharakter und geben damit Aufschluss über die inwendige Beschaffenheit seines ingenium. Dass diesem Gedanken die auch bei Machiavelli zentrale Kunst der Dissimulation entgegensteht, bringt Schönborner nicht auf das Tableau, obwohl er sich nur wenige Seiten später selbst dieser ars annimmt.44 Unter dem starken Eindruck der eigens dargelegten Affektanthropologie stehend, muss Leo pessimistisch auf jeden pragmatischen Vorschlag Nicanders reagieren. Neid und Zorn vermögen eben jede Handlung in ungünstiges Licht zu rücken. Dies ist gerade darum bemerkenswert, weil anschließend weder Leo noch Exabolius oder Nicander ihre exklusiv pragmatische Perspektive fallen lassen: Exabolius schlägt Listklugheit vor, nicht aber insofern sie im Kontrast zum Recht
41 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III,6 S. 373: „[P]erché la [sc. congiure] è difficile e pericolosissima in ogni sua parte“; S. 382 : „Da queste cagioni dello scopire le congiure è impossibile guardarsi che per malizia, per imprudenzia o per leggerezza la non si scuopra, qualcunque volta i conscii d’essa passano il numero di tre o di quattro.“ 42 Ebd., S. 380: „Debbono partanto dare tanta autorità algi loro amici, che da quella al principato sia qualche intervallo […]“; Übers. nach Zorn: ders.: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 302. 43 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 157f. [erste Hervorhebung O.B., folgende Hervorhebungen im Text]. 44 Ebd., S. 161.
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stünde – dies tut sie freilich auch –, sondern insofern sie mangelnde Stärke kompensieren soll: „Wo keine strcke gilt / muß man der list was gnnen“ (GdW 5, I,2, S. 13, v. 192.). Umso unvermittelter präsentiert sich daher derjenige juristische Entschluss, den Leo nunmehr fasst: Er soll auff vnser wort in dem Palast erscheinen. Wo er zu ndern ist / wo / (wie wir kaum vermeinen) Er seine schuld erkennt’ / vnd den / den er verletzt / Mit ernster demuth ehrt / wird hier kein schwerd gewetzt. Wo fern er /(wie gewohnt) das alte lied will singen. Nicander / Mach jhn fest. der stoltze Kopff mag springen. (ebd., S. 14, v. 203–206)
Diese Verfahrensentscheidung ergeht autoritativ und lässt die soeben noch gehegten Zweifel hinsichtlich Verstellung und Lüge plötzlich außer Acht. Den ganzen Dialog hindurch ist die Stabilisierung als entscheidendes Ziel der gesuchten Handlungen derart hervorgehoben worden, dass unter Gesichtspunkten reiner Sicherheit bisweilen sogar die sofortige Ermordung Balbus’ einem fairen Prozess vorgezogen wurde. Wenn Leo daher abschließend plötzlich die Gelegenheit zur Besserung gibt,45 dann speist sich dies aus Motivationen, die nicht diesem Dialog zu entnehmen sind. Berücksichtigt Leo hier letztlich doch das Recht, insofern Gelegenheit zur Besserung und Reue gegeben werden muss? Oder erweist er sich schlicht als wankelmütig?
5.1.2.3 Herrschaftliche Interessenpragmatik und Gemeinwohl, oder: Der göttliche Anspruch an das positive Recht als Recht Nach Leos Abgang führen Exabolius und Nicander ihren Dialog (I,3) vor allem zu dieser Frage. Der Gardehauptmann hält Leos Entschluss sowohl für zu spät als auch für zu mild: Nicht vnverhoffter schluß! Doch vil zu spter ernst. Verzeih’ es mir. ich muß Entdecken was mich druckt. Der Kayser ist zu linde Vnd schertzt mit seinem heil: wer / wenn die rawen winde Sich lgern vmd die glutt / den flammen zu wil sehn Biß daß es vmb sein dach vnd gantzes haus geschehn / Rufft leider nur vmbsonst / wenn Maur vnd pfeiler krachen / Vnd stein vnd Marmor fllt. […]. (GdW 5, I,3, S. 14, v. 209–216)
45 Zu den straftheoretischen Status von Sicherung, Abschreckung und Besserung vgl. Brieskorn: Rechtsphilosophie, S. 140f.
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Nicander verlegt den Schwerpunkt zurück auf eine pragmatische Perspektive: Leo hatte im Ausgang von I,2 Michael Balbus zumindest ein Recht des Schuldund Reuegeständnisses eingeräumt. Auch dies bleibt natürlich ein fragwürdiges Recht, weil es die Schuldfrage ‚gerichtsseitig‘ als objektiv schon geklärt voraussetzt. Wenigstens aber berücksichtigt Leo irgendein Interesse des Balbus, nämlich dessen Selbsterhaltung. Nicander argumentiert dementgegen einseitig herrschaftspragmatisch: Der Kaiser „schertzt mit seinem heil“ – das Wohl Anderer ist nicht zu berücksichtigen. Es entsteht bereits hier der Eindruck einer ganz bestimmten Rechtskritik des Gryphius. Besonders im Papinian wird deutlich werden, dass Gryphius mit Bodin eine exklusive persönliche Souveränität denkt. Sie läuft völkerrechtlich auf eine regelrechte Identität von Herrscher und Land hinaus: Die Entschlüsse des Herrschers sind die Entschlüsse seines Landes. Hierfür steht sein Status supra legem positivam ein. Das göttliche und natürliche Recht legen ihm jedoch Bedingungen auf, und zwar auch hinsichtlich seiner herrschaftlichen Legislation und Jurisdiktion. Dies war auch Schönborner ein Anliegen: Die leges civiles dürfen nicht gegen das Naturrecht Gottes verstoßen, d.h sie dürfen nicht widervernünftig sein (siehe 4.2.3.2).46 Es gibt Vorschriften des göttlichen und natürlichen Rechts für die Promulgation neuer Gesetze47 und zur Abhaltung gerechten Gerichts.48 Vor allem haben für gleiche Vergehen gleiche Strafen verhängt zu werden.49 Zudem dürfen sie nicht überstürzt auferlegt werden: „Non præcipitanda sententia condemnatoria“.50 Auch im absolutistischen Naturrechtsdenken hat der Souverän bei seiner Legislation Prinzipien zu berücksichtigen – nulla poena sine lege, audiatur et altera pars u.v.a.m. Sie dienen letztlich dem Zweck, dass auch der Untertan, wenngleich er unter ein vom Fürsten frei gesetztes Recht fällt, dieses doch als Recht genießt. Das göttliche und natürliche Recht mögen also dem absoluten Herrscher durchaus große Freiräume lassen, was den Inhalt seines positiven Rechts betrifft, nicht aber was den Rechtsbegriff anbelangt. Der Rechtsbegriff ist seit Thomas von Aquin gegenüber den bloß verbietenden bzw. gebietenden Gesetzen allgemeiner. Er sucht jedem Ge- und Verbot der einen Person auch seine Entsprechung bei der jeweils anderen zuzuteilen:51 In diesem Sinne gehört zum Klagerecht auch
46 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 182. 47 Ebd., S. 183. 48 Ebd., S. 209f. 49 Ebd., S. 208. 50 Ebd., S. 209. 51 Vgl. Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez.
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eine Beweispflicht (in dubio pro reo) sowie ein Anhörungsrecht (audiatur et altera pars). Dies gilt auch für die im Heiligen Römischen Reich geltende Carolina: Als deren Verdienst neben der Vereinheitlichung der Strafgesetze gilt auch eine gewisse Stärkung der Rechte des Beklagten, gleichwenn die Anhörungspflicht in ein Folterrecht umschlägt und damit nur wieder zu Ungunsten des Beklagten ausfällt.52 Anders als Nicander meint, ist das Wohl des Kaisers keineswegs ohne Weiteres mit dem Gemeinwohl gleichzusetzen, dem das Recht dient. Ebenso wenig ist daher mit dem Wohl des Kaisers eine weitreichende Beschleunigung oder gar Verkürzung des Rechts je schon begründbar.
5.1.2.4 „Der stahl schafft einig ruh“. Absoluter Ausnahmezustand als Recht auf Rechtlosigkeit Allerdings hält Nicander seine bloß einseitig herrschaftspragmatische Handlungssuche in bestimmter Weise für zulässig: Er sieht Kaiser Leo in einer Lage, in der „nun die grimme Noth / Vns mit entblßtem schwerdt schon anlaufft zu bekriegen“ (GdW 5, I,3, S. 14, v. 218f.). Nicander sieht den status necessitatis („Noth“) gegeben, den er als Zustand jenseits jedweden Rechts auffasst: „[D]er stahl schafft einig ruh / Dem Kayser / dir / vnd mir“ (ebd., v. 222f). Alsbald macht Nicander deutlich, dass er den vorliegenden Ausnahmezustand anders als Leo in 5.1.2.1 nicht als relativ auffasst. Der genannte „stahl“ ist nicht derjenige peinlicher Ordnung und Strafe: „Jhr meynt durch langes Recht die schnelle Pest zu dmpffen […] jhr meynt mit recht zu kmpffen / In dem er spieß’ ergreiff“ (ebd., S. 15, v. 231–233).53 Anstatt von einer asymmetrischen Situation von obrigkeitlicher Strafinstanz und beschuldigtem Untertan lässt Gryphius seinen Nicander von einer „Kampff“-Situation sprechen. In dieser hat der beschuldigte Michael Balbus sich bereits auf Augenhöhe begeben, „[i]n dem er spieß’ ergreiff“. Mit dem „langen Recht“ – und damit meint Nicander das positive Recht des Staates – ist dieser Konflikt grundsätzlich nicht zu lösen. Er fällt schlicht nicht unter den status civilis. Hier wie auch in 5.1.2.1 ist es natürlich dieser Status, der verteidigt werden soll. Hier jedoch sind nicht mehr nur die Mittel des weltlichen Rechts untauglich, sondern das weltliche Recht ist im status necessitatis überhaupt nicht in Kraft. Gegen Michael Balbus muss sich der Staat wie gegen einen äußeren Feind verteidigen.
52 Vgl. Friedrich-Christian Schroeder: Nachwort. In: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina). Hg. von Friedrich-Christian Schroeder. Stuttgart 2000 (UB 18064), S. 205–215, hier S. 209. 53 GdW 5, Leo Armenius, I,3, S. 15, v. 231–233.
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Nicander denkt den Konflikt mit Michael Balbus also erstens als einen Ausnahmezustand im Sinne des Naturzustands. In diesem sind die Gesetze des Staates außer Kraft. Damit rückt für Nicander aber nicht das Befolgen völkerrechtlicher Gepflogenheiten oder gar des natürlichen Rechts auf den Plan. Vor Hobbes’ De Cive wird der status naturalis eigentlich als ein rechtlicher Zustand des Menschen gedacht, in dem ein letzthin willkürliches Handeln ebenso untersagt ist wie im status civilis. Dass es im Naturzustand nur Willkür gäbe, wie es Hobbes kenntlich machen wird (4.3.4), wird noch nicht gedacht. Anders der Gardehauptmann Nicander: Er sieht zwar auch in diesem absoluten Ausnahmezustand eine Prävalenz der leontischen Seite als gegeben an. Als Recht lässt sie sich jedoch weder realisieren noch versucht er sie als solches zu begründen. Vielmehr lässt Gryphius Nicander mit der Selbsterhaltung ein Argument veranschlagen, das besonders bei Naturrechtslehrern wie Samuel Pufendorf fundamentalen Begründungscharakter erlangen wird:54 „[D]er jrrt der einen tag / Dem nachsicht / dem er bald den nacken brechen mag“ (GdW 5, S. 15, v. 233f.). Es ist für Nicander die conservatio sui, die ihm die exklusiv gewaltsame Gegenwehr gegen Balbus legitimiert. Dies ist beim Gardehauptmann kein Selbsterhaltungsgedanke, den es zu verallgemeinern gölte und überhaupt verallgemeinerbar wäre. Leo habe also gerade nicht etwa Balbus’ Recht auf Rechtfertigung zu achten (5.1.2.3).55 Der Selbsterhaltungstrieb fungiert hier allein als Motivation eines ‚Rechts‘ des Stärkeren. Als natürliche Grundlage eines universalen Rechts, das allgemeine und wechselseitige Interessen zu ermitteln und zu vermitteln hat, scheitert die conservatio sui: Im Gegenteil unterbindet sie gegenseitige „nachsicht“, denn Nachsichtigkeit riskiert, dass naturständliche Kontrahenten einem „bald den nacken brechen“. Es wird sich zeigen, dass sich Gryphius wiederholt skeptisch zu einer unbedingten Ableitbarkeit des Naturrechts aus dem Selbsterhaltungstrieb verhalten wird (5.2.5.3 und 5.3.5.6). Hinsichtlich des Universalitätsanspruchs des Rechts muss sich der überschriebene Satz Nicanders also regelrecht elliptisch
54 Pufendorf: De jure naturae et gentium, II. 2. § 3, S. 115f.; vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio 26), S. 76; vgl. auch Hans Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1958, S. 89–91; Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 5), S. 55f. 55 Siehe besonders zu den Paradoxien dieser Denkfigur Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität.
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ausnehmen: Das ‚Recht‘ des Stärkeren „schafft einig ruh / Dem Kaiser / dir / vnd mir“, – auch dem Reich Byzanz? Exabolius nimmt diese Leerstelle von Nicanders Denken wahr. Er hält ihm entgegen, dass nicht allein die Ruhe des Kaisers und seiner nächsten Vertrauten gesichert werden darf: „[W]en der straff’ ein Man zutheil kmpt vnverhr’t / wird / wie befleckt er sey / Er stets alß from geehrt“ (ebd., S. 14, v. 229f). Er möchte Balbus sein Recht auf Anhörung zugestehen. Dies darf jedoch nicht übersehen lassen, dass es auch Exabolius mit diesem Satz nicht um Rechtssicherung, sondern um Sicherung einer allgemeinen politischen Ruhe geht. Es ist ein eigenes Interesse, das die politische Obrigkeit und nicht das Recht selbst an dieser allgemeinen Ruhe hat: Es soll vermieden werden, dass Michael Balbus als ‚standrechtlich‘ Bestrafter „als from geehrt“ wird. Dem Ansehen des Kaisers würde damit beträchtlicher Schaden zugefügt werden. Diese eigentliche pragmatische Motivation des Exabolius, Recht geltend zu machen, erkennt Nicander auch weiterhin nicht. Sein Einwand, „Jhr meynt durch langes Recht die schnelle Pest zu dmpffen […] jhr meynt mit recht zu kmpffen / In den er spieß’ ergreiff“ (ebd., S. 15, v. 231–233), übersieht, dass Exabolius mit Klugheit, nicht mit Recht kämpfen will.
5.1.2.5 Bedächtigkeit oder Trägheit? Schwierigkeiten machiavellistischer Formelhaftigkeit Gryphius präsentiert Exabolius in dieser Szene I,3 nicht als einen Kämpfer des Rechts, der einem Machiavellisten Nicander gegenübergestellt würde. Im Gegenteil tritt ein Machiavellist Exabolius auf, der seinen Principe genau gelesen hat. Er weiß durchaus um den opportunen ruhmesethischen Nutzen des Rechts, statt ihn wie der übereilte Pragmatiker Nicander in blindem Aktionismus je schon abzutun. Schließlich mahnt schon Machiavelli, dass der Fürst Verachtung und Hass meiden muss („De contemptu et odio fugiendo“)56 und kommt dabei zu dem Schluss: Um mich kurz zu fassen, sage ich, daß auf seiten des Verschwörers nichts ist als Angst, Mißtrauen und Furcht vor Strafe, welche ihn in Schrecken versetzt, aber auf seiten des Fürsten ist die Majestät der Herrschaft, sind die Gesetze und die schützenden Waffen der Freunde und des Staates, die ihn verteidigen; daher ist es unvorstellbar – wenn zu all dem noch die Zuneigung des Volkes hinzukommt –, daß jemand so kühn sein könnte, eine Verschwörung anzuzetteln. Denn hat ein Verschwörer gewöhnlich schon Furcht, bevor er sein Verbrechen begeht, so muß er in diesem Fall – wenn er das Volk zum Feind hat – auch noch später
56 Machiavelli: Il Principe, XIX, S. 140–163.
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Furcht haben, nachdem er seine Tat vollbracht hat, da er nicht hoffen kann, Zuflucht zu finden.57
In eben diesem Sinne vermag Exabolius gegen Nicander sogar ruhmesökonomisch und damit langfristig sicherheitspolitisch zu argumentieren. Nicander hingegen beharrt auf dem Vorrang kurzfristiger Sicherheitserwägungen: Nicand. Ich kan ein krtzer Recht mit diesem stahl außfhrē. Exabol. Deß Keysers Ruhm lst nicht so strenge Richter zu? Nicand. Deß Keysers wolfahrt heist vñ billicht was ich thue. Exabol. Warumb wil man dem Neidt zu lstern anlaß geben? (GdW 5, I,3, S. 15, v. 236–239)
Mit der Rede vom Neid schließt Exabolius seine Argumentation auch an diejenige Leos an (5.1.2.2). Die scholastische Affektenlehre eines Thomas liefert der prudentia Kenntnisse, auf die sie ein verlässliches Handlungskalkül aufbauen kann: Interpersonales Handeln, das die bestimmte Affektenlage der Menschen nicht berücksichtigt, droht zu Ungunsten des Akteurs selbst auszufallen. Dennoch geht Exabolius nicht als überlegener Sieger aus dem Disput mit Nicander hervor. Denn erstens hatte Leo von der invidia im Rahmen einer Affektanthropologie gesprochen, die Neid gegenüber jeglichem fürstlichen Handeln aufkommen sieht. Die Leidenschaften werden von der Seele produziert und sind somit gegenüber den äußeren Gegenständen letztlich indifferent: Die cartesische Wende der Affektenlehre wird erst 1649 die passiones als von den Gegenständen verursacht denken. Sie hat Gryphius und seinen Leo Armenius 164658 freilich noch nicht erreicht.59 Zweitens wird auch der eilige Pragmatiker Nicander mit seiner nachhaltigen Forderung zügigen Handelns nicht umfassend falsch liegen:
57 Ebd., S. 144/145: „E per ridurre in brevi termini, dico, che dalla parte del congiurante non è, se non paura, gelosia, sospetto di pena che lo sbigottisce; ma dalla parte del Principe è la maestà del Principato, le leggi, le difese degli amici e dello Stato che lo difendono; talmentechè aggiunto a tutte queste cose la benivolenza populare, è impossibile che alcun sia sì temerario, che congiuri. Perchè per l’ordinario dove uno congiurante ha a temere innanzi alla esecuzione del male, in questo caso debbe temere ancora dappoi, avendo per nimico il popolo, seguíto l’eccesso, nè potendo per questo sperare rifugio alcuno.“ 58 In den Sommer und Herbst dieses Jahres datiert Mannack nach ausführlichem Resümee der diversen Forschungsmeinungen die Abfassung des ersten Trauerspiels. In Sachen der Affektenlehre variieren die späteren Drucklegungen, die von Gryphius z.T. erheblich redigiert wurden, nicht, sondern behalten ihren präcartesischen Zug bei: Mannack: Kommentar, S. 881f. 59 Vgl. Carole Talon-Hugon: Vom Thomismus zur neuen Auffassung der Affekte im 17. Jahrhundert. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Jean-Daniel Krebs. Bern u.a. 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 42), S. 65–71.
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Die Verzögerung seiner Hinrichtung wird es Balbus tatsächlich ermöglichen, seinen Machtplan umzusetzen. Vor allem aber gibt jenes Kapitel des Principe, auf welches Gryphius die Argumentation Exabolius’ hat aufruhen lassen, auch Nicander Recht. Dort heißt es schließlich auch: Verächtlich macht sich ein Fürst, wenn er für wankelmütig, leichtsinnig, weibisch, furchtsam und unentschlossen gehalten wird; davor muß er sich wie vor einer Klippe hüten und sich bemühen, daß man in seinen Taten Großmut, Kühnheit, Ernst und Stärke verspürt […].60
Tatsächlich hat sich Leo bereits als wankelmütig („vario“) erwiesen und wird sich weiter als wankelmütig erweisen. Gryphius geht es schon in seinem ersten Trauerspiel um die notwendige Paradoxalität einer pragmatischen Suche nach guten, und das meint: rechtlichen Lösungen für menschliche Handlungskonflikte. Diese Paradoxalität weist Gryphius auf beiden Seiten des dramatischen Konflikts auf. In der Tat zeichnet sich ausgerechnet das erste politische Trauerspiel des Schlesiers durch einen höheren Problemdruck insofern aus, als hier weder der Protagonist noch ein Akteur der Gegenseite als Fürsprecher eines unbedingten göttlichen Rechts aufzutreten scheinen. Stärker als in den folgenden Trauerspielen stellt sich nicht nur die Frage nach einem Deus politicus, der sein Recht strafend geltend macht. Es stellt sich vielmehr auch die Frage, inwiefern das göttliche Recht auch inhaltlich vertreten wird, wo es doch am byzantinischen Hofe keinen Fürsprecher zu haben scheint.
5.1.3 „Der Himmel selber wach’t vor die gekrnten hare / vnd steht dem Zepter bey“. Politische Theologie als instanzieller Vorbehalt Gottes Dieser Anschein wird schließlich relativert, wenn in der Unterredung Exabolius’ und Michael Balbus’ erstmalig die gegnerischen Seiten miteinander in den Dialog treten. Eine bemerkenswerte Rolle wird hier Exabolius einnehmen: Gryphius lässt ihn zwar in der Sache weiterhin pragmatisch argumentieren, weshalb Exabolius auch hier nicht aus den Paradoxien freikommt, in die er schon in I,2 und I,3 geraten war. Dennoch dient Exabolius damit gerade dem Nachweis, dass die Sachfragen des göttlichen Rechts der Herrschaft weitgehend nicht die göttliche Stiftungs- und Strafinstanz berühren: Im Gegenteil soll ihre prinzipielle Indepen-
60 Machiavelli: Il Principe, XIX, S. 140–143: „Contennendo lo fa essere tenuto vario, leggieri, effeminato, pusillanime, irresoluto: da che uno principe si debbe guardare come da uno scoglio, e ingegnarsi che nelle azioni sua si riconosca grandezza, animosità, gravità, fortezza […].“
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denz von ihrer Gesetzesschöpfung zum Tragen kommen. Es ist dieser Dialog, in dem Gryphius den für das Drama entscheidenden Unterschied von Fragen sachlicher Rechtmäßigkeit und denen der instanziellen Befugnis hervorkehren wird. Der Dialog setzt direkt mit dem souveränitätsrechtlichen Diskurs ein, indem Michael Balbus sich darüber verwundert, dass Leo augenscheinlich ohne seinen Geheimrat Exabolius Gericht hält: Mich. Wo werd ich Exabol den Keyser finden knnen? Exabol. Er wird / wie ich vermeyn / dir stracks verhre gnnen. Mich. Warumb / wie ich vermeyn? was thut er ohne dich? Exabol. Er selbst thut was jhn dnckt. der Keyser herrscht vor sich. (GdW 5, I,4, S. 15, v. 251–254)
Exabolius antwortet auf diese Verwunderung mit dem nach Bodin hinreichenden Hinweis, dass obrigkeitliche Jurisdiktion letztlich eben in der Kompetenz des Souveräns liege. Balbus übergeht anschließend nicht nur dieses souveränitätstheoretische Argument. Er spricht Exabolius ab, überhaupt argumentiert zu haben. Er unterstellt ihm nur eine zwiegespaltene untertänige Affektiertheit. Exabolius behaupte die souveräne Autonomie nur zu dem Zweck, sich selbst in dem Gefühl zu beruhigen, nicht in die Entscheidungen des Kaisers involviert zu sein: Wie so bestrtzt? so still? so einsam! so betrbet! Wo geht der Seuffzer hin? hat Er den du geliebet / Hat Leo der nunmehr auch keiner freunde schont / Mit vngunst / wie er pflegt den langen dinst belohnt? (ebd., v. 255–258)
In der Absicht, Exabolius gegen Leo aufzuwiegeln, wiederholt Balbus daher seine Argumente, die er seinen Mitverschworenen schon in I,1 auseinandergesetzt hatte. Verdienst wird weder belohnt noch scheint es überhaupt als Legitimationsgrundlage geachtet zu werden, wie es in Balbus’ Augen eigentlich der Fall sein sollte. Denn Leo „schwimbt in einer See mehr denn gewndtschter wonne / Weil wir in eisen stehn vnd leiden staub vnd sonne“ (ebd., S. 16, v. 263f).
5.1.3.1 Recht aus Freiheit? Freiheit aus Souveränität! Balbus erweitert seine Kritik an Leo noch. Der Kaiser habe sein herrschaftliches Misstrauen soweit kultiviert, dass immer schon bestraft würde, bevor Beweise hätten vorgebracht werden können: [Er] setzt vmb kundschafft vnß Verrther an die Seitt. Daß man / wenn frieden herrscht / mehr angst hat / alß wenn streitt. Biß daß man was versieht / biß daß der Printz was glaubet / Denn wird vns Ehr vnd gut mit sampt dem haupt geraubet (ebd., v. 277–280).
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Als Exabolius den Heerführer hierauf ermahnt, dass schon diese zügellose Rede Majestätsbeleidigung sei (ebd., v. 281f.), lässt Gryphius den Verschwörer zunächst mit der Freiheit argumentieren: diß klag ich daß nicht mehr erlaubet auß zusprechen Was leider mehr denn war / man schtzt fr ein verbrechen Daß Schwerdt vnd Pfahl verdient ein vnbedachtes wort. Wo ist die Freyheit hin? die Freyheit derer ort Ein honigsßer mund / ein schmeichler eingenommen / Der durch sein heuchlen ist auf diese stelle kommen / Die meine faust erwarb. Ich spey mich selber an Daß ich diß krumme spiel so lange schawen kan: Der Mensch der sich durch list hat in den Thron gedrungen (Wie Erd vnd Sonne weiß/) der keinen Feind bezwungen / Als durch ein frembdes Schwerdt. (ebd., S. 16f., v. 282–293)
Es wäre tatsächlich rechtsphilosophische ‚Avantgarde‘, würde Balbus von Meinungsfreiheit sprechen oder sogar von der Freiheit als Grundlage von Recht. Balbus spricht sichtlich nicht von einer allgemeinen Freiheit, die jedermann natürlich zu eigen und auch im status civilis zuzugestehen sei. Es geht ihm um die Freiheit, die Leo „eingenommen“ hat, als er den Thron bestieg: um eine Freiheit, die nur im Naturzustand besteht und mit Blick auf den Staat nur dem Souverän zukommt. Dies stellt ebenjenes Verständnis von naturständlicher Freiheit der Staaten, mithin ihrer Souveräne dar, wie es mit Samuel Pufendorf seinen prominentesten deutschen Vertreter im siebzehnten Jahrhundert erst noch bekommen soll.61 Balbus kann nur schwer kaschieren, dass es ihm allein um die Freiheit zu tun ist, die im naturrechtlichen Souveränitätsbegriff enthalten ist: Er kritisiert nicht, dass sie exklusiv beim Souverän liegt, sondern schlicht, dass ein Anderer als er selbst diese Freiheit der souveraineté genießt. Auf ein innerstaatlich interpersonales Freiheitsrecht zielt Balbus’ Unmut nie ab. 150 Jahre vor Kant, vor dem Recht aus Freiheit,62 kann Balbus Freiheit nicht als Untertan gegen den Herrscher einklagen.
61 Vgl. Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, S. 219; Thomas Behme: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 112), S. 61; Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 75. 62 Vgl. Bernhard Jakl: Recht aus Freiheit. Die Gegenüberstellung der rechtstheoretischen Ansätze der Wertungsjurisprudenz und des Liberalismus mit der kritischen Rechtsphilosophie Kants. Berlin 2009 (Schriften zur Rechtstheorie 244), S. 97–117. Kants Handlungsbegriff geht dem Recht voraus und wird „als Realisierung einer Vorstellung eingeführt“ (S. 97). Zur Reflexion auf den Begriff der freien Handlung muss „auf jeglichen Erfahrungsbezug verzichtet werden“ (S. 98f.). Andernfalls ließe sich die Unterscheidung von Vorstellung und Realisierung einer Vorstellung
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5.1.3.2 Die völkerrechtliche Alternative: Intervention Eine dem Herrscher Leo vergleichbare Freiheit, die berechtigt und ermächtigt, ihm auf Augenhöhe zu begegnen, haben nur wieder andere Souveräne inne. Damit verweist Gryphius mithilfe von Balbus’ hiesiger Figurenrede per contrarium auf die zeitgenössisch allein menschlich machbare und rechtlich mögliche Alternative, Leo zur Verantwortung zu ziehen, so er denn Unrecht verübt: die Idee einer subsidiären Strafgewalt anderer Herrscher, eine von Saxoferrato über Vitoria, Melanchthon und Suárez tradierte Auffassung,63 die Gryphius selbst im Sonett An einen hchstberhmten Feldherrn / bey Uberreichung des Carl Stuards teilt (4.4.4.2) und die er auch in seine folgenden Trauerspiele tragen wird (5.3.2.1, 5.2.4.1 und 5.4.5.1). Dies verweist natürlich auch zurück auf Nicanders Auffassung des LeoBalbus-Konfliktes als eines absoluten Ausnahmezustands (5.1.2.4). Allerdings kommt die Gruppe der Verschwörer eben nicht als Völkerrechtssubjekt in Frage. Sie könnten nicht Teilnehmer einer völkerrechtlichen Strafhandlung gegen Leo sein: Denn Völkerrechtssubjekte sind allein andere Souveräne. Dieses Interventionskonzept soll schließlich die Leistung des Völkerrechts sein: Es soll den Ausnahmezustand, der sich im Sturz in den status naturalis verabsolutiert, praktisch wie rechtlich entproblematisieren, indem auch in diesem Zustand Gesetze und subsidiär Strafbefugte existieren. Für einen Untertanen bleibt ein solcher Strafanspruch über seinen Souverän anmaßend und rechtswidrig.
5.1.3.3 Gegen Meritologie und temporalisiertes Herrschaftsrecht Es nimmt daher nicht wunder, dass Balbus nur abermals auf das meritologische Moment zurückkommt. Anders als in I,1 verbindet Balbus es diesmal mit dem Argument von Leos dereinst eigener Usurpation, nur um sich weiter in Widersprüche zu verstricken. Denn einerseits lässt er hier anders als der „erste Verschworene“ in I,1 den Akt des Thronverzichts Michaels I. unerwähnt. Andererseits erwähnt er durchaus unumwunden seine eigene Beteiligung an Leos Thronübernahme im Jahr 813. Dass Leos Macht letztlich Balbus’ „faust erwarb“, ist für seine Argumentation fatal ehrlich – schließlich heißt es bei Kedrenos: Den so zögernden und die Herrschaft schmähenden Leo drängte schließlich Michael der Stotterer aus Amorion, mit dem Beinamen Balbus, selbst Anführer einer römischen Legion, und drohte mit gezogenem Schwert, sich umzubringen, falls Leo die Herrschaft nicht frei-
nicht aufrecht erhalten; diese Unterscheidung ist aber für den Handlungsbegriff, wie gesehen, grundlegend. 63 Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, S. 73f.
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willig übernehme. Er forderte die übrigen Mitstreiter sogar auf, es ihm gleichzutun. Deshalb nahm Leo das Diadem und wurde zum Kaiser der Römer ausgerufen.64
In der Tat ist Balbus’ Rede von der „Faust“ nicht übertrieben: Balbus hatte den zunächst zögerlichen („θρυπτομένος“) und die Herrschaft ablehnenden („τὴν ἀρχὴν ἀποσειομένος“) Leo sogar gezwungen, die Krone zu übernehmen: Andernfalls hätte er sich umgebracht.65 Eine Klage wegen Usurpation würde Balbus der Sach- und (Natur)Rechtslage nach also genauso treffen wie Leo. Eine völkerrechtliche Lösung würde also in jedem Fall zuungunsten Balbus’ ausfallen: Entweder wäre er als Aufrührer gegen einen legitimen Herrscher Leo zu belangen oder als Beteiligter einer Revolution gegen den legitimen Herrscher Michael I. Rhangabe. Allerdings scheint für Balbus dieser Zusammenhang herrschaftsrechtlich problemlos zu sein. Im Gegenteil bedauert er seine vormalige Beteiligung an der Thronübernahme Leos sogar, aber nur wegen dessen ausbleibender Verdienste: Der Mensch der sich durch list hat in den Thron gedrungen (Wie Erd vnd Sonne weiß/) der keinen Feind bezwungen / Als durch ein frembdes Schwerdt. (GdW 5, I,4, S. 16f., v. 291–293)
In dieser Verbindung der meritologischen Argumentationsgrundlage mit dem Eingeständnis seiner derzeitigen Befürwortung von Leos Kaisertum liegt einmal mehr machiavellisches Denken vor: Recht zu herrschen wächst grundsätzlich aposteriorisch, Legitimität ist eigentlich nur als Legitimation und diese nur als Bewährung durch Verdienste denkbar (siehe schon 4.1 und 4.3.2): Verdienste machen den Fürsten. Mit der „Temporalisierung des Tyrannenbegriffs“66 geht bei Machiavelli genauso wie bei Balbus eine Temporalisierung des ius dominationis einher.67 Im Rahmen dieses Ansatzes habe sich Leo nachhaltig schuldig gemacht,
64 Kedrenos: Γεωργιου του Κεδρηνου Συνοπσις Ιστοριων, S. 932: „Θρυπτομένου δὲ τούτου καὶ τὴν ἀρχὴν ἀποσειομένου, Μιχαὴλ ὁ ἐξ Ἀμωρίου ὁ Τραυλὸς, τάγματός τινος καὶ αὐτὸς Ῥωμαῖκοῦ ἐξηγούμενος, τὸ ξίφος σπασάμενος, τοῦτο δὲ καὶ ἄλλοις τοῖς τοῦ ἔργου μετόχοις ποιεῖν ἐπιτρέψας, ἀναιρήσειν ἠπείλει, εἰ μὴ ἐχουσίως προσδέξοιτο τὴν ἀρχήν. Καὶ οὗτος μὲν οὕτως διάδημά τε περιτίθεται καὶ βασιλεὺς Ῥωμαίων ἀναγορεύεται“ [Übers. O.B.]. 65 Insofern ist Heisenbergs Urteil unzutreffend, dass Kedrenos von Leos „Zaudern“ nicht berichte: Heisenberg: Die byzantinischen Quellen von Gryphius’ ‚Leo Armenius‘, S. 448. 66 Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 358. 67 Insofern soll Balbus’ Hinweis auf seine Verdienste Recht schaffen und nicht etwa nur ‚kurzes Recht‘ beugen (vgl. Stefanie Arend: ‚Brennen‘ und ‚Schneiden‘ oder ‚Verzeihen‘? Die Utopie des sanftmütigen Fürsten in Gryphiusʼ Drama ‚Leo Armenius‘ im Kontext von Senecas ‚De clementia‘. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Hg. von Mirosława Czarnecka u.a. Breslau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 127–138, hier S. 130).
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wohingegen Michael Balbus sich nur einmalig geirrt habe: Schuld an Rhangabes ‚Sturz‘ vermag er so nicht bei sich zu sehen. Widersprüchlich ist dieses Denken deshalb, weil es zwar einen Legitimierungsmaßstab vorzubringen scheint, nämlich Verdienste und Erfolge, aber dennoch immer Rechtsvakua hervorbringt: Vom Zeitpunkt der Machtübernahme bis zu ihrer rechtlichen Bewährung herrscht bereits dem Gedanken nach ein Interim der Rechtsfreiheit. Während dieses Interims kann ein Souveränitätsrecht ebenso wenig behauptet wie verteidigt werden. Das Kriterium nachhaltiger Bewährung durch Verdienst und Erfolg, das Balbus ungebrochen vorbringt, ist nur scheinbar griffig. Es behält sowohl instanzielle als auch maßstäbliche Leerstellen: Denn wer beurteilt, wieviel Verdienst den König macht und wann diese spätestens einzubringen sind, sodass andernfalls Widerstand legitim wäre? Sollte Balbus dabei das Prinzip einer Mehrheitsentscheidung des byzantinischen Volkes im Blick haben, so widerspricht nicht erst sein usurpatorischer Alleingang zum Dramenschluss, sondern schon das stratokratische Argument (5.1.1.2) einem echten Prinzip demokratischer Willensbildung. Exabolius versucht Balbus daher vor Augen zu führen, wie sehr in einem so großen Reich wie dem byzantinischen den Verdiensten immer die politischen Sorgen gegenüber stehen: „Bedenck auch was es sey / vor so viel tausend sorgen / Stets alß gefangen gehen“ (GdW 5, I,4, S. 18, v. 347f.). Dem folgt eine sich über dreißig Verse erstreckende Aufzählung außen- wie innenpolitischer Probleme des byzantinischen Tagesgeschehens (ebd., S. 18f., v. 349–380). Diese „tausend sorgen“ machen Herrschaft zu einer schweren Bürde. Vor allem aber muss das politische Geschäft wegen der Stetigkeit politischer Probleme ein ebenso stetes Nullsummenspiel bleiben. Es lässt den Gedanken eines verdienstlichen Gewinns rundheraus nicht zu. Dies ist dem Fürsten schon darum nicht anzulasten, weil Probleme nicht – bzw. nicht nur – von ihm ausgehen: „[D]er Frst kan nichts vermeiden“ (ebd., S. 19, v. 380), er kann nur zu kompensieren suchen, wird aber nie – so schließlich Exabolius’ Hintergedanke – den Kreislauf stetig sich erneuernder Probleme und ihrer Bewältigung hin zu einem linearen Überschuss durchbrechen können. Die Pointe, die Gryphius mit diesem Einwand Exabolius’ gegen das machiavellische Herrschaftsdenken des Balbus samt seinem meritologisch-temporalisierenden Zug anbringt, ist in der Tat nicht wenig gewitzt: Denn bei seinem weit ausgreifenden Resümee der eigenen politischen Gegenwart argumentiert Exabolius schließlich mit der Praxis. Diese macht sich dem Anspruch nach eigentlich derjenige Pragmatismus zur Grundlage seiner Urteile, den Machiavelli wie auch Balbus als handlungsleitend einsetzen möchten. Wenn aber die Praxis selbst sich dem profanen Pragmatismus nur genauso wenig einpassen lässt wie das Recht, dann ist dieser auch für eine Klugheitslehre insolvent.
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5.1.3.4 Die menschliche Unverfügbarkeit göttlicher Ordnung Dennoch lassen es weder Gryphius noch seine Figur Exabolius bei der pragmatischen Selbstwiderlegung des Pragmatismus bewenden. Um von völkerrechtlichen Erwägungen einmal abzusehen (5.1.3.2), führt Exabolius Michael Balbus das Gedankenexperiment einer kriegerischen Auseinandersetzung in einem ordnungsfreien Naturzustand vor Augen: Du suchst was man durch blut / durch wrgen vnd verheeren Vnd flam’ vnd todt kaum find’t / es geh die stoltze Ruh Der sich’ren Lnder ein! rufft schildt vnd spieß herzu! Setzt alle Schwerter an! kanst du ohn argwohn glauben / Daß alle / nicht vor sich / nur dir zu nutze rauben? Noch mehr! wer fllt vns bey: Vier hnde thun es nicht! Viel knnen / wenn ein mundt nicht aller trewe bricht. (ebd., S. 17, v. 312–318)
Schon in einem völkerrechtlich regulierten Naturzustand steht es um Balbus’ Vorhaben nicht zum Besten. Schon dort wäre er in jedem Fall als Putschist entweder gegen Leo oder gegen Michael I. zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings wären seine Erfolgsaussichten auch in einem ordnungsfreien Naturzustand, d.h. durch ein Recht des Stärkeren nicht gesichert. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass dieser status naturalis nicht derjeniges des Thomas Hobbes ist: Exabolius unterlegt ihm eine empirische Vorstellung, die ausdrücklich nur Vermutung sein kann: „[K]anst du ohn argwohn glauben / Daß alle nicht vor sich / nur dir zu nutze rauben“. Exabolius hegt letztlich nur in quantitativer Hinsicht Zweifel, dass Balbus im Chaos genügend oder gar alles Volk hinter sich versammeln könnte. Er folgert nicht wie Hobbes eine qualitiative Denkunmöglichkeit eines Rechts aller auf alles (4.3.4.2). So kann Exabolius nicht der Hoffnung des Balbus begegnen, die dieser in die Chance seines Erfolgs legt, und sei sie auch nur minimal. Auch in diesem quantitativ empirischen Chaosargument kann Exabolius dem Verschwörer jedoch allemal die praktische Widersprüchlichkeit seines Vorhabens vor Augen führen: Genauso wenig wie Leo sich einer umfassenden Loyalität seiner Anhänger und Vertrauten sicher sein konnte – Michael Balbus ist schließlich selbst der anwesende Beweis hierfür –, so wenig kann sich auch Balbus selbst ihrer sicher sein: Balbus’ Verschwörung müsste von der Treue als einer schlicht vorausgesetzten Bedingung leben, die sie schon deshalb nicht gewährleisten kann, weil sie ihren Anfang am Bruch dieser Bedingung nimmt. Daher kann Michael Balbus gar nicht „für den Kampf aller gegen alle gut gewappnet“ sein.68 Zudem sieht es Exabolius als erwie-
68 So Werner Lenk: Absolutismus, staatspolitisches Denken, politisches Drama. Die Trauerspiele des Andreas Gryphius. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. von Zentral-
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sen an, dass es in jedem Fall Anhänger des Leo gibt, die Balbus nie zum Überlaufen bewegen können wird: Gesetzt auch / daß wir schon mit tausend heeren drngen Ins Keyserliche schloß / vnd Hoff vnd Statt besprngen: Wrd Leo wol allein ohn schwerdt vnd Tartsche stehn? Nein sicher! die nunmehr an seiner seiten gehen / Die seine Macht erhub / vnd die durch jhn nur leben: Die mssen Hertz vnd Halß vor seine Crone geben. Warumb? sein vntergang wrd’ jhr verderben seyn. (GdW 5, I,4, S. 17, v. 319–325)
Es gibt politische Existenzen, die ganz von der einen Herrscherperson abhängen, weil sie sich ganz ihr verdanken. Gerade in einem heraufbeschworenen chaotischen Zustand gilt diese Abhängigkeit aber zugleich für ihre menschliche Existenz. Bevor Exabolius’ Argument ihren eigentlichen Zielpunkt erreicht, verlegt er sich nochmals darauf, einen pragmatischen Widerspruch aufzuweisen: Auch der / dem was er schafft / geht trefflich bitter eyn / Der stets nach newer zeit / vnd newen Herren flehet / Der lobet was man hofft: was gegenwertig schmehet: Der nichts denn seine Faust vnd von rost rothen spieß Vnd was der harte Perß in jener schlacht verließ Herschnarchet / der Tyrann vnd Pritzen keck zu tdten / Wenn man mit glsern schantzt bey vollen Nacht Pancketen / Zerschmeltzt vor heisser angst / wenn die Trompet erwacht Wenn man den schildt ergeifft / vnd in dem Harnisch kracht. (ebd., S. 17f., v. 326–334)
Die breite Unzufriedenheit, auf die Balbus seinen Umsturz im Volk stützen will, gilt keineswegs nur Leo Armenius. Daher ist sie durch dessen Sturz allein nicht zu beseitigen. Exabolius führt eine wuchtige Kritik der beschränkten politischen Auffassungsgabe derer, die nicht an der hohen Politik teilhaben. In den Augen des Untertans „geht trefflich bitter eyn“, was auch immer der Kaiser „schafft“: Seine Unzufriedenheit gründet nicht sachlich in einer speziellen Politik des Kaisers. Der Untertan ist vielmehr getrieben von einer allgemeinen, sachlich indifferenten Unzufriedenheit, auf Grund derer er immer „lobet was man hofft: was gegenwertig schmehet“. Diese Unzufriedenheit ist gar nicht zu beseitigen, indem Balbus seine Pläne in die Tat umsetzt. Im Gegenteil wird seine Politik der pauschalen Unzufriedenheit der Untertanen nur genauso zum Opfer fallen wie die Politik Leos.
institut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin, Weimar 1984, S. 252–351, hier S. 311.
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Dieses Arguments erfährt also eine innerdramatische Wendung: Exabolius bringt es hier gegen Balbus’ Umsturzplan an, wohingegen Leo die Verschwörung durch dieses Argument noch bestärkt sah: Wenn die Wahrnehmung des fürstlichen Handelns auf Grund der pauschalisierenden passio des Neides immer nachteilig ist (5.1.2.2), so wird dies auch bei Kaiser Michael II. der Fall sein. Die meisten Untertanen sind geleitet von einer unbegründeten wie diffusen Vorstellung guter politischer Führung und werden sich daher auch mit Balbus’ Politik unmöglich zufrieden geben. Was bleibt mit Blick auf diese Affekt- und Urteilskritik des Exabolius und ihre pragmatischen Vorbehalte überhaupt noch zu tun übrig? Die Lösung ist im kontextuellen Fundament dieser Affektkritik zu finden. Eberhard Mannack verweist in seinem Kommentar zu Recht auf Lipsius’ De Con stantia libri duo: Denen gemäß führt „das betrügliche Urteil zu einer allgemeinen Unzufriedenheit“.69 Das Fatale an solchen betrüglichen Urteilen ist für Lipsius deren Wohlfeilheit (vilitas). Sie rühre eben daher, dass bloße Meinung (opinio) auf unsicheren, mithin vielfältigen Prämissen beruht, ganz im Unterschied zur Schlusskraft rechter Vernunft (recta ratio): Quæ recta ratione suscepta, vna illa radix est, qua altitudo pulcherrimi huius roboris nixa. Caue enim & hîc Opinio imponat: quæ Patientiæ loco Abiectionem sæpe & torporem quendam animi marcentis suggerit: verè vitium, & cui origo à Vilitate sui.70
Opinio lässt Urteile für und wider das zu Beurteilende gleichermaßen zu, weil sie sich der Mühe einer Hierarchisierung ihrer Prämissen entschlägt. Die Wurzel der rechten Vernunft und mithin der erste Grund einer solchen angemessenen Hierarchisierung ist für Lipsius wie auch für Gryphius Gott: „Rationi origo à cælo, imò à deo est“.71 Es ist allererst der Willensakt, durch den Gott seine ihm offenstehenden Möglichkeiten zur Notwendigkeit der einen Schöpfung zuspitzt (4.3.1). Und allererst dies bedingt bei Lipsius genauso wie bei Gryphius die Ethisierung des theogenen Vernunftwissens hin zum theonomen Beständigkeitsgebot. Meinungsbedingte Ablehnung (abiectio) schlägt in politisch rechtswidriges Verhalten um, in Widerstand. Dabei kann sie sich keiner Prinzipienfestigkeit versichern, um diesen Widerstand durchzuhalten, weil opinio der Prinzipien wesentlich entbehrt. Für Gryphius’ Exabolius kann das Aufbegehren der politisch Unzufriedenen daher nur in Feigheit münden: Gerade der bloß Meinende „zerschmeltzt vor heisser angst / wenn die Trompet erwacht“. Dass man für ein riskantes Vorhaben
69 Mannack: Kommentar, S. 899. 70 Lipsius: De Constantia libri duo, I,4, S. 11; vgl. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen, S. 192f. 71 Lipsius: De Constantia libri duo, I,5, S. 13.
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„den schildt ergreifft / vnd in den harnisch kracht“, ist auf die Überzeugung vom ethischen Wert dieses Vorhabens angewiesen: Dieses ethische Urteil lässt sich aus Meinung nicht gewinnen. Daher steht für Exabolius ebenso fest, dass Waffengewalt keine politische Macht zu begründen weiß: […] die vngewisse macht Der Waffen geht nicht fest: wer durch den zwang der schlacht Jn thron zu dringen meyn’t / kann durch die schlacht verschwenden. (GdW 5, I,4, S. 18, v. 337–339)
Gewalt als einer menschlichen Handlung geht notwendig eine Motivation voraus. Diese kann entweder von bloßer Meinung gebildet sein und damit das Risiko eingehen, an seinesgleichen zu scheitern. Oder aber diese Motivation hält sich an die rechte Vernunft, – und diese gebietet Exabolius nichts anderes als die Achtung des Gottesgnadentums: „Der Himmel selber wach’t vor die gekrnten hare / Vnd steht dem Zepter bey“ (ebd., v. 343f.). Es ist zu beachten, dass Exabolius in dieser umfangreichen Rede nicht reflektiert, warum der Himmel speziell die Krone Leos schützt. Exabolius reflektiert auch nicht, ob Leo die Krone eigentlich legitimer Weise trägt. Das von Balbus selbst eröffnete Thema der Thronbesteigung 813 greift Exabolius nicht auf. Gerade weil sich Exabolius aber hierzu indifferent verhält, stärkt er umso mehr eine strenge politische Theologie. Exabolius hatte es für einen ausschließlich menschlichen Makel erklärt, die Angemessenheit einer weltlichen Ordnung gegenüber dem göttlichen Recht angemessen beurteilen zu können. Ebenso mangelhaft muss das menschliche Urteil über die realen Alternativen einer weltlichen Ordnung sein. Die Pluralität menschlicher Ordnungsentwürfe ist mit Blick auf die weitreichende Affektbeladenheit der Menschen sachlich so gut wie unüberwindbar. Mit der Erkenntnis von der Beschränktheit ihrer selbst (4.4.2) fordert die rechte Vernunft, die einmal kultivierte Ordnung großmütig zu dulden und die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit allein Gott zu überlassen. Besonders wenn Legitimitätsfragen strittig erscheinen, kommt der politischen Theologie eine doppelte Funktion zu: Sie bereitet menschlicher magnanimitas den Boden und sie fungiert als praktische Kompensationsquelle menschlicher Zweifel, ohne diese Zweifel durch Wissen zu zerstreuen. Sub specie creationis fordert die politische Theologie einen praktischen Indifferentismus ein: Gott allein hat die strittige Legitimitätsfrage zu beurteilen und im Unrechtsfall zu verurteilen. Der einmal installierte Fürst fällt auch dann noch unter den Schutz der politischen Theologie, wenn sein Machterwerb zwar nicht ohne Makel ist, aber insofern verstetigt wurde, als augenblicklich keine ‚legitimeren‘ Personalalternativen vorliegen.
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Liegt hier also plötzlich eine Temporalisierung göttlichen Herrschaftsrechts vor? Es sei zumindest darauf hingewiesen, dass diese Denkfigur im siebzehnten Jahrhundert ihre prominenten Vertreter hat, besonders Francisco Suárez, dessen Breitenwirkung über das gesamte siebzehnte Jahrhundert bereits erläutert wurde (4.1.3.2). Suárez vertritt die bereits in 4.4.4.2 zitierte Auffassung: „Quocirca licet peccator forte mereatur privari regno, tamen quamdiu illo non privatur ab habente potestatem, verus rex perseverat“.72 Auch ein umstrittener Herrscher ist allemal bis zu seiner rechtmäßigen Absetzung zu ertragen. Legitimität wird also nicht temporalisiert, sondern der Tyrann wird gleichsam als kommissarischer Regent angesehen bis zur allererst legitimen Absetzung seiner selbst. Alles entscheidend ist der Unterschied von sachlicher Rechtmäßigkeit einerseits und Vollstreckungsbefugnissen andererseits. Dieser Unterschied wird in keinem der folgenden Szenen des Leo Armenius und auch in keinem der folgenden Trauerspiele des Gryphius mehr so deutlich herausgestellt wie in dieser erschöpfenden Szene I,4: Es wurde sich mühsam an den pragmatischen Erwägungen abgearbeitet, nur um jedes Mal deren Selbstwidersprüchlichkeit festzustellen. Ebenso mühsam wurde nach einer stichhaltigen Legitimation von Herrschaft entlang und entgegen der Meritologie gesucht, ohne dass in der Sache Leos Vorrecht auf Herrschaft tatsächlich erwiesen werden konnte. Nach all dem stellt es eine immer sowohl theoretische als auch praktische Antwort dar, dass die Befugnis, göttliches Recht über Souveräne auszuüben, ohnehin Gott vorbehalten ist. Dieser instanzielle Vorbehalt, dass göttliches Recht gegen einen Souverän nur durch Gott bzw. einen anderen Souverän geltend gemacht werden darf, bedeutet nirgendwo so deutlich wie im Leo Armenius ein Recht des Tyrannen, diese Strafe abwarten zu dürfen.73
5.1.3.5 Die Gesetzeswirkung der Gewissensinstanz – Die Tatwirkung der Gewissensverleugnung Michael zeigt demgegenüber kein Einsehen. Noch zum Schluss der Szene I,4 wiederholt er nur abermals seine meritologischen Argumente. Dabei betont er nur noch deutlicher, dass er den Machtverlust Michaels I. zu verantworten hatte – dieser war nachgerade sein Verdient:
72 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 10. 10, Bd. 1, S. 186. 73 Insofern ist durchaus entscheidbar, „ob der Thron des legitimen Herrschers [i.e. Leo] usurpiert oder ein Tyrann von Verschwörern gestürzt wurde“ (Schäfer: Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel, S. 392).
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Ihr hettet / (wer’ ich nicht) was? keinen Keyer mehr. Ich hub jhn auf den Thron / als Michael geschlagen: Ich zwang jhn daß er sich must’ in den anschlag wagen. (GdW 5, I,4, S. 22, v. 462–464)
Gryphius inszeniert Balbus als politischen Akteur, der die Tatsache vom instanziellen Vorbehalt der göttlichen Strafe nicht mehr nur nicht versteht, sondern diesen nicht anerkennt: Balbus möchte sich ausdrücklich in die Tradition des bei Kedrenos – und so gut wie bei allen byzantinischen Historiographen – verhassten Phokas stellen, der 602 Kaiser Maurikios durch hinterhältigen Verrat gestürzt hatte:74 „Wenn Phocas / wenn Iren gebillich’t deinen rath / Sie wrden nimmermehr die Cron ergriffen haben“ (ebd., S. 20, v. 422f.). Unter diesen Vorzeichen sind für Michael Balbus umgekehrt Nicander und die Trabanten die „Verrther“, als sie ihn in I,5 gefangennehmen (ebd., I,5, S. 22, v. 472). Sein Ausruf „Himmel hilff! wo schlft das grosse Recht?“ (ebd., S. 23, v. 498) fragt nurmehr nach einem Recht und seiner Instanz, die er nachhaltig verleugnete. Der „Reyen der Höfflinge“ (I,6) resümiert eben diese Lage. Das göttliche Recht ist mit dem ius naturae et gentium identisch, und ist von Gott letztlich gesetztes Recht: Was das gesetzte Recht von allen Vlckern will. Was Gott der welt lies von sich selbst vertrawen; (ebd., I,6, S. 24, v. 518f.) Die Macht / die wildes Volck zu sittē hat gezwungē / Deß Menschen leben selbst; beruht auf seiner zungē. (ebd., v. 524f.)
Das göttliche Recht beruht nur genauso wie jeder Schöpfungsakt auf göttlichem Schöpfungswillen: „JM anfang war das Wort / Vnd das wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort. Das selbige war im anfang bey Gott. Alle ding sind durch dasselbige gemacht / vnd on dasselbige ist nichts gemacht / was gemacht ist“.75 Die besonders im Johannesevangelium niedergelegte Lehre vom weltbegründenden Schöpfungswort bzw. dem Worthandeln Gottes „sichert die Freiheit göttlichen Handelns (creatio ex nihilo)“76 – Karl Barth spricht pointiert von der „Souverä-
74 Kedrenos: Συνοπσις Ιστοριων, S. 765: „[Ἑ]ν οἶς ἧν καὶ Φωκᾶς, ὃς διαλεγόμενος τῷ βασιλεῖ βριαρῶς τούτῳ ἀντέλεγεν ἐν τῷ σελεντιῳ […] Ἐκ τούτου καὶ ἡ τοῦ βασιλέως ἑπιβουλὴ ἀρχὴν ἐλάμβανε“ / „Unter ihnen [i.e. den Gesandten; O.B.] war auch Phokas, der dem Kaiser bei der Zusammenkunft stets widersprach. […] Das war der Anfang des Hinterhalts gegen den Kaiser“ [Übers. O.B.]. Vgl. Ralph-Johannes Lilie: Byzanz. Geschichte des oströmischen Reiches. München 52010, S. 46. Zur ‚Rechtlichkeit‘ von Phokas’ Umsturz siehe Hans-Georg Beck: Das byzantinische Jahrtausend. 2. ergänzte Aufl. München 1994, S. 62. 75 Joh 1,1–3. 76 Joachim Ringleben: [Art.] Wort Gottes IV. Systematisch-theologisch. In: TRE 36, S. 315–329, hier S. 320.
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nität des Wortes Gottes“, der gegenüber es „keine Souveränität der Natur und der Geschichte“ gibt.77 Diese Lehre ist nichts weniger als eine schöpfungstheologisch notwendige Annahme, um dem Allmachtsstatus der monotheistischen Gottesinstanz nicht zu widersprechen. Der Perseitas göttlichen Rechts, der Einsicht in diese seine gesetzten Normen tut dies kein Abbruch. Warum jedoch diese Normen so gesetzt wurden und nicht anders, bleibt im irregrediblen Willen des Schöpfergottes verborgen. Die lex Dei ist bei Melanchthon das einzige Gebot, das sich nicht aus der Vernunft, sondern allein aus dem göttlichen Willen ableiten lässt: Denn es „verlangt die ‚lex Dei‘ die Anerkennung Gottes als Schöpfer der Welt, die Verehrung seines Wesens und den Gehorsam gegenüber seinen Geboten aus Liebe zu ihm“.78 Das Ansinnen, von Gottes Willen abstrahieren zu wollen, wird vom „Gegensatz“ des Reyens als der „eiteln Lehre dunst“ verurteilt (GdW 5, I,6, S. 24, v. 532). Der notwendig unfehlbaren „zunge“ Gottes, wie sie im „Satz“ des Reyens schon stark gemacht wurde, stellt der „Gegensatz“ die notwendige Fehlbarkeit der menschlichen „zunge“ gegenüber: Sie kann, wo sie von Gott absieht, nur „Schwartze Zauberkunst“ betreiben (ebd., v. 531) und verursacht „[d]er Tugend vntergang / der grimmen Laster sieg“ (ebd., v. 536).79 Daher ist es nicht erst die erfolgreiche äußere Handlung des Königsmordes, die Balbus’ Schuld begründet. Er machte sich vor Gott bereits schuldig durch die unverbesserliche Leugnung von dessen Recht und Strafinstanzialität. Gegen ein Recht, das nicht nur körperlich, sondern auch im Gewissen verpflichtet, wird nicht erst und allein äußerlich, sondern auch bereits innerlich verstoßen: Lernt / die jhr lebt / den zaum in ewre Lippen legen! In welchen heil vnd schaden wohnet / Vnd was verdat / vnd was belohnet. Wer nutz durch wortte such’t / sol jedes wort erwegen. (ebd., S. 25, v. 541–544)
77 Karl Barth: Die Souveränität des Wortes Gottes und die Entstehung des Glaubens. Zollikon 1939 (Theologische Studien 5), S. 9: „Die Souveränität des Wortes Gottes besteht in seiner Allmacht. […] die Macht über Alles, die Macht de schöüfers, Erhalters und Regierers aller Dinge. Diese und keine geringere Macht steht, weil Gott selbst das Wort ist, auch seinem Worte zur Verfügung. […] Das Wort Gottes ist keine Macht unter anderen Mächten. Es hat keine Begrenzung von ihnen her zu befürchten. Es gibt ihm gegenüber keine Souveränität der Natur und der Geschichte.“ 78 Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 39. 79 Vgl. hinsichtlich der voluntaristischen Folgen: Claudia Benthien: ‚Itzt nun die Zunge fault‘. Der Tod als ‚Stumm-Macher‘ in Andreas Gryphiusʼ Lyrik und Trauerspielen. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Hg. von Mirosława Czarnecka u.a. Breslau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 227–240, hier S. 237.
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Gryphius sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem (rechts)theologischen Voluntarismus und der gewissentlichen Innerlichkeit des göttlichen Rechts. Aus diesem Zusammenhang folgt für ihn, dass gegen dieses göttliche Recht als einem innerlichen Wort Gottes eben schon innerlich und schon als Wort verstoßen werden kann.80 Die zeitgenössische Rechtslehre, besonders diejenige nach Melanchthon, hob zwar hervor, dass das göttliche Gesetz im Unterschied zum Evangelium zur Regelung äußerlicher Verhältnisse gestiftet wurde: Dennoch bedeutet dies für Gryphius nicht, dass gegen dieses Gesetz ebenso nur äußerlich verstoßen werden könnte. Melanchthons Konzept vom Glaubensverlust als der Bedingung fundamentaler Unrechtstaten (4.4.4.3) wird damit an sein praktisch-theologisches Ende gedacht: Unrecht gegen Prinzipien des ius divinum – und dazu zählt Gryphius den instanziellen Vorbehalt – ist schon, bevor es als Unrechtstat aktualisiert wird, Unrecht gegen die lex Dei und damit gegen Gott überhaupt.81
5.1.4 Theatrum regni: Evidenzbedürfnisse an Recht, Politik und Strafe und ihre theatralische Homologie Damit hat Gryphius den systematischen Diskurs politischer Theologie sich schon im ersten Akt erschöpfen lassen – so früh wie in keinem der folgenden Trauerspiele. Von den pragmatistischen Problemherden, Antinomien meritologischer genausowie faustrechtlicher Perspektiven bis hin zum instanziellen Vorbehalt Gottes ist alles entwickelt worden. Die übrigen vier Akte stellen demgegenüber die dramatische Exekutive dar. Sie bringen Handlungen zur Darstellung, deren Beurteilungsinstrumentarium nunmehr zur Verfügung steht. Dennoch bringen auch und gerade sie bestimmte Aspekte des politisch-theologischen Diskurses zum Vorschein, deren Bedeutung eben erst per exercitium eigentlich deutlich wird. Die zweite Abhandlung umfasst die Gerichtsverhandlung Michael Balbus’. Gryphius inszeniert diesen Gerichtshof nicht allein als Ort, an dem Recht gesprochen und vollzogen wird; sondern der Gerichtshof gibt selbst auch über den Öffentlichkeitscharakter seiner eigenen Tätigkeit, des Rechts und des Strafvollzugs Aufschluss.
80 Vgl. Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Leo Armenius‘, S. 423. 81 Insofern ist Balbus’ Schuld durchaus erwiesen: vgl. Arend: Die Utopie des sanftmütigen Fürsten, S. 131.
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5.1.4.1 „Man sol der grossen welt ein newes schawspiel weisen“. Ius publicum und Publizität Der erste Eingang der zweiten Abhandlung steigt direkt in das Anklageplädoyer des Kaisers Leo Armenius ein. Hierbei verteidigt Leo sein Herrschaftsrecht nicht einmal kategorisch, sondern argumentiert nun auch auf der meritologischen Ebene, die der Angeklagte Balbus einnimmt: Leo stütze sich eben nicht allein „auf’s schwache gold deß schiere Zepters“ (GdW 5, II,1, S. 25, v. 5); er sei sehr wohl „mit blut besprtzt / vol ruhmbs-verdienter wunden“ (ebd., v. 11). Leo wehrt sich besonders gegen Balbus’ Vorwurf der Usurpation 813 und rechtfertigt seine Thronbesteigung mit dem Thronverzicht Michaels I.: Dieser habe „sich selbst dem Thron entzckt“ (ebd., S. 26, v. 46). Weder geschah Leos Krönung ohne Michael Rhangabes Einverständnis noch habe er diesen zu einem solchen Einverständnis gedrängt – dies war mehr Balbus’ als sein Betreiben: Doch / durch nicht vns’re schuld. Es war nunmehr geschehn Das vnterdrckte Volck begundt’ auf vnß zu sehn / Der / der jtzt vor euch steht zwang mit entblß’tem degen Vnß diß bestein’te Kleid / den Purpur anzulegen / Wie hoch wir vns gewehr’t! der Keyser stund es zue Vnd schickte von sich selbst vns die gestckten Schue. Wir haben denn die brd’ auf diesen halß geladen. (ebd., S. 27, v. 49–55)
Ebenso wenig habe er, Leo, jemanden ungerechtfertigt bestraft noch irgendjemandes Dienst unbelohnt gelassen (ebd., v. 70–73). Daher ist Balbus der „Trewlose“, „Verrther“ und „[m]eineydig mensch“ (ebd., v. 78, 79, 81). Nachdem Leo ihm „so offt [s]ein freches wtten“ vergeben“ (ebd., v. 83) und „[d]urch linde Mittel“ Balbus von seinem Vorhaben habe abbringen wollen (ebd., S. 28, v. 90), sei eine harte Strafe nunmehr sowohl geboten als auch machtpolitisch unumgänglich: Man sol der grossen welt ein newes schawspiel weisen / Wie hart’ verletzte gunst / vnd offt vergeb’ne schuld Vnd eingewig’te rach vnd hochgepochte huld / Wenn rechte zeit einbricht / erschtter’ vnd zubreche! (ebd., v. 92–95)
Eine harte Strafe ist allein zum Zweck der Generalprävention von Nöten.82 Anders als etwa unter sicherungstheoretischen Aspekten dient Strafe nicht nur dem Zweck, die Allgemeinheit zu schützen, sondern auch dazu, sie vor der Verübung ähnlich schwerwiegender Unrechtstaten zu warnen. Wegen dieser umfas-
82 Vgl. Brieskorn: Rechtsphilosophie, S. 140.
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send generalisierten Zweck-Erwägungen hat Strafe zum „schawspiel“ erhoben zu werden: Sie muss sowohl politische Stabilität gewährleisten als auch für diejenige Allgemeinheit einstehen, die das öffentliche Recht auszeichnet.83 Bis zu diesem Punkt hatte Leo nur Bekanntes referiert. Der Gedanke des generalpräventiven Charakters der Strafe spinnt jedoch den politisch-theologischen Diskurs auf der exekutiven Ebene weiter: Herrschaftsrecht ist von eminent allgemeinem Interesse: Das ius dominationis ist nicht ius privatum der Person Leo, sondern ius publicum des byzantischen Kaisertums, und als solches hat es ebenso öffentlich gesprochen und vollstreckt zu werden. Es geht dabei nicht um eine politische Ästhetik per se. Auch redet Leo der Sache nach keiner Ästhetik des Rechts in dem Sinne das Wort, dass erst diese Recht stifte. Ihm geht es um ein ästhetisches Bedürfnis des ius publicum selbst: Es bedarf einer breiten Wahrnehmung, und zwar nicht nur, was seine Promulgation betrifft, sondern auch seinen Vollzug. Aus eben diesem Grund bestimmen die Richter in II,2 den Palasthof zum angemessenen, weil wirksamsten Richtplatz. Zwar befürwortet der erste Richter diesen Ort aus Klugheitserwägungen: Eine Hinrichtung des Balbus am Paradeplatz, wo Michael häufig der Siegeskranz verliehen wurde, könnte unter dem „leichten Volk“ einen Aufruhr provozieren (GdW 5, II,2, S. 33, v. 229–233).84 Dennoch macht der dritte Richter deutlich, dass die Wahl des Palasthofs keineswegs den Publizitätsgedanken mindert, sondern ihn sogar stärker zur Geltung bringt: Das Volck / es ist nicht ohn / ist leichtlich zu bewegen. Doch darff man in der Statt kein newes blutrecht hegen. Der ort gesetzter pein / das Leichvolle feldt Da vor gemeine schuld man pfahl vnd holtz aufstelt. Der trben hrner klang / der Hencker mord geprnge Schreck’t geister sonder witz / ist vnß der hoff zu enge? Man straffe wo gefehlt. […] (ebd., S. 34, v. 259–265)
Eine Hinrichtung auf dem „feldt“, die übliche Hinrichtungsstätte, „schreck’t geister sonder witz“ – und nur diese. Die erst umfassende Breitenwirkung kann die Strafe hoher, nicht „gemeiner“ Schuld nur an einem hohen Richtplatz haben:
83 Dementsprechend findet keine „Autothematisierung des Theaters“ statt: vgl. Manfred Beetz: Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Leo Armenius‘. In: LiLi 10 (1980), S. 178–203, hier S. 195. 84 „Sol jhn das leichte volck sehn auf den Richtplatz gehn / Gebunden vnd geschleifft. sol er gefsselt stehn / Da wo man tausend Heer / vnd tausend rhmen hren / Sein offt bekrntz’tes Haupt / da er mit hchsten ehren / Nur nicht den Thron bestieg? diß sieht gefhrlich auß!“
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So soll sie auch die ranghohen Mitverschwörer des Balbus abschrecken. Darin pflichtet ihm der siebte Richter bei: „[W]o jemand bey jhm hlt / Dem wird sein vntergang zuschrecken vorgestellt“ (ebd., S. 36, v. 301f.).
5.1.4.2 Michael Balbus’ Verteidigungsrede als Schauspiel von Unverstand und Unrecht Es ist jedoch zurückzukehren zu II,1: Im Anschluss an Leos Anklagerede antwortet Michael Balbus in mehr als fünfzig Versen mit den bekannten Argumenten (GdW 5, II,1, S. 28f, v. 98–146), wie sie von Exabolius schon entkräftet wurden. Balbus’ Verteidigungsrede ist ebenso formell lang wie informell redundant. Dass dies ein poetischer Makel in Gryphius’ Text ist, steht allerdings nicht zu vermuten. Vielmehr scheint es gerade Gryphius’ Absicht zu sein, einen starrsinnigen wie auch einfältigen Antagonisten zu zeichnen. Balbus wiederholt nicht nur längst bekannte Aspekte seiner Verteidigung und Rechtfertigung. Er scheint zudem Leos vorangegangene Rede weder richtig angehört noch verstanden zu haben: […] Erzehle deine That / Doch auch / daß dessen Faust befrdert deinen Rath Der mit dir / vnd fr dich in stahl vnd staub gestanden Vnd in der schlacht geschwitzt: […] (ebd., S. 28, v. 101–104)
Wenn er Leo drängt, von den genauen Umständen der Thronübernahme zu erzählen, fordert er den Kaiser nur zu etwas auf, dem dieser soeben erst nachgekommen ist. Balbus’ Frage, „wer halff das Volck bewegen / Das dich zum Haupt auffwarff? wer hub dich auf dē Thron?“ (ebd., S. 28f., v. 116f.), ist zwar als rhetorische Frage gemeint. Die Behauptung jedoch, die durch dieses Mittel uneigentlicher Rede aufgestellt werden soll, ist von der Gegenseite selbst längst bestätigt worden. Die rhetorische Frage zeugt nicht von rhetorischer Kunst, sondern von hölzernem Unverständnis. Balbus beteuert eingangs sogar selbst, „daß Michael wol reden nie gelehr’t“ (ebd., S. 28, v. 98). Dass er sich trotzdem darauf zu verlegen versucht, ist nicht etwa bloß Zeichen von rhetorischem Ungeschick: Es zeugt vor allem von seinem Irrtum, allein mit eluctio für seine Sache eintreten zu können, anstatt bessere Argumente als die bisherigen vorzubringen (inventio). Gryphius’ Bild eines nicht nur unmoralischen, sondern zudem einfältigen Michael Balbus ist ohne Zweifel von Georg Schönborner geprägt worden. Dieser bescheinigte Michael II. eine regelrechte Unlust („pigritia“) an den Wissenschaften.85
85 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 164: „Video eos, qui nullo vel parvo doctrinae succo fuere imbuti, detestabiles esse omni seculorum memoria. Licinius Imper. tam rudis erat
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Die Wiederholung seiner selbstwidersprüchlichen pragmatischen Argumente gerät ihm unbemerkt zum Beleg seiner Grund- und Ausweglosigkeit. Gryphius setzt Iteration zur Darstellung von Zirkularität ein. Die Verteidigungsrede eines dünnen Pragmatismus, selbstwidersprüchlich und lästerlich gegen göttliches Recht: Es mag beinahe scheinen, dass sie in Gryphius’ Augen gar nicht anders als starr- und stumpfsinnig zu haben ist und in einem politischen Trauerspiel dem Leser und dem Zuschauer zugemutet werden muss. Redundanz ist hier nicht die unterlaufene Schwäche gryphscher Trauerspielpoetik. Sie ist vielmehr das Wesensmerkmal wohlfeiler Neidpolitik, die anders als redundant gar nicht adäquat hätte dargestellt werden können. Das Ins-Leere-Gehen fortwährend pragmatischer Rechtfertigungsversuche vor Fragen des Rechts führt schließlich auch bei den Richtern zu nicht wenig entnervten Ordnungsrufen: Diß dient’ der sachen nicht / antwort’ auf was wir fragen! (GdW 5, II,1, S. 30, v. 163) Wir knnen laster wol von Irthumb vnterscheiden. (ebd., S. 31, v. 176)
Worin der Maßstab dieses Unterschieds besteht, mithin das Kriterium zur Beurteilung von Balbus’ Laster, darin greifen die Richter die politisch-theologischen Ergebnisse der ersten Abhandlung auf. Der Fluchtpunkt des richterlichen Einspruchs ist wieder der instanzielle Vorbehalt der göttlichen Strafe bei Gott: III. Richt . Wer ists ohn dessen werck deß Keysers heil vergeht? IV. Richt . Wer ists der Frsten kann mit seinem fall erdrcken? V. Richt . Wer ists der Frsten weiß ins kalte grab zu schicken? VI. Richt . Dem Phocas / dem Iren’ so grosse siñen macht? VII. Richt . Vor dem der tieffe grund der grossen Erd erkracht? (ebd., v. 186–190)
Es ist nicht Balbus und nicht der Mensch überhaupt, sondern allein Gott, der über Fürsten und Kaiser urteilt.86 Dieses Urteil sich anzumaßen, wie es sich der von Balbus bewunderte Phokas über Maurikios angemaßt hatte (5.1.3.5), heißt Gott Ansinnen machen, die dem Menschen nicht zustehen.
literarum, ut nec nomen scribere posset. Eusebius lib. 8. c. 13. Mario melius videbatur imbui arte feriendi hostem quam literis. Sabel. 2. En. 6. Michael Balbus Imp. eadem laboravit pigritia.“ 86 Das Urteil der Richter fußt also vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Theologie durchaus auf guten, d.h. rechtstheologischen, Gründen.Dass sie allein Leos Wunsch folgt, trifft daher nicht zu: Bernhard Budde: Vom anhaltenden ‚vnrecht der Palläste‘ und vom unsicheren Trost der Religion: Andreas Gryphius’ ‚Fürsten-Mörderisches Trawer-Spiel / genant. Leo Armenius‘. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 48 (1998), S. 27–45, hier S. 42: „Was der Fürst will, das spricht der Richter, lautet die alte Volksweisheit“. Mit Volksweisheiten ist eine gelehrtengeschichtliche Kontexteinbettung nicht anzustellen.
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5.1.4.3 Vom Nutzen, Schaden und der Überflüssigkeit der Folter Großes Interesse verdient die in II,2 geführte Debatte über Sinn und Nutzen der Folter. Zwar wird die Diskussion angestoßen durch eine Frage des ersten Richters, die letztlich längst geklärt ist: „Vnd warumb wil man nicht zuvor durch strenges recken / Jhn zwingen vns den grund deß anschlags zu entdecken?“ (ebd., II,2, S. 33, v. 243f.). Grund von Balbus’ Anschlag ist sein unangemessenes Denken vom Herrschaftsrecht, besonders aber die Missachtung Gottes als alleinig befugter Richtinstanz über Souveräne. Dennoch lässt Gryphius über die Folter diskutieren und gibt damit einem der interessantesten Diskurse seiner Zeit Raum, scheinbar isoliert zwar von der situativen Notwendigkeit, aber dennoch aufschlussreich im Hinblick auf seine politische Theologie. Eberhard Mannack verweist, ohne auf Details einzugehen, zu Recht auf die Bedeutung von Friedrich von Spees Cautio criminalis seu de processibus contra sagas liber.87 In der Tat finden sich einige Skrupel Spees gegen die Folter bei Gryphius wieder. Dennoch scheint der vordringliche Ideengeber dieser Passage Michel de Montaignes Essay De la conscience zu sein – nicht zuletzt, weil wir von Gryphius’ Lektüre des zweiten Essaybandes Montaignes aus seinen Leichabdankungen sicher wissen.88 In De la conscience gibt der Franzose zu bedenken, dass die Folter mehr ein Mittel sei, „die Geduld als die Wahrheit zu prüfen“.89 Gryphius lässt diese Bedenken den sechsten und siebten Richter übernehmen: [VI. Richt .] Man rmbt das weib von Rom / die sich zureissen ließ / Vnd die / die in der quaal die zung’ in stcken bieß / VII. Richt . Wie? wenn er allen grim der Marter berwnde! Vnd steiff vnd vnverzagt auf trotzem schweigen stnde? Denckt was das auff sich hab’. […] (GdW 5, II,2, S. 35f., v. 293–297)
Gryphius baut den montaingeschen Skrupel politisch aus: Eine derart erprobte Geduld des Balbus kann für Leo ruhmesethisch nur ungünstige Folgen haben. Die Richter betrachten die Folter jedoch nicht nur in diesem herrschaftspragma-
87 Friedrich von Spee: Cautio criminalis seu de processibus contra sagas liber. Frankfurt am Main 1632; Mannack: Kommentar, S. 904; zur Wirkungsgeschichte siehe Sönke Lorenz: Die Rezeption der ‚Cautio Criminalis‘ in der Rechtswissenschaft zur Zeit der Hexenverfolgung. In: Friedrich Spee (1591–1635). Düsseldorfer Symposion zum 400. Geburtstag. Hg. von Theo G.M. Oorschot. Bielefeld 1993, S. 130–153, hier S. 136 – 140. 88 GdW 9, Ausländische in dem Vaterland, S. 249, Anm. 67. 89 Michel de Montaigne: Œuvres Complètes. Hrsg. von Albert Thibaudet, Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade 14), II,5, S. 348 : „C’est une dangereuse invention que celle des géhennes, et semble que ce soit plustost un essai de patience que de verité“. [Übers. O.B.]
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tischen Licht. Was die eigentlich wichtige Frage der Beweisführung anbelangt, erhebt der vierte Richter den entscheidenden Einwand: […] viel haben streich vnd brand Vnd schraub vnd stein verlacht. last jhn auf rder strecken! Ich zweifel ob er vnß aufrichtig wird entdecken Was vns zu forschen noth! […] (ebd., S. 35, v. 282–285)
Die Praxis der Folter bringt nicht notwendig die Wahrheit ans Licht. Dies gilt nicht nur im Falle des schmerzresistenten, ungeständigen Täters, sondern auch im Falle des Wehleidigen, der Vorwürfe bestätigt, die nicht der Wahrheit entsprechen. Dieser Gedanke findet sich geradezu bündig auch bei Montaigne: „[C]eluy qui les peut souffrir cache la vérité, et celuy qui ne les peut souffrir“.90 In dieser Weise macht auch Friedrich von Spee deutlich, dass Folter die Wahrheit nicht nur nicht notwendig findet, sondern sie sogar verdecken hilft: [P]ericulum igitur est, ne non multæ, vt se cruciatibus equulei expediant, fateantur crimen quod non habent […] Nam plerique patientia siue duritia tormentorum ita tormenta contemnunt, vt exprimi eis veritas nullo modo possit. Alij tanta sunt impatientia, vt quiduis mentiri quam pati tormenta velint.91
Eine weitere Motivation zur Falschaussage sieht Montaigne in der Vermeidung von Schmerz: „Que ne dirait-on, que ne ferait-on pour fuir à si graves douleurs? Etiam innocentes cogit mentiri dolor“.92 Spee vertieft diesen Gedanken dahingehend, dass die Exekution damit zur allemal besseren Alternative zur Folter wird: „[Q]uis non mori malit, & vel sexcentis mendaciis tantas pœnas redimere?“.93 Spee bezeichnet hier die Folter nicht zufällig als Strafe. Auch Gerichtsordnungen wie die Carolina bezeichnen das Foltern als „peinliche frag“.94 Schwere Folter wird von den Beklagten nicht als bloßes Befragungsmittel, sondern selbst schon als Strafe empfunden und geht damit ein in ein Abwägungskalkül: Folter ist nur genauso eine der real zur Wahl stehenden Strafen, unter denen die mehr oder mindere grausame, aber in jedem Fall absehbare Exekution zur besten Alternative gerät.
90 Montaigne: Œuvres Complètes, II,5, S. 348. 91 Spee: Cautio criminalis, Cap. 20, S. 125f. 92 Montaigne: Œuvres Complètes, II,5, S. 349 [Hervorhebung im Text]. 93 Spee: Cautio criminalis, Cap. 20, S. 132. 94 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina). Erl. u. hg. von Friedrich-Christian Schroeder. Stuttgart 2000 (RUB 18064), § 45f., S. 45.
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Gryphius greift dieses Moment der montaigneschen und speeschen Folterkritik nicht in identischer Weise auf. Vielmehr unterstellt sein Richter dem Gefolterten, in der Hoffnung auf Überleben zu lügen: „Wer weiß nicht daß man offt / auß haß / auß lust zu leben / Den der nicht schuldig war vnredlich angegeben?“ (GdW 5, II,2, S. 35, v. 287f.). Anders als bei Montaigne und Spee der Fall, sieht Gryphius den Selbsterhaltungstrieb als Hindernis einer wahrheitsgemäßen Aussage. Hier findet sich abermals ein Zeugnis von Gryphius’ skeptischer Haltung gegenüber dem conatus der conservatio sui (siehe schon 5.1.2.3): Da dieser gerade nicht der Wahrheitsfindung dient, kann er weder Rechtsmittel noch gar rechtsbegründend sein. Die Folterkritiken Gryphius’ und Montaignes wie Spees haben damit jedoch ihre Gemeinsamkeit darin, dass sich vor der Folter unter Klugheitserwägungen einer besseren Alternative entzogen wird – beim Schlesier ist diese das Leben, bei Montaigne und Spee der Tod. Worin Gryphius Spee allerdings folgt, ist der Gedanke, dass ein peinlich Befragter bisweilen nicht nur gelogen habe, sondern dabei „[d]en der nicht schuldig war vnredlich angegeben“. So heißt es nämlich bei Spee: „[I]ta fit, vt etiam vario modo fateantur, & non tantum se, verum etiam alios comminentur“.95 Spee sieht in seinem vordringlich konfessionspolitischen Fokus hierin eine besondere Gefahr, weil so nicht nur etwa Unschuldige, sondern auch Gläubige gleichsam wie der Weizen zusammen mit dem Unkraut ausgerissen werden,96 – eine prominente Argumentationsfigur des Matthäusevangeliums sowie der frühneuzeitlichen Toleranzdebatte.97 Bei Montaigne findet sich dieser Gedanke einer Gefährdung Dritter nicht. In diesem Punkt scheint eine direkte Rezeption Spees durch Gryphius tatsächlich nicht wenig wahrscheinlich. Dennoch muss Montaignes Essay als der primäre Intertext dieser Passage des Leo Armenius gelten. Montaigne verweist nämlich genauso wie Gryphius auf das Beispiel des Philotas. Dieser hatte unter Folter ein zweifelhaftes Geständnis abgegeben, an einer Verschwörung gegen Alexander den Großen beteiligt gewesen zu sein: „Mille et mille en ont chargé leur tête de fausses confessions. Entre lesquels je loge Philotas, considérant les circonstances du procès qu’Alexandre lui fit et le progrès de sa géhenne“.98 Auch der erste Richter im Leo Armenius verweist auf dieses historische Beispiel: „Philotas / als das blut auß allen gliedern floß / Gab / wie behertzt er war / sich scharffen geisseln bloß“ (GdW 5, II,2, S. 35, v. 289f.).
95 Spee: Cautio criminalis, Cap. 20, S. 126. 96 Ebd., Cap. 29, S. 209f.: „Docui præterea torturas seu quæstiones ita hodie administrari solere, vt reuera frequens & morale priculum ipsi tritico minentur, quod adeo verum est, vt de facto ita sæpissime accidisse ac triticum plurimum euulsum esse iurare audeam mihi moraliter esse certum.“ 97 Vgl. Forst: Toleranz im Konflikt, S. 65. 98 Montaigne: Œuvres Complètes, II,5, S. 349.
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Im Hinblick auf diese Gefahren wird die frühe Behauptung des vierten Richters bestätigt, dass die Folter „sondern nutz“ sei (ebd., v. 277). Dasselbe Ergebnis sieht Montaigne am Ende seiner Überlegungen stehen: „Bien inhumainement pourtant et bien inutilement, à mon avis!“99 Bei aller Nähe zu Montaigne wie auch zu Spee nimmt Gryphius’ Folterkritik einen eigenen Weg. Der Schlesier vertieft den bei beiden Ideengebern vorhandenen Nutzenaspekt. Montaigne und Spee hatten den Nutzen des Foltermittels zur Wahrheitsfindung im Blick und folgerten, dass Folter nicht von Nutzen ist. Gryphius’ sechster Richter schaut darüber hinaus auf den möglichen nutzenwidrigen Effekt von Falschaussagen, die unter Folter zustandekommen: „Hat Hippias nicht selbst der freunde sich beraubet: / Als er dem falschen schwur deß hartgequlten glaubet?“ (GdW 5, II,2, S. 35, v. 291f.) Wenn der Souverän durch Folter tatkräftig die Lüge begünstigt, schadet er sich letztlich selbst. Nicht zum ersten Mal im Leo Armenius nimmt Gryphius so die selbstzerstörerische Wirkung vermeintlich herrschaftssichernder Mittel in den Blick. Im Falle des Michael Balbus jedoch ist das allein entscheidende Argument gegen den Einsatz der Folter, dass die Frage seiner Schuld schon hinreichend geklärt ist. In der Fassung letzter Hand von 1663 lässt Gryphius dies den vierten Richter auch unmittelbar in der Folterdiskussion betonen: „I. Richt. Heischt man die Folter nicht? IV. Richt. Ist seine Schuld nicht klar? / Was sucht man erst durch Pein / was mehr denn offenbar?“.100 Eine Folter diente bloß der Findung anderer Verschworener und beinhaltete das Risiko von Balbus’ Glorifizierung. Vor allem aber hat sie in den Augen des achten Richters ihre bessere Alternative darin, die Mitverschworenen durch eine Hinrichtung abzuschrecken: […] auch scheint es / wenn die pein. Nach hohen Kpffen greifft: als fiele zweifel ein. Als wenn die schuld nicht klar / alß were man bemhet Vmb vrsach jhrer noth / die man vor augen siehet. Die er nicht lugnen kan. wo jemand bey jhm hlt Dem wird sein vntergang zuschrecken vorgestellt: Das mchtig in den weg / die so verirr’t zu bringen Die sein entdecken leicht kann ins verzweifeln dringen / Verzweifeln zu was mehr. […]. (GdW 5, II,2, S. 36, v. 297–305)
Montaigne bezichnet die Folter als „unmenschlich“ („inhumainement“). Friedrich von Spee bezweifelt nicht nur den Nutzen der Folter, sondern lehnt über-
99 Montaigne: Œuvres Complètes, II,5, S. 349. 100 Andreas Gryphius: Leo Armenius (1663). In: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt am Main 1991, S. 9–116, hier S. 47, v. 293f.; vgl. GdW 5, II,2, S. 35, Anm. Varianz 277–9.
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haupt die Veranschlagung von Nützlichkeitsaspekten ab, insofern „man mit menschlichem Blut nicht spielen kann und unsere Köpfe keine Spielbälle sind, die man nach Belieben schänden und wegwerfen darf“.101 Gryphius’ Folterkritik hingegen argumentiert nie mit einem Recht des Beklagten. In dieser Frage reicht Gryphius daher nicht an die Folterkritiken Montaignes und Spees heran. Vor allem Spee übertrifft Gryphius bei Weitem, wenn er gegen die Folter einen allein schlagenden argumentationslogischen Einwand zu erheben weiß: Die Befürworter der Folter nehmen zwar an, unter Folter würde die Wahrheit gesagt, gleichzeitig aber beachten sie diese Annahme nicht, wenn unter Folter die Unschuld beteuert wird.102 Dennoch ist Gryphius’ Position nicht gering zu schätzen, denn über den „bedeutendsten Kriminalist[en] des 17. Jh.s“,103 Benedikt Carpzov den Jüngeren (1595–1666), der maßgeblich an der Abfassung der sächsischen Halsgerichtsordnung beteiligt war, weist Gryphius mit der Anerkennung der Unnützlichkeit von Folter allemal hinaus: Carpzov war sich der aufgeführten Einwände gegen die Folter zwar bewusst, konnte sich zur konsequenten Verabschiedung der peinlichen Befragung dennoch nicht entschließen.104 Letzten Endes lässt Gryphius seine Richter die Notwendigkeit von Folter nur einer Sorgfaltspflicht gemäß prüfen, wie sie das Naturrecht genauso wie die Carolina einfordern. Dabei argumentieren sie bisweilen auch herrschaftspragmatisch. Vor allem aber behalten sie das allgemeine Interesse allgemeiner Ordnung, nämlich die Vermeidung eines Bürgerkriegs als das eigentliche Telos im Blick. Dass dies auf intentionaler Ebene bloßer Vorwand sein mag, ändert nichts daran,
101 Spee: Cautio criminalis, Cap. 29, S. 210: „[C]onsulant Theologos, & inuenient in humano sanguine non ludi posse, nec capita nostra esse pilas, quas pro libitu leuiter temereq; iactare liceat […]“. Übersetzung von mir. 102 Ebd., Cap. 27, S. 196: „Non potest tortura medium esse cognoscendę veritatis, nisi ea vox, quam tortus effuderit, veritas putetur esse: sed hoc putatum iri difficile pronunciatu est. Quid si enim vox ea sit huiusmodi; Non sum reus? An tũc putabitur id verũ esse? At longe alia hodierna praxis est […]“. In der Tat gibt vor allem dieses Argument Spees den Ausschlag zur Verfechtung des in dubio pro reo, wenngleich dieses selbst im 16. Kapitel abgehandelt wird: vgl. Günter Jerouschek: Friedrich Spee als Justizkritiker. Die ‚Cautio Criminalis‘ im Lichte des gemeinen Strafrechts der frühen Neuzeit. In: Friedrich Spee zum 400. Geburtstag. Kolloquium der FriedrichSpee-Gesellschaft Trier. Hg. von Gunther Franz. Paderborn 1995, S. 115–136, hier S. 128. 103 Gerhard Schmidt: Sinn und Bedeutung der Constitutio Criminalis Carolina als Ordnung des materiellen und prozessualen Rechts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 83 (1966), S. 239–257, hier S. 255. 104 Vgl. Ulrich Falk: Zur Folter im deutschen Strafprozeß. Das Regelungsmodell von Benedict Carpzov (1595–1666). In: Forum Historiae Iuris. Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte (2001), 27–79 (Absatzzählung) [http://www.rewi.hu-berlin.de/FHI/zitat/0106falk-folter.htm; zuletzt aufgerufen am 18. März 2014].
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dass es auf rechtlicher Ebene seine eigene argumentative Validität besitzt. Gryphius scheint es hier durchaus nicht um die Darstellung unmäßiger juristischer Spitzfindigkeitkeit zu gehen. Vielmehr zeichnet sich gerade am Sorgfältigkeitsbemühen der Richter allererst die Dimension von Balbus’ Schuld gegen die lex Dei ab. Letztendlich nämlich bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass die von vornherein unstrittige Schuld Balbus’ etwaige Detailfragen des Strafmaßes wie auch eine weitere peinliche Befragung überflüssig macht. Damit werden die (rechts)praktischen Folgen der fundamentalen göttlichen Gesetze erst eigentlich deutlich: Gott ist die dem Fürsten übergeordnete Instanz und schützt diesen durch seinen instanziellen Vorbehalt vor zwar nicht ungerechtfertigter, aber dennoch unrechtmäßiger Bestrafung seitens der Untertanen. Damit ist die gegen Gott schon als Wort und Ansinnen statthabende Schuld, ihn zu leugnen, in gleicher Weise eine übergeordnete Schuld. Daher ist das Vorhaben des tatsächlichen Mordes an Leo Armenius ‚nur‘ ein Folgeeffekt, dessen Schwere natürlich nicht zu unterschätzen ist. Dennoch folgt aus dem untergeordneten wie abkünftigen Status dieses Folgeeffekts, dass speziell ihn betreffende Fragen von Taterfolg und Alleintäterschaft keine relativierende Auswirkung haben können auf die eigentlich ursächliche Schuld, sich schon in der Annahme eines Widerstandsrechts über Gott erhoben zu haben. Dieser Gedankengang ist durchaus nicht genuin gryphsch und auch nicht allein rechtstheologisch. Auch das Schulddenken der Carolina kennt eine „Intensität der Hemmungsvorstellungen, welche den Täter von seiner Missetat hätten zurückhalten müssen“.105 Folgerichtig hat es schon eine entsprechend gegenläufige Motivation „zum Anlaß strafrechtlichen Eingreifens erhoben: und zwar nicht nur, wenn die Willensrichtung aus Verbrechen erschlossen wurde, sondern auch, wenn der rechtsfeindliche Zustand festgestellt werden konnte, ohne daß es schon zu Rechtsverletzungen gekommen war. Auch in letzterem Falle spricht das Gesetz von Schuld und Strafe“.106 Letztlich geht es auch Gryphius nicht um eine umfassende Folterkritik, schon gar nicht um eine menschenrechtliche. Es geht ihm allein um den Nutzen von Folter zum Zweck der Wahrheitsfindung. Dieser Nutzen ist weder gegegeben noch ist er in Balbus’ Fall notwendig: Gryphius setzt die Folterkritik der Szene II,2 nicht zum ruhmesethischen Nachweis neuerlicher Milde der leontischen Rechtssprechung ein, sondern sie markiert die außerordentlichen Dimension von Balbus’ Schuld: Diese ist fraglos, so dass Folter schlicht überflüssig ist. Daher ist auch
105 So der nach wie vor empfehlenswerte Aufsatz von Horst Kollmann: Die Schuldauffassung der Carolina. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 34 (1913), S. 605–662, hier S. 642. 106 Ebd., S. 646.
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die Strafmaßfindung weniger dem Taterfolg wider den Kaiser, sondern vielmehr dem Tatbestand der Hybris gegenüber Gott anhängig. Unter den Vorzeichen der gryphschen politischen Theologie erscheint es demnach nur konsequent, wenn die Richter nicht diejenige Strafe verhängen, die nach der Carolina üblicher Weise auf Verrat auszusprechen ist, nämlich die Vierteilung.107 Sie verurteilen Balbus zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen: „Setzt jhm den Holtzstoß auff“ (GdW 5, II,2, S. 36, v. 309). Sie entspricht den von Kedrenos berichteten Tatsachen108 nur genauso wie dem zu Gryphius’ Zeiten üblichen – und von der Carolina freigestellten – Vorgehen gegen Ketzer.109
5.1.4.4 Schauspiel und Zurschaustellung: Dramatische und juristische Evidenz Es ging der zweiten Abhandlung sichtlich um die These einer wesentlichen Öffentlichkeit gemeinen Rechts und um den Nachweis von Unrecht als Zurschaustellung von Unrecht. Damit einher ging ihr das Problem eines juristischen Evidenzbedürfnisses, das durch Folter augenscheinlich machen möchte, was doch ganz innerlich ist, nämlich das subjektive Schuldbewusststein, während die objektive Schuld schon erwiesen ist. Gryphius scheint das Drama als vorzügliche Gattung dieser Debatten anzusehen, nicht weil es diese löste, sondern weil seine darstellerischen Probleme den systematisch-metaphysischen Problemen des Rechts analog sind. Anders als den Prosagattungen, die über den inneren Monolog verfügen, ist dem Drama eine Innensicht nur durch die Figurenrede als ein radikales Inside-Out möglich.110 Deren Authentizität als Gedankenrede wird häufig durch eine monologische Präsentation, grundsätzlich aber im Fiktionsvertrag des Dramas als abgegolten angenommen: Wie in der Prosa existiert eine „nicht ausgesprochene Übereinkunft zwischen Autor und Rezipient, daß eine Dramenfigur im Gegensatz zu einem wirklichen Charakter laut denkt“.111 Diese Übereinkunft gilt jedoch nur im Falle des tatsächlich monologhaften Monologs als gesichert. In Dialogsituationen ist die Authentizität fraglich.
107 Carolina, § 124, S. 78f. 108 Kedrenos: Συνοπσις Ιστοριων, S. 945: „καὶ ψῆφος ἐκφέρεται κατ’ αὐτοῦ πυρὶ καταστρέψαι τὴν ζωὴν […].“ / „und es erging vor dem Tribunal das Urteil, dass er lebendig verbrannt werde“ [Übers. O.B.]. 109 Carolina, § 106, S. 71. 110 Vgl. Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Communicatio 31), S. 102: „Selbstreferenz und die Identizifierzung von Bühnen- und Zuschauerperspektive gehen hier zusammen.“ 111 Pfister: Das Drama, S. 185.
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Dem Strafgericht ist eine Innensicht ebenso nur durch die Rede des Angeklagten möglich. Der Folter wird genauso unvermittelt die Fähigkeit zugebilligt, authentische Gedankenrede offenzulegen, wie dem Fiktionsvertrag. Damit sind Folter und Fiktionsvertrag zwar ebensowenig verwandt wie Drama und Gerichtshof. Aber ebenso wie es ein Spannungsverhältnis von erhoffter Aussage und eigentlicher Intransparenz zwischen Gericht und Angeklagtem gibt, so gibt es ein Spannungsverhältnis von glaubwürdiger Figurenrede und eigentlicher Intransparenz zwischen Zuschauer und Figur bzw. zwischen Figur und Mitfigur. In diesem Sinne weisen dramatische Handlung und gerichtliches Verhandeln unübersehbare Homologien auf, die sich Gryphius zu nutze macht. Besonders im Law & Literature-Movement ist die Betonung der formalen Ählichkeit von Dramendialog und Gerichtsdialog zu einem Leitinterpretament avanciert.112 Insofern Gryphius im Leo Armenius die Gerichtsverhandlung auch als Schauspiel thematisiert, fungiert diese bis zum einem gewissen Grad tatsächlich auch als Stück im Stück. Dies gilt nicht zuletzt auch, weil ein Argumentenarsenal zur nochmaligen Präsentation gelangt, das inhaltlich bereits vorab geklärt wurde: Es wird hier also nurmehr ‚aufgeführt‘, nicht aber ergründet. Dies dient Gryphius jedoch der gegenteiligen Kritik, insofern sich der Wahrheitsanspruch des Gerichtsverfahrens nicht in seinem Verhandeln erschöpft. Der Wahrheitsanspruch des Richters speist sich dem rechtstheologischen Anspruch nach eben nicht aus einem eigenhändigen Narrativ, das die normative Letztbegründung allererst erbringen soll:113 Der Richter steht eben nicht wie der Dichter im Range eines Schöpfers auch seiner systematischen Grundlagen. Er spricht, aber stiftet nicht Recht.
5.1.5 Gott und Katastrophe – Sollen und Sein – Rechtliche und Handlungssicherheit Nach Michael Balbus’ Verurteilung sieht Leo seinen Status endlich gestärkt (II,4). Es ist der Status eines monokratischen Souveräns, wie er erst im Papinian umfassend diskutiert werden wird (5.3.2): „Ein Frst vnd eine Sonnen / Sind vor die welt vnd Reich’. Hat je ein Heer gewonnen / Das mehr denn einer fhrt?“ (GdW 5, II,4, S. 40, v. 415–417.) Leo sieht sich als denjenigen, „der herrschen
112 Siehe z.B. Weitin: Recht und Literatur, S. 20. 113 Ebd., S. 71–74. Weitin stützt sich dabei vor allem auf Jacques Derridas Lehre vom mystischen Ungrund der préjuges, unter umfassender Absehung der kantschen Sittenlehre, beschränkt allerdings diese These von der notwendigen Narrativität zurecht auf die Epochen nach dem Aufkommen des Positivismus.
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sol“ (ebd., v. 404), diesen Status aber auch selbst geltend machen und beschützen muss: Es ist „[h]ochntig; daß wir selbst / persnlich achtung geben“ (ebd., v. 420). Damit ist der Hiatus von Sollen und Sein angesprochen: Auch eine göttliche Rechtsgarantie, die von Gottes Strafinstanzialität abgesichert ist, schlägt noch nicht in einen Naturalismus um, in dem das Gesollte mit dem Sein je schon identisch wäre. Dies lehrt Gryphius schließlich auch die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges, mit der in der Leservorrede eingeleitet hatte. Diese Erfahrung soll im Leo Armenius nicht nur durch eine Erinnerungsleistung,114 sondern vor allem durch eine rechtstheologische Normativierung verstetigt werden. Der Mensch muss, was recht ist, auch zu einem nicht unbeträchtlichen Teil selbst tatkräftig umsetzen: Dies gilt besonders für den Souverän.
5.1.5.1 „Das recht hat seinen Gang“. Theodosias Sollen-Sein-Fehlschluss Es ist ausgerechnet Leos Gattin Theodosia, die dies zunächst nicht erkennt, als sie Leo um die Verschiebung der Hinrichtung auf den Tag nach Heiligabend bittet (II,5) – und damit die Katastrophe maßgeblich begünstigt. Der voreilige Schluss vom Sollen auf das Sein gibt für sie den Ausschlag gegen die sofortige Hinrichtung des Balbus: Tatsächlich ist noch nicht das Christfest ihr allein hinreichendes Argument, sondern die Überzeugung, dass mit Gottes Recht auch die Sicherheit faktisch je schon besorgt sei: Wer kann der Frsten zeit / wenn Gott nicht wil / verkrtzen? (GdW 5, II,5, S. 41, v. 440) Das Recht hat seinen gang / last gnad’ jhm nun begegnen. (ebd., S. 42, v. 463)
Besonders Justus Lipsius sah in diesem Denken die Gefahr, durch das Fatum das eigene Tätigwerden für überflüssig zu erklären: „Ignauia latibulum aliquod quæri solere in Fato“.115 Entgegen dieser Annahme löst er in De Constantia das Problemverhältnis von Fatum und eigener Willensentscheidung dahingehend auf, dass das Fatum lediglich prädisponiert. Es schafft Grundlagen als notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen menschlicher Handlungswirklichkeit. Das menschliche Handeln ist zur Realisierung dieser Dispositive nach wie vor unabdingbar:
114 Dirk Niefanger: Affekt und Katastrophengedächtnis bei Andreas Gryphius. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. von Johann Anselm Steiger. Bd. 2. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43,2), S. 941–950, hier S. 947. 115 Lipsius: De Constantia libri duo,, I,22, S. 71.
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Liberos tollere tibi fatum est: sed vt in uxore tuæ horto prius seras. A morbo sanescere: sed hactenus, vt medicum adhibeas & fomenta. Simile hîc. & seruari hanc fluctuantem & mergentem patriæ tuæ nauem si Fatum est; hoc quoque Fatum, propugnari eam & defendi.116
Das Fatum – so Lipsius – gibt dabei durchaus schon selbst zu erkennen, welche Handlungsentscheidung die gebotene ist. Die Entscheidung für bzw. gegen eine den Umständen naheliegende Handlung kann sich nicht aus diesen selbst ergeben, sondern allein aus der freien Entscheidung des Menschen für oder wider die Norm göttlichen Rechts. Als Leo daher den Aufschub befiehlt (II,6), ist seine Weisung nur zu konsequent, Balbus gut zu bewachen. Es ist für die Beurteilung der sich folgenden Ereignisse von großer Bedeutung, dass mit Blick auf die klare Unterscheidung von Sollen und Sein nicht etwa Gottes Fatum oder gar sein Recht es begünstigen, dass die Verschwörung gelingt, sondern dass die Wächter dieses Recht nicht angemessen schützen, wie sie es sollten: Obwohl der Hauptmann der Wache Papias Leo die sichere Bewachung von Kerker und Burg bestätigt (III,1), schläft er selbst in Michael Balbus’ Kerker ein (III,4). Mehr noch: Papias lässt sich aus Angst, dass Leo ihn für seine Pflichtverletzung zum Tode verurteilt, zur Beihilfe der Verschwörung verleiten (III,5). Dies ist die Reaktion eines weder pflicht- noch rechtsbewussten Menschen: Wie er Recht gebrochen hat, versucht er nun auch noch Recht zu fliehen. Es ist nicht göttliches Fatum, sondern menschliches Versagen vor dem göttlichen Recht, das Leo schließlich zu Fall bringt. Gottes Recht und Schöpfung kennen sehr wohl menschliche Fahrlässigkeit. Gesetzgebung macht nur Sinn, solange es die menschliche Alternative von Handeln und Zuwiderhandeln gibt. Diese dem Determinismus wie auch dem Fatalismus opponierende Grundbedingung jeder Moralität ist konfessionsübergreifendes Allgemeingut der frühneuzeitlichen Rechtslehren: Melanchthon erklärt dies mit dem geschöpften Freiheitsgeschehen (4.4.3.1), Francisco Suárez damit, dass „zur Vorsehung gehört, dass Gott die Geschöpfe ihre ‚eigenen Bewegungen und Wirkungen‘ vollziehen lässt, da deren Vermögen ansonsten als überflüssig erscheinen müssten“.117 Wenn daher der Reyen der Höfflinge Fortuna, das „[e]wig wanckelbare glcke“, anruft (GdW 5, II,7, S. 46, v. 605), bringt auch er zur Geltung, dass Fatum
116 Ebd., S. 72; siehe den Hinweis bereits bei Mannack: Kommentar, S. 905; vgl. Wollgast: Philosophie in Deutschland. 1550–1650, S. 755. 117 Thomas Marschler: Verbindungen zwischen Gesetzestraktat und Gotteslehre bei Francisco Suárez im Begriff der lex aeterna. In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 27–52, hier S. 35.
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als mögliches gesolltes Handeln einerseits und Handlungswirklichkeit andererseits nicht kongruent sind. Fortuna fungiert hier nicht als dritte Instanz einer Trias, sondern als Beschreibungskategorie dafür, dass der natürliche Gang der Welt nicht mit dem Recht identisch ist. Eine natürliche Selbsterfüllung göttlichen Rechts ist mit der verstärkten Finalismuskritik eben ausgeräumt: Gryphius lässt hier den Reyen eben jenen Vers seines eigenen Vanitas-Sonetts zitieren, der die Erkenntnis nicht-teleologischen Weltenlaufs in sich ballt (4.3.1): „Was ich baw bricht jener ein“ (ebd., S. 47, v. 648).
5.1.5.2 Der Unterschied von forum internum und forum externum Irritationen vermag Leos Traum stiften, in dem der Geist des verstorbenen Patriarchen von Konstantinopel Tarasius dem träumenden Leo seine Unrechtstaten vorhält und ihm seinen Untergang prophezeit. Mehr noch: Das Gespenst des Michael macht sich schon daran, diese Prophezeiung im Traum zu realisieren (III,2). Vordergründig mag es so scheinen, als legitimierte diese Szene die Ermordung Leos auch jenseits des Traums. Allerdings ist es nur ein Traum und nur als solcher ist er eine durchaus gerechtfertigte Gewissensstrafe im forum internum. Leo erleidet für seine begangenen Verbrechen jene Hiebe und Stiche, von denen Lipsius und auch Schönborner sprechen (4.1.2.1 und 4.4.5.3; siehe auch 5.2.7.2): „Nam si Tyrannorum mentes recludantur, possint aspici laniatus & ictus. quando vt corpora verberibus, ita sævitiâ, libidine, malis consultis animus dilaceretur. [Marginalie:] Tac. VI. Ann.“.118 Die beiden Staatslehrer sprechen von dieser Gewissenspein aber gerade, insofern sie eine Strafung im forum externum unnötig macht. Wegen dieses Unterschiedes von forum internum und externum lassen imaginative Strafungen im Gewissen noch keine normative Schlüsse auf tatkräftige Strafen ziehen. Sie setzen die Gewissensstrafe gerade als Argument gegen ein Widerstandsrecht ein (4.1.2.1; 4.4.5.2). In seiner anschließenden Traumdeutung (III,3) veranschlagt Leo daher den Unterschied von Sollen und Sein nur genauso konsequent wie den von forum internum und forum externum: [W]il Gott denn die nicht schtzen / Die Er an seine statt hies auff den Richtstuel sitzen? Krtzt Er der Frsten jahr?
118 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, 1590, S. 292 [Hervorhebung im Text]; Schönborner: Politicorum libri septem, S. 174: „Ex hac Tyrannorum formidine colligimus torqueri eos infinitis conscientiæ tormentis; nam si Tyrannorum mentes recluderentur, possent aspici laniatus & ictus, quando ut corpora verberibus, ita sævitia, libidine, malis consultis animus dilaceretur.“
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Oder lehrt er nur durch zeichen Wie man sol der grufft entweichen? So ists! er pflegt vns zwar zu drewen: Doch pflegt jhn auch sein zorn zu rewen. (GdW 5, III,3, S. 52f., v. 143–149)
Die Strafe im Gewissen muss und darf Leo noch nicht zur Meinung verleiten, im forum externum sei Michael Balbus zu der Strafe berechtigt, wie sie der Traum vorstellt. Ebenso steht Leo die Verhinderung der Tat noch zur Verfügung und zu Gebote. Das forum externum steht unter keinem notwendigen Erfüllungsdruck gegenüber dem forum internum. Dessen Visionen sind Strafmittel eigenen Ranges, ihr Abbildcharakter gegenüber der äußeren Wirklichkeit ist weder ein Zeichen ihres realen Eintretens noch gar ihrer Legitimität. Hier kommt abermals der instanzielle Vorbehalt der Gottesinstanz zur Geltung: Nur weil das unbelebte Abbild eines Menschen in der Einbildung eines Anderen als Mittel göttlicher Gewissensstrafe dient, darf deshalb die frei entscheidungsbegabte Realperson nicht auch einfach als Strafender im forum externum auftreten. Es ist genau zu beobachten, wie sich der abschließende Reyen der „HoffeJunckern“ (III,6) zu dieser Frage von Sollen und Sein, forum internum und forum externum, Vorzeichen und äußerer Wirklichkeit verhält. Hier kommt Gryphius zu einem vordergründig ambivalenten Ergebnis: Zwar gibt der Himmel Zeichen der Warnung. Der Mensch hat es jedoch mit noch keiner seiner Wissenschaften, die er „von der ersten zeit“ an geübt und vertieft hat, auch nur einmal geschafft „zu ergrnden / Was wir tglich vor vns finden“ (ebd., III,6, S. 62, v. 403–406). Dies gilt für Gottes Zeichen a fortiori nur genauso wie für jede andere Form, Zusammenhänge von Verursachung zu erkennen. Dies ist die Antwort auf die im „Satz“ gestellte Frage: Fallen wir der meynung bey Daß die verhngnis vns vor vnserm zufall schrecke! Daß ein Gespnst’ / ein traum / ein zeichen offt entdecke Was zu erwarten sey? Oder ists nur Phantasey? (ebd., v. 391–395)
Zwar sind Fälle belegt, in denen vorgezeichnete Ereignisse eingetreten sind – so der „Gegensatz“. Gewiss können diese Zeichen für den Menschen jedoch darum nicht sein, weil ihnen das lumen gloriae fehlt, das solche Zusammenhänge zu erkennen erlaubte (4.4.5.3): „VVer könnte dan verstehn, was er vom Himmel spricht?“,119 war schon 1639 die Lehre von Gryphius’ Dreifaltigkeitssonett (4.3.1).
119 GdW 1, Sonntagssonette, 38, S. 150, , v. 1–7 [Hervorhebung im Text].
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Deren theologischer Voluntarismus verunmöglicht eine Ergründung von Gottes Vorsehungswillen ebenso, wie er auf die einzig sichere Offenbarung der Bibel verpflichtet. Zudem gelten diese Zeichen und ihre Unsicherheit auch für Michael Balbus. Trotz gegebener Zeichen bleiben also eine Handlungsfrage und ein Handlungsdruck erhalten, die dem menschlichen Akteur gerade kein fatalistisches Verhalten erlauben: Die Zurechenbarkeit des menschlichen Handelns bleibt gewahrt (4.4.3.2).
5.1.5.3 Göttliches Recht und Faktenprophetie Die Verschworenen teilen diese Erkenntnis nicht: Sie meinen, sich durch den Spruch eines „Hllischen Geists“ ihrer Sache vergewissern und einen Plan fassen zu können (IV,1). Der zweite Verschworene hegt dabei nicht etwa bloße Zweifel an der Rechtmäßigkeit dessen, sondern ist sich sicher, dass Königsmord von „Gott vnd Mensch verflucht“ sind (GdW 5, IV,1, S. 62, v. 1): Das göttliche vierte Gebot ist also allemal unzweideutig. Die Eindeutigkeit der Norm ist schließlich das, was der Ungewissheit und Mehrdeutigkeit von Seins-Vorzeichen entgegengesetzt ist. Der Mensch hat sich an die göttliche Norm zu halten, nicht an Visionen. Dies gilt schon darum, weil auf deren Ebene der Teufel seine Lügenwirkung ausüben kann. Gryphius bringt hier seine Vorstellung vom Teufel als Belüger und Vernebler zur Geltung, wie sie aus dem Herodes bereits bekannt ist (4.4.3.1). Die praktisch-theologische Folgerung dieses Teufelsbegriffs ist, dass von dieser Form ‚schwärmerischer‘ Handlungsfindung kategorisch abzustehen ist. Zeichen sind wegen ihres ungewissen Status’ als göttlich oder teuflisch zu meiden, weil sie widersprüchliche Folgen haben können: „[W]er solchen rath begehrt / Laufft in sein eigen grab“ (ebd., S. 63, v. 5f.). Das göttliche Gesetz hingegen zeichnet sich durch Konsistenz aus (4.4.4). Der zweite Verschworene formuliert es bezeichnender Weise klarer als alle anderen Figuren des Trauerspiels: Zeichen sind schon darum von untergeordnetem Rang, weil sie nur von Taterfolg sprechen, nicht aber von Schuld: „Viel besser sonder schuld / dafern es fehlt: gestorben / Vnd sonder schuld / den Sieg / dafern es glckt / erworben“ (ebd., v. 19f.). Als der Zauberer Jamblichus den höllischen Geist anruft (IV,2), ist daher klar, dass er damit niemand Geringeren als Satan selbst meint: Mit dem „Besitzer der Welt“ (ebd., IV,2, S. 64, v. 61) ist seit der Sprachregelung des Johannesevangeliums der princeps mundi angesprochen.120 Auch der Zauberer hat jedoch nur ein unangemessenes Verständnis vom Satan. Es ist tatsächlich nämlich nicht dieser,
120 Joh 12,31: „JTzt gehet das Gerichte vber die Welt / Nu wird der Fürst dieser welt ausgestossen werden“. Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 410.
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„[d]er Tod vnd Hellen gesetze vorstellt“ (ebd., v. 62): Satan ist nicht etwa gegenüber Gott autonom. Gott und Teufel stehen in keinem dualistischen Verhältnis zueinander. Im ersten Herodes-Epos hat Gryphius seine Leser gelehrt, dass allein Gott Gesetze auferlegt, und zwar auch dem Teufel als dem Beauftragten göttlicher Strafhandlungen im Jenseits. Dessen teuflische Weisungen an seine Spießgesellen sind nicht Gesetz, sondern wider göttliches Recht (4.4.3.1). Die inadäquate Identifikation von Sollen und Sein wird hier also in ihrem anderen Extrem vorgestellt: Leo hatte bei den fraglichen göttlichen Seins-Zeichen seines Traumes über deren Normativität gegrübelt. Jamblichus und der dritte Verschworene sind im Gegenteil davon überzeugt, dass die erwarteten Vorzeichen des Teufels nicht nur künftige Fakten, sondern auch Legitimation erbringen werden. Der Zauberer Jamblichus fungiert daher nicht etwa als unbeteiligter Moderator oder Dolmetscher teuflischer Rede. Er ist selbst schon vom Satan verblendet in der Meinung, der princeps mundi stifte für diesen mundus auch die Gesetze. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt die Zweideutigkeit der höllischen Prophezeiung: Michael wird tragen „was Leo trgt“ (ebd., S. 67, v. 138), d.h. nicht nur Krone, sondern auch den Tod. Des Teufels Weisung ist schon darum kein Gesetz, weil es dieselbe Handlung genauso befürwortet wie bestraft.121 Gryphius lässt seinen Crambe notwendig irren, wenn dieser meint, dass „vns das glck mit sssem mund’ anlacht“ (ebd., IV,3, S. 67, v. 161). Der Gotteslästerlichkeit Balbus’ schließt er sich unumwunden an: „Wir gehen Bndnis eyn / die mchtig was die welt / Vnd der gewlck’te Baw in seinen schrancken helt / zu zwingen an ein Joch“ (ebd., S. 68, v. 169–171). Crambe weiß genau, dass die Verschwörung nicht nur gegen den Kaiser, sondern auch wider Gott handelt.
5.1.5.4 „Das weist sein leben aus vnd sein schrecklich end“. Michael Balbus’ Sein-Sollen-Fehlschluss Nachdem Kaiserin Theodosia vom Ende ihrer Herrschaft geträumt hat, überbringt ihr der Priester noch in derselben Szene die Nachricht von Leos Ermordung (V,1). Die Konstellation des Mordgeschehens und wiederum ihre Bedeutung für die Figurenkonstellation ist klar: Während Leo von der Allmacht Gottes singt, den „kein Tyrann / kein Tod / kein Hencker knnen zwingen“ (ebd., V,1, S. 79, v. 79f.), verstoßen die Verschworenen gerade gegen diese. Der nachfolgende Bote spitzt diesen Sachverhalt weiter zu: Während die Verschworenen nicht einmal Glauben
121 Armin Schäfers Interpretation, dass es sich beim höllischen Geist ausgerechnet um Nemesis handeln soll, die Gottheit distributiver Gerechtigkeit, kann insofern nicht geteilt werden: Schäfer: Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel, S. 416.
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und Vertrauen auf das Gesetz Gottes hegen, bekennt Leo sich noch in der größten Not zur Botschaft des Evangeliums: „[D]enckt / rufft er / an das Leben / Das sich fr ewer Seel an dieser Last gegeben“ (ebd., S. 81, v. 147f.). Ebenso bekennt sich Leo selbst zu seinen Sünden: „Befleckt deß Herren Blut / das diesen sta gefrbt. / Mit Snder blut doch nicht“ (ebd., v. 149f.). In der Tat ist spätestens hier die „Fragwürdigkeit von Interpretationen, die unter Vernächlässigung des historischen Kontextes […] Balbus’ Tyrannenmord zu legitimieren versuchten, evident geworden“.122 Es ist Theodosia, die nunmehr den Unterscheid von Sollen und Sein begriffen hat und für diesen eintritt: Die Ansicht des Priesters nämlich, dass Leos Ermordung ein Gericht Gottes, wenn auch ein unbegreifliches gewesen sei (ebd., S. 83, v. 211), lehnt sie rundheraus ab: „Sprecht so! vnd lehrt das Volck vom Throne Printzen schleiffen!“ (ebd., v. 212). Die Unrechtstat Crambens und seiner Mittäter liegt für den Melanchthonianer im Freiheitsgeschehen begründet. Sie kann geplant und auch vollzogen werden. Erlaubt ist sie deshalb dennoch nicht – Gericht Gottes ist sie umso weniger. Um die Illegitimität des Mordes geht es Theodosia schließlich auch in der ersten Konfrontation mit den Verschworenen (V,2). Diese Frage stellt sie ihnen instanziell: [W]er setzt euch in die macht? / Wer traw’t euch dieses Schwerdt? (ebd., V,2, S. 85, v. 250f.) Wer gibt euch diese macht? / Ein Frst fll’t dem allein / der in den Wolcken wacht. / Der in den Thron vns setzt / kann auß dem Thron vns bannen. (ebd., S. 86, v. 284–286)
Unabhängig von der Möglichkeit, dass Leo ein Tyrann war, wäre seine Bestrafung ohnehin allein Gott zugestanden. Dennoch geht Theodosia auch auf die inhaltlichen Vorwürfe der Tyrannei ein: „Wer war er? ein Tyrann? Jhr sung’t mit anderen zungen“ (ebd., S. 85, v. 255). Gryphius lässt abermals auf die einstmalige Einsetzung Leos als Kaiser Bezug nehmen und bestreiten, dass Leo sich als Herrscher nicht bewährt hätte: „So bald er nicht mehr schenckt / ja nicht mehr schencken kann / So bald er auffruhr strafft / steckt euch die vntrew an“ (ebd., v. 261f.). Hier wird der Bogen zurückgeschlagen auf die Meritologiekritik der ersten Abhandlung (5.1.1.1): Politik ist kein Gewinngeschäft, das den Herrscher schon zu stürzen erlaubte, wenn er einen solchen Gewinn nicht einbringt. Schon Exabolius hatte die unzähligen Sorgen betont, die die Politik ein stetes Kompensationsunternehmen und ein Nullsummenspiel sein lassen (5.1.3.3).
122 Mannack: Andreas Gryphius, S. 59.
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Den eigentlichen argumentativen Missgriff des Verdienstdenkens legt auch Theodosia offen, als in der letzten Szene (V,3) noch einmal Balbus’ Unverstand zur Schau gestellt wird: Mich. Man krigt was man verdient. schwer’ angst / fr schwere Snden. Theod. Wol! so wird mit der zeit / dich auch die rache finden. Mich. Wer / was nicht vnrecht / thut / schrickt vor der rache nicht. Theod. Ists recht daß man den Eydt / vnd Frsten Hlse bricht. Mich. Wenn Frsten jhren Eydt zum ersten selber brechen: Theod. Wen stieß der Keyer vmb / sein hochbethew’rt versprechen. Mich. Das weist sein leben aus vnd sein erschrecklich end. Theod. Ein laster wird vor recht / vnd nicht auß dem tod erkeñt. (ebd., V,3, S. 89, v. 371–378)
Sein Pragmatismus, sein temporalisiertes Herrschaftsrechtsdenken versteht die Herrschaft als Vertrag, der bei Nichterfüllung nichtig wird. Besonders ungeschickt verhält sich Balbus jedoch, als Theodosia ihn auffordert, die Verstöße Leos zu benennen: „Das weist sein leben aus vnd sein erschrecklich end“. Balbus will sein Handeln durch seinen Taterfolg rechtfertigen. Die Verschwörerpartei schließt abermals vom Sein aufs Sollen. Dieser Schluss ist juridisch schon insofern untauglich,123 als das Urteil darüber kontingent ist, welches Sein zur Norm erhoben wird – Leos oder Balbus’ Regentschaft. Balbus glaubt, dass ihm nicht nur seine eigene Meinung, sondern auch sein Erfolg Recht gibt: Dabei übersieht er, dass auch dieser Erfolg jenseits eines allgemeinverbindlichen Rechts steht und letztlich nur durch ein abermals arbiträres Urteil zu billigen ist: Das Volk wird „ber dich zu letzt auch Vrthel hegen“ (ebd., v. 380).
5.1.6 Fazit: Außergeschichtlichkeit des strafenden Gottes und Wirksamkeit des göttlichen Rechts Wie Barbara Mahlmann-Bauer zutreffend feststellt, stellen sich mit dem Taterfolg Balbus’ Fragen hinsichtlich der poetischen Gerechtigkeit ein,124 deren Verhält-
123 Schon Balbus’ Versuch, sich historisch auf Phokas zu berufen, ist legitimationstheoretisch depraviert, weil unsystematisch. Der Versuch ist nicht nur schlecht, weil er „ungleiche Exempelschlüsse“ unternimmt, sondern überhaupt von Exempeln induktiv auf Normen schließen will: Beetz: Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Leo Armenius‘, S. 186. Fraglich ist Beetz’ Meinung, dass der Barock Herrschaftslegitimität überhaupt „durch Präzedenzfälle zu begründen“ suchte (ebd.). 124 Mahlmann-Bauer: ‚Leo Armenius‘ oder der Rückzug der Heilsgeschichte von der Bühne des 17. Jahrhunderts, S. 423–429.
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nis zur rechtstheologischen Gerechtigkeitslehre es hier zu klären galt. Leo Arme nius bleibt dramatisch gänzlich offen: Weder wird eine Gewissensqual noch gar eine Strafung des Michael Balbus im forum externum auf die Bühne gebracht. Stattdessen wird beim Leser und Zuschauer das Wissen über das göttliche Recht und die konforme Haltung zu diesem vorausgesetzt. Dass also Balbus’ Umsturz Unrecht ist, ist nicht arkane Autorenintention, sondern Ergebnis einer politischen Theologie. Daniel Weidner wirft Mahlmann-Bauer in der Interpretation der Balbus-Figur „zweifelhafte psychologische Argumente“ vor, mit denen sie behaupte, die Religion werde als Vorwand politischer Intrigen demaskiert.125 Allerdings argumentiert Mahlmann-Bauer ideenhistorisch: Die Instrumentalisierung der Religion ist ein Problem des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, das Machiavelli aufgeworfen hatte (4.1) und das auch dann statthat, wenn – wie im Falle des LeoDramas des Jesuiten Simon – Balbus mit seinem Ikonoklasten-Vorwurf an Leo in der Sache Recht hat.126 Damit ist nicht schon ausgeräumt, dass Balbus dieses sachlich richtige Ikonoklastenverdikt wider Leo nicht doch nur vorschiebt wegen anderer, nämlich politischer Intentionen. Ebensowenig ist damit politisch-theologisch das Widerstandsverbot aufgehoben, das mit Röm 13,2 begründet wird. Gerade dies hat Mahlmann-Bauer im Blick und ist schließlich Kern der Auseinandersetzungen um ein politisch-theologisch gestützten Absolutismus: Leo mag unbezweifelt ein Häretiker sein. Er mag sogar ein politischer Verbrecher sein. Nichtsdestoweniger ist damit nach Ansicht der zeitgenössischen Staatsrechtslehren noch nicht ausgemacht, dass ein Untertan Leos das Recht besitzt, ihn zu stürzen und gar zu töten. Im Gegenteil ist die Frage nach der Befugnis, göttliches Recht durch eigenhändige Strafe geltend zu machen, eine wesentlich andere als die Vergehensfrage (5.1.3.4). Daher ist mit dem nachweislichen Vergehen beim Einen noch nicht gleichzeitig die Strafbefugnis beim Anderen festgestellt. Das göttliche und natürliche Recht wurden nicht nur als gültig, also institutionalisiert begriffen, sondern vor allem auch als instanziert: Ein geltendes Recht ist damit noch nicht von jedem beliebigen einholbar, nur weil es inhaltlich gilt, sondern es wird geltend gemacht von einer bestimmten Instanz: Im Falle des göttlichen und natürlichen Rechts ist dies Gott. Wird sich jenseits dieser Instanz das Einholen des geltenden Rechts angemaßt, so stellt dies selbst ein strafwürdiges Vergehen dar. Es stellt einen Vorgriff auf Gottes Strafhandlung dar, mithin nichts
125 Weidner: Sakramentale Repräsentation in Gryphius’ ‚Leo Armenius‘, S. 299; MahlmannBauer: ‚Leo Armenius‘ oder der Rückzug der Heilsgeschichte von der Bühne des 17. Jahrhunderts, S. 443. 126 Ebd., S. 443–455.
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Geringeres als diejenige gotteslästerliche Handlung, ‚Gott zu spielen‘. Vor dem (rechts)ideenhistorischen Hintergrund ist daher nicht zu dem übereilten Schluss zu kommen, die Figur des Michael Balbus wäre die allein ablehnungsfähige, die des Leo hingegen bloß zustimmungsfähig. Umgekehrt: Indem Balbus durch seine Widerstandshandlung straffällig wird und diese durch den Ausblick der magischen Weissagung auch gestraft werden wird, ist noch kein Held Leo konstituiert. Poetische Gerechtigkeit wird im Leo Armenius ganz durch eine rezipientenseitige Kompensationsleistung hergestellt. Daher wird unten zu diskutieren sein, inwiefern dramatische Geschlossenheit ohne Weiteres rein formal, werkästhetisch und unter Abstraktion von historisch varianten Weltanschauungen konstatiert werden kann (6.5). Fraglich scheinen natürlich der Ort und die Zeit der göttlichen Strafe gegen Michael Balbus: Im Drama findet sie nicht statt, weshalb unter dem Verweischarakter poetischer Dichtung vom Besonderen auf das Allgemeine (3.3.4f.) die Vermutung durchaus naheliegt, dass dies auch für das gesamte Diesseits gilt und Gott ausschließlich jenseitig straft. Dennoch ist die Abwesenheit Gottes nur augenscheinlich nicht erwiesen: Es war eines der rechtstheologischen Hauptanliegen Melanchthons, das Eintreten göttlicher Strafe weder nach Ort und Zeit festgelegt zu denken – dies hätte ihm eine Anmaßung gegenüber Gott bedeutet – noch es auszuräumen – dies hätte lästerliches Zweifeln an Gottes Gerechtigkeit bedeutet (4.2.2.2; 4.4.4.2). Dies gilt auch für Gryphius’ Leo Armenius: Die im Hintergrund stehende Realgeschichte soll zeigen, dass Theodosia mit ihrer Voraussage falschliegt, das Volk werde über Balbus „Urthel hegen“. Georgios Kedrenos allerdings macht kaum einen Hehl aus seiner Genugtuung, dass Balbus mit seiner Gottlosigkeit offensichtlich an der Ruhr („δυσεντερία“) zu Tode kam.127 In der Tat zeigt Gryphius’ erstes Trauerspiel eine starke Verunsicherung hinsichtlich der irdischen Strafen Gottes: Während in den späteren Trauerspielen Catharina und Papinian dem Leser und Zuschauer noch allemal präsentiert wird, wie die Antagonisten unter dem strafenden Gewissen leiden, und im Carolus Stuardus B sogar ihre spätere Hinrichtung zur Schau gestellt wird, widerfährt Michael Balbus dramenintern keines von beidem. Gryphius’ erstes politisches Drama betont vor allen Dingen die große Bürde, die das göttliche Recht sub specie hominis darstellt: Es beansprucht oberste Geltung, droht harte und bisweilen ewige Strafen an, aber es mutet ebenso zu, Unrechtstaten Anderer zu ertragen –
127 Kedrenos: Συνοπσις Ιστοριων, S. 984: „Ὀ Μιχαὴλ δὲ […] δυσεντερίας ἁλοὺς ἀῥῥωστήματι καταστρέφει τὸν βίον, τοσούτον τῆ πολιτεία Ῥωμαίων γενόμενος κακῶν δι ἣν εἶχεν ἀσέβειαν πρὸς Θεὸν […].“ / „Michael aber starb an der Ruhr, nachdem er mit all seiner Gottlosigkeit und mit all der Pflichtvergessenheit seiner Taten dem römischen reich so viele und so große Übel bereitet hatte“ [Übers. O.B.].
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und sei es nur eine ungewisse Zeit lang. Leo Armenius ist dasjenige Trauerspiel, das am stärksten herausstellt, was göttliches Recht auch den Schuldlosen und Rechtschaffenen abverlangt, während die folgenden drei Trauerspiele am Ende immer aufzeigen werden, was das Recht ihnen verspricht.
5.2 Catharina von Georgien: Gesandtschaftsdrama und Friedenskritik, oder: Unverhandelbarkeit göttlichen Rechts Wie der Prolog des Leo Armenius nimmt auch die Leservorrede von Catharina von Georgien den vanitas-Topos auf: DJe von mir begehrete Catharine trit nunmehr auff den Schauplatz vnsers Vaterlandes / vnd stellet dir dar in jhrem Leib vnd Leiden ein vor dieser Zeit kaum erhretes Beyspiel vnaußsprechlicher Bestndigkeit“ (GdW 6, Catharina von Georgien, Leservorrede, S. 133)
Gryphius kontrastiert die Ewigkeit gegenüber „Thron / Kind / und Knigreich“ (ebd.). Sie müssen „berwunden unter jhren [sc. Catharinas] Fssen ligen“ (ebd.). Gryphius scheint den Geltungsdualismus von Diesseits und Jenseits als Rahmung des gesamten Stückes zu begreifen, schließlich besetzt dieser den Anfang und das Ende dieser Vorrede an den „Großgnstigen Leser“. Das dramatische Vorhaben, „ein vor dieser Zeit kaum erhretes Beyspiel vnaußsprechlicher Bestndkeit“ darzustellen (ebd.), leitet die Vorrede ein. Das didaktische Vorhaben, diese Beständigkeit auch eigens zu aktualisieren, schließt sie ab: „[W]ende dein Gesicht mit mir von dem was Vergnglich auff die ewigherrschende EWIGKEIT“ (ebd.). Dennoch wird es um Politik bzw. um die Ansprüche des Politischen an die Herrscherin und Christin Catharina gehen. Das Politische bzw. der Thron und das Königreich kommen nicht als Gegner der Catharina zur Darstellung, die die Königin Georgiens „bekriegen“.128 Das Politische erhebt keine umfassend säkularen und gegenüber dem Heil und den göttlichen Gesetzen gegenläufigen Ansprüche. Es ist zu zeigen, dass diese Vorstellung von den autonomen Ansprüchen des Politischen gegenüber Gott und seinen Gesetzen gerade als falsche Vorstellung
128 In diesem Sinne hält Hans Feger im Umkehrschluss ebenso treffend fest: „Gott ist ‚Herr der Zeit‘ und nicht ihr Gegner“: Hans Feger: Zeit und Angst. Gryphius’ Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937–1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 71–100, hier S. 78.
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verworfen wird – als diejenige Vorstellung des Antagonisten Chach Abbas. Im Gegenzug macht es den Anspruch einer rechten Politik aus, nicht dem reinen Pragmatismus zu verfallen: Der Geltungsdualismus von Diesseits und Ewigkeit schließt nicht aus, dass es normative Ansprüche der Ewigkeit an das irdische Handeln des Menschen gibt. Diesseits und Ewigkeit treten in eine Beziehung zu einander, für die eine verabsolutierende Dualismus-Terminologie nicht beschreibungsscharf ist. Läge ein solcher absoluter Dualismus vor, wäre Catharinas Entscheidung für oder gegen eine Heirat mit Chach Abas indifferent für ihr Heil: Gegen eine Heirat und Konversion der Catharina zum verteufelten Islam könnten so von Seiten der Ewigkeit keine Einwände erhoben werden, schließlich wären die Begriffe der Ewigkeit und der Nichtigkeit vollkommen independent. Eine falsche Dichotomie von Nichtigkeit und Ewigkeit lässt unter Zeitgenossen wie unter Interpreten bisweilen übersehen, dass Diesseits und Jenseits gerade im persistenten göttlichen Recht nicht disjunkt gedacht werden. Dass die Ewigkeit mehr gilt als das „Irdische und Nichtige“, stellt die beiden Sphären nicht dichotomisch gegenüber, sondern ordnet das Irdische der Ewigkeit unter. Das Diesseits schuldet der Ewigkeit die Einhaltung ihrer Gesetze. Nur in diesem Dependenzverhältnis trifft Gryphius’ Rede von einer „ewigherrschenden Ewigkeit“ ihren Punkt: Das irdische menschliche Verhalten, das in Catharinas Fall ein notwendig politisches ist, hat sich keine eigenen Gesetze zu geben, sondern göttliches Recht einzuhalten.
5.2.1 Beständigkeit zwischen vanitas und politischem Verhalten Auch der Auftritt der personifizierten Ewigkeit (I,1) ist geprägt von der Interdependenz von aeternitas und irdischer Rechtmäßigkeit. „Die Ewigkeit verwirft die Eitelkeit der Welt“ (ebd., Inhalt der Abhandelungen, S. 135): So lautet Gryphius’ eigene Interpretation und sie ist nicht zu bestreiten. Wohlbemerkt verwirft die Ewigkeit die Eitelkeit der Welt. Sie verwirft jedoch nicht die Welt. Schon Gryphius’ Inszenierungsanweisung offenbart ein Verständnis der Ewigkeit, das diese, so erhaben sie auch ist, nicht isoliert denkt: Der Schauplatz lieget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter etc. Vber dem Schau-Platz ffnet sich der Himmel / vnter dem Schau-Platz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel / vnd bleibet auff dem Schau-Platz stehen. (ebd., I, 1, S. 139)
Die personifizierte Ewigkeit begibt sich in eine Welt, die voll ist von den Insig nien der Geltungssucht, politisch gesprochen: der Staatssucht. Die Ewigkeit verhält sich zum Irdischen und die Bühnenszene zeigt an, dass das Irdische sich nur ebenso zur Ewigkeit verhalten muss wie zu Himmel und Hölle. Was das Irdi-
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sche einerseits hoffen darf und was ihm andererseits droht, bildet den Rahmen der Kulisse: oben der Himmel, unten die ‚Helle‘. Wie schon aus Gryphius’ Herodes-Epen bekannt ist, umfasst die Ewigkeit beide Sphären, die ewige Seligkeit genauso wie die ewige Verdammnis – ebenso wie Gott Herr des Himmels und Auftraggeber des Strafvollzugs des Teufels ist.129 Gryphius konzentriert vieles, was für den Dramenverlauf und die politische Theologie des Trauerspiels von Bedeutung sein wird, bereits in dieser allerersten Bühnenanweisung. Ein rein lutherisches Rechtfertigungsdenken ist zurückgenommen – genauso wie es schon von Melanchthon zurückgenommen worden war (2.2 und 4.4.4.3). Menschliches Handeln ist offensichtlich für den Weg in die drohende Verdammnis bzw. das erhoffte Himmelreich different. Um diesen irdischen Schauplatz ist es sichtlich schlecht bestellt, die Visualisierung der Hölle scheint nicht unverhältnismäßig pessimistisch. Dennoch ist die Bühnenszene nicht pessimistisch, denn der Weg in die Hölle ist ebenso wenig notwendig, wie die himmlische Erlösung gleichsam unmöglich wäre. Es ist daher bemerkenswert, dass die Ewigkeit, die doch eigentlich für beide jenseitige Sphären einsteht, vom Himmel aus auf die Welt kommt. Hier wird auch eine austeilende Gerechtigkeit beschworen (siehe auch 5.4.9.2). Diese iustitia distributiva wird nicht im Sinne eines materialen Naturrechts gemäß Institutionentitel De iustitia et iure angesprochen. Es geht hier nicht darum, dass es aufrichtig gelebt, der Mitmensch nicht geschädigt und jedem das Seine zugestanden werden soll.130 Dies sind bereits Gesetzesinhalte interpersonalen Handelns. Hier setzt Gryphius die iustitia distributiva vielmehr mit Blick auf den Gerechtigkeitsbegriff selbst ins Bild, wie ihn Ulpian im Digestentitel De iustitia et iure definiert: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“.131 Wie Ada NeschkeHentschke überzeugend nachweisen konnte, ist es weitgehend konfessionsübergreifender Konsens des Rechtsdenkens im siebzehnten Jahrhundert, in diesem „konstanten und ewigen Willen“ keinen anderen als denjenigen des Schöpfergottes zu sehen.132 Es war zu Ende des Leo Armenius-Kapitels bereits angekündigt worden (5.1.6): Gryphius eröffnet eine vermehrt distributive Sicht auf den Gesetzeswillen Gottes. Neben dem Strafaspekt drängt so vermehrt auch die Perspektive der Belohnung bzw. der Straffreiheit in den Fokus des Gerechtigkeitsbegriffs.
129 Nicht aber seiner Versuchungen: 4.4.3. 130 Inst. 1.1.3 (CIC 1, S. 1a): „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere.“ 131 Dig 1.1.10 (CIC 1, S. 29b). 132 Ada Neschke-Hentschke: Menschenrechte – Menschendoktrin – Natürliche Gerechtigkeit. In: Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen. Hg. von Klaus M. Girardet, Ulrich Nortmann. Wiesbaden 2005, S. 123–134, hier S. 128–132.
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Die Ewigkeit übernimmt einige Momente der gryphschen Erkenntniskritik bis in den Wortlaut hinein. Das gilt besonders für die Eitelkeitsschelte, in der Gryphius einen Vers seines Sonetts Vanitas, Vanitatum, et omnia Vanitas abermals wiederverwendet: „Was dieser baut bricht jener Morgen ein“ (GdW 6, I,1, S. 140, v. 27).133 Es ist nicht jedoch nur diese direkte Intertextualität, die Gryphius’ Finalismuskritik auch in diesen Monolog hineinträgt (4.3.1). Der Idee substantialer Formen, kraft derer Dinge, Menschen, Regimenter und menschliche Seelen gleichsam aus sich selbst heraus auf das eine Telos des Heils zulaufen, wird mit Skepsis begegnet. Sie bildet den Grundstein aller übrigen Eitelkeitsverdikte. Wenn die Ewigkeit daher zu einer differenzierten Wissenschaftskritik anhebt, gesteht sie den neuen artes, litterae und scientiae durchaus ihre Leistungen zu: Sie klassifizieren und präzisieren. An der Frage des Heils müssen sie ihrer anentelechischen Gegenstände halber jedoch notwendig scheitern: Setzt Bilder auff! durchlaufft die grosse See! Entdeckt ein wildes Land / setzt Nahmen auff den Schnee. Nennt Vfer / nennet Berg nach der Geschlechter Tittel Ja schreibet Freund vnd euch ans Monden Rand vnd Mittel! Doch glaubt dies auch darbey Daß auch biß was jhr besitzet euch noch recht bekand nicht sey Das jhr / was Ewig ist hier noch nicht habt gefunden / Daß euch nur Eitelkeit vnd Wahnwitz angebunden. (ebd., S. 141, v. 57–64)
Die Ordnung der Dinge gibt keinen Aufschluss über die Ordnung der Praxis. Die theoretische Vernunft wird autonom und gewinnt an Gewissheit und Präzision, weil sie den Anspruch, Handlungsanweisungen geben zu können, an die praktische Vernunft verliert (dazu ausführlich 5.3.1 und 5.3.5.5): „Schmuck / Bild / Metall vnd ein gelehrt Papir / Ist nichts als Sprew vnd leichter Staub vor mir“ (ebd., v. 69f. [Hervorhebung O.B.]). Die praktische Vernunft hat eine gänzlich andere Quelle ihrer Normen: „Die Throne krachen ja wenn dieser sie nicht helt / Der durch ein Wort beweget Hell vnd Welt“ (ebd., S. 139, v. 15f. [Hervorhebung O.B.]). Die Ordnung der Praxis ist nicht gebunden an eine langhin veranlagte Substanzialität der Formen. Sie wird „durch ein Wort“ geschaffen und vollzogen, d.h. durch eine göttliche Setzung der Normen zum Einen und durch ihre strafbewehrte Geltendmachung zum Anderen. Die transhumane Legislation wird Gryphius zum Carolus Stuardus hin wieder zu einem vermehrt offenbarungstheologischen Rechtsstiftungsdenken zuspitzen. Der transhumane Strafvollzug zieht
133 Vgl. GdW 1, Lissaer Sonette, VI, S. 7, v. 2: „Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein“; auch GdW 1, Sonette Das erste Buch, VIII, S. 33, v. 2.
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unabhängig von den Problemen eines concursus-Denkens134 das Interesse aller politischen Trauerspiele auf sich (4.1.1). Die Veranlassung Gottes, in die Welt einzugreifen, hat offensichtlich im menschlichen Freiheitsgeschehen seinen Grund (4.4.3.1): Man schlief nicht einmal nur auff die gesalbten Nacken Schwerdt / Beil vnd Hacken. Der Frsten heylig Blut trof durch verfluchter Hencker Hand In den ob diesem Greuel-stck entfrbten Sand. (ebd., S. 140, v. 19–22)
Hier begegnet wieder die Stärkung des Gesetzes: Mag zwar der Evangeliums charakter des göttlichen Wortes eigentlich allein heilsbringend sein, so ist sein Gesetzescharakter nichtsdestoweniger different für Verlust und Beibehaltung des Heils – noch nicht aber für seinen Gewinn! Dieses melanchthonische Rechtfertigungstheologem nimmt Gryphius dauerhaft in seine politische Theologie auf (4.4.4.3). Trotz seiner Nichtigkeit wird das Irdische als Ort der Bewährung begriffen, die der Mensch nicht scheuen darf.135 Andernfalls wäre das eminent politische Lob nicht zu plausibilisieren, das die Ewigkeit der Catharina proleptisch vorschießt: Die werthe Frstin folget mir die schon ein hher Reich erblicket / Die in den Banden frey / nicht irrdisch auff der Erd / Die stritt vnd lid fr Kirch vnd Thron vnd Herd. (ebd., S. 141, v. 82–84)
Es ist ein falscher Begriff von Heil, der die „Blinden“ glauben lässt, den Anspruch des Heils in der Welt gestillt zu sehen (ebd., S. 139, v. 5). Es wäre ein falscher Begriff von vanitas, den Anspruch des göttlichen Rechts schon in den weltverneinenden Akklamationen des Heils gestillt zu sehen. Nach der Bestimmung dieser politischen Theologie führt Gryphius endlich in die eigentliche Bühnenhandlung ein.
134 Vgl. zu einem solchen z.B. im Falle des Suárez Robert Schnepf: Concursus – theoretische Hintergründe der Auslegung von Rm. 13.1 bei Francisco Suárez. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 5), S. 127–139. 135 Vgl. Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 192.
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5.2.2 „Ein Weib / doch die geherrscht“: Politische Theologie und Gynäkokratie Es darf nicht übergangen werden, dass Andreas Gryphius’ zweites Trauerspiel eine Frau nicht nur als Titelheldin, sondern auch als Herrscherin thematisiert. In der Tat gibt es für das Paradigma der ideengeschichtlichen Genderforschung in der Catharina von Georgien Erhellendes zu entdecken, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Literaturhistorie, sondern auch mit Blick auf rechts- und anthropologiegeschichtliche Zusammenhänge. Dieses Interesse ist schon deshalb geboten, weil Gryphius’ Stoffwahl und die merklich emphatischen Worte des Lobes in der Leservorrede sich wenig vertragen mit der rundheraus ablehnenden Haltung seines Lehrers Schönborner gegen die Gynaikokratie. Um Gryphius’ Sicht auf die politische Herrschaft der Frau angemessen zu beurteilen, sind ebenjene Figurenreden aufmerksam zu verfolgen, die Aufschluss über Catharinas Souveränitätsrecht und -status geben. Über dieses Recht besteht in den Augen ihrer Gesandten Demetrius und Procopius kein Zweifel: […] Die vber vns regiret Ward fr vns in die Band’ als eine Magd gefhret? Mit Ihr zog vnser Ruhm vnd Freyheit vnd Gewin Vnd vngepochte Macht in frembdes Elend hin. (ebd., I,2, S. 142, v. 93–96)
Catharinas Regierung war bis zu ihrer Gefangensetzung 1624 unbestritten, ihre Macht unberührt („ungepocht“). Ebenso wie ihr Recht bescheinigen ihr die Gesandten politischen Erfolg, denn sie besorgte nicht nur Georgiens Freiheit, sondern auch seinen Ruhm. Catharina besaß nicht nur das göttliche Herrschaftsrecht, sie verwirklichte auch das Existenzrecht Georgiens: Die Vaterland vnd Reich durch Faust vnd Recht geschtzt / Den Strom der Tyranney mit Stahl vnd Mutt gesttzt Die jhres Frsten Mord durch dessen Tod gerochen Der Gott den Eyd / vns Trew / vnd alles Recht gebrochen Das Vlcker ja bepfhlt der durch deß Vatern Brust Ins Brudern Hertze stiß: Fraw! eurer Zeiten Lust Die Tefflis hat erquickt / Georgien ergetzet / Der Persen Reich erschreckt vnd Gurgistan entsetzet […] (ebd., v. 103–110)
Das Lob Catharinas ist nicht gering zu schätzen. Hier kommt eine Überzeugung zur Geltung, die Gryphius auch im Papinian vertreten wird: Das Völkerrecht leitet sich nicht aus Konsensbildung oder Gewohnheit her. Es zählt von seiner Stiftungsinstanz her nicht zum ius humanum, sondern stammt von Gott. Diese Auffassung vom Völkerrecht wird später auch Samuel Pufendorf vertreten: Das Völkerrecht ist lediglich Naturrecht in Ansehung von Völkern und Staaten als kollektiver Rechtspersonen (5.3.4.2). Damit wird der Druck auf den politischen
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Herrscher noch erhöht, da seine Grenzen enger gesteckt sind. Anders als im Falle eines Völkergewohnheitsrechts besitzt der Souverän keinen juridischen Gestaltungsspielraum, sondern hat sich auch außenpolitisch in den Grenzen zu bewegen, die allein Gott ihm setzt. Die Anerkennung, die Demetrius der ebenso rechtmäßigen wie tatkräftig regierenden Catharina zollt, gewinnt daher erheblich an Gewicht. Die Ablehnung der Gynäkokratie seitens Georg Schönborner ist von besonderem Interesse. In seiner Zurückweisung weiblichen Herrschaftsrechts nimmt der schlesische Reichspublizist eine bemerkenswerte Mittelstellung ein zwischen Rechtstheologie bzw. christlichem Naturrecht einerseits und profan-anthropologischen Argumentationsstrukturen andererseits ein. Schönborner hat die Staatsentstehung und die Notwendigkeit von Ordnung ganz auf theonome Grundlage gestellt, indem er das Gesolltsein der Ordnung letztlich mit ihrem Gewolltsein von Gott begründet (4.2.3.1). Die Frage jedoch, warum nur Männer, nicht aber auch Frauen das regierende Amt innehaben sollen, wird ebenso wenig theologisch wie rationalistisch beantwortet. Schönborner lehnt die politische Herrschaft der Frau grundsätzlich ab. Lediglich, wenn es Gewohnheitsrecht eines Landes ist, möchte er es zulassen. Sein politisches Denken wird hier vor allem von einer Tugendethik gerahmt, die Virtus mit Virilität gleichsetzt und damit jede vom guten Herrscher abverlangte Tugend als genuin männlich begreift. Die Frau als von Natur aus schwächeres und unklügeres Geschlecht möchte Schönborner daher vom höchsten Amt im Staat fern wissen: „In specie vero planius hoc doceri potest, quam ineptæ mulieres ad remp. Sunt enim 1. Virium expertes [...] 2. Sunt prudentiæ expertes & consilii“.136 Indem Schönborner Kraft als physische und Klugheit als psychischgeistige Realisierungsbedingungen der guten Regierung begreift und diese allein dem männlichen Geschlecht als ihm wesentliche Eigenschaften zuschreibt, versucht er die Gynäkokratie abzulehnen, ohne noch wie seine Zeitgenossen auf das Zeugnis der Heiligen Schrift zurückzugreifen. Diese hatten vordringlich auf Gen 3,16, Eph 5,22, Kol 3,18, 1 Tim 2,12 und Tit 2,4f. zurückgegriffen, vor deren Hintergrund es unmöglich erschien, dass eine Frau oberste weltliche Autorität innehaben könnte:137 Sie sei schließlich wiederum ihrem Mann Untertan, der somit
136 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 115f. 137 Gen 3,16: „[D]ein wille sol deinem Man vnterworffen sein / Vnd Er sol dein Herr sein“; Eph 5,22: „DJe Weiber seien vnterthan jren Mennern / als dem HErrn.“; Kol 3,18: „JR Weiber / seid vnterthan ewern Mennern in dem HErrn / wie sichs gebürt.“; 1 Tim 2,12: „Einem Weibe aber gestatte ich nicht das sie lere / auch nicht / das sie des Mannes Herr sey sondern stille sey.“; Tit 2,4f.: „Das sie [die alten Frauen] die jungen Weiber leren züchtig sein / jre Menner lieben / Kinder lieben / 5sittig sein / keusch / heuslich / gütig / jren Mennern vnterthan / Auff das nicht
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aut matisch zum eigentlichen weltlichen Oberhaupt wird, sobald die Königin sich mit ihm vermählt. Gerade der Titusbrief bezeichnet eine ausbleibende Unterwerfung der Frau unter den Mann ausdrücklich als gotteslästerlich.138 Solche theonomen Argumente vermag Schönborner außer Acht zu lassen, indem er in der Ablehnung der Gynäkokratie gar nicht legitimitatorisch, sondern allein zweckrational argumentiert. Die Herrschaft der Frau ist abzulehnen, nicht weil sie je schon nicht herrschen dürfte, sondern weil sie dem Zweck der Herrschaft zu genügen unfähig ist. Mit Blick auf eben dieses Telos der guten Regierung, das glückliche Leben der Bürger, verbleibt natürlich eine theonome Stütze dieser prudentiellen Erwägungen. Dieses Ziel, für dessen Erreichen sich die Androkratie besonders eignet, ist ein ausdrücklich gottgewolltes. Andreas Gryphius teilt diese Ansicht seines Mentors nicht. Genauso wenig wie er der Meinung Machiavellis folgt, dass besonders Frauen Staaten zugrunde gehen lassen, ist der Dichterjurist der Auffassung, dass sie einem Staate nicht zum Wohl gereichen könnten.139 Hinsichtlich seiner Wirkungsstätte Deutschland ist Gryphius’ Haltung allemal bemerkenswert. Zu Recht nämlich hält Barbara Becker-Cantarino fest, dass bis zur Zeit Maria Theresias Frauen im Heiligen Römischen Reich von der politischen Verantwortung ausgeschlossen bleiben.140 Dennoch ist Gryphius’ Ansicht ideengeschichtlich keineswegs ein Novum, denn schon Francisco Suárez hatte die Herrschaft des Mannes auf die Ehe- und Familienführung beschränkt und damit von der politischen Herrschaft dergestalt unterschieden, dass die Überordnung des Mannes als Ehegatte und seine gleichzeitige Unterordnung unter seine Frau als Königin keinen rechtstheoretischen Widerspruch darstellten.141
das wort Gottes verlestert werde“. Diese Stellen führt Francisco Suárez an, ohne diese Haltung zu teilen: Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 21. 8, Bd. 2, S. 30. 138 Tit 2,4f.: „Das sie [die alten Frauen] die jungen Weiber leren züchtig sein / jre Menner lieben / Kinder lieben / 5sittig sein / keusch / heuslich / gütig / jren Mennern vnterthan / Auff das nicht das wort Gottes verlestert werde.“ 139 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, III. 26, S. 462f. („Come per cagione di femine si rovina uno stato“). 140 Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500–1800). Stuttgart 1987, S. 203f. 141 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 9. 15, Bd. 1, S. 162: „Neque hic modus subiectionis viri ad uxorem est contra rationem aut contra verba Pauli, quia sub diversis rationibus et in ordine ad diversos fines fieri potest ut vir, quatenus habet potestatem iure coniugii, sit superior uxore etiam regina in his quae spectant ad usum matrimonii, gubernationem familiae, custodiam uxoris, educationem filiorum, etc.; uxor autem, quatenus regina, fit superior in ordine ad politicam gubernationem. Et iuxta haec dicendum etiam est ad secundam confirmationem virum non habere absolutam potestatem in uxorem, sed tantum in ordine ad oeconomicum regimen; unde non
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Dennoch wird Gryphius nicht zum frühen Streiter der Gleichstellung oder gar des Feminismus. Auch er bringt in den Figurenreden der Gesandten eine grundsätzliche Geringschätzung der Frau zum Ausdruck. Sie setzen sogar auf den minderen Tauschwert der Frau: Insbesondere Procopius sieht seine Hoffnung auf baldige Freilassung der Königin in dem a fortiori-Argument bestärkt, dass Chach Abas dem russischen Gesandten, „dem man bißher / so viel nicht abgeschlagen / Ein eingekerckert Weib“ wohl kaum „versagen“ werde (GdW 6, I,2, S. 143, v. 137f.). Dem widerspricht Demetrius nicht anthropologisch, sondern mit Rückverweis auf seine vormalige politisch-theologische Würdigung der Königin: „Ein Weib / doch die geherrscht vnd sein gantz Reich gekrnckt“ (ebd., v. 139). Eine natürliche Defizienz der Frau wird durchaus eingestanden. Sie ändert allerdings nichts an der legitimen Herrschaft der Catharina. Das göttliche Recht souveräner Herrschaft wird der Natur geradezu enthoben: Genauso wie im Carolus Stuardus Bischof Juxton die juridische Souveränität von den faktischen politischen Verhältnissen entkoppeln wird (5.4.7), sind in der Catharina weder Tugend (virtus) noch Macht (potestas) identisch mit Virilität. Schönborners anthropologischen Bedenken wider die Gynäkokratie begegnet Gryphius mit einer derart strikten politischen Theologie, dass von Anthropologien gänzlich abgesehen werden kann. Anders als etwa die Kulturgeschichte fürchtet die gryphsche politische Theologie weder einseitige anthropologische Zuweisungen noch „die Gefahr, sich durch die geschlechtsspezifische Relativierung in ein kategoriales Vakuum zu manövrieren“ – um Silvia Bovenschens treffende Analyse der simmelschen Philosophie der Geschlechter aufzugreifen.142 Bei einem Vertreter des siebzehnten Jahrhunderts wie Schönborner und auch in den politischen Diagnosen der Trauerspielfiguren Demetrius und Procopius bleibt allemal ein Hadern mit Bio- und Kulturanthropologien der Frau merkbar, die entweder bloß reduktiv verfahren143 oder im Ansatz zwar komplementär, aber damit nur wieder inadäquat konzipiert sind.144 Dieses Hadern ficht die politische Theologie des Gryphius nicht an: Das ius divinum auf Herrschaft gilt unmittelbar.
potest disponere ad libitum de omnibus actionibus eius, nec vota eius indiscriminatim irritare, sed tantum ea quae sibi vel suae familiae aut privato regimini praeiudicant; et ideo non oportet ut in eo casu actiones regiae potestatis uxoris a marito in rigore pendeant, quamvis ex quadam honestate debeat uxor etiam in his consilium mariti magni facere“ [Hervorhebungen O.B.]. 142 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main 1979 (Edition Suhrkamp 921), S. 142. 143 Ebd., S. 19–24. 144 Ebd., S. 24–43.
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Dies kommt nicht ohne offene Fragen aus. Das Herrschaftsrecht nimmt keinen begründungslogischen Umweg über die Natur – weder die der Frau noch die des Mannes. Daher erfährt es in dieser Natur genauso wenig ein Hindernis wie hinreichende Hilfe. Eine Lösung ist offenkundig in der praktischen Pointe der hiesigen politischen Theologie zu finden. Nicht nur das Souveränitätsrecht, sondern auch seine praktische Verwirklichung im Ausnahmezustand ist von Gott abhängig. Dementsprechend sehen sich die Gesandten hinsichtlich Catharinas Gefangenschaft genötigt, die allein verbleibende übergeordnete Instanz des Souveränitätsrechts anzurufen: „[W]ird vns der Himmel gnnen / Daß wir nach so viel Angst euch werden ehren knnen?“ (GdW 6, I,2, S. 142, v. 117f). Genauso wie das Herrschaftsrecht unmittelbar von Gott stammt, wird es unter gegebenen Umständen unmittelbar von Gott verteidigt. Es muss sich nicht langfristig manifestieren in natürlicher oder auch nur gewachsener Stärke, sondern es kann durch Gottes kurzfristigen Eingriff ‚problemorientiert‘ verteidigt werden. Als Mittel dessen können Gott dabei wiederum Menschen dienen, in diesem Falle der russische Gesandte. Natürlich wird Gryphius diesen die dramatische Katastrophe nicht verhindern lassen, was ihm gegenüber den historischen Fakten und den Gesetzen des Trauerspiels auch gar nicht freigestanden hätte. Vor allem aber wird Gryphius in den russischen Vermittlungsversuchen keine valide Lösung im Sinne politischer Theologie anbieten. Vielmehr benutzt er die Erwägung einer Lösung im Gesandtschaftswesen zur Vertiefung der politisch-theologischen Problemstellung.
5.2.3 Catharina von Georgien über die Macht des Gesandtschaftswesens Der Auftaktmonolog der Ewigkeit hat das rechtstheologische Denken des Trauerspiels genauso wie dessen rechtsmetaphysische Bedingungen nahezu abschließend umrissen (5.2.1). Die Motivationen zu rechtem Handeln, das Erkennen und Verkennen dessen, was dem göttlichen Recht gemäß ist, wird sich nahezu bündig vor dem Hintergrund dieses allerersten Aufzuges begreifen lassen. Eine analoge Funktion nimmt der zweite Aufzug der ersten Abhandlung ein: Er legt – ebenso nahezu abschließend – das politische Problem dar, auf das das göttliche Recht zu reagieren hat. Dabei beschränkt sich das Problem nicht nur auf den realpolitischen Fakt von Catharinas Gefangenschaft. Die Problematik nimmt mit Blick auf die unternommenen oder auch nur überlegten Lösungsansätze sogar zu. Im Folgenden werden die Probleme von nur bedingt verlässlichen Bündnissen (5.2.3.2) sowie von unangemessener Rechtsökonomie (5.2.3.3) unter dem speziellen Aspekt des Gesandtschaftswesens behandelt werden. Dies kann nur auf den ersten Blick verwundern. Es wird vielmehr die These aufgestellt, dass
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Gryphius das Gesandtschaftswesen und Gesandtschaftsrecht als besonderes Feld der politischen Theorie ausmacht, in welchem sich – ähnlich dem Ausnahmezustand – politisch wie juridisch gravierende Probleme allererst wirklichkeitsträchtig auftun. Es wird dabei zu zeigen sein (5.2.3.4), dass Gryphius mithilfe der Trauerspieldichtung einen blinden Fleck des Völkerrechts aufweisen wird, den auch prominente zeitgenössische Politiken und Rechtslehren nicht in den Blick oder zumindest nicht zu fassen bekommen.
5.2.3.1 Zum rechtlich einzigartigen und einsamen Status des frühneuzeitlichen Gesandten Anders als Leo Armenius, Papinian und Carolus Stuardus geht Catharina von Georgien von einem internationalen Setting aus. Damit geraten verstärkt die Gesandten in den Blick. Die politische Gesandtschaftstheorie nimmt in der Staats(rechts)lehre der Zeit eine eigene und durchaus außerordentliche Stelle ein.145 M.E. ist Alberico Gentili (1552–1608) der erste namhafte Völkerrechtslehrer, der dem Gesandtschaftswesen einen eigenen Traktat widmet, seine De Legationibus, Libri tres (1582).146 Es ist im Hinblick auf dessen Inhalt von Bedeutung, welche Zielgruppe Gentili schon in der Titelei als Leser seines Traktats anspricht: Seine drei Bücher über die Gesandtschaften seien „praecipue vero Iuris ciuilis lectu vtiles, ac maxime necessarii“.147 Gentili wendet sich nicht etwa an ‚consulti iuris gentium‘ oder an die Philosophen im Allgemeinen, die noch bis Pufendorf das Natur- und Völkerrecht in der unteren Fakultät betreiben müssen.148 Er emp-
145 Vgl. zur Gesandtschaftspraxis des zwölften bis fünfzehnten Jahrhunderts den unlängst erschienen reichhaltigen Band Claudia Zey, Claudia Märtl (Hg.): Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Zürich 2008. In den rechtshistorischen Betrachtungen kommen allerdings vordringlich die historisch geltenden und praktizierenden Normen und Formalitäten zur Sprache, weniger ihre Theoretisierung durch die zeitgenössische Rechtsphilosophie und -theologie: vgl. Harald Müller: Gesandte mit beschränkter Handlungsvollmacht. Zur Struktur und Praxis päpstlich delegierter Gerichtsbarkeit. In: ebd., S.41–65, besonders S. 60–63; Jean-Marie Moeglin: Strukturelle Aspekte der spätmittelalterlichen Diplomatie. Die Verhandlungsnormen am Anfang des Hundertjährigen Krieges. In: ebd., S. 255–275. 146 Hier wird die Hanauer Drucklegung von 1594 verwendet: Alberico Gentili: De Legationibus, Libri Tres. Omnibus omnium ordinum studiosis, praecipue vero Iuris ciuilis lectu vtiles, ac maxime necessarii. Hanau 1594. 147 Ebd., Titelei. 148 Vgl. Detlef Döring: Pufendorf-Studien. Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller. Berlin 1992 (Historische Forschungen 49), S. 41–43.
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fiehlt seinen Traktat besonders für staatsrechtliche Vorlesungen. Zwar ist das Gesandtschaftsrecht nicht nur ein Völkerrecht, sondern ein göttliches ius immutabile.149 Dennoch ist es eben deshalb von den Gelehrten weltlichen Rechts zu berücksichtigen: Zwar sind die Gesandten eigentlich Untertanen ihres verschickenden Souveräns. Dennoch genießen sie ihres Auftrags wegen eine Immunität, aufgrund derer sie im Zielstaat mehr dem dortigen Souverän ähneln. Sie fallen als einzige neben dem Souverän nicht unter das ius civile: „[E]x quo mox consequitur, delicta in legato quædam non esse, quæ in aliis sunt iuri etiam ciuili subjectis“.150 Gentili hält ausdrücklich eine Indifferenz der leges civiles fest, denn der Gesandte genießt nicht allein Straffreiheit bei restriktiven positiven Gesetzen. Vielmehr sind ihm umgekehrt genauso die „Annehmlichkeiten“ staatlicher Gesetze verschlossen, gegenüber denen das Völkerrecht vergleichsweise restriktiv ist: „Ceterum contingere quoque potest, vt, vno gentium iure censeri, minus sit commodum legato, quam si ciuili etiam censerentur. Nec enim puto pro libitu suo legatum modo refutare, modo inuocare ius ciuitatis posse“.151 Diese gleichsam geborgte Souveränität des Gesandten steht sichtlich im Zeichen seines Auftrages. Mit Blick auf diesen hebt Gentili vor allem die Vertreterschaft hervor: „[L]egatus is sit qui nō modo publice, sed publico etiā nomine, & publica induta persona missus est“.152 Als Repräsentant des öffentlichen Interesses seines Heimatstaates fungiert der Gesandte als Vertreter seines Souveräns. Die damit einhergehenden Befugnisse machen natürlich die Treue zur wichtigsten Tugend des Gesandten: Et de fide quidem ita statuimus, vt ea virtute nihil in legato illustrius, nihil magis formosum, decorumque reperiri posse existimemus. Ea virtute debet maxime abundare legatus. nā in ipsius fidem princeps se totum commisit.153
Gentili zeigt schon das Problembewusstsein, das auch Gryphius in der Catharina ausgestalten wird. Denn einerseits drückt sich in der Semantik des se committere nicht bloß ein Moment des Sich-Anvertrauens aus, sondern auch das Moment des Sich-Verbindens. Andererseits wird die Pragmatik des se committere Gentili die meisten Schwierigkeit bereiten: Der Fürst vertraut sich nicht als beliebige Rechtsperson, sondern als Fürst der Treue des Gesandten an. Damit wird das Bild des
149 Gentili: De Legationibus, II, 1, S. 61: „Hoc vero est, sicuti ego sentio diuina quadam prouidentia immutabile ius, & omnibus constitutum, gentibus etiam barbaris exceptum & manifestum.“ 150 Ebd., II, 13, S. 105. 151 Ebd. 152 Ebd., I, 2, S. 6. 153 Ebd., III, 2, S. 180.
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Sich-Verbindens weniger nur als psychologische Metaphorik triftig, sondern vielmehr auch als juristische. Die souveränitätsähnlichen Befugnisse des Gesandten ziehen obligationstheoretische, besonders aber souveränitätstheoretische Folgen nach sich: Inwieweit kann der Gesandte im Ausland eigenmächtig agieren und inwiefern ist der in der Heimat verbliebene Souverän den Verträgen verpflichtet, die er selbst weder eigenhändig ausgehandelt noch unterzeichnet hat? Gentili erweist sich hier vordringlich als Pragmatiker. Er nimmt im 17. Kapitel des dritten Buchs zwar ausdrücklich die Kraft sogenannter freier Mandate in den Blick („De liberi mandati vi“),154 und sieht deutlich die politischen Probleme, die insbesondere Blankovollmachten bereiten können („purum folium“). Auf diese Probleme weiß Gentili jedoch nur prudentiell zu antworten: „In his legatis prudentia maxima requiritur. […] His legatis habendis diligentissime incumbitur a principibus“.155 Selbst wenn Gentili das Problem auf ein illegitimes Verhalten der Gesandten zuspitzt, vermag er nur präskriptiv darüber hinwegzugehen, insofern der Gesandte solcherlei nicht darf. Gentili führt verwundernswerter Weise das Beispiel einer armenischen Gesandtschaft mit freiem Mandat an, die beim König der Parther einen Verzicht auf seine Gebietsansprüche in Armenien erzielen sollte, jedoch nur kleine Gebiete Armeniens angeboten bekam – und die Offerte dennoch annahm: Dies habe nicht nur gegen ihren Auftrag, sondern auch gegen das Gesandtschaftsrecht überhaupt verstoßen.156 Verwundernswert ist dieses Beispiel darum, weil Gentili hier in der Sache gar nicht von einem freien Mandat spricht. Sein Beispiel geht an dem von ihm selbst überschriebenen Thema vorbei oder Gentili verstrickt sich hier in einen Widerspruch: Entweder existieren freie Mandate und der Souverän ist an die geschlossenen Abkommen gebunden. Der Gesandte hat in der Tat eine souveränitätsgleiche, jedenfalls weitgehend nur seinem eigenen Gutdünken gehorchende Macht. Oder es existieren nur bedingte Mandate, die Abkommen nur unter bestimmten Konditionen abschließen und Geltung erlangen lassen. Die Zustimmung des souveränen Fürsten, auch wenn sie eine im Voraus gegebene ist, verbleibt im strengen Sinne bei ihm: Er behält sich die Handlungssouveränität, insofern er den Gesandten mit dergestalt bestimmten Befugnissen und Weisungen ausstattet, dass dieser kaum mehr etwas aushandeln kann, was der Souverän nicht will.
154 Ebd., III, 17, S. 201–206. 155 Ebd., S. 202. 156 Ebd., S. 205: „[L]ibro 30 ab Ammiano, hisque verbis traducuntur: Legatio ad Parthum missa, vt rex Armeniam non concupisceret: recta quidem & libera, ni deviasset in eo, quod absque mandatis oblatas sibi regiones in eadem Armenia suscepit exiguas. At id non contra officium modo actum ab his legatis est, […] sed in ius etiam legationis peccatum. nam hostilis ea susceptio fuit“. [Hervorhebung im Text].
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Diese Frage können auch nachfolgende Überlegungen zum Gesandtschaftswesen nicht entscheiden. Häufig genug wird sie nicht einmal gesehen, im Unterschied zu Gentili, der das Problem zwar kannte, aber es weder rechtstheoretisch zu fassen noch zu lösen vermochte. So belässt es etwa Christoph Besold in seiner Synopsis politicae doctrinae (1620; siehe 4.1.2.6) im dortigen Kapitel De legatis ganz bei der Frage des Entsendungsrechts, inwiefern also z.B. Rebellen Gesandte ausschicken dürfen. Das Problem einer in Quasi-Souveränität umschlagenden Vollmacht bleibt vollkommen ausgespart.157 Nicht besser steht es um Gryphius’ Lehrer Georg Schönborner: Auch er bespricht den Nutzen,158 die Privilegien159 und die erforderlichen Tugenden der Gesandten,160 sowie in einem eigenen Kapitel die eigentümliche Frage des Verhaltens des Gesandten innerhalb der Gesandtschaft.161 Dass dem schlesischen Reichspublizisten das systematische Problem von Vollmacht und Verbindlichkeit gesandtschaftlicher Absprachen nicht auffällt, mag schließlich daran liegen, dass Schönborner schon den Begriff der legatio libera nicht systematisch auffasst, wie es schon Gentili tat: Für ihn ist eine solche Gesandtschaft in rein zeitlichem und geographischen Sinne frei, insofern ihr Mandat weder eine Frist noch eine bestimmte Zielortschaft besitzt.162 Die (souveränitäts)rechtliche Freiheit von Gesandten kommt damit ebenso wenig in den Blick wie ihre Probleme. Dies gilt auch für den zweiten großen Vater des Völkerrechts nach Francisco de Vitoria, Hugo Grotius: Dieser unterscheidet 1631 in seinen De Jure Belli ac Pacis Libri tres zwar zwischen verpflichtenden Bündnissen (federa) und bloßen Unterhandlungen (sponsiones).163 Um Letzteres handelt es ich jedoch nur, „wo diejenigen, die in dieser Sache kein Mandat des Souveräns haben, etwas versprechen, was diesen betrifft“.164 Ein Gesandter kann allemal ein solches Mandat besitzen und damit Bündnisse aushandeln, die den König verpflichten. Für Grotius bleibt der König gerade durch das Mittel des Mandats eigentlich derjenige, der das Bündnis schließt („in regnis regum est fedus facere“).165 Grotius erörtert jedoch nicht die für Demetrius so wichtige Frage, inwie-
157 Besold: Synopse der Politik, II, 13, S. 261–264. 158 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 235–238 159 Ebd., S. 242–244. 160 Ebd., S. 238–240. 161 Ebd., S. 240f. 162 Ebd., S. 236: „Libera dicitur, non quod nullo finita sit tempore […] sed quod introire in urbem & rursus exire liberam legationem habenti liceret.“ 163 Grotius: De jure belli ac pacis, II, 15, § 3, S. 237f. 164 Ebd.: „Sponsio autem est ubi qui à potestate summa mandatum ejus rei non habent aliquid promittunt quod illam proprie tangit.“ 165 Ebd., S. 238.
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weit das vom Gesandten ausgehandelte Bündnis schon Verpflichtungskraft hat, solange es nicht nochmals vom Souverän abschließend gebilligt wurde. Offensichtlich gilt für Grotius genauso wie für Gentili das bestimmte Mandat als hinreichende Willensbekundung des Souveräns, um dessen Zustimmung zum allererst noch niederzulegenden Bündnisvertrag als notwendig gegeben anzusehen. Ebenso wenig verleitet vor allem Jean Bodins Souveränitätsbegriff Grotius zur Frage, ob besonders umfassende Mandate nicht in Souveränitätsverlust umschlagen. Die Situation um diese Fragen wird sich bis zu Gryphius’ Beschäftigung mit dem Catharina-Stoff nicht verbessern. Im Gegenteil wird noch 1660 Hermann Conring in einer umfangreichen Disputatio Politica de Legatis den Respondenten Haro Antonius Bolmeier auf diese Frage keine rechtlichen Antworten finden lassen: Zwar wird das probleminduzierende Moment wahrgenommen, dass der Gesandte der Repräsentant und sogar Vize des Herrschers ist: „Legatus […] Domini personam repræsentat, ejusque vices gerit“.166 Die Abkünftigkeit der Vollmachten jedoch wird nur formell geklärt, insofern sie schriftlich ergehen müsse.167 Den dennoch statthabenden rechtslogischen Folgen wird lediglich mit der bekannten Anrufung der Tugend der Gesandten beizukommen versucht.168 Andreas Gryphius nimmt sich in seiner Catharina von Georgien also einer Materie an, in der noch Klärungsbedarf besteht. Der Dichterjurist hat die souveränitätsrechtliche Problematik gesandtschaftlicher Befugnisse dabei umso schärfer im Blick, da er von der gegenseitigen Warte her die behauptete Macht der Gesandten anzweifelt. Ausgerechnet den georgischen Gesandten Demetrius lässt er der gesandtschaftlichen Politik denkbar schlechte Karten bescheinigen: Der zweifelt „gantz nicht an der Trew’“ des russischen Gesandten (GdW 6, I,2, S. 143, v. 155).169 Diese in allen genannten Traktaten so dringlich hervorgehobene Tugend wird beim russischen Kollegen mitnichten in Zweifel gestellt. Jedoch zweifelt Demetrius „viel an seiner Macht“ (ebd.) und bringt damit den entscheidenden Unterschied zwischen Treue und Macht zur Geltung. Hatte die gesandtschaftspolitische Traktatistik die fides legati ins Zentrum ihrer Probleme und Lösungen gestellt, so weist Demetrius auf ihre rechtlich wie politisch bloß marginale Rolle hin. Macht
166 Haro Antonius Bolmeier: Disputatio Politica de Legatis Qvam D.O.M.A. Praeside Clarissimo et Amplissimo Viro Hermanno Conringio Phil. & Med. Doctore ac Professore celeberrimo &c. Praeceptore suo semper colendo. In illustri Academia Julia ventilandam ehibet. Haro Antonius Bolmeier. Die XXIII. Debem. Helmstädt 1660, § XLIV [nicht paginiert; Hervorhebung O.B.]. 167 Ebd., § XLV: „Etsi Plenipotentariis non possint aut debeant agenda omnia præscribi, illa tamen libera agendi potestas necessum est scripto sit commissa.“ 168 Ebd., § XLIIX. 169 GdW 6, Catharina von Georgien, I,2, S. 143, v. 155.
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meint an dieser Stelle seiner Figurenrede durchaus beides: die rechtliche Machtbefugnis (licentia, potestas) und die realpolitische Wirkmacht (vis coerciva). Im Falle der Catharina bzw. ihrer Gesandten Demetrius und Procopius liegen die Verhältnisse von politischem Rang und konzedierter (Bewegungs)Freiheit eigentümlich über Kreuz: Sie hat zwar die juridische Machtbefugnis (potestas, licentia), dennoch mangelt ihr augenblicklich gerade an der politischen Gewalt (vis coerciva), um erstere geltend zu machen. Ihre Gesandten hingegen genießen eine Freiheit, die sie in Ermangelung souveränen Ranges kaum wirksam für die Person einsetzen können, die der Theorie nach mit aller realen Macht hinter ihnen stehen sollte. Diese situative Kontrafaktizität von juridischer und faktischer Macht stellt ersichtlich ein Dilemma dar. Deshalb wird die Hoffnung früh – außer auf Gott – auch auf den russischen Gesandten gesetzt, insofern Procopius diesen als Hilfsinstrument Gottes ansieht (5.2.2). Der Gesandte des Zaren hatte Catharinas Sohn Tamaras versprochen, sich mit Nachdruck für Catharinas Freilassung einzusetzen und „nach Moßkaw nicht zu dencken / Eh aller Fleiß versucht ob Abas sey zu lencken“ (ebd., v. 129f.). Die Bedenken des Zweiflers Demetrius gegenüber dem Optimisten Procopius betreffen dabei Chach Abas genauso wie den russischen Gesandten selbst. Gleichsam aus einer dramatisierten Innenperspektive des Gesandtschaftswesens gibt Gryphius seinem Leser eine Kritik desselben. Demetrius’ Zweifel an einer ‚Lenkbarkeit‘ des Chach Abas haben ihren naheliegendsten Aspekt in dessen offensichtlich bekannter Sturheit: „Wie lang’ hat Tamaras Sie nun umbsonst begehret?“ (ebd., v. 145). Demgegenüber sind die Zweifel an der Verlässlichkeit der russischen Hilfe ungleich komplexer.
5.2.3.2 Zur Macht von Bündnissen Demetrius und Procopius diskutieren zunächst die politische Wirkmacht potenter Verbündeter. Procopius erinnert daran, dass Tamaras „seine Bitt außdrckt durch eine grsser Cron“ (ebd., v. 148). In dieser Phase des Gesprächs operiert keineswegs nur Procopius mit machiavellisch inspirierten Argumenten. Hinsichtlich seines Vertrauens auf die „grsser Cron“ Russlands ist auf Machiavellis grundsätzliche Bedenken gegen Bündnispolitik hinzuweisen. Denn für den Fiorentiner Staatstheoretiker ist es zum Einen „nicht klug, ein Bündnis mit einem Staatsoberhaupt abzuschließen, das mehr den Ruf der Macht als tatsächliche Macht besitzt“.170 Diese Bedenken haben a fortiori bei Versprechen zu gelten, die nicht einmal dem Souverän, sondern einem Gesandten abgewonnen werden. Zum
170 Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, II,11, S. 256f. („Non è partito pru-
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Anderen hält Machiavelli erst recht einen mächtigen Bündnispartner für machtpolitisch fatal, denn gerade im Erfolgsfall ist man nunmehr dessen „Gefangener“: „Solche Truppen können für ihren Eigentümer gut und nützlich sein, aber dem, der sie ruft, bringen sie fast immer Schaden; unterliegen sie nämlich, so bist du verloren, siegen sie hingegen, so bist du ihr Gefangener“.171 Es ist also Demetrius, der im folgenden Machiavellis prinzipielle Infragestellung von Bündnispolitik teilt, während Procopius auf „der Reussen strck / im fall jhr Gri erwacht“ zählt (GdW 6, I,2, S. 143, v. 145). Dabei ist entscheidend, dass auch der tendenziell optimistische Procopius keineswegs nur eine gütliche Lösung im Blick hat. Auch er behält für seine Argumentation einen potenziellen kriegerischen Konflikt systematisch im Auge. Die diplomatische Vermittlung der Russen gegenüber Persien besteht letztlich in einer militärischen Drohgebärde, ohne die sie keinerlei Druckmittel besäße. Die zweimalige Bezeichnung der russischen Vermittlung als Bitte (ebd., v. 135, v. 148) ist gegenüber dem erhofften Wesen dieser Vermittlung stark untertrieben: In der Sache wird nie von einem unverbindlichen Bitten gesprochen, sondern stets von einem verbindenden Fordern. Demetrius hingegen bezweifelt schon aufgrund des skizzierten Konsens’ von der Minderwertigkeit der Frau (5.2.2), ob Russland um Catharina willen einen Krieg riskiert. Vor allem hält er es für ausgemacht, dass Chach Abas selbst genau das erkennt: „Chach weiß daß Reussen nicht vmb eine Fraw wird kmpffen“ (ebd., v. 157). Wenn die tatsächliche Risiko- und Konfliktbereitschaft Russlands als unwahrscheinlich gelten darf, so entbehrt das Versprechen, das Russland Persien abgewinnen soll, derjenigen Verpflichtungskraft, derer eine Absicherung des Versprechens bedarf. Dass nämlich Versprechen keinesfalls lose sind, sondern eine Verpflichtungskraft genauso wie ein Zwangsrecht generieren, ist von Hugo Grotius zu einer der entscheidenden Grundlagen funktionierender Rechtshändel im Völkerrecht gemacht worden. François de Connan hatte in seinen besonders im sechzehnten Jahrhundert weit verbreiteten Commentariorum iuris civilis libri X172 noch die Auffassung vertreten, dass „alle Verträge, die
dente fare amicizia con uno principe che abbia piú opinione che forze“). Übers. nach Zorn: ders.: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, S. 203f. 171 Ders.: Il Principe, XIII, S. 104/105: „Queste arme possono essere utile e buone per loro medesime, ma sono, per chi le chiama, quasi sempre dannose; perché, perdendo, rimani disfatto : vincendo, resti loro prigione“; vgl. Erica Benner: Das eigene Heer und die virtù (Kap. 12–14). In: Niccolo Machiavelli – Der Fürst. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2012 (Klassiker Auslegen 50), S. 69–88, hier S. 77f. 172 François de Connan: Commentariorum Iuris Ciuilis libri X. Paris 1553. Der in dieser Erstausgabe 1128 Seiten starke Traktat erfuhr einer Recherche im Karlsruher Virtuellen Katalog zufolge
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keine Vertauschung enthalten, keine Verbindlichkeit begründen“.173 Grotius hingegen unternahm nicht allein den Nachweis, dass das von vernunftbegabten Personen getätigte Versprechen eine „moralische Notwendigkeit“ darstellt. Er ordnet den Vertrag als Art überhaupt dem Versprechen als Gattung unter. Mithin liest er Ciceros De officiis dahingehend, dass Versprechen und Worthalten die Grundlage aller Gerechtigkeit bilden.174 Demetrius fürchtet des Weiteren eine diplomatisch-militärische Patt-Situation zwischen Persien und Russland: Proc. Wer sich vor Brand entsetzt muß auch die Funcken dmpffen. Wer Krig fleucht gibt dem Feind nicht Vrsach an die Hand. Dem. Wer sich versichert will / hlt fest ob seinem Pfand. (GdW 6, I,2, S. 143f., v. 158–160)
In der befürchteten Reaktion Chach Abas’ auf eine übermächtige militärische Drohung Russlands könnte die erhoffte Befreiung Catharinas in ihr Gegenteil umschlagen: Statt sich ihrer und des russischen Drucks zu begeben, könnte Abas sie ebenso umgekehrt als Geisel behalten. Nicht das erste Mal begegnet dem Leser bei Gryphius die augenscheinliche Indifferenz menschlicher politischer Mittel zur Geltendmachung göttlich-rechtlicher Ansprüche.
5.2.3.3 Die Labilität von Bündnissen: Zur Macht des Geldes Eine weitere Befürchtung des Demetrius gilt der Labilität von Bündnissen und Versprechen, die ihm besonders unter ökonomischen Gesichtspunkten zu bestehen scheint: Dem. Ist Reussen denn so viel an vnserm Heil gelegen? Proc. Was bringt durch Gaben man bey Frsten nicht zu wegē? Dem. Gunst durch Geschenck erkaufft fllt durch Geschencke hin. (ebd., S. 143, v. 149–151)
Es kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden, ob entweder Procopius in seiner Antwort von solchen Geschenken spricht, die Tamaras den Russen macht, um sie für ihre Hilfeleistung zu entschädigen. Demetrius befürchtete in diesem
weitere Ausgaben 1558 in Paris, 1557 und 1562 in Basel, 1566 in London, 1609 und 1610 in Hanau und 1724 in Neapel. 173 Grotius: De jure belli ac pacis, II,11,1, S. 194: „PErduxit nos ordo ad obligationem quæ ex promisso oritur : ubi statim se nobis objicit vir eruditionis minime vulgaris Franciscus Connanus. Is enim hanc defendeit sententiam, jure naturæ ac gentium ea pacta quæ non habent συναλλαγμα nullam inducer obligationem.“ 174 Ebd., II,11,1, S. 196: „M. autem Tullius in officiis tantam promissis vim tribuit, ut fundamentum justitiæ fidem appellet […].“
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Falle, dass die georgischen Geschenke ihre Wirkung verlieren könnten, sobald Chach Abas diese an Umfang und Wert übertrifft, um Russland von seinen Forderungen abzubringen. Oder Procopius spricht von denjenigen Geschenken, die laut Claude Malingre der russische Gesandte dem Chach Abas mitbrachte, um sich für Catharinas Freilassung einzusetzen.175 In diesem Falle zielte in Demetrius’ vorhergehender Frage, „[i]st Reussen denn so viel an vnserm Heil gelegen?“, das Wort soviel nicht auf den angezielten Nutzen, sondern auf die Mittel, die Russland aufzubringen gewillt ist. Seine folgende Entgegnung auf Procopius wäre dann so zu verstehen, dass Russland mit seinen Geschenken nur solange bei Chach Abas Abhilfe für Catharina schaffen kann, wie nicht von dritter Seite seine Geschenke übertroffen werden. So sehr die Quelle Malingre für diese letzte Lesart spricht, so unbeantwortet bleibt die Frage, wer von dritter Seite an Catharinas Gefangensetzung interessiert sei. Für beide Fälle jedoch gilt ein grundsätzlich ökonomisches Denken über internationale Beziehungen: Es gebe im Naturzustand letztlich keinen Vertrag, weder zwischen Russland und Georgien, noch zwischen Russland und Persien, der ein verpflichtendes rechtsförmiges Verhältnis begründete. Stattdessen gebe es nur eine „durch Gaben“ erworbene „Gunst“. Demetrius erkennt den Makel einer solchen ökonomischen Bündnisbasis: „Gunst durch Geschenk erkaufft fllt durch Geschenke hin“. Die Eigengesetzlichkeit des Wettbewerbs von Angebot und Nachfrage ist von einer Gradualität von Objekt und Preis gekennzeichnet. Schon dadurch ist ein ökonomischer Handlungsansatz inkommensurabel mit dem eigentlichen Anliegen Georgiens: Das Gemeinwohl („unser Heil“) ist Telos des Staats, sein Mittel ist das Recht. Dieses ist von den Strukturen ökonomischer Kausalitäten grundverschieden. Um das Recht gibt es keinen Wettbewerb von Mehr oder Weniger, sondern ein kategorisches Verhältnis von Recht und Unrecht. Der Erfolg des Versuchs, durch Ökonomie Recht geltend zu machen, muss kontingent bleiben. Dieser Versuch wird nicht nur von der Möglichkeit des Ausbleibens des Erfolgs bedroht, sondern mehr noch vom Risiko seines Gegenteils, wenn nämlich durch Ökonomie Unrecht begangen wird. Wenn Georgien vordergründig kein anderer Versuch bleibt, wird besonders deutlich, dass nur ein
175 Claude Malingre: Histoires tragiques de nostre temps. Dans lesqvelles se voyent plusieurs belles maximes d’Estat, & quantité d’exemples fort memorables, de constance, de corage, de generosité, de regrets, & repentances. Rouen 1641, S. 521f.: „En fin vn iour passant par là vn Ambassadeur, que l’Empereur de Moscouie enuoyoit au Roi de Perse, auec vn train superbe, & de riches presens, Tamaras Can pratiqua ceste belle occasion, & pria cét Ambassadeur de demāder au Roy la deliurance de sa mere.“
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schlüssiges System internationalen Rechts einen sicheren Boden bieten kann, auf dessen Grundlage Catharinas Freilassung rechtsbewehrt erzwungen und nicht finanzstark erkauft werden müsste. Allerdings zweifeln beide georgische Gesandte am Bestehen oder zumindest an der Durchsetzbarkeit eines solchen Völkerrechts. Die erste Abhandlung der Catharina stellt daher auch nichts Geringeres als die Geltung des ius gentium in Frage und damit auch die Geltung des Naturrechts. Schlimmer noch: Wenn es um die Realisierung rechtlicher Ansprüche geht – denn schließlich befinden Demetrius wie Procopius Catharinas Herrschaft für legitim –, kommt eine rechtspolitische Lösung zunächst gar nicht zur Sprache. Die Geltendmachung göttlichen Rechts durch seine Stiftungsinstanz wird nicht Erwägung gezogen. Die Hoffnungen, die hingegen auf den russischen Gesandten gesetzt werden, sind einerseits denkbar groß: Er ist für Procopius nichts weniger als Gottes Mittel, Catharina zu befreien, er ist „[d]ie Schlssel dieser Kett’“ (ebd., v. 124). Andererseits hat vor allem Demetrius entscheidende Zweifel an der Durchschlagskraft dieser Hoffnung geäußert. Procopius’ abschließende Frage trifft daher nicht den Punkt von Demetrius’ Einwänden: „Zweifelt jhr an deß Gesandten Treue?“ (ebd., v. 154). Gegenüber den Einwänden, die äußere interpersonale Handlungen betreffen, verfehlt die Gegenfrage nach der inneren intrapersonalen Haltung der Treue schlicht das Problem. Daher muss Demetrius seine detaillierten Einwände in seinem bereits genannten Resümee auf den Begriff bringen: „Gantz nicht an seiner Trew’ / vnd viel an seiner Macht“ (ebd., v. 155).
5.2.3.4 Dissimulation und Transformation: Gesandtschaftswesen als nützliche und gefährliche Kunst Wenn bereits eine augenscheinliche Indifferenz menschlicher politischer Mittel zur Geltendmachung rechtlicher Ansprüche festgestellt wurde, so ist eine Kritik Gryphius’ am Gesandtschaftswesen gegeben, die als weitaus allgemeiner zu begreifen ist als in ihren bloßen Details. Es wurden Probleme der Verbindlichkeit des Versprechens Russlands gegenüber Georgien angesprochen und, inwiefern sie durch ein verstärkt rechtsökonomisches Denken in Gefahr geraten kann. Das Versprechen bzw. der Vertrag, den der russische Gesandte dem Chach Abas abringen soll, ist ebenso schon berührt worden und wird im Folgenden noch eingehender beleuchtet werden. Blickt man nunmehr zurück auf die Auffassung von Catharinas Herrschaftsrecht (5.2.2), so wird deutlich, dass nicht allein Procopius’ Rede von einer Bitte der georgischen Angelegenheit unangemessen ist. In jurisprudentieller Perspektive ist auch die anvisierte vertragliche Lösung inadäquat. Gryphius präsentiert dem kundigen Leser in I,2 eine zum Teil konfuse Diskussion, in der das Wort Bitte
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verwendet, von einem Tauschgeschäft gesprochen, aber rechtliche Forderungen gestellt werden. Vertrag und Recht haben vordergründig identische Ziele und erscheinen deshalb zunächst als kommensurabel. Daher streben die Gesandten eben den Abschluss eines Vertrages zur Gewährleistung eines Rechts an: „[W]enn wir nur erhalten den Gewin!“, ist dabei die von Procopius ausgegebene Maxime (ebd., v. 152). Mit dieser augenscheinlichen Kommensurabilität wird die Tätigkeit des Gesandten von einer unangemessenen Ästhetisierung geprägt. Sie lässt als vertragliche Symmetrie wahrnehmen, was eigentlich ein rechtliches Ungleichgewicht ist.176 Die Intention dieser Mittelanwendung ist nicht schwer zu durchschauen: Im Gewand der Absprache bzw. des Vertrags wird die Klage rhetorisch seiner konfrontativen Wirkung benommen; Chach Abas fühlt sich so nicht als Beklagter in einer asymmetrischen Relation von Recht und Unrecht behandelt, sondern als Partner einer symmetrischen Vertragssituation. So wie sich im dritten Trauerspiel des Gryphius der Titelheld Papinian aufgefordert sieht, eine unrechtmäßige politische Handlung zu beschönigen (5.3.5.5), wird hier in einer frühmodernen Form des Understatements ein Rechtszwang zur Vertragsfreiheit geschönt. Da die hiesige dissimulatio anders als im Papinian gerade Recht geltend zu machen versucht, statt es zu brechen, ist es im Sinne lipsianischer prudentia mixta durchaus legitim. Zudem stellt ein Vertrag kein für sich schlechtes, sondern lediglich ein gegenüber dem natürlichen Rechtsanspruch wesensfremdes Mittel dar.177 Gryphius versucht mit dem folgenden Trauerspielverlauf immer auch den deutlichen Makel dieses Verständnisses einzukreisen. Die Identität der Ziele von Catharinas Herrschaftsrecht und dem russisch-persischen Vertrag besteht nur vordergründig: Der Vertrag, den der Gesandte mit Abas abschließen wird, hat Catharinas Freilassung zum Ziel. Ihr Herrschaftsrecht hat ihre Freiheit zum Ziel, damit aber auch die Ahndung desjenigen, der dieses Recht bricht und ihre Freiheit ohne rechtmäßigen Grund beschränkt.
176 Vgl. Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen, S. 81–97. 177 Vgl. zur prudentia mixta als zweckorientierter Legitimationsstrategie besonders widergesetzlicher Mittel Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status, S. 67; ders.: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 235; Christoph Deupmann: Philosophie und Jurisprudenz. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München, Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 100–123, hier S. 122.
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5.2.4 Der Vertrag als Mittel des Rechts? Kritik an einem Trugschluss Diese Problematik lässt Gryphius natürlich besonders im Gespräch zwischen Chach Abas und dem russischen Gesandten hervortreten. In ihren besonderen Details wird sie noch entscheidend vertieft (II,2). Schon mit diesem ersten persönlichen Auftritt des Gesandten wird deutlich, dass Russland ein originäres, d.h. von der georgischen causa unabhängiges Interesse am Vertrag mit Persien hat. Dass der Gesandte den anstehenden Friedensschluss mit Persien als den „hchstgewndtschten Tag“, als den „offtbegehrten Tag“ bezeichnet (GdW 6, II,3, S. 169, v. 133 und v. 135), erschöpft sich nicht in einer reinen Formelhaftigkeit „höfischer Rede, wie sie gegenüber höchsten Potentaten vorgeschrieben ist“:178 Der zeitgenössische Leser wird sich weder von der rhetorischen Wirkung solcher captationes benevolentiae noch von Procopius’ vormaliger Betonung der „grsser Kron“ Russlands und der „Reussen strck“ unmäßig irritieren lassen. Das Russland Zar Michails I. hat in seinen Konflikten mit Schweden und Polen-Litauen Reibungsverluste erlitten, die es durch einen russisch-persischen Friedensschluss zu kompensieren hoffte (5.2.4.2).
5.2.4.1 Vertrag, Bürgschaft – Recht? Zur russischen Initiative für Catharinas Freilassung Die russischen Versicherungen der Bündnistreue werden vom Gesandten natürlich deshalb schon in der Anrede ausgesprochen, um Chach Abas wohlgesonnen für die nunmehr folgende Bitte zu stimmen, Catharina freizulassen (GdW 6, II,3, S. 170, v. 157–172.). Allerdings beweist bereits dies, dass der Bündnisvertrag für die Freilassung eingesetzt wird und diese somit zur Vertragssache wird, statt selbst noch eine Rechtsangelegenheit zu sein. Der russische Gesandte bringt diese Intention eigens zum Ausdruck: […] Es sey; daß Sie verletzt Den der sie jtzt noch strafft daß sie sich widersetzt Der hhern Majestet wir suchen nicht zu rechten / Vil minder jhre Schuld weitlufftig zu verfechten / Czar bildet fest’ jhm ein daß Abas mehr verzeih’ Als eine Fraw verwrckt; wie schuldig sie auch sey. (ebd., v. 163–168)
Die Rechtsfrage soll ausdrücklich unberührt bleiben: Das Befreiungsgesuch ergeht ausdrücklich, „wie schuldig sie auch sey“. Diese Erklärung der juristi-
178 So Mannack: Kommentar, S. 945.
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schen Indifferenz ist integraler Bestandteil des russischen Versprechens, denn offensichtlich soll allererst sie Chach Abas die Freilassung schmackhaft machen. Es ist kein Zweifel, dass der Gesandte damit implizit die eigentliche Schuld Persiens als Argument einsetzt sowie das genaue Bewusstsein der Perser um diese. Dennoch stellt dieses russische Angebot weder eine völkerrechtliche Amnestie oder Begnadigung dar, schließlich setzte beides das Unrecht des Betreffenden – in diesem Falle Persiens – voraus und höbe den Schuldspruch ausdrücklich nicht auf. Gerade von einem Schuldspruch soll hier gänzlich abgesehen werden: „[W]ir suchen nicht zu rechten“. Russland verhält sich gegenüber Catharinas vorgeblicher Schuld bzw. ihrem tatsächlichen Recht retrospektiv indifferent. Stattdessen tritt Russland prospektiv als Bürge ein: „Er [sc. der Zar] wo man Brgen heischt brgt knfftig fr Verbrechen / Die sie verschweren sol […]“ (ebd., v. 169f.). Dabei ist von nicht geringem Gewicht, dass die russische Krone bei dieser Bürgschaft bereits in Vorleistung zu gehen verspricht. Diese Vorleistung besteht einmal im zugesicherten Frieden, ein andermal in der ausdrücklichen Zusicherung, weitere Wünsche des Chach Abas zu erfüllen: „[D]a Czar auch anzusprechen / Durchlauchtigster Monarch vmb etwas das jhr sucht; / Versichert euch diß fest / jhr sucht nicht sonder frucht“ (ebd., v. 170–172). Mit seiner Bürgschaft sowie dem damit verbundenen Vorleistungsversprechen sucht Russland eine Legalzession zu erwirken: Die Ansprüche, die seitens Persien gegen Catharina bestehen, werden von Russland ‚beglichen‘. Sie sind damit jedoch keineswegs für Georgien getilgt oder erlassen, sondern gehen auf Russland über.179 Seit Justinian ist der Gedanke einer cessio legis, der Übertragbarkeit rechtlicher Ansprüche, durch das Mittelalter hindurch bis in die Frühe Neuzeit tradiert worden.180 Ist eine Bürgschaft per se eine einseitig verpflichtende Erklärung, so gibt Russland diese Erklärung hier ohne Zweifel unter Bedingungen ab, die wiederum Chach verpflichten: Catharina ist freizulassen. Die russische Bürgschaftserklärung ist daher nur Teil eines übergeordneten Vertrags zwischen Russland und Persien. In dessen Rahmen erwirbt Russland in der Tat Zwangsrechte gegen Persien, um Catharinas Freiheit vertragspflichtig einzuklagen. Wäre die körperliche Bewegungsfreiheit Catharinas allein das Ziel, wäre die russische Initiative
179 Vgl. Katharina von Koppenfels-Spies: Die cessio legis. Tübingen 2006 (Jus privatum 106), S. 38. 180 Vgl. Ebd., S. 40; Klaus Luig: Zur Geschichte der Zessionslehre. Köln 1966 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 10), S. 6–9; schon Georg Buch: Die Übertragbarkeit von Forderungen im deutschen mittelalterlichen Recht. Breslau 1912, S. 60–62.
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ganz auf der Höhe ihrer Zeit. Als genannter François Connan 1553 die Vorstellung einer naturalis obligatio ex pacto ablehnt, bewegt er sich bereits entgegen eines Trends (5.2.3.2). Die von Baldus de Ubaldis behauptete Uneinklagbarkeit von Verträgen bereitete besonders mit Blick auf die Entwicklung des internationalen Handels zunehmend Probleme. Für den Gedanken einer natürlichen Verpflichtung von Verträgen finden sich schon seit dem Humanismus Vertreter durch alle Nationen und alle konfessionellen und politischen Lager hindurch, unter anderem der Katholik Andrea Alciato und der monarchomachische Calvinist François Hotman.181 Hugo Grotius konnte sich also in seiner Wendung gegen Connan auf eine bereits namhafte, breite und etablierte Tradition stützen.182 Er befreite den Vertrag nunmehr von der Hauptbedingung der förmlichen Einverständniserklärung (stipulatio), um ihn vordringlich an die Bedingung des Vernunftgebrauchs zu binden.183 Aber auch aus dieser Perspektive lässt sich Catharinas originäres Recht auf Herrschaft nicht verteidigen. Versprechen stellen eine Verpflichtung erst durch ihre Abgabe her, Verträge stellen sie erst durch ihren Abschluss her und sind in diesem Sinne rechtsbegründend: Sie generieren zwei subjektive Rechte auf das wechselseitig Versprochene. Dieses war zuvor lediglich Gegenstand eines individuellen Interesses gewesen, nicht aber schon ein Rechtsgegenstand. Diese subjektiven Rechte werden naturrechtlich allein durch das Prinzip des pacta sunt servanda abgesichert.184 Um ein bloßes Interesse geht es im Falle der gefangenen Catharina jedoch nicht. Es geht um ein allen interpersonalen Absprachen enthobenes Herrschaftsrecht Catharinas. Um ein solches objektives Recht zu brechen, fehlte Chach Abas eine justa causa und er ist ebenso wenig berechtigt, über dieses Recht mittels seiner Heiratsofferte zu verfügen. Mit Blick auf diese göttliche Rechtslage hätte der Gesandte bei Abas nicht eigentlich eine Bitte vorzubringen, sondern eine Klage zu erheben. Das Mittel des Versprechens bzw. des Vertrages krankt seiner Form nach schon daran, dass es Rechte erst herstellen will, die eigentlich je schon Bestand haben.
181 Vgl. Klaus-Peter Nanz: Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert. München 1985 (Beiträge zur neueren Privatrechtsgeschichte 9), S. 66. 182 Dabei setzte er sich wiederum besonders mit Luis de Molina und Leonhardus Lessius auseinander: vgl. Malte Diesselhorst: Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen. Köln u.a. 1959 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 6), S. 31–34 und S. 44–55. 183 Grotius: De jure belli ac pacis, II,11, 4f., S. 197 : „Sed quæ ad perfectæ promissionis vim requirantur videamus. Primum requiritur usus rationis: ideo & furiosi, & amentis, & infantis nulla est promissio.“ 184 Vgl. z.B. Pufendorf: De jure naturae et gentium, III. 4. § 2, S. 256f.
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Besonders fatal ist jedoch die völkerrechtsjuristische Indifferenz Russlands gegenüber Persien, und zwar deshalb, weil sie nicht eine ebensolche Indifferenz Persiens gegenüber der behaupteten Schuld Catharinas und Georgiens zur Folge hat. Im Gegenteil bleibt die persische Schuldzuweisung an die gefangene Königin ausdrücklich unberührt, womit deren Freilassung durchaus als Akt der Gnade und nicht des Rechts erginge: Es gibt seit jeher kein objektives Recht auf Begnadigung, sondern dieses liegt als einseitig subjektives Recht stets bei dem, der sie erteilt.185 Gryphius zeigt hier durchaus schon ein Bewusstsein für die rechtlich schlechten Aspekte der Begnadigung, wie sie später Immanuel Kant auf den Punkt bringen wird, wenn er dem ius aggratiandi den eigentlichen Rechtscharakter abspricht und es zugleich als das schlüpfrigste und doch einzige ‚Recht‘ bezeichnen wird, „was den Namen des Majestätsrechts verdient“.186 Auf Seiten Georgiens gäbe es weder einen Rechtsbehelf gegen eine Nichterteilung der Gnade noch überführte die Gnade gar Chach Abas seines Unrechts, Catharina unrechtmäßig gefangen genommen zu haben. Anstatt Catharinas verletztes Recht zu verteidigen, wird sie im Gegenteil zusätzlich in die Pflicht genommen: In ihrer Freiheit stünde sie gegenüber dem gnädigen Persien noch genauso in der Schuld wie gegenüber ihrem Befreier Russland. Diese Freiheit ist damit nur eine körperliche Bewegungsfreiheit. Ihre rechtliche Unfreiheit bleibt bestehen unter der Aufrechterhaltung ihrer falschen Schuld. Das an Catharina verübte Unrecht, die Beraubung ihres Souveränitätsrechts, wird also nur perpetuiert. Die Erhärtung ihres Rechtsverlusts bleibt vom politischen Wohlwollen, mit dem Russland Georgien begegnet, unberührt. Im Lichte Hugo Grotius’, der Bündnisse danach unterscheidet, ob sie nur dasjenige herstellen, was ohnehin natürlichen Rechts ist, bzw. ob sie diesem etwas hinzufügen,187 ist die Rechtmäßigkeit des russisch-persischen Bündnisses also durchaus in Frage zu stellen: Es stellt bezüglich Catharina ein binationales Abkommen her, das gegenüber dem Naturrecht nicht etwa additiv ist, sondern gegen dieses verstößt. Die politische Initiative Russlands ist schon im Ansatz grundfalsch, indem sie als Vertragsgegenstand zu regeln sucht, was tatsächlich ein Rechtsbruch ist. Inwiefern „das Recht auf Bürgschaft der älteste Garant der
185 Siehe hierzu den kurzen, aber prägnanten Abriss bei Hansgeorg Birkhoff, Michael Lemke: Gnadenrecht. Ein Handbuch. München 2013, S. 1–5. 186 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, AA VI 3379–20 (Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Kant’s Werke. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 6. Berlin 1907, S. 203–493). 187 Grotius: De jure belli ac pacis, II,15,5, S. 239: „At nobis accuratius instituenda partitio est, ut primum dicamus federa alia idem constituere quod juris est naturalis, alia aliquid ei adjicere.“
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persönlichen Freiheit war – und nicht § 39 der Magna Charta[188]“,189 mag schwer einleuchten. Andreas Gryphius war sich des Unterschieds zwischen dem Besitz eines Rechts und der bloßen Duldung bzw. konzessiven Einräumung von allein körperlicher Bewegungsfreiheit sehr wohl bewusst. Er lernte diese Distinktion nicht allein in Academia kennen, sondern brachte ihn auch in praxi zur Geltung, wie seine Edition der Glogauisches Fürstenthumbs Landes Privilegia zeigte (4.1.5.3). Catharinas Souveränitätsrecht ist schon gebrochen worden, indem sie unrechtmäßig gefangen gesetzt wurde. Wenn der Vertrag zwischen Russland und Persien gebrochen wird, wäre gemäß dem naturrechtlich relevanten pacta sunt servanda nur Russland der Geschädigte, nicht aber Catharina. Die verkürzte Überführung einer Rechtsforderung in einen Vertrag lässt nicht nur Chach Abas’ Unrecht außer Acht, sondern er tilgt auch Catharinas Status als Rechtssubjekt. Die Dissimulation eines Rechts in einen Vertrag mag zwar ästhetisch gemeint sein, bleibt jedoch darum nicht nur ästhetisch, weil sie Catharina vom Rechtssubjekt zum Vertragsgegenstand macht und in der Tat ein Recht in einen Vertrag transformiert wird. Die politischen Folgen dessen lässt Gryphius in der Catharina keineswegs nur theoretisch reflektieren, sondern auch praktisch zur Geltung bringen – zunächst sogar von der Titelheldin selbst.
5.2.4.2 „Wir bleiben euch verpflicht / vnd eures Czaren Magd“. Die schlechte Alternative des russischen Patronats? Machiavellis bündnispolitischer Einwand, sich vor solchen Bündnispartnern zu hüten, die mehr dem Ruf als der Wahrheit nach mächtig sind (5.2.3.2), spielt in Catharina wohl kaum eine entscheidende Rolle. Es ist zwar in der Tat fraglich, ob das Zarentum Michail Romanows (1596–1645) im Jahre 1624 als so mächtig gelten durfte, dass es gegenüber Persien entscheidenden Druck hätte aufbauen können. Michail I. besaß ohne Zweifel eine „grsser Cron“ als Tamaras. Gleichwohl war sein Anspruch als Zar nicht unumstritten und führte von seiner Wahl 1613 bis 1634 zu erheblichen Spannungen mit Polen-Litauen. Diese kosteten das russische Reich neben den Konflikten mit dem schwedischen König ebenso viel Kraft wie
188 Hans Wagner (Hg.): Magna Carta Libertatum von 1215: lateinisch – deutsch – englisch. Mit ergänzenden Aktenstücken. Bern 1951 (Quellen zur neueren Geschichte 16), § 39, S. 22: „Nullus liber homo capiatur uel imprisonetur aut disseisiatur aut utlagetur aut exuletur, aut aliquo modo destruatur nec super eum ibimus nec super eum mittemus nisi per legale iudicium parium suorum uel per legem terre.“ 189 So in der Tat Susanne Jenks: Die Bürgschaft im mittelalterlichen englischen Strafrecht. Frankfurt am Main 2003 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 161), S. 2.
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die Ausläufer der sozialen Konflikte der sogenannten ‚Zeit der Wirren‘ (смутное время / smutnoe vremja) seit dem Tod Ivans des Schrecklichen 1584.190 Dies blieb den Zeitgenossen nicht verborgen: Ein bündiges Bild der politischen Verhältnisse in Europa während der 1620er Jahre liefert nach dem Dreißigjährigen Krieg zwar erst 1682 Samuel Pufendorf.191 Jedoch führte ein frühzeitiges breites Interesse zur deutschsprachigen Drucklegung des schwedisch-russischen Friedensvertrages 1617 noch im selben Jahr.192 Gryphius’ Hauptquelle für das hiesige Trauerspiel, Claude Malingres Histoires tragiques de nostre temps (1641), hält sich in diesem Punkt allerdings bedeckt. Die Histoires erwähnen keine militärische Zwangskraft der Russen, sondern nur reiche Geschenke, die nach Persien mitgenommen wurden.193 Die Figuren des Trauerspiels hingegen hegen keinen Zweifel an „der Reussen strck / im fall jhr Gri erwach“ (GdW 6, I,2, S. 143, v. 156).194 Ob Chach Abas sein Versprechen bricht, weil er Russland unterschätzt, scheint insofern unwahrscheinlich, als Gryphius schließlich einen affektgeleiteten, nicht kühl kalkulierenden Fürsten ins Bild setzt. Hingegen scheint es nicht abwegig, eine Verbindung zwischen Gryphius’ Diskurs über Georgiens Hilfesuche und Machiavellis zweitem Einwand gegen Bündnispolitik herzustellen – dem notwendigen Souveränitätsverlust an einen starken Verbündeten (5.2.3.2). Schon mit Blick auf die innerdramatische Informationsvergabe ist es von großer Bedeutung, dass dem russischen Gesandten erst durch Catharinas ausführliche Analepse in III,1 die genauen Hintergründe ihrer Gefangensetzung eröffnet werden. Es zeigt nichts anderes, als dass der Gesandte erst hier die Gegenseite hört, erst hier die Kenntnisse vervollständigt werden, auf deren Basis er eine angemessene Handlungsentscheidung allererst hätte treffen können. Diese Entscheidung ist jedoch mit dem Vertrag zwischen Russland und Persien, beinhaltend die russische Bürgschaft für Catharina, bereits längst gefällt
190 Vgl. Wolf-Heinrich Schmidt: Mittelalter. In: Russische Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Städtke. Stuttgart 2002, S. 1–62, hier S. 93. 191 Samuel Pufendorf: Continuierte Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche und Staaten von Europa. Frankfurt am Main 1686, S. 648–667 & passim. 192 [Herausgeber und Übersetzer ungenannt]: Glaubwirdige Copia Der Ewig währenden Friedens-handlung / So zwischen dem Durchleuchtigsten Großmächtigen Hochgebohrnen Fürsten vnd Herrn Herrn Gustavum Adolphum / der Reiche Schweden / Gothen vnd Wenden Könige / GroßFürsten in Finnlandt / Hertzogen zu Esthen vnd Carelen / Herrn zu Ingerman-landt / etc. Eines: Vnd dem auch Großmächtigen Herrn Herrn Michael Foederwitz / aller Reussen / Zaaren vnd GroßFürsten / Andern Theils / Behandelt vnd geschlossen ist / den 27. Februar / dieses 1617. Jahres / zu Stolbowa. Auß dem rechten Original in vnsere Teutsche Sprache von Wort zu Wort getrewlichen vbersetzet. o.O. 1617. 193 Malingre: Histoires tragiques de nostre temps, S. 521f. 194 GdW 6, Catharina von Georgien, I,2, S. 143, v. 156.
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worden. Ein solcher Vorgriff wiegt auch in der Frühen Neuzeit nicht wenig, denn schon das frühmoderne Völkerrecht kannte eine gewisse ‚Prozessordnung‘: Nur durch umfassende Information sind gerechte Urteile zu fällen. Dies findet seinen Niederschlag in den Prinzipien des audiatur et altera pars bzw. des nemo inauditus demnetur. In der Sache findet sich diese Realisierung der Beweis- als Informationspflicht schon im Digestentitel De requirendis vel absentibus damnandis195 und kommt nicht nur im Zivil- und Strafrechtsdenken der Iusromanisten,196 sondern auch bei den Völkerrechtslehrern zum Tragen.197 Hinsichtlich ihres angeblichen Verrats an Chach Abas wurde Catharina vorgegriffen. Daher hat Catharinas Verbindung mit Russland unmöglich mehr etwas mit der Verletzung ihres Souveränitätsrechts und der ihr angelasteten Schuld zu schaffen, so sehr sie besonders in dieser Szene auch besprochen werden. Über etwas sprechen, heißt noch nicht, es für einen bestimmten Zweck einzusetzen, hier den des Rechts. Stattdessen treten hier besonders die Konsequenzen dieses Vorgriffs zu Tage. Von Beginn an ist die Perspektive eindeutig, unter welcher der russische Gesandte Catharina die Nachricht vom Friedensvertrag mit Persien überbringt. Ebenso ist unzweideutig, dass es sich hierbei keineswegs nur um eine Wahrnehmungs-, sondern auch um eine Interessensperspektive handelt: Durchlauchtigste / wo euch je Reussens Heil ergetzet / Das nach so hartem Krig sich nun zu Ruhe setzet; Wo jhr / wie vns vor dem nur mehr denn wol bewust Ob vnsers Czaren Glck’ je vnverflschte Lust Auff eurem Thron geschpfft; so last euch jtzt bewegen Eur berschweres Leid vmb etwas zu abzulegen / Vnd wndscht zu disem Werck’ vnd Frstlichen Vertrag Der vns vnd Persen bind’t was der berhmte Tag Vnd eure Neigung heischt. So ists! wir sind verglichen! Der Waffen Donnerklang; die Sturm-Wolck ist gewichen Der Schwerdter grimmes Recht wil gantz verschoben seyn / Vnd reumet seinen Platz dem edlen Friden ein. (GdW 6, III,1, S. 177f., v. 1–12)
195 Dig. 48. 17. 1pr. (CIC 1, S. 861b): „Divi Severi et Antonini magni rescriptum est, ne quis absens puniatur: et hoc iure utimur, ne absentes damnentur: neque enim inaudita causa quemquam damnari aequitatis ratio patitur.“ 196 Vgl. kurz Detlef Liebs: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. 7., vollständig überarbeitete und verbesserte Aufl. München 2007, S. 37; ausführlich Andreas Wacke: Audiatur et altera pars. Zum rechtlichen Gehör im römischen Zivil- und Strafprozeß. In: Ars boni et aequi. Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag. Hg. von Martin Josef Schermaier, Wolfgang Waldstein. Stuttgart 1993, S. 369–399. 197 Vgl. Josef Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen. Frankfurt am Main 1973, S. 283.
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Die gute Nachricht steht unübersehbar im Lichte des russischen Erfolgs für Russland, demgegenüber der ‚Erfolg‘ für Georgien nur zweitrangig, in jedem Fall aber abkünftig erscheint. Denn die gute Nachricht steht für den Gesandten auch im Lichte der Begeisterung, die Georgien für Russland zu hegen hat. Das politische Eigeninteresse Georgiens hängt bereits ganz vom Fremdinteresse an Russlands Lage ab. Dieses Dependenzverhältnis bringt der Gesandte auch weiterhin unumwunden zum Ausdruck: „[V]nsre Wonn ist eurer freuden Qulle“ (ebd., S. 178, v. 17). Ebenso formuliert er dies hinsichtlich Catharinas Freilassung: „Chach macht von der Kett’“ nicht aus Recht, sondern „auff vnsre Bitt’ euch loß“ (ebd., v. 20). Besondere Aufmerksamkeit hat nunmehr Catharinas Reaktion verdient. Sie ist für die Einordnung der hiesigen Vorgänge von großer Bedeutung. Die Königin von Georgien stellt jene Dependenz nämlich ebenso wenig in Abrede wie die daraus sich ergebenden Konsequenzen: [J]hr sey in der Lust auff vnser Leid bedacht / Vnd sprecht vns frey / vnd last vns eigne Lust empfinden. Glaubt Herr das heist auffs new’ auff ewig vns verbinden Glaubt Herr / dem so vil Mh fr vnser Heil behagt; Wir bleiben euch verpflicht / vnd eures Czaren Magd. (ebd., S. 178f., v. 40–44)
In der Tat wäre Undank Zeichen eines unwürdigen Hochmuts. Dass sich Catharina daher Russland verbunden und verpflichtet fühlt, ist mithin nur verständlich. Was Catharina jedoch weder weiß noch ihr vom Gesandten eröffnet wird, ist die Tatsache, dass sie Russland nicht erst durch ihre Dankesschuld verbunden ist. Schon durch die abgegebene Bürgschaft wurde sie unter Russlands Hoheit gestellt. Dennoch reichen Catharinas Unterwürfigkeitsgesten sogar weiter, als es der Gesandte durch seine bisherige Erläuterung der Sachlage nahelegt. Als er nämlich beteuert, dass „[n]un jhrer Tugend Ruhm / trotz allen Banden! blht“ (ebd., S. 179, v. 48), die ihr die russische Initiative auferlegt, entgegnet Catharina: „Wir wissen nichts an vns dergleichen zuerkennen“ (ebd., v. 49). Ein Blick auf den Begründer des modernen Souveränitätsbegriffs Jean Bodin ist hier unumgänglich – und fördert Bemerkenswertes zu Tage: Anders nämlich, als im Hinblick auf den stark verabsolutierenden Souveränitätsbegriff des französischen Staatstheoretikers zu vermuten gestanden wäre – dieser wird besonders im Papinian eine herausragende Rolle spielen (5.3.2) –, sieht Bodin durch eine Schutzherrschaft keinen Souveränitätsverlust gegeben: Zunächst aber ist zu klären, ob ein souveräner Fürst, der sich der Schirmherrschaft eines anderen unterstellt, seine Stellung als Souverän verliert und Untertan des anderen wird. Denn indem er jemanden als über ihm stehend anerkennt, scheint es, daß er nicht mehr Souverän ist. Ich bin aber der Meinung, daß er es dennoch bleibt und nicht Untertan des anderen Fürsten wird. Die Antwort auf unsere Frage gibt ein in seiner Art einzigartiges
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Gesetz. Es gibt von ihm verschiedene Lesarten. Wir wollen jedoch von seiner Originalfassung in den florentinischen Pandekten ausgehen, wonach souveräne Fürsten, die in einem Beistandspakt den Schirmherrn als über ihnen stehend anerkennen, nicht dessen Untertanen sind. ‚Ich habe keinen Zweifel‘, besagt das Gesetz, ‚daß die Bundesgenossen und andere freie Völker für uns Fremde sind…‘. Selbst wenn es in einem Vertrag über einen einseitigen Beistandspakt ausdrücklich hieße, daß der eine Teil die Majestät des anderen aufs Peinlichste genau respektieren werde, würde ihn dies nicht zu dessen Untertan machen […].198
Die Schutzherrschaft bedingt, obwohl sie die Existenz eines schwächeren Staates entscheidend gewährleisten hilft, noch nicht sein Fallen unter eine Herrschaft proprio sensu, d.h. unter die Souveränität des Schirmherren. Jenes Pandektengesetz, auf das Bodin sich beruft – Dig. 49.15.7pr. –, betont ebenso wie Bodins Übersetzung die Äußerlichkeit des Schützlingsstaats („nobis externi sint“ / „nous sont etrangers“).199 Es ist nicht zu bestreiten, dass Bodin seine Begründung durchaus hätte vertiefen können, wenn nicht gar müssen. Es steht allerdings zu vermuten, dass er seine Haltung vor allem mit Blick auf die legislatorische Kompetenz des Souveräns begründet sieht. Diese bestimmt Bodin erst in einem nachfolgenden Kapitel als das ausschlaggebende Kriterium seines Souveränitätsbegriffs:200 Der beschirmte Herrscher fällt nicht unter die umfassende Gesetzgebungsmacht seines Schutzherrn und bleibt damit gegenüber seinen Untertanen souverän. Gryphius scheint vor dem Hintergrund seines Catharina-Stoffes als Makel dieser Lehre auszumachen, dass eine Protektion durchaus Weisungsbefugnisse des
198 Bodin: Les six Livres de la Republique, I,7, S. 75: „Mais il faut aparauant resoudre ceste question, si le prince souuerain se mettant en la protection d’vn autre, perd le droict de souueraineté, & il devient suget d’autruy : car il semble qu’il ne est pas souuerain, recognoissant plus grand que soy. Toutefois il demeure souuerain, & n’est point suget. & ce point est decidé par vne loy, qui n’a point sa pareil le, & qui a esté alteree en diuerses leçons: mais nous suyuront l’original des pādectes de Florēce, qui tiēt que les princes souuerains, qui au traicté de alliāce recognoissent le protecteur plus grand que soy, ne sont point leurs sugets. Ie ne doute pas, dit la loy, que les alliez, & autres peuples vsāt de leur liberté, ne nous sont etrangers, &c. & combien qu’au traitté des alliez par alliance inegale, il soit expressement dit, que l’on cōtregardera la maiesté de l’autre, cela ne fait pas qu’il soit suget […]“. Übers. nach Wimmer: ders.: Sechs Bücher über den Staat, Bd. 1, S. 190f. 199 Dig. 49. 15. 7pr. (CIC 1, S. 884b): „Non dubito, quin foederati et liberi nobis externi sint, nec inter nos atque eos postliminium esse: etenim quid inter nos atque eos postliminio opus est, cum et illi apud nos et libertatem suam et dominium rerum suarum aeque atque apud se retineant et eadem nobis apud eos contingant?“ 200 Bodin: Les six Livres de la Republique, I,9, S. 125–127; vgl. Horst Denzer: Bodin. In: Klassiker des politischen Denkens. Hg. von Hans Maier, Heinz Rausch, Horst Denzer. München 1985, S. 245–265, hier S. 258.
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Schirmherren bedingt. Sie können sich u.U. auch auf Catharinas künftige Legislation auswirken: Gewissermaßen anti-persischen Gesetzen Georgiens soll die russische Bürgschaft gegenüber Chach Abas – zumindest dem Gedanken nach – schließlich entgegentreten. Es zeigt sich eine eigentümliche Zwischenstellung Gryphius’: Auf der einen Seite stimmt er Machiavelli gegen Bodin darin zu, dass ein solches Bündnis den Schwächeren zur ‚Magd‘ macht. Auf der anderen Seite folgt er Machiavelli nicht darin, dass deshalb ein solches Bündnis schon abzulehnen sei. Mit ihrem Bericht der Vorgeschichte eröffnet Catharina eine weitere Perspektive göttlichen Rechts auf das Problem. Dies gilt insbesondere für die iusta causa des militärischen Hinterhalts, den Catharina ihrem zum Islam konvertierten Schwager Konstantin gelegt hatte: So sehr sich nämlich ihr Sohn Tamaras als beharrlicher Christ erwies, „[s]o blind lif Constantin / der als ein Ebenbild / der Laster / was hir lebt vnd leben wird sol lehren; / Daß die Gott vntrew sind auch nchstes Blut nicht ehren“ (GdW 6, III,1, S. 180, v. 112–114). Listklugheit – auch Lüge und Täuschung – sind vom göttlichen Recht bisweilen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Catharina stellt hier nichts Anderes vor als, dass die Pflicht gegenüber dem Nächsten in einem Ableitungsverhältnis zu der übergeordneten Pflicht steht, Gott zu ehren. Diese in Mk 12 grundgelegte201 und in 5.2.5.2 noch zu vertiefende Dependenz erklärt für Catharina sowohl Constantins Verstoß gegen seine Nächstenpflicht als auch legitimiert es die listklugen Versuche Catharinas, die persische Bedrohung durch Konstantin abzuwehren (ebd., S. 182f., v. 176–212). Als auch aber muss für Catharina die Unterwerfung unter die russische Hegemonialmacht die allemal bessere Alternative zu einem Bündnis mit dem ketzerischen Abas sein – unbesehen der Vorgriffe, derer sich Russland schuldig gemacht hat. Dies erklärt die wiederholte und weitgehend unbedarfte Selbstbezeichnung Catharinas als Magd Russlands. Unter internationaler Perspektive gibt es in entsprechend ausweglosen Konfrontationen mit Ketzernationen offensichtlich eine regelrechte Pflicht des Herrschers, seine Souveränität zum Wohl seines Landes aufzugeben. Dies gilt allerdings nur unter den augenblicklich gegebenen Umständen und für die Perspektive Catharinas. Daran, dass Russland zuvor andere Mittel als jene Bürgschaft hätte aufbringen müssen, ändert diese subjektive Pflicht Georgiens nichts.
201 Mk 12,29–31.
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5.2.5 Affektreinigung und Beständigkeit als praktische Theologie Als Seinel Can seinem Herrscher Abas die günstigen Nachrichten einer fortgeschrittenen Verständigung mit dem verfeindeten Russland überbringt (II,1), ist er wegen Chachs verhaltener Reaktion sichtlich überrascht. Seinel Can braucht einige Zeit, um zu erkennen, dass der politische Frieden den seelischen Unfrieden Abas’ keineswegs dämpfen kann.202 Er versteht „die Hertzens Wunde nicht“ (ebd., II,1, S. 166, v. 23) und somit auch nicht, dass zu derer psychologischen Heilung andere Mittel aufzubringen sind als physiologische: „Schafft dem kein Artzt nicht Rath?“ (ebd., v. 39). Ist ihm Chach Abas in dieser Erkenntnis voraus, so wird Gryphius diesen Aufzug nunmehr für den Nachweis nutzen, dass die Mittel, die Chach Abas aufzuwenden sucht, nur genauso falsch sind wie ein Arzt. Dies kündigt sich schon mit seinem ersten Versuch an, sich Seinel Can zu erklären: S ein. Wehm hat deß Himmels schluß so grosse Macht verlihn [?] Chach. Die mir an Himmels statt / der Frstin Catharin. Holdseeligste Feindin! vnberwundne Schne Haubt das verdint daß Phrat vnd Rha vnd Tyger krne! (ebd., S. 166f., v. 47–50)
Abas’ Affektgefangenschaft und besonders die Macht des Liebesaffekts, Verwirrung zu stiften, werden nicht erst in solchen Oxymora wie holdseeligste Feindin pointiert zur Schau gestellt. Catharina erfährt sogar eine Apotheose: „[D]eß Himmels schluß“ selbst setzt sie „an Himmels statt“ – und dennoch will Abas über sie gebieten. Unbesehen der Tatsache, dass eine solche Apotheose per se gotteslästerlich ist, wird Chach angesichts seiner Affektenlage letztlich auch zum Göttinnenmörder werden.
5.2.5.1 „Es fehlt vns an Vernunfft“? Trost jenseits der Grenzen praktischer Philosophie Die Macht der Affekte reicht jedoch noch weiter: Affektbedingte Fehler können dem, der sie begeht, durchaus bewusst sein und dennoch reicht ebendiese Erkenntnis nicht hin, um die Affekte zu überwinden: Chach Abas weiß um das „grimme Wtten / Deß rauhen Eyfers“ (ebd., S. 167, v. 54f.). Abas weiß selbst seinen Zustand mit Begriffen der Vernunft zutreffend zu beschreiben. Offensicht-
202 Dies ist Gryphius’ entscheidende Abänderung gegenüber seiner Quelle Malingre, der Chach Abas eben vermehrt politische Beweggründe zur Heirat mit Catharina zuschrieb: vgl. Zdzisław Żygulski: Andreas Gryphius: ‚Catharina von Georgien‘. Nach ihrer französischen Quelle untersucht. Lwów 1932, S. 25.
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lich beschreibt Gryphius hier ein besonders perfides Mittel der Affekte, ihre Opfer gefangenzuhalten. Ein bloß scheinhaftes Vernünfteln, das auf der Oberfläche der Begriffe verbleibt und nicht in die Tiefe der eigentlich zu folgernden Handlungen hinabsteigt, täuscht über den affektierten Zustand hinweg. Erst so kann sich Chach Abas tatsächlich etwas ‚vormachen‘, wenn er einerseits affektbehaftet ist, andererseits aber glaubt, mit Verstand- und Vernunftmitteln Catharinas moralische Integrität beugen zu können. Chach Abas meint, seine Problemlage folgendermaßen beschreiben zu können: […] Es mangelt’ vns Verstand Es fehlt vns an Vernunfft / noch fehlt es vns an Krfften Die mchtig deine Seel’ an unsern Geist zu hfften. (ebd., v. 60–62)
Doch wird alsbald deutlich, dass sein Fehler nicht in einem quantitativen Mangel an Vernunft- und Verstandesmitteln besteht. Er besteht vielmehr in der schon qualitativ falschen Annahme, mit Vernunftmitteln zu Widervernünftigem bewegen zu können. Wenn Chach Abas darüber reflektieren kann, konterkariert Gryphius nicht den Wahn des Perserkönigs oder widerlegt ihn sogar. Auch ist Chach Abas’ vernünftige Rede von seinem unvernünftigen Seelenzustand nicht allein darstellerischen Gründen geschuldet, insofern im Drama Introspektion anders gar nicht zu leisten wäre als durch die Rede der betreffenden Figur (vgl. 5.1.4). Wenn nämlich Chach Abas seinem Berater Seinel Can zurecht entgegnet, „O Blinder! du verstehst nicht was die Liebe kann!“ (ebd., v. 67), ist man erinnert an Gryphius’ Leservorrede (5.2.1) und die dort getroffene Unterscheidung von „Irrdischer und Nichtiger“ und „heylig-Ewiger“ Liebe (ebd., S. 133). Gryphius konturiert seinen christlichen Neostoizismus erkennbar deutlich: Chach Abas’ durchaus vernünftige Rede von seinen Affekten stellt weder einen poetischen Widerspruch dar noch hilft sie ihm weiter, denn in Gryphus’ wissenschaftsphilosophischen Denken existiert der klare Unterschied von Vernunftmitteln und letzten Gründen bzw. letzten Ursachen (4.3.1, 4.4.2). Vernunft vermag sehr wohl, Wissen aus letzten Gründen und Ursachen abzuleiten; diese jedoch kann sie weder als notwendig noch als wiederum verursacht bzw. bedingt erkennen. Die letzten Gründe sind selbst nicht notwendig, sondern von Gottes freien Willen kontingent gesetzt. Mit dieser Kontingenz des Notwendigen203 (4.3.1) ist auch die Kenntnis vom Unterschied von zeitlicher und ewiger Liebe nicht Sache der Vernunft, sondern bloß dogmatisch und damit Sache des Glaubens. Gerade des
203 Vgl. zu diesem Begriff nochmals Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes, S. 99–126.
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rechten Glaubens mangelt es dem Muslim Chach Abas. Allein der rechte Glaube aber könnte Abas informieren, dass Catharina weitaus mehr zur Liebe zu Gott verpflichtet ist als zu einer Liebe zum Perserkönig. Der Lage Chach Abas’ schafft „kein Artzt nicht Rath“ (ebd., II,1, S. 166, v. 39.) – und auch kein Philosoph: Nur der Theologe könnte ihm helfen. Allerdings müsste Abas hierfür zunächst dessen christliche Grundüberzeugungen teilen. Gryphius steckt damit die theologischen Realisierungsbedingungen „bewehreter Bestndigkeit“ ab (ebd., Titelkupfer, S. 131). Constantia ist praktisches Wissen aus Gründen, die selbst weder regredibel noch notwendig sind, und insofern ist sie in der Tat „unaußsprechliche Bestndigkeit“ (ebd., Leservorrede, S. 133 [Hervorhebung O.B.]): Sie ist hinsichtlich ihrer Bedingungsfaktoren nicht auf den Begriff zu bringen. Gryphius’ constantia ist nicht praktische Philosophie, sondern praktische Theologie. Ohne sie müssen Vernunftmittel gegenüber dem nicht zu Begreifenden wirkungslos bleiben. Säkulare Vernunft ist hilflos, solange sie nicht die Fundamente beherzigt, die zu erforschen sie sich entschlagen muss und die sie nur zu glauben sich entscheiden kann. Solange diese nur als Glaubensentscheidung denkbare Fundamentenlegung nicht erfolgt, kann die bloß nachgängige Vernunft nichts leisten. Sie verfällt im Gegenteil nur darauf, diese Fundamente selbst als wahnhaft zu bezeichnen. Wenn Seinel Can daher die gefangene Catharina als Christin diskreditiert, „die voll von Aberwitz ein Creutz pflegt anzubeten“ (ebd., II,1, S. 167, v. 81.), übersieht er die theologische Anlage der Wissenschaftsphilosophie seines Autors Gryphius’. Ebenso entgeht ihm deren praktisch-ethischer Fluchtpunkt, wie Gryphius ihn hier offensichtlich abermals von Melanchthon übernimmt: Dieser trost ist die besondere Predigt die Gott erstlich in den Verheissungen geoffenbaret hat […] Vnd dieweil sie bey menschlicher vernunfft seltzam lautet, stürmen dagegen mancherley weiss Heiden, Phariseer, Mahometh, Bapst, Monche, Widerteuffer, vnd andere Secten, Wir aber sollen wissen, das dieser hoher Trost, eine besondere göttliche offenbarunge ist, vnd sollen die zeugnissen in göttlicher Schrifft mercken, vnd sie mit festem glauben halten, vnd uns damit in aller anruffung trösten.204
Catharinas Trost, der ihre Beständigkeit mitunter bedingt, ist weder auf menschliche Vernunft gegründet noch lässt sie sich von dieser anfechten. Trost und Beständigkeit gründen im Vertrauen auf einen theologischen Voluntarismus, von dessen Gunst man sich nur noch in Form der „besonderen göttlichen offenbarunge“ vergewissern kann.
204 CR XXII, Sp. 327.
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5.2.5.2 Ewige Liebe als Erweis des Unterschieds von Naturrecht und Naturgesetz und die Optabilität des Todes Seinel Can weiß weder um die göttliche Verpflichtungsinstanz noch um deren Hoffnung spendenden Charakter (5.2.1). Dieses Unwissen verleitet ihn zu einer profanen Verhaltenslogik, unter der ihm jedwedes menschliches Handeln durch Menschen erzwingbar erscheint. Auf Chach Abas’ Beteuerung, Catharina könne seine „Pein“ nur mindern, „wenn sie wil“, weiß sein Geheimrat nur zu entgegnen: „Man thut gezwungen woll / Wenn man den Ernst versprt; was man frey willig soll“ (GdW 6, II,1, S. 168, v. 102–104.). Während Chach Abas von der Liebesempfindung spricht, geht es Seinel Can um Liebe als Handlung. Zwang und das Verspüren einer ernsten Lage drängen Catharina sehr wohl zu „thun“, was sie „frey willig soll“. Welcher Auffassung von Liebe dabei Chach Abas anhängt – ob höfischer oder affekttheoretischer –, ist demgegenüber irrelevant. Seinel Can spricht von Liebe nur als von einer Zuneigungserweisung, von einer äußeren Handlung. Catharina soll tun, was ihr in einer echten προαίρεσις als Alternative unter mehreren Wahlmöglichkeiten offensteht, ihr in einer Zwangssituation jedoch als alternativlos abgerungen werden kann. Seinel Cans Irrtum liegt mitnichten im Gedanken eines Gesolltseins von Liebe überhaupt. Denn in der Tat wird im rechtstheologischen Kontext so etwas wie Liebespflicht gedacht, nämlich in der bereits angesprochenen lex charitatis (5.2.4.2).205 Mit dieser zieht das Neue Testament gleichsam die Summe der zweiten Gesetzestafel: Das furnemest Gebot fur allen geboten ist das / Höre Jsrael / Der HERR vnser Gott ist ein einiger Gott / Vnd du solt Gott deinen HERRN lieben / von gantzem hertzen / von gantzer Seele / von gantzem Gemüte vnd von allen deinen Krefften / Das ist das furnemeste Gebot. Vnd das ander ist jm gleich / Du solt deinen Nehesten lieben / als dich selbs. Es ist kein ander grösser Gebot / denn diese.206
In seiner Lehre von den interdependenten Graden von Sünden lieferte Melanchthon mittels der lex charitatis eine Systematisierung der Sozialgebote, und zwar mit Blick auf die ‚Kulttafel‘ (4.2.2.1) – dem kommt in Carolus Stuardus besondere Bedeutung zu (5.4.2). Der erst seit der Romantik als paradox empfundene Gedanke einer aktiven Liebespflicht bildete schon in der Spätscholastik den Grundstein solcher Rechtslehren wie der des Francisco de Vitoria und des Francisco Suárez: Die lex charitatis hatte nicht allein Gebotsform, sondern war
205 Vgl. Dorothee Kimmich: [Art.] Liebe. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 243f., hier S. 243 206 Mk 12,29–31.
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juridifiziert.207 Chach Abas will Catharina zum Übertritt zum Islam, dem „Wahn der Persen“, bewegen (GdW 6, I,6, S. 153, v. 483). Dem damaligen Zeitgeist nach bedeutete dies nichts Anderes, als Catharina zum Bruch mit dem Bunde Gottes drängen. Catharinas Liebespflicht gegenüber Gott („du solt Gott deinen HERRN lieben“) steht jedoch höher als die lex charitatis gegenüber dem irdischen Nächsten, der solches verlangt: Sie „ist das furnemeste Gebot“.208 Seinel Can irrt daher schon mit der non-, ja anti-normativen Idee, dass die für jede moralische wie rechtliche Norm unabdingbare Spontaneität beseitigbar sei. Er möchte eine einseitig interpretierte Liebespflicht vom Naturrecht zum Naturgesetz machen. Dabei soll dies wiederum vom Menschen über Menschen bewerkstelligt werden können. Diese Vernaturgesetzlichung des bloß äußerlichen Liebesaffekts wird von Seinel also nicht deterministisch gedacht. Dies ist durchaus nicht widersprüchlich, sondern bezeichnet nur die Technisierbarkeit einer Affektsystematik, in der Gunst, Trotz, Trauer, Liebe, Hochmut, Ehrgeiz etc. gegenüber der vorrangigen conservatio sui abkünftig erscheinen. Alle untergeordneten Affekte werden mit Blick auf den conatus der Selbsterhaltung hin kalkulierbar und operationalisierbar. Dementsprechend geht es an dieser Stelle nicht mehr vorrangig um die Liebe als Empfindung oder Streben,209 sondern um den conatus der Selbsterhaltung. Diesen glaubt Seinel Can auf alle übrigen Empfindungen und Neigungen herunterbrechen zu können:
207 Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘ – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas, S. 199–204 und S. 214; Matthias Kaufmann: Francisco Suárez’ lex naturalis zwischen inclinatio naturalis und kategorischem Imperativ (DL I; DL II. 5–16). In: Auctoritas omnium legum. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. von Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (PPR II,5), S. 155–173, hier S. 167f.; Bach: Juridische Hermeneutik, S. 301f. 208 Nicht etwa „die Ansprüche des Individuums“! (so Brenner: ‚Macht‘ und ‚Moral‘ in den Trauerspielen von Andreas Gryphius, S. 258). Auch sind Catharinas Beweggründe eben nicht exklusiv heilsgeschichtliche (so Paulus B. Wessels: Das Geschichtsbild im Trauerspiel ‚Catharina von Georgien‘ des A. Gryphius. ’s-Hertogenbosch 1960, S. 6). Ebenso wenig vollzieht Catharina ihr Martyrium zum Zweck einer „martyrologischen Selbstprofilierung“ (so Lothar Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Jean-Daniel Krebs. Bern u.a. 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 42), S. 207–222, S. 209). 209 Vgl. Werner Schneiders: [Art.] Affekt/Leidenschaft. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 31–33, hier S. 31f.
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S ein. Ein Weib verndert leicht. C h a ch . Was kann verstockter seyn Als ein hartnckig Weib? S e i n . Jhr Ehrgeitz wurtzelt ein Weil jhre Majestet sie als ein Diener grsset. Die Gunst sterckt jhren Trotz / so bald der Frevel bsset; Betraur’t er den Verlust! man sucht was man verlacht; Wenn Zeit vnd Mittel fort. Der Frst schlag auß der acht Das angenehme Bild C h a ch . Was sagstu? S e i n . Diß / er stelle Sich nur als ob sein Hertz die Band’ / C h a ch . O bitter Helle S ein. Zurissen vnd / C h a ch . Was denn? S e i n . Daß er von Libe frey. Ihr Wahn wird bald vergehn.[…] (GdW 6, II,1, S. 168f., v. 115–124 [Hervorhebung O.B.])210
In dieser profanen Affektökonomie steht und fällt Neigung bzw. Abneigung nicht mit den Gegenständen, die auf den Menschen wirken. Sie tragen ihr Günstiges oder Ungünstiges nicht wesentlich in sich. Ihre Ausstattung mit günstigen oder ungünstigen, schlimmstenfalls drohenden Effekten („bssen“) ist akzidentiell und insofern manipulier- und erzwingbar.211 Solange ein Gegenstand der Selbsterhaltung dienlich ist, richtet sich die Neigung auch auf ihn. Im vorliegenden Falle wäre dies Chach Abas selbst: Er soll Catharina den Mehrwert ihres bedingten Überlebens gegenüber ihrem Sterben vor Augen führen – er soll so liebenswert im vollen Sinne einer Ökonomie der Selbsterhaltung werden. Seinel Can irrt ferner sowohl normativ als auch nonnormativ mit ebendieser Auffassung von einem unbedingt geltenden Selbsterhaltungstrieb. Er irrt normativ, insofern er meint, unter Catharinas Handlungsmöglichkeiten existiere nur eine, die zu Liebe verpflichtet, nämlich zu derjenigen zu Chach Abas – und insofern könne man durch Zwang diese Möglichkeit zur Notwendigkeit machen. Dass jedoch immer eine zweite mögliche Pflichthandlung der Liebe existiert, die höher steht als die gebotene Liebe zum irdischen Nächsten, nämlich die Liebespflicht zu Gott, ist Seinel Cans grundlegendes Übersehen. Diese Pflichthandlung der Liebe zu Gott fällt ihm genauso wenig auf wie die Tatsache, dass sie immer möglich ist – dies ist Seinel Cans nonnormatives Übersehen. Dies hat seinen Grund offensichtlich darin, dass er in Catharinas προαίρεσις die Option des Sterbens übersieht. Vor dem Hintergrund eines unbedingten Selbsterhaltungstriebs muss Seinel Can diese Option schlechterdings übersehen. Nur in einem säkularen prohairetischen Fokus wäre Catharina in der Tat alternativlos: Ihr Selbsterhaltungstrieb erwirkte und geböte die Heirat mit Chach Abas. Der Tod jedoch scheidet eben
210 GdW 6, Catharina von Georgien, II,1, S. 168f., v. 115–124 [Hervorhebung O.B.]. 211 Dass Leidenschaften überhaupt von außen und nicht mehr wie bei Thomas von der Seele verursacht werden, bringt Descartes’ neue Auffassung von Affekten und Leidenschaften zur Geltung: Talon-Hugon: Vom Thomismus zur neuen Auffassung der Affekte im 17. Jahrhundert, S. 65–71.
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nicht ohne Weiteres als Option aus, sondern bleibt als ultima ratio zur Einhaltung des ersten Gebotes erhalten und sogar geboten. Schon Justus Lipsius hatte in seinen De Constantia libri duo (1584) die Besinnung der Beständigkeit auf ihren Ursprung in Gott angemahnt. Nur auf dessen Basis als des „Ewigen und unveränderlich Guten“ kann menschliches Handeln sowohl nützlich als auch unmöglich schlecht sein.212 In der wahren Liebe zu Gott kommt gerade diejenige ewige Liebe zum Ausdruck, die Gryphius schon in der Leservorrede für heilsrelevant deklariert hatte. Solange die aus dieser Liebe entspringende Hoffnung nur durch den Tod zu retten ist, bleibt der Tod allemal optabel. Chach Abas ist damit eine Zuspitzung von Catharinas Situation auf eine echte Alternativlosigkeit nicht möglich.213 Das Vorhaben, Catharinas Liebesbegehren zu Chach durch Entzug seiner Gunst und Bedrohung ihres leiblichen Wohls zu erwirken, fußt auch auf einer bestimmten Vorstellung von Hoffnung. Dieses Konzept einer Ökonomie von Begehren und Hoffnung zitiert Gryphius 1657, im selben Jahr des Erscheinens der Catharina, in der Leichabdankung auf Marianne Popschitz, der Magnetischen Verbindung des Herrn Jesu und der in ihn verliebten Seelen (siehe auch 4.4.2.2): [S]o ist mehrenteils la cosa maggiore, qvando la desideriamo, che dapoi che la possediamo, die Sache viel grsser / wenn wir sie begehren / als wenn wir sie besitzen. Vnd wie ein Mensch in derogleichen Stande sehr vngewiß und unschwer zu fllen; so fllt offt in einem Nun und Augenblick alle unsere Hoffnung dahin / und verschwindet gleich einem Traum. (GdW 9, S. 52)
Das Zitat entstammt der italienischen Fassung der Diálogos de las medallas, inscripciones y otras antigüedades (1587) des Antonio Augustín (1516–1586), der vor allem als Gelehrter beider Rechte bekannt war. Die Vorstellung einer an sich schwankenden der Hoffnung, in den antiken Münzen verbildlicht durch eine auf ihren Zehenspitzen gehenden Frau,214 ist für Augustín ebenso wie für Gryphius
212 Lipsius: De Constantia libri duo, II, 6, S. 91: „Pro Constantia tertium argumentum ab Vtili. Clades bonas esse, Originem intueare siue Finem. Originem enim à Deo sumere. qui æternùm & immutabiliter bonum. ideóque caussa nullius mali“ [Hervorhebungen O.B.]. 213 Vgl. Feger: Zeit und Angst. Gryphius’ Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther, S. 91. Dass es sich für jenes göttliche Recht, das Gryphius denkt, sich eben zu „sterben lohnt“, konstatiert bereits Dieter Nörr, jedoch mit Blick auf den Papinian: Dieter Nörr: Papinian und Gryphius. Zum Nachleben Papinians. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte; Romanistische Abteilung 83 (1966), S. 308–333, hier S. 313. 214 Antonius Augustín: Dialoghi di D. Antonio Agostini arcivescovo di Tarracona; sopra le medaglie, iscrizioni, e altre antichita. Roma 1698, II, Spes, S. 44f., hier S. 45: „B. Perche camina ella in punta di piedi? A. Perche non stà ferma, come quello già si è ottenuto, nè mai è senza timore,
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verkürzt. Es ist ein heidnisches Bild der Hoffnung, – eben „come figurauano gli antichi la Speranza […] assai differente dalla pittura de’moderni“.215 Sie muss überwunden werden durch eine Glaubenshoffnung, die sich durch Persistenz auszeichnet. Folglich hat sie am irdischen Tod keine Grenze. Deshalb schließt Gryphius’ in der Popschitz-Abdankung zur Frage der Hoffnung damit, „daß nicht nur der Tod ultima rerum linea […] oder das Ende aller Dinge / sondern vielmehr / Ultima spes, oder das usserste und Ende unsers Verlangens / erwarteter Glckseligkeit und Hoffens sey“ (GdW 9, S. 53).216 Beständige Haltung resultiert aus inständiger Hoffnung und ist damit kurzfristiger Hoffnung genauso überlegen, wie die ewige Liebe zu Gott durch ihre Unabhängigkeit von äußerer Affektion der irdischen Liebe überlegen ist. Diese Hoffnung erlaubt eine Optabilität des Todes. Dank ihrer werden sich menschliche Handlungsfragen für den Christen nie auf natürliche Notwendigkeiten reduzieren lassen. Noch der letzten weltlichen Handlungsoption steht, solange sie fundamental gegen göttliches Recht verstößt, die Alternative zu sterben gegenüber. Anders als der Pragmatismus meint, lässt sich universales Recht nicht aus natürlicher Notwendigkeit, praktische Vernunft nicht aus theoretischer Vernunft herleiten (5.2.1 sowie ausführlich 5.3.1 und 5.3.5.5): Naturrecht und Naturgesetz sind grundverschieden. Dies bestätigt zweierlei: Erstens kann für Gryphius das Fundament eines theonomen Naturrechts unmöglich allein der Selbsterhaltungstrieb sein. Dies machte er schon im Leo Armenius deutlich (5.1.2.4) und wird es auch im Papinian (augenscheinlich gegen Hobbes) geltend machen. Denn insoweit zunächst Gott Ehre erwiesen und Recht zu geschehen hat, ist die Selbsterhaltung nicht unter allen Umständen vernünftig wünschbar; der Tod ist nicht unter allen Umständen zu fliehen (ausführlich 5.3.5.6). Ein autonomes Menschenrecht217 oder sogar ein „Recht des Individuums“218 werden hier noch nicht gedacht.
e sempre ci pare che sia maggiore la cosa, quando noi la desideriamo, che dapoi che la possediamo“. Gryphius verwendete wahrscheinlich eine diesem späteren Druck gleiche frühe Auflage, da seine Angabe die Seitenzahl 44 führt: GdW 9, S. 51, Marg. 5. 215 Augustìn: Dialoghi, II, Spes, S. 44. 216 GdW 9, S. 53, Z. 6–9. 217 So Claudia Pilling: Geschichte statt Heilsgeschichte. Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Thomas Althaus, Stefan Matuschek. Münster, Hamburg 1994 (Münsteraner Einführung – Germanistik 3), S. 1–15, hier S. 6: „Der Märtyrer stirbt nicht für Gott, er stirbt für sich selbst, für sein Menschenrecht. Die Identität des Individuums leitet sich auch hier nicht mehr aus dem ordo, von außen, her, sondern hat ihren Schwerpunkt potentiell schon in sich selbst, in der eigenen constantia.“ 218 Ebd., S. 13.
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Zweitens stellt Catharinas Sterben vor diesem Hintergrund tatsächlich ein Martyrium dar und vollzieht dennoch nicht nur einen Glaubensakt: Es findet keine „Wandlung von der Politikerin zur apolitischen Märtyrerin“ statt.219 Es vollzieht gleichermaßen eine rechtliche Handlung, nämlich die Einhaltung des ersten Gebots, und zwar insofern dieses Gesetz ist, das es gegenüber Gott einzuhalten gilt, und insofern es Evangelium ist, das Catharina im rechten Glauben Heil verspricht. Das Trauerspiel führt hier zu keinem geringeren Ergebnis, als dass im ersten Gebot der sonst so wichtige Unterschied von Gesetz und Evangelium aufgehoben ist.
5.2.5.3 Affektreinigung und Beständigkeit als politische Theologie Die Erkenntnisse dieser Szene für das Gesamtdrama erschöpfen sich keineswegs in den Aspekten individualer Verhaltensethik und theologischer Affektreinigung des Einzelnen. Nicht erst, weil sowohl Chach Abas als auch Catharina als Herrscher homines politici sind, betreffen ihre Verhaltensfragen bei Gryphius immer auch das Politische. Nachdem Chach Abas seinen Geheimrat Seinel Can gefragt hat, ob er je „ein Weib gesehn daß man jhr gleichen kan“ (GdW 6, II,1, S. 168, v. 88), entspinnt sich folgender Abschnitt des Gesprächs, der hier großen Aufschluss bietet: S ein. Mein Frst / ich geb es nach daß keine sey zu finden An Schnheit / an Verstand. C h a ch . An Kunst zu berwinden. S ein. An Tugend. C h a ch . Vnd an Zucht. S e i n . An Herrligkeit. C h a ch . An Ruhm. S ein. Die nicht / weit unter jhr. C h a ch . O aller Blumen Blum! Chach. Welch Alabaster kan der Stirnen Schnee erreichen? S ein. Die zarte Lilie muß den edlen Wangen weichen. Chach. Der Nasen Helffenbein. S e i n . Die Lippen von Corall Der Augen helle Stern. C h a ch . das Hertze von Metall! Das Hertz ist nur zu hart. Wie wol pflegt sie zu gehen? S ein. Man siht die Majestet Personlich in jhr stehen. (ebd., v. 89–98)
Nach Nennung ihrer Tugend, Zucht und Herrlichkeit sowie ihres Verstandes driftet die Aufzählung von Catharinas Vorzügen zunächst unübersehbar auf vermehrt Äußerliches ab. Daher ist es kein Zufall, dass Seinel Can ausgerechnet dann Catharinas Majestät zur Sprache bringt, als Chach die Rede wieder auf ihre herausragende innere Veranlagung gelenkt hat, ihre Beständigkeit. Chach Abas wertet constantia gänzlich negativ, indem er sie als Hartherzigkeit bezeich-
219 Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 211.
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net. Dementgegen kommt für Seinel Can – in einem Moment seltener Klarheit – gerade in Catharinas Beständigkeit ihre herrschaftliche Würde und Anspruch zum Ausdruck. Eine allein ästhetische Erscheinung sittlicher oder gar nur wirkungsbezogener Erhabenheit ist damit zeitgenössisch nicht angesprochen: 220 Dies ist ein „neuerer Sprachgebrauch“ des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, wohingegen im siebzehnten Jahrhundert Majestät den politischen Status und seine Abkunft aus höherem Recht anspricht.221 Nur Abas betrachtet Catharinas beständiges Verhalten als allein private Angelegenheit, der persönlich zu begegnen in seinen Augen keine Norm entgegensteht und die daher weder Politisches noch Rechtliches berührt. Schon indem Catharina – wie auch Melanchthon – das persönliche Verhalten in Beziehung setzt zu politischen Prärogativen, die es unter dem Supremat der Gebote Gottes abzulehnen gilt, zielt ebenjenes Verhalten stets auf das Politische. Diese Prärogative werden schließlich nicht entpolitisiert, sondern ihr behauptetes Vorrecht wird bestritten: Ihre allein profan-pragmatischen Kausalitäten sind gegenüber dem ius divinum gar nicht rechtsförmig. Menschliches Verhalten wird nicht in einem vanitas-Furor zu entpolitisiert, der als solcher nur falsch verstanden wäre. Vielmehr geht es darum, die Regeln politischen Handelns gegen den Furor machiavellischer Pragmatik wieder zu verrechtlichen. Damit wird auch deutlich, dass Chach Abas’ Unrechtstaten für Gryphius notwendig in seinem falschen Glauben ihren Grund haben. Für Chach gibt es keinen Ausweg aus seiner Affektgefangenschaft, solange er Vernunftmittel unter Absehung von den einzig richtigen Gründen für hinreichend hält. Wer als Ungläubiger den göttlichen Gesetzen gemäß handelt, handelt eben nur zufällig gemäß Pflicht, nicht aus Pflicht. Insofern ist auch die osmanische Hilfe, die Tamaras und Meurab erteilt wird, als Handeln zu begreifen, das eben nur zufällig dem Gesollten konform ist. Es entspringt jedoch einer gänzlich heterogenen Motivation, nämlich nicht um Catharinas Herrschafts- oder Freiheitsrecht geltend zu machen, sondern um sich im eigenen Krieg gegen Persien mit dem Bündnispartner Georgien zu verstärken. Dass muslimische Reiche notwendig Unrecht verüben, wie
220 Der Gedanke einer ästhetischen Beurteilung der Kraft, von der die an der Gesetzmäßigkeit interessierte moralische Beurteilung unterschieden ist, wird bekanntlich erst vom späten Schiller prominent entwickelt: Friedrich Schiller: Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst. In: Sämtliche Werke. Bd. V.: Erzählungen, Theoretische Schriften. Hg. von Wolfgang Riedel. München 2004, S. 537–543, besonders S. 541; vgl. Karl S. Guthke: Schiller und das Theater der Grausamkeit. In: Euphorion 99 (2005), S. 7–50, hier S. 36. 221 Lemm. Majestät. In: DWb 12, Sp. 1485–1488, hier Sp. 1486.
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noch Melanchthon behauptet,222 ein Bündnis mit ihnen also verboten ist, ist im Trauerspiel des Gryphius sichtlich nicht mehr angedacht. Das göttliche Recht knüpft eine enge Verbindung zwischen individualethischem Verhalten einerseits, das sich seiner Gründe nur über die „zeugnisse in göttlicher Schrifft“223 versichern kann, und politisch-theologischer Handlungslehre andererseits. Den Schluss, dass daher auch letztere nur auf den Boden der Schrift gestellt werden kann, zieht Catharina von Georgien noch nicht. Er wird in dieser Deutlichkeit erst im Carolus Stuardus erfolgen, und zwar erst nachdem Gryphius im Papinian die Erfolgsbedingungen des Innatismus in einer exklusiv paganen Figurenkonstellation erprobt hat.
5.2.6 Recht als Quelle guter Politik: Gryphius gegen einen apriorischen Pragmatismus Nachdem Chach Abas dem Gesandten des Zaren sein Wort auf Catharinas Freilassung gegeben hat, verfällt er umgehend in Zweifel über den in seinen Augen so „[t]eu’r! vnd mehr deñ teu’r von vns erkaufften Frid“ (GdW 6, II,4, S. 171, v. 183). Gryphius bringt hier die Auswüchse eines schwankenden Gemüts zur Darstellung, besonders was Chach Abas’ konfuse Vorstellungen von Recht anbelangt: Mal meint er, „[s]o Reussen auch mit Recht vmb dise Fraw darf bitten / Kan Abas mit mehr Recht auff sie den Grimm außschtten“ (ebd., v. 209f.). Für diese Auffassung steht François Connan Pate: Verträge, besonders solche im zwischenstaatlichen Naturzustand, erzeugten höchstens eine dem Souveränitätsrecht untergeordnete Verpflichtung (im Effekt also gar keine: 5.2.3.2). Mal gesteht Abas wiederum Catharina zu, gegen seine Truppen ihr „Schwerdt mit Recht / wir stehn es zu / gewetzt“ zu haben (ebd., S. 172, v. 228). Georgien habe gegen Persien einen bellum iustum geführt, woraufhin sich die Frage seines Rechts auf ‚Grimm‘ eigentlich erledigt. Dann wieder möchte er den Vertrag brechen, dessen Rechtmäßigkeit Abas indes gar nicht mehr bestreitet: Wir sind durch eignen Mund zu dieser That gezwungen Die vnser Geist verflucht! er macht vnd bricht den Schluß. Er thut nicht was er will; vnd will nicht was er muß. (ebd., S. 173, v. 270–272)
222 CR XXII, Sp. 623: „Mahomets reich ist fürnemlich dazu angefangen, den Namen vnsers Heilands Christi zu tilgen. […] das Mahometisch Gesetz, darauff das Saracenisch vnd Türkisch Reich gegründet ist, gebeut nicht frieden zu halten, sondern die Friedlichen anzugreiffen vnd zu morden.“ 223 CR XXII, Sp. 70.
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An diesem Punkt des schon langandauernden Monologs sieht sich Seinel Can endgültig zum Einschreiten gezwungen. Er versucht dem drohenden Vertragsbruch Einhalt zu gebieten, indem er im Wesentlichen vier Argumente führt. Erstens verliert Catharina als ‚Magd‘ Russlands ihre Souveränität eher als durch die Annahme der persischen Krone (5.2.4.2), „das sie hir im Kercker mehr denn frey / Doch dort in Gurgistan / mehr als gekerckert sey!“ (ebd., S. 174, v. 291f.) Seinel Can nennt zweitens das bekannte affektökonomische Argument (5.2.5.2). Er wendet es diesmal jedoch auf Chach Abas an, insofern dessen Liebeseifer durch Catharinas Abwesenheit beizeiten vergehen wird: „Abwesend seyn vnd Zeit / Lescht alle Flammen auß. Man sigt in libes Streit / Wenn man den Feind nicht siht“ (ebd., v. 295–297). Wieder zeigt sich Seinel Can als Vertreter des cartesischen turn in der Affektenlehre: Nicht die Seele, sondern die Gegenstände verursachen die Leidenschaften.224 Ihr Entfernen verspricht also auch die Linderung der Leidenschaften. Drittens hege Seinel Can die vordringlich innenpolitische und ruhmesethische Befürchtung, dass Chach Abas durch seine liebestolle Unterwürfigkeit sein politisches Ansehen als Souverän einbüßt (ebd., v. 297–322). Vor allem aber pocht Seinel Can viertens auf das Prinzip des pacta sunt servanda.
5.2.6.1 Vertragstreue und Souveränitätspragmatik Auf die Einhaltung von Verträgen pocht Seinel Can weniger aus völkerrechtlichen Gesichtspunkten. Vielmehr leiten ihn souveränitätspragmatische Überlegungen. Als Chach Abas nämlich gegen den Vertrag mit den russischen Gesandten einzuwenden versucht, er sei „bereilt“ worden, kontert der Geheimrat dies nicht etwa mit einer Pflicht gegenüber Russland, sondern mit Chachs Pflicht gegenüber seinem eigenen Status: „Diß laufft der Majestet deß Frsten vil zu nah“ (ebd., S. 175, v. 332). Ein Souverän, der seine Handlungsmacht als so einfach manipulierbar offenbart, stellt seine summa potestas politisch gefährlich in Frage: Die rechtliche Souveränität des Fürsten muss seine Entsprechung in der Rechtswirklichkeit einer politischen Erhabenheit (maiestas) haben. Sie verleiht seinen Beschlüssen und Versprechen eine von niederen Faktoren unabhängige Verlässlichkeit. Entscheidend für Seinel Cans Argument ist, dass es ihm weniger um die Gültigkeit oder gar Güte des Vertrages selbst geht. Das bereits zitierte Prinzip Grotius’, dass Bündnisse eine vorzüglich königliche Befugnis darstellen (5.2.3.1), wird nicht bestritten. Jedoch wird die Argumentationsrichtung umgekehrt: Es
224 Vgl. nochmals Talon-Hugon: Vom Thomismus zur neuen Auffassung der Affekte im 17. Jahrhundert.
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geht nicht um eine Dienstbarkeit des politischen Handelns gegenüber transhumanem Recht, sondern Seinel Can spricht von den Effekten rechtlichen Verhaltens für das politische Ansehen. Ein Souverän, der offen zugibt, leicht „bereilt“ werden zu können, argumentiert nicht mit, sondern gegen seine Souveränität. Dass der Souverän hierbei von „schickungen“ – so Abas (ebd., v. 339) – angefochten wird, stellt Seinel Can gar nicht in Abrede: „Diß schickt der Himmel auch. Drumb tragt es mit Geduld“ (ebd., v. 340). Von solchen Kausalitäten hat sich der Fürst nicht irritieren zu lassen. Denn gerade er ist als höchste irdische Obrigkeit derjenige menschliche Akteur, der im Falle solcher „schickungen“ seine Aufgaben weder delegieren kann noch darf. Politische constantia wird hier nachgerade zur denknotwendigen Herrscherpflicht.
5.2.6.2 Catharina zu Machiavellis unvermittelter Normativität des Politischen Diese Überlegungen Seinel Cans argumentieren vor allem pragmatisch, insofern er die Herrscherpflicht mehr aus dem Begriff der Souveränität als aus der göttlichen Verpflichtung des Herrschers ableitet. Dennoch behält Seinels Argumentation allemal ein normatives Moment, dass Chach Abas nämlich in jedem Falle Persien verpflichtet ist: „Ist jhrer Majestet was liber als jhr Land!“ (ebd., v. 336). Seit Walter Benjamin hebt die Forschung bisweilen vor allem Chach Abas als die vielseitige Figur des Dramas im Unterschied zur in jeder Hinsicht kon stanten Catharina hervor225 – Benjamin sieht im Perserkönig die spannungsvolle Geschöpflichkeit des Menschen realisiert226 (dazu 6.4). Demgegenüber ist hier vor allem die facettenreiche Figurenzeichnung des Seinel Can zu betonen. So sehr Gryphius ihn nämlich hier wie schon in II,1 vermehrt pragmatisch argumentieren lässt, so unterschlägt der Rechtstheologe dennoch nicht, wie weit ein solch pragmatischer Ansatz dahin tragen kann, nicht nur das politisch, sondern auch rechtlich Gebotene zu erzielen. Dennoch wird Catharina von Georgien umso mehr verdeutlichen, dass die reine Kommensurabilität prudentieller und rechtlicher Mittel nicht hinreicht, um das Ziel zu erreichen, das hier rechtlich verlangt, dort nur opportun erwogen wird. Das Trauerspiel wird den Kontrapunkt zwischen Chach Abas und Catharina
225 Pilling: Geschichte statt Heilsgeschichte, S. 9; Albrecht Koschorke: Das Begehren des Souveräns. Gryphiusʼ Catharina von Georgien. In: Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Hg. von Daniel Weidner. München 2006 (Trajekte), S. 149–162, hier S. 154f.; schon Gerald Gillespie: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘ als Geschichtsdrama. In: Geschichtsdrama. Hg. von Elfriede Neubuhr. Darmstadt 1980 (Wege der Forschung 485), S. 85–107. 226 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 61f.
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schließlich darin setzen, dass die Königin von Georgien aus Pflicht gegenüber der allmächtigen Gottesinstanz handelt (5.2.4.2), wohingegen Abas der gewusste Druck einer solchen Verpflichtungsinstanz gerade abgeht: Chachs Verpflichtung zu herrschen kommt auch hier nicht durch eine vis obligativa von außen. Sein bloßes Pflichtgefühl ist ihm letztlich selbst anheimgestellt und seine Entscheidung, sich sein Land oder Catharina „liber“ sein zu lassen, bleibt irreduzibel. Unter diesen rein dezisionistischen Prämissen kann Seinel Can seinem Herrscher unmöglich vermitteln, warum die erste Alternative die gebotenere ist. Nur eine entschieden rechtsförmige Herrscherpflicht erlaubte Seinel, seine ohnehin nur rhetorische Frage, „Ist jhrer Majestet was liber als jhr Land!“, auch klar zu verneinen. Andreas Gryphius greift hier sichtlich das an, was Gideon Stiening als die einzige „normative Komponente der politischen Argumentation Machiavellis“ ausmacht, nämlich die Stabilität von Macht und Staat.227 Denn in der Tat beurteilt Machiavelli etwa Cesare Borgias grausames Vorgehen als löblich, weil es die Romagna aus der Zersplitterung und innenpolitischen Spannung errettet habe.228 Inwiefern die Normativität der politischen Stabilität unter rein pragmatischen Gesichtspunkten denkbar sein sollen, bleibt unbegründet und macht für Gryphius offensichtlich den Nukleus machiavellischer Inkonsistenz aus. Diese Unstimmigkeit kann nur beheben, was allen Machiavellismus widerlegt: eine Verpflichtungskraft innehabende Gottesinstanz, die Herrschaftsrecht und -pflicht nur genauso Geltung verleiht wie allen übrigen Normen des natürlichen und göttlichen Rechts.
5.2.6.3 Sinnliche Gewissheit? Recht als Quelle ästhetischen Entsetzens Es nimmt daher nicht wunder, wenn im unmittelbar folgenden Reyen die „von Chach Abas erwrgeten Frsten“ (II,5) genau diese Gottesinstanz zur aktiven Rache aufrufen. Denn abermals wird deutlich, dass die Flüchtigkeit des irdischen Lebens weder Anlass noch Berechtigung gibt, dieses irdische Leben gering zu schätzen. Der Chor betont zwar in 22 Versen ebendiese Flüchtigkeit: „So schnell ja schneller fleucht diß Leben / Das wir eh’ enden als anheben“ (GdW 6, II,5, S. 176, v. 373f.). Dennoch stellt der „GegenChor“ im Gegenzug vermehrt auf das Unrecht ab, mit dem Chach Abas ihnen den ohnehin „kurtzen Faden abriß“ (ebd., v. 379f.).
227 Stiening: ‚Non est potestas nisi a Deo‘. Francisco de Vitorias Rechtslehre im Kontext, S. 9. 228 Machiavelli: Il Principe, XVI, S. 126: „Era tenuto Cesare Borgia crudelei: nondimanco quella sua crudeltà aveva racconcia la Romagna, unitola, ridottola in pace e in fede.“
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Die Hybris des persischen Schahs kennt weder Tötungsverbot noch Vertragspflicht: Er „[s]chertzt offt mit Eyd vnd Bund“ (ebd., S. 177, v. 391). Chachs lose Vertragspolitik, die schon Seinel Can bemängelte, weiß der Reyen der Gottlosigkeit des Perserkönigs zuzuschreiben. Besonders aber hinsichtlich der Mordlust Chachs, nicht allein des Taterfolgs seiner Morde, versucht der Gegenchor die Notwendigkeit einer göttlichen Strafe hervorzuheben. Die Schilderung exzessiver Gewalt, wie sie sich hinsichtlich Catharinas Folterung wiederholen wird, ist zwar knapp, aber ebenso exhaustiv wie unverblümt: Pfahl / Mrsel / Spiß / Bley / Beil vnd Stangen / Rohr / Sge / Flamm / zuschlitzte Wangen / Entdeckte Lung’ / entblste Hertzen / Das lange zappeln in den schmertzen / Wenn man vns Darm vnd Zung entrckte! Das war was Abas Aug’ erquickte. (ebd., v. 395–400)
Während die Figurenreden vermehrt argumentativ funktionieren, arbeitet Gryphius hier vermehrt ästhetisch. Der Leser soll sich ob der Schilderungen von Chachs crudelitas entsetzen und – so er es denn noch nicht getan haben sollte – endgültig gegen den Perserkönig Partei nehmen. Auch möchte sich das folgende gemeinsame Argument von Chor und Gegenchor als Argument zunächst ästhetisch realisieren: „O Richter dieser Welt dem Printzen zu gebott! / Wie lange sihst du zu?“ (ebd., v. 401f.). Nach der vorhergehenden Gewaltschilderung hat diese Rede ohne Zweifel größte Aussichten auf die Zustimmung ihrer Leser. Im strengen Wortsinne angesichts der maßlosen Grausamkeit Chach Abas’ ‚muss‘ Gott nachgerade etwas dagegen unternehmen: Hat denn der Bluthund noch / trotz Zeit! trotz Recht! vnd Gott / Auff seinem Throne Ruh! Willst du HErr der Welt nicht wachen / Vnd deß Gris ein Ende machen! (ebd., v. 403–406)
Besonders mit jenen Verben visueller Wahrnehmung sihst und wachen zielt der Reyen auf die schon ästhetische Unerträglichkeit der persischen Politik: Sie ist schlichtweg nicht mitanzusehen. Das ästhetische Moment drängt sich dadurch umso mehr auf, dass die „erwrgeten Frsten“ sich mit dem Vorwurf an Gott wenden, dieser wache nicht ausreichend über die irdischen Vorgänge. Im Ansatz veranschlagt Gryphius dichterisch durchaus etwas, das Hegel später als sinnliche Gewissheit bezeichnen wird. Die Sinnlichkeit der poetischen Grausamkeitsschilderung „erscheint […] als die wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich“.229
229 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Gesammelte Werke. Hg.
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Genauso wie Hegel hinsichtlich der sinnlichen Gewissheit im Allgemeinen macht der Reyen mit Blick auf die Grausamkeit im Speziellen deutlich, dass ihre Sinnlichkeit selbst nicht schon ihren Charakter als Grausamkeit vor dem Recht bestätigt – noch weniger erlaubt ihre Sinnlichkeit schon zu begründen, was Recht ist. Wenn es oben hieß, dass Gott angesichts der maßlosen Grausamkeit Chach Abas’ nachgerade einschreiten ‚muss‘, war dies mit Bedacht vorsichtig formuliert worden. Diese sinnliche Gewissheit ist normativ nämlich genauso unergiebig, wie sie für Hegel im Hinblick auf wahre Erkenntnis ‚ärmlich‘ ist: „Diese Gewißheit aber giebt in der That sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist; und ihre Wahrheit enthält allein das Seyn der Sache […]“.230 Mit ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit ist allemal nur das Statthaben der Grausamkeit Chachs gegeben: Warum die geschilderten Martern grausam sind, mithin warum sie unrecht sind, hat seinen Grund nicht in der sinnlichen Gewissheit, sondern im schon vorangenommenen Recht Gottes. Die ermordeten Fürsten leiten ihre Vorstellung von Recht nicht aus ihrem Entsetzen ab, genauso wenig wie Gryphius’ Leser es aus seinem Entsetzen ableiten soll. Das Entsetzen gründet umgekehrt in dem, was als Recht je schon anerkannt und gewusst wird: Es wird sich entsetzt über Handlungen, die „trotz Recht! vnd Gott“231 unternommen wurden (GdW 6, II,5, S. 177, v. 403 [Hervorhebung O.B.]), „dem Printzen zu gebott“ stehen, wie auch Chach Abas ihm hätte zu Gebot stehen sollen. Als Frage verbleibt also nicht die eines Ob des göttlichen Rechts, sondern die seiner tatkräftigen Geltendmachung. Dass insbesondere Catharinas Recht geltend gemacht wird, ist nicht allein deshalb fraglich, weil sich Chach Abas in der Vorszene als wankelmütig hinsichtlich Catharinas Freilassung erwiesen hat – beschlossen hat er seinen Vertragsbruch an dieser Stelle des Trauerspiels schließlich noch nicht. Die Frage nach der adäquaten Geltendmachung des göttlichen Rechts wird auch hier mit Blick auf die bereits erläuterten Mittel gestellt, die von Russland zu Catharinas Freilassung aufgewendet werden. Der Reyen der „erwrgeten Frsten“ steht daher nicht isoliert als Klage über ihr eigenes erlittenes Unrecht, sondern wirft mit seiner allgemeinen Fragestellung auch sein Licht auf die causa Catharina. Er weist auf die noch folgende Trauerspielhandlung voraus: Hinsichtlich der Ohnmacht, mit welcher der Vertragsbruch den russi-
von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 9. Hamburg 1980, A, I, S. 63 [Hervorhebungen im Text]. 230 Ebd. [Hervorhebungen im Text]. 231 GdW 6, Catharina von Georgien, II,5, S. 177, v. 403 [Hervorhebung O.B.].
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schen Gesandten zurücklassen wird, muss der ‚Prozess‘ um Catharinas Recht, das nun noch schwerer verletzt wird, in die letzte Instanz gehen: Ernster Richter! be Rache! Wache! grosser Gott erwache. Wache! Wache! Wache! Wache; Rache! Rache! Rache! Rache. (ebd., v. 413–416)
5.2.7 „Gott lst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht“. Die göttliche Strafe in Catharina von Georgien Mit dem Folterbericht der Dienerin Serena bietet Gryphius nochmals eine indirekte, jedoch ästhetisch nichts an Grausamkeit aussparende Darstellung körperlicher Gewalt (V,1): Die Rede vom „im Blut zischenden Stahl“, vom Fleisch, das Catharina von den Schenkeln hängt, vom Abschlagen ihrer Brüste und der Freilegung ihrer Lunge (ebd., V,1, S. 210f., v. 66–99) ruft beim Leser nochmals alles Entsetzen und moralische Empörung hervor. Für den Zuschauer des Theaterstücks indessen wird in V,2 die Darstellung nochmals gesteigert und HansJürgen Schings ist nur unumwunden zuzustimmen: „Dem auf äußerste Konkretion erpichten Demonstrationswillen ist freilich erst dann Genüge getan, als die Henker die furchtbar zugerichtete, aber noch lebende und sprechende Catharina über die Bühne führen, um sie dem Feuertod zu übergeben [ebd., V,2, S. 211f., v. 105–125]“.232 Dem gesteigerten Entsetzen eines rechtlichen Bewusstseins folgt die um so dringlichere Frage nach der Vergeltung dieser Unrechtstaten. Blickt man zurück auf die soeben gezogenen Schlüsse zur Rolle des Ästhetischen im rechtlichen Diskurs (5.2.6.3), wird die Funktion der rhetorischen wie dramaturgischen Mittel, die Gryphius hier aufwendet, deutlich. Wie Norbert Brieskorn nämlich zurecht bemerkt, macht Vergeltung prinzipiell den Anlass von Strafe aus: „Punitur, quia peccatum est“.233 Ob jedoch und, wenn ja, inwiefern Vergeltung auch das Prinzip des Strafmaßes darstellt, ist eine gänzlich andere Frage.234 Wenn Gryphius seinem Leser und Zuschauer die Details von Chachs Unrechtstat derart plastisch vorstellt, so tut er dies nicht nur, um die emotive Forderung nach rechtlicher Ver-
232 Hans-Jürgen Schings: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 35–72, hier S. 47. 233 Brieskorn: Rechtsphilosophie, S. 139. 234 Ebd.
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geltung zu verstärken, sondern auch um die Frage nach ihrer Gestalt und ihren Mitteln aufzuwerfen. Der Zeitgenosse, besonders der historisch informierte, wird sich keine Illusionen gemacht haben, dass Abas’ Strafung nicht „secundum imaginem facti“235 erfolgt war: In der Identität der Mittel von Straftat und Strafe, dem simplen Talion also, vollzieht sich Abas’ Strafung nicht. Umso mehr fragt es sich, welche Strafen in Catharina über Abas verhängt werden.
5.2.7.1 Imanculis Hinrichtung und die Diplomatie des Bauernopfers Doch zunächst hat es um das Motiv des Bauernopfers zu gehen. Es steht abermals im Zeichen der Souveränität, nimmt aber nicht die Seite der umfassenden Rechte der summa potestas in den Blick, sondern ihre Kehrseite, nämlich die ebenso umfassende Verantwortung. Sobald Catharina in V,2 hingerichtet wurde, nimmt Imanculi mit allem Erschrecken und Staunen die Weisung seines Herrschers auf, ihn dafür in Ketten zu legen: „Was hab ich mehr verricht / Als was Chach Abas mir außdrcklich hat befohlen?“ (ebd., V,3, S. 212, v. 148f.). Mit 30 Versen fällt diese bedeutungsschwere Szene zwar denkbar kurz aus. Dennoch lässt Gryphius Imanculi wiederholt auf die herrscherliche Hoheit hinweisen, die sein Befehl genoss, Catharina entweder zur Konversion und Heirat zu überreden oder unverzüglich hinrichten zu lassen (III,3, IV,3). Die Vorwürfe Abas’, die Umstände dieses Befehls psychologisch nicht hinreichend bedacht zu haben, weist Imanculi juristisch wie juridisch von sich: Chach. Sol ich dir nicht das Hertz auß deinem Busen holen? Dein vnbedachtes Hertz? das gantz nicht berlegt Das heisser Eyversucht / wenn sie zu herschen pflegt Nicht jeden Augenblick so blind sey nachzukommen? Iman. Wer hat den Frsten sich zu richten vnternommen? Er schaft. Wir knnen nichts als was er heist vollzihn. (ebd., v. 150–155)
Wohlgemerkt ist es gerade nicht Abas, sondern Imanculi, der mit dem Prinzip des ‚Befehl ist Befehl‘236 den Souveränitätsbegriff stärkt: Die Souveränität Chach
235 Vgl. ebd., S. 134. 236 Wie wenig Imanculis Unterwerfung unter und seine Entschuldigung durch den obrigkeitlichen Befehl natürlich systematisch stichhält, zeigt Georg Geismann: ‚Befehl ist Befehl‘. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 6 (1996), S. 601–622. Von den kantischen Errungenschaften moralisch wie rechtlich praktischer Vernunft zehrt Gryphius natürlich noch nicht (insofern diskursiviert sein Trauerspiel nicht auch diesen Einwand Imanculis als Irrtum) und man darf vermuten, dass er auch als ein Zeitgenosse Kants weder von ihnen gezehrt noch sich ihnen überhaupt angeschlossen hätte.
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Abas’ lässt keine Urteile über ihn seitens seiner Untertanen zu. Ob sie rechtlich oder auch nur psychologisch der Sache nach angebracht wären, berührt die Frage der Urteilsbefugnis nicht. Chach Abas fasst sein stark eingeschränktes Vermögen, recht zu herrschen und zu urteilen, also höchstselbst in Worte. Damit läuft die Frage Wer straft? weiter auf die einzig noch verbleibende Antwort Gott hinaus. Wenn Imanculi nämlich Chach Abas’ Forderung von sich weist, seine königlichen Befehle eigenständig zu beurteilen und erst dementsprechend zu handeln, so lehnt er schließlich nichts Anderes ab als die Haltung der Monarchomachen237 (siehe hierzu vor allem 4.1.2.2) – die hier ausgerechnet von einem absoluten Herrscher vorgetragen wird. Chach Abas beeindruckt dies wenig und lässt Imanculi binden. So verstrickt er sich in Aporien des Absolutheitsanspruchs: Er will nicht nur umfassend verantwortlich sein, sondern im Gegensatz dazu auch beliebig Verantwortlichkeiten von sich weisen können. Zurecht wiederholt Imanculi also: „O fremdber Fall der Dinge! / Indem ich / was der Frst so scharff befahl / vollbringe; Fllt diser Sturm auff mich“ (ebd., S. 213, v. 161–163). Imanculi übertreibt in dieser Hinsicht keineswegs, denn in der Tat hatte Chach Abas’ Befehl in III,3 nicht anders gelautet als: […] Taug jhr der Vorschlag nicht! So wird’ (vnd bey Verlust deß Kopffs) in eil verricht Was diß Papir dich heist. Laß dich nicht eher schauen Als nach volbrachtem Werck. […] (ebd., III,3, S. 190, v. 455–458)
Nachmalige Versicherung des herrscherlichen Willens war ausdrücklich nicht gewünscht und Imanculi war bei Nichtausführung des Befehls nur genauso der Tod angedroht worden, wie er ihm jetzt droht. Gryphius lässt Imanculi hier eine Formulierung wählen, die kaum pointierter hätte ausfallen können: Hätte er Imanculi seine Bestrafung mit den Worten bedauern lassen, „obwohl ich / was der Frst so scharff befahl / vollbringe“, wäre nur die Gegenläufigkeit von Befehl einerseits und andererseits der Reaktion auf den Gehorsam zum Ausdruck gebracht worden. Gryphius wählt jedoch mit indem eine Modal-Konjunktion und bringt damit die Unmöglichkeit eines funktionierenden Willkürsystems bündig zum Ausdruck: Wenn der herrscherliche Wille, so ungebunden er auch sein mag, in seinen Weisungen nicht zumindest konstant bleibt, sind Gehorsam und Ungehorsam ununterscheidbar. Ungehorsam vollzieht sich bisweilen durch den Gehorsam. Auch ein grundsätzlich willkürliches Gefüge von Befehlen und
237 Vgl. Schulze: Zwingli, lutherisches Widerstandsdenken, monarchomachischer Widerstand; Schmidt-Biggemann: Althusius’ Politische Theologie; Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen.
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Gesetzen muss also doch im Sinne von Kohärenz rationalisierbar sein, wenn es überlebensfähig sein will. Seinel Cans Erklärungsversuch, „[d]er Frsten Regeln sind sehr fremd’ vnd schwer zu fassen“ (ebd., V,3, S. 213, v. 169), trifft demgegenüber nicht den Punkt und erreicht nicht das Argumentationsniveau, auf das Imanculi den Dialog bereits gehoben hat. Denn hier erschwert nicht die Komplexität von „Frsten Regeln“ ihr Verstehen: Dies beruhte noch allemal auf der Annahme, dass diese Regeln sich bei näherem Hinsehen als eigentlich schlüssig erweisen. Chach Abas’ Befehle lassen sich jedoch ihrer Widersprüchlichkeit wegen unmöglich befolgen: Sie sind nicht schwer zu fassen, sondern unfassbar. Es ist nicht nur Chach Abas, der sich hier widerspricht. Auch Seinel Can artikuliert den Vorwurf an Imanculi, „[d]u hast in disem Stck dich mercklich vbereilt“ (ebd., v. 167). Dass eine Handlung, die von einem Souverän befohlen wurde, sich überhaupt übereilen lässt, wollte Seinel Can noch in II,4 nicht als Argument gelten lassen (5.2.6.1). Genauso wie es ihm dort um die Außendarstellung einer Übereilbarkeit des Herrschers ging, so geht es ihm auch hier darum. Da jedoch nun einmal Fakten geschaffen wurden, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen, ist aus ihnen das Bestmögliche für den Fürsten zu machen. Dass die Behauptung der Übereilung hinsichtlich der Vertragstreue dem Souveränitätsanspruch geschadet hätte, tut für Seinel Can nurmehr wenig zur Sache. Seinel Can ist ganz Machiavellist: Chach Abas ist in seiner Machtposition möglichst unbeschadet aus der gegebenen Situation zu befreien. Wenn dazu der Verdacht einer Übereilung seitens Imanculi hilfreich ist, so ist dieses Mittel nützlich, und zwar unabhängig davon, ob es zuvor wenig opportun war. Bemerkenswerter Weise entpuppt sich der russische Gesandte weniger als Gegen- denn als Mitspieler Seinel Cans. Als in der Folgeszene V,4 der Priester ihm sowie Demetrius und Procopius das verbrannte Haupt der Catharina präsentiert, empört sich der Gesandte des Zaren zwar noch sichtlich: Ist diß deñ Abas Wort? ist Persen so zu trauen? Luft! Himmel! Erden! See! wem wird davor nicht grauen? Geht denn kein Donner an / der diese Mrder trifft? Die die Verrtherey! Diß Mordspiel angestifft. Pflegt Persens Boden nicht gerechter Gott zu zittern / Wenn solche Grausamkeit vnmenschlich sich will wttern? (ebd., V,4, S. 214, v. 189–194)
Schon in derselben Szene jedoch bringt er seine ganz persönliche Sorge zum Ausdruck, für das Scheitern seines Auftrags bei Tamaras wie auch beim Zaren verantwortlich gemacht zu werden: „Nein! nein! Ach man wird mir die gantze Schuld aufflegen“ (ebd., S. 215, v. 221). Als ihm Seinel Can schließlich die Schuld Imanculis ebenso nahezulegen versucht wie Chachs Unschuld (ebd., V,5, S. 216,
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v. 276–292), lässt sich der Gesandte zwar vorerst nicht irritieren und spricht weiter von einer Verantwortung Persiens und seines Herrschers Chach Abas. Seinel Cans Verweis auf Imanculi scheint er nachgerade gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben: Es blickt ja mehr deñ vil wie leicht sich Chach erhitze; Es blickt ja hir wie man die Seel im Blut außschwitze Der Frstin Holtzstoß zeugt daß strenge Tyranney / Durch Gaben / Bitt vnd Nutz nicht zuerweichen sey. Laß ich in dem ich Perß vnd Reussen sol vershnen Der Reussen Haubt in mir durch euren Trotz verhnen.(ebd., S. 217, v. 293–298)
Seinel Can greift gerade die politischen Bedenken des Gesandten auf, um dessen rechtliche Bedenken weniger zu lindern als indifferent zu setzen. Wenn nämlich seine hauptsächliche Sorge und Auftrag seien, „Perß vnd Reussen [zu] vershnen“, sollten seine weiteren Pläne vermehrt dieser Sorge gehorchen. Einigermaßen unumwunden fordert Seinel Can ihn auf: „[L]aß er sich bewegen / mehr durch die Werck als Wort“ (ebd., v. 306f.), und er verdeutlicht alsbald, dass dies nichts anderes heißt als: mehr durch Pragmatik denn durch das rechtlich bessere Argument. Seinel Can stellt nunmehr auf den angestrebten Frieden ab: Will er / nun man schon siht / den gldnen Friden blhen Vmbstossen was man schloß; so richte Gott vnd Welt / Ob Vrsach / daß auffs New das Leichen-volle Feld Vns all’ in Eisen seh. Wo Chach das Recht lest schlaffen; Vnd nicht diß Mordstck eilt nach wrden abzustraffen; So schreit die Wolcken an / so reist den Bund entzwey / Vnd ziht die Sebel aus. Doch steht euch beydes frey! Denckt nur ob man hirdurch die Todte werd’ erwecken / Vilmehr geht’s vber die / die noch im Kercker stecken. Sie / war ein frembdes Weib. Eur eigen Nutz ist groß. Man gibt fr eine Fraw vil tausend Reussen loß! […] Schlagt nicht eur eigen Glck so ruchloß in den Wind! (ebd., S. 218, v. 322–332, v. 336)
Den Frieden hinzugeben für eine russische Strafintervention für „ein frembdes Weib“, stünde sicherlich nicht im Nutzen-Kalkül des Zaren: Das Recht ist demgegenüber zweitrangig. Seinel Can diffamiert ius divinum und ius gentium als nutzlos, das Beharren auf ihnen als unklug. Mit diesem Argument des Nutzens sowie mit dem Angebot der unverzüglichen Freilassung russischer Gefangener hat er den russischen Gesandten nunmehr überzeugt. Dieser übernimmt die utilitaristisch-pragmatische Position und lässt von weiteren Fragen nach der eigentlichen Schuld ab:
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G esan. Die Sach ist berlegt! was wir vor Nutz zu hoffen; Steht euch so vil als vns. Sind eure Lnder offen: Die vnsern sind euch frey! eur Kercker ist nicht ler; Die vnsern sind gefllt. Ist eure Wage schwer; Der Reussen ist nicht leicht. Wer schuldig / muß es fhlen. Wo Abas disen Brand nicht will mit Blut abkhlen; So sind die Wort vmbsonst. S e i n . Noch heute sols geschehn; Daß er deß Mrders Kopff sol auff der Tafel sehn. (ebd., v. 337–344)
Als Teil des persisch-russischen Vertrags ist Catharinas causa austauschbar, weil es diesem Vertrag nie um ihr Recht gegangen war. An die Stelle ihres Lebens wird das der russischen Gefangenen in den Friedensvertrag eingesetzt, unter dessen exklusiver Perspektive der Gesandte die Angelegenheit jetzt betrachtet. In dieser utilitaristischen Perspektive werden weder Recht geltend gemacht noch Unrecht gesühnt, sondern lediglich erhitzte Gemüter „mit Blut abgekühlt“. Imanculi wird im Rahmen dieses politischen Schachspiels in der Tat zum Bauernopfer, seine „Schuld“ ist Prätention – Gryphius lässt, indem er den Gesandten hier noch diese Begrifflichkeit verwenden lässt, durchaus einigen Zynismus spüren. Die Erkenntnis, um die es dem Trauerspiel mit dieser Szene geht, ist schlussendlich keine Geringere, als dass Frieden nicht notwendig Mittel des Rechts, sondern bisweilen Mittel des Unrechts sein kann (6.6).
5.2.7.2 Das forum internum als Strafe und Strafankündigung Wenn Russland als potenter völkerrechtlicher Akteur endgültig wegbricht, verbleibt zur Geltendmachung dieses göttlichen ius gentium nurmehr Gott allein. Vordergründig scheint sogar Chach Abas selbst die nachdrückliche Frage nach seiner Bestrafung zu stellen: Ist Catharina Tod vnd Chach ist noch bey Leben! Vnd wil der Himmel nicht / Gewaffnet mit der Glut von Schwefel-hellem Licht Feuer nach dem Kopffe geben? Hat Chach / Princessin! sich / hat Chach sich so vergriffen? Vnd sein selbst eigen Hertz durch deine Qual zurissen? (ebd., V,6, S. 218f., v. 345–350)
Allerdings ersehnt der Perserkönig das göttliche Feuer auf sein Haupt weniger wegen seines Rechtsbruchs, sondern weil er den Menschen tötete, den er leidenschaftlich liebte. Schon in den zahlreichen Versen vor dem Auftreten des ‚Geistes‘ Catharinas spricht Chach Abas nicht einmal dasjenige Unrecht an, das er allein mit ihrer illegitimen Gefangensetzung begangen hatte. Auch seine Mordintrigen gegen Catharinas Schwiegervater König Alexander und ihren Gatten David
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kommen ihm nicht in den Sinn. Er fordert seine Strafe aus dem Eigeninteresse seiner verzweifelten Liebe, die sich weder verallgemeinern noch verrechtlichen lässt. Als Catharinas Geist erscheint und der Himmel sich öffnet, bekommt Chach Abas zwar eine Ahnung, dass nunmehr Unrecht und nicht Liebestollheit bestraft wird: O Greuel! O! was trit vns fr Gesichte! Bist du es / vorhin dises Hertzens Lust? […] Schauet wie sie die entblsseten Arme zu dem gestrengen Richter streck’ / Hret doch wie sie die schlaffende Rache mit vnablslichem ruffen erweck’. Schauet! schaut! der Himmel bricht! Die Wolckenfeste reist entzwey / Das rechte Recht steht jhrer Sachen bey! Das Recht ists selbst das vns das endlich Vrtheil spricht. (ebd., S. 219f., v. 375f., v. 383–388)
Dennoch bringt erst Catharina seine Schuld auf den Begriff: „Tyrann! der Himmel ists! der dein Verterben sucht / Gott lst vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht“ (ebd., S. 221, v. 431f. [Hervorhebung O.B.]). Chach Abas hat sich nicht als Liebender, sondern als politisch Handelnder schuldig gemacht. Die göttliche Strafe kommt innerdramatisch in Form der Gewissensinstanz zur Geltung, wobei die conscientia zwei Funktionen erfüllt. Erstens setzt sie selbst unmittelbar Qual um: Chachs Wahrnehmungen von „gerase der Trompeten? Wer zckt die Sebel vns zu tdten? Der Erden Grund brllt vnd erzittert! Was ist das hinter vns sich wttert“ (ebd., v. 423–426) lesen sich ganz wie das bereits erwähnte Tacituszitat von der Gewissensqual, wie Gryphius es bei Lipsius und Schönborner finden konnte (4.1.2.1 und 4.4.5.3): Adde cruciatus & tormenta interna. Nam si Tyrannorum mentes recludantur, possint aspici laniatus & ictus. quando vt corpora verberibus, ita sævitiâ, libidine, malis consultis animus dilaceretur. [Marginalie:] Tac. VI. Ann.238 Ex hac Tyrannorum formidine colligimus torqueri eos infinitis conscientiæ tormentis; nam si Tyrannorum mentes recluderentur, possent aspici laniatus & ictus, quando ut corpora verberibus, ita sævitia, libidine, malis consultis animus dilaceretur.239
Zweitens hat das Gewissen eine ankündigende Funktion: Catharina wird zum Sprachrohr des forum internum und prophezeit Chach Abas den Niedergang seiner Herrschaft, das Versinken Persiens im Krieg, weitere Unrechtstaten, die seine Schuld noch vermehren werden, und schließlich einen grausamen Seu-
238 Lipsius: Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex, 1590, S. 292 [Hervorhebung im Text]. 239 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 174.
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chentod (GdW 6, V,6, S. 221, v. 433–440). Der Tätigkeit der Gewissensinstanz, wie sie seit Philo Alexandrinus als aufdeckendes, strafendes, belehrendes und mahnendes Organ moralischer und rechtlicher Erkenntnis gedacht wurde (4.1.2.1), fügt der hiesige Entwurf des Gryphius’ noch den Aspekt der Strafverkündigung hinzu und verbindet damit forum internum und forum externum. Im Unterschied zu den folgenden Trauerspielen Papinian und Carolus Stuardus, in denen die Funktionstüchtigkeit der conscientia vermehrt in Frage gestellt wird, ist sie hier als Mittel göttlicher Strafe noch intakt. Damit ist abschließend eine Frage berührt, die in der Forschung umstritten ist: Handelt es sich beim Auftritt der verstorbenen Catharina um eine Erscheinung oder eine Halluzination? Clemens Heselhaus hatte Catharina in V,6 als „Ausgeburt seiner [sc. Chach Abas’] erschreckten und geängsteten Seele“ begriffen.240 Dementgegen argumentiert Schings mit Verweis auf die dramatischen Personen- und dramaturgischen Bühnenanweisungen,241 dass Catharina wirklich erscheine und so Werkzeug der göttlichen Rache werde.242 Letzterem schließen sich besonders Eberhard Mannack und Ferdinand van Ingen an.243 Gegenüber Heselhaus’ unzutreffender Einordnung Catharinas als einer rein subjektiven ‚Ausgeburt‘ Chachs scheint Schings Argument für die Erscheinung in der Ästhetik, besonders der dramaturgischen, kaum hilfreich. Visualisierungen jedweden Gegenstands, immaterieller wie ideeler Art gehören zum Inventar der Dramenkunst. Hierdurch ergeben sich in der Tat hermeneutische Probleme, denn wie soll die Visualisierung eines Geistes unterscheidbar sein von der Visualisierung einer Vision eines Geistes? Diese Frage ist also dramenanalytisch nicht entscheidbar, zudem aber gar nicht entscheidend. Eine Systematisierung von Halluzination findet ohnehin erst seit dem neunzehnten Jahrhundert statt.244 Besonders aber geht die zwischen Heselhaus und Schings aufgeworfene Frage am Anspruch und der Leistungsfähigkeit des forum conscientiae, wie es die frühe Neuzeit konzipierte (4.1.2.1) vorbei: Der wesentliche Anspruch der conscientia bestand schließlich darin, als inneres Erkenntnisorgan des Menschen sicheres Erkennen moralischer Sachverhalte gerade deshalb gewährleisten zu können, weil es dem menschlichen Einfluss entzogen ist.
240 Heselhaus: Gryphius’ Catharina von Georgien, S. 55. 241 GdW 6, V,6, S. 221, Anm. zu v. 427: „Der Geist erscheint“; ebd., Anm. zu v. 440: „Verschwindet“. 242 Schings: Catharina von Georgien, S. 71. 243 Mannack: Kommentar, S. 958f.; ders.: Andreas Gryphius, S. 63; Ingen: Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘. Märtyrertheologie und Luthertum, S. 67. 244 Bernhard Pauleikhoff: [Art.] Halluzination. In: HWPh 3, S. 389f.
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Man kann daher zwei Sprachregelungen treffen: Entweder ist der Begriff Halluzination fallen zu lassen, weil eine Gedächtnis- oder Sinnestäuschung dem Anspruch der frühneuzeitlichen Gewissensinstanz zufolge gerade nicht vorliegt. Zwar stimmt es, dass eine vom Gewissen produzierte Erscheinung wie die der toten Catharina nur dem Subjekt Chach Abas vor Augen tritt. Damit ist diese Erscheinung aber nicht insofern subjektiv, als sie von ihm produziert und deshalb objektiv unzutreffend, um nicht zu sagen falsch wäre. Die conscientia als dem menschlichen Eingriff entzogenes Organ stellt dem Menschen eben objektive Sachverhalte seines Verfehlens gegenüber göttlichem Recht und seiner Strafe vor. Oder man behält den Begriff Halluzination bei, historisiert ihn jedoch dahingehend, dass er im Rahmen der frühneuzeitlichen Rechts- und Gewissenslehre subjektiv wahrgenommene Visionen objektiv zutreffender Sachverhalte anzeigt. In beiden Sprachregelungen ist jedoch der Streit um den Erscheinungs- oder Halluzinationscharakter von V,6 hinfällig, weil das Gewissen eben Halluzinationen als Erscheinungen produziert.
5.2.7.3 Fazit: Göttliches Recht und göttliche Strafe im politischen Kalkül Die von Catharina angekündigten Strafen im forum externum stellen vordringlich politische Konsequenzen von Chach Abas’ Unrechtstaten dar. Der Aufschub der göttlichen Todesstrafe wird sogar um der staatspolitischen Strafhandlungen willen legitimiert und betont: Dein Lorberkrantz verwelckt! dein sigen hat ein Ende. Dein hoher Ruhm verschwindt! der Tod streckt schon die Hnde Nach dem verdamten Kopff. Doch eh’r du wirst vergehn; Must du dein Persen sehn in Kriges Flammen stehn. (GdW 6, V,6, S. 221, v. 433–436)
Unrechtes Handeln hat auf höchster politischer Ebene nicht nur individuelle, sondern allgemein staatliche Folgen. Gryphius versucht mit seiner Catharina von Georgien abermals nichts Anderes, als Machiavellis Auffassung Lügen zu strafen, dass göttliches Recht zu befolgen oder zu brechen eine Privatangelegenheit sei. Gryphius verbindet göttliches Recht und prudentia civilis dahingehend, dass die Klugheit das Recht nicht nur achten müsse, sondern es zu achten auch allemal klüger ist (4.4.5.3): Missachtet ein profaner Prudentismus den normgebenden Gott, so übersieht er in seinem politischen Kalkül immer auch den politisch wirksamen Gott. Damit wird ausgerechnet der Prudentismus entgegen seinem eigentlichen Anspruch zur größten Unklugheit.245 Hans Feger spricht mithin zurecht
245 Vgl. Schönborner: Politicorum libri septem, S. 488: „At vero an non cessante executione
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davon, „daß erst der Glaube zur unverstellten Wahrnehmung einer ratio status vera befreit“.246 Diese weiß im Gegensatz zu einem säkularen, moralindifferenten Prudentismus, dass Gottes Strafhandlung als Geltungs- und Gewährleistungsgrundlage des göttlichen Rechts derart wirksam ist, dass sie gleichzeitig auch Eingang finden muss in das menschliche Kalkül. Die Sorge um die Politik wird nicht als „falsche Sorge“ entlarvt,247 sondern sie erkennt in Gott ihre notwendige Ermöglichungsbedingung genauso wie ihre Grenze dort, wo dieser Instanz gefrevelt würde. Nicht die politische Theologie zerbricht,248 sondern der Pragmatismus. Eine solche ratio status vera fühlt sich einer politischen Theologie verpflichtet. Im Wissen um die theonome Einflussnahme in den politischen Handlungszusammenhang ist echte Staatsräson nichts Anderes als theologische Politologie.
5.3 Æmilius Paulus Papinianus: Politische Theologie auf den tönernen Füßen des Innatismus „Gelehreten wird dises umbsonst geschriben / Ungelehreten ist es noch zu wenig“: Mit diesem Resümee seiner [k]urtze[n] Anmerckungen ber seinen PAPIN IANUM liegt Andreas Gryphius durchaus nicht falsch (GdW 4, Æmilius Paulus Papinianus, S. 255–269, hier S. 269). Die Selbstkritik geht über eine captatio benevolentiae hinaus. Das vorletzte Trauerspiel des Schlesiers fordert seinem Leser Einiges ab an Wissen der Geschichte, der Philosophie und des Rechts, damit aber auch der Theologie und der Religionsgeschichte. Dieses Wissen ist allerdings nicht nur summarisch gefordert, als Wissensfundus etwa, der sich in der Funktion erschöpfte, einen Einzelstellenkommentar zu füllen: Die heterogenen Aspekte und Problemhorizonte des „Falls Papinian“249 haben ihren gemeinsa-
legis civilis, qua multentur [scelera], divina vindicta sese exercet? Ita sane est, ubi consummata est infelicitas, cumque placet & delectat Turpitudo, definitque remedio esse locus, pœnam promeritam Deus exigit.“ 246 Feger: Zeit und Angst. Gryphius’ Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther, S. 94. 247 Peter Burschel: Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘ historisch-anthropologisch. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hg. von Wolfgang Braungart, Klaus Ridder, Friedmar Apel. Bielefeld 2004 (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 131–154, hier S. 147. 248 Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 214. 249 Diese treffliche Beschreibung des Papinian als nicht nur didaktisches Exempel, sondern noch zu klärender Fall verdankt die Forschung Kühlmann: Der Fall Papinian.
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men systematischen Fluchtpunkt in einer politischen Theologie des Gryphius, die gegenüber den beiden früheren Dramen an Tiefe gewinnt. Dennoch geht sie noch nicht den letzten Schritt hin zur theologischen Politologie der zweiten Fassung des Carolus Stuardus. Schon in der Widmungsepistel an den Breslauer Senat betont Gryphius, dass sein Interesse nicht nur dem Rechtsgelehrten Papinian und ebenso wenig nur dem politischen Berater gilt, sondern es geht ihm um den von „Verrätern verklagten, keiner Schmeichelei zugänglichen“ Papinian (GdW 4, S. 163).250 Damit umschreibt er den Problemkomplex, der juridische und politische Fragen vereint. Im Lateinischen verdichtet Gryphius mit dem Chiasmus „correptum a delatoribus, adulationibus impervium“ (ebd.) die Krux der zeitgenössischen politischen Theologie auf ihren praktischen Kern: Wie ist es möglich gewesen, dass der integre Politiker ausgerechnet von Verrätern des Verrats beschuldigt werden und verurteilt werden konnte?251 Und was steht dem wirkmächtig entgegen, diesen historischen Fakt in machiavellischer Manier zur prudentiellen Norm zu erheben? Was macht die Verbindlichkeit universaler Gesetze gegenüber dem klugen Handeln aus, was ihr Versprechen an die Rechtschaffenen, was ihre Drohung gegen die listklugen Immoralisten? Diese Sorge motivierte Gryphius laut seiner Worte an den Senat dazu, sich dieses Stoffes anzunehmen, und sie motiviert ihn gleichfalls, diesen Stoff zu aktualisieren. Wenn er sich nämlich an die Senatoren nicht mehr nur als Widmungsempfänger, sondern besonders auch als Politiker wendet, bringt er bereits die Lehre zum Tragen, die er mithilfe des Papinian reflektieren und auch vorantreiben will: Keine anderen Zuschauer erwartet der PAPINIANUS als Euch großmächtige und erlauchte Herren, deren alter Ruhm es ist, die berühmteste aller Städte, während nicht nur Deutschland, sondern Europa erschüttert wurde, durch Klugheit und geschicktes Handeln sicher bewahrt zu haben. Aber es ist Euch auch eigen, daß Ihr, beim Gang in den Senat an Ahnen und Nachkommen denkend, die Tugend erkennt und rascher formuliert und ausführt, was andere bewundern, aber kaum nachvollziehen. Denn nie hat man gesehen, daß Eure Beschlüsse aus Eigennutz herrührten, sondern stets aus Gemeinnutz. Deshalb sind Eure Urteile unabhängig, liegt Euch der Streit mit Amtskollegen fern und ist Euer Ruf, unbestechlich zu sein, groß und nicht künstlich erfunden. Bei hereinbrechender Gefahr seid
250 „Sisto Vobis, Viri Magnifici, Nobiliss. Amplissimiq., PAPINIANUM, non qualem principes inter juris Romani Consultos Maximum, suspexit ætas omnis nec qualem in eximiis coluère Cæsares, amavère castra, Roma admirata est. Sed correptum a delatoribus, adulationi impervium […].“ 251 Deshalb trifft Eberhard Mannacks Übersetzung von delatores mit Denunzianten nicht den Punkt von Gryphius’ Polemik: Mannack: Kommentar, S. 1021.
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ihr furchtlos und im Wechsel von Krieg und Frieden von gleicher Standhaftigkeit. (ebd., S. 164)252
Die Gebote der Klugheit und die Kriterien der Opportunität, Maßnahmen rasch zu formulieren und auszuführen („promptius eloqui & facere“), sind nicht kategorisch. Ihr Gegenstand ist die Tugend und damit sind sie im Licht des Gemeinnutzens zu erwägen („quod publico conducere putet“). In diesem Ableitungsverhältnis stehend, wird das kluge Handeln notwendig beschränkt.253 Diese Schranken zu eruieren und aus dem göttlichen Recht herauszuarbeiten, unternehmen Gryphius und sein Æmilius Paulus Papinianus.
5.3.1 „Was ists Papinian daß du die Spitz erreicht?“ Papinians Staunen über Sollen und Sein, Grund und Ursache Schon die erste Szene nimmt dem Trauerspielganzen einiges vorweg: Papinian weist auf die Fallhöhe mächtiger Menschen hin (ebd., I,1, S. 171, v. 1–20), kennzeichnet damit innerdramatisch und gleichsam metaleptisch die Gattung und sagt eine geradezu als sicher geltende Katastrophe vorher. Dennoch leiten diese ersten Verse nicht in tragödienpoetische Überlegungen über, sondern fragen nach den Ursachen dieser Fallhöhe und damit nach den Ursachen von Macht: „Was ists Papinian daß du die Spitz erreicht?“ (ebd., v. 21). Besonders I,2 wird deutlich machen, dass damit nicht bloß das in der Tat hohe Amt gemeint ist, das Papinian bekleidet. Papinian spricht damit besonders den Irrtum der Kaisermutter Julia an, Papinian gleichsam als eigentliches Staatsoberhaupt zu behandeln (5.3.2). In diesem Sinne legt Gryphius ihm das Wort Spitze in den Mund und lässt ihn damit auch die Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass Dinge offensichtlich grundlos verursacht werden können – in diesem Falle Papinians Gleichsetzung mit dem Staatsoberhaupt.
252 „Nec alios operiebatur Spectatores PAPINIANUS quam Vos Viri Magnifici Amplissimiq. queis vetus gloria, Celeberrimam Urbium, inter concidensis non Germaniæ sed Europæ motus, incolumen servasse, prudentia atq|. Rerum gerendarum dexteritate. Sed & proprium Vobis, qui in Senatum ituri, & majores Vestros & posteros cogitatis, noscere Virtutem, ac promptius eloqui & facere quid mirentur alii, vix assequantur. Nec enim in eo Vobis stare consilia perspectum est, quod sibi quisq. conducere putet: sed quod publico. Hinc sententiæ non serviles, procul a contentione adversus Collegas animi, & fama integritatis ingens, nec per artem quæsita. In periculis, si ingruant, non formido, & per belli pacisq. vices par constantia“. Übersetzung aus Mannack: Kommentar, S. 1022f. 253 Vgl. dazu den treffenden Titel von Vollhardt: Klug handeln? – Zum Verhältnis von Amtsethik, Natur- und Widerstandsrecht im ‚Æmilius Paulus Papinianus‘.
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Es geht um den Unterschied zwischen Grund (ratio) und Ursache (causa), welche zwar interferieren können, aber nicht ‚behavioristisch‘ identifiziert werden sollten.254 Dieser Diskurs ist keineswegs randständig, schließlich macht Gryphius an ihm die metaphysische Problemquelle seiner politischen Trauerspiele fest: Wären nämlich entweder die juridischen Gründe der kaiserlichen Souveränität in der Weise metaphysisch dominant, dass sie schon als Ursachen wirkten, dann würde Papinian nicht als Oberhaupt behandelt; oder wären umgekehrt die Ursachen seiner faktischen Spitzenposition metaphysisch dominant, dass sie selbst auch ihren guten und damit rechtfertigenden Grund lieferten, dann wäre diese seine Spitzenposition auch juridisch unproblematisch. Da ratio und causa jedoch auseinanderfallen, ist das Problempotenzial allererst gegeben. Dies gilt auch, insofern die anderen Figuren den Unterschied von Grund und Ursache ebenso wenig beherzigen wie die Möglichkeit ihrer Interferenz: Hätte u.a. Julia den Grund von Souveränität verstanden, so würde sie keine Ursache haben, Papinian die mangelnde Erfüllung eines ihm unmöglich zustehenden Amtes anzulasten.255 Diese implizite Problematisierung der Grund-Ursache-Differenz wird im Fortgang des Trauerspiels nicht nur auf das Auseinanderklaffen bzw. das Vermittlungsproblem von Handlungslehre (Gründe) und gleichermaßen natürlichen Prozessen (Ursachen) zugespitzt, sondern vordringlich auf den Hiatus von Sollen und Sein. Besonders in III,6 wird der Dissens darüber auf seine Begriffe gebracht, ob politische Entscheidungsfragen darin bestehen, was zu unternehmen möglich ist, oder vielmehr darin, was zu tun geboten ist. Anspruchsvolle Normen gilt es gegen die Härte der Faktenwirklichkeit zu verteidigen sowie gegen die Forderung Machiavellis, diese Wirklichkeit zum Maßstab menschlichen Handlungskalküls zu machen. Es gilt die Inkongruenz von faktischer, physischer Macht und normativem, ideellem Recht zu kompensieren – bestenfalls durch den Nachweis, dass das ‚rechte Recht‘ selbst keineswegs ohne physische Zwangsgewalt auskommen muss.
5.3.2 Die Souveränitätsproblematik der Biarchie: Doppelherrschaft als Naturzustand? Es wurde in 4.1.1 bereits angesprochen, dass Gryphius diese Inkongruenz von Macht und Recht im Papinian in der geteilten Souveränität der zwei Kaiser weiter
254 Friedrich Kambartel: [Art.] Grund. In: EPhW 1, S. 823–824. Der Begriff behavioristisch wird hier natürlich avant la lettre gebraucht. 255 Falsche Gründe können also – ebenso wie richtige – als Ursachen wirken.
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zuspitzt. Papinian beschreibt in seinem Eingangsmonolog gerade die Disparatheit der beiden Begriffe: Welch rasen steckt euch an in Zanck verwirrte Brder! Ists billich daß ein Mensch selbst wt’ in seine Glieder Und eifer in sein Fleisch? Wie? Oder mag das Reich Das ersten Grund gelegt auff brderliche Leich / Nicht unter beyden stehn? (GdW 4, I,1, S. 172, v. 39–43)
Im Bilde des Wütens in denen eigenen Gliedern und des Eiferns im eigenen Fleisch affirmiert Papinian die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht im Staat. Dass diese oberste Macht sich selbst schwächt, ist für Papinian sowohl ihrem Begriffe nach widersinnig („Welch rasen“) als auch unrecht („Ists billich“). Dennoch wird die systematisch ungeteilte Einheit der obersten Macht durch ihre personale Aufteilung sehr wohl gefährdet.256 Das Trauerspiel beleuchtet dieses Problem in unterschiedlichen Aspekten: Sowohl gilt es Gryphius, die Problematik zu vertiefen als auch praktische Lösungsangebote zu erwägen, die mehr oder minder zulässig, mehr oder weniger hilfreich sind.
5.3.2.1 Papinian als Schattenmonarch Nachdem in I,1 das Problem der geteilten Souveränität von Papinian benannt wurde, wird mit dem Verhalten der Kaisermutter Julia schon in I,2 ein impliziter Lösungsversuch teilvollzogen. Julia versucht das Souveränitätsprinzip Bodins monokratisch zu retten, dies aber unter Ausblendung seiner rechtlichen Rahmung. Mittels ihres Kämmerers möchte Julia sich der Loyalität und Redlichkeit Papinians versichern (ebd., I,2, S. 175, v. 160). Auf Papinians Gegenfrage, ob diese denn in Zweifel stehe (ebd., v. 161), antwortet der Kämmerer, dass Papinian sich augenscheinlich nie dem „widersetzt“ habe, dass Bassian gegen Geta aufgehetzt wird (ebd., S. 177, v. 219–221). Hierin drückt sich eine unreflektierte Auffassung Julias von Papinians Fähigkeiten, Möglichkeiten und implizit auch seiner Befugnisse aus. Schon in der Idee, dass sich Papinian ohne Weiteres dem Kaiser, sei er auch verhetzt, widersetzen könnte, kommt eine rechtswidrige Haltung zum Vorschein. Inwiefern diese Rechtswidrigkeit im Papinian beleuchtet wird, ist dabei später noch genau herauszuarbeiten. An dieser Textstelle geht Papinian
256 Vgl. Joachim Harst: Aristoteles und ‚Papinian‘. Rhetorik und Anschaulichkeit des ‚rechten Rechts‘. In: Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge. Hg. von Bernhard Greiner, Barbara Thums, Wolfgang Graf Vitzthum. Heidelberg 2010 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte – Dritte Folge 270), S. 125–151, hier S. 135.
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auf den Gedanken eines amtlichen Widerstandsrechts noch nicht ein. Anstelle dessen reformuliert er Julias Vorwurf: Daß bald der Frst auf diß / und bald auff den verhetzt: Darff langer Worte nicht. Ob ichs gebillicht habe / Ist leider was man fragt. […] (ebd., v. 222–224)
Es wurde von der Forschung bislang übersehen, dass Julia Papinian nicht eigentlich als Untertan zumutet, sich dem Kaiser zu widersetzen. Vielmehr schreibt sie ihm einen den Kaisern übergeordneten Status zu. Papinian erkennt dies sehr wohl: Julia behandele ihn seiner Funktion nach nicht wie einen Berater, sondern als den eigentlichen Souverän des Imperium Romanum. Julias spätere Heiratsund Thronofferte wird dazu bloß das äußere Komplement darstellen. In ihren Augen steht es nicht nur in Papinians Vermögen (im Sinne von capacitas, facultas), das Einvernehmen Bassians und Getas aufrechtzuerhalten, sondern auch in seiner Machtbefugnis (im Sinne von potestas, licentia). Mit Blick auf die Tatsache, dass Bassian leicht „auf diß / und bald auff den verhetzt“ werden kann, und die sich hieraus ergebenden politischen Fragen beklagt Papinian: „Ob ichs gebillicht habe / Ist leider was man fragt“. Wenn „man“, d.h. besonders Julia, Papinian als befugt ansieht, das Handeln und Neigen der Kaiser zu billigen, d.h. rechtlich zu sanktionieren, wird das politische Problem als juristisches missverstanden. Papinian weist diese Befugnis von sich, schließlich ist er nur Berater und nicht die Obrigkeit, die allein billigen darf. Das gilt für die Staatslehre Bodins genauso wie schon für diejenigen der Hoch- und der Spätscholastik.257 Aequitas, die richterliche, extensive Auslegungspraxis des geschriebenen Gesetzes entlang des transhumanen Rechts, steht nur dem Obersten im Staate zu. Menschliche Billigkeit ist also dort gar nicht gefragt, wo es wie in Bassians Fall um das Handeln des Souveräns geht: Er ist genauso wenig wie Geta an das positive Recht gebunden. Bassian für dergestalt dependent zu erachten, hieße ihn gar nicht als Souverän anzusehen. Ebendies spricht jedoch aus Julias Erwartungshaltung an Papinian. In diesem Sinne bezieht sich Papinians Beteuerung leider vor allem auf den rechtstheologisch wie rechtsphilosophisch bestimmten Begriff gebillicht (weniger auf das Prädikat fragt des zweiten Nebensatzes). Legitime Instanz, das Handeln eines Souveräns zu billigen bzw. zu missbilligen, kann weder der Untertan Papinian noch der Mitregent Geta sein. An dieser Stelle lässt Gryphius seine Titelfigur dem historischen Fokus entgegen aus der Zeit des dritten Jahrhunderts fallen. Das in dieser Hinsicht maßgebliche Digestum 2.2 nämlich tendiert gerade zum Gegenteil: „Was an Recht jemand
257 Vgl. z.B. Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III, 35, besonders III, 35, 14, Bd. 2, S. 340–342.
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gegen einen anderen festgesetzt haben wird, soll auch er selbst für sich als Recht benutzen“.258 Noch der mutmaßliche Schüler des historischen Papinian, Ulpian, wird im Rahmen ebendieses Digestentitels Billigkeit als Gleichheit auslegen, die hinsichtlich des gesetzten Rechts zwischen Gesetzgeber und Untertanen herrschen solle: „Hoc edictum habet aequitatem, et sine cuiusquam indignatione iusta: quis enim aspernabitur idem ius sibi dici, quod ipse aliis dixit vel dici effecit?“259 Weder das Digestum noch Ulpian jedoch reflektieren das sich nun einstellende Problem der Verpflichtungsinstanz. Dementgegen lässt Gryphius seinen Papinian die Position einer souveränitätsrechtlich begründeten Billigungsbefugnis vertreten, die den Souverän von der Gleichheitsidee gerade ausnimmt. Der gryphsche Papinian weist auf diejenigen Staatslehren voraus, welche die Herrscherinstanz zunehmend verabsolutieren und wieder an Platon Anschluss nehmen. Dieser ließ an die Stelle des geschriebenen Gesetzes „als sein lebendiger Repräsentant ‚de[n] mit Wissen königliche[n] Mann‘ treten“.260 Daher ist für Papinian der Begriff menschlicher Billigkeit schlicht die unangemessene Beobachtungs- und Beschreibungskategorie für das Problem eines risikogefährdeten Souveräns. Mithin argumentiert Julia am Problem vollkommen vorbei, wenn sie Papinian mangelnde juridische Souveränität vorwirft. Der Papinian des Gryphius verfällt allerdings nicht in das andere Extrem; ebensowenig vertritt er unkritisch das Rechtsdenken des siebzehnten Jahrhunderts. Dies gilt besonders für das Völkerrecht, das seit Saxoferrato, Vitoria, Melanchthon, Suárez und auch Bodin für dergleichen Situationen einer Straffälligkeit weltlicher Obrigkeiten ein subsidiäres Strafrecht seitens anderer Souveräne vorsieht (4.4.4.2; siehe auch 5.1.3.2, 5.2.4.1 und 5.4.5.1).261 Damit können sich weder Papinian noch Gryphius im vorliegenden Falle begnügen: Das Problem verschärft sich nämlich dadurch, dass es hinsichtlich der Größe des Römischen Reiches an potenten auswärtigen Souveränen eben mangelt. Wer sollte ein legitimes subsidiäres Strafrecht wider Bassian wirkmächtig ausüben können? Den theonomen Fundamenten der Staatsrechtslehren des siebzehnten Jahrhunderts gemäß, die im Unterschied zum späten Christian Thomasius gerade noch den Befehlscharakter des göttlichen und natürlichen Rechts betonen (4.3.5), ist in dieser irdisch
258 Dig. 2.2 (CIC 1, S. 47b): „Quod quisque iuris in alterum statuerit, ut ipse eodem iure utatur.“ 259 Dig. 2.2.1 (CIC 1, S. 47b). 260 Karl Heinz Sladeczek: [Art.] Billigkeit. In: HWPh 1, S. 939–943, hier S. 939. 261 Vgl. Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, S. 73f.; vgl. nochmals Melanchthon: CR XXII, Sp. 623: „Diesen Bluthunden vnd schandflecken geburt nicht Ehrerbietung oder vergebung / sondern andere Regenten sollen jnen ordentlicher weis / als tollen Hunden wehren“; Bodin: Les six Livres de la Republique, II, 5, S. 260: „Non pas que ie vueille soustenir qu’il ne soit licite aux autres Princes poursuiure par force & par armes le tyrans.“
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ausweglosen Situation nurmehr Gott die legitime und wirkmächtige Straf- und Urteilsinstanz. Vor diesem rechtshistorischen und rechtsphilosophie-geschichtlichen Hintergrund ist daher den Deutungen früherer Gryphiusforschungen zu widersprechen, die im Papinian verstärkte Tendenzen der Säkularisierung, der Immanenz und sogar der Autonomisierung zu erkennen glaubten.262 Dementgegen ist Wilhelm Kühlmann nachdrücklich zuzustimmen, der zu Recht auf die vermehrt melanchthonianische Tradition des gryphschen Papinian hinweist.263 Durch die Verbindung der Billigkeits- mit der Souveränitätslehre und durch die historische Situation eines Mangels satisfaktionsfähiger Völkerrechtssubjekte inszeniert Gryphius gerade einen Problemdruck, der sich in seinem rechtshistorischen Horizont in nichts anderem als der Transzendenz entladen kann: in der Hilfe eines monotheistischen, gerechten und guten Gottes, der allein befugt ist, Handlungen weltlicher Herrscher zu billigen und göttliches Recht zwangsbewehrt geltend zu machen. Umgekehrt zeigt sich alsbald Papinians Nachteil, dass er nämlich als Heide eine solche Instanz eigentlich nicht kennt. Seine Berufungen auf göttliches Recht bleiben allein normativ, statt auch Ausdruck einer Hoffnung in die Rechtssicherheit dieses Rechts zu sein.
5.3.2.2 Papinians Skepsis bezüglich der Analogie von Familie und Polis Dass Julias Sorge auf das Biarchie-Problem gründet, ist ebenso wenig eine haltlose Unterstellung wie Papinians Vermutung, Julia sähe in ihm einen ‚Schattenmonarchen‘. Dies wird schließlich in dem Moment offenbar, als ihr Kämmerer Papinians einstigen Lösungsvorschlag anspricht: „Sie eifert daß er nechst die Theilung vorgeschlagen!“ (GdW 4, I,2, S. 178, v. 243). Diese Information ist nicht allein dem ‚gelehreten‘ Leser, der um die genauen geschichtlichen Hintergründe Bescheid weiß, bereits bekannt, sondern auch dem aufmerksamen Leser des Trauerspiels selbst. Denn schon in I,1 hatte Papinian in seiner Klage über den Bruderzwist beteuert: „Man theilte ja vorhin / wofern des Blutes Band / Euch nicht mehr zwingen kan / so scheid euch Flut und Sand!“ (ebd., I,1, S. 172, v. 45f.).
262 Z.B Herbert Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels: am Beispiel des ‚Papinian‘ von Andreas Gryphius. München 1959 (Literatur als Kunst 2), S. 76–85; Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 288–305; Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 207–297; dagegen unter Hinweis auf die stoische und patristische Tradition bereits Hans-Jürgen Schings: Großmüttiger Rechts-Gelehrter / Oder Sterbender Æmilius Paulus Papinianus. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 170–203; siehe zusammenfassend Mannack: Kommentar, S. 1009–1012. 263 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 230–235.
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In einer Anmerkung erläutert Gryphius, wie weit diese Lösung bereits gediehen war: Weil sich beyde Frsten zu Rom gar nicht vertragen knnen / ist man schlssig worden beyde durch Theilung deß Reichs von einander zu sondern / damit einer vor deß andern nachstellen und hinterlist umb so vil mehr sicher leben knte / derowegen haben sie mit zuzihung Vterlicher Freunde in gegenwart der Mutter Juliæ sich so fern verglichen / daß Antonin gantz Europam, Geta gantz Asiam haben sollte / zumal weil durch Gttliche Vorsorge das Vor-Meer oder Propontis, diese Theile der Erden gleichsam abgrntzete. Anto ninus mchte seine Lger bey Bizantz, Geta zu Chalcedon in Bithynien, welche dieser Stadt gegen ber / auffschlagen / damit auff diese Weise jdweder sein Land behten / und dem andern das bersetzen verwehrē knte. (ebd., Kurtze Anmerckungen ber seinen Papinianum, S. 256)
„Weil Rom zwey Sonnen nicht auff einen Tag will tragen“ – so Papinians eigene Worte (ebd., I,2, S. 178, v. 244) –, hätte mit der schlichten Teilung des Reiches das Souveränitätsproblem des Biarchismus durchaus gelöst werden können, ja müssen. Gryphius’ Anmerkung ist zu entnehmen, dass diese Lösung in mehrerlei Hinsicht erwägenswert war: Sie unterbindet nicht nur gegenseitige Mordversuche („nachstellen“), sondern auch „hinterlist“. Schon damit eliminierte diese Lösung die Notwendigkeit von Listklugheit, wie sie von Machiavelli stark gemacht wurde (4.1).264 Dabei verfällt der Lösungsgedanke mitnichten in illusorisches Friedfertigkeitsdenken, sondern berücksichtigt durchaus das dem Souveränitätsbegriff inhärente Moment der Wehrhaftigkeit („jdweder sein Land behten“). Das providentielle Argument („Gttliche Vorsorge“) unterbindet ferner ein hegemoniales Ungleichgewicht der beiden Reichsteile. Darüber hinaus beinhaltet es ein normatives Moment, insofern durch diesen göttlichen Vorsehungscharakter erlaubt, wenn nicht sogar geboten scheint, die Aufteilung des Imperiums vorzunehmen. Vor allem aber „ist man schlssig worden“ und hat sich „verglichen“ über die Teilung des Reichs. Der momentanen, biarchischen Souveränität wäre also im Moment ihrer Teilung gar nicht Abbruch getan worden. Die Lösung hätte nicht im bloßen Schaffen von Tatsachen bestanden und hätte damit keine Normativität des Faktischen kultiviert: Die sonst so problematische Biarchie des Bassian und Geta hätte gerade das eine Mal funktioniert,265 um ihre eigene Selbstauflösung
264 Machiavelli: Il Principe, S. 118/119: „Onde è necessario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono e usarlo e non l’usare secondo la necessità“. Hervorhebung O.B. 265 Vgl. zur historischen Konstellation Okko Behrends: Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Hg. von UIrich Mölk. Göttingen 1996, S. 243–291, hier S. 256.
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hin zur Teilung in zwei Monarchien einvernehmlich zu erzielen. Eine Reichsteilung wäre ohne einen souveränitätstheoretisch paradoxalen Akt eines ‚Wütens in seinen Gliedern‘ ausgekommen (vgl. ebd., I,1, S. 172, v. 40). Das nur gewaltsam mögliche Übertreffen des einen durch den anderen Biarchen wäre so ex ante vermieden worden. In diesem Sinne hätte die Reichsteilung in Papinians Augen die allemal bessere Alternative dargestellt: „Zwey Kronen sprt ich dort; Hier furcht’ ich eine Leich“ (ebd., I,2, S. 178, v. 246). Dem lässt Julia durch ihren Kämmerer den Gedanken eines Gebots familiärer Einheit entgegensetzen: „Man knte zwar das Reich / doch nicht die Mutter theilen“ (ebd., v. 255). Gryphius’ Anmerkung zufolge war ebendies zum Anlass genommen worden, die Reichsteilung nicht zu vollziehen (ebd., Kurtze Anmerckungen ber seinen Papinianum, S. 256f.). Dass dieser Entschluss ebenso einvernehmlich war, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass der Rechtsgelehrte Papinian gute Gründe der Unangemessenheit von Julias Argument aufweisen kann: C mmer. Was heist von Rom verschickt? In fernes Elend zihn. Papinian. Auff einem Thron dem Haß und steter Furcht entflihn. C mmer. Die Freunde knnen hir die herbe Zwytracht schlichten. Papinian. Und Feinde (leider) hir mehr Haß und Zanck anrichten. (ebd., I,2, S. 178, v. 249–252)
Erstaunlich sind diese Argumente Papinians darum, weil sie durchaus bestimmte Überlegungen des hobbesianischen Naturzustandsdenkens übernehmen. Wenn Papinian nämlich die Bezeichnung „Freunde“ damit kontert, dass diese der Möglichkeit – und Wirklichkeit – nach genauso gut als Feinde angesehen werden müssen, kennzeichnet er die Inadäquanz der Vorstellung einer prästabilierten Harmonie zumindest insoweit, dass diese das Verhältnis im Naturzustand noch nicht regelt. Dies hat in Papinians Augen deshalb a fortiori zu gelten, weil auch die Blutsverwandschaft das Potenzial gegenseitiger Feindschaft nicht ausräumt. Warum hier mit Blick auf das Verhältnis von Bassian und Geta von Naturzustand gesprochen wird, ist noch zu vertiefen (5.3.2.3) Julias Mutterschaft ist für Papinian ebenso wenig wie das Bruderverhältnis Bassians und Getas eine politische Relation. Für die Regelung politischer Führung ist sie daher nur ebenso untauglich: „O knte sie das Reich und dessen Brche heilen“ (ebd., v. 256). Mit Blick auf Papinians und Laetus’ antagonistische Figurenkonstellation ist diese Haltung Papinians bemerkenswert. Denn ohne Zweifel teilt er die Auffassung seines Widersachers: „Man siht nicht Brder an wenn man umb Kronen spilt“ (ebd., II,1, S. 184, v. 21). Die platonische Staatsphilosophie sieht in der Familie nicht nur die kleinste Einheit von Vergemeinschaftung, sondern bezweckt auch „die Ordnung der Polis nach Art
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eines oikos“.266 Dennoch darf sie nicht dahingehend missverstanden werden, dass die innerfamiliären Relationen die innerstaatlichen schon ersetzten. Zumindest sobald der pater familias wie im Falle des Severus verstirbt, bricht die entscheidende Strukturparallele von Familie und Staat weg. Im Gegenteil wird die so herrenlos gewordene Familie beschreibungsscharf für das Problem eines Staates ohne monokratische Führungsperson. Allerdings teilt Gryphius’ Protagonist nicht auch die Auffassung des Hobbes, dass sich alles Naturrecht im naturständlichen ius omnium in omnia zu einem Recht auf Nichts auflöst (4.3.4.2f.). Papinians noch en detail nachzuzeichnendes Verhalten zeugt von nichts anderem, als dass er überstaatliche und unabhängig von menschlicher Setzung geltende Rechtsnormen anerkennt. Zudem scheinen Beschreibungskategorien des status naturalis für die Analyse eines innerstaatlichen Problems von vornherein unangemessen: Wie allerdings im Folgenden zu zeigen ist, setzt Gryphius damit gerade die Pointe in seiner Kritik der bodinschen Souveränitätslehre.
5.3.2.3 „Ist denn der Zepter nur umb Blut und Wunden feil?“: Biarchie und Naturzustand, Souveränitätsproblematik und Bodin-Kritik Wenn oben das „nur gewaltsam mögliche Übertreffen des einen durch den anderen Biarchen“ angesprochen wurde, so wurde damit bereits angedeutet, dass sich das Verhältnis zweier Biarchen gerade nur in Kategorien eines regellosen Naturzustands beschreiben lässt. Eine weitere Schlüsselszene hinsichtlich des Souveränitätsproblems der römischen Biarchie stellt II,1 dar: B assian. Ist denn der Zepter nur umb Blut und Wunden feil? L ætus. Ja! wenn jhn zwey zu gleich mit aller Schaden fhren. B assian. Das grosse Reich kan zwey mit einer Wrde zieren. L ætus. Das ließ weil Rom erbaut sich nicht ohn Schaden thun. (GdW 4, II,1, S. 183, v. 2–5)
Es liegt natürlich nahe, Laetus’ Haltung schon wegen seines allgemein pejorativen Figurencharakters als rechtswidrig zu empfinden. Mit einem solchen unmittelbaren Lektüreeindruck liegt man mitnichten falsch, denn Laetus wird zweifellos als politischer Akteur und Berater gezeichnet, der in jedweder Weise gegen die Moral handelt und denkt. Nichtsdestoweniger ist seine Antwort eine durchaus treffende Diagnose für das Spannungsverhältnis zwischen der Souveränitätslehre Bodins und den Naturrechtslehren. Zugegeben: Laetus wird dieses Argument, unbesehen seiner Stichhaltigkeit, nurmehr dazu funktionalisieren, Bassian einen Bru-
266 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 121f.
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dermord begehen zu lassen und sich selbst so den Weg auf den Thron zu bahnen (III,3). Stichhaltig bleibt es jedoch allemal und daher haben diese Überlegungen einiges für sich, sowohl staatstheoretisch als auch dramatisch. Dann Laetus legt damit den Finger in die Wunde des zeitgenössischen (Staats)Rechtsdenkens und disponiert damit das dramatische Argumentum. Wie schon zuvor von Papinian angedeutet, wird die Biarchie nicht erst dann problematisch, wenn „zwey zu gleich mit aller Schaden fhren“. Sie ist schon der Idee nach bzw. mit Blick darauf problematisch, was das Staatsdenken der gryphschen Zeitgenossen für das Konzept der Biarchie zur Verfügung stellte. Es soll sich zeigen, dass eine Lösung dieses Problems zwar nicht notwendig in Gewalt bestehen musste, sie war nicht allein „umb Blut und Wunden feil“. Damit aber war das Problem dennoch nicht rechtlich bewältigbar. Den systematischen Ausgangspunkt bildet der Absolutheitsstatus des Souveräns, und zwar sowohl in hierarchischer Hinsicht, also gegenüber den Untertanen und den für sie geltenden Gesetzen, als auch in diachroner Perspektive, also gegenüber Gesetzen der vorherigen Souveräne: B assian. Der Vater hat uns beyd’ auff einen Thron erkoren. L ætus. Als Vater / ich gestehs / nicht als ein Frst der Welt. (ebd., S. 185, v. 56f.)
Mit seiner Berufung auf die Weisung des verstorbenen Kaisers Severus’ argumentiert ausgerechnet der noch gemäßigte, ‚vernünftige‘ Bassian alles andere als dem State of the Art gemäß, den schon das sechzehnte Jahrhundert erreicht hatte. Wirft man nämlich einen genauen Blick auf die Bestimmung der Souveränität bei Jean Bodin, die schon entscheidende Vermittlungen zwischen Frühabsolutismus und natürlichem wie göttlichem Recht leistete, sticht eine Identität mit Laetus’ Position ins Auge: Si donc le Prince souuerain, est exempt des loix de ses predecesseurs, beaucoup moins seroit il tenu aux loix & ordonnances qu’il fait : car on peut bien receuoir loy d’autruy, mais il est impossible par nature de se dōner loy, non plus que commander à soimesme chose qui depende de sa volonté, comme dit la loy, Nulla obligatio consistere potest, quæ à voluntate promittētis statum capit : qui est vne raison necessaire, qui monstre euidemment que le Roy ne peut estre suget à ses loix.267
Dass Bodin den Fürsten für seinen positiven Gesetzen enthoben befindet, ist ohnehin bekannt und bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung mehr. Von eigener Relevanz für das Drama ist die hier mehr beiläufige Feststellung, der
267 Bodin: Les six Livres de la Republique, I,9, S. 132f.; Hervorhebung O.B.; vgl. Denzer: Bodin, S. 258.
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Souverän sei im Besonderen nicht an die Gesetze seiner Vorgänger gebunden. Entweder behält die Bestimmung des Septimius Severus noch Geltung: Dann wären weder Bassian noch Geta noch beide zusammen im bodinschen Sinne souverän. Oder sie erheben sich über diese väterliche Weisung und wären tatsächlich souverän. Demgemäß ist Bassian gerade nicht an die väterlich verfügte Doppelherrschaft gebunden – ebenso wenig wie Geta. Genauso aber ist Bassian nicht Getas Untertan und daher ist ihr beiderseitiges Verhältnis an der Spitze des einen Staates nur als Naturzustand beschreibbar. In dessen Rahmen ist Bassians Mord an Geta (II,3) allerdings nur als Verstoß gegen ein natürliches Gesetz beschreibbar, das Mord verbietet, und höchstens als Verstoß gegen ein göttliches Gesetz, das besonders den Brudermord ächtet. Es bleibt jedoch offen, was damit für die politische Frage der Doppelherrschaft gewonnen ist. Bei Bodin bleibt die Einhegung der weltlichen Souveränität durch natürliches und göttliches Recht letztlich rein äußerlich. Andreas Gryphius deckt nunmehr am historischen Beispiel des Biarchismus die (fakten)politische Virulenz keiner geringeren Problematik als derjenigen der Gewaltenteilung auf. Zwar behandelt Bodin in seinen Les six Livres de la Republique auch die Biarchie, bleibt dabei aber äußerlich-deskriptiv und gelangt nicht zu einer rechtsförmigen Lösung des Problems. Im Gegenteil ist Bodins Blick auf die Biarchie von vornherein so pessimistisch, dass er sie unter die Oligarchie subsumiert: Si donc il y a deux Princes egaux en puissance, l’vn n’a pas le pouuoir de commander à l’autre, ny soufrir commandement de son cōpanion, s’il ne luy plaist : autrement ils ne setoient pas egaux : il faut donc conclurre que de deux Princes en vne Republique egaux en pouuoir, & tous deux segnieurs de mesme peuple, & de mesme pays par indiuis, ny l’vn ny l’autre n’est souuerain : mais bien on peut dire, que tous deux ensemble ont la souuerainité de l’estat, qui est cōpris sous le mot d’Oligarchie, & proprement s’appelle Duarchie, qui peut estre durable, tant que les deux Princes seront d’accord […].268
Bodin scheint die von ihm sogenannte Duarchie einer rechtlichen Regelung gar nicht als fähig anzusehen. Dabei folgt er natürlich den kommutativ-rechtlichen Implikationen seines Souveränitätsbegriffes selbst: Er erlaubt einen Rechtsanspruch eines (Teil)Souveräns gegen den anderen nicht zu denken, solange noch proprio sensu von Souverän gesprochen werden soll. Eine Dauerhaftigkeit der Biarchie ist daher durch keine Rechtssicherheit gewährleistet, sondern hängt von einem gänzlich unjuridischen Akt ab, nämlich vom Einvernehmen der beiden Souveräne („tant que les deux Princes seront d’accord“). Im Nachgang
268 Bodin: Les six Livres de la Republique, II,2, S. 232.
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der Geschichte kann Gryphius aufzeigen, dass Bodins Souveränitätstheorie der Praxis nicht gerecht zu werden vermag, solange sie mit Blick auf die Instanz des Souveräns nicht differenziert zwischen natürlicher und juristischer Person.269 Wenn das Verhältnis der beiden gleichgestellten Machthaber Bassian und Geta im einen Staat Rom nicht als rechtsfreier Naturzustand missverstanden werden soll, ist zu regredieren auf vorausliegende, notwendig überstaatliche Instanzen: das natürliche und göttliche Recht. Diese Instanzen sind bei Bodin natürlich in Kraft und Geltung, ihre unmittelbare Ausübung als allein geltendes Recht fällt jedoch der Idee nach nur in zwischenstaatlichen Beziehungen an. Die Ausübung transhumanen Rechts ist nicht vorgesehen zur Beschreibung und Handhabung interpersonaler Beziehungen im Staat, sei es auch nur an seiner Spitze: Hierfür war die Anstrengung einer Staats(rechts)theorie schließlich unternommen worden, die alle interpersonalen Verhältnisse und Handlungen im Staat durch positives Recht regeln sollte, das vom Souverän gestiftet wird und über das dieser gerade deshalb erhaben sein muss. Die severische Doppelspitze unterläuft gerade diese Idee Bodins und offenbart einen blinden Fleck in dessen Souveränitätskonzept. Ohne eine angemessene Reflektion auf den Unterschied von natürlicher und juristischer Person liefert Bodins Souveränitätslehre nur eingeschränkt Kategorien, um den Fall Bassian-Geta zu beschreiben und zu lösen. Wie gesagt erlaubt auch Bodins Ansatz, Bassians Brudermord als Unrechtstat wider natürliches und göttliches Recht zu beurteilen, vor allem als Verstoß gegen das fünfte Gebot, aber auch nur das. Als Königsmord lässt sich die dilemmatische Situation hingegen nur schwierig beschreiben: Röm 13,2 spricht von Königsmord offensichtlich nur als einer Tat, die ein Untertan verübt, – der Bassian schließlich nicht ist. Dies ist deswegen problematisch, weil das göttliche Herrschaftsrecht und das damit verbundene Verbot des Königsmordes die einzigen Normen natürlichen und göttlichen Rechts darstellen, die als überstaatliche Rechte schon die spezifisch staatspolitische Instanz des Herrschers zum Gegenstand haben. Im Falle Bassian-Geta verbleiben jedoch nach göttlichem und natürlichem Recht allein die beiden Tatbestände des Mordes allgemein und des Brudermordes im Speziellen. Diese Normen sind indifferent gegenüber der politsch-hierarchischen Stellung von Täter und Opfer und liefern damit apriori keine normative Handhabe für den Fall zweier gleichgestellter Herrscher. Gryphius greift damit ein Problembewusstsein auf, das sich vor Pufendorf und dessen berühmtem Monstrosi-
269 Vgl. Thorsten Kingreen: Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund. Tübingen 2003 (Jus publicum 97), S. 30.
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tätsverdikt gegen die Reichsverfassung270 nur noch prominent im katholischen Naturrecht findet, nämlich abermals bei Francisco Suárez. Gerade die skizzierte Regelungsfreiheit der Biarchie, das Vakuum zwischen Souveränitätskonzept und Naturrecht, ist es, was Francisco Suárez sie 1612 als monströs bezeichnen und argumentieren lässt, dass es der natürlichen Vernunft widerspricht, dass ein und dasselbe Königreich zu gleichen Teilen zwei Mächten untersteht. Damit wäre es ein Körper mit zwei Köpfen, was aber ein Monstrum und vor allem der gerechten Regierung des Königreiches höchst abträglich wäre. Denn wären sie untereinander uneins, herrschte Stillstand in der Regierung, und es gäbe keinen Weg oder Möglichkeit festzustellen, wie zu handeln oder was vorzuschreiben wäre. Deshalb könnte die gleichzeitige Regierung dreier Personen sogar einfacher sein als die zweier, sodass die Mehrheit sich durchsetzen könnte. Es sei denn, es genösse bei zwei Personen die eine Person in einer bestimmten Weise einen Vorrang vor der anderen und setzte sich im Falle der Uneinigkeit durch; oder wenn beide für einen solchen Fall eine wechselseitige Vereinbarung hätten bzw. verpflichtet wären, irgendeine andere Vorgehensweise einzusetzen und auszunutzen, wie etwa das Loswerfen; oder sie fänden zu einem Kompromiss; oder sie zögen eine dritte berechtigte Stimme heran.271
Laetus’ Aussage, „Man siht nicht Brder an wenn man umb Kronen spielt“, ist also nicht bloßer Machiavellismus.272 Die Figurenkonstellation von Bassian und Geta entlarvt eine Inkohärenz zwischen Bodins Souveränitätsbegriff und seinem Naturrechtsverständnis: Das Naturrecht, auf das Bodin supra legem humanam verweist, stellt selbst noch keine Norm zur Verfügung, die das Handeln unter
270 Severinus de Monzambano [Samuel Pufendorf]: De Statu Imperii Germanici Ad Laelium Fratrem, Dominum Trezolani, Liber Unus. Genf 1667, VI, § 9, S. 157: „Nihil ergo aliud restat, quam ut dicamus Germaniam esse irregulare aliquod corpus, & monstro simile, siquidem ad regulas scientiæ civilis exigatur; quod lapsu temporum per socordem facilitatem Cæsarum […]“. [Hervorhebung O.B.] Bezeichnend ist, dass Pufendorf die leichtfertige Aufgabe der kaiserlichen Souveränität als erste Ursache ausmacht. Die Ungeteiltheit der Macht ist Maßgabe regularer Staatsformen: vgl. Horst Denzer: Samuel Pufendorf und die Verfassungsgeschichte. In: Samuel von Pufendorf: Die Verfassung des Deutschen Reiches. Übers. u. hg. von Horst Denzer. Frankfurt am Main, Leipzig 1994 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 4), S. 279–322, hier S. 304. 271 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 9. 11, Bd. 1, S. 154/155: „[Q]uia est contra rationem naturalem ut idem regnum sit aeque in duobus. Quia esset unum corpus habena duo capita, quod est monstrosum et rectae gubernationi regni valde perniciosum. Quia si inter se dissentirent, nihil fieret, nec pateret via aut modus definiendi quid agendum vel praecipiendum esset. Unde facilius posset esse gubernatio per tres simul, ut posset maior pars vincere quam per duos tantum, nisi inter eos alter aliquo modo procederet et qualitate vinceret in casu discordiae, vel nisi in hoc haberent aliquam vicissitudinem aut alio medio uti tenerentur, ut sortibus vel compromissione vel adiunctione alicuius tertii suffragii“. [Hervorhebung O.B.]. 272 So Mannack: Kommentar, S. 1032.
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‚Souveränitätsteilhabern‘ regelt. Mit der einen Feststellung, dass Bassian seinen Bruder Geta unrechtmäßig getötet hat, ist dem vollkommen anderen Tatbestand nicht im Geringsten weitergeholfen, dass Bassian seinen Mitherrscher Geta getötet hat. Dies stellt zwar eine Tateinheit, mitnichten aber eine Norm- und damit auch Regelungseinheit dar.273 Daher kann man auch nicht ohne Weiteres „[d]urch des Verrthers Tod den Bruder-Mord vershnen“, wie Julia glaubt (GdW 4, II, 4, S. 194, v. 373). Nachdem sich dem Problem deskriptiv genähert worden ist, kann systematisch zusammengefasst werden: Zum Ersten regelt das bodinsche Souveränitätskonzept das Verhältnis zwischen Souverän und Untertanen in sowohl normativer als auch regulativer Hinsicht: Der Souverän darf den Untertanen Gesetze geben, gegen diese Gesetze selbst verstoßen, dabei aber nicht das natürliche und göttliche Recht übertreten. Zudem bzw. gerade dadurch ist der Souverän gegenüber den Untertanen weisungsbefugt und kann den genauen Status der Untertanen sich selbst gegenüber souverän bestimmen, den Einen zum hohen Berater machen, den Anderen einfachen Bürger sein lassen. Macht er jemanden zu seinem nächsten Berater, eröffnet der Souverän dem Untertan zwar die Möglichkeit eines verstärkten Einflusses auf sich, handelt aber in dieser Bestallung nichtsdestoweniger genauso souverän (vgl. 5.3.3). Zum Zweiten regelt das transhumane Recht das Verhältnis zwischen Menschen im Naturzustand normativ und regulativ. Dauerhaft stehen in diesem Verhältnis eigentlich nur Souveräne unterschiedlicher Staaten zueinander. Diese dürfen unter der Voraussetzung einer justa causa einander souverän Krieg erklären. Sie sind dabei zwar an diejenigen Vorgaben des jus divinum, naturae bzw. gentium gebunden, welche die justa causa eines Krieges genauso ausmachen wie einer individuellen Notwehr. Dennoch wird die Kriegserklärung insofern als souverän verstanden, als keine nochmals übergeordnete irdische Rechtsperson um Erlaubnis gebeten werden muss. Genauso unstrittig wie unbesprochen bleibt dabei also, dass die international führenden Akteure souverän sind: Ebenso wie bei Einzelpersonen stillschweigend vorausgesetzt wird, dass sie Herr ihrer Sinne und ihrer Entscheidungen sind, ist im internationalen Verhältnis diejenige Annahme je schon getroffen, dass der Souverän Herr seiner Untertanen ist. Sowohl der erste, souveränitätsrechtliche, als auch der zweite, naturrechtliche, Fokus erweisen sich als in problematischer Weise voraussetzungsvoll. Beide verhandeln nur das äußere Verhältnis eines Souveräns gegenüber Anderen – dort gegenüber den Untertanen, hier gegenüber anderen Souveränen. Zum Dritten ist
273 Z.B. Solbach: Amtsethik und lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius’ ‚Papinianus‘, S. 649f.
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also in diesen beiden ersten voraussetzungsvollen Annäherungen nicht die Frage abgegolten, wie innerhalb eines pluripersonalen Souveräns das Normen- und Regelverhältnis zu denken ist. Wohlgemerkt könnten Bassian und Geta durchaus zu zweit den Souverän bilden – und die Regierung der Wenigen, die Aristokratie, gehört schließlich schon ins Inventar der klassischen politischen Philosophie. Auch diese hält in ihrer Beschränkung aufs Definitorische die Realität der gleichen Machtaufteilung für ausgemacht.274 Dass diese Realität jedoch besorgt werden muss und damit wiederum rechts- wie politphilosophische Grundlagenreflexion zu betreiben ist, stellt in der Tat eine Leerstelle dar, um die es Gryphius mit dem Papinianstoff zu tun ist. Im Rahmen des traditionellen und zeitgenössischen Staatsdenkens gibt es im Grunde nur drei Lösungen: Erstens nämlich handelt einer der aristoi federführend, teilt den Übrigen Aufgaben und Rechte zu; diese wiederum akzeptieren diese Zu- und Anweisungen weitgehend widerspruchslos. Zweitens schließt einer der aristoi seine übrigen Mitherrscher von der Herrschaft aus, mitunter durch Mord. Diese Lösung unternimmt Bassian, wobei er auch die erste Lösung im Blick behält: Bassian verweigert sich einer Mitsprache Getas über seine Entscheidung, möchte sich als eigentlicher Entscheidungsträger etablieren und Geta seine Kompetenzen autoritativ zuweisen (II,2–4). Beide ersten Lösungen fallen also aus dem aristokratischen Rahmen, insofern sich ein Einzelner entweder durch geduldete Anmaßung oder durch Mord de facto zum Alleinherrscher macht. Wohlbemerkt denkt Bassian die erste Lösung nicht nur an, sondern er fürchtet sie auch: Die Anmaßung der alleinigen Herrschaft kann sich der Möglichkeit nach auch gegen ihn selbst richten, indem Geta ihn seinen Weisungen unterwirft. Genau dies unterstellt Bassian Geta, als dieser der Entscheidung über die ägyptische Präfektur des Celsus nicht ohne gemeinsame Beratschlagung zustimmen will: „Was? Will uns Antonin nunmehr Gesetze stellen? / Wer sind wir? Wir und er! darff er wol Urtheil fllen?“ (ebd., II,2, S. 186, v. 107f.). Dieser befürchtete und Geta vorgeworfene „Hohn“ veranlasst Bassian schließlich zum Brudermord (ebd., II,3, S. 190f., v. 261f.). Die erste Lösung ist daher doppelt problematisch: Sofern sie erstens realisiert wird, ist sie selbst im Effekt monokratisch. Sofern sie zweitens befürchtet wird, drängt sie auf einen Mord, den sie als Tötung aus Notwehr begreifen lässt (ebd., S. 191, v. 270–276) und der wiederum zur Monokratie führt. Solange eine Lösung des Problems ihren Ansatz nur an einer aposteriorischen Gewaltenteilung sucht, die bloß autoritativ, aber nicht normativ möglich
274 Reinhold Zippelius: Geschichte der Staatsideen. 6., erweiterte Aufl. München 1989 (Beck’sche Reihe 72), S. 22f., 35–37, 49–51.
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ist, solange wohnt der Aristokratie und der Biarchie eine notwendige Teleologie zur Monokratie inne. Diese Auffassung findet sich auch bei Bodin selbst: „[C]ar si deux Princes ne sont biē d’accord ensemble, cōme il est pres que ineuitable en egalité de puissance souueraine, il faut que l’vn soit rui par l’autre“.275 Eine autoritativ verfügte Gewaltenteilung kann nur eine scheinbare sein und ist notwendig mit Gewaltnahme identisch. Eine dritte Lösung darf daher einerseits weder aposteriorisch noch autoritativ sein, um eine echte Aristokratie zu gewährleisten. Andererseits ist eine solche Lösung normativ nicht vorgesehen: Wie gesehen geben weder das göttliche noch das natürliche Recht eine solche Lösung her. Zu einer selbstständigen Regelungsfindung einer echten Souveränitätsteilung wäre nur durch pragmatische Klugheitserwägungen zu gelangen: z.B. indem im Bewusstsein der Fehlbarkeit Einzelner die pragmatisch allemal sicherere Alternative darin erkannt wird, die souveräne Entscheidungskompetenz auf ‚mehrere Schultern‘ zu verteilen.276 Wie Stefano Saracino zeigt, war dies auch ein Gedanke Machiavellis, der allerdings zugunsten der Republik geführt wird.277 Dass die Biarchie notwendigerweise nur durch Einvernehmlichkeit handhabbar ist, zeigt Gryphius vor allem anhand der präventiven Konfliktvermeidung auf: Ein Konflikt ist schlicht darum zu vermeiden, weil er unter zwei gleichberechtigten Biarchen instanziell nicht lösbar wäre. Beide sind höchste Richter und Gesetzgeber des Landes. Ihr Konflikt wird sich also, welcher Art er auch genau sein mag, immer als Geltungskonflikt um gerade diese Instanzialität vollziehen. Die Voraussetzungen der Einvernehmlichkeit allerdings sind individuell nicht notwendig gegeben: Ebendieses Problem leitet die Mordszene (II,3) ein. Schon die ersten Verse zeigen ein Streitgespräch mit allerlei Fehlschlüssen, die besonders von Bassian vollzogen werden. Auf Getas Beteuern hin, für das gemeine Wohl zu handeln (GdW 4, II,3, S. 188, v. 166), entgegnet Bassian: „Diß spricht der Mund: Sein Hertz ist fern von disem sagen“ (ebd., v. 167). Gryphius bringt dem Leser nahe, wie sehr der Kaiser der Verschwörungstheorie des Laetus bereits aufgesessen ist. Bassians Befürchtungen um Getas Untreue sind ebenso wenig ausräumbar, wie der zitierte Satz fallibel ist: Wenn der beschuldigte Geta seine Schuld explizit leugnet, beweist das notwendig sein implizites Schuldbewusstsein. Ferner argumentiert Bassian unzureichend, wenn er Getas mangeln-
275 Bodin: Les six Livres de la Republique, II,2, S. 232. 276 Vgl. Zippelius: Geschichte der Staatsideen, S. 49. 277 Womit sich nur wieder die Frage auftut, ob Aristokratie mit diesem Argument nicht notwendig in Demokratie umschlägt und nur eine schale, weil wenig systematische Mittelform zwischen der Herrschaft Aller und der Herrschaft des Einzelnen darstellt.
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den Beifall mit Ablehnung identifiziert (ebd., v. 169). Zudem dreht Bassian die Beweislast um, ohne ihr selbst genüge getan zu haben: Auf Getas Frage, ob er je illoyal gehandelt habe, stellt Bassians „Dis zeigt die stete That“ keine befriedigende Antwort dar (ebd., v. 168f.). Daher argumentiert Geta um nichts schlechter, wenn er die Gegenfrage Bassians ebenso mit „Stets!“ erledigt (ebd., v. 169f.). Diese Antwort ist jedoch auch um nichts besser: Geta argumentiert zwar konziser, aber kultiviert dennoch wie Bassian auch einen Rechtsstreit. Damit verkennt er genauso wie sein Bruder, dass es für diesen Streit kein Forum gibt. Gryphius inszeniert hier das politisch-juridische Vakuum, in dem zwei Biarchen miteinander agieren. Weder Bassian noch Geta können in dem Streitgespräch als souveräner Richter agieren. Eine Lösung könnte nur das gute Argument erbringen, das entweder natürlich einsichtig ist oder auf das sich geeinigt wird. Durch Laetus’ Verschwörungstheorie schon völlig vereinnahmt, mangelt es Bassian bereits an ausreichend Scharfsinn, um dieses Argument aufzufinden und Getas Haltungen angemessen zu bewerten. Besonders aber könnte ein einvernehmliches Beratschlagen im Unterschied zur Gerichtsverhandlung nur darin seinen Ansatz nehmen, dass die beiden Brüder einander einen Vertrauensvorschuss geben: Dieser ist dort notwendig, wo eine kritische Prüfung mangels Richtinstanz unmöglich ist. Deshalb mangelt es dem Verhältnis der beiden Biarchen Bassian und Geta schon am Mindesten. In jenem Vakuum, welches für das Verhältnis zwischen zwei Biarchen keinerlei institutionelle oder juridische Regulative zur Verfügung stellt, wäre eine vertrauensbasierte Kommunikation die einzig verbleibende Strategie zur Stabilisierung gewesen. Mit den kategorisch dysfunktionalen und notwendig konfrontativen Argumenten Bassians verläuft die Kommunikation dieser Szene in die exakt verkehrte Richtung und prädisponiert so den folgenden Mord. Wenn Papinian demgegenüber eine Reichsteilung vorschlägt, hat diese nach heutigen Begriffen ihre Schwäche natürlich darin, dass sie das Problem eines inner-biarchischen Naturzustandes nur verschiebt in das eigentliche Feld des status naturalis. Das internationale Verhältnis der beiden Reiche West- und Ostroms wäre nur wieder ein naturständliches, gleichwenn Bassian und Geta in ihren jeweiligen Reichen monokratische Souveräne wären. Gerade Laetus hegt bedenkenswerte Zweifel am praktischen Effekt einer solchen Verschiebung, als Bassian sich ein letztes Mal selbst für eine Teilung des Imperiums ausspricht: Bewegung wird numehr die Gifft nicht dmpffen knnen. Man ndert zwar den Ort / nicht die erhitzten Sinnen. […] Wehn schickt man mit Jhm aus? Die er durch Gunst verbunden? Die wagens Jhm zu gut. Die Wir stets trew gefunden? Denn stehn Wir gantz entblst! (ebd., S. 187, v. 135f., v. 143–145)
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Im siebzehnten Jahrhundert steht die Lösung der Internationalisierung eines interpersonalen Konflikts jedoch genauso in einem anderen Licht wie ihr rechtspolitischer Effekt. Wie bemerkt, besteht für Gryphius das Problem eines in der Tat rechtsfreien Naturzustandes aussschließlich für die spezielle Konstellation der Biarchie. Sie ist sozusagen der hobbesianische blinde Fleck der bodinschen Souveränitätslehre und des traditionellen Naturrechtsdenkens gleichermaßen.278 Damit zieht Gryphius jedoch nicht die sonstige Geltung und Validität des göttlichen und natürlichen Rechts in Zweifel. Für die Beziehung zweier je vollgültiger Souveräne bietet das göttliche, das Natur- und Völkerrecht umfassende rechtliche Regelungen an wie auch für eventuelle Konfliktfälle.
5.3.3 Consiliarii und Beamtenethik Im Papinian macht Andreas Gryphius zum ersten und einzigen Mal nicht den Souverän selbst, sondern einen seiner Berater zur Hauptfigur. Wie gesehen verhandelt Gryphius auch anhand des consiliarius Souveränitätsfragen, insofern Papinian von der Kaisermutter Julia wie ein Souverän behandelt wird (5.3.2.1). Gryphius lässt es sich auch darüber hinaus nicht nehmen, spezifische Fragen von Beamtenethik und des Wesens des consilium selbst zu verhandeln. Damit eröffnet Gryphius keinen zweiten Diskursstrang, der vom Hauptthema der politischen Theologie isoliert wäre. Vielmehr erlaubt ihm gerade die Figur des hohen, allseits anerkannten Staatsbeamten Papinian, eine entscheidende Nagelprobe des bodinschen Souveränitätskonzepts zu vollziehen.
5.3.3.1 Die Unverbindlichkeit des Ratschlags Papinians Behandlung als ‚Schattenmonarch‘ (5.3.2.1) kann mit Blick auf den nunmehr geschärften Souveränitätsbegriff noch in anderer Hinsicht beschrieben werden: Julias Irrtum besteht darin, einem Berater des Kaisers Befehlsgewalt über denselben zuzuschreiben. Mithin missachtet die Kaisermutter den nicht nur bei Bodin, sondern auch im Naturrecht fundamentalen Unterschied von Vorschrift (praeceptum) und Ratschlag (consilium). Mit diesem Unterscchied ist ein weiteres entscheidendes Problem des Souveränitätsrechts berührt, das auch Gryphius’ Mentor Schönborner abhandelt:
278 Die Situation zwischen Bassian und Geta ist immer schon Ausnahmezustand und wird nicht erst durch Getas Ermordung konstituiert: vgl. Solbach: Amtsethik und lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius’ ‚Papinianus‘, S. 661f.
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„Princeps se gerat erga consiliarios, ne gubernationis aleam illis solis committat, neve ab illorum nutu jussique totus pendeat“.279 Die Consiliarii geben ihrem Titel entsprechend nur consilia, womit Schönborner die katholische genauso wie die melanchthonianische Rechtslehre hinter sich weiß: Francisco Suárez und Philipp Melanchthon betonen, dass der Ratschlag sich vom Gesetz und Befehl bzw. von der Vorschrift durch seine Fakultatitivät unterscheidet, d.h. durch einen Mangel an Verpflichtungskraft seitens des Ratgebers (4.2.2.3): Wenn „die Absicht ist, ein Gesetz zu schaffen, welches keine Verpflichtung bewirkt, handelt es sich nicht um ein Gesetz, sondern um einen Ratschlag“.280 Damit gilt die Tatsache der souveränitätsrechtlich alleinigen Verantwortung des Fürsten als eines Ratnehmers im Falle des guten Rats genauso wie des schlechten. Der ausdrückliche Hinweis Schönborners, dass der Herrscher Ratschläge nicht wie Befehle befolgen soll („neve ab illorum nutu jussique totus pendeat“), weißt sowohl auf den wesentlichen Unterschied von praeceptum und consilium hin als auch auf die souveränitätstheoretische Prämisse, dass ein souveräner Herrscher kein Befehlsempfänger sein kann. Die allein angemessene Weise, dem Herrscher zu begegnen, kann nur der Ratschlag sein, der von einer Verpflichtung absieht. Imputationstheoretisch trägt im Falle eines rechtswidrigen Ratschlags gerade der Ratnehmer die Verantwortung, während beim rechtswidrigen Befehl der Befehlsgeber die letzthinnige Verantwortung und Schuld trägt.281 Wie bereits in Catharina von Georgien anhand des Imanculi (4.2.7.1) behandelt Gryphius im Papinian dieses Problem an der Figur des Laetus. Dabei korreliert er die persönliche Kompetenzfrage mit der obrigkeitlichen Befugnisfrage. Schon
279 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 157. 280 Suárez: Abhandlung über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber, I. I. 8, S. 34: „Der Rat führt nicht wirkkräftig zur Erfüllung des Gebotenen, wozu eine moralische Verpflichtung zum Handeln auferlegt werden müsste. Wenn wir nämlich anmerkten, das Gesetz veranlasse zum Handeln, so ist es auf diese Weise zu verstehen.“; vgl. Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez; Melanchthon: CR XXII, Sp. 284: „Gebot nennet man die von nötigem gehorsam reden, also, das alles so wider die gebot Gottes ist, ist sünde, vnd bringet ewige straffe […] RAdt nennet man diese lere, die nicht Gebot ist, vnd macht das werck nicht nötig, aber sie lobet das werck, als vnstrefflich, vnd etwa zu nützlich“; ders., CR XXI, Sp. 126, wo Melanchthon ausgerechnet den Scholastikern zum Vorwurf macht, im Hinblick auf das Zölibat zwischen consilium und praeceptum nicht unterscheiden zu können: „Non est autem quod hic disputes, utrum consilia sint superiora praeceptis, Scholasticorum sunst istae ineptiae, qui neque quid praeceptum, neque quid consilium esset, intelligebant.“ 281 Es sei nochmals betont, dass dies unter heutigen, d.h. kantianischen Rationalitätsstandards gerade nicht unbedingt gilt: Geismann: ‚Befehl ist Befehl‘. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit.
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Bassian selbst schwankt nach seinem Mord an Geta zwischen Schuldgeständnis und -leugnung (III,1), um schließlich den Entschluss zu fassen, Laetus für seine „falsche Räth“ zu bestrafen: Wir sehns! doch nun zu spt! ach bel sonder Rath! Auff Geist! ermunter dich / gib bey der frechen That Noch einer Tugend Rest der nach-Welt zu erkennen. Sie mag dich wie sie will / und billich grausam nennen Doch fge sie darzu; daß Bassian versprt Daß Er durch falsche Rth’ auff eine That verfhrt / Die er zu straffen sucht. Diß ist das schndlich Eisen / Dem aller Zeiten Zeit den Greuel wird verweisen. Es fahr in Lætus Hertz! […] (GdW 4, III,1, S. 201, v. 37–45)
Eigentlich sind Schuld- und Strafbegriff mit Blick auf das Verhältnis von Bassian und Laetus nicht gut gewählt. Allerdings ist dies Bassian durchaus bewusst. Denn Laetus’ Hinrichtung soll vor allem dem Zweck dienen, „bey der frechen That / Noch einer Tugend Rest der nach-Welt zu erkennen“ zu geben. Bassians Todesurteil über Laetus ist mehr von wirkungspragmatischen Absichten geleitet als von moralisch-rechtlichen. Schließlich gesteht der Kaiser der Nachwelt durchaus zu, ihn „billich grausam zu nennen“. Darüber darf auch Julias vordergründige Zustimmung zu Laetus’ Schuld nicht hinwegtäuschen, die Cleander mit allen rhetorischen Mitteln des Nachdrucks wiedergibt (III,2): […] Es war des Lætus zungen / (Nicht Antoninus Stahl) die Jhm die Brust durchdrungen. Er ists! der lngst auff uns das scharffe Schwerdt gewetzt. Er ists! der Frst auff Fürst’ und Blutt auff Blutt verhetzt! Er ists! der seinen Gri durch Frsten auß kann fhren / Durch den die Mutter / Kind / und Sohn den Ruhm verliren / Der Antonin in Haß / und uns in Wehmut strzt / Der Antoninus Ehr und Getæ Zeit verkrtzt. (ebd., III,2, S. 204, v. 143–150)
Auch wenn Bassian und Julia sich in diesem einen Punkt einig zeigen, dass „[o]hn Lætus reitzen […] der Unfall nicht zu hoffen“ war (ebd., v. 151), so hegen die Imputationstheorien Mitte des siebzehnten Jahrhunderts allzu viel Bedenken, als dass Laetus ohne Weiteres als alleinverantwortlich bezeichnet werden könnte. So wird 1660, ein Jahr nach Erscheinen des Papinian, Samuel Pufendorf die Zurechenbarkeit zum Axiom seines Naturstandsdenkens machen282 und diese
282 Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke. Bd. 3: Elementorum jurisprudentiae universalis libri duo. Hg. von Thomas Behme. Berlin 1999, EJU II. A I., S. 117: „Quaelibet actio ad normam
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anhand der Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit moralischer Handlungen definieren: „Porro fundamentum imputabilitatis, seu ut actio agenti possit imputari, est, quod illa penes agentem, ut fieret vel non fieret fuit“.283 Es stellt daher keineswegs Spitzfindigkeit dar, Laetus’ Schuld auch im zeitgenössischen Kontext als eingeschränkt zu erachten, sondern beruht auf zwei grundlegenden Theorien der Frühen Neuzeit. Laetus ist einmal dadurch zu entschuldigen, dass er als Ratgeber keine Befehle gibt, an die sich Bassian zu halten gezwungen sehen müsste. Ebenso wenig kann Bassian die Verantwortung von sich auf Laetus schieben: Der Beratschlagte behält im Unterschied zum Befehligten alle rechtliche Verantwortung bei sich. Dies gilt ein andermal umso mehr für den Souverän, der Bassian eigentlich so gerne sein will: Dieser kann allein aus hierarchielogischen Gründen die Verantwortung für seine Taten nicht auf einen Anderen schieben, ohne diesem damit implizit die eigentliche Zwangsgewalt zuzugestehen und sich selbst seiner Souveränität zu begeben. Als Laetus daher von seinem Todesurteil erfährt (III,4), verweist er nur konsequent auf die schlussendliche Verantwortung des allein weisungsbefugten Kaisers Bassian – ein Argument, was nicht einfach abgetan werden kann: Hilf Himmel was ist diß! was schreibt Er! kann ich lesen! Was ruht auff disem Blatt? Mein sterben / mein genesen? Weil Mittel uns entgehn / Dir deinen Rath und Dinste zu vergelten / Und uns nicht an will stehn / Daß uns die Nach-Welt solt undanckbar schelten: So zahle dich mit eignen Hnden / Durch dises was wir bersenden. Wie? Was Geschenk ist diß! Mir? Dolchen? Strang? und Gifft? Bin Ichs den dieser Blitz des Bruder-Mrders trifft? Wie? Mir! vor Rath und Dinst? Wie? Soll mein Blutvergissen Beschnen deine Feil? entladen dein Gewissen? (GdW 4, III,4, S. 208, v. 283–294)
Mit der auch rhetorisch engen Gegenüberstellung von vorgegebener Schuld des Laetus und eigentlicher Alleinverantwortung des Bassian lässt Gryphius seinen Laetus die Lage rechtstheoretisch präzise erfassen: „Vor Rat“, auch wenn es ein
moralem dirigibilis, quam penes aliquem est fieri vel non fieri, potest ipsi imputari. Et contra : Id quod neque in se neque in sua causa penes aliquem fuit, non potest ipsi imputari […].“ 283 Ebd., EJU II. A I. § 6, S. 119; vgl. Hruschka: Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf; ders.: Zurechnung und Notstand. Begriffsanalysen von Pufendorf bis Daries. In: Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Jan Schröder. Stuttgart 1998 (Contubernium 46), S. 163–176.
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schlechter Rat war, kann niemand anstelle eines anderen „Feil“ schuldig gesprochen werden. Es ist also keineswegs mangelndes Schuldbewusstsein, das Laetus hier an den Tag legt: Juristisch wie juridisch betrachtet, liegt die Schuld tatsächlich allein bei Bassian, unabhängig davon, dass daraus ebenso wenig ein Widerstandsrecht folgt.284 Durch Gryphius’ Figurengestaltung ist Laetus zwar durchaus ein solcher adulator, vor denen schon Machiavelli gewarnt hatte.285 Aber mit dem Hinweis darauf, dass der Fürst für die Ausführung der ihm angeratenen Handlungen letztlich allein verantwortlich zeichnet, spricht Laetus treffend das souveränitätsrechtliche wie souveränitätspraktische Problem an. Seine Hoffart, die Laetus dem Sabinus gegenüber in III,3 eingesteht, ist zwar für sich verbrecherisch und nach Melanchthons Systematisierung ein Verstoß achten Grades gegen das erste Gebot.286 Sie ist jedoch ein Tatbestand für sich und damit für die unmittelbare Schuldfrage des Mordes an Geta indifferent. Im rechtsphilosophiegeschichtlichen Zusammenhang stehen sich die Figuren Laetus und Papinian also durchaus näher, als es die Antagonität der beiden Charaktere prima vista vermuten ließe: Das Problem der souveränitätsrechtlich alleinigen Verantwortung des Fürsten als eines Ratnehmers gilt für den guten Rat wie für den schlechten, das Problem einer staatsrechtlichen Schuldfrage für den guten Ratgeber Papinian also genauso wie für den schlechten Ratgeber Laetus.
5.3.3.2 „wer dint; muß nichts versagen“? Grenzen der Beamtenethik Bassians Diener Cleander versucht in III,6 Papinian von seiner Weigerung abzubringen, den Brudermord vor dem Volk und dem Heer zu beschönigen. Dabei beruft er sich u.a. auf das historische Beispiel des Seneca, der einst den Mord Neros an seiner Mutter gerechtfertigt hatte (GdW 4, III,6, S. 213f., v. 447–468). Papinian hingegen verweist darauf, „[d]aß Nero in der That sich ob der That entsetzt“ habe (ebd., S. 213, v. 456), und stellt Cleander vor Augen, dass mit dieser Gewissensstrafe Neros Schuld rundheraus bestätigt war. Wenn Seneca daher schrieb, „daß es mit Recht geschehen“ (ebd., v. 461), so ist diese Behauptung ebenso falsch wie widerrechtlich. Cleander kann seine Vorstellung einer gänz-
284 Mit Ausnahme der monarchomachischen Staatslehren: vgl. Stefan Bildheim: Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Band 904); Wyduckel: Althusius und die Monarchomachen. 285 Vgl. Machiavelli: Il Principe, XXIII („Quomodo adulatores sint fugiendi“), S. 182–187. 286 CR XXI, Sp. 210.
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lich pragmatischen Amtsethik nur noch insofern ‚rechtlich‘ einbetten, als er sie allein auf weltliche Autorität rückbindet: „Mein Freund! wer lebt; der dint / wer dint; muß nichts versagen“ (ebd., S. 214, v. 469). Gegen diesen Positivismus macht Papinian den übergeordneten Status des transhumanen „heil’gen Rechts“ geltend. Daraus ergibt sich ihm die Entbindung des Beamten von seinen Amtspflichten dort, wo der Dienstherr in seiner Gesetzgebung oder durch seine Anweisungen vom heiligen Recht abweicht: Papin. Wer so dint / wird Schmach / Schand’ und Fluch zu Lohne tragen. Cleand. Ach Gtter! werther Freund! Er ringt nach seinem Tod. Papin. Wer vor die Wahrheit stirbt; pocht aller Zeiten Noth. Cleand. Wie hitzig wird der Frst den rauen Abschlag hren? Papin. Ich muß das heil’ge Recht vor tausend Frsten ehren. (ebd., v. 470–474)
Papinian hält der Obrigkeitsgläubigkeit Cleanders die Gottesfurcht entgegen, wie sie in den Tugendkatalogen der frühneuzeitlichen Beamtenethiken an erster Stelle steht.287 Selbst der Theoretiker der prudentia mixta, Justus Lipsius, bestimmt die lex divina zum Leitfaden der Räte.288 Michael Stolleis hat nach Durchsicht zahlreicher Politiklehren, Fürstenspiegel und Handbücher herausgearbeitet, wie die Zeitgenossen sich den Staatsbeamten vorstellten: „Wer Gott nicht ehrt, kann kein guter Diener sein“.289 Dieser Gedanke hat erkennbar auch eine andere Seite: Gerade dem Fürsten ist mit einem Beamten, der nur ihm hörig ist, in der Tat nicht geholfen. Inwiefern auch Papinian diesen speziellen Gedanken aufnimmt, wird eigens zu besprechen sein (5.3.4.2). Dass Papinian ferner gegen Cleanders Autoritätsargument das Wahrheitsargument (des Rechts) aufbringt, zeigt ein weiteres Mal die unübersehbare Kluft, die zwischen dem rechtstheologisch denkenden Gryphius und dem Rechtslogiker Hobbes herrscht: Papinian wird hier nichts anderes als die Zurückweisung dessen dezisionistischen Prinzips „Auctoritas, non veritas facit legem“ in den Mund gelegt.
287 Vgl. Michael Stolleis: Grundzüge der Beamtenethik (1550–1650). In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990 (stw 878), S. 197–231, hier S. 215. 288 Lipsius: Politica Sive Civilis Doctrina, 1589, III.5, S. 82: „Consiliorum gubernaculum, Lex divina sit.“ 289 Stolleis: Grundzüge der Beamtenethik (1550–1650), S. 215.
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5.3.4 Heterotheonomie im Polytheismus – Begründungsnöte einer Universaljurisprudenz Cleander missversteht Papinian abermals und sieht mit dessen Rede vom „Recht“ nur wieder die „Satzungen“ angesprochen, also das vom Frsten gesetzte Recht, das jener auch aufzuheben legitimiert ist: „Der Recht und Satzung gibt / hebt offt die Satzung auff“ (GdW 4, III,6, S. 214, v. 483). Gryphius inszeniert hier nicht nur eine irgendwie ermüdende Diskussion, sondern sichtlich auch die mentalitätsgeschichtliche Verfahrenheit des historischen Settings: Cleander ist so gut als alle anderen Figuren um Papinian nicht nur darum kein satisfaktionsfähiger Gesprächspartner, weil er die Idee der leges-Hierarchie nicht kennt, sondern auch weil er dem ius divinum nur genauso Endlichkeit zuschreibt wie dem menschlichen Recht: Papin. Der Gtter ewig Recht ist stets im schwange bliben. Cleand. Es wird / wie was nur ist / in seine Nacht vergehn. (ebd., v. 485f.)
Erst mit der Konstantinischen Wende wurde das Christentum zur Haupt- und sogar Staatreligion und erst nach dieser Wende wurde den römischen Gesetzen auch eine christliche Prägung verliehen.290 Zuvor aber hat Cleanders Temporalisierung der göttlichen Gesetze seine weltanschaulich bestimmbaren Gründe. Die Vorstellung des polytheistischen Olymp sowie die vermehrt menschengleiche Zeichnung der einzelnen Gottheiten mit Schwächen und Makeln bedingen stets auch den potenziellen Konflikt der Götter und damit auch die Varianz ihrer Gebote. Diese positiven göttlichen Gesetze besitzen in ihrer Befolgbarkeit in keinster Weise einen Vorteil gegenüber dem positiven Recht des Menschen. Die Pluralität anthropomorpher Götter lässt gegenüber der Autorität theomorpher Menschen gar kein valides Unterscheidungsmerkmal für eine leges-Hierarchie zu.
290 Vgl. Arnold Ehrhardt: Constantin d. Gr. Religionspolitik und Gesetzgebung. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 72 (1955), S. 127–190, der eine zum Gutteil pragmatische Motivation Konstantins zur Christianisierung des römischen Rechts ausmacht (S. 137), die jedoch dem systematischen Eingang des christlichen aequitas-Gedankens in das römischrechtliche Denken vom ius strictum keinen Abbruch tut (S. 139). Vgl. Tiziana J. Chiusi: Der Einfluß des Christentums auf die Gesetzgebung Konstantins. In: Kaiser Kon stantin der Grosse. Historische Leistung und Rezeption in Europa. Hg. von Klaus Martin Girardet. Bonn 2007, S. 55–64, die einen gewissen christlichen Einfluss besonders im Strafrechtsdenken nachzeichnet (S. 61f.).
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5.3.4.1 Papinians Themis: Quelle ‚allgemeinen‘ Rechts Die Göttin der Gerechtigkeit Themis bzw. lat. Justitia wird früh ins Trauerspielgeschehen eingeführt. Es kann nur vermutet werden, ob dies dem Zweck dient, ihr eine privilegierte Identifikationsmöglichkeit seitens des Lesers zu ermöglichen. Man sollte annehmen, ihre Vereinnahmung durch die eindeutig positiv besetzte Titelfigur Papinian dürfte Mittel genug sein, ihr eine breite Konsensfähigkeit unter den Trauerspielrezipienten zu verschaffen. Von weiteren rezeptionsästhetischen Mutmaßungen muss hier daher abgesehen werden, weil sie den Status der Vermutung nicht würden übersteigen können. Es ist allemal festzustellen, dass Gryphius kein einheitliches Bild der Themis zeichnet. So sehr der Schlesier auch in der Tradition früher Antipositivisten wie Matthaeus Wesenbecks (1531–1586) steht, der zurecht betonte, dass Papinian seine Weisheit nicht den Prätorialedikten und den Zwölftafelgesetzen entnahm, sondern schon aus einer Philosophie des Rechts entwickelte,291 so wenig steht Gryphius’ Themis daher schon für ein Gegenmodell zum Rechtspositivismus ein. Gryphius wird das Problem der Einheitlichkeit des Themisrechts überhaupt thematisieren (5.3.4.3). Schon die erste Anrufung der Themis durch die Titelfigur erfolgt als Anrufung einer nicht bloß normativen, sondern auch aktiven Gottheit. Hinsichtlich der gegen ihn schwelenden Vorwürfe von Verrat und Hinterlist erbittet Papinian: „Nim grosse Themis nim den Schandfleck von mir hin!“ (ebd., I,1, S. 174, v. 102). Papinian fasst die Gerechtigkeit von Beginn an als handelnde Gottheit, nicht nur als Idee auf – so stark die Rechtsidee späterhin auch gemacht wird (5.3.5.3). Besonders Kaiserin Julia wird nach Getas Ermordung Themis als Rachegöttin um Vergeltung anflehen. Allerdings ist auch ihr zorniges Gebet von der Sorge geprägt, dass Themis im Olymp der vielen Götter kein exklusives, mithin kein im eigentlichen Sinne allgemeines Recht verkörpert: Heilge Themis! Rach! O Rach! Heilge Themis! wo du nicht Vor gekrnte taub und blind; Wo noch jemand Urthel spricht; Wo noch deine Straffen sind; Blitze! verhere! zustre! verbrenne! Wte! verterbe! verwste! zutrenne!
291 Matthaeus Wesenbecius: De Papiniano Oratio, In Prælectionvm Ingressu. In: ders.: Exempla Iurisprudentiæ. Leipzig 1585, S. 9–53, hier S. 19f.: „Hoc vsus perdiu studiosorum rectore Papinianus: cuius autoritati suam iuuentutem dederet: à senis latere nunquam discederet: quo eius consuetudine & sapientia tum melior indies, tum doctior euaderet: non à prætoris edicto vttum pleriq.: non neq. à XII. tabul. vt superiores: sed ex intima penitùs philosophia iuris arcessit cognitionē […]“. Vgl. Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 234.
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Reiß alle Grundfest umb auff die der Mrder baut! Zuschmetter was Jhn schtzt! zustoß auff was er traut! (ebd., II,4, S. 192, v. 312–320)
Wo befürchtet wird, dass Themis „vor gekrnte taub und blind“ sein könnte, ist die Verunsicherung hinsichtlich des Souveränitätsrechts spürbar (5.3.2). Daher darf es nicht als ausgemacht gelten, dass Julias Wunsch, Themis solle zerschmettern, was Bassian schützt und worauf er vertraut, auf Papinian zielt. Zwar wird Themis selbst verfügen, dass Bassian um seines eigenen Schadens Willen zur Ermordung seines wichtigsten Ratgebers getrieben werden soll (ebd., II,8, S. 200, v. 312–320). Allerdings ist es gerade Julia, die Papinian Ehe und Krone anbietet. Es erscheint daher durchaus plausibel, dass Julia auf die eigentliche Schutzinstanz Bassians anspricht, die Göttin Victoria (5.3.4.3). In diesem Sinne riefe Julia gerade zum Kampf zweier Gottheiten und zum Kampf zweier Rechte auf. Nicht zuletzt Papinian selbst wird deutlich machen, dass dies keine Lösung sein kann: Das Projekt eines universalen Rechts darf nicht in einem inwendig gewaltsamen Recht ohne Systematik und Kohärenz münden. Die Zweifel werden das Trauerspiel bis kurz vor Schluss begleiten: Auf der einen Seite sprechen die Erynien Themis als „Hchstes Recht der heilgen Welt“ an (ebd., S. 199, v. 574) und suggerieren die Suprematie der Themis auch gegenüber Souveränitätsfragen. Auf der anderen Seite spricht Themis selbst nur vom Brudermord, dessentwegen sie Bassian zu belangen sucht: als Verräter spricht sie ihn nicht an (ebd., II,7, S. 198, v. 521, v. 529, S. 199, v. 572). Die Erynien interpretieren Themis’ Beschluss durchaus als Bruch der Souveränität Bassians: „Wir gehen behertzt dein wollen zu vollbringen. / So msse Thron und Cron in Stcken zerspringen“ (ebd., II,8, S. 200, v. 579f.). So privilegiert die Position der nächsten Helferinnen der Themis auch ist, Gryphius belässt die Zweifel, die Julia erstmalig an der Integralität und Universalität des Themisrechts gehegt hatte.
5.3.4.2 Recht auf Rechtlosigkeit? Ansätze der goldenen Regel Papinian sieht seine Amtspflichten vom natürlichen und göttlichen Recht dergestalt eingeschränkt, dass er zwar „dem Bassian mit Hertzen / Seel und Hand“ zu dienen bereit ist, aber Bassians Bitte abschlagen muss, „den Todschlag zu beschnen“ (ebd., III,6, S. 213, v. 440f.). Hierbei bringt er durchaus schon Ansätze des Prinzips von der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit und des Reziprozitätskriteriums in Anschlag, wie es in der christlichen Theologie der goldenen Regel bereits angelegt, vernunftrechtlich aber erst von Kant säkular systematisiert werden sollte. Den Mord zu „beschnen“, hieße nach Papinian nämlich nichts weniger als „Welt und Frsten hhnen“ (ebd., v. 442). Mit der opportunen oder gar arbiträ-
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ren Aufhebung des fundamentalen Tötungsverbots wären Herrschaftsrechte um nichts besser zu sichern. Sie würden nur selbst Opfer eines nezessitären Klugheitskalküls, das sie selbst hervorbringen zu müssen meinten und das sich nun gegen sie selbst richtet. So hoch also Gryphius den Rang des Souveränitätsrechts in all seinen politischen Trauerspielen schätzt, so bleibt es dennoch untergeordnet gegenüber anderen fundamentalen Normen des göttlichen und natürlichen Rechts wie dem Tötungsverbot. Mehr noch: es lebt u.a. von diesem. Im Tötungsverbot erfährt das Souveränitätsrecht nicht etwa ein Hindernis, sondern es hat in ihm eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Realisierungsbedingung seiner selbst. Die Geltung des Tötungsverbots gering zu achten, hieße sich ins eigene Fleisch schneiden, als Mensch und als Fürst. Gerade dieses Argument nimmt Cleander sichtlich nicht wahr, weshalb Papinian im späteren Verlauf der Diskussion nochmals darauf zurückgreifen muss. In einer der bemerkenswertesten Figurenreden des Trauerspiels versucht Gryphius, die Haltlosigkeit eines bedingungslos autoritativen Rechtspositivismus zur Darstellung zu bringen. Nachdem Papinian auf das unten noch zu besprechende Gewissen als überpositive Prüfinstanz des Rechts verwiesen hat (ebd., S. 214, v. 488), erwidert Cleander: „Es ist der Vlcker Recht das einen heist gebitten“ (ebd., v. 489). Dass sich Herrschaftsrechte, ja die Befugnis zu positiver Gesetzgebung gerade aus universalem Recht herleitet, ist im Horizont des absolutistischen Naturrechts – das sollten die bisherigen Vorarbeiten gezeigt haben – keineswegs widersinnig, sondern es ist ein entscheidendes Moment der politischen Theologie. Cleander möchte jedoch mit einem bestimmten theoretischen ‚Kniff‘ das Völkerrecht gegen sich selbst ausspielen: „Die Stat-Sucht wischt das Recht bey allen Vlckern auß“ (ebd., v. 491). Dieses Argument funktioniert erstens nur, solange das ius gentium als interund übernationales positives Recht bzw. als Gewohnheitsrecht aufgefasst wird, dessen Satzungen durch ihre mehrheitliche Absprache oder gar schriftliche Niederlegung erzielt werden bzw. durch ihre Usualität zustande kommen. Vor allem auf Letzteres zielt Cleanders Argument: die weithin konsentierte Verabsolutierung der Herrschaftsrechte zwischen und besonders unter allen Völkern. Cleander spricht an dieser Stelle vom Völkerrecht weniger im Sinne eines ius inter gentes (was sich allererst mit dem heutigen Völkerrechtsbegriff deckt) als vielmehr im Sinne eines ius intra gentes. 292 Die Staatsucht bzw. die Staatsräson – so Cleanders Argument – ist nur genauso bei allen Völkern Gewohnheit wie die Rechte, die sie aufhebt.
292 Vgl. Jan Schröder: Die Entstehung des modernen Völkerrechtsbegriffs im Naturrecht der frühen Neuzeit. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 47–71.
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Dieses Argument funktioniert zweitens nur, solange man wie Cleander die Widersinnigkeit eines so begründeten Rechts auf Rechtlosigkeit nicht erkennt. Papinian hingegen erkennt sehr wohl, dass dies nur ein Pseudoargument sein kann: Denn warum die Staatsucht unter den Völkerrechten in Cleanders Augen offensichtlich einen Vorrang besitzt, muss paradox und ungelöst bleiben. Zwar spricht auch Papinian von „der Vlcker Schluß“ (ebd., v. 484) und legt damit eine positivistische Sicht auf das Völkerrecht nahe. Jedoch betont er selben Orts die Invarianz des Völkerrechts (ebd., v. 484 : „erhlt in stetem Lauff“), die bei einem Satzungsrecht nicht ohne Weiteres zu haben ist.293 Papinian versteht es daher, Cleanders eigentümliche Selbstaufhebungsthese des Völkerrechts zu kontern: „Wo Stat-Sucht herrscht, verfllt der Frsten Stul und Haus“ (ebd., S. 215, v. 492). Hier kommt wieder das oben bezeichnete Moment einer widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit und Reziprozität als Prüfkriterien von Recht zum Tragen: Staatsucht lässt sich nicht zur Norm erheben, ohne dass neben dem Herrscher nicht auch jedem anderen Menschen die Legitimation zur Herrschsucht und damit zum Widerstand gegeben würde. Unter einem solchen Recht auf Rechtlosigkeit würde daher die Souveränität als erste leiden („verfllt der Frsten Stul und Haus “).294 Gerade sie ist auf den Gehorsam gegenüber dem von ihr gesetzten Recht essenziell angewiesen. ‚Wischt‘ hingegen „die Stat-Sucht […] das Recht bey allen Vlckern auß“, so ist diese Bedingung einer Rechtswirklichkeit oberster Herrschschaft nicht mehr gegeben. Das Völkerrecht fußt für Papinian also weniger auf menschlichem Beschluss oder auf Gewohnheit, sondern vielmehr auf unabhängigen Prinzipien. Ein solches Völkerrechtsverständnis weist voraus auf dasjenige Samuel Pufendorfs: Er wird Natur- und Völkerrecht als inhaltlich identisch auffassen und das Völkerrecht auf ein ius inter gentes zuspitzen.295 In ähnlicher Weise wie Papinian behielt Francisco Suárez die Position vom gewohnheitsrechtlichen Charakter des ius gentium noch bei, unterstellte es jedoch nur genauso wie jedes positive Recht der Prüfinstanz des einzig konstanten natürlichen und göttlichen Rechts.296
293 Vgl. Nörr, Dieter: Papinian und Gryphius, S. 326: „Auffälligerweise unterscheidet Gryphius vielleicht bisweilen den Ausdrücken nach, nicht aber inhaltlich das natürliche Recht oder das ius gentium von dem göttlichen Recht.“ 294 Vgl. Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 290. 295 Pufendorf beschäftigt sich ausdrücklich mit der Frage, ob es ein besonderes, vom Naturrecht unterschiedenes Völkerrecht gibt: Pufendorf: De jure naturae et gentium, II. 3. § 23, S. 160: „Nec praeterea aliud jus gentium voluntarium seu positivum dari arbitramur, quod quidem legis proprie dictae vim habeat, quae gentes tanquam à superiore profecta stringat.“ 296 Vgl. Soder: Francisco Suárez und das Völkerrecht, S. 163–166 und S. 183–186; Gideon Stiening: ‚Quasi medium inter naturale ius, et humanum‘. Francisco Suárez’ Lehre vom ius gentium
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Obwohl Papinians Argumentation zunächst nur auf Verallgemeinerbarkeit abstellt und daher vernunftrechtlich anmutet, gibt er abschließend zu erkennen, dass Generalisierbarkeit und Wechselseitigkeit nur Prüfkriterien, nicht aber selbst schon Quellen des transhumanen Rechts sind: Papin. Ein herrlich Tod ist süss’ / ein schimpfflich Leben bitter. Cleand. Ja wenn man durch den Tod das Vaterland erhlt. Papin. Mehr weñ das Recht dadurch erhalten in der Welt. (ebd., v. 514–516; Hervorhebung O.B.)
Der Staatssucht nicht nachzugeben, sie nicht etwa zu Recht zu erklären und dafür den Tod in Kauf zu nehmen, lässt sich in kurzfristiger Perspektive nicht aus dem Stabilitätsinteresse des Staates herleiten. Papinian gelangt nun nicht etwa – wie später Kant in seiner Friedensschrift – zu dem pragmatisch-eingängigen Argument vom Eigeninteresse an Gesetzesgeltung und -einhaltung, das „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ einleuchtend wäre.297 Diese allererst vernunftrechtliche Begründung rechtlich möglichen Zwangs auf der Basis seiner vernünftigen Wollbarkeit kommt bei Papinian ebenso wenig schon zum Tragen wie bei Gryphius. „[D]as Recht dadurch erhalten in der Welt“, ist eine Motivation zur Gesetzeskonformität von eigenem Wert. Zweifelsohne erhofft sich Papinian nicht nur einen von den Göttern und ‚der Ewigkeit befesteten Gewinn‘ (GdW 4, III,6, S. 215, v. 496), sondern auch einen Nutzen „in der Welt“. Dennoch leitet sich das Recht nicht aus diesem Nutzen her. Es baut genauso wie Papinians Vertrauen auf eine Gottesinstanz auf. Gryphius wird dies im Folgenden weiter problematisieren, zwar nicht unter Rücknahme der Theonomie; allerdings mit der tiefergreifenden Frage nach ihrer Gestalt.
5.3.4.3 Bassians Victoria: Quelle des Souveränitätsrechts Vergleicht man das hiesige Trauerspiel mit Carolus Stuardus, in dem Gryphius das politisch-theologische Moment des dramatischen Argumentums schon zum Ende des zweiten Aktes abschließt (5.4.7), so legt Gryphius im Papinian erstaunlich spät den fundamentalen Problemkern offen, der heterotheonomen Obliga-
(DL II. 17–20). In: „Auctoritas omnium legum“. Francisco Suárez’ ‚De Legibus‘ zwischen Theologie, Philosophie und Rechtsgelehrtheit. Hg. v. Oliver Bach, Norbert Brieskorn, Gideon Stiening. Stuttgart-Bad Canstatt 2013, S. 175–194. 297 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, AA VIII 36615–16 (Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden. Hg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 1992 (Philosophische Bibliothek 443).
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tionsinstanzen besteht. In der Szene IV,1, zu deren Beginn Bassian die Nachricht von Papinians Weigerung überbracht wurde, beklagt der Brudermörder Papinians Untreue. Sein höchster Berater sei ihm doch eigentlich „durch Eyd verpflicht“ (ebd., IV,1, S. 221, v. 9). Diese Auffassung mag zunächst kaum verwundern bei einer Figur, deren Herrschaftsanspruch als Recht auf Rechtlosigkeit formuliert wurde (5.3.4.2). Dies verleitete wohl bislang dazu, diejenigen Worte Bassians zu übergehen, die nicht nur die Szene, sondern die gesamte vierte Abhandlung einleiten: Gttin die ber Thron / die ber Frsten wacht. Und Seel’ an Seelen bindt mit Demant-fester Macht / Du nicht verflschte Trew / die was hir schwebt und lebet In festem Stand erhlt / und seinem Fall enthebet: Schaw auff ein bebend Hertz / das sich verlassen siht / Von dem / umb dessen Glck und Ruhm wir stets bemht. (ebd., v. 1–6)
Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass Bassian hier allgemein eine inkohärente Vorstellung von Rechten und Pflichten hegt. Gegenüber den Rechten, die er einerseits als Souverän dank der angerufenen Göttin zu genießen in Anspruch nimmt, spricht er von keinerlei Pflichten, die diesen Rechten korrespondieren, aus ihnen gleichermaßen wechselseitig hervorgehen und – zumindest gegenüber dieser Göttin – von Seiten des Kaisers bestehen. Gryphius lässt es dabei dennoch nicht bewenden. Es hat in der Gryphius-Forschung bislang keine Beachtung gefunden,298 dass mit jener „Gttin die ber Thron / die über Frsten wacht“, die Victoria Augusta angesprochen ist, die Schutzgöttin der römischen Kaiser.299 Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Gryphius die skizzierten Widersprüchlichkeiten weniger nur Bassian selbst als vielmehr auch dem heidnischen Polytheismus überhaupt anlastet. Es ist hier nicht zu vertiefen, inwiefern die Göttin Victoria – eine Romanisierung der griechischen Göttin Nike, die im Prinzipat um das Moment der
298 Es wird ausschließlich die Göttin Themis gesehen: siehe z.B. Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum, S. 71–82, der ein „Gegeneinander von höfischer Fortunawelt und absoluter Sittlichkeit“ sieht (S. 71); ähnlich Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius’ ‚Aemilius Paulus Papinianus‘, S. 64; ferner Wilfried Barner: Der Jurist als Märtyrer. Andreas Gryphius’ Papinianus. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Hg. von UIrich Mölk. Göttingen 1996, S. 229–242, hier S. 236–238; Solbach: Amtsethik und lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius’ ‚Papinianus‘, S. 657; Harst: Rhetorik und Anschaulichkeit des ‚rechten Rechts‘, S. 137; Vollhardt: Klug handeln?, S. 245–250. 299 Vgl. Kurt Latte: Römische Religionsgeschichte. München 1960 (Handbuch der Altertumswissenschaft V,4), S. 300 und S. 323.
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Schirmherrschaft über die Kaiser erweitert wurde – tatsächlich für eine eigene „théologie de la victoire impériale“ einstand.300 Fest steht, dass Gryphius auf einen historischen Stand politischer Theologie reflektiert, und so sieht Bassian das Herrschaftsrecht durch eine wesentlich andere Gottheit vertreten als durch Themis, die allein als Patronin der Rechte des Lebens, der Achtung unter Brüdern und einer übergeordneten Gerechtigkeit gilt. Wenn eine zweite juridische Gottesinstanz angerufen wird, erfährt der Universalitätsanspruch dieses durch Themis vertretenen transhumanen Rechts keinen geringen Rückschlag. Bis weit ins siebzehnte Jahrhundert wird eindringlich und einstimmig die rechtsmetaphysische Bedeutung hervorgehoben, die der monotheistischen Gottesinstanz als notwendiger Bedingung universalen und homogenen göttlichen Rechts zukommt. Daher ist unbedingt vor einer rein ästhetischen Interpretation zu warnen, die in Themis bzw. Victoria nur Personifikationen zweier spannungsvoller Normen sähe, die allerdings einigermaßen unproblematisch miteinander vermittelbar wären. In der Tat treten Themis und Victoria für zwei von Grund auf diverse Quellen höchsten Rechts ein. Unter die nurmehr ‚irgendwie‘ allgemeine Gerechtigkeit der Themis fällt für Bassian das Recht der Kaiser gerade nicht. Dieses ist vertreten durch eine Göttin Victoria, die der Themis in nichts untergeordnet ist. Somit thematisiert Gryphius im Papinian auch die polytheistischen Begründungsnöte eines universalen Rechts – mit dramatisch erheblichen Folgen. Bas sians Rechtfertigung der Staatsräson hat also durchaus eine theonome Grundlage, aufgrund derer „der / dem Land und Reich zu Dinste stehen; / Nicht stets knn’ auff der Bahn gemeiner Bruche gehen“ (GdW 4, IV,1, S. 222, v. 23f.). Dass er sein von Victoria beschirmtes Herrschaftsrecht als gewichtiger ansieht, resultiert dabei auch aus seiner Einordnung der Themis-Rechte in das Gewohnheitsrecht („gemeine Bruche“). Dem einflussreichen suárezischen Rechtsdenken nach wäre schon diese Einordnung falsch, ist doch das konsensuelle Völkerrecht, Teil der lex humana und hat mit einer göttlichen Stiftungsinstanz nichts zu schaffen. Hier verdichtet sich daher das Missverständnis einer polytheistischen Universalrechtsdebatte noch um das Moment der Differenz von Theonomie und Positivität überhaupt: Ist Themis ‚nur‘ Schirmherrin eines anthroponomen Völkerrechts oder Rechtsquelle eines (hetero)theonomen Naturrechts? Papinian ist also persuasiv ohnmächtig: Solange Bassian sein Herrschaftsrecht sowie die dazugehörigen Amtspflichten kaiserlicher Beamter wegen ihrer heterogenen Geltungsinstanz als exklusiv ansehen muss, ist ihm die Aufhebung dieser Amtspflichten durch Normen der Themis nicht einmal ansatzweise vermit-
300 Dietrich Wachsmuth: [Art.] Victoria. In: Pauly 5, S. 1262–1264, hier S. 1263.
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telbar. Eine konsistente Universaljurisprudenz, eine homogene Ordnung ist auf heterotheonomer Basis nicht aufzubauen.301 Zu resümieren ist daher, dass Gryphus im Papinian nicht allein die weltlichen Geltungskonkurrenzen von Recht und juridisch unvermittelter Staatsräson reflektiert, sondern auch den Konflikt zweier allgemeiner, aber systematisch unvermittelbarer Rechtsquellenansprüche. Die etwa lipsianischen Vermittlungsversuche zwischen Staatsräson und transhumanem Recht, die ihren Anschluss am Heiden Tacitus zu nehmen suchten,302 werden von Gryphius also nicht kritiklos rezipiert, sondern implizit mit erheblichen Bedenken konfrontiert. Dass der zwar kurze, aber deutliche Ansatz der Goldenen Regel (5.3.4.2) gerade eine Vermittlung zwischen diesen beiden Norminstanzen liefern könnte, übersieht Papinian genauso wie –offensichtlich – Gryphius selbst. Es ist nämlich bemerkenswert, dass schon im Papinian die Goldene Regel eigentlich mehr über das Verfahren widerspruchsfreier Verallgemeinerbarkeit funktioniert als über das instanzielle Aufrufen einer Gottesinstanz, die Themis und Victoria wiederum übergeordnet ist und die allein alles göttliche Recht stiftet. Papinians Argument, dass der Fürst sich durch Brüche gegen das Themisrecht letztlich selbst schade303 und daher die Einhaltung des Themisrecht dem Fürsten gerade von Nutzen ist, zielt jedoch nicht darauf ab, dass sich dieses Recht inhaltlich aus dieser vernünftigen Wollbarkeit seiner selbst herleite. Gegenüber ihrem je unterschiedlichen Inhalt bleibt der vordergründige Rationalismus der Goldenen Regel bei Gryphius also ganz äußerlich. Die Rechtsmaterie gründet genauso wie ihre vis obligativa in der Gottesinstanz, gegen die durch einen Rechtsbruch aufzubegehren ebenso unrecht wie unklug ist. Gryphius geht es nicht um Säkularisierung, sondern um die Herausstellung der notwendig monotheistischen Basis eines universalen Rechtsdenkens. Dass unrechtes Handeln folgenreich und daher auch unklug ist, bildet erst den abschließenden Interessenfokus.
301 Vgl. ansatzweise Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, S. 102. Allerdings erläutert auch Schmelzeisen nicht die genauen Gründe, derentwegen ein „heidnischer Fürst das Recht des von den Christen verehrten Gottes nicht anerkennen“ kann. 302 Vgl. Stolleis: Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, S. 232–267; ders.: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: 1600–1800, S. 95. 303 Vgl. Gerhard Spellerberg: Recht und Politik. Andreas Gryphius’ ‚Papinian‘. In: Der Deutschunterricht 37 – 5 (1985), S. 57–68., hier S. 65.
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5.3.5 Anspruch und Potenzial des Rechts vor der Staatsräson Nachdem Gryphius durch das gesamte Trauerspiel hindurch so profunde Zweifel daran kultivierte, dass Themis für ein universales Recht einstehe (5.3.4), geht Papinian mit einer letzten festen Anrufung der Gottheit in den Tod (V,3): Heilge Themis die du Sitten Ins Gebltt hast eingepflantzet; Die der grimmen Vlcker wtten / Durch gemeines Recht umbschanzet; Und durch diß was du gesetzt Dein gelibtes Rom ergetzt. (GdW 4, V,3, S. 248, v. 343–348)
Zwar nennt Papinian diese Gottheit abermals Themis. Es ist allerdings kein Zweifel, dass er hier mit diesem Namen ein universal geltendes und allen Menschen bekanntes Recht anspricht. Es hat politischen Charakter und Wirkung, indem es durch seine Satzungen „Rom ergetzt“. Daher bittet Papinian dieses Recht schließlich auch um Erhaltung des Staates: „Schaw diß Reich heilwertig an!“ (ebd., v. 354). Auch wenn Papinian hier eine Instanz mit Themis anspricht, die sich von ihren vormaligen Inkonsistenzen sichtlich unterscheidet (5.3.4.1), und auch wenn diese uneinheitliche Namensgebung nach wie vor problematisch ist, so hat sich einiges getan im Konflikt zwischen dem ‚allgemeinen‘ Themisrecht und dem angeblich exklusiven Victoriarecht der Souveränität. Der Weg, den das Trauerspiel hierfür durch facettenreiche Aspekte politischer Metaphorologie, Ewigkeits- und Absolutheitstheologie sowie der pragmatischen Dringlichkeit nimmt, ist präzise zu verfolgen.
5.3.5.1 Zur juridischen Indifferenz von Naturstandsidyll und Schiffsmetapher Es geht dem Trauerspiel immer auch um den Nachweis, dass Politik nicht allein von der (List)Klugheit besetzt ist. Dass die Achtung göttlicher Gesetze daher alles andere bedeuten soll als den Rückzug aus dem Politischen, zeigt schon der erste Reyen der Hofjunker Papinians. In ihm wird ein zurückgezogenes Leben im Sinne des epikureischen Λάθε βιώσας imaginiert, von dem sich Papinians Haltung deutlich unterscheiden wird. Dass Papinian sich als Stoiker ebenso wie Gryphius als neostoizisch geschulter Lutheraner von dem Postulat eines Eremitentums distanzieren und zur οἰκειώσις bekennen mussten, gilt es hier nicht einfach nur festzustellen: Die argumentativen Momente des vorliegenden Naturstandsidylls selbst sind genau zu verfolgen:
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Wie selig ist der Hof und Macht / Und der beperlten Zepter Pracht / Auß den vergngten Sinnen stellt (ebd., I,5, S. 181, v. 373–375) […] Er zeucht zwar nicht in Purpur auff (ebd., v. 379) […] Ob seine Taffel nicht besetzt Mit allem was das Aug ergetzt Ob er nicht bey schon nahem Tag Spt’ Abend-Mahlzeit halten mag / Und fern-gepresten Wein auß edlen Steinen trinckt Biß daß der Morgen-Stern der gldnen Sonnen winckt. (ebd., S. 182, v. 385–390) […] Doch siht er auß der stillen Ruh Dem unbedachten Pfel zu. (ebd., v. 403f.) […] Er lebt vor sich ihm selbst zu gut Bebaut das Land mit gleichem Mut (ebd., S. 183, v. 421f.) […] Und was die Reich emprt und Throne strtzen kann Das siht er unverzagt gleich einem Schaw-Spiel an. (ebd., v. 425f. )
Natürlich ist es ebenso neostoisch wie lutheranisch, den weltlichen Pomp, der besonders Herrschern und hohen Beamten zufällt, mit Blick auf das Seelenheil für nichtig zu achten. Das wird jedoch nicht übersteigert in eine Verachtung und Flucht weltlicher Ämter, wie sie die Hofjunker befürworten. Im Gegenteil ist mit der allererst im Luthertum verbreiteten Differenzierung zwischen Amt und Person der Mensch verpflichtet, seine ihm auferlegte Amtsberufung auf sich zu nehmen. Die Welt darf nicht sich selbst und damit dem princeps mundi überlassen werden. Das Naturstandsidyll des Reyens, in dem jeder „vor sich ihm selbst zu gut“ lebt, wird weder im Rahmen einer rechtstheologischen noch einer staatsphilosophischen Naturzustandstheorie ernst genommen.304 Justus Lipsius lobt zwar die Abgeschiedenheit des Gartens von allen äußeren Sorgen.305 Er unterscheidet jedoch die Ruhe in Abgeschiedenheit entschieden vom „Grab der Faulheit“, zu dem das „profanum genus“ den Garten als Mittel der Nichtigkeit und Erstarrung macht.306 Gryphius erweitert demgegenüber seine Kritik am Idyll noch.
304 Dass daher das Idyll das Ideal stärke, für das Papinian stirbt, hält nicht stand. Vgl. hingegen Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 224. 305 Lipsius: De Constantia libri duo, II,3, S. 85 : „[M]unitus & clausus contrà omnia externa, intrà me maneo: à curis omnibus securus præter vnam, vt fractum subactumque hunc animum rectæ Rationi subiiciam, & animo ceteras res humanas.“ 306 Ebd., S. 81f.: „qui rem optimam simplicissimamque, instrumentum duorum vitiorum fe-
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Der Reyen spricht nämlich nicht nur vom überflüssigen Luxurieren des Herrscherlebens, sondern auch von den wesentlichen und guten Zwecken von Herrschaft. Da ist erstens die Rede von der legislativen und judikativen Funktion des Regierenden, also von innenpolitischer Friedenssicherung: „Ob er nicht herrscht in dem Gericht / Vnd ber Hals und Leben spricht“ (GdW 4, I,5, S. 182, v. 393f.). Ebenso kommt zweitens die außenpolitische Friedenssicherung zur Sprache: „Er fhrt kein Heer zu rauhem Streit / Er schreibt den Frsten nicht Gesetz und Schlsse vor“ (ebd., v. 382f.). Zwar kann dieses den Fürsten Gesetze vorschreiben zum Einen Eroberung bedeuten, also das Einführen eines weltlichen Rechts in ein anderes Reich. Zum Anderen kann eine völkerrechtliche Intervention gemeint sein, in deren Rahmen das Recht eines anderen Landes nicht den eigenen, sondern dem göttlichen und natürlichen Recht angepasst wird. Dennoch zielt die Polemik der Junker ohne Zweifel auf die Eroberung als Ausdruck eines nie zu saturierenden Machthungers. In der doppelten Wendung jedoch, in der Gryphius das Gesamtdrama wiederum gegen den Reyen der Hofjunker stellt, bleibt die positive Funktion machtund maßvoller Politik allemal ausgesprochen. Der Souverän genauso wie der von ihm hoch beamtete Papinian hat diese Aufgaben und Bürden auf sich zu nehmen, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil „[s]ein Hertz […] heilger Gtter voll“ ist (ebd., S. 183, v. 433). Mit Blick auf die politische Theologie erweist sich das nahezu bukolische Naturstandsidyll des ersten Reyens als überholt. Wohlgemerkt hat nicht nur die Staatslehre – nicht nur die machiavellische – ein solches Naturzustandsdenken hinter sich gelassen und durch den ratio status ersetzt. Auch die Rechtsphilosophien und -theologien reflektieren seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in zunehmender Geschlossenheit einen Naturzustand fern des status integritatis. Das einsame Leben eignet sich nicht als „neues Programm“,307 sondern nur als individuelle Alternative zur Gemeinschaft überhaupt, zum Emeritentum eben. Damit eignet es sich aber gerade nicht als Reflexionsgrundlage eines grotiani-
cerunt, Vanitatis & Torporis. Hac enim fini habent hortos. […] Quid dicam, nisi hilariam hanc quandam insaniam esse: nec absimilem illi puerorum, pallentium & rixantium circà pupas suas & sigilla? […] Sedent, circumambulant, oscitant, dormiunt. nec aliud. prorsus vt non otii sui secessum hunc habeant, sed desidiæ sepulcrum. Profanum genus!“ 307 Vgl. Stefanie Arend: Zwei Leben: Vom ‚artifex naturae‘ zum stoischen Weisen. Die Aktualisierung des Senecaischen ‚secundum naturam vivere‘ in Gryphius’ Drama ‚Papinian‘ (1659). In: Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Hg. von Manuel Baumbach. Heidelberg 2000 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe 106), S. 217–233, hier S. 230.
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schen appetitus societatis,308 weniger noch einer natürlichen Weltrepublik, wie sie Francisco de Vitoria annimmt.309 Der Fortgang des Trauerspiels, Papinians naturrechtskonformes Verhalten und sein im Ungehorsam sich manifestierender passiver Widerstand gegen Bassian legen offen, dass die von Gryphius anvisierte Amtsethik nicht in blindem Obrigkeitsgehorsam aufgeht.310 Wogegen Gryphius seinen Papinian der Sache nach gerade in Stellung bringt, ist ein unangemessener Dualismus von politikunfähiger Moral einerseits und rechtsvergessener Politik andererseits. Es wird sich von apolitischem Verhalten ebenso distanziert wie von rechtswidrigem Verhalten.311 Tragödiengeschichtlich ist daher festzuhalten, dass schon Gryphius den der Möglichkeit nach privilegierten Informationsstand des Reyens bzw. des Chors312 in bestimmten Grenzen hält. Natürlich kommentiert der Reyen das Geschehen, aber über Vor- und Nachgänge schweigt er sich aus. Damit ist nurmehr eine Bewertung der epischen bzw. episierenden Leistung seines Kommentars möglich. Wie gezeigt, versucht dieser Kommentar eine Perspektivierung des politischen Diskurses, die diesen nur in toto negiert, statt ihm zuzuarbeiten. Damit fällt er hinter das Naturrechtsdenken seiner rechtsphilosophischen Hauptautorität Cicero zurück: Dem ζῷον κοινωνικὸν geht ein solches Leben „vor sich jhm selbst zu gut“ schlicht gegen die Natur.313 Gryphius setzt diesen Chor weder zur additiven Informationsvergabe noch zur systematischen Explikation ein. Viel-
308 Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena [6], nicht paginiert: „Inter hæc autem quæ sunt homini propria, est appetitus societatis, id est communitatis, non qualiscunque, sed tranquillæ & pro sui intellectus modo ordinatæ cum his qui sunt sui generis : quam Stoici οἰκειώσιν appellabant.“; vgl. Benjamin Straumann: Hugo Grotius’ Ciceronian Argument for Natural Law and Just War. In: Grotiana 24/25 (2003/2004), S. 41–66. 309 Vitoria, De potestate civili / Über die politische Gewalt, S. 156: „Habet enim totus orbis, qui aliquo modo est una res publica, potestatem ferendi leges aequas et convenientes omnibus, […].“; vgl. Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘ – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas, S. 215. 310 Vgl. dazu gegen Ernst Troeltsch Luise Schorn-Schütte: Glaube und weltliche Obrigkeit bei Luther und im Luthertum. In: Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes. Hg. von Manfred Walther. Baden-Baden 2004 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 5), S. 87–103. 311 So auch jüngst Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste, S. 242. 312 Vgl. zur synonymischen Verwendung durch Gryphius und Lohenstein Lemm. Reihen m. In: DWb 14, Sp. 642–654, hier Sp. 650. 313 Vgl. dazu Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 22–28. Zum Mittlerstatus des ciceronianischen Naturrechts zwischen griechisch-antikem Stoizismus und christlicher politischer Theologie: ders.: Teologia politica, S. 39.
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mehr wird per contrarium die Alternativlosigkeit eines politischen Sich-Verhaltens gegenüber obrigkeitlichem Unrecht zur Darstellung gebracht. Der Reyen der Hofjunker steht genauso dramaturgisch am Rand314 wie auch sein überholtes Naturstandsidyll randständig ist. Gryphius setzt ihn nicht in affirmativer Absicht ein, sondern um aufzuzeigen, dass sich das politische Gemeinwohlproblem mit Idyllen nicht lösen lässt (5.3.5.7). Es existieren dramatisch ebenso wie thematisch gute Gründe, den Diskurs nicht nach der ersten Abhandlung enden zu lassen. Außer dem Naturidyll konfrontiert Gryphius noch einen anderen traditionellen Bildspender mit deutlicher Kritik. Sowohl Bassian (IV,1) als auch Papinians Vater Hostilius (V,2) verstehen den Staat als Schiff: Die Naturgewalten stehen hierbei ein für die statūs necessitatis, denen gegenüber das Recht keine Hilfsmittel liefere. Die beiden Figurenreden ähneln sich in Länge und Argumention in der Tat so sehr, dass Gryphius die abermalige Behandlung der Schiffsmetapher ein besonderes Anliegen gewesen sein muss, das um der Wiederholung willen keine ästhetische Redundanz zu scheuen brauchte: [Bassian:] [Papinian] weiß daß der /dem Land und Reich zu Dinste stehen; Nicht stets knn’ auff der Bahn gemeiner Bruche gehen. Der Segel-lose Kahn der an dem Strande spilt: Laufft Furcht und Anstoß frey / wo Er nicht Klippen fhlt / Nicht Felsen / Sturm und Sand. Soll man ein Last-Schiff fhren; So muß man nicht nur stets nach Wind und Nord-Stern spren. Man muß (wo Seichten sind) wo steile Hhen stehn: Wo umb die Vorgebirg’ erhitzte Wellen gehen Wo Teuffen / wo die See will keinen Bleywurff kennen / Wenn stete Schlg’ auff Schlg’ jtzt Brei und Kiel zutrennen Offt weichen von dem Strich’ auff den der Botsmann siht Wenn nicht der tolle Nord sich umb die Segel mht / Man fhrt offt seitwrts ab / auch ffter gar zurcke. So wird der Port erreicht mit Vortheil / Ruhm und Glcke. (GdW 4, IV,1, S. 222, v. 23–36) [Hostilius:] Schn ists / mit einem Wort / den Geist vors Recht hingeben / Doch schner Recht und Reich erretten durch sein Leben. Wer vor die Tugend fllt: thut wol. Der noch vilmehr Der vor die Tugend steht. Wenn Æolus zu sehr Sich gegen Segel setzt / und die getrotzte Wellen Mit Schlgen / Schaum und Sand das mde Schiff zuschllen: Gibt man den Winden nach / und rudert wie man kan / Nit keine Strich’ in acht / fhrt rck- auch seitwerts an /
314 Nach Gryphius’ eigener Anweisung findet der Reyen im Vorhof oder Garten des Papinian statt, während die gesamte erste Abhandlung im Haus des Rechtsgelehrten stattgefunden hatte: GdW 4, Kurtze Anmerckungen ber seinen Papinianum, S. 269.
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Bis sich der Sturm geschwcht; denn eilt man einzubringen Was vor auß Noth versumt. So muß die Fahrt gelingen! So bringt man Schiff und Gutt an das gewüntschte Land / Wer hir sich widersetzt und durch das freche Band Der tollen Klippen rennt: muß sat dem Mast versincken. (ebd., V,2, S. 240, v. 87–99)
Auch hier ist das transhumane Recht als nachgerade wirklichkeitsfremder „Strich“ ins Bild gesetzt. Seine Kapazitäten umfassen gerade nicht die Notlagen, derentwillen Unrechtstaten vollzogen werden. Es ist selbstverständlich, dass Papinian gegen diese Gedankenfigur schon darum Einwände haben muss, weil sie Unrecht nicht nur zulässt, sondern über das Recht hebt: Unrecht vermöge gerade auch das Gute zu erbringen, was das Recht nicht zu leisten im Stande ist. Mehr noch: Indem „der Port erreicht“ bzw. „Schiff und Gutt an das gewnschte Land“ gebracht sind, rettet ausgerechnet das Unrecht das Recht. Mit ihrer bildhaften Unfähigkeit, Stürme und Seegang zu bewältigen, verkommt jede Rechtslehre im Lichte dieses klassischen Emblems der prudentia mixta315 zur Schönwetterjurisprudenz. Speziell Bassians Irrtum gründet schon in der Auffassung, Papinian verfechte nur „gemeine Bruche“, also ohnehin variantes Gewohnheitsrecht: Dass es Papinian hingegen um das invariante und eben transhumane göttliche Recht zu tun ist, zeigt das Folgende. Von größerem Interesse ist hier jedoch, wie Gryphius seinen Papinian auf Hostilius’ Verwendung des Schiffsemblems reagieren lässt. Der These nämlich, dass Recht bestimmten Widrigkeiten nachzugeben habe wie natürliche Dinge einem Widerstand, um nicht zu ‚brechen‘, muss Papinian nunmehr anders entgegnen. Papinians Absicht, göttliches Recht nicht zu brechen, meint Hostilius schließlich im Physikalismus der Schiffsmetapher in ein Miteinander von Recht und Unrecht integrieren zu können. Es ist dieser unvermittelte Physikalismus des Emblems, den Gryphius’ dramatische Kritik trifft. Die Schiffsmetapher, so eingängig sie vordergründig erscheint, begreift menschliches Handeln und Verhalten nur genauso wie physikalische und mechanische Gesetze. Diese physikalistische Ethik lässt auch den extremen Rechtsbruch, versinnbildlicht im Rück- und Seitwärtsfahren, integrieren in einen Mechanismus von Stoß, Kraft und Bewegung. Papinian gesteht gewisse untergeordnete Rechtsbrüche durchaus zu: „Man muß je Frsten was zuweilen bersehen!“ (ebd., S. 241, v. 119). Dies ist ihm jedoch nicht unter den Bedingungen der Not, sondern nur wieder unter denjenigen des Rechts möglich:
315 Vgl. auch Mannack: Kommentar, S. 1048 und S. 1055.
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Wenn aber solch ein Stck ob dem die Welt erzittert / Ob dem was nah und fern bestrtzt / und hchst erbittert / So sonder Schew verbt / stehts keiner Seelen frey; Daß Sie so schndes Werck vor schn und recht außschrey. (ebd., v. 123–126)
Es gibt in Papinians Augen übergeordnete Normen des göttlichen Rechts, die untergeordnete Normen einerseits aufzuheben erlauben, andererseits selbst in keinerlei Weise disponibel oder gar dispensabel sind. Hostilius’ Physikalismus kann Papinian jedoch erst entscheidend entkräften, als er selbst zu einer strukturgleichen Metapher greift – um zum genau gegenteiligen Ergebnis zu gelangen: Gebt Rmischer Rath-Herr! gebt nicht zarten Schmertzen nach! Ein steiler Felsen steht / ob schon die schnelle Bach Hell rauschend umb Jhn scheust. (ebd., S. 242, v. 149–151)
Papinian setzt hier gerade den gleichen Physikalismus ein, um im Gegenteil zu zeigen, dass widrigen Kräften nur ausreichend Festigkeit entgegenzusetzen ist. Der Physikalismus Bassians und Hostilius’ taugt nicht als Lieferant eines unzweideutigen Metaphernfundus. Unbesehen der Tatsache, dass Papinian sich dieser Semantik ohne Zweifel auch affirmativ bedient, um seinen Vater zu überzeugen, so bringt Gryphius hier allenthalben zur Geltung, dass sich rechtliche Handlungsfragen durch Sinnbilder nur persuasiv übersetzen, aber nicht argumentativ ersetzen lassen. Der Physikalismus ist als heterogener Bildspender nicht ausreichend different, um hinreichende Antworten auf Konfliktfragen von Sollen und Sein zu geben (5.3.1). Mit Emblematik ist kein Staat zu machen.316
5.3.5.2 Papinian zwischen lex aeterna, Innatismus und Naturchristentum Mit seinem Einwurf, dass das göttliche Recht „wie was nur ist / in seine Nacht vergehn“ würde (ebd., III,6, S. 214, v. 486), zielt Cleander vor allem darauf, aus der behaupteten Temporalität der göttlichen Gesetze ihre Varianz folgern und damit ihre praktische Unbefolgbarkeit zu erklären (5.3.4). Nicht das erste und einzige Mal im Trauerspiel kann dieser Einwurf eines Antagonisten nur zustande kommen,
316 Unbestritten wendet Gryphius häufig Allegorie und Allegorese – auch in ihrem Zusammenhang – an und macht sie zu einem der vorzüglichsten Mittel seiner Trauerspieldichtung. Dennoch zeigt Gryphius hier nichtsdestoweniger die Grenzen der Möglichkeiten auf, die Metaphorik, Allegorie, Emblematik etc. hinsichtlich systematischer Reflexion haben. Auch Lothar van Laak konstatiert zurecht eine „sich wandelnde Dynamik“ von „Gryphius’ Bildlichkeit“, ohne jedoch auch die notwendig zu folgernde Unzulänglichkeit der Bildersprache für Sachfragen zu folgern: Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit, S. 94–97.
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weil er Papinians Argumentation nicht angemessen gefolgt ist bzw. ihr aufgrund seiner polytheistischen Weltanschauung nicht angemessen folgen konnte. Was Cleander nämlich übergeht, ist, dass Papinian im vorausgehenden Vers nicht bloß vom göttlichen Recht, sondern von „[d]er Gtter ewig Recht“ spricht. Der Blick in die Geschichte der Rechtstheologie zeigt, dass damit im Unterschied zum ius divinum – das Gesetze im engen Sinne des Begriffs umfasst – ein ‚Gesetz‘ nochmals allgemeinerer Art angesprochen ist, nämlich die lex aeterna. Wie Thomas Marschler jüngst bemerkt, ist die lex aeterna schon seit der stoisch-ciceronianischen Tradition nur schwer unterscheidbar vom Weltplan überhaupt.317 Zum Einen gewinnt die lex aeterna damit seinen Ewigkeitscharakter; dies erhellt auch dadurch, dass in ihr der weite und der enge Gesetzesbegriff letztlich vereinbar werden. Damit wird auch der Unterschied von Naturgesetz und Naturrecht auf deren einen gemeinsamen Ursprung rückführbar.318 Physikalische und moralische Vorsehung (providentia physicalis, providentia moralis), wie sie schon Francisco Suárez begrifflich differenzierte,319 haben beide ihren Zweck in der Stabilisierung der Schöpfung und somit ist beider wesentliches Merkmal die Ewigkeit. Zum Anderen wird damit auch eine gewisse Teilhabe des Menschen an dieser lex aeterna in sowohl umfassend physischer als auch in bedingt moralischer Hinsicht mitgedacht: Dass gerade Letzteres wiederum enorme Probleme hinsichtlich der „Vereinbarkeit von Gottes ewigem Weltplan mit der Realität geschöpflicher Freiheit“ aufwirft,320 ist auch mit Blick auf die lex aeterna-Rezeption des Gryphius gar nicht zu bestreiten. Luther wird mit Blick auf den grundsätzlich unterprivilegierten Status des lumen naturae gegenüber dem lumen gloriae321 das Ableitungsverhältnis des Naturrechts aus dem ewigen Gesetz sogar bestreiten.322 Diese radikale Sicht wird jedoch auch im protestantischen Naturrecht keine langanhaltende Wirkung zeitigen. Schon der für Gryphius nach wie vor so wichtige Philipp Melanchthon führt mit der lex Dei wieder ein solches ewiges Gesetz ein. Er versucht bei diesem ‚Meta-Gesetz‘ den Gebotscharakter zu stärken,323 der hinsichtlich des menschlichen Freiheitsgeschehens notwendig wird. Der nach wie vor eingestandenen postlapsaren Depraviertheit des Menschen zum Trotz versucht Melanchthon vor allem, mit den ideae innatae
317 Marschler: Verbindungen zwischen Gesetzestraktat und Gotteslehre, S. 27. 318 Vgl. ebd., S. 30 319 Vgl. ebd., S. 34–37. 320 Ebd., S. 37. 321 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 212–215. 322 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 414. 323 Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 39f.; Strohm: Zugänge zum Naturrecht bei Melanchthon, S. 349 und 354.
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ein exzellentes Attribut unter den geschöpflichen Ausstattungen zu denken, das zumindest die kognitive Teilhabe des Menschen an den göttlichen Gesetzen plausbilisieren soll (4.2.2.1). Ebenso steht auch in Papinians Augen die Gewissensinstanz ein für den Ewigkeitscharakter des göttlichen Rechts. Auf Cleanders Behauptung seiner Vergänglichkeit hin erwidert der Rechtsgelehrte: „Es wird / wenn alles hin / in den Gewissen stehn“ (GdW 4, III,6, S. 214, v. 488). Die lex aeterna ist nicht Teil der vergänglichen Schöpfung, sondern Ausdruck Gottes. Damit wird sie über den jüngsten Tag hinaus bestehen, um schuldig gewordene Seelen zur Verantwortung zu ziehen und somit die Gültigkeit ihrer Normen zu gewährleisten. Mit seiner Idee einer nur unter bestimmten theologischen Bedingungen möglichen Konstanz göttlicher Gesetze sowie einer Endzeitlichkeit, an der sich deren Ewigkeit gerade erweist, einverleibt Gryphius seiner Titelfigur entscheidende christliche Rechtstheologeme. Mit Blick auf solche Überlegungen, ob Papinian damit schon als ‚natürlicher Christ‘ oder ‚Naturchrist‘ inszeniert würde,324 müssen Bedenken bleiben. Allein ist zu beachten, dass Papinian weiterhin in der Mehrzahl von „Gttern“ spricht. Ferner kann er die heterogenen Ansprüche des Themisrechts gegenüber dem Victoriarecht von Bassians Souveränität letztlich nur praktisch vermitteln: Papinian registriert den Rechtskonflikt eines strafwürdigen parricidium einerseits und eines verbotenen Widerstands gegen denjenigen andererseits, der diesen Familienmord begangen hat. Seine durchaus richtige Entscheidung, ersterem durch Widerstand Geltung zu verschaffen, zweiteres dadurch zu achten, dass er diesen Widerstand nur passiv realisiert, bleibt merkwürdig unbegründet. In der Tat kann Papinian schon diejenige rechtstheologische bzw. rechtsmetaphysische Begründungsleistung seiner hiesigen Behauptung nicht erbringen, wodurch das göttliche Recht seine Konsistenz und Konstanz gewinnt. Dies wäre eine erstens willentliche und zweitens widerspruchsfreie Setzung des transhumanen Rechts durch drittens einen allmächtigen Gott. Im Lichte dieser Szene leuchtet daher allererst ein, dass die Erwähnung der Christen in Papinians erstem Monolog alles andere als beiläufig geschieht: Dort macht Papinian zu deren Verteidigung gerade geltend, dass niemand ihre Lehre recht verstanden hätte, mithin „was ihr Verbrechen sey“ (ebd., I,1, S. 173, v. 85–97, hier v. 90). Dies ist keine emphatische Verteidigung, sondern ein formales in dubio pro reo. Papinian bleibt noch verborgen, dass gerade der Monotheismus der „Christen Lehr“ ihm diejenige allmächtige Verpflichtungsinstanz hätte liefern können, die er zur Begründung eines tatsächlichen universalen Rechts genauso benötigt wie zur theoretischen und praktischen Vermittlung seiner vordergründig konfli-
324 Vgl. Behrends: Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen, S. 245.
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gierenden Subnormen. Im Papinian werden die Mängel natürlicher Religion mehr hervorgehoben, als dass sie avancierte:325 Sie ist die anerkennenswerte, jedoch nicht hinreichende Vorstufe systematischer wie auch praktischer Theologie. Daran ändert auch Papinians unerwartete Anrufung eines Höchsten in IV,1 vorerst wenig. Der Blick auf die Ängste Plautias um das irdische Verderben, das Bassian der Familie bereiten wird, ebenso wie der Blick auf Papinians Erwiderung erleichtern die Einordnung Papinians zu einem natürlichen Christentum in der Tat nicht: [Plautia] Wird denn die Tugend nur durch solchen Blitz getroffen? Papinian. Getroffen / nicht versehrt! getroffen / nicht verletzt! Getroffen / nicht zermalmt ! deß Himmels schicken setzt Nicht schlaffen Seelen zu. Wer mutig zu bestehen Den heist deß Hchsten Schluß auff solchen Kampffplatz gehen. Wer hir bestndig steht, trotzt Fleisch und Fall und Zeit. Vermhlt noch in der Welt sich mit der Ewigkeit / Und hhnt den Acheron. […] (ebd., IV,4, S. 228, v. 228–235)
Papinians Rede vom „Hchsten“ ist zweifelsohne Moment eines, wenngleich nur tentativen, Monotheismus. Dazu kommt die Vorstellung, dass es der Beschluss eines höchsten Gottes ist, der Papinian zwischen den beiden konfligierenden Normen der Themis und der Victoria den Tod wählen lässt. Es findet zumindest eine Rückführung zweier Normen auf einen Willen, wenn auch keine Auflösung oder zumindest Erklärung ihres Widerspruchs statt. Wenn Papinian demgegenüber nur wenige Verse später wieder in der Mehrzahl von „Gttern“ spricht (ebd., v. 248), lässt sich dies als Polytheismus beschreiben, der einen höchsten Gott bzw. Göttervater kennt, der den Widrigkeiten des Lebens einen endzeitlichen Sinn gibt. Von einem zwar frei, aber laut Mal 3,6 eben planvoll wollenden höchsten Gott ist hier noch nicht die Rede. Dies legt schon die Beobachtung nahe, dass jene ‚höchste‘ Götterinstanz die Antinomie zweier Gesetze offensichtlich nur positivistisch, als „Schluß“ eben erklären lässt. Dies nimmt sich zunächst voluntaristisch aus, lässt jedoch nicht unter allen Umständen auf ein gleichermaßen subkutanes Luthertum schließen. Es darf nicht übersehen werden, dass der Voluntarismus eines Melanchthon – so sehr sich auch dieser letztendlich nur positivistisch denken lässt – seinen weitreichenden Systematisierungsanspruch nicht für unterkomplexe Willentlichkeitsverweise preisgibt. Von der Providenz dieses Göttervaters verspricht sich Papinian für seine constantia zwar einen Platz in der Ewigkeit. Sie löst jedoch mitnichten schon die Rechtskonflikte zu einer
325 Vgl. z.B. Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels, S. 79.
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systematischen Einheit auf. Der von Papinian vertretene Leib-Seele-Dualismus erlaubt über das juridische Dilemma sub specie aeternitatis hinwegzusehen, ohne es zu lösen.
5.3.5.3 Deus unus ex machina. Systematisierungsgewinn des Rechts in einer paedagogia in Christum Die entscheidende Wende hin zu einem in der Tat theologisch einheitlichen Rechtsdenken nimmt Papinian erst in IV,5. Dies geschieht zu eben dem Zeitpunkt, als Bassian nicht einmal mehr die Idee des Rechts im weitesten Sinne berücksichtigt. Bei seinem zweiten und letzten Versuch, Papinian zur Beschönigung seines Brudermords zu bewegen, setzt Bassian das Leben des Sohnes des Rechtsgelehrten als Preis ein. „Bedenckt der Vater denn nicht sein gelibtes Kind?“, lässt er den Boten Macrinus die Drohnung formulieren (ebd., IV,5, S. 231, v. 309). Bassian fixiert sich auf den Rechtsgegenstand, seine Herrschaft, zu deren Erhaltung er seine unmittelbare Bezugsperson Papinian in eine nurmehr tauschökonomisch gedachte Verpflichtung nehmen will. Bassian versucht den Konflikt mit Papinian als gleichermaßen privatrechtlichen aufzufassen und zu lösen, indem zwei Rechte kommutativ in Tausch stehen, aber einseitig zugeteilt werden sollen – in dieser widersinnigen Verbindung von vorgeblich wechselseitig-kommutativer und tatsächlich einseitig-distributiver ‚Gerechtigkeit‘ besteht im Grunde jede Erpressung. In einem solchen Tauschrecht jedoch ist der Rechtstausch Prinzip. Mit dieser Vorstellung kollidiert Papinians Fokussierung auf die Rechtsidee. Diese ist gegenüber ihrem besonderen Gegenstand immer das Allgemeine, womit Ansprüche Dritter in die Konfliktfrage einzubeziehen sind – anderer Rechtssubjekte und/oder einer höheren Instanz. So erhält die Rechtsidee einen von ihrem unmittelbaren Gegenstand unabhängigen Eigenwert, der gegenüber einer Rechtsökonomie immun und weitestgehend indisponibel ist: Der Gegenstand der Rechtsidee ist die Gerechtigkeit. Das ‚corpus delicti‘ bzw. der Fall Papinian ist demgegenüber nur Anwendung. Weil sich der Streit um Getas Ermordung und dessen Beschönigung eben nicht als private Angelegenheit regeln lässt, sondern notwendig unter das ius publicum fällt, sind mit dem Recht keine Geschäfte zu machen. Wie tief Gryphius den Antagonisten Bassian mit dessen Ansinnen sinken lässt, verdeutlicht schon ein nur grober Blick in Julius Ebbinghaus’ großangelegten historischen Abriss Die Idee des Rechts:326 So deutlich die teils tiefen Differenzen zwischen den Denkern von Platon bis Hobbes dort auch zurecht gezeichnet werden, so wenig lässt sich Bassian dennoch irgendeinem von ihnen zuordnen,
326 Ebbinghaus: Die Idee des Rechts.
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weil er Recht nicht einmal mehr als Idee begreift. Dass Bassian dies mehr aus strategischen Erwägungen tut, ist ebenso wenig zu bestreiten wie das hierdurch diffamierte machiavellische Moment der Instrumentalisierung von Recht. Gryphius diffamiert den Prudentismus als einen Pragmatismus, der sich auf dem Wege des Rechtstauschs zu realisieren versucht, und inszeniert damit nicht nur Immoralität, sondern auch den denkgeschichtlichen Rückfall als Bedingung des Machiavellismus. Diese Szene IV,5 ist schließlich bemerkenswert, weil dem Rückfall Bassians, seiner weitgreifenden Desystematisierung des Rechts, auf der Seite Papinians ein weitgreifender Systematisierungsgewinn des Rechts korrespondiert. Jetzt nämlich beruft sich Papinian auf einen Gott, der sowohl Quelle als auch Garant eines universalen Rechts ist: […] Umb daß ich nicht verletze Das allgemeine Recht das der die grosse Welt Hat in Jhr Wesen bracht und in dem Stand erhlt / Nicht jrgend auß Papir / auff stetes Ertz getriben / Nein / sondern das er hat der Seelen eingeschriben / Verlir Jch hchst erfreut mein Amt-Recht / nemt es hin. Schtzt jhr diß vor Verlust? Ich halt es vor Gewin. (ebd., S. 232, v. 336–342)
Hier wird endlich eine auch rechtstheologisch versicherte Einheitlichkeit des Universalrechts konzipiert, die ihren Grund und ihre Ursache im Gott des monotheistischen Glaubens hat. Die Einheitlichkeit verdankt ihre wesensnotwendige Invarianz dessen Instandhaltungsleistung und weiß ihre verbreitete Kenntnis in dessen Innationsakt begründet. Hat man es also bei Papinian weniger mit einem Naturchristen zu tun, so ist durch das Trauerspiel hinweg vielmehr ein Prozess natürlicher Christianisierung zu beobachten. Dank derer kann Papinian die vormals noch heteronomen Geltungsansprüche divergierender göttlicher Rechte in Kürze unter dem Dach eines alles bedingenden Gottes systematisieren, „der die grosse Welt / Hat in Jhr Wesen bracht“. Mag man noch die Rede von der Christianisierung scheuen, so ist in IV,5 zumindest eine Paulinisierung zu beobachten: Gehalt und Allgemeingültigkeit sollen mithilfe der Innationsthese des Rechts („das er hat der Seelen eingeschriben“) auch dem Heiden bekannt sein – so schließlich auch der Paulusbrief Röm 2.327
327 Röm 2,13–15.
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Es ist schon von Clemens Bauer zu Recht bemerkt worden, dass Melanchthon seit 1546 den nach seinen Begriffen ethisch-naturrechtlichen Gehalt des römischen Rechts verfolgte: In besonderer Weise sieht Melanchthon allerdings im Römischen Recht die principia der lex naturae verwirklicht und diese Beobachtung hebt für ihn die Römische Rechtswissenschaft auf dieselbe Ebene wie die Philosophie, als eine wirkliche paedagogia in Christum.328
In diesem seinen „Bemühen um den Aufweis von Normen der lex naturae im konkreten Recht heidnischer und von der Offenbarung nicht berührter Völker“329 geht es dem Reformator natürlich um einen empirischen Beleg von der Richtigkeit seiner Innatismus-Theorie. Nicht zuletzt aber weil die eingeborenen Normen des Dekalogs auch das erste Gebot von der Verehrung Gottes umfassen, gegenüber welchem alle übrigen principia practica in einem reinen Ableitungsverhältnis stehen (4.2.2.1), ist Papinians nachhaltige Anrufung mehrerer Götter nicht ohne Weiteres vom Tisch zu fegen. „DV sollt kein andere Götter neben mir haben“330 ist der höchste Imperativ der zwei Tafeln, von dessen Geltung die übrigen neun Gebote verpflichtungstheoretisch leben. Es ist nochmals zu erinnern, dass dies schon Melanchthon selbst Probleme für einen stichhaltigen Innatismus bereitet (4.2.2.2, 4.2.2.3): Seine offenbarungstheologische Berufung auf Mal 3,6 löst nur das verpflichtungstheoretische Problem – die innatistische Basis gibt sie hingegen preis (4.4.4). Ohne an dieser Stelle weitgreifende theologische Thesen zu bilden, kann in Melanchthons Konzept einer paedagogia in Christum331 bereits ein Bewusstsein für die Innatismusproblematik gesehen werden: Der grundsätzliche Verlaufscharakter einer Hinführung von ‚Kindern‘ zu Christus impliziert einerseits die Auffassung vom ‚richtigen Weg‘, auf dem sich ein vernunftbegabter Heide wie Papinian hin zu Christus befindet; andererseits beinhaltet es die Feststellung, dass er dieses Ziel (bei weitem) noch nicht erreicht hat. Wie zu sehen war, vertritt schließlich Johann Heinrich Boecler entschieden die Auffassung, dass erst das geoffenbarte Wissen vom Dekalog das Naturrecht eigentlich begreifen lässt (4.2.4.2). Wie weit hilft dies bei der Deutung bzw. Einordnung des gryphschen Papinian? Es kann in jedem Fall Gryphius’ gewissenhafte Verwendung rechtstheoretischer Terminologie festgehalten werden. Sie lässt durchaus zeigen, dass Gryphius seinen Papinian höchstens den richtigen und fortgeschrittenen Weg in der paedagogia in Christum einschlagen sieht, ihn aber kaum als Naturchristen
328 Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, S. 76f. 329 Ebd., S. 76. [Hervorhebung O.B.]. 330 2 Mose 20,3. 331 So schließlich Bauer: Melanchthons Naturrechtslehre, S. 77.
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begreift. Jener zwar noch nicht tatkräftige, aber rechtstheoretisch zur Geltung kommende eine Gott wird Papinian erlauben, seine noch folgenden Diskussionen, vor allem mit den „Lgern“, in einer dem zeitgenössischen Leser eingängigen Weise zu begründen. Papinian zeigt, wie weit der Innatismus für Gryphius allemal schon trägt. Die Fragen, die Gryphius 1663 noch zur Stärkung des Schriftprinzips in Carolus Stuardus treiben werden (5.4.7), stellen sich jedoch bereits in Papinian IV,5: Das allgemeine Recht ist Papinians Aussage nach „der Seelen eingeschrieben“. Das Wissen um seine exklusive Allgemeinheit jedoch ist genauso ein geoffenbartes Wissen wie das Wissen um den einen Gott. Indem Papinian das Fundament seiner richtigen Rechtsthesen zunächst nicht erkennt, arbeitet sein Autor Gryphius nicht nur ideenhistorisch korrekt, sondern bezieht auch systematisch Position: Die Vorstellung eines transhumanen Rechts bedarf einer monotheistischen und gleichzeitig guten Stiftungs- und Obligationsinstanz. Nur dann ist dieses Recht letztbegründbar und bleibt nicht kontingent wie bei Papinian. Der „großmttige Rechtsgelehrte“ des frühen dritten nachchristlichen Jahrhunderts ist eben noch kein Christ und schon gar kein Melanchthon. Gryphius wird die Bedeutung von Tatsache und Kenntnis des allmächtigen Gottes für die Rechtsgeltung im Carolus Stuardus 1663 voll zur Geltung bringen. Wie stark ist im Papinian noch die Überzeugung, dass das Wissen um die eingeborenen Gesetze Gottes auch deren monotheistischen Charakter einleuchten lässt, dass also Inhalt und Gültigkeit des ersten Gebotes selbst innatistisch besorgt werden können? Wie bereits zu sehen war, kann auch Melanchthons Innatismus ebenso wenig wie Francisco Suárez’ lex aeterna-Konzept vermeiden, dass „für eine Erfassung der providentia moralis in ihrem ganzen Umfang die philosophische Erkenntnis allein unzureichend ist“.332 Für Suárez hatte dieser Makel autonomer Erkenntnis seinen Grund darin, dass „viele moralische Weisungen Gottes Teil der positiven Offenbarung sind und folglich nur in Verbindung mit ihr erkannt werden können“.333 Für Suárez erreicht die lex aeterna ebenso wie die leges naturales den Menschen zum Teil nur über das exklusive Offenbarungszeugnis. Für Melanchthons Fall wurde gezeigt, dass in Gottes Versprechen der Widerspruchsfreiheit (Mal 3,6) eine offenbarungstheologische Erkenntnisbedingung von der Invarianz aller eigentlich eingeborenen natürlichen Gesetze existiert. Dabei wurde sowohl zu zeigen versucht, dass dieses Fundament bei Melanchthon mit Blick auf das Voluntarismusproblem systematisch notwendig ist, als auch, dass dieses Fundament notwendig im äußeren Zeugnis der Schrift geoffenbart sein muss (4.2.2.2, 4.2.2.3, 4.4.4.1). Wie Melanchthon hundert Jahre vor ihm wird auch Gryphius 1659
332 Marschler: Verbindungen zwischen Gesetzestraktat und Gotteslehre, S. 37. 333 Ebd.
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den notwendigen Makel einer offenbarungslosen Rechtslehre in einem offenbarungstheologischen Denken auch im Papinian nicht kaschieren können: Das Erkenntnisorgan der eingeborenen göttlichen Gesetze, das Gewissen, ist schon im Papinian nicht mehr notwendig funktionstüchtig.
5.3.5.4 Die Wirkmacht der Gewissensinstanz: Zur göttlichen Strafe im Papinian Nicht nur die widerrechtlichen Handlungen des Bassian und die widerrechtlichen Absichten Laetus’, Julias und der Hauptleute zeigen, dass die Teilhabe des Menschen an der lex aeterna schon insofern eingeschränkt sein muss, als sie sich nicht an die leges divinae halten, die sich aus dem ewigen Gesetz herleiten. Gryphius wird auch im Papinian Feststellungen zur Funktionstüchtigkeit des Gewissens treffen, die diese Teilhabe auch kognitiv in Frage stellen: Die Inkorruptibilität der conscientia durch den Menschen war einst als ihr eminenter Vorzug konzipiert worden. Bei aller Hoffnung, die Papinian und offensichtlich auch noch der Autor Gryphius in die conscientia setzen, weißt sie diese Eigenschaft sichtlich nicht mehr notwendig auf. Es kann mithin nicht als Zufall gelten, dass Gryphius im Reyen der dritten Abhandlung eine deklamatorische und mit dem Anspruch der Umfassendheit antretende Erörterung der göttlichen Strafen geben lässt. Sie berücksichtigt Gestalt, Eintreten und Ort der Strafen Gottes und mitunter auch die Problematik eines allein nicht mehr ausreichenden Gewissens. Die conscientia wird zwar nicht verabschiedet, aber im Wissen um ihren Geltungsverlust als anthropologischer Konstante wird sie von derjenigen großen Aufgabe entlastet, die sie in Catharina von Georgien noch erfüllte, nämlich die göttliche Strafe im Diesseits weitgehend alleine zu besorgen. Hierbei setzt der Reyen an derjenigen Frage an, die auch schon Melanchthons Beschäftigung mit der Theodizee als gleichermaßen rechtsepistemologischem Problem angeleitet hatte. Er thematisiert die Zweifel, die ein augenscheinliches Ausbleiben göttlicher Strafe an der Gültigkeit des göttlichen Rechts aufkommen lässt (4.2.2.2, 4.4.4.1): „Verjrr’te Seelen sprecht! sprecht mehr daß freche Snden / Nicht Straff’ und Richter finden“ (GdW 4, III,8, S. 219, v. 647f).334
334 Zum direkten Vergleich siehe nochmals Melanchthon, CR XXII, Sp. 67: „Weiter bleiben auch die selbigen Weisen nicht bey dem natürlichen verstand, fallen in zweiffel, die weil sie diese vngleicheit sehen, Das öffentliche Gottes verechter vnd Tyrannen, die vielen menschen vnrecht thuen, reichthumb vnd ein frölich Leben haben, Dagegen aber tugentliche Leute in elend vnd kumer leben, werden vnschüldiglich von den Tyrannen getödtet“; ders., CR XXI, Sp. 713: „Quia enim poenae differuntur, et bonis male est, et malis bene, ambigit ratio de providentia, hoc est, de ipsa prima Lege, An Deus benefaciat bonis et puniat malos.“
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Ähnlich Melanchthon wird an der Gewissheit der göttlichen Strafe festgehalten, jedoch weniger, indem ihr Eintreten bewiesen wird. Vielmehr wird umgekehrt auf den Fehlschluss Vieler hingewiesen, dass die göttliche Strafe prompt eintreten müsse (andernfalls gölte sie als gleichsam widerlegt): Ob gleich die Themis nicht Stracks Hals und Haubt abspricht / Wenn der verlockte Geist Durch alle Schranken reist / Und mit getrotztem Mut die Gtter scheint zu pochen / Die ernste Rach’ erblickt Und martret und zerstckt Ein Haubt das Frevel-voll und sonder Frucht verbrochen. (ebd., v. 629–636)
Hinzu kommt die Argumentationsfigur, dass mit der Schwere der Schuld sich auch das Eintreten der göttlichen Strafe verzögert. Besonders nämlich im Falle staatstragender Kapitalverbrechen wie dem Mord an Geta folgt die Strafe nicht auf den Fuß: Wahr ists! der schnelle Blitz bricht stracks nicht durch die Lffte / Wenn man mit Mord und Giffte Nach Cron und Zepter ringt (ebd., v. 657–659)
Der Gewissensinstanz kommt im Rahmen dieses Strafdenkens nurmehr die Funktion einer vorläufigen Strafe zu: Je schwerer die Schuld, desto länger muss die Strafe im forum externum vorbereitet sein. Im Gewissen jedoch kann bereits zeitnah nach der Tat „gefoltert und gerissen“ werden. Gryphius betont den zeitlichen Kompensationscharakter der so eingesetzten Gewissensqual: Indessen wird der Mensch der durch die Schuld beschwertzt Durch sein erhitzt Gewissen / Gefoltert und gerissen Wie munter sein Gesicht / wie hoch er auch behertzt. (ebd., S. 220, v. 667–670; Hervorhebung im Text)
Die conscientia foltert pausenlos: Das belastete Gewissen treibt den Menschen zur Angst vor dem Tag („bildet stets jhm ein / Die nchste Morgen-Rt’ erfoder Jhn zur Pein“). Genauso aber lässt es ihm in der Nacht keine Ruhe, nämlich in Form von „schweren Trumen“. Das Gewissen hat noch immer eine Doppelfunktion inne, denn einmal ist es selbst Strafe, ‚foltert und reißt‘. Ein andermal kündigt es dem Delinquenten die allererst physischen Strafen bildgewaltig an und „mahlt Jhm Rder vor / und Zang und Glut und Pfal / Und grause Werckzeug herber Qual“ (ebd., v. 677f.). Die Vorläufigkeit dieser Strafart wird alsbald wieder betont, wenn auf die Härte der endzeitlichen Strafe verwiesen wird. An dieser
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Stelle inszeniert Gryphius den Reyen auch als Wettbewerb um die Wirkmacht göttlicher Strafmittel, wenn die Gewissensqual als die nicht eigentliche Strafe abgetan wird: Bestrtzte! diß sind Trum’: Ob euch jtzt Dornen stechen! Es wird ein Licht anbrechen / An dem ein glanzend Schwerdt / Ein glend eisern Pferd/ Und Pech / und Bley und Hohn / Als lngst verdienter Lohn; Euch auff dem Schaw-Gerst soll aller Welt darstellen. (ebd., v. 679–685)
Ergänzt wird diese Aufzählung weiter durch den Hinweis auf die bisweilen doch ‚kürzerfristige‘ Strafung auch im irdischen forum externum: „Doch pflegt das Wetter offt in frische That zu schlagen“ (ebd., v. 689). Damit spricht der Reyen allerdings weniger aktive Strafhandlungen Gottes an als vielmehr die geradezu unausweichlichen pragmatischen Schwierigkeiten, die sich Hinterlist selber bereitet: Wer andern Netzt auffstellt Verwirr’t sich und verfllt Offt in die selbte Klufft / die er hiß frembden graben. (ebd., S. 220f., v. 693–695)
In Ansätzen tritt hier wieder der Gedanke zutage, dass illegitimes Handeln sich notwendiger Weise auch gegen den Handelnden selbst richtet (5.3.4.2). Die besondere Machiavelli-Polemik dieser Verse ist daher nicht zu übersehen: Eine von jeglicher Norm absehende Listklugheit muss gerade darum scheitern, weil sie die eigenen gesponnenen Intrigen selber nicht mehr zu durchschauen vermag. Wie bereits häufig festgestellt wurde, wird damit auf den Schaden vorausverwiesen, den Bassian sich und seiner Herrschaft zufügt, indem er seinen fähigsten Berater Papinian hinrichten lässt. Mit der Überlegung des Vaters Hostilius, dass Papinians Tod Schaden für das Gemeinwohl bedeute (5.3.6.4), konkurriert die hiesige Deutung des Reyens mit der Behauptung, Bassian schade sich vor allem selbst. Bei dieser Bankrott-Erklärung des säkularen Prudentismus lässt es der Reyen jedoch nicht bewenden. Abschließend kommt die jenseitige Höllenqual zu Sprache, wobei die Strophe die menschliche Sorge um ein augenscheinliches Ausbleiben göttlicher Strafe wieder aufnimmt: Gesetzt auch daß allhir (wo es zu glauben steht) Wer schuldig ernster Straff entrinne / Und lange Jahr in Ruh gewinne / Und herrsche wenn das fro und heilig gantz vergeht! So lehrt uns dessen Glck das noch vil grsser Pein Wo Minos Urtel spricht vor jhn mß brig seyn.
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[…] Die hir das Recht erwischt die strafft es kurtze Zeit; Dort qult die ewig’ Ewigkeit. (ebd., S. 221, v. 699–704, 709f.)
Im Unterschied zur nicht mehr garantierten Gewissensqual und im Unterschied zum eigenen Schaden der Listklugheit ist die Höllenstrafe ihrer Möglichkeit nach also exklusiv und umfassend. Indem der Reyen mit dem Pleonasmus von der „ewig’ Ewigkeit“ endet, betont er allerdings nicht allein den Vorteil der Höllengegenüber der diesseitigen Strafe. Vielmehr ist erst die ewige Strafe dem Gegenstand eines aus der lex aeterna deduzierten Rechts (5.3.5.2) angemessen. Wenn Melanchthon jeden Naturrechtsbruch als mittelbaren Verstoß gegen das erste Gebot auslegt, impliziert eine Verletzung göttlichen Rechts immer auch ein Vergehen am Status Gottes als des allmächtigen, gerechten und ewigen Gottes, das nur in demselben Maße gesühnt werden kann – nämlich ewig. Aufmerken lässt die abermals von Augustinus und Melanchthon herkommende Denkfigur, dass das Ausbleiben einer irdischen Strafe wider einen ungerechten Menschen nicht etwa Widerlegung einer höheren Rechtswirklichkeit sei, sondern umgekehrt den Beweis der Existenz einer Hölle darstelle („so lehrt uns dessen Glck“).335 Dieser Schluss funktioniert ersichtlich nur, indem die Gerechtigkeit Gottes nur genauso als gesicherte Prämisse angenommen wird wie das faktische Ausbleiben irdischer Strafen gegen Unrechtstäter: Gilt nämlich das Axiom, dass Gott die concordia juris stets stabilisiert und damit im Tatfall eine weitgehend äquivalente Vergeltungs- bzw. Kompensationsleistung erbringt (Obersatz); gilt aber genauso der Erfahrungssatz, dass insbesondere mächtige Menschen im Tatfall oftmals keine diesseitige Strafe beziehen (Untersatz), so gilt die doppelte Konklusion, dass diese Strafe im Jenseits vollzogen wird, genauso wie, dass dieses Jenseits existiert (4.4.4.3). Mit Blick auf das Bisherige ist diese starke erste Prämisse keineswegs selbstverständlich. Sie ist es erstens nicht, weil eine concordia allen Rechts unter heterogenen Götterinstanzen Themis und Victoria nicht ohne Weiteres anzunehmen war. Sie ist es zweitens nicht, weil sie auf die empirischen Zweifel an ihrem Statthaben nurmehr mit axiologischer Setzung zu antworten weiß. Statt einer Erleichterung der Zweifelnden wird also umgekehrt der Druck auf den Glauben in eine Institution erhöht, deren Beschlüsse sub lumen naturae unmöglich antizipiert werden können. Dieser sich aus der Ungewissheit der genauen Strafgestalt und -zeit ergebende Glaubensdruck wird hier nicht nur als bloßes notwendiges Übel, sondern auch als Pflicht formuliert („wo es zu glauben steht“). Damit verweist dieser zweite
335 Frank: Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons, S. 292f., 300.
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Abgesang auf den Anfang des Reyens zurück. Die in Evidenzmangel bestehenden philosophischen Gründe des Zweifels an Gottes Straftätigkeit werden im Terminus des glaubens zwar implizit bestätigt. Ein Beharren auf diesem Zweifel, der sich in eine ernsthafte Infragestellung der göttlichen Güte versteigen könnte, ist theologisch rundheraus abzulehnen. Die göttliche Gerechtigkeit ist eine jener Glaubensgewissheiten, die unter philosophischen Kriterien des Wissens aus Ursachen nicht zu bekommen ist. Mit dem Pflichtcharakter des Gottvertrauens und des Vertrauens in seine Gerechtigkeit ist abermals melanchthonisches Gedankengut erinnert. Der Wittenberger hatte in ähnlicher Weise eine zu beharrliche, wenn auch von ihm mitgeführte Diskussion um die Beweisbarkeit der göttlichen Gerechtigkeit letztlich mit dem Hinweis auf ihre eigene Unbotmäßigkeit beendet: Zweifel an Gottes Gerechtigkeit war ihm eine Sünde ersten Grades (!) wider das erste Gebot. Sie ist von keiner anderen Sünde zu übertreffen und damit der Gottesleugnung, dem Atheismus gleichbedeutend (4.4.4.1).336 Das Trauerspiel bringt dennoch nur eine Art der Bestrafung zur Darstellung: die Gewissensqual. Im Falle des ersten Reyens (I,5) sah sich der Leser noch mit einer vergleichsweise unterprivilegierten Informationsvergabe und einem geringen Interpretationsangebot konfrontiert (5.3.5.1). Der Reyen der Hofleute (III,8) kann dagegen schon mit dem eben behandelten instruktiven Umriss göttlicher Strafmittel aufbieten. Mit dem „Reyen der Rasereyen und deß Geists Severi“ (IV,7) erlangen Leser und Zuschauer schließlich eine exklusive Introspektion in Bassians conscientia. In einem dramaturgischen Inside-Out lässt Gryphius die Erinyen Alecto, Tisiphone und Megaira um den schlafenden Bassian herum die Waffen seiner Strafe schmieden. Auch hier ist die Gewissensqual ebenso schon selbst Strafakt wie auch Ankündigung der noch zu erwartenden ‚Hauptstrafe‘. Die nunmehr als bloße Subgöttinnen gezeichneten Rachefurien beschwören die Strafe der eigentlichen Gottesinstanz, die sie selbst in Ansätzen ausüben: „Es schlage Gottes Zorn auff sein verdates Haubt“ (GdW 4, IV,7, S. 236, v. 461). Höhepunkt dieses Albtraums bildet Kaiser Severus, der Bassian nicht nur als Sohn verstößt, sondern ihn in gleicher Weise erstechen will, wie es Bassian an Geta verübt hatte. Sobald Bassian Papinian schließlich hat hinrichten lassen (V,3), schlägt sein vorgeschobenes Überlegenheitsdenken umgehend in „ein rasend toll Gewissen“ um:
336 CR XXII, Sp. 208: „Der erste Grad der sünden wider das erste Gebot, ist tichten oder sagen, Es sey kein Gott, oder Gott sey nicht ein gerechter Richter, achte der Menschen nicht. […] diese unsinnigkeit ist wider die vernunfft vnd wird in Epicuro vnd dergleichen durch der Teuffel angeblasen gesterckt.“
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Wir wird uns! ist er fort? Ligt nicht die Leich allhir? Wir jrren! Geta seuffzt und winselt fr und fr. Ach Vater! ach Sever! ach Bruder! ach wer springet Mit Fackeln umb uns umb? Wer stßt uns! ach wer schwinget Das von Blutt rothe Schwerdt? Wie? Bricht der Grund entzwey? Wer blst das Streit-Horn! ach! wir spren was es sey; Wir wir durch Beil und Stahl zu wtten geflissen So wttet in uns selbst ein rasend toll Gewissen. (ebd., V,7, S. 248f., v. 357–364)
Es ist von nicht geringer Bedeutung, dass Papinian von diesen beiden Strafhandlungen keine Kenntnis besitzt. Im Gegenteil ist Papinians eigenes Vertrauen in die conscientia von Beginn an geschwächt (I,2). Ihre mangelhafte Funktionstüchtigkeit ist dem Rechtsgelehrten gerade Ursache vieler politischer Unrechtstaten: […] Deß strengen Himmels Gabe Ist diß was in uns wacht / das jhr Gewissen heist; Das uns von innen warnt / und nagt / und reitzt / und beist. Wenn dieses schon zu schwach die Menschen zu gewinnen; Wird man mit Reden nicht die Geister brechen knnen. (ebd., I,2, S. 177, v. 224–228)
Es ist sichtlich nicht allein die geschwächte Präventivwirkung des Gewissens („Das uns von innen warnt“), die Papinian Sorge bereitet: Auch die angebliche Erfahrung seiner Strafwirkung („nagt / und reitzt / und beist“), vermag offensichtlich nicht, die Menschen aus Schaden klug werden zu lassen. Papinians Überzeugung von der Rechtswirklichkeit göttlicher Gesetze (5.3.5.7) stützt sich gerade nicht auf das Faktenwissen von Bassians Gewissensqual. Wie jedoch der Reyen der Hofleute (III,8) schon gezeigt hat, ist Papinians Misstrauen in die Funktionstüchtigkeit der Gewissensinstanz ebenso wenig voreilig, wie sein trotzdem nachhaltiges Glauben an die Strafbewehrtheit göttlichen Rechts blauäugig ist: In diesem Reyen besorgte Gryphius schließlich nichts anderes als den Nachweis von der Partialität der Gewissensstrafe und ihrer Kompensation durch andere Instrumente, Sphären und Zeitpunkte der Strafe.
5.3.5.5 Ästhetik der Macht? Macht des Rechts! Papinians Verweigerung einer Haltung des virtuosen Gelehrten Schon Bassians erster Auftritt nach dem Mord an Geta setzt sein Schuldbewusstsein, aber auch seine Bedenken hinsichtlich der möglichen fatalen Folgen seiner Tat ins Bild. Der Zorn des Augenblicks ist verflogen, an seine Stelle treten Bestürzung, aber ebenso schon erste strategische Perspektiven auf die Situation: Ach Bruder! Ach Sever! Ach Mutter! Ach geschehn! Soll denn das grosse Rom den andern Nero sehn!
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Wer sind wir und wohin ist unser Ruhm verschwunden! Verschwunden! Ach! Er starb durch unsers Bruders Wundē! Verbracht und nie bedacht! und zwar durch unser Hand Den Bruder-Mord verbt! was wird das ferne Land / Wie wird das weite Reich die Unthat berlegen! Was frembde Vlcker wird nicht dieser Schlag bewegen? Gesetzt daß Geta sich zu etwas htt erkhnt; Ja daß er Lebens-Straff und Untergang verdint / Muß sein verwandtes Blut denn diese Faust beflecken? (ebd., III,1, S. 200, v. 1–11)
Auch hier ist genau zu differenzieren, in welcher Hinsicht Schuld und inwiefern die Folgen der Tat erwogen werden. Bassian spricht von seiner Tat unmittelbar nur als Bruder-Mord. Über den politischen Charakter spricht er nicht. Hiermit dürfen diejenigen Überlegungen Bassians nicht verwechselt werden, welche die Wirkung des Mordes auf „das grosse Rom“, „das weite Reich“, „das ferne Land“ und „frembde Vlcker“ betreffen. Diese Überlegungen betreffen realpolitische Konsequenzen, die von Rechtmäßigkeitsfragen zunächst unabhängig sind. Die vordergründig kurzfristige Indifferenz von Rechtmäßigkeit und politischer Wirkung weiß Bassian schließlich selbst zu bezeichnen: Denn selbst „[g]esetzt daß Geta sich zu etwas htt erkhnt“, wäre die als Notwehrakt durchaus legitime Tötung des Bruders besser nicht eigenhändig vollzogen worden („Muß sein verwandtes Blut denn diese Faust beflecken?“). Wie gezeigt, gibt die souveränitätstheoretische Perspektive gar keinen Aufschluss über die Rechtmäßigkeit zwischen zwei Biarchen. Unabhängig von politischen Statusfragen trägt Bassian aus Sicht des naturrechtlichen Tötungsverbots enorme Schuld. Diese wirft in der vermehrt eigengesetzlichen Ästhetik des Politischen allemal ihren Schatten auf ihn, und zwar als Bruder und Kaiser: Untertanen und Außenstehende wissen um die Biarchie-Problematik a fortiori nur noch schlechter Bescheid als er selbst. Ihre politische Wahrnehmung (αἴσθησις) vermengt Brudertum und Herrschaftsteilung politisch wieder, wo die Theorie des Politischen sie doch gründlich unterschieden hatte.337 Dies hätte Bassian früher in sein Handlungskalkül einbeziehen müssen. Umso mehr verlegt er sich nunmehr auf das ruhmesethische Moment, wenn er Papinian um die rhetorische Rechtfertigung vor dem Militär bittet. Sein Legitimationsmangel verleitet Bassian genauso wie den burckhardtschen Renaissancetyrannen dazu, auf die Virtuosität des Gelehrten zu setzen, um diesen Mangel zu
337 Vgl. Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen, S. 12f und S. 19: „Was als politisch bedeutsam verstanden wird, war und ist bis heute immer zugleich eine Frage der Darstellungspraxis.“
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kompensieren. Sieht man von Jacob Burckhardts teilweise fasziniertem Blick auf dieses Phänomen ab, so ist gar nicht zu widersprechen, dass Gryphius in der nunmehr gefassten Absicht Bassians jenes Projekt des „Staates als Kunstwerk“ inszeniert, das Burckhardt sich in der rinascimentalen Signoralkultur realisieren sieht.338 Gryphius bringt gegen dieses Projekt seinen Protagonisten in Stellung: Papinian verweigert sich einer Symbiose von illegitimem Herrschaftsanspruch und kreativem Gelehrtentum, einer „Ästhetik der Macht“.339 Gryphius nimmt damit an einem Diskurs teil, der zu seiner Zeit in Deutschland schon über fünfzig Jahre anhält als auch noch nicht hinreichend beschlossen scheint: Denn es „setzt bereits kurz nach der Jahrhundertwende geradezu sturzflutartig und in einer Art von Nachholbedürfnis eine ‚Welle‘ politischen Schrifttums ein, das sich sowohl an den Herrscher als auch an die regimentale Elite, verkörpert in der Figur des ‚consiliarius‘ wendet“.340 Für Gryphius scheint diese Sturzflut der prudentia civilis allemal auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Herrscher und regimentaler Elite noch die Antwort schuldig zu bleiben, und auch innerhalb seiner politischen Trauerspieldichtung ist dieses Projekt noch nicht abgeschlossen. Die Szene III,6 setzt sogleich mit der Feststellung von Papinians Weigerung ein: „So schlgt Papinian deß Kysers bitten auß?“ (GdW 4, III,6, S. 212, v. 415). Indem der Dialog nun direkt in die Begründung dieser Haltung einsteigt, signalisiert er ihren zentralen Status: Hier wird Papinians gesamtes Rechtsdenken und dessen Folgen für die politische Praxis offengelegt. Dass allein dieses gilt, nämlich die Dependenz der Pragmatik von Recht und Moral, leitet den Dialog um die Begründung ein: Cleand. Was kan man weiter thun bey schon verbten Sachen? Papin. Verbte Greuel nicht zu Recht und Tugend machen. (ebd., v. 417f.)
338 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Frankfurt am Main 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker 38), S. 11–136, vgl. hierzu besonders S. 25: „Die Persönlichkeit der Fürsten wird eine so durchgebildete, eine oft so hochbedeutende, für ihre Lage und Aufgabe so charakteristische, daß das sittliche Urteil schwer zu einem Rechte kömmt. Grund und Boden der Herrschaft sind und bleiben illegitim und ein Fluch haftet daran und will nicht davon weichen. Kaiserliche Gutheißungen und Belehnungen ändern dies nicht, weil das Volk keine Notiz davon nimmt, wenn seine Herrscher sich irgendwo in fernen Landen oder von einem durchreisenden Fremden ein Stück Pergament gekauft haben. Wären die Kaiser zu etwas nütze gewesen, so hätten sie die Gewaltherrn gar nicht emporkommen lassen – so lautete die Logik des unwissenden Menschenverstandes.“ 339 So Dirk Hoeges: Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein. München 2000, S. 9f, S. 183–193; vgl. Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 35f. 340 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 224.
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Dieses Verspaar ist auch philosophie- und ideengeschichtlich von großer Bedeutung, verdeutlicht es doch, dass das Problem von Bestimmung und Verhältnis theoretischer und praktischer Vernunft bereits im siebzehnten Jahrhundert präsent war (5.3.1), obgleich sie erst Immanuel Kant in Begriffe fassen wird: In seiner Unterscheidung von moralisch-praktischen und technisch-praktischen Normen wird Kant in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft letztere als der theoretischen Vernunft zugehörig entlarven, insofern sie „dem Innhalte nach blos die Möglichkeit eines vorgestellten Objects (durch willkührliche Handlung) betreffen“.341 Indem sie nur die praktische Realisierung einer aus der natürlichen Beschaffenheit der Dinge gefolgerten Möglichkeit betreffen, unterscheiden sich diese Normen nicht von der theoretischen Vernunft, sondern gehören ihr an. Dass sie einen Vorrang innerhalb der praktischen Vernunft besäßen, ist für Kant daher schon deshalb widersinnig, weil sie dieser gar nicht zugehören: Mit dieser Kritik nimmt Kant auch die „Staatsklugheit“ ins Visier.342 Papinians Unbehagen über Cleanders Frage danach, was man unter bestimmten Umständen tun kann (hier: „bey schon verbten Sachen“), gründet in ähnlicher Weise darin, dass Cleander nicht fragt, was man tun muss. Natürlich wird Papinian Cleander noch keinen kantschen Begriff von praktischer Vernunft entgegensetzen, die nur diejenigen praktischen Sätze enthält, „welche der Freyheit das Gesetz geben“.343 In seiner Entgegnung, dass man einmal „verbte Greuel nicht zu Recht und Tugend machen“ dürfe, artikuliert sich jedoch allemal das Bewusstsein, dass Machbarkeitsaspekte mit Fragen ihres Gesolltseins weder identisch sind noch ihnen systematisch vorausgehen. Eine „Notwendigkeit der ‚Akkomodation‘ an die bestehenden Machtverhältnisse ohne Rücksicht auf die Integrität des moralischen Gewissens“,344 wie sie z.B. der Machiavelli- und Botero-Herausgeber Justus Reifenberg (?–1631) perhorresziert,345 kann insofern gar nicht bestehen. Dennoch liegt gerade diese Auffassung der Argumentation Cleanders bzw. Bassians herrschaftlichem Selbstverständnis zugrunde: Insofern in
341 Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. In: Kritik der Urteilskraft. Mit Einl. u. Bibliogr. hg. von Heiner F. Klemme. Hamburg 2009 (Philosophische Bibliothek 507), S. 485–555, hier S. 488 / AA XX, 198. 342 Ebd., S. 486 / AA XX, 195f.: „Man hat Staatsklugheit und Staatswirthschaft, Haushaltungsregeln, imgleichen die des Umgangs, Vorschriften zum Wohlbefinden und Diätetick, so wohl der Seele als des Körpers, (warum nicht gar alle Gewerbe und Künste?) zur practischen Philosophie zählen zu können geglaubt; weil sie doch insgesammt einen Innbegrif practischer Sätze enthalten.“ 343 Ebd., S. 487 / AA XX, 197. 344 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 227. 345 Ebd., S. 226–228. Ad personam: Friedrich Otto: [Art.] Reifenberg, Justus. In: ADB 27, S. 685.
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ihren Augen allein „die Noth“, d.h. Fragen der theoretischen Möglichkeit bzw. Notwendigkeit dem menschlichen Handeln das Gesetz gibt, gilt in ihren Augen dassselbe für Fragen zu „Recht und Tugend“. Rechtliche Antworten sui generis sind damit weder möglich noch werden sie erwartet. Diese Antworten sind für Bassian und Cleander unter dem Gesetz der Machbarkeit sowie der vorgeblichen Notwendigkeit zu modellieren und werden damit auf das Ästhetische genauso reduziert, wie die Funktion des Rechtsgelehrten auf die Rolle des Virtuosen schrumpft. Macht hat wohl ästhetische Effekte – dessen ist sich auch Papinian bewusst –; gleichwohl müssen ihre Gründe und Ursachen anders beschaffen sein, wenn sie unter Missachtung der göttlichen Gesetze und ihrer Wirkmacht nicht auf rechtlich wie politisch tönernen Füßen stehen soll (5.3.6.4). Der Staat ist funktionale Erfüllungsinstanz des göttlichen Willens, ebenso wie die weltlichen Gesetze per modum determinationis dem göttlichen Recht gemäß sein müssen. Gryphius verhandelt an seiner Papinian-Figur – anders als etwa Reifenberg und Besold vor ihm – weniger den Konflikt von Freiheit und fürstlicher Majestät,346 sondern denjenigen von universalem Recht und Souveränitätsrecht. Der Staat ist für Papinian kein Kunstwerk, der Herrscher kein Künstler und sein Berater kein Virtuose. Sie schöpfen weniger kreativ, sondern führen vielmehr Angewiesenes aus (siehe auch 5.2.3.4). Dies gilt auch für den rex legibus solutus: Seine in der Tat autoritative und initiative Gesetzgebungsgewalt steht in den festen Grenzen des göttlichen Rechts. Dieses lässt sich nicht als Instrument in den kreativen Händen eines weltlichen Machtkünstlers denken, ohne in Häresie zu münden.
5.3.5.6 Gebotene constantia statt Selbsterhaltung: Papinians Haltung zwischen zwei Verboten Wenn Papinian seine Verweigerung rechtfertigt (III,6) und dabei betont, dass das Naturrecht dem Souverän auch im behaupteten status necessitatis („Noth“) keinen unbegrenzten Handlungsspielraum gewährt, verdeutlicht er die grundsätzliche Unbedingtheit des ius naturae. In Papinians Augen gibt es Normen, die in einer Weise unverhandelbar sind, dass auch das Notfalls-, wenn nicht gar das Notwehrargument an seine Grenzen gelangt: Dazu zählt ihm offensichtlich der Brudermord. Damit ließe Gryphius seinen Papinian nahezu die exakte Gegenposition zu Luis de Molina einnehmen. Diesem erschien umgekehrt sogar das Notwehrrecht gegen den Monarchen als nichtig (4.1.4). Noch weniger als die „Noth“ lässt Papinian den Affekt des Zorns als Entschuldigung gelten:
346 Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 245.
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Cleand. Er hat in heissem Zorn die harte That vollzogen. Papin. Wir sind jtzt bey Vernunfft / von keinem Zorn bewogen. Cleand. Der Bruder griff Jhn was mit rauen Worten an. Papin. Wol raue / wenn sie nur der Tod ausshnen kann. (GdW 4, III,6, S. 212, v. 421–424)
Affektbeherrschung bzw. -reinigung gehören zu den vorzüglichsten Attributen herrscherlichen Verhaltens: Gryphius’ staatsphilosophischer Lehrer Schönborner erklärt es sogar zur ars prima regni, einen solchen Neid ertragen zu können, wie Bassian ihn Geta unterstellt hatte.347 Dass der Herrscher jedoch gegenüber dem Naturrecht der Themis im strengen Sinne verpflichtet sei, wird mit Blick auf Bassians polytheistische Berufung auf die Göttin Victoria in IV,1 problematisch (5.3.4.3). Wenn Papinian in der Folgeszene Bassian persönlich Rede und Antwort steht, ist sein Argumentieren ganz von diesem Konflikt der Ansprüche von Themis und Victoria geprägt. Papinian hat ihre tendenzielle Unvermittelbarkeit durchaus verstanden, denn einen solchen nur unmöglichen Vermittlungsversuch unternimmt Papinian nie. Seine von Beginn des Trauerspiels an statthabende Todeserwartung gründet im Wissen um gerade diese Vergeblichkeit. Daher wird Papinian die konfligierenden Verbote von aktivem Widerstand (Victoria) und Beschönigung eines Brudermords (Themis) gleichermaßen einhalten. Dieser Entschluss prägt schon Papinians Loyalitätsbekundung im Szenenanfang: „Mir ist das Leben feil / Vor meines Frsten Haubt / und Reich und Ruh und Leben“ (ebd., IV,2, S. 224, v. 110f.). Es ist nicht nur Bassian, der dem mit Unverständnis begegnet, sondern auch der Kämmerer seiner Gegenspielerin Julia zeigt sich von Papinians Bereitschaft irritiert, für das Recht zu sterben: „Wer leider hir zu trew hat Hals und Leib verschertzt!“ (ebd., V,1, S. 238, v. 21). Es ist für die Ideengeschichte des Rechts nicht gering zu schätzen, dass sich hier der Gedanke eines nur eingeschränkten Selbsterhaltungstriebs niederschlägt, bevor ihn Samuel Pufendorf 1672 zur Reife entwickelt. Hier wie dort ist die conservatio sui nur insofern Basis eines Rechts – und eben nicht eines rechtsfreien Naturzustandes –, als die Menschen alles nur „solange zu ihrer Selbsterhaltung machen, wie es das Recht Anderer nicht beschädigt“.348 Es wird noch genauer zu zeigen sein, dass Papinian gerade nicht nur zu Gunsten von Bassians Souveränitätsrecht den Tod in Kauf nimmt: Er gibt seine bloß individuelle Selbsterhaltung vielmehr um des Selbsterhaltungsrechts
347 Vgl. Schönborner: Politicorum libri septem, S. 141: „Ars prima regni posse te invidiam pati.“ 348 Pufendorf: De jure naturae et gentium, II. 2. § 3, S. 115f.: „[E]nim consequitur quod in naturali statu constituti possint omnibus in medio positis, uti, frui, omniaque adhibere, et agere, quae ad conservationem sui faciunt, in quantum aliorum jus inde non laeditur.“
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der Gemeinschaft willen auf (5.3.5.7). Obwohl eine Hobbesrezeption bei Gryphius nicht sicher nachgewiesen werden konnte (4.3.4), so ist hier der Sache nach allemal ein „Vorbehalt gegenüber Hobbes’ pessimistischer Ausdeutung dieses Vitaltriebes“349 spürbar. Dass Bassian der Haltung Papinians mit Unverständnis begegnet, leuchtet mit Blick auf das oben Gesagte durchaus ein: Indem der Kaiser sein herrschaftliches Victoria-Recht unbegründet höherstellt, kann ihm in der Folge nicht begreifbar sein, dass Papinian von Seiten des Themis-Rechts einen passiven Widerstand gegenüber seinen Ansprüchen als legitim und geboten erachtet. Die Debatte gewinnt daher in IV,2 ein letztes Mal an Komplexität. Papinians Auffassung einer gewissen Dialektik von Souveränitäts- und Naturrecht ist dabei nicht eindeutig bestimmbar; zumindest scheint Papinians Entscheidungsfindung von einer solchen Dialektik geprägt zu sein: Papinian. Hab ich nicht Antonin und Getæ gleich geschworen? B assian. Wie daß der Todte dem jtzt hher bey Jhm gilt? Papinian. Sie gelten beyde vil / doch mehr der Themis Bild. (GdW 4, IV,2, S. 226, v. 160–162)
Hier wird die systematische Problematik der juridisch nicht regulierbaren Biarchie (5.3.2.3) wieder aufgenommen und mit derjenigen des Polytheismus korreliert (5.3.4). Mit dem Souveränitätsrecht beschirmt Victoria Bassian genauso wie Geta. Sie allein lässt eine Entscheidung für Geta und gegen Bassian unmöglich finden. Papinian rückt damit jedoch nicht von diesem Souveränitätsrecht ab. Dessen Paradoxalität in der Biarchie führt nicht zu seiner Auflösung, schon gar nicht zur Auflösung der Souveränität des nunmehr monarchischen Kaisers Bassian: Getas Ermordung hebt Papinians Amtseid gegenüber Bassian nicht auf, der politische Rang wird nicht berührt. Allerdings lässt sich Bassians rechtliche Verfehlung im Rahmen des Themisrechts als parricidium verorten: Dementsprechend darf Papinian den Brudermord nicht schönreden. Einen Vorrang des Victoriarechts gegenüber dem Themisrecht erkennt Papinian nicht an und sieht sich zu passivem Widerstand verpflichtet. Ebenso wenig gilt für Papinian aber ein Vorrang des Themisrechts gegenüber dem Victoriarecht. Dieser generalisierende Fehlschluss darf aus seinen Worten „Sie gelten beyde vil / doch mehr der Themis Bild“ nicht gezogen werden. Daher rechtfertigt „der Themis Bild“ ebenso wenig einen aktiven Widerstand gegen Bassian.
349 Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 76; vgl. auch Welzel: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 89–91; Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 55f.
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Papinian macht im Gespräch mit den Hauptleuten der Armee (IV,6) sogar eine eigentümliche Verbindung der Ausübung passiven und der Unterlassung aktiven Widerstands kenntlich. Als diese ihm anbieten, ihn zum Kaiser zu machen und Bassian zu töten (ebd., IV,6, S. 233, v. 375–386), schlägt Papinian dies aus. Vielmehr ist er sogar bereit „deß Frsten Heil auch durch diß Blutt zu sttzen“ (ebd., v. 391). Mit dieser nur rhetorisch widerspruchsvollen Entgegnung macht Papinian nun die eigentliche Pointe seiner besonderen Haltung zwischen zwei Verboten deutlich: Sein passiver Widerstand dagegen, Bassians Forderung nachzukommen, schlägt gerade in Unterstützung des Kaisers um, insofern er eben passiv bleibt und sich einem aktiven Widerstand entgegenstellt.350
5.3.5.7 Der Glaube an die Wirklichkeit göttlicher Gesetze: Papinians juridisches Märtyrertum gegen Prudentismus und Kontraktualismus Dass diese Haltung zwischen passivem und aktivem Widerstand für Papinian nicht nur keinen juridischen, sondern auch keinen politischen Widerspruch darstellt, begründet er nicht allein mit den Imperativen des göttlichen Rechts. Papinian stellt auch auf das Versprechen ab, welches das göttliche Recht den Menschen gibt: [Haubtleute] Man schaw auch auff den Bund: Wer ist der ihn zuriß? […] Der Frst hat was uns band und hilt nun fast zubrochen. Papinian. Ihr jrrt ach Libst / Jhr jrrt. Der Frst ists der uns schafft. Gesetzt auch daß Er [sc. der Fürst] feil. Ein unbepfhlte Krafft Kann zwar (es ist nicht ohn) in tiffste Laster rennen: Doch darff ob seiner Schuld kein Unterthan erkennen. Die Gtter sitzen nur (dafern Sie was verbricht Und auß den Schrancken reist) vollmchtig Blutt-Gericht. Wer einen Eingriff hier sich unterstund zu wagen; Hat Blitz und Untergang zu Außbeut hingetragen. (ebd., S. 234, v. 401–412)
Das Souveränitätsrecht und das Mordverbot sind hier nunmehr systematisch so verbunden, dass die Götter – und nur diese – Bassian strafen werden, dem Untertan Schuldspruch und Urteilsvollstreckung aber verwehrt sind. Mehr noch: sie wiederum sind unter Strafe verboten. Diese Strafe wäre Papinians impliziter Erwartung nach weitaus schädlicher für das Gemeinwohl als der Brudermörder
350 Gryphius verursacht hier also keinen „inneren Riß, der nicht mehr ganz heilbar war“ (so Szarota: Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, S. 293), sondern versucht im Gegenteil einen Riss zu schließen.
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Bassian. Schon in diesem Sinne haben beide Verbote und ihre Achtung ihre eine gottgewollte Absicht, nämlich die Sorge „frs allgemeine best“ (ebd., v. 420). Dennoch steht dieses Verbot im vorvergangenen Zitat besonders im Lichte der Auffassung, dass Widerstand nicht nur verboten, sondern letztlich überflüssig ist: „Die Gtter sitzen […] vollmchtig Blutt-Gericht“. Natürlich inszeniert Gryphius die vordergründig widersprüchlichen Normen auch als Zumutung, mit der sich der Mensch von Seiten des irreduziblen Willens des philippistischen Gottes konfrontiert sieht:351 Die Hinrichtungen Papinians und seines Sohnes haben dahingehend eine unzweideutige Wirkung. Die Widersprüchlichkeit von Beschönigungs- und Widerstandsverbot gilt jedoch nur vordergründig, solange Gott beide konfliktfrei realisiert: Gott macht den Widerstand gegen einen Fürsten schlicht unnötig, der sich eines Naturrechtsbruchs schuldig gemacht hat, den zu beschönigen gleichfalls verboten ist. Schon die Widerstandsüberlegungen Lipsius’ (4.1.2.1), Bornizens’ (4.1.2.3) und Keckermanns (4.1.2.4) waren von dieser Denkfigur geprägt, bei Arnisaeus (4.1.2.5) findet sie sich im Ansatz. Auch Papinian setzt sie schließlich ein, um die kontraktualistische352 Auffassung der Hauptleute genauso pragmatisch wie juridisch zu widerlegen: Sie behaupten eine Abkünftigkeit der Herrschermacht vom Volk, das erst durch einen „Bund“ dem Herrscher seine Befugnisse erteilt, ohne seine eigentliche Souveränität zu verlieren. Daher glauben sie ihm diese Befugnisse ebenso entziehen zu können.353 Dies ist für Papinian nicht nur ein Irrtum mit rechtswidrigen Folgen: Die Sorge der Hauptleute, dass eine bodinsche Souveränität den Fürsten jeglicher Strafverfolgung entziehe, ist darum unbegründet, weil diese Strafverfolgung statthat und unmöglich geflohen werden kann. Papinians Sich-Verhalten realisiert sich in der entschiedenen Unterlassung aktiver Handlungen (auch 5.3.5.6). Er weiß diese Unterlassung jedoch nicht
351 Vgl. Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius’ ‚Aemilius Paulus Papinianus‘, S. 59f. 352 Der Begriff ist hier natürlich nicht im Sinne der hobbesschen Staatsrechtsphilosophie verwendet, in welcher der contractus allererst allem Recht vorausgeht (vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 169). Vor Hobbes wird mit diesem Vertrag bzw. „Bund“, etwa bei Althusius, lediglich die Amtsbefugnis des Magistrats unter bestimmten Bedingungen übergeben; göttliches Recht und Souveränität sind vor diesem Vertrag alles andere als nichtig, sondern liegen natürlicher Weise je schon beim Volk und verbleiben auch bei diesem über die Beamtung des Herrschers hinaus: vgl. Manfred Walther: Kommunalismus und Vertragstheorie. Althusius – Hobbes – Spinoza – Rousseau oder Tradition und Gestaltwandel einer politischen Erfahrung. In: Theorien kommunaler Ordnung in Europa. Hg. von Peter Blickle. München 1996 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 36), S. 127–162, vor allem S. 135. 353 Vgl. Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, S. 58.
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nur rechtlich, sondern auch praktisch gut zu begründen. Daher ist Papinian weder Querulant noch Solipsist noch gibt er seine „Existenz als occupatus“ auf.354 Sein Einsatz sowohl für das Souveränitätsrecht Bassians als auch gegen die Beschönigung des Brudermords ist ein eminent rechtspolitisches Verhalten. Wie Stefanie Arend zu Recht festhält, zeigt Papinian, wie „der Stoizismus unter den Verdacht des Solipsismus gerät“355 und sich damit ‚gefährlich‘ dem epikureischen Λάθε βιώσας des ersten Reyens annähert. Nicht zuletzt der Vater der Titelfigur, Papinianus Hostilius, hegt diesen Verdacht.356 Im Lichte von Gryphius’ ideengeschichtlicher Stellung jedoch soll Papinians Verhalten gerade diesen Verdacht widerlegen. Was nämlich Bassian und der Vater Hostilius, der Papinians Überleben als dem Gemeinwesen weitaus nützlicher erachtet als dessen Tod, gleichermaßen übersehen, ist die häufig vergessene andere Seite des göttlichen Gesetzes, nämlich seine Strafandrohung, und dementsprechend das andere Ende des Gesetzesbruchs, nämlich die zu befürchtende göttliche Strafe.357 So gut als alle frühneuzeitlichen Staatslehren räumen der göttlichen Strafe Gottes in der Welt eine bisweilen katastrophale Wirkmacht ein (4.1.2), – mit einer prominenten Ausnahme: Mit der Figur des Hostilius gibt Gryphius unübersehbar Jean Bodin eine Stimme; dessen Verdikt gegen Papinian lautete eben, dass sein passiver „Widerstand dem Staat nichts eingebracht“ habe und er „den Staat eines so großen Mannes, nämlich seiner selbst, nicht berauben durfte“.358 Gryphius’ Drama dient damit sowohl der Positionierung seiner theologischen Politologie im Allgemeinen als auch der Revision von Bodins Papinian-Bild. Besonders hinsichtlich fundamentaler Verstöße gegen göttliches Recht – und dazu zählt eben sowohl das Souveränitätsrecht als auch das Lügenverbot – fürchtet man im Volksglauben genauso wie in Academia eine dergestalt verheerende Wirkung der göttlichen Strafe, dass sie meist unter den causae eversionum des Staates abgehandelt werden: Georg Schönborner spricht von Gott sogar als
354 Vgl. Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins, S. 147. 355 Ebd. 356 Vgl. Vollhardt: Klug handeln?, S. 246–250. 357 Dies scheint m.E. schon Gerhard Spellerberg im Blick zu haben, ohne aber dieses politische Moment göttlichen Rechts wahrzunehmen, das die göttliche Strafe selbst darstellt: Spellerberg: Barockdrama und Politik, S. 153–155. 358 Bodin: Les six Livres de la Republique, III, 4, S. 343: „[L]a resistence qu’il fist ne profita rien, & apporta vn dommage irreparable aux affaires de l’Empire: estant priué d’vn si grand personnage, & qui pouuoit plus que nul autre pour estre Prince du sang, & le plus grand magistrat“. Übers. O.B. Vgl. Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 228f.
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dem justus eversor.359 Auch Melanchthon zählt mit Tod, Hunger, Krieg, Seuchen und Plagen Strafmittel Gottes auf (4.4.4.2), die der Möglichkeit nach die Wirkung tyrannischer Repressionen bei weitem übertreffen. Henning Arnisaeus schließlich entwickelte diesen Gedanken sogar dahingehend weiter, dass dem gegenwärtigen Tyrann nach seiner Beseitigung ein nur grausamerer Tyrann nachfolge,360 seine Duldung also nicht nur dem göttlichen Gesetz nach als geboten, sondern dem politischen Eigeninteresse gemäß sogar als klug erscheint (4.1.2.5).361 Ebendies ist das Hebelmoment von Papinians Argumentieren und Handeln: Im Hinblick auf das Gewicht von Souveränitätsrecht und Lügenverbot bedeutet Papinians Verweigerung sowohl des Widerstands als auch der Lüge gerade nicht die Missachtung des Gemeinwohls.362 Sie bedeutet im Gegenteil die weitsichtig kluge Vermeidung eines ungleich größeren Schadens am Gemeinwohl, der mit dergleichen Brüchen göttlicher Gesetze nahezu notwendig eintreten würde. Interpretationen, die Papinian den Vorwurf des Solipsismus machen, übersehen diesen wichtigen pragmatischen Aspekt der zeitgenössischen Rechtslehren, während sie sich von Papinians expliziten Überdrussbekundungen (z.B. GdW 4, I,4, S. 180, v. 321–326) genauso einseitig beeindrucken lassen wie seine Hofjunker in I,5. Was dem „weltklugen Pragmatismus“ auch des Hostilius363 gerade abgeht, sind Weitsicht und die Berücksichtigung der durchschlagenden Weltlichkeit vieler göttlicher Strafen. Wie auch im Falle der Catharina von Georgien beruht die Haltung Papinians nicht auf einer „Glaubensgewißheit, die radikal mit jeder Bindung an die Wirklichkeit bricht“.364 Ganz im Gegenteil beruht sein Verhalten auf einem Glauben, der sich der Wirkmächtigkeit der göttlichen Gesetze im Diesseits gewiss ist. Papinians Gegner wie auch diejenigen, die ihm nahestehen, sind ihm sowohl rechtlich als auch prudentiell unterlegen. Glauben ist dabei nicht im Sinne lutherischer Rechtfertigungslehre verwendet. Dennoch zeigen Papinians Haltung und Argumentationen, ja gerade seine nur eingeschränkte Christianisierung (5.3.5.2, 5.3.5.3), dass ihnen eben Glauben zugrundeliegt, nämlich in die unmöglich vorhersehbare, aber dennoch statt-
359 Schönborner: Politicorum libri septem, S. 487. 360 Arnisaeus: De Autoritate Principum, S. 65a (Cap. IV, Nr. 16): „Quin etiam ejecto uno Tyranno, novus plerunq; succedit multò deterior […].“ 361 Dieter Nörr kontrastiert daher der Staatsraison den eigentlich treffenden Begriff der Rechtsraison, ohne allerdings damit den polit-prudentiellen Eigenanspruch des Rechts anzusprechen: Nörr: Papinian und Gryphius, S. 314. 362 Vgl. Vollhardt: Klug handeln?, S. 246. 363 Ebd., S. 249. 364 So Feger: Zeit und Angst. Gryphius’ Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther, S. 76.
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habende göttliche Strafe gegen die Brecher göttlichen Rechts. Anders lässt sich sein Vertrauen in die Wirklichkeit einer transzendenten Instanz nicht in Begriffe fassen. Papinians Konformität gegenüber zwei einander konfligierenden Normen, seine Tatenlosigkeit als Delegation von Taten nach oben ruht allein auf Glauben auf. Insofern ist Papinian in der Tat Märtyrer: Papinian hält sich an die Grenzen zweier göttlicher Verbote und handelt nicht, obwohl die faktische Möglichkeit zu handeln gegeben wäre und ihm von Julia und den Generälen auch eröffnet wird. Zu tun, was faktisch möglich ist, und dabei zu übergehen, was gesollt ist, hieße jedoch theoretische und praktische Vernunft unzulässig vermengen (5.3.1). Papinian stirbt daher nicht nur für die spezifischen Gebote bzw. Verbote, sondern vor allem für die Geltung eines göttlichen Rechts überhaupt. Er stirbt gegen die Bevorzugung eines säkularen Prudentismus, der göttliches Gesetz als nichtig erachtet, und er stirbt auch gegen ein monarchomachisches Vertragsdenken, das die Wirkmacht göttlicher Straftätigkeit offensichtlich unterschätzt. Gottes künftige Tathandlungen sind für den Menschen nicht aus gegenwärtigen Gegebenheiten prognostizierbar. Dies schließlich ist der Preis für die Stärkung des theologischen Voluntarismus genauso wie für die Entteleologisierung irdischer Vorgänge (4.3). Deshalb muss auch die Geltung des göttlichen Rechts der Evidenz des in Menschenaugen faktisch Möglichen gerade entbehren. Mithin ist Papinians Sterben notwendig auch ein Sterben für den Glauben in dieses Recht. Man kann nach diesen Ausführungen einwenden, dass Papinians Sterben politisch intendiert ist, weil es ausdrücklich dem Gemeinwohl zum Nutzen gereichen soll. Damit stellte es kein Märtyrertum dar, das allein Gott zum Gegenstand hat. Dem muss nicht widersprochen werden, um dennoch festzustellen, dass Papinian im Vollzug seiner politisch-theologischen Hoffnung immer auch den Glauben stärken muss. Dieser ist ein integraler Bestandteil der Geltungs- und Realisierungsbedingungen des göttlichen Rechts.
5.3.6 Fazit: Pagane Hoffnungen in den christlichen Gott Wie eingangs angekündigt, erreicht Æmilius Paulus Papinianus nicht die Stufe politischer Theologie, wie sie Gryphius allererst in seinem letzten Trauerspiel, der zweiten Fassung des Carolus Stuardus, entwickeln wird. Gerade im Papinianus jedoch erfahren die Bedenken, die Gryphius gegenüber dem Innatismus zunehmend hegt, einen denkbar starken Schub. Das Vorhaben des Melanchthon, die allgemeine Kenntnis der göttlichen Gesetze durch ihre anthropologische Angeburt auch bei Ungläubigen und Heiden zu sichern, erfährt seine stärksten Erschütterungen in der instanziellen Suprematiefrage diverser Schutzgottheiten. Papinians eigenes Sprechen vom höchsten Gott stärkt zwar noch die Geltung des
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ebenso angeborenen ersten Gebots. Dass jedoch selbst dem weisesten Rechtsgelehrten des heidnischen Rom die Einsicht in diese ihm doch angeborene Norm schwerfällt, legt eine Schwächung der ideae innatae nahe. In sein Gewissen zwar von Geburt an hineingelegt, bedarf es offensichtlich eines über diese Innation hinausgehenden Erkenntnisaktes, um die Kenntnis von der Allmacht des einen Gottes ‚abzurufen‘: Angeborenes Wissen wird gleichermaßen nur noch als Begabung aufgefasst, die um ihre Schulung nicht herumkommt. Noch zuletzt präsentiert Gryphius dem Leser mit den trauernden Angehörigen des Papinian heidnische Subjekte des göttlichen Rechts, bei denen es um diese Schulung wenig gut bestellt ist. Als sie von der Hinrichtung erfahren und die beiden Leichen Papinians und seines Sohns zu Gesicht bekommen, versucht vor allem Hostilius, der Totenklage eine positive, sinn- und hoffnungsspendende Folgerung abzugewinnen: Ja schmhlich / dem der Sie zu disem Beil verwiß! Euch rhmlich! Sohn und uns! wer so die Welt verliß: Besteigt der Himmel Burg! ach aber! ach ich sterbe! In dem Ich Euren Ruhm Mein Sohn / und Sohns Sohn erbe! Was steht die Ehre mich! verweister alter Greiß! (GdW 4, V,4, S. 251, v. 441–445)
Hierin bedient sich der Vater natürlich wieder des Dualismus von zeitlichem Leib und zeitloser Seele sowie von Diesseits und Jenseits. Beide Bereiche bleiben dabei immer um das bedingende Moment von Unrecht und Strafe bzw. Recht und Belohnung verbunden: Die ungerechte Strafe, die Papinian mit seinem Sohn hat erleiden müssen, sowie seine rechtskonforme Haltung werden kompensiert durch ihren Aufstieg in „der Himmel Burg“. Die Mutter Eugenia und der Reyen des römischen Frauenzimmers stellen jedoch Fragen, die durch diese Wiederherstellung subjektiver Rechte bei weitem noch nicht befriedigend beantwortet wurden: [Eugenia] Ist diß Papinian? Ist diß sein bluttig End! Und kracht die Erden nicht / in dem Er in die Hnd Der Grausamkeit verfllt? Re ye n . Ach Ursach! (ach!) zu klagen! Welch Hllen-donner hat den Lorber-baum zuschlagen? Baum unter dessen Zweig man Schutz und Ruhe fand / Welch Ruber nit dich hin / hchst-schtzbar Himmels-Pfand? Wer wird? Wer wird nunmehr die unterdruckten schtzen? (ebd., S. 252, v. 473–479)
Hier geht es um die Realisierung zweier objektiver Rechte: Erstens ist Papinians irdisches Sterben nicht nur durch sein ewiges Leben, sondern auch durch eine Bestrafung des Übeltäters Bassian zu kompensieren. Entschädigung und Strafe sind schon der betreffenden Person nach nicht identisch. Zweitens ist Ersatz zu schaffen für Papinian, um die römische civitas in ihrem rechtlichen, d.h. recht-
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lich guten Stand zu erhalten. Hierauf weiß Hostilius nur der Thymotik gemäß eine Antwort (5.3.5.5): Papinians Ehre „blht und wchst je mehr umb mehr“ (ebd., S. 253, v. 502). Die Hoffnung, die sich hierin ausdrückt, ist eine ganz säkulare, denn sie zielt auf die ruhmesethische Wirkung des papinianischen Exempels auf die folgenden Generationen römischer Politik. Diese Hoffnung wird schon durch Papinians Nachfolger Macrinus nicht erfüllt werden, der sich mit Bassians Ermordung genau desjenigen Königsmordes und derjenigen Usurpation schuldig machen wird, die Papinian von sich wies.365 Natürlich wären in den Augen besonders des frühneuzeitlichen Lutheraners solche Forderungen unzulässig, die Gott auf ein bestimmtes Handeln zu einem bestimmten Zeitpunkt festlegen wollen. Sie begriffen Gott als Schuldiger und nicht als Gott. Die in der Heiligen Schrift verbriefte Zuversicht in Gottes allemal statthabende Straf- und Stabilisierungsfunktion hat der Christ, zumal der lutheranische, dem heidnischen Dramenpersonal allemal voraus. Für dieses muss die Frage Eugenias letztlich offen bleiben: „Was steht die Ehre mich!“ (ebd., S. 251, v. 445). Sofern von einer politisch-theologischen Werkgenese in Gryphius’ Trauerspielen gesprochen werden kann, wird diese Frage erst im Carolus Stuardus 1663 eine abschließende Antwort bekommen. Da diese Antwort einem Heiden letztlich nicht gegeben werden kann, kann der Reyen der Frauen und Diener (V,5) bis zum letzten Vers des Papinian nicht von seinem Zweifel befreit werden, nicht etwa nur Papinian, sondern überhaupt „[d]as Recht mit deiner Leich und Sohn ins Grab zu sencken“ (ebd., S. 254, v. 542.).
5.4 Carolus Stuardus: Die normative Kraft der Schrift und autoritative Kraft des handelnden Gottes Im Leo Armenius war dem Leser und Zuschauer vordringlich vor Augen gestellt worden, was das göttliche Recht vom auch vom unschuldigen und gerechten Menschen fordert, wenn es Unrecht anzeigt, aber augenscheinlich nicht bestraft – zumindest nicht innerhalb der Dramenhandlung. In Catharina von Georgien und Æmilius Paulus Papinianus bringt Gryphius spätestens zum Schluss immer auch zur Geltung, was das göttliche Recht verspricht, nämlich die Bestrafung derjenigen Unrechtstäter, die einem als Untertan zu strafen nicht gestattet ist. Dramenintern wird allerdings allein die Gewissensqual als göttliche Strafe vollzogen – die ausstehenden Strafen im forum externum werden allein angekündigt. Während aber die Gewissensinstanz in der Catharina noch funktionstüchtig
365 Vgl. Rudolf Hanslik: [Art.] Macrinus 3. In: Pauly 3, S. 855f.
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ist, präsentiert sie sich im Papinian als deutlich geschwächt: Zwar funktioniert sie im speziellen Fall des Kaisers Bassian, dennoch ist bereits denkbar, dass ein Schuldiger „lange Jahr in Ruh gewinne“, d.h. vor seiner ewigen Strafe keinerlei Gewissenspein empfindet (GdW 4, Æmilius Paulus Papinianus, III,8, S. 221, v. 699–704, 709f.). In seinem letzten Trauerspiel, der überarbeiteten Fassung des Carolus Stuardus von 1663, wird die Frage nach göttlicher Strafe auf ihren Höhepunkt, die Antwort auf diese Frage an ihr Ziel getrieben.
5.4.1 Die erste Fassung (1657): Die anvisierte Lösung und ihre möglichen Probleme Carolus Stuardus A darf nicht nur werkästhetisch, sondern mit Blick auf jene inhaltliche Problemstellung und -lösung auch konzeptionsgeschichtlich als Vorstufe gelten. Auch hier wird schon eine göttliche Rache beschworen, die nicht erst jenseitig wirkt, sondern schon in die irdische Politik eingreift. Bereits in der ersten Abhandlung kündigt der Geist Wilhelm Lauds die Vollstreckung dieser Strafe an, wobei er besonders ihren unmittelbar irdischen Charakter betont: Weh Albion! Weh Engelland! Weg! Weh! Die Straffe wacht sie brent auff kalter See! O Seelig wer die Tage nicht erreicht! O Seelig wer vor diesem Sturm erbleicht! O besser durch ein Beil den kurtzen Rest beschlossen! O besser vor der Angst die Handvol Bluts vergossen! Die Straffe selbst steigt von deß Himmels Hh Weh Albion! O Engelland Weh! Weh! (GdW 4, Carolus Stuardus A, I,1, S. 6, v. 121–128)
Ob die göttlichen Strafe kommt, scheint für Laud je schon beantwortet: Der Indikativ (wacht, brent, steigt) steht ein für die Gewissheit dieser Antwort. Lauds Sprechen über die göttliche Strafe hat nicht den Charakter einer bloßen Erwartung oder Hoffnung. Sein Sprechen artikuliert sich weder im Optativ noch richtet es sich im Jussiv an die Gottesinstanz. Gryphius markiert die Figurenrede durch nichts, was diese Gewissheit seitens des sprechenden Subjekts relativierte. Lauds Worte richten sich auf einen zukünftigen Fakt, der als Fakt sub specie aeternitatis demjenigen bekannt ist, der dem Reich der Ewigkeit bereits angehört wie der Geist Laud. Ebenso wenig in Frage steht der unmittelbar irdische Charakter der göttlichen Strafe: „Die Straffe selbst steigt von des Himmels Hh“. Die Strafe hat ihren Ursprung in der Sphäre Gottes, ihr Ziel- und Wirkungspunkt ist das Diesseits. Die ausdrückliche Trennung zwischen göttlich irdischer und göttlich jenseitiger Strafe drückt sich auch in der folgenden Äußerung Lauds aus: „O Seelig wer die
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Tage nicht erreicht! O Seelig wer vor diesem Sturm erbleicht!“ Die irdische göttliche Strafe reißt auch unschuldige Menschen mit sich, deren unschuldige Seelen sie nach dem Tod jedoch verschont. Die erste Fassung des Carolus Stuardus bringt vordringlich die Probleme göttlicher Strafe in politicis zur Darstellung. Mit Blick auf den Wirkungsbereich dieser Strafe, das gesamte England, scheint es nämlich notwendiger Weise so etwas wie Kollateralschäden zu geben. In der societas stehen die Menschen in enger Verbindung zueinander – nichts anderes ist ihr Sinn und Zweck. Greift eine irdisch physische Strafe daher in diesen Bereich ein, muss sie unschuldige Menschen notwendig mit sich reißen, obwohl sie eigentlich nur dem Regenten gilt. Demgegenüber scheint erst und ausschließlich die jenseitige Strafe über die Seelen die angemessen zielgerichtete Strafe zu sein. Die politologische Lehre der 1657er Fassung nährt sich daher schon aus der vermehrt externen als internen göttlichen Strafe bzw. aus der Sorge um diese: Der wirklich kluge Herrscher hat die potentielle Wucht der irdischen göttlichen Strafe in sein Kalkül einzubeziehen. Auch in der zweiten Fassung werden göttliche Strafen imaginiert und reflektiert, die nicht nur die Unrechtstäter, sondern auch auf die gesamte civitas treffen (5.4.5). Gryphius wird daher nicht nur die Sorge zu stillen suchen, ob Gott überhaupt strafend in das diesseitige politische Geschehen eingreift, sondern auch jene, dass diese Strafe das gesamte Land treffen könnte. Als Gryphius 1657 den Deus politicus diskursiviert, geht es ihm noch vermehrt um die Probleme, die sich durch diese mögliche Antwort postwendend zugezogen werden. Demgegenüber hat sich 1663 die Ausgangssituation werk- und rezeptionsästhetisch entscheidend verändert: War der Zuschauer des Trauerspiels 1657 nur genauso ratlos über den Ausgang der Vorgänge in England wie das Dramenpersonal, so weiß er sich 1663 der Tatsache vergewissert, dass die Independenten um Cromwell scheiterten, die Stuarts ihren Thron zurückerlangten und England nicht in allgemeinem „Weh!“ unterging.
5.4.2 Die politische Theologie des sola scriptura: Das Cromwell-Epitaph Die enge Verbindung frühneuzeitlicher Paratexte mit ihrem Haupttext, ihre auktorial wie editorisch kunstvoll auf diesen verweisende Gestaltung und Positionierung machen ihren eigentümlichen Werkcharakter aus. Im Nachgang der häufig unzureichend differenzierenden Definitionen Gérard Genettes ist die Literaturwissenschaft nach wie vor uneins, inwiefern Paratexte in der Tat eigenständig sein dürfen. Sind sie nicht doch Teil des Textes selbst – und damit nicht recht eigentlich Paratexte? Oder dürfen sie nicht zumindest als Teil eines übergeordneten Textganzen gelten, dem der ‚Haupt‘-Text nur genauso als Teil zugehört wie sie
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selbst.366 Dies lässt sich hinreichend nur am Einzelfall entscheiden, d.h. auf die Überprüfung hin, welche strukturelle und inhaltliche Verbindung der Paratext selbst zu seinem Haupttext aufbaut. Für den Fall des Cromwell-Epitaphs, das Gryphius der zweiten Fassung des Carolus Stuardus voranstellt, soll dessen Status als Paratext gar nicht abschließend geklärt werden. Ohne Zweifel gehört es nicht zum Dramentext: Es steht schließlich vor dem Personenregister, das selbst nur – wenngleich naher – Paratext ist. Ebenso zweifellos aber steht es dem Dramentext schon näher als die initiale Widmungsepistel des Autoren Gryphius an Gottfried Textor. Im Unterschied zu diesem Brief inauguriert das Epitaph nämlich selbst ein fingiertes Setting, ohne aber eine geschlossene fiktive Welt aufzubauen: „Sta Viator, / Si stare sustines / Ad Tumulum TYRANNI“ (GdW 4, Carolus Stuardus B, S. 57, v. 1–3). Der Leser wird als Wanderer angesprochen, der vor dem Grabmal Cromwells innehalten, dessen Inschrift lesen und deren Lehre registrieren soll. Das Denkmal ‚spricht‘ durch seine Denkinschrift selbst, oder besser: die Inschrift inszeniert das Denkmal, vor dem der realweltliche Leser als fingierter Wanderer zum Stehen kommen soll. Die kunstvolle Gestaltung und Positionierung des Epitaphs als Schwellentext zwischen faktischem Leser-Schrift-Verhältnis und fiktivem SubjektObjekt-Verhältnis wird ebenso deutlich wie seine werk- und rezeptionsästhetische Rolle. Gryphius veranlasst den Leser, sich selbst als Wanderer auf dem Weg in den Text hinein wahrzunehmen. Diese Leserlenkung unternimmt Gryphius gerade um der didaktisch-einführenden Funktion des Epitaphs willen. Hat der Leser hier schon die fiktive Rolle des Wanderers angenommen, so hat er seine reale Funktion als Leser bewusst noch nicht abgelegt: Sta Viator! heißt wiederum nichts anderes als Sustine lector! Genauso wenig, wie der fiktive Leser-Wanderer am Denkmal vorbeigehen soll, darf der reale Wanderer-Leser die Denkschrift überlesen. Anders als ein Epitext, dessen Lektüre schon mangels gemeinsamer Drucklegung nur kontingenter Weise mit derjenigen des Dramentextes zusammenfällt, ist das Cromwell-Epitaph als Peritext367 dem Trauerspieltext beigegeben und seine Lektüre obligatorisch. Anders als die Lektüre der anderen Peritexte wie Titelei und Widmungsepistel ist die Lektüre des Epitaphs obligatorisch für das Verständnis des Trauerspiels. Ist der Rang des Epitaphs als instruktive Pflichtlektüre hinreichend deutlich geworden, können sowohl der Inhalt dieser Instruktion als auch Gryphius’ rezep-
366 Vgl. die Handbuchliteratur: Burkhard Moenninghof: [Art.] Paratext. In: RLW III, S. 22f.; Werner Wolf: [Art.] Paratext. In: MLLK, S.511f.; Irmgard Schweikle: [Art.] Paratext. In: MLL, S. 342. 367 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt am Main, New York 1989, S. 12; nochmals Wolf: [Art.] Paratext, S.511f.
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tionsästhetische Lenkungsintention allererst angemessen gewürdigt werden. Das Epitaph nimmt nämlich alle wesentlichen Momente von Gryphius’ politischer Theologie genauso vorweg wie die Haltung zu den historischen Trauerspielfiguren. Oliver Cromwell wird als Tyrann verurteilt und das Epitaph stellt besonders darauf ab, dass er dies im Hinblick auf seine mangelnde Legitimation ist – ein tyrannus absque titulo: „[D]ebellare ausus / Qvam defendere par fuisset Purpuram“ (ebd., v. 32f.). Als Umstürzler bekämpfte Cromwell den König und dessen menschlich unverhandelbares Herrschaftsrecht, obwohl er beide hätte verteidigen müssen. Durch diesen Verstoß gegen Röm 13 wird der „nur durch Verbrechen geadelte Engländer“ Cromwell für Gryphius zum „Schlechtesten aller Untertanen“ und zum „Schlechtesten der Verdorbenen“ gleichermaßen (ebd., v. 20f.).368 Oliver Cromwells Verbrechen ist nicht etwa nur ein Verstoß gegen menschliches Recht, sondern er vergeht sich auch am ius divinum: Cujus [Cromwellii] Jussu & Auspiciis Magnæ Britanniæ ATLAS corruit. Principes Insularum Colossi cecidere. imo Monumentum Charitatis prorsus sublatum. (ebd., v. 4–8)
Gryphius offenbart hier abermals ein Verständnis göttlichen Rechts, das dessen Dimensionen vor allem politisch durchmisst. Als göttlich gestiftetes Recht zur Regelung diesseitiger menschlicher Handlungen hängen alle seine Einzelnormen von dem theonomen Fundament der Nächstenliebe ab,369 wie es schon in Lev 19,18 niedergelegt und in Mk 12,28–31 von Christus reformuliert und gestärkt wurde: Das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der Liebe zum einen Gott „gleich“.370 Diese Sprachregelung identifiziert gebotene Gottes- und Nächsten-
368 „Nobilis sceleribus Anglus. […] Subditorum Pessimus“. Beachte die Doppeldeutigkeit des politisch-strukturellen und moralisch-inhaltlichen subditus; letztere Bedeutung hebt die Übersetzung Eberhard Mannacks hervor: Mannack: Kommentar, S. 1103: „Schlechtester der Verdorbenen.“ 369 Siehe zur Juridifizierung der lex charitatis schon in der Scholastik nochmals Bach: ‚At nobis contrarium videtur verum‘ – Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas, S. 199–204 und S. 214; Kaufmann: Francisco Suárez’ lex naturalis zwischen inclinatio naturalis und kategorischem Imperativ (DL I; DL II. 5–16), S. 167f.; Bach: Juridische Hermeneutik, S. 301f. 370 Mk 12,29–31: „Das furnemest Gebot fur allen geboten ist das / Höre Jsrael / Der HERR vnser Gott ist ein einiger Gott / Vnd du solt Gott deinen HERRN lieben / von gantzem hertzen / von gantzer Seele / von gantzem Gemüte vnd von allen deinen Krefften / Das ist das furnemeste Gebot. Vnd das ander ist jm gleich / Du solt deinen Nehesten lieben / als dich selbs. Es ist kein ander grösser Gebot / denn diese.“
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liebe, „so daß nun […] die Erfüllung eines Gebotes die aller Gebote und Verbote umfaßte“.371 Gleichzeitig lässt sie nicht übersehen, dass die Nächstenliebe gegenüber den reinen officia erga Deum abkünftig bleibt (siehe auch 5.2.5.2). In dieser Weise wurde sie von Melanchthon auf den Dekalog reappliziert und in seiner Lehre von den Graden der Sünden wider das erste und die übrigen neun Gebote systematisiert (4.2.2.1). In dieser Weise wendet Gryphius die lex charitatis unmittelbar zur Beurteilung politischer Praxis an. Der Independentenführer Cromwell verstößt mit der Ermordung des Königs gegen das fünfte und mit seinem Umsturz gegen das – von Melanchthon politisch verallgemeinerte – vierte Gebot. Indem Cromwell sich auf göttliches Recht beruft und damit „Frömmigkeit mit Frevel verwebt“ (GdW 4, S. 58, v. 47),372 verstößt er gegen das zweite Gebot. Wenn er durch die Gefährdung des britischen Volks genauso gegen das Gebot der Nächstenliebe verstößt wie schon durch die Ermordung seines Nächsten und Oberen Charles I., vergeht sich Cromwell immer auch an Gott und damit dem Fundament jedweder Ordnung. Insofern ist Gryphius’ Formulierung „Monumentum Charitatis prorsus sublatum“ in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Es geht erstens um das Mahnmal der Nächstenliebe, d.h. den Inhalt dieses höchsten Gebots, gegen dessen Bestimmungen Cromwell durch sein Handeln verstößt. Der lutheranische Leser sieht damit zweitens aber auch die Urkunde373 der Nächstenliebe angesprochen, d.h. die Bedeutung des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift für das politische Handeln. Um diese Bedeutung wird es dem Drama vor allem gehen. Cromwells Missachtung der göttlichen Gebote resultiert auch aus einer Missachtung der Heiligen Schrift. Ihr Zeugnis hätte ihn von seinen Unrechtstaten und auch von seiner Missinterpretation göttlicher Gesetze abhalten können. Die hervorstechende isolierte Stellung des imo im siebten Vers bringt die Signifikanz dessen voll zur Geltung: Cromwell ist vor allem deshalb ein schlechter Untertan, weil er ein schlechter (Bibel)Christ ist. Mit diesem Vorwurf möchte Gryphius den politischen Puritanismus in seinem Herzstück treffen, nämlich in seiner angeblichen Bibelfestigkeit,374 die in den Augen des politisch-theologischen Beobachters Gryphius zur Prätention verkommen ist.
371 Horst Balz: [Art.] Nächster III. Neues Testament. In: TRE 23, S.720–723, hier S. 722 [Hervorhebungen im Text]. 372 „Religionem Impietati […] prætexens.“ 373 Vgl. Lemm. monumentum. In: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hg. von Karl Ernst Georges. 8. Aufl. Hannover 1918 (Nachdruck Darmstadt 1998), Sp. 1000f., Sp. 1000f., hier Sp. 1001 (I c). 374 Vgl. Stephen Neill: Anglicanism. Harmondsworth 1958, S. 111f.
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Prätention ist eben Teil von Cromwells allein pragmatischer Haltung zu politischen Fragen – und damit Teil seines Machiavellismus. Das Epitaph spricht jedoch auch das theologisch-metaphysische Missverständnis derjenigen an, die Cromwell folgen: Flagitiis & consiliis ejus Improbissimis Immeritò qvidem, prosperè tamē succedentibus Et Felix, & Prudens inter suos audivit […] (GdW 4, S. 57f., v. 34–36)
Aufgrund des (kurzfristigen) Erfolgs von Cromwells Taten halten seine Anhänger diese Taten auch für legitim. Gryphius macht den Independenten, wo er ihnen nicht grundsätzliche Schlechtigkeit ankreidet, doch zumindest einen naturalistischen Fehlschluss zum Vorwurf, der sie vom historischen Ist-Zustand der cromwellschen Erfolge auf ihr Gesolltsein schließen lässt.375 Gegen derlei Fehlschlüsse hat Gryphius schon im Leo Armenius Front gemacht (5.1.5.4). Theologisch haben Cromwells Anhänger ebenso wie Michael Balbus nicht begriffen, dass Gott im Rahmen des menschlichen Freiheitsgeschehens Unrechtstaten zwar zulässt, sie aber dennoch verurteilt. Nichtsdestoweniger problematisiert das Epitaph auch den Charakter dieser Verurteilung und Bestrafung. Denn es wird – mit lediglich fünf Silben abermals versologisch exponiert – festgestellt, dass Cromwell offensichtlich ruhigen Gewissens starb: Tandem Rebus ex Voto, certe suo, Compositis Tranqvilla mente Imo ut apparebat Inter Felicioris Vitæ desideria Certè suspiria multorum Turbulentum Spiritum placidè exhalavit. (ebd., S. 58, v. 68–73 [Hervorhebung O.B.])
Anders als die innatistische Lehre noch zuversichtlich angenommen hatte, ist die Selbstsicherheit („certe suo“) durchaus in der Lage, das Gewissen bzw. seine Wahrnehmung zu verfälschen. Dass das forum internum allein als politisch-irdisches Korrektiv nicht ausreichend funktionstüchtig ist, bildet das Leitproblem des Dramas: Der Leser bekommt es mit Cromwell nicht nur mit einem äußerst skrupellosen Akteur zu tun, sondern er wird darüber hinaus mit der juridischen
375 Vgl. Maximilian Herberger: Zum Methodenproblem der Methodengeschichte: Einige Grundsatz-Reflexionen. In: Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Jan Schröder. Stuttgart 1998 (Contubernium 46), S. 207– 216, der zurecht daran erinnert, dass es sowohl einen unzulässigen Schluss vom Sollen auf das Sein als auch einen unzulässigen Schluss vom Sein auf das Sollen gibt (hier S. 212).
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Geltungsfrage konfrontiert, was die Gewissensinstanz tatsächlich nützt, wenn sie entgegen früherer Annahmen offensichtlich korrumpierbar ist, und was an ihrer Statt die Geltung göttlichen Rechts irdisch realisiert. Schon das Epitaph stellt klar, dass ein Wahnsinnigwerden des Antagonisten, wie es Leo Armenius noch als göttliche Strafe angeboten hatte, im Carolus Stuardus ausbleiben wird. Damit wird anhand historischer Fakten der Finger noch tiefer in die rechtstheologische Wunde gelegt. Dennoch kündigt das Ende des Epitaphs ebenso an, dass diese frühmodern geschlagene Wunde in nur genauso vormoderner Manier geschlossen werden soll und kann: Abi Viator. Mirari tragica mortalium ludibria. Et venerari disce Regium fastigium. Cæterùm Noli inqvirere in latentes rerum Causas Et mira Numinis effata, Sed tacito potius horrore ingemisce : REX SICA PERIIT, SED SICCA MORTE TYRANNUS. (ebd., S. 59, v. 74–81 [Hervorhebung O.B.])
Der angesprochene Wanderer bzw. Leser soll das Herrschaftsrecht als göttliches Recht achten. Dabei wird die häufige Unverständlichkeit der damit verbundenen, aber vordergründig gegenläufigen göttlichen Ratschlüsse durchaus eingeräumt. Das politisch-pragmatische Problem, das sich hieraus ergibt, wird auf denjenigen schriftoffenbarungstheologisch versicherten Voluntarismus verwiesen, dessen sich im Drama auch Charles inne wird (5.4.7): „Suche nicht nach den verborgenen Gründen der Dinge“. Wie die Auseinandersetzung mit der Leichabdankung Überdruß menschlicher Dinge (4.4.2.2) gezeigt hat, sind damit besonders diejenigen Gründe gemeint, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen notwendig verborgen bleiben müssen. Dazu zählt politisch die göttliche Bestallung auch zweifelhafter Könige und damit juridisch die Geltungsgewährleistung des göttlichen Rechts, das auch legitime, aber fehltretende Könige zu handhaben weiß – eine leise Kritik auch an Charles’ I. klingt hier durchaus an. „Suche nicht […] nach wundersamen Worten der göttlichen Macht“: Der Mensch hat sich zu halten an das allein sichere, weil geoffenbarte Wort Gottes. Berufungen auf eine göttliche Inspiriertheit – zudem solche, die vom Offenbarungszeugnis wie dem in Röm 13 niedergelegten Königsrecht abweichen – sind anmaßend und sie sind weder rechtswissenschaftlich verallgemeinerbar noch rechtspolitisch kollektivierbar. Darin gewinnt die Ablehnung der Inspiration bzw. des Spiritualismus eine politische Dimension. Was als historische Fakten und mutmaßliche göttliche Ratschlüsse durchaus wundersam bleibt, muss als solches dahingestellt bleiben und ist mit keiner Erkenntnisanstrengung anzugehen.
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Diese Unerkennbarkeit macht nicht etwa die Grenze einer Rechtslehre aus, die diese Beschränkung gar zum Anlass ihrer Autonomisierung nähme, sondern sie bildet ihren integralen Teil. Das dem Menschen unzugängliche Segment der Rechtslehre – die konfligierenden göttlichen Gebote und der unhinterschreitbare göttliche Wille – stehen allein Gott als Legislator, Iudex und eben auch als Iuris consultus offen. Der menschliche Rechtsgelehrte bleibt vor diesem göttlichen Arkanbereich seiner eigenen Wissenschaft notwendig ein Außenstehender. Das Vertrauen auf und die Hoffnung in Gott wird für den Juristen gleichermaßen zum Gebot seines eigenen Handelns, zum Gegenstand seiner Lehre und zum Handgriff seiner Kunst.
5.4.3 Königsrecht und Funktionalisierung der Ehepflicht: Der Fairfax-Komplex Schon der Dramenauftakt I,1–3 macht den hohen Rang des Divine Right of Kings stark, wie es im Großbritannien der Frühen Neuzeit seit den Stuarts, besonders durch James I. (1566–1625), beansprucht wurde.376 Es war im göttlichen und natürlichen Recht sowie im anglikanischen kanonischen Recht niedergelegt: „The most high and sacred order of kings is of divine right, being the ordinance of God himself, founded in the prime laws of nature, and clearly established by express texts both of the Old and New Testaments“.377 Die Gattin des General Fairfax bringt in ihrem einführenden Monolog unmissverständlich ihre Ablehnung der geplanten Hinrichtung des Königs zum Ausdruck: Sie spricht vom „frmsten Frsten“ und dem Frevel, den die Verhaftung, Verurteilung und Enthauptung des Königs darstellen (GdW 4, I,1, S. 63, v. 4 und 15f.). Mrs. Fairfax benennt mit solchen und ähnlichen Formulierungen nicht nur die Illegitimität des Umsturzes und der Hinrichtung, sondern zweifelt zudem an ihrer breiten Akzeptanz: Kein Mañ beut Hand noch Hlff! ist schon das Land bestrtzet; Traurt gleich das weite Reiche / doch bleibt der Mutt verkrtzet! Ein unerhrte Furcht nimt aller Seelen ein / Der Britten Knig steht in Albion allein! (ebd., v. 17–20)
376 Vgl. Hierzu ausführlich Glinka: Zur Genese autonomer Moral, S. 142–150; Wilfried Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980 (Geschichte und Gesellschaft 21). 377 The canons of 1640. In: The Anglican Canons 1529–1947. Hg. von Gerald Bray. Woodbridge 1998 (Church of England Record Society 6), S. 553–578, hier S. 558.
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Damit wird eine Mitschuld des Volkes ausgeräumt und die Alleinverantwortung den Independenten zugewiesen. Die Anhänger Cromwells haben in Mrs. Fairfax’ Augen sogar eine Schreckensherrschaft vom Range jakobinischer Terreur etabliert, innerhalb derer das unschuldige und eigentlich redliche Volk vor jedem Widerspruch zurückschreckt, ganz zu schweigen vor einer aktiven Hilfe zugunsten des Königs. Hierdurch mehren die Independenten noch ihre Schuld, denn sie sind tyranni absque titulo und tyranni in exercitio. Dessen genauso eingedenk wie des großen Einflusses ihres Mannes bei den Truppen, eröffnet Mrs. Fairfax dem Zuschauer ihre Absicht, Charles I. mit tatkräftiger Hilfe ihres Gatten zu befreien (ebd., S. 63f., v. 21–32). Von entscheidender Bedeutung für die politische Theologie des Trauerspiels ist Mrs. Fairfax’ Bitte an Gott: „Du aller Frsten Frst! ermuntre meinen Geist. / Erwecke den Verstand / gib Wort auff meine Lippen / Gib Licht ins Hertz / daß ich die ungeheuren Klippen / Behutsam meid […]“ (ebd., S. 64, v. 24–26). Fairfax’ Gattin bittet um Hilfsmittel, die ihr eigenes Handeln und Verhalten genauso betreffen wie die Hindernisse, die ihr dabei begegnen können. Die Forschung übersah jedoch bislang, dass die einzige Person, mit welcher Fairfax’ Gattin in Sachen Charles’ I. Befreiung dramatisch zu tun hat, Fairfax selbst ist. Mrs. Fairfax bittet Gott tatsächlich nicht nur um „Wort auff meine Lippen“, die lediglich gegenüber Dritten nötig wären – wohingegen sie ihrem Gatten gegenüber etwa offen sprechen könnte. Im Gegenteil zeigen I,2 und I,3, dass sie auch in ihrem Gatten selbst solche möglichen Hindernisse sieht und dass die Kunst der richtigen Worte auch gegenüber ihm gefordert ist. Der Dialog verdeutlicht zuerst die besondere Ergebenheit Fairfax’ gegenüber seiner Gattin: Seine anfänglichen Anreden an die Gattin als „mein Licht“ und „mein Engel“ (ebd., I,2, S. 64, v. 39, 41) stellen sich als alles andere als floskelhaft heraus: „Ich hab an Ihr / Das Hchste was Gott hir den Menschen kann verleihen“ (ebd., S. 65, v. 68f.). Diese Auffassung führt Fairfax zu einem besonderen Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Frau. Ihre vortrefflichen Eigenschaften „[v]erbinden mein Gemtt auff stets“ (ebd., v. 68) und schließlich: Fairf. Mein Engel! Sie begehr / es sey auch was es sey. G em. Ich weiß / mein Leben kann mir keine Bitt abschlagen / Fairf. Eh’ wolt ich Stahl und Qual und grimsten Tod’ ertragen. (ebd., v. 76–78)
Fairfax begreift seine Ehepflicht in eigentümlicher Weise als unbedingt und nicht verhandelbar: Er fühlt sich mehr seiner Frau als Cromwell verpflichtet, mehr aber auch als Charles. Seine Schutzpflicht als Gatte lässt ihn zwar genauso bestimmte Skrupel vor ihren überzogenen Rettungsabsichten hegen wie vor dem Vorgehen der Independenten. Mrs. Fairfax hat allerdings gerade diese seine Sorge im Blick und weiß sein eheliches Pflichtgefühl behutsam zu instrumentalisieren.
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Fairfax’ Skrupel resultieren nicht aus einer Dienstfertigkeit gegenüber Cromwell und relativieren damit nicht seine Pflicht als Ehegatte. Vielmehr sieht er gerade in Folge dieser Ehepflicht den Schutz seiner Gattin als vorrangig an gegenüber der Befreiung Charles’ I. Dementsprechend erwehrt sich Fairfax ebenso des Eindrucks, dass sein Zögern, den König zu befreien, rein individuell-pragmatisch motiviert sei: Sie glaube daß ich nicht was von Ihr komt verwerffe; Nur daß ich nicht das Beil auff meinen Nacken schrffe. Sie glaub ich achte nicht zu vil mein eigen Heil; Doch ist ihr Leben mir und Wolfahrt noch nicht feil. (ebd., S. 66, v. 113–116)
Fairfax begreift seine Argumentation nicht als Spagat oder gar als Widerspruch zwischen Heilsökonomie und Pragmatismus. Im Gegenteil sieht er durch die Folgen einer Befreiung Charles’ I. seine Fürsorgepflicht als Gatte verletzt – sei es, weil er selbst zu Tode verurteilt wird, sei es, weil auch seine Gattin zum Ziel politischer Verfolgung wird. Insofern würde er in seinen Augen nur genauso gegen göttliches Gesetz verstoßen. Offensichtlich sieht Fairfax im Verstoß gegen das Königsrecht Charles’ I. eine geringfügigere Rechtsverletzung als im Verstoß gegen die eheliche Schutzpflicht. Daher kann Mrs. Fairfax ihren Mann nur in dem Maße zu Taten bewegen, wie sie im Rahmen des in seinen Augen vernünftig Möglichen liegen und ihr Wohl nicht gefährden (ebd., S. 69, v. 215f.).378 Deshalb argumentiert sie vordergründig mit jener Tapferkeit, die sich gerade in der Verschonung des Feindes am deutlichsten zeige (ebd., S. 68, v. 182 und v. 198–200). Sie schwäche Fairfax’ Status als eines angesehenen Generals nicht nur nicht, sondern stärke ihn sogar und schütze somit beide vor einem möglichen Racheakt Cromwells (ebd., v. 177–180). Das zentrale Moment in Mrs. Fairfax’ Argumentation bildet dabei die Aufrechterhaltung des Feindbildes Charles I.: Gleichwenn Fairfax selbst den König nicht als seinen Feind ansieht, so sieht er ihn dennoch nicht mehr als „gleich“ an (ebd., v. 183), was in diesem Kontext vor allem gerecht bedeutet („aequus“).379 Von der Unrechtmäßigkeit von Charles’ I. Herrschaftspraxis und dem Verwirken seines Anspruchs auf den Thron ist Fairfax nach wie vor überzeugt. Daher muss ihn seine Frau in dem Glauben lassen, dass Charles nur befreit und außer Landes gebracht werden, nicht jedoch erneut auf den Thron gelangen soll. Mrs. Fairfax muss ihre eigentlich hohe Meinung von Charles, den sie in I,1 noch als „frmsten
378 „Ja geh ich was sie wndscht nicht / wo nur mglich ein; / So will ich ihrer Eh und Hold nicht wrdig seyn.“ 379 Vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht, S. 118.
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Frsten“ bezeichnet hatte, verschleiern: Wenn sie hier dem König vorwirft, „der Lnder Heil / der Huser Recht versehrt“, „der Britten Ruh durch grimmen Krig verstrt“ und daher das Recht verloren zu haben, „das Schwerdt und Reichsstab zu fhren“ (ebd., S. 67, v. 135–137), so täuscht sie diese Meinung ihrem Mann gegenüber lediglich vor. Dass Mrs. Fairfax ihre Meinung, Charles I. habe sein Herrschaftsrecht verwirkt, nur vortäuscht,380 offenbart nicht nur I,1, sondern auch Mrs. Fairfax’ folgender Monolog in I,3. Kaum nämlich ist Fairfax abgetreten, äußert sie die eigentliche Hoffnung, die sie mit der Rettung des Königs verbindet: Ich rett’ umb dessen Cron und Ehr und Haubt man spilt. Und wo der Hchst ihm noch was er verlohr will schencken …. Jedoch! mein Geist halt inn’ ! Ich darff so weit nicht dencken. Vor itzund ists genung daß er den Leib erhalt. (ebd., I,3, S. 70, v. 240–243)
Ihre eigentliche Haltung zum Herrschaftsrecht verbirgt Mrs. Fairfax ihrem Mann genauso wie die Tatsache, dass sie die beiden Obristen bereits eingeweiht hat (ebd., III,3–4, S. 92–94, v. 87–156). Bemerkenswert ist jedoch noch nicht nur, dass sie ihren Ehemann unter einem bestimmten Kalkül anlügt, sondern dass sie dies in dieser Konstellation rechtmäßig tun zu können glaubt. Im Unterschied zu ihrem Mann hält sie das Königsrecht für die wichtigere göttliche Norm als die eheliche Treuepflicht. Das Königsrecht legitimiert sie gerade dazu, die eheliche Treuepflicht zu brechen, über ihre wahren Absichten zu schweigen und umgekehrt Fairfax’ Loyalität als Gatte zu instrumentalisieren. Diese Überzeugung gilt für Mrs. Fairfax umso mehr, als sie schließlich Gott selbst gebeten hatte, „gib Wort auff meine Lippen“ (ebd., I,1, S. 64, v. 25). Nicht nur also siedelt das göttliche Recht das politische Herrschaftsrecht höher an als das nur private Eherecht. Die Gottesinstanz selbst unterstützt zudem tatkräftig die daraus resultierende Praxis. Sie hilft das untergeordnete Eherecht zu instrumentalisieren zum Zweck der Geltendmachung des Herrschaftsrechts Charles’ I. Damit macht Mrs. Fairfax eine anglikanische Position der Zeit geltend, wie sie 1562 in den Thirty-Nine Articles of Religion konstituiert und in ihrer Geltung 1628 durch Charles I. nachdrücklich bekräftigt wurde: Der 25. Artikel spricht der Ehe den Status eines Sakraments mit dem ausdrücklichen Verweis ab, dass die Ehe nur eine ‚Lebensordnung‘ anziele („state of life“), nicht aber schon die Gnade selbst. Von einer heilsökonomischen Verbindlichkeit der Ehe – so das zentrale offenbarungstheologische Argument des Artikels – gibt die Heilige Schrift
380 Vgl. dagegen z.B. Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, S. 217f.
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keine Auskunft.381 Genauso wie dieser Artikel auf die Wortwörtlichkeit der Bibel abstellt, verpflichtet Charles’ I. vorausgehende Declaration die Gläubigen zur wörtlichen Auslegung der Artikel, dass also no man hereafter shall either print, or preach, to draw the Article aside any way, but shall submit to it in the plain and full meaning thereof: and shall not put his own sense or comment to be the meaning of the Article, but shall take it in the literal and grammatical sense.382
Insofern Mrs. Fairfax in Charles I. nicht nur ihren weltlichen Herrscher, sondern auch ihr geistliches Oberhaupt, „Defender of Faith, and supream Governor of the Church“383 besitzt, ist seine Prärogative juridisch doppelt abgesichert:384 Sein Recht als König ist gegenüber den Pflichten eines Ehebundes schon dadurch höherrangig, dass eben der König selbst die Profanität des Ehebunds theologisch versichert. Da Gryphius als Lutheraner die Auffassung gegen einen Sakramentenstatus der Ehe teilen musste,385 wird nicht nur seine ohnehin zweifellose Sympathie für die Sache der Royalisten noch deutlicher. Es wird zudem offenbar, dass Thomas Fairfax insofern eine Schlüsselfigur des Trauerspiels darstellt, als seine eigene Haltung von bestimmten Inkonsistenzen geprägt ist. Wie hier zu sehen war, gilt dies nicht nur für seine politisch-staatsrechtliche Haltung zwischen Royalisten und Independenten. Jene Inkonsistenz gilt auch für seine offensichtlich eher lose Religiosität: Zum Einen hätte ihm die angemessene Kenntnis des gleichsam politischen wie geistlichen Supremats des Divine Right of Kings die unmittelbare Motivation dazu sein müssen, dem König zu helfen. Zum Anderen wäre ihm in Kenntnis des profanen und daher bloß abgeleiteten Ranges der Ehe klar
381 Articles agreed upon by the arch-bishops and bishops of both provinces, and the whole clergie, in the convocation holden at London, in the year 1562. London 1632, S. 11f.: „There are two Sacramentes ordained of Christ our Lord in the Gospel, that is to say, Baptisme and the Supper of the Lord. Those five commonly called Sacraments that is to say, Confirmation, Penance, Orders, Matrimony and extreme Unction, are not to be counted for Sacraments of the Gospel; being such as have grown, partly of the corrupt following of the Apostles, partly are states of life allowed in the Scriptures: but yet have not like nature of Sacraments with Baptisme and the Lords Suppers, for that they have no visible sign or ceremony ordained by God“. Vgl. ausführlich John Witte: Vom Sakrament zum Vertrag: Ehe, Religion und Recht in der abendländischen Tradition. Gütersloh 2008 (Öffentliche Theologie 15), S. 154–220. 382 Articles, Declaration, nicht paginiert. 383 Ebd. 384 Vgl. Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, S. 217. 385 Vgl. Gunter Wenz: [Art.] Sakramente I. Kirchengeschichtlich. In: TRE 29, S. 663–684, hier S. 670–673.
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gewesen, dass diese als private Angelegenheit ohne die öffentliche Schutzmacht des Königs in ihrer Geltung gar nicht zu halten wäre und gerade deshalb dem König alle Loyalität gebührt.386 Daher ist Fairfax’ falscher Glaube an die unbedingte Geltung der Ehepflicht genauso Chance wie „ungeheure Klippe“ für das Vorhaben seiner Frau. Seine Hilfsbereitschaft ist zwar ihr aufwendiges Zureden auf das richtige Ziel ausgerichtet; sie bleibt jedoch von falschen Überzeugungen getragen und ist damit dem Risiko zu scheitern umso stärker ausgesetzt. So aber muss seine Gattin gerade seine Eheauffassung instrumentalisieren, um auf wenigstens diesem Umwege Charles’ Reinthronisierung in die Tat umzusetzen.
5.4.4 Frühe Machiavelli-Kritik: Hugo Peters profan-pragmatischer Fehlschluss Mrs. Fairfax funktionalisiert zwar die von ihrem Gatten einseitig wahrgenommene Ehepflicht, aber sie führt diese Funktionalisierung auf eine unbedingt geltende Norm zurück, das Divine Right of Kings. Hugo Peter hingegen wird früh als Charakter entlarvt, der sich auf eine ausschließlich pragmatische Entscheidungsund Handlungsfindung verlegt hat. In I,4 verhandelt Peter mit dem Henker Wilhelm Hewlet und dem Obristen Daniel Axtel über Vorsichtsmaßnahmen, die für die Hinrichtung des Königs zu treffen sind. Gryphius verwebt in diesem Dialog Hugo Peters pragmatistische Haltung geschickt mit pseudotheonomen Argumenten: Dem politischen Theologen seiner Zeit jedoch bleibt der Machiavellismus Peters kaum verborgen. So scheint Peter von der göttlich-rechtlichen Legitimität des Königsmordes überzeugt, wenn er Hewlett zubilligt „Gottes Richt-Axt“ zu führen, mehr noch: „Du wirst der Samuel auff unsern Agag seyn“ (GdW 4, I,4, S. 70, v. 254f.). Mit dem Aufrufen von 1. Sam 15 behauptet Hugo Peter nicht nur die göttliche Erlaubnis, sondern darüber hinaus die Pflicht, einen Tyrannen zu stürzen: Samuel wirft Saul vor, den König der Amalekiter Agag gegen Gottes Gebot verschont zu haben.387 Damit spricht Peter die Position monarchomachischer Rechtstheologien aus, dass der Mensch erstens überhaupt Gottes Strafinstrument sein kann und dies zweitens auch als Untertan gegenüber seiner weltlichen Obrigkeit. Genauso wie
386 Zu den historischen Differenzen und Interferenzen von Privatem und Öffentlichem im Rechtsdenken vgl. Frank Grunert: Die Unterscheidung zwischen delictum publicum und delictum privatum in der Spanischen Spätscholastik. In: Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen. Hg. von Hans Schlosser, Rolf Sprandel, Dietmar Willoweit. Köln u.a. 2002 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 5), S. 421–438. 387 1. Sam 15,1–19; vgl. Mannack: Kommentar, S. 1109.
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der Absolutismus lehnen schon die vorabsolutistischen Naturrechtslehren z.B. Melanchthons diese Meinung ab und sehen eine vom Menschen ausgeführte göttliche Bestrafung eines Souveräns lediglich durch andere Souveräne für rechtlich möglich an (4.4.4.2). In gleicher Weise befürwortet auch Gryphius im NachlassSonett XVLVII An einen hchstberhmten Feldherrn / bey Uberreichung des Carl Stuards diese Form eines internationalen Rachefeldzuges, dort wiederum gegen die Independenten (dazu ausführlich 6.6).388 Zudem spricht das Samuelkapitel, das Gryphius Hugo Peter in den Mund legt, tatsächlich eher gegen als für die Independenten. Denn mit Saul ist eben ein König zur Bestrafung eines anderen Königs, Agag, beauftragt.389 Peters Vermessenheit kommt hier bereits auf den ersten ihrer zahlreichen Gipfelpunkte: Auf der einen Seite möchte er Hewlett mit dem Samuel-Vergleich als gleichsam prophetische Gestalt der Geschichte stilisieren. Auf der anderen Seite gibt hier nicht etwa Gott, sondern Hugo Peter dem Henker sein Wissen und Denken vor – ganz entgegen der Bestimmung der Prophetie,390 wie sie auch Luther vertrat: „Ein Prophet wird der genennet, der seinen verstand von Gott hat one mittel“.391 Gryphius akzentuiert mit dieser Figurenzeichnung Peters also gleich dreierlei: Erstens markiert er dessen Hybris gegenüber Gott, dessen Werk er ausführen zu können meint. Zweitens wird Peter eine defizitäre Bibelkenntnis bzw. willkürliche Bibelanwendung zugeschrieben, die ihn diese falsche Auffassung von Legitimität erlangen lässt – und dies als ehemaliger Priester! Drittens führt ihn diese inkonsistente Theologisierung seines monarchomachischen Standpunkts gleichsam notwendig dazu, seine politischen Entscheidungen auf einem vollkommen anderen Fundament zu gründen, nämlich auf rein profanpragmatischen Erwägungen. Dies zeigt sich, wenn Peter in ein und demselben Dialog Hewlett dazu drängt, alle Vorkehrungen zu treffen, damit die Hinrichtung ihren geplanten Gang nimmt. Peters politisch-pragmatische Sorge ist, dass Charles sich zu einem letzten Aufbäumen bewegen könnte, das ihn zwar nicht überleben, aber als fechtender Held sterben ließe (GdW 4, I,4, S. 71, v. 275–283). Charles soll allein durch
388 GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XLVII, S. 118. 389 Selbst als schließlich Samuel Agag in Stücke schlägt (1. Sam 15,33), ist er zum Einen nicht dessen Untertan; zum Anderen ist er als Prophet von generell besonderer göttlicher Berufung. Schließlich ist zu erwägen, dass Samuel, solange Saul bereits nicht mehr (1. Sam 15,26), und David noch nicht König Israels ist (1. Sam 16,13), als Prophet von Gottes Volk ohnehin der einzige ist, der das politische Machtvakuum legitim füllen kann – also zeitweise souverän ist. 390 Vgl. Wassilios Klein: [Art.] Propheten/Prophetie I. Religionsgeschichtlich. In: TRE 27, S. 473– 476, hier S. 473. 391 WA 16, S. 11024f..
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die „Schmach des Beils“ zu Tode kommen (ebd., v. 282), weshalb sie sich dazu entschließen, den König mit Stahlbändern am Richtklotz zu fixieren. Diese Sorge Peters ist im Grunde schon hinsichtlich des Weltbildes der Independenten selbst eigenartig: Schließlich gehen sie auf Grund ihrer bisherigen Erfolge eigentlich davon aus, dass Gott ihren Erfolg unterstützt (siehe 5.4.2). Prospektiv wollen sie sich auf diese mutmaßliche oberste Unterstützung allerdings nicht verlassen. Indem sich Charles I. auf Gottes Ratschluss verlässt, Hugo Peter hingegen nicht, realisiert sich ein entscheidender Unterschied zwischen dem König und Peter. Peter bedenkt nämlich vor allem nicht, dass Charles in seiner demütigen, Christus-ähnlichen Haltung392 (V,3) jenes Aufbäumen nicht im Geringsten versuchen wird. Seine Duldungshaltung wird ebenso wenig seine Wirkung als Märtyrer und Held schmälern (ebd., V,3, S. 137, v. 462, 467, 472–474). Hugo Peters Befürchtung ist kaum übersehbar einer profanen Thymotik geschuldet, einer vor allem von Xenophon auf Machiavelli überkommenen Ruhmesethik: Diese schaut auf die Wirkung vermehrt immanenter, aktiver Tugend (siehe 4.1)393 und lässt dabei die Wirkmacht eines duldenden, christologisch präfigurierten Verhaltens außer Acht, das fern jeder aktiven Handlung auf die Transzendenz verweist.394 Peter unterschätzt nichts Anderes als die Wirkung einer christlichen constantia, die auf Gottes Ratschluss vertraut. Dies konterkariert abermals seine vormalige Berufung auf die Gottesinstanz und entlarvt sie als inkonsistent und verlogen. Im Gegenteil besteht Hugo Peters folgenreicher Irrtum darin, seine pragmatistische Haltung dergestalt zu verallgemeinern, dass er sie auch seinem politischen Gegner unterstellt. Dieser jedoch wird eben nicht unter dem Kalkül eines säkularen Prudentismus handeln, sondern wird entscheidende Entschluss- und Wirkungsmomente Gott und seinem Glauben an ihn anheimstellen. Machiavelli selbst hätte Peters Fehlschluss übrigens zu vermeiden gewusst, ist er sich doch der eminenten Wirkung religiöser Überzeugungen im Volk voll bewusst:395 Wegen ihrer gewohnheitsethischen Habitualisierung darf Religion auch prudentiell
392 Eine gute Übersicht der Parallelen findet sich bei Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, hier S. 239–244. 393 Vgl. Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 57–124. 394 Tatsächlich bescheinigt der Kirchenhistoriker Stephen Neill den historischen Puritanern des siebzehnten Jahrhundert solche Fehleinschätzungen. Die Feinde William Lauds, so formuliert Neill knapp, „could not learn that it does not do to make martyrs“. (Neill: Anglicanism, S. 155). 395 Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, I,11–15, S. 43–58; vgl. Saracino: Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli, S. 345.
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nicht missachtet werden.396 Insofern könnte man Gryphius hier unterstellen, dass er Hugo Peter sogar als unsauberen Machiavellisten verspotten möchte: Nicht einmal seinen Pragmatismus vermag der Meinungsmacher der Independenten angemessen zu reflektieren – wie also sollen sie langfristigen Erfolg haben! Nicht nur mit Blick auf das in 4.4 Entwickelte wird deutlich, dass Gryphius im Carolus Stuardus eine profunde Widerlegung des profanen Pragmatismus entwickelt. Schließlich werden dem Leser sowohl schon im Epitaph als auch dramenintern, in Polehs Vision (V,2) die künftige symbolische Hinrichtung Cromwells, Henry Iretons und John Bradshaws 1661 vorgestellt. Darüber hinaus wird die Krönung Charles’ II. als Reinstitution durch den „gerechten Gott“ in Erinnerung gerufen und diese damit Teil des dramatischen Argumentum (ebd., V,2, S. 131f., v. 232– 236). Wie daher im Folgenden zu zeigen ist (5.4.5), erschöpft sich der schlussendliche Erfolg der Royalisten nicht allein in Charles’ postfiguraler Christus-Pose. Es ist die qua Obligation gewiss eintretende Strafe Gottes gegen die Königsmörder. Nicht nur die monarchomachische Initiative der Independenten ist am Ende des Trauerspiels der große Verlierer, sondern auch die machiavellische Politica.
5.4.5 Fragen zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Prospektive und Spekulation Bestimmte Aspekte der politisch-theologischen Diskussion kehren zwar immer wieder; dennoch werden sie so gut wie nie redundant, sondern wiederholt in verschiedenem Licht betrachtet. Dies gilt auch für die erneute Frage, inwiefern sich das göttliche Recht und die Gottesinstanz untergeordnete Rechte zum Mittel machen. In Mrs. Fairfax’ Instrumentalisierung der Ehepflicht wurde dies bereits anhand der Funktionalisierung eines untergeordneten Rechts gezeigt.
396 Vgl. John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975, S. 192. Pocock benennt diese Bedeutung der Religion für die bürgerliche Tugend, übersieht jedoch m.E. die Indifferenz der Konfessionsfrage: Die Frage einer nicht nur gewohnten, sondern auch für sich wahren Religion bleibt hinsichtlich der politischen Stabilitätsfrage irrelevant.
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5.4.5.1 Unrecht als Mittel göttlicher Strafe gegen den König? Der Chor der ermordeten englischen Könige stellt in I,5 diese Frage mit großem Nachdruck: Ihm geht es um die göttliche Funktionalisierung von Unrecht. In einer verzweifelt vorgetragenen Beschreibung werden die momentanen Zustände im I. Chor resümiert (ebd. I,5, S. 72, v. 305–312), woraufhin der Gegen-Chor England (Albion) nach den Ursachen befragt, die es zu diesen Zuständen haben kommen lassen (ebd., v. 313–320). Schließlich wird auch das politische Risiko angesprochen, das die Könige in der Ermordung Ihresgleichen sehen: „Machst du mit einem tollen Streiche / Dich selbst zu einer todten Leiche?“ (ebd., v. 315f.). Diese Überzeugung, dass ein Land ohne seinen einzig legitimen Herrscher zu leben gar nicht in der Lage ist, findet ihre Entsprechung wie auch ihre Steigerung im I. Abgesang, dem II. Chor und II. Gegenchor (ebd., S. 72f., v. 321–340). Eine mögliche Lösung der festgefahrenen Krise wird nur noch in Gottes Eingreifen gesehen. Dass dieser offensichtlich „schlummert“, bildet das zu diskutierende Problem (ebd., S. 72, v. 324). Gottes Zögern wird nicht allein der Freiwilligkeit seines göttlichen Wesens zugeschrieben, sondern es wird auch eingeräumt, dass Charles „gefrevelt“ hat (ebd., v. 325). Zudem teilen die toten Monarchen sogar die Auffassung, dass Gott „Mittel da und hir“ hat, sein „Recht / das ewig Recht muß zihren / Durch Menschen Unrecht auszuführen“ (ebd., v. 326–328). Genauso wie sich Gott „da“, d.h. in der jenseitigen Hölle, zum Zweck seiner Strafe teuflischer Wesen bedient (siehe 4.4.3), so straft Gott auch im Diesseits mitunter durch das eigentlich unrechte Tun Dritter. Diese Überlegung findet sich wie gezeigt bereits bei Henning Arnisaeus (4.1.2.5) und kollidiert in extremo mit der ciceronischen Überzeugung, dass nur das Gute Mittel des Guten, das Schlechte hingegen nur Mittel des Schlechten sein kann (siehe 1 und 4.1). Gryphius stellt die in der Tat nicht wenig ungeheure Frage, was göttliches Recht, mithin was Gott darf. So problematisch diese Frage auch ist, so wird sie dennoch ebenso zügig entproblematisiert, wie sie artikuliert wurde. Denn der Chor bezweifelt nicht nur eine aktive Schuld Charles’ I., „dessen hchste Schuld / kein ander / als zu vil Geduld“ gewesen sei (ebd., S. 73, v. 337f.). Er zieht auch den politisch wie strafrechtlichen Sinn einer absichtsvollen Bestrafung von Souveränen durch eigentlich unrechtmäßige Menschen in Zweifel: „Wird aber das verkehrte Recht / Erquickt durch seines Knigs Leich?“ (ebd., S. 72, v. 329f.). In Ansätzen findet sich hier durchaus eine Haltung wieder, wie sie bei Molina zu finden war (4.1.4): Die Ermordung eines in exercitio auch noch so frevelhaften oder gar tyrannischen Fürsten ist für das bonum commune immer noch die schlechtere Alternative: Daher ist sie vor dem göttlichen Recht illegitim. Beantwortet wird die im Voluntarismus ohnehin hinfällige Frage, was Gott zu tun erlaubt wäre, also mit der Feststellung, dass Gott diese seinem absolut freien Willen entspringende Befugnis ohnehin nicht exhaustiv nutzt. Seinen Zielpunkt erreicht der Chor daher in einer ersten Vision:
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Statt einer göttlichen Legitimation des Königsmordes werden hier Strafen gegen das „[v]erblendet Brittenland“ visioniert (ebd., S. 73, v. 342), – zwar in abstrakterer Weise als später durch Poleh, aber es werden bereits unmissverständlich die Momente der göttlichen Strafe durch Seuchen (ebd., v. 355) und durch die subsidiäre Strafgewalt anderer Souveräne angesprochen (ebd., v. 357–359).
5.4.5.2 Gottesgnadentum, Innatismuskritik und alte Anthropologie: Momente der Demokratiefeindlichkeit Eine weitere Vision in der folgenden Szene II,1 erfolgt unter nochmals veränderten Vorzeichen der Fragestellung. Der Geist Thomas Wentworts Graf von Strafford äußert die bekannte Sorge um die Folgen, die das Reich zu ertragen hätte (ebd., II,1, S. 74, v. 6–8). Die Frage, die sich dem ehemaligen königlichen Statthalter in Irland dabei besonders stellt, lautet, ob Gott den Untergang des Landes tatsächlich anstrebt: „Heißt du Britannien in eignem Blut vergehn?“ (ebd., v. 8). Der Gedanke einer radikalen mutatio civitatum, wie er sich etwa bei Christoph Besold (4.1.2.6) und Jean de Chokier (4.2.1) findet, erfährt hier seinen Niederschlag. Gleichwohl er ernst genommen wird, wird dieser Gedanke dennoch deutlich kritisiert. Anders nämlich als Mrs. Fairfax sieht Strafford die Schuld nicht allein bei den Independenten, sondern auch beim Volk, bei der „Schar / Des auf mein mdes Haubt aus Rach erhitzten Pvels“ (ebd., S. 74, v. 20f., und S. 76, v. 77–100). Dies betrifft die allgemeine politische Krise genauso wie seinen eigenen Fall, nämlich die erzwungene Hinrichtung Straffords im Jahr 1641. Diese wurde zwar vor allem vom Langen Parlament erzwungen, aber nicht nur Strafford, sondern auch Laud bezeichnet das „bewegte Volk“ als Träger der Revolution (ebd., S. 75, v. 37). Ohne Zweifel übernimmt Gryphius vor allem aus dem Εἰκὼν βασιλικὴ eine „Fehlbeurteilung der historischen Ursachen des englischen Bürgerkrieges“,397 insofern nicht Charles gegen die Rechte der Adligen verstoßen hätte, sondern umgekehrt diese das Volk gegen den König aufgehetzt hätten.398 Von größerem Interesse ist aber der juridische und juristische Diskurs, in den William Laud das Gespräch nunmehr überführt: […] O Wentwort! Blum der Helden / Mit dessen Blut das Recht beschriben / Daß die gewndschte Ruh aus Albion vertriben?
397 Günter Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Carolus Stuardus‘. Studien zur Entstehung eines historisch-politischen Märtyrerdramas der Barockzeit. Tübingen 1984 (Studien zur Deutschen Literatur 79), S. 140. 398 Ebd., S. 139.
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Dein Klger muste selbst von deiner Unschuld melden / Als das bewegte Volck nach deinem Leben rang / Vnd dem gekrnten Haubt dein Haubt abrang. (GdW 4, II,1, S. 75, v. 33–38)
Hier findet sich einmal der juridische Vorwurf an die Independenten, ein Recht etabliert zu haben, das dem vorzüglichen Telos weltlicher Gesetzgebung gerade entgegensteht, nämlich der Herstellung und Gewährleistung des Friedens.399 Blickt man auf die Unwirtlichkeit des Naturzustandes des Menschen nach dem Sündenfall (siehe 4.3.4.3), erweist sich ein solches friedensfeindliches ‚Recht‘ schlechterdings als unsinnig, denn es stellt keine Alternative zum Naturzustand dar. Ferner findet sich ein andermal der juristische Einwand gegen die Verurteilung Straffords: Seine Schuld konnte seinerzeit nicht bewiesen werden, im Gegenteil wurde vom Oberhaus sogar seine Unschuld festgestellt. Dennoch fand eine Verurteilung und Hinrichtung durch das Unterhaus statt. Damit handelt es sich nicht mehr um ein juristisches, sondern um ein politisches Urteil. Dass dies möglich war, schreibt Laud vor allem einem Umstand zu: Charles I. beugte sich dem Druck des „Pvels“ und unterschrieb das Todesurteil. Der König verhielt sich also de facto schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr souverän. Der Ausnahmezustand war schon eingetreten, als Charles I. noch formell auf dem Thron saß. „Als bey noch festem Thron der Donner dich [sc. Strafford] getroffen“ hat (ebd., v. 40), war der Thron eben alles andere als noch fest. Aus der Figurenrede Lauds spricht Verwunderung, aus der Feder des politischen Gelehrten Gryphius strotzt dieser Vers von zynischer Ironie. Obwohl man von einem Geist im Drama eine natürlich privilegierte Erkenntnisposition erwarten möchte,400 ähnlich dem logisch privilegierten Status des auktorialen Erzähler im Roman,401 hat auch Strafford die politische Situation des Jahres 1641 an dieser Stelle noch immer nicht erfasst: „Wer sich auff Zepter sttzt und traut der Frsten Schweren; / Flt / leider! gleich als ich“ (ebd., S. 75, v. 41f.). Der König war der Macht schon beraubt, die es ihm erlaubt hätte, sein „Schweren“ auch gegen erheblichen Widerstand durchzusetzen.
399 Vgl. hierzu alle einschlägigen Rechtstheologien allein seit dem Mittelalter, und zwar sowohl rationalistischer als auch voluntaristischer Färbung: Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 263f., 316, 324, 359, 373, 390, 410. 400 Manfred Pfister reflektiert in seinem dramentheoretischen Großwerk allerdings nicht genau diese Relation der interfiguralen Informationsvergabe: Pfister: Das Drama, S. 67–148, besonders S. 112–121; expositiven, quasi privilegierten Informationsstatus billigt Pfister nur „spielexternen Figuren“ zu (S. 130) und auch im Hinblick auf die Figurenkonstellationen kommt Pfister nicht auf Geister zu sprechen, die zwar spielinterne, aber dennoch innerdiegetisch außerweltliche Figuren sind (S. 220–264). 401 Vgl. Martinez, Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 96.
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Gryphius inszeniert hier das Staunen über eine Erkenntnis, die er einerseits den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, andererseits der Lektüre Machiavellis, vielleicht auch der Thomas Hobbes’ entnommen hat: Herrschaftliche Macht ist auf Gewalt als ihre Realisierungsbedingung angewiesen. Strafford gesteht diesen systematischen wie historischen Fakt schließlich ein, wenn er Charles I. zubilligt, ihn nicht absichtlich zum Tode verurteilt zu haben (ebd., v. 45–49); vielmehr sei der König selbst „an Ehr und Macht verletzt“ worden (ebd., v. 51 [Hervorhebung O.B.]). Laud setzt den Zustand politischer Unordnung mit der Wolfsmetapher ins Bild, wobei man Anklänge an Hobbes vermuten mag: „Die Herde geht zustreu’t und irr’t in hchster Noth; / Wie wenn der Wolff einreist / und Hirt und Wchter tod“ (ebd., S. 76, v. 99f.). Der wesentliche Unterschied zu Hobbes zeigt sich allerdings darin, dass mit dem Wolf hier allein die Independenten angesprochen sind; die Schafe jedoch sind andere, nämlich das Volk. Der Wolfsvergleich beschreibt hier vermehrt eine unilaterale Asymmetrie der realen politischen Machtverhältnisse. Hobbes hingegen behauptet in seiner Rechtstheorie den notwendigen Status eines jeden Menschen als Wolf den anderen gegenüber, also gerade die bilaterale Symmetrie allseitiger Schadensfähigkeit: Profecto utrumque verè dictum est, Homo homini Deus, & Homo homini Lupus. Illud si concives inter se; Hoc, si civitates comparemus. Illic justitia & charitate, virtutibus pacis, ad similitudinem Dei acceditur; Hic propter malorum pravitatem, recurrendum etiam bonis est, si se tueri volunt, ad virtutes Bellicas vim & dolum, id est, ad ferinam rapacitatem.402
Laud und Strafford diskursivieren allemal eine Befürchtung, die Hobbes als naturstandstheoretische Tatsache hervorhebt: Unter Wegfall der staatlichen Ordnung könnten nur Gewalt und List persönliche Ansprüche kurzfristig realisieren. Damit würde jedoch langfristig in einen allseits zerstörerischen Krieg aller gegen alle eingetreten werden. Dennoch wollen auch Laud und Strafford die machiavellisch-hobbesianische These von der Identität politischer Macht und persönlicher Gewalt nur eingeschränkt gelten lassen; sie wollen das retten, was in ihren Augen für einen legitimen Machtanspruch an personenunabhängigem, transzendentem ‚Überschuss‘ bleiben muss: Über die persönliche Wehrhaftigkeit hinaus muss ein Herrscher auch die göttliche Legitimation innehaben, die sich allein in Gottes Willen und nicht in des Menschen individueller Ausstattung findet und sich daher im Zweifelsfall allein in Gottes Intervention realisiert. In diesem Sinne wird die Herstellung der concordia juris Gott anheimgestellt: „Mein Urtheil / daß die Welt / ich weiß nicht wie gefllet / Wird Gott noch ber-
402 Hobbes: De Cive, Epistola Dedicatoria, f. *3v–*4r; auch ders.: Vom Menschen / Vom Bürger, S. 59.
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sehen / dem sey es heimgestellet / Ich rhr es weiter nicht“ (GdW 4, II,1, S. 75, v. 57–59). Damit bekräftigt Strafford die Geltung des ius divinum als Rechtsquelle: Es erlaubt die Revision („bersehen“) von Urteilen des menschlichen Gesetzes. Dass dieser Gott eben nicht auf Seiten des „Pvels“ steht, nehmen Strafford wie auch Laud mit Blick auf dessen mangelnde Fähigkeiten an: Ein „allzeit-blindes Volck“ kann schlicht nicht in der Lage und daher nicht legitimiert sein, zu herrschen und zu urteilen. Es hält die Form ordentlichen Gerichts nicht ein, missachtet Unschuldsbeweise und fragt gar „nach keinem Grund / was er betheuren kann / Gilt nichts!“ (ebd., S. 76, v. 75 –77). Ebensowenig versteht das Volk offensichtlich Wesen und Gestalt des göttlichen Rechts, wenn es einerseits „meint es habe Recht und Sache wol beschickt“ (ebd., v. 79) und andererseits schon die gerichtliche Ordnung übergeht. Seine willkürlichen Urteile unterminieren den Unterschied von geistlichem und weltlichem Regiment, wenn es Menschen als Ketzer und Verräter gleichermaßen verurteilt (ebd., S. 75, v. 64): Mit der Hinrichtung eines Geistlichen wie Laud wird „[d]er Kirchen Recht verletzt“ (ebd., S. 76, v. 90). Das lange Parlament hatte das anglikanische Kirchenrecht außer Kraft gesetzt, das Bischofsamt abgeschafft und eine presbyterianische Kirchenordnung eingeführt,403 ohne hierfür gemäß der königlich-kirchenherrlichen Idee überhaupt die Befugnis zu besitzen. In dieser Weise integriert Gryphius in sein Drama eine deutliche Demokratiekritik, die er besonders in seinen Anmerkungen zur Quelle Εἰκὼν βασιλικὴ kaum verhehlt: Besihe des Knig Carols Gedancken in Icone Basilic. C. IV. von dem Geschrey des Volckes in Londen / schrecklich war es anzusehen und zu hren / daß sich die Lehrbuben der Handwercks Leute und derogleichen junge Rotten mit vil tausenden zusammen gegeben / und mit grossem abscheulichen Geschrey bald vor dem Parlaments Hause / bald vor dem Kniglichen Pallast dises und jenes mutwilligst begehren drfften / worzu sie denn von vilen angetriben worden. (GdW 4, Kurtze Anmerckungen ber Carolum, S. 142)
Die nicht einvernehmlich dem König selbst als Autor zugeschriebene Verteidigungsschrift404 findet in dem von Gryphius genannten Kapitel noch deutlichere Worte: „[I]nter Dei præscriptum & impotentes hominum affectus rara admodum concordia est“.405 Die Fähigkeiten der Menschen, Gottes Vorschriften und Gesetze
403 Vgl. Owen Chadwick: [Art.] Kirche von England. In: TRE 18, S. 344–354, hier S. 349f. 404 Vgl. Mannack: Kommentar, S. 1086. 405 [Charles I.?]: Εἰκὼν βασιλικὴ, vel Imago Regis Caroli. In illis suis Ærumnis et Solitudine. Den Haag 1649, S. 17; vgl. Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Carolus Stuardus‘, S. 129.
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einzuhalten, sind natürlicher Weise eingeschränkt. Mit Blick auf den theologischen Voluntarismus sowie die postlapsare Defizienz des menschlichen ingenium ist diese Aussage für sich nichts Neues, besonders nicht für den Lutheraner.406 Bemerkenswert wird diese Haltung erst dadurch, dass weder das Εἰκὼν βασιλικὴ noch II,1 sie in der Tat verallgemeinern. Die beiden Geister Laud und Strafford unterstellen dem Volk zwar Unfähigkeit zur Gerechtigkeit, nicht aber etwa dem König oder sich selbst. „Eine Übereinstimmung zwischen Gottes Vorschrift und den ohnmächtigen Affekten der Menschen sind selten“, – aber sie kommt vor, nämlich offensichtlich in der akzidentiellen Bevorzugung Einzelner zur gesetzlichen Vertreterschaft gegenüber Gott. Letztlich also läuft an dieser Stelle Gryphius’ Staatsrechtsdenken auf eine anti-egalitäre Anthropologie hinaus. Während etwa Francisco Suárez versucht hatte, den indifferenten Naturzustand mit der Idee des Gottesgnadentums dadurch zu vermitteln, dass die Person des Herrschers unter Gleichen vom Volk gewählt wird (Kontraktualismus), aber das Amt von Gott geschützt und Widerstand daher verboten ist (Theonomie),407 wird hier auf einen aristotelischen Herrscher-Knecht-Dualismus zurückverwiesen. Die anthropologische Bevorzugung scheint sich jedoch auf Rechtsverständnis und allgemeine Organisationsfähigkeit zu beschränken. Sie realisiert sich jedoch gerade nicht in einer ebenso schon natürlich gegebenen physischen Stärke. Auf diesem Spannungsverhältnis ruht in den Augen des Trauerspiels das Dilemma der Royalisten auf: Sie haben das Recht auf ihrer Seite, aber nicht die Gewalt – die Independenten hingegen besitzen die Gewalt, nicht aber das Recht. Gryphius geht jedoch noch weiter: Wie sich nämlich anhand der Kontexte in 4.4.4–4.4.6 abzeichnete, kann Gryphius das mangelnde Verständnis der Masse für die fundamentalen Rechte nur behaupten, wenn vom Innatismus grundsätzlich abgerückt wird. In seinen Anmerkungen sieht Gryphius den tieferen Grund für die Unrechtstaten der Independenten in ihrem funktionsuntüchtigen Gewissen. Ihre doppelte Illegitimität kehrt er dabei in einem Wortwitz hervor: „Man sihet hir auff die so genennete Independentes, welche wir Freysinnige oder Ungebundene nennen / eigentlich heissen es solche Leute / welche in Gewissens Sachen auff nimandes ihr Absehen haben“ (GdW 4, Anmerckungen, S. 142). Da das Gewissen eigentlich das forum Dei ist (siehe 4.1.2.1), haben sich die Independenten von nichts weniger als von Gottes Gesetz abgewandt, und dies offensichtlich, ohne dass sie nun an Gewissensqual leiden. Die Korruptibilität des menschlichen Gewissens war im Epitaph schon thematisiert worden (5.4.2). Das Trauerspiel drängt damit zu einer Lösung im forum externum. In keinem seiner politischen Trauerspiele
406 Vgl. Lohse: Luthers Theologie, S. 289–292. 407 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III), S. 198–200.
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rückt Gryphius so weit von der innatistischen Idee ab und macht die Offenbarungsnotwendigkeit göttlichen Rechts so stark wie in der zweiten Fassung des Carolus Stuardus. Wie schon in I,5 und II,1 wird auch hier nach dem Mittel und der Verhältnismäßigkeit der göttlichen Strafe im forum externum befragt. Mit Blick auf die so breite Zustimmung der Unrechtsherrschaft der Independenten befürchtet Laud Naturkatastrophen, sieht Bürgerkrieg über Albion hereinbrechen (ebd., II,1, S. 77, v. 123–128) und schließt vorläufig mit den schon bekannten Versen: Weh Albion! Weh Engelland! Weh! Weh! Die Straffe wacht sie brennt auff kalter See! O seelig wer die Tage nicht erreicht! O seelig wer vor disem Sturm erbleicht! O besser durch ein Beil den kurtzen Rest beschlossen! O besser vor der Angst die Handvoll Bluts vergossen! Die Straffe selbst steigt von des Himmels Hh Weh Albion! O Engelland Weh! Weh! (ebd., v. 133–140)
Es sind dies die Verse, mit denen die erste Fassung des Carolus Stuardus diese Szene noch hat enden lassen. Dort waren sie noch Vision und Ankündigung einer göttlichen Strafe, unter der ganz England würde zu leiden haben (5.4.1). In der zweiten Fassung drücken diese Verse nurmehr eine Befürchtung aus. Ihr wird schließlich mit der eigentlichen Vision begegnet. Strafford nämlich ruft Gottes Hilfe an, und zwar eine Hilfe, die nicht das gesamte Reich untergehen lässt (ebd., S. 78, v. 141),408 und Laud visioniert den künftigen Lauf der Geschichte, wie er gegen die Independenten ausfällt: Fairfax legt sein Amt als Heerführer nieder (ebd., v. 144), das Cromwell anschließend nur ungenügend ausfüllen kann. Dieser vererbt den Status als Lordprotector an seinen „nicht gleich gesinnten Sohne“ (ebd., v. 146). Hier kommt nochmals die Überzeugung zum Tragen, dass das Gottesgnadentum nicht nur ein Recht verleiht, sondern auch besondere Fähigkeiten zur politischen Führung. Die Usurpation muss also in ihren Misserfolg münden, denn physische Zwangsgewalt ist eben nicht notwendige und hinreichende Bedingung der Macht: „Das Ansehn mit der Macht des Land-Zwangs ist verschwundē“ (ebd., v. 150). Sie kann es deshalb nicht sein, weil Gott ihr seine notwendig überlegene Gewalt entgegensetzt (ebd., v. 149 und v. 151). Deutlicher als der Chor der ermordeten englischen Könige sehen Laud und Strafford schon die Exhumierung und symbolische Hinrichtung Cromwells 1661: „Der Wtterich verleurt sein ausgezihrtes Grab. / Da henckt sein richend Aaß“ (ebd., v. 152f.).
408 „Hilff Gott, ists nicht genung an den so schweren Schlgen!“
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Ebenso sehen sie schon die Wiedereinsetzung der Stuarts – „Stuards Nachlaß blht“ – und artikulieren unmissverständlich, wem dieser historische Ratschluss zuzuschreiben ist: „Herr wer erkeñet nicht / Wie recht dein Vrtheil sey! wie heilig dein Gericht?“ (ebd., v. 159f.). Vorausschau ist diese Vision allein dramenintern: Was sie als künftig ankündigt, ist dem Leser bzw. Zuschauer in der werkexternen Rückschau bereits als historischer Fakt bekannt. Insofern versichert sich das Trauerspiel der Erwartung Lauds, Straffords und der ermordeten Könige durch den tatsächlichen Charakter einer Gewissheit. Dies durch das Zusammenfallen fiktiver Prospektive und faktischer Retrospektive leisten zu können, darf als eine der hervorragenden Stärken des historischen Dramas gelten – mit besonderen Folgen auch für Gryphius’ rechtstheologische Aussage (3.3.7): Indem die Vision ein „Verlassen der raumzeitlichen Deixis der Situation“409 erlaubt, vollzieht sie dramatisch die Vergegenwärtigung eines künftigen Fakts und damit die identifikative Zuspitzung des Möglichen zum Wirklichen. Theologisch vollzieht sie die Vergewisserung einer Normgeltung und damit die Prävalenz des Sollens gegenüber dem Sein. Mit der Vision des Richters Poleh (V,2) wird Gryphius dies noch erhärten. Diese Vision wird weder mehr über die Gestalt der göttlichen Strafe spekulieren noch sich auf Figurenrede beschränken, wenn Gryphius die Zukunft auf die Bühne kommen lässt (5.4.8).
5.4.6 „Sie rasen mit Vernunfft“ – Gryphius’ Kritik an Grotius Die Rechtstheologie des Trauerspiels bedingt eine bestimmte Rechtsmetaphysik. U.a. weil Carolus Stuardus auch diese dramatisch reflektiert, darf das letzte politische Trauerspiel des Andreas Gryphius als sein reifstes gelten. Das Verdikt Maria Stuarts wider die Independenten führt den ersten von zwei entscheidenden Hinweisen zu einer solchen Rechtsmetaphysik des Trauerspiels an: Sie rasen mit Vernunfft / sie setzen Richter ein Es muß ihr Doppelmord durch Recht beschönet seyn. Der / der dem Printzen schwur / spricht wider Carols Leben / Den Carol vor erhub / hilfft ihn vom Thron abheben. (GdW 4, II,2, S. 80, v. 231f.)
Hier wird das Handeln der Independenten als Ausdruck und Folge eines ganz bestimmten Missverhältnisses diagnostiziert, nämlich des ‚Rasens mit Vernunft‘. Gryphius übernimmt hier ein zeitgenössisch populäres Zitat aus Terenz’ Eunuchus: Parmeno verweist dort auf die wesentliche Irrationalität der Liebe; das Ansin-
409 So Pfister zur Episierung durch spielinterne Figuren: Pfister: Das Drama, S. 118.
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nen seines Herrn Phaedria, „das Ungewisse durch Vernunft zu einem Gewissen zu machen“, ist folglich haltlos. Die Entscheidung über Liebe oder Hass ist ebenso wie die über Krieg und Frieden nicht rationalisierbar; der Versuch, sie zu verstehen, ist mithin ein solches ratione insanire.410 In den Diskurs der Jurisprudenz wurde dieses Zitat allerdings erst prominent durch Hugo Grotius in den Prolegomena seines De Jure Belli ac Pacis eingeführt. Grotius kehrt das metaphorische Verweisverhältnis von Eigentlichem und Uneigentlichem um: Er referiert die unter Gelehrten und Laien verbreitete Ansicht, der Zustand jenseits der staatlichen Ordnung, der Natur- oder vielmehr Kriegszustand sei wesentlich irrational, ungeordnet und damit selbst nicht rechtsförmig. Mithilfe des Terenz-Zitats illustriert Grotius diese Ansicht der Gegner seines Vorhabens, ein transhumanes Recht zu erschließen: Est autem non vulgi tantum hæc opinio, bellum ab omni jure abesse longissime, sed & viris doctis ac prudentibus sæpe dicta excidunt quæ talem opinionem foveant. […] Qui ita sentient, dubium non est quin opposituri sint nobis illud ex Comœdia: Incerta hæc sit ut postules [/] Ratione certa facere, nihilo plus agas, [/] Quam si des operam, ut cum ratione insanias.411
Der Irrtum seiner Kontrahenten liegt für Grotius in ihrer Annahme, der außerstaatliche Zustand unterläge keinen ihm wesentlichen Gesetzmäßigkeiten, die gewisse Schlüsse über ihn erlauben („certa facere“), und sei damit nicht rechtsförmig, mithin nicht vernünftig. Diesen Irrtum zu widerlegen, bestimmt Grotius’ bekannten Traktat. Das Naturrecht ist mit Vernunftmitteln erschließbar. Anders, als die Geschichtsschreibung seit Pufendorf häufig meint, hat zwar auch bei Grotius der Verpflichtungscharakter des ius naturae nicht ebenso seinen Grund in der Vernunft, sondern in der Gottesinstanz, die dieses transhumane Recht als vernünftig erschließbares stiftet:412 Gleichwohl ist auch dies Grotius’ eigener
410 Publius Terentius Afer: Eunuchus. Ed. by John Barsby. Cambridge 1999, I,1 S. 36f., v. 59–63: „in amore haec omnia insunt uitia: iniuriae, / suspiciones, inimicitiae, indutiae, / bellum, pax rursum. incerta haec si tu postules / ratione certa facere, nihilo plus agas / quam si des operam ut cum ratione insanias.“ 411 Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena f. 1f. [nicht paginiert; Hervorhebung im Text]. 412 Der Irrtum der Rechts- und Rechtsphilosophiegeschichte von der umfassenden Profanität des grotianischen Naturrechts wurde bereits von Gerald Hartung und Bernd Ludwig einleuchtend widerlegt: Hartung: Die Naturrechtsdebatte, S. 57; Bernd Ludwig: Auf dem Wege zu einer säkularen Moralwissenschaft: Von Hugo Grotius’ De Jure Belli ac Pacis zu Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 3–31. Er wird allerdings nach wie vor rezipiert: vgl. z.B.: Andreas H. Aure: Der säkularisierte und subjektivierte Naturrechtsbegriff bei Hugo Grotius. In: Forum Historiae Iuris. Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte (2008) [http://www.forhistiur.de/zitat/0802aure.htm, aufgerufen am 10. März 2014]; anstelle einer Paginierung Absätze durchnummeriert].
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Anspruch, wenn er selbenorts erklärt, sein Naturrecht gelte auch für den Fall, „dass es keinen Gott gebe, oder dass er sich um die menschlichen Dinge nicht sorge“.413 Im hiesigen Zusammenhang hat es weniger um die objektive Frage selbst zu gehen, inwiefern Grotius den Beweis dessen tatsächlich schuldig bleibt und den wesentlichen Vernunftgrund sowohl von Rechtsbestimmung als auch von Rechtsgeltung nur behauptet – so kommentierte bereits Johann Heinrich Boecler diese Textstelle (4.2.4.2).414 Hier geht es um Gryphius’ Kritik am Anspruch des grotianischen Naturrechts allein: Wie gesehen besteht auch Gryphius auf der Existenz eines vor- und überstaatlichen, im allgemeinen transhumanen Gesetzes und lehnt die kategorische Leugnung eines solchen ebenso wie Grotius ab: Der Natur-, der Kriegs-, allgemein der Ausnahmezustand und das politische Handeln in ihnen stehen nicht jenseits von Gut und Böse und auch nicht jenseits von Recht und Unrecht. Wenn allerdings die royalistische Position, verkörpert im Geist Maria Stuarts, sich nicht gegen das Verdikt des ratione insanire verteidigt wie Grotius, sondern es dem Gegner zuschreibt, vollzieht sich eine entscheidende, nämlich voluntaristische Verschiebung des Geltungsanspruchs und des Geltungsursprungs des transhumanen Rechts. Dabei ist entscheidend, das genaue Moment des Voluntarismus’ im vorliegenden Rechtsdenken zu vergegenwärtigen. Es darf nicht übereilt gefolgert werden, das gryphsche Trauerspiel rede einer Beliebigkeitswillkür der Gottesinstanz das Wort. Schon das scotistische wie ockhamistische Rechtsdenken war von diesem vereinfachten Begriff der voluntas Dei befreit.415 Die Königspartei im Carolus Stu-
413 Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena f. 3: „Et hæc quidem quæ jam diximus, locum aliquem haberent etiamsi daremus […] non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana.“ 414 Die Behauptung führt an bezeichneter Stelle besonders dadurch auf eine zirkuläre Argumentation hin, dass die eben behauptete Vernünftigkeit des Naturrechts mit ihrer – wiederum nur behaupteten – Vernünftigkeit bewiesen werden soll: ebd.: „nobis partim ratio, partim traditio perpetua, inserverint, confirment vero & argumenta multa & miracula ab omnibus sæculis testata“. Gerade an geltungstheoretischer Stelle, wenn Grotius nämlich die Frage behandelt, ob „ein von der Macht befreites Recht etwa aller Wirkung entbehre“, führt er den hier bereits erläuterten Gewissensbegriff ein und sieht unzweideutig die Strafbewehrtheit der natürlichen Gesetze bei Gott: ebd., Prolegomena f. 6: „Neque tamen quamvis à vi destitutum jus omni caret effectu, nam justitia securitatem affert conscientiæ, injustitia tormenta ac laniatus quales in tyrannorum pectoribus describit Plato: justitiam probat, injustitiam damnat proborum consensus: quodvero maximum est, hæc Deum inimicum, illa faventem habet, qui judicia sua ita post hanc vitam reservat, ut sæpe eorum vim etiam in hac vita repræsentet; quod multis exemplis historiæ docent“. In persona Robert Sandersons pochte auch das siebzehnte Jahrhundert selbst auf den theologischen Charakter der Obligationstheorien, die auf die conscientia rekurrieren: vgl. Hartung: Die Naturrechtsdebatte, S. 74f. 415 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 306: „[A]uch Kontin-
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ardus leugnet ebensowenig Existenz und Geltung einer transhumanen Gesetzesordnung, sondern beruft sich vielmehr selbst auf diese. Die Ordnung dieses universalen Rechts wird ebenso anerkannt wie ihre wesentlichen Intelligibilität, d.h. dass sie mit Vernunftmitteln erschlossen werden kann. Dies erklärt auch Marias positives Urteil über einen Vernunftgebrauch, der sich in den Grenzen von Geboten bewegt, die die Vernunft eben nicht selbst setzt: Hier rufft was nichts versteht und nichts verstehen kann / […] Wo jemand hren kann / Wo jemand mit Vernunfft / diß Stck will berlegen: Der denck ihm etwas nach! kan Recht ein Urtheil hegen Wenn thrichte Gewalt den Richterstul besetzt. (GdW 4, II,2, S. 79, v. 179, v. 184–187)
Damit ist die Vernunft nur Erkenntnismittel und nicht selbst schon Grund dieses universalen Rechts. Eben hierauf zielt die Grotiuskritik des Carolus Stuardus ab. Schließt man nämlich von der unbestrittenen Intelligibilität des transhumanen Rechts auf dessen Rationalität, insofern man mit der ratio nicht nur allgemeines Recht erschließen, sondern allererst formulieren könne, sitzt man folgendem Irrtum auf: Zwar sind alle göttlichen Gesetze intelligibel, aber nicht alle intelligiblen Sollenssätze sind göttliche Gesetze. Man kann mit der ratio zu Rechtssätzen gelangen, die zwar plausibel, aber nicht gottgewollt sind und daher gegen das göttliche Recht verstoßen. Dies verdeutlicht Maria Stuart anhand einiger Beispiele aus der Rechtspraxis der Independenten. Da ist z.B. ihr sich gegen alle Herrscherpersonen richtender Zorn: „Das Richt-Beil das man hir uns an den Nacken setzt / Wird noch auf Stuards Sta durch eine Schar gewetzt. / So / wie Maria fil / wird unser Sohns Sohn leiden“ (ebd., S. 78, v. 167–169). Dieser von persönlicher Schuld abstrahierende Sippenhaftsgedanke wurde schon von Bartholomäus Keckermann in Zweifel gezogen, galt er ihm doch als nicht ohne weiteres einleuchtend (4.1.2.4). Damit ist jenes „rasen mit Vernunfft“ angesprochen, das sich in Marias Augen bei der Verurteilung Charles’ I. zu realisieren scheint.
gentes hat und ist – jedenfalls bei Ockham – etwas Geordnetes. Die Abhängigkeit von Gottes freiem ungebundenen Willen, das So- aber auch Anders-sein-Können, gilt für die gesamte Schöpfung. Aber es gilt zunächst und primär innergöttlich, im Verhältnis zu Gottes potentia absoluta. Da Gott aber, wenn er etwas schafft, dies stets ordinate, in geordneter Weise und aus seiner Güte heraus tut […], ergibt sich auf der Grundlage der einmal gesetzten Ordnung für die menschliche Vernunft durchaus ein mögliches sittliches Wissen und entsprechende Einsicht. Die ontologische kontingente Ordnung der geschöpflichen Welt hat als solche eine rationabilitas; daß diese ihren Grund nicht in einer Notwendigkeit, sondern im freien göttlichen Willen hat, an sich auch anders sein könnte, hebt sie, solange sie gilt, in ihrer Eigenart nicht auf“ [Hervorhebungen im Text].
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Wie in 4.3.1 und 4.3.7 erörtert, würdigt Gryphius’ Wissenschaftslyrik den unbestritten vernünftigen wie weltlichen Charakter der neuen Wissenschaften und Philosophie. Dennoch zeichnet sich diese Weltlichkeit durch einen Vernunftbegriff aus, der die ratio noch nicht für erhaben über die Gotteserkenntnis ansieht. Vielmehr wird die Autonomie Gottes von der Vernunft und damit die Abkünftigkeit und Grenze der Erkenntnisfähigkeit des Menschen demonstriert. Gott schafft intelligible Gebote und das meint auch, dass er sie widerspruchsfrei formuliert: Diese Widerspruchsfreiheit des einmal Gesagten hatte Gott selbst in Mal 3,6 ausdrücklich versprochen. Sie bildet ein entscheidendes Moment im voluntaristisch fundierten und rational-topologisch durchargumentierten Rechtsdenken Melanchthons (4.4.2). Rein rational fundierte Rechtssätze jedoch entbehren jener Verpflichtungskraft, weil sie nicht Gottes ausdrücklichem Willen entspringen und sind in diesem universaljuridischen Anspruch also bereits illegitim. Sie werden aber darüber hinaus gegenüber Gottes Gebot illegal, wenn sie dessen Rechtssätzen widersprechen. Mag es zwar Vernunftgründe geben, die den Sturz des Königs zu plausibilisieren erlauben, so ist ihre Normativität nur eine scheinbare, nachgerade irreführende. Denn diejenige Instanz, die allein letzthinnige Normativität bewirken kann, ist nicht die Vernunft, sondern allein Gott und dieser spricht gerade das Gegenteil: Gemäß dem vierten Gebot416 und Röm 13,2 ist der Obrigkeitsgehorsam geboten, der Widerstand unter göttlicher Strafe verboten. Wenn die Independenten in Marias Augen also ‚mit Vernunft rasen‘, wirft sie ihnen folglich keinen Wahnsinn vor, d.h. keine eingeschränkte Vernunftbegabung. Sie wirft ihnen vielmehr den Irrtum vor, der Vernunft Rechtsquellencharakter zuzuschreiben.417 Maria Stuarts Ausspruch ist kein innerrationales Verdikt, sondern der Hinweis auf die unsachgemäße und unrechtmäßige Anwendung der Vernunft auf ein Feld, das überhaupt jenseits ihrer selbst liegt.
416 CR XXII, Sp. 223–225. 417 Dass Gryphius damit implizit die bestimmte Auffassung vertritt, dass es Vernunft jenseits des göttlichen Ratschlusses allemal gebe, und zwar in dem Sinne, dass qua Vernunft richtige Schlüsse gotteslästerlich sein können, weist dabei auf einen weiteren interessanten Stand Gryphius’ im Säkularisierungsprozess hin. Auf diesen kann hier allerdings nur verwiesen werden, um ihn einer speziell philosophiehistorischen Rekonstruktion anzuempfehlen.
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5.4.7 Die politische Autorität der Heiligen Schrift Die Vernunftkritik Maria Stuarts macht eine Antwort auf die rechtsmetaphysische Frage nur dringlicher. Die Szenen II,4 und II,5 liefern die nunmehr einzig mögliche Antwort auf diese Frage und beschließen damit früh das rechtstheologische Moment des dramatischen Arguments.
5.4.7.1 Die Kontrafaktizität göttlicher Norm Schon in II,3 hatte Charles I. dem Londoner Bischof Juxton seine Bereitschaft erklärt, das ungerechte Todesurteil gegen ihn gleichmütig zu ertragen und zu sterben (ebd., II,3, S. 81, v. 257–260). Die Kerkerszene II,4 vertieft und begründet diese Haltung, wenn Charles im Beisein Juxtons von seinen Kinder Elisabeth und Henry besucht wird. Abermals wird eine königliche Legitimität starkgemacht, die von unmittelbarer irdischer Praxis unabhängig ist. Königliche Herrschaftsbefugnis soll sich zwar in der Praxis realisieren; gleichwohl gründet sie nicht ihr. Eingangs der Szene macht dies vor allem der Bischof geltend – zunächst sogar gegenüber Charles’ eigenen Beteuerungen: Carl. Hertzog sondern Land! He r t z . Ach! Ju x t . Printz nichts desto minder. Carl Prinzessin sondern Sitz. Statt Jungfern sonder Statt. Jux. Vnd dennoch in der Welt! (ebd., II,4, S. 83, v. 350–352)
Der Anspruch königlicher Würden erschöpft und beschränkt sich nicht in der irdischen Wirklichkeit (siehe dazu auch 5.2.2), sondern bezieht sich auf eben jenen oben so genannten transzendenten ‚Überschuss‘.418 Auch die Prinzessin Elisabeth selbst betont, dass das Gottesgnadentum menschlich unverfügbar ist, denn für ihre künftige Verlobung erachtet sie eine materielle Mitgift gegenüber ihrem Status als zweitrangig: „Er [sc. Charles I.] lst was Feindes-Hand / Vnd Neid nicht rauben mag / den angebornen Stand“ (ebd., S. 85, v. 391f.). Mit Blick auf diesen allein göttlich verfügten rechtlichen Vorteil königlicher politischer Würden bietet diese Szene nunmehr zwei Folgerungen an: Erstens die politische Konsequenz des Gottesgnadentums, zweitens seine rechtsmetaphysische Konsequenz. Mit Ersterem ist die rechtspolitische Seite göttlicher Gebote angesprochen, nämlich ihre zwangsbewehrte Geltendmachung durch den Deus politicus. Dem Leser ist dies zwar an dieser Stelle bereits bekannt, nämlich aus den Visionen
418 Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, S. 95.
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I,5 und II,1 sowie aus seinem historischen Hintergrundwissen (5.4.5.1f.). Dennoch wird der göttliche Strafvollzug als Grundbedingung guter Politik systematisch nie so bündig ausformuliert wie allererst hier von Charles I.: Der Stand ist eine Brd unmglich zu ertragen Wofern der Frsten Frst nicht selbst will Faust anschlagen. Der Stand wird / frchten wir / euch mehr denn tdlich seyn / Indem die tolle Schar bricht Thron und Orden ein. (ebd., v. 393–396)
Nie lässt Gryphius das wiederholte Pochen auf das Verwirklichungsbedürfnis transhumanen Rechts sich so deutlich, knapp und schlüssig artikulieren wie in diesen zwei anaphorisch eingeleiteten Reimpaaren. Das anthropologische Ungleichgewicht ist auch für den Herrscher von potentiellem Nachteil, insofern nur die Würde und die ‚soft skills‘ der Führungskompetenz dem Herrscher angeboren sind, nicht aber auch die ‚hardware‘ physischer Überlegenheit (5.4.5.2). Daher kann in diesem doppelten Ungleichgewicht nur Gott selbst die Waage halten. Andernfalls wäre der Stand „eben eine Brd unmglich zu ertragen / Wofern der Frsten Frst nicht selbst will Faust anschlagen“ (ebd., v. 393f.). Hinsichtlich seiner momentanen Lage zieht der König von England diese göttliche Geltungsgarantie gerade nicht in Zweifel. Vielmehr lässt Gryphius ihn diejenigen Verhaltenspflichten beherzigen, die für den Menschen gegenüber Gott bestehen: Auff! wischt die Zehren ab / der Cronen gibt und nimmt Hat jedem seine Maß / sein Jammermaß bestimmt! Er weiß allein warumb / und hlt den Grund verborgen Biß ihn das End’ entschleust / der wird fr alle sorgen Vnd heilen was er schlgt. Vns dngt wir schauen schon Den hochbegehrten Carl auff Knig Carels Thron / Die Schotten ganz bethrnt / gantz Albion in Reue Den wsten Irr bestrtzt / man rhmt des Knigs Treue Indem sein Crper fault. […] (ebd., v. 415–423)
Die Kontrafaktizität göttlicher Normen hat im Freiheitgeschehen der Schöpfung ihren Grund. Das „Jammermaß“ steht dem gesetzlich Gesollten natürlich entgegen: Dennoch ist der Jammer auszuhalten und das Gesetz zu befolgen. In diesen Versen bringt Charles beide Momente der den Menschen auferlegten Demutshaltung zum Ausdruck: Der Mensch ist einerseits in der Pflicht, auf Gottes Hilfe zu vertrauen. In diesem Sinne ‚dünkt‘ Charles, ebenso schon die Krönung Charles’ II. zu sehen. Andererseits ist es dem Menschen verboten, diese Hilfe von Gott in bestimmter Weise zu verlangen (siehe auch 6.2). Dies bleibt allein Gott anheimgestellt – „Er weiß allein warumb / und hlt den Grund verborgen“. Etwas von einer Instanz zu erhoffen verpflichtet zu sein, ohne es im Umkehrschluss von
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ihr verlangen zu dürfen, ist eine absolutheitstheologische Anweisung, die mit apriori rationalen Kategorien nicht angemessen zu verstehen ist. Der Geltungsgrund göttlichen Rechts findet sich daher genauso wie der Grund seiner Geltendmachung andernorts.
5.4.7.2 Göttliches als transrationales Recht Mit diesem Geltungsgrund kommt schließlich die zweite, rechtsmetaphysische Konsequenz des gryphschen Diskurses vom Gottesgnadentum zum Tragen. In der ersten Fassung von 1657 fehlt sie noch und stellt daher die entscheidende Erweiterung der politischen Theologie durch die 1663er Ausgabe dar. Charles warnt seinen Sohn Heinrich davor, den Offerten der Independenten nachzugeben, ihn anstelle Charles’ II. und damit entgegen der Thronfolge zum König zu krönen (ebd., S. 86, v. 448–456). Zu diesem Zweck verweist er Heinrich auf die entsprechende Rechtsquelle und ihren einzig gewissen Promulgationsort: Der Erden Pracht ist Dunst. Tritt auff kein schlipffrig Eiß. Vor allen scheu dich dein Gewissen zu beflecken. Wenn Gott an jenem Tag uns frlich auff wird wecken; Sol diese Beylag uns ein Kennezeichen seyn Im Anblick aller Welt wer Gottes und wer mein. Du hast des Hchsten Buch. Liß was er vorgeschriben. (ebd., v. 432–437)419
Die praecepta göttlichen Rechts finden sich in der Heiligen Schrift. Aus demselben Grund ist die Bibel auch die vornehmliche Quelle des mit ebenso geistlichen wie weltlichen Angelegenheiten befassten anglikanischen Canon Law. Die Vernunft steht unter den Rechtsquellen allererst an dritter Stelle – selbst die Tradition bzw. das Gewohnheitsrecht geht ihr noch voran.420 Auch in der 1640er Fassung des anglikanischen ius canonicum wird der Schriftbezug des Herrschaftsrechts besonders betont: The most high and sacred order of kings is of divine right, being the ordinance of God himself, founded in the prime laws of nature, and clearly established by express texts both of the Old and New Testaments. A supreme power is given to this most excellent order by God himself in the Scriptures, which is that kings should rule and command in their several dominions all persons of what rank or estate soever […]. The care of God’s church is so
419 Vgl. Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, S. 99f. 420 Vgl. Gerald Bray: Canon Law and the Anglican Church. In: The Anglican Canons 1529–1947. Hg. von Gerald Bray. Woodbridge 1998 (Church of England Record Society 6), S. XXI–CXII, hier S. XXIX–XXXIV.
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committed to kings in the Scripture that they are commended when the church keeps the right way and taxed when it runs amiss, and therefore her government belongs in chief unto kings.421
Natürlich bedient Charles sich im Satz „Der Erden Pracht ist Dunst“ des vanitasTopos, mithin spricht er mit „jenem Tag“ das Ende der Welt und Jüngste Gericht an. Seine eschatologische Perspektive ist daher unbestreitbar. Gleichwohl bindet Charles in den folgenden Versen 448–456 weltliche Angelegenheiten nur genauso an das Schriftprinzip wie die Heilsfrage. Darin zeigt sich wieder der lange Arm von Melanchthons Wirkung: Dem Wittenberger ist mangelnder Glaube schließlich die Ursache unrechter Taten, womit die Gesetzeswirkung der Heiligen Schrift mit ihrem Evangeliumscharakter letztlich verbunden bleibt (4.4.4.3).422 Charles bringt ebenso zum Ausdruck, warum eine vernunft- und innatismuskritische Haltung notwendig zur Annahme einer äußeren, schriftlichen Offenbarung der göttlichen Gesetze führt: „Ein nicht zu sauber Blatt steckt reinste Seelen an / Mit Funcken die Vernunfft / und Zeit kaum leschen kann / Wofern ein Zweifel dir die Sinnen wil anfassen […]“ (GdW 4, II,4, S. 86, v. 439–441). Ein transrational verankertes Recht kann in diesem seinem (Un)Grund weder von der Vernunft verstanden noch von ihr beschützt werden. „Wofern ein Zweifel dir die Sinnen will anfassen“, sofern ist dieser Zweifel nur vom Offenbarungszeugnis Schrift auszuräumen. Die 1663er Fassung des Carolus Stuardus vertritt damit sowohl eine schriftzentrierte politische Theologie des Deus legislator als auch eine theologische Politologie des Deus politicus. Damit ‚übertrifft‘ nicht nur sie ihre Vorgängerfassung von 1657, sondern auch übertrifft Charles I. seine Vorgängerin Maria Stuart. Diese hatte zwar vor dem Hintergrund politischer Theologie eine plausible Kritik an Grotius’ Vernunftrechtsanspruch geäußert; dennoch blieb sie es schuldig, den alternativen Promulgationskanal eines nur voluntaristischen göttlichen Rechts zu benennen. Gryphius verhält sich in seinen Anmerkungen zur Verwunderung vieler Leser der ersten Fassung, dass er Maria Stuart, die ehemalige Gegnerin Elisabeths I., für Charles’ Sache auf die Bühne bringt (ebd., Anmerckungen, S. 146f.). Dort begegnet er dieser historischen Verwunderung mit der Korrektur des „auffrichtigen Cambenus“, laut dessen Elisabeth-Biographie Maria Stuart irrtümlich, jedenfalls
421 The canons of 1640, S. 558 [Hervorhebungen O.B.]. 422 Insofern trifft Günter Berghaus’ Einschätzung nicht zu, Charles I. verachte wie Jesus die „Erdenkrone“. Auf ihn selbst und sein besiegeltes fleischliches Schicksal trifft dies zu, aber um nichts weniger als Charles’ II. Anspruch auf die Erdenkrone geht es in diesem Dialog: Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 241.
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nicht durch königlichen Schuldspruch zu Tode kam. Gryphius möchte so dem ahistorischen Eindruck begegnen, er hätte mit Maria Stuart eine eigentliche Gegnerin der ihr nachfolgenden Könige unzulässig auf deren Seite gezogen. Darum ebnet Gryphius jedoch nicht ihren Katholizismus ein. Natürlich steht auch die Katholikin Maria Stuart mit ihrer Vernunftkritik augenscheinlich nicht mehr für einen thomasischen Intellektualismus ein – was seit der Spätscholastik ohnehin kein katholischer Rechtsdenker mehr tat.423 Dennoch bleibt die anti-intellektualistische Katholikin Maria Stuart noch weit entfernt von der melanchthonischen Lösung des Voluntarismusproblems durch das Schriftprinzip. Hierin besitzt die Szene II,4 ihren entscheidenden Mehrwert gegenüber II,2 und schließt das rechtstheologische Moment des dramatischen Argumentums ab.
5.4.7.3 Rechtstheologische Finalismuskritik Im anschließenden Chor der Syrenen (II,5) erfährt die Begründung einer schriftbasierten und sich auf die Schrift verlassenden politischen Theologie und Klugheitslehre424 eine weltanschauliche Ergänzung. Der I. Chor spricht vom Himmel als „Zil der Dinge“, „dem letzten Zweck“ (ebd., II,5, S. 88, v. 533f.). An diesem Ziel steht das letzte Gericht. Wie im Eitelkeits-Sonett Vanitas, Vanitatum, et omnia Vanitas macht Gryphius umgehend deutlich, dass mit dieser Letztfinalität des Jenseits weder eine natürliche Teleologie im Sinne substantialer Formen angezeigt ist (siehe 4.3.1) noch eine Beschränkung der göttlichen Strafe auf das Jenseits: Rasen darumb durch die Wellen / strcker als die Welle geht Die geschwindē Sturm-erwecker? bricht drumb Ost den Westen ein? Will die Klippe darumb spalten / wird die Seichte drumb erhht? Wil die Vorburg Amphitriens auch nicht lnger felsern seyn Weil alles ber Hauffen In einem Nun sol lauffen? (ebd., S. 89, v. 539–545 [Hervorhebungen O.B.])
Diese wiederholt rhetorischen Fragen lassen keine andere Antwort als die verneinende zu. Daher stellen nunmehr beide Chöre fest, dass „des Hchsten Macht“ eben nicht auf etwaige Entelechien seiner Schöpfung festgelegt ist: Gott kann in
423 Gideon Stiening: Quantitas obligationis. Zum Verpflichtungsbegriff bei Vitoria – mit einem Ausblick auf Kant. In: Die Normativität des Rechts bei Francisco de Vitoria. Hg. von Kirstin Bunge, Anselm Spindler, Andreas Wagner. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011 (PPR II,2), S. 229–248. 424 Die Auffassung Rolf Tarots, Gryphius mache „nicht die ‚prudentia civilis‘ zum Gegenstand seiner Darstellung“, kann daher nicht geteilt werden: Tarot: Recht und Unrecht im barocken Trauerspiel, S. 226.
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seiner Freiheit „[e]in unerhrtes ndern“ anstellen (ebd., S. 89, v. 545–548).425 Gleichwohl missinterpretiert der Chor der Syrenen die möglichen Folgen eines solchen göttlichen Freiheitsgeschehens für die Situation der Stuarts. Er befürchtet wie schon der Chor der ermordeten englischen Könige (5.4.5.1) ein irdisches göttliches Gericht über Charles I. sowie über alle Monarchen: „Des Himmels Licht entbranter Schlag / Geht auff der Vlcker Hirten los“ (v. 561f.). Natürlich ist es ausschließlich Gott, der Könige strafen darf. Jedoch missversteht der Chor erstens, dass Gott sich, sofern er Souveräne nicht eigenhändig straft, nur anderer legitimer Souveräne als Instrumente seiner Strafe bedient. Dass etwa die fronde Mittel göttlicher Strafen gegen die „Lilien“ sein könnte (ebd., v. 556), steht damit der Souveränitäts- und Widerstandstheorie entgegen, wie sie Gryphius in all seinen Trauerspielen stärkt. Der zweite, grundsätzliche Irrtum des Chors der Syrenen besteht schließlich darin, dass Gott seinen freien Willen in den weltlichen Geboten der Heiligen Schrift unmissverständlich ausgedrückt und ihre konstante Geltung in Mal 3,6 versprochen hat. Mit Blick auf diese Gebote und mit Blick auf ihre Auslegung durch die philippistisch und frühabsolutistisch geprägten Naturrechtslehren sind Umsturz und Königsmord seitens der Untertanen verboten. Dass Gott in ihnen seine Strafinstrumente finden würde, hätte der Chor der Syrenen mithilfe der Heiligen Schrift also ausschließen können. In diesem Punkt bietet der Chorgesang bei Gryphius nicht mehr mit einem informativen Zusatz auf. Anstatt den Zuschauer über ihm Unbekanntes informieren zu können, fällt der Chor sogar hinter den Erkenntnisstand der handlungsinternen Figur Charles zurück. Mit dieser geschickten Inversion des tragödienpoetischen Usus, mit der Verlagerung der überlegenen Erkenntnis von der Außenperspektive des Chors auf die Figur Charles markiert Andreas Gryphius auch dramatisch den in jeder Hinsicht überlegenen Status der Titelfigur im Gesamtdrama. Der theologische Voluntarismus bereitet also rechtsphilosophisch notwendig solche Probleme, dass selbst eine im Chor repräsentierte Außenperspektive diese nicht lösen kann; sie sind nur rechtstheologisch aufzufangen durch ein Offenbarungszeugnis. Nur dieses kann nach Melanchthon das Widerspruchspotenzial eines absolut freien göttlichen Willens durch dessen eigenes Konsistenzversprechen ausräumen (Mal 3,6; siehe 4.4.4). Indem das Schriftprinzip erst in der zweiten Fassung des Carolus Stuardus Charles in den Mund gelegt wird, finden 1663 signifikante (Re)Theologisierungen gegenüber der ersten Fassung statt.
425 „Wie? oder stellt des Hchsten Macht / Ein unerhrtes āndern an? Hat sich sein Geist auff was bedacht / Das kein Gemtt ersinnen kann?“
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5.4.8 Die Hybris der Independenten: Die göttliche Autorität des Menschen Um das widerrechtliche Handeln der Independenten zu erklären, lässt Andreas Gryphius es nicht bei der antigrotianischen Vernunftkritik Maria Stuarts bewenden. Seinen König Charles lässt Gryphius die normative Defizienz der Vernunft durch das Zeugnis der Heiligen Schrift kompensieren: Dementsprechend erstreckt sich das Verhalten der Independenten nicht nur auf eine Überschätzung der Vernunft, sondern auch auf eine Missachtung der Heiligen Schrift.
5.4.8.1 „Diß ist des HErren Wort“? Hugo Peters monarchomachische Verkehrung Besonderen Aufschluss über die Haltung Hugo Peters gibt III,2. In einer weiteren Unterredung mit William Hewlett und Franz Hacker bezeichnet Hugo Peter den Ratsbeschluss zu Charles’ I. Hinrichtung nicht bloß als göttlich gewollt, sondern bezeichnet die Urteilsschrift selbst als Gottes Wort: Hack. […] das man auch das Recht nicht unrecht handelt Vnd auff gewisser Bahn / nicht ausser Grntzen wandel; Trgt dir / Krafft dieser Schrifft / der Rath die Vollmacht auff. Vnd gnnt so vil an Jhm dem Vrtheil seinen Lauff. Pet . Diß ist des HErren Wort! hir / hir ist Gottes Finger! Er strafft nach heilgem Recht den Recht- und Land-bezwinger / Diß ist der grosse Schluß der in der Wchter Schar Einhellig abgefast und außgesprochen war. (ebd., III,2, S. 92, v. 65–72)
Peters falsche Sicht auf die Rechtstheologie wurde ebenso wie seine Überzeugung erläutert, dass das göttliche Recht auf der Seite seines monarchomachischen Vorhabens stehe (5.4.4). Hier zeigt sich in Kontrast zu II,4 der besondere Grund dieser Haltung, d.h. ihr eigentlich zugrundeliegender Irrtum. Gryphius konstruiert den vorliegenden Dialog in der Tat als exaktes Gegenstück zur Unterredung Charles’ mit seinem Sohn Heinrich. Denn während der Mensch dort bloßer Empfänger der Schrift ist und sich an ihre Normen zu halten hat (5.4.7.2), inauguriert Peter den Menschen selbst als Geber der Schrift. Gryphius versucht gar nicht erst, seinem Leser den rhetorischen Zugang zu dieser Auffassung Peters zu erschweren. Durch die Anapher, mit der die beiden Verspaare verbunden werden, ist Peters seltsame Identifizierung von Gottesstiftung und Menschenstiftung des Todesurteils kaum zu übersehen: „Diß ist des HErren Wort!“ – „Diß ist der grosse Schluß der in der Wchter Schar / Einhellig abgefasst“. Jan-Dirk Müller merkt zurecht die Heuchelei Peters an, die selbst der monarchomachischen politischen Theologie calvinistischer Provenienz nicht gerecht wird.426
426 Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste, S. 249 : „Gryphius concède qu’en
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Der Mehrheitsbeschluss eines menschlichen Rats wird zum göttlichen Gebot erhoben, statt dass der menschliche Rat dem göttlichen Gebot folgt – und dieses wäre Röm 13,2. Gryphius lässt seinen Hugo Peter auch noch die theologischen Bezugnahmen übergehen, die avancierte Monarchomachen vorzuweisen hatten: Für Althusius bildet der Ephorenstand schließlich eine Instanz, die über den obersten Magistrat zwar Urteile beschließt wie hier auch; die Ephoren gewinnen diese Urteile jedoch aus einem göttlichen Recht, statt umgekehrt aus ihrem Urteil göttliches Recht abzuleiten (4.1.2.2). Dies jedoch ist die Richtung, welche die Urteilsschrift im vorliegenden Falle genommen hat: Der Rat wird mit der ganzen Bedeutungsschwere der Philosophiegeschichte beladen und als platonischer „Wchter“-Stand hingestellt und fasste so seinen Urteilsbeschluss. Schaut man jedoch auf die Skrupel von Axtel, Hunck und Fairfax, so ist dieser Beschluss keineswegs so „einhellig abgefast“, wie Peter behauptet (ebd., S. 90, v. 25–32). Das Urteil über Charles ist menschengemachtes ‚Recht‘ und es kann nicht einmal die Stabilität echter Einstimmigkeit beanspruchen. Von Charles’ Erkenntnis, dass die Heilige Schrift die einzig zuverlässige Quelle des göttlichen Rechts ist, sind die Independenten denkbar weit entfernt. Nicht nur nämlich suchen sie das göttliche Recht in falschen Quellen und Zeugnissen wie die Verschworenen um Michael Balbus, die im Leo Armenius eine Teufelsbeschwörung zur Maßnahmenfindung bemühten (5.1.5.3). Die Independenten des Carolus Stuardus reichen darüber weit hinaus, wenn sie göttliches Recht schlicht selber zu stiften suchen. Der Widerspruch, den die Independenten insbesondere seitens der Theologie erfahren, ist daher keineswegs so überraschend, wie er Peter und Hacker überrascht: Hack. Man muß bey solcher Noth bedachtsam u sich schauen. Pet . Nicht auff scheinheilge Wort und falsche Tugend bauen. Hack. Der Prister Schar macht uns das Volck nicht wenig irr. Pet . Man zeige mir / was nicht der Prister-Schar verwirr. Hack. Sie schatzt vor Schuld und Fluch auffs Knigs Blutt zu wtten. (ebd., S. 91, v. 41–45)
Wenn Hacker meint, lediglich die Meinung der „Priester Schar“ zu referieren, wenn sie „schatzt vor Schuld und Fluch auffs Knigs Blutt zu wtten“, so irrt er in Gryphius’ Augen beträchtlich: Die Unverletzlichkeit des Königsrechts ist nicht etwa bloße Meinung („Schätzung“) der Priester, sondern die gesicherte Lehre von Röm 13,2: „Wer sich nu wider die Oberkeit setzet / Der widerstrebet
demandant à créer une théocratie, les Puritains détruisent en réalité l’ordre divin. Ils attaquent l’Eglise quand elle n’admet pas leurs desseins et s’oppose au supplice du roi. Le discours religieux de Peter est hypocrite: les vêtements du prêtre cachent sa méchanceté.“
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Gottes ordnung / Die aber widerstreben / werden vber sich ein Vrteil empfahen“. Anders, als Hugo Peter voreilig glaubt, baut der Einwand der Theologen nicht „auff scheinheilge Wort“, sondern im Gegenteil auf dem Wort, dass dem Lutheraner allein unter Sicherheit heilig ist: dem Bibelwort. So stellen Hugo Peter und sein Gefolge die Rechtstheologie auf den Kopf und Gryphius könnte im Gegenzug seine politische Theologie kaum nachdrücklicher stärken. Der eversio civitatis geht ganz im Sinne des Wortes (everti) eine Umkehrung der Theologie voraus, die diejenigen Grundpfeiler missachtet, derer eine funktionstüchtige Politik normativ bedarf. Im Umkehrschluss könnte Gryphius das Monarchomachentum kaum nachdrücklicher diskreditieren: Es ist ihm theologisch schlicht nicht begründbar. Im Gespräch mit Oliver Cromwell und General Fairfax (III,6) macht Hugo Peter weit weniger Umschweife um eine allein willkürliche Entschlussfindung, der die Rechtstheologie wie jede Rechtslehre gleichgültig geworden ist. Als Fairfax ihn nach beider Geltung fragt, macht Peter diese seine Haltung explizit: Fairf. Wie aber wenn uns Recht und Prister widerspricht? Du sihst / sie scheuen nichts / wie hefftig wir auch schrecken Mit Kercker / Band und Noth / ihr Murren zu entdecken. Pet . Der Feldherr glaub es fest / es wird nicht besser stehn; Biß rechtsgelehrter Nam und Stand wir untergehn. Wir haben Krafft des Sigs / macht Satzungen zu stifften; Drumb weg mit dem was stets fußt auff verfaulte Schrifften! Der Kirchen-macht ist todt / wer auff die Insul hlt; Muckt / fleucht / und ist vorlngst auff Laudts sein Grab gefllt. (ebd., III,6, S. 100, v. 356–364)
In den Begriffen politischer Theologie gesprochen: Es geht Hugo Peter nicht bloß um die Ablehnung der juristischen Tradition und damit nicht bloß um legislatorische Innovation. Wenn nämlich erstens nur die „Krafft des Sigs“ bloße Macht verleiht, gesetztes Recht zu erlassen, so verleiht sie darum noch nicht die Befugnis zur Legislation. Der Akt der Satzung selbst macht zudem noch kein Recht: Wenn daher zweitens die Theologie und Rechtslehre untergehen sollen, beschneidet sich die weltliche Gesetzgebungsinstanz an derjenigen juridischen Kompetenz, die allein zu begutachten weiß, inwiefern positive Gesetze dem göttlichen Recht entsprechen. Hugo Peter strebt die planmäßige Loslösung der Gesetzgebung von ihren obligatorischen Rechtsquellen an: Es geht ihm um ein Recht auf Rechtlosigkeit (5.1.2.4). Wo sich das Monarchomachentum wie im Falle von Hugo Peters nurmehr mit wenig glaubwürdigen Anrufungen Gottes zu legitimieren sucht, 427 dort kann es
427 Z.B. GdW 4, Carolus Stuardus B, IV,3, S. 120f., v. 225–244.
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sich lediglich mit der leeren Hülle der Religion bemänteln. Gottes Wahrheit wird damit eben nicht schon erkannt und noch viel weniger schon vertreten.428 Auf diese Tatsache praktischer Theologie zielt der Chor der Religion und der Ketzer ab (IV,6). Natürlich geht es der personifizierten Religion besonders um die Reinheit ihrer selbst: Sie beklagt, dass „sich mit mir / wer Printzen aus will heben / Vnd Cronen niderdruckt“ ein wohlfeiles Legitimationsinstrument beschaffe (ebd., IV,6, S. 123, v. 323f.). Reinhold Grimm bezweifelt allerdings zurecht, dass mit dem Scheiden der Religion aus der Welt ihr Geltungsverlust einherginge.429 Vielmehr steht das Ausscheiden einer zur bloßen Äußerlichkeit verkommenen Religionspraxis als Mahnung dazu ein, Gottes Wahrheit als einzige inhaltliche Garantie rechtschaffener Lebens- und Handlungsanweisungen neu zu verinnerlichen. Diese Mahnung ergeht schließlich von der Religion selbst: „Es sucht und findet mich in GOtt der Wahrheit ist“ (ebd., S. 124, v. 343). Dabei lässt die Religion keinen Zweifel daran, dass sie den Umsturz und Königsmord missbilligt und daher die Maßgaben politischen Handelns – trotz ihres Scheidens aus der Welt – diejenigen einer politischen Theologie sind und bleiben. Mithin betont die Religion, dass sie selbst noch nicht identisch ist mit dem Fundament, auf dem sie steht: der Theologie.430 Sie erkennt die normative Lehre, deren praktischer Vollzug sowohl eine gerechte Politik sein soll als auch ein rechter Glauben. Besinnt sich die Politik nicht mehr auf dieses Fundament, droht sie in illegitime Formen wie das Monarchomachentum abzugleiten. Verliert die Religion dieses Fundament aus dem Blick, wird sie zur leeren Hülle, die mit solchen illegitimen Ansinnen ein fatales Bündnis einzugehen droht. Wie sich solche illegitimen Unternehmungen vollziehen, zeigte das Drama bereits auf, nämlich in der Erhebung des menschlichen zum göttlichen Wort. Wodurch sich hingegen sowohl gerechte Politik als auch rechter Glauben vollziehen, liegt folglich auf der Hand, nämlich durch die Bewahrung von Gottes Wahrheit in „des Hchsten Buch“.
428 Vgl. Müller: Andreas Gryphius et la théorie politique calviniste, S. 249: „Le discours religieux de Peter est hypocrite: les vêtements du prêtre cachent sa méchanceté.“ 429 Reinhold Grimm: Hugo Peter, der Ketzerchor und die Religion: Zur Deutung des Carolus Stuardus von Gryphius. In: The Germanic Review 61 – 1 (1986), S. 3–10, hier S. 8. 430 Insofern geht es mehr um den Unterschied von Religion und Theologie als den von Religion und Religiosität, wie Grimm vorschlägt: Grimm: Hugo Peter, der Ketzerchor und die Religion, S. 8f. Daher ist es kein Wunder, wenn Bernd Stockinger feststellen muss, dass die Unterscheidung von vermehrt äußerlich verstandener Religionspraxis und Religion der Innerlichkeit das Problem nicht löst: Ludwig Stockinger: Legitimität und Gewalt in Dramen von Andreas Gryphius. In: Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht. Hg. von Angelika Caorbineau-Hoffmann, Pascal Nicklas. Hildesheim u.a. 2000, S. 55–73, hier S. 64.
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5.4.8.2 Gesetzesgrenzen als Existenzbedingungen der politischen Gemeinschaft Carolus Stuardus lehnt sowohl eine rein willkürliche als auch eine allein vernunftgeleitete Rechtsbegründung ab und stärkt damit eine allein rechtstheologisch mögliche Begründung. Sie wird in Fairfax’ monologischer Kritik an Hugo Peter weiter entfaltet (III,7). Es ist unschwer zu erkennen, dass Fairfax die Auffassung eines unwirtlichen, aber nicht regellosen Naturzustandes vertritt: Geh aller Schelmen Schelm’ / ergetze deine Lste Mit umbspritzten Blut! zudrmer dises Reich Vnd mach es wie du suchst den wilden Inseln gleich! Er der des HErren Wort und Friden solt’ anknden (ebd., III,7, S. 101, v. 382–384) […] Ja der verruchte Man Ergriff Helm / Degen / Stab / und rnnte (trotz Gewissen! Trotz Ambt! Beruff und Stand!) zu freveln Blutvergissen. (ebd., v. 396–398) […] Vnd rhmt noch Licht und Geist! In dem er Recht und Stand als berhauffen schmeist. Diß nennt man geistlich frey / diß heist auff nimand sehen / Vnd keines Anhang seyn / nicht irr’gen Menschen Flehen / Außbannen Strick und Zwang der die Gewissen drckt / Zureissen was die Seel in Dinstbarkeit verstrickt. (ebd., 403–408)
Impulsgebend für Fairfax’ Skrupel ist der Gedanke von der Vorzüglichkeit eines jedweden status civilis vor dem Naturzustand. Es sei daran erinnert, dass Fairfax’ moralische Vorbehalte gegenüber Charles in der hiesigen Fassung von 1663 keineswegs wegfallen: Die Beurteilung von dessen vormaliger Herrschaftspraxis schlägt nicht ins Positive um, sondern bleibt nach wie vor negativ (5.4.3). Umso mehr kommt allerdings die Tragweite des königlichen Herrschaftsrechts zur Geltung, denn dieses bleibt von seiner individuellen Nutzung schlicht unberührt. Da Fairfax an dieser Stelle nicht mit dem Argument des Königsrechts selbst einsetzt, sondern mit ebenjener Perhorreszierung des Naturzustandes, legt ihm Gryphius bereits ein bestimmtes Element des hobbesschen Staatsrechtsverständnisses in den Mund: Insofern Fairfax seine Vorbehalte gegen den tyrannischen Charles gerade nicht revidiert, gilt a fortiori die Prävalenz des Staatszustandes. Die ‚Zertrümmerung‘ selbst „dises Reich[s]“ besteht für Fairfax nur zum Einen in der Entmachtung und Tötung von dessen legitimen Regenten. Zum Anderen drückt sie sich im Chaos eines Bürgerkriegs aus, der in Fairfax’ Augen nachgerade notwendig zu folgen droht. Dieses Chaos zu provozieren, heißt eben das Reich „den wilden Inseln gleich“ zu machen. Es ist nicht zu bestreiten, dass Fairfax damit das Königsrecht vordergründig durch ein gewisser Maßen ‚zusätzliches‘ Argument von eigener Dignität stützt, das bei Hobbes allein ausschlaggebend ist: Das Reich des zugegeben zweifelhaften Königs Charles ist schon deshalb auf-
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rechtzuerhalten und quasi dadurch legitim, dass es allemal nur besser als der herrschaftsfreie status naturalis sein kann. Im Fortlauf des Monologs wird allerdings deutlich, dass dies eben nur quasi eine Legitimationsstrategie darstellt. Sie ist weder fundamental noch komplementär: Das eigentliche, theonome Fundament des Herrschaftsrechts bedarf keines Komplements und Fairfax’ Anführung des Naturstandsarguments fungiert nur als additive a-fortiori-Strategie. Im Gegenteil ließe sich mithilfe eines tatsächlich apriorischen Naturstandsarguments gerade auch für die Bewahrung der Independentenherrschaft argumentieren: Auch sie stiftet eine bestimmte, wenn auch schlechte Ordnung und ihr als notwendig prophezeiter Weg ins künftige Chaos ist tatsächlich nur Spekulation. Dass Fairfax hingegen vorzüglich die Independenten scheitern sieht und damit das Naturstandsargument erst zugunsten des Königs einsetzen kann, muss folglich Gründe haben, die nicht in diesem Naturstandsargument selber liegen. Diese gehen ihm vielmehr voran und stellen damit Fairfax’ und auch Gryphius’ Legitimationsdenken weitab von demjenigen des Thomas Hobbes. Denn wie zu sehen ist, ‚verstößt‘ Hugo Peter in Fairfax’ Augen nicht allein gegen Klugheitserwägungen, dass ein ordnungsloser Zustand unbedingt zu meiden sei. Peter verstößt vielmehr gegen schon präexistente Ordnungsinstanzen: Er handelt von jeher „trotz Gewissen“ und ließ sogar „außbannen Strick und Zwang der die Gewissen drckt“. Es ist ein von Naturzustandserwägungen wesentlich unberührtes Normempfinden, das im Gewissen seinen Sitz und seine objektive Geltung hat. Nicht erst die Angst vor dem Naturzustand, sondern schon der Gewissensdruck hätte Peter von seinem illegitimen Handeln Abstand nehmen lassen müssen. Das gilt umso mehr, als Hugo Peter ursprünglich Priester ist und daher als Mann Gottes eigentlich des „HErren Wort und Friden solt’ anknden“. Als Theologe hätte Peter vor allem um die Bedeutung der conscientia und die in ihr geltenden Normen wissen müssen. Ausgerechnet Hugo Peter kapriziert sich auf die Freiheit als Ziel der Revolution und damit als Legitimation der Independenten, insofern nur sie diese Freiheit realisieren. Infolgedessen muss Fairfax gegen einen Freiheitsbegriff Front machen, der weder theonom ist noch schon säkular ausreichend reflektiert wird, um selbst tragen zu können. Natürlich zielt Fairfax ganz auf die bei Peter mangelnde Theonomie und die schon aus ihr hervorgehende Rechtlichkeit. „Diß nennt man geistlich frey / diß heißt auff nimand sehen“: Fairfax sieht in diesem Vers sehr wohl, dass Freiheit Grenzen finden muss, um nicht – und das ist bereits der Nucleus der hobbesschen Rechtslehre – in einem bellum omnium contra omnes auszuarten (4.3.4.2). Indem er diese Grenzen jedoch durch die Gewissensinstanz umschrieben sieht, ist klar, dass Fairfax nicht die tragende Erkenntnis Hobbes’ auf- und dem reifen Vernunftrecht vorgreift: dass nämlich die
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Freiheit ihre Realisierung aus dem Begriff ihrer selbst gewinnen kann. Während für Hobbes eine unregulierte Freiheit schlicht nichtig ist, weil sich die Freiheiten der Einzelnen gegenseitig aufheben, zeigt Fairfax deutlich an, dass ihm das Schlechte einer unregulierten Freiheit nicht in einer Nichtigkeit besteht, sondern darin, dass sie zu ihrem Behuf „Recht […] berhauffen schmeist“. Dieses Recht ist der Freiheit präexistent und normativ vorgeordnet und setzt ihr deshalb Grenzen. Damit ist die Trennungslinie der gryphschen Rechtsauffassung zu derjenigen Tradition klar gezogen, die mit Hobbes beginnt und in der kantschen Aufklärung ihre Vollendung finden soll: Für Gryphius schränkt Recht als ein von außen Kommendes die Freiheit ein. Erst das achtzehnte Jahrhundert wird zunächst in persona Jean-Jacques Rousseaus die Erkenntnis entwickeln, dass das Recht als ein aus dem Freiheitsbegriff selbst Kommendes die Freiheit allererst realisiert, insofern die Freiheit des einen ihre Grenzen an der Freiheit des anderen findet.431 Man kann in Fairfax’ Monolog verfolgen, inwiefern das Konzept eines an der Freiheit entwickelten Vernunftrechts vor Rousseau und Kant nicht reüssieren kann: Solange das universale Recht nämlich nicht aus dem Begriff der Freiheit selbst entwickelt wird, liegt wie im Falle Fairfax’ nur die Vorstellung einer empirischen Freiheit vor und bildet nur das mehr scheinbare als tatsächliche Fundament eines Universalrechts. Die eigentlich erst schlagende normative Erwartungshaltung an diesen Naturzustand ist ihm selbst schon vorgängig: Wie zudem zu sehen ist, ist diese Erwartungshaltung vermehrt rechts-, weil gewissenstheologisch induziert. Fairfax hat nun einmal den traditionellen Gedanken gefestigt, dass der Mensch sich in die Rechtlichkeit genauso wenig autonom hineinbegeben könne, wie diese sich an seiner Freiheit entfaltete. Damit zeichnet sich ein nurmehr harter Weg der weiteren Argumentation ab, und Fairfax geht ihn in aller Konsequenz zu Ende: Die Ablehnung des Widerstandsrechts der Independenten wird nämlich mit der absoluten Ablehnung jeden Widerstandsrechts gerade zu dem hohen Preis gewonnen, dass die Freiheit gar nicht mehr als Argument ins Feld geführt werden kann – auch nicht gegen die Independenten. Wird Recht nämlich erst einmal als Beschränkung und nicht als Realisierung von Freiheit gedacht, dann lässt sich die Verteidigung des Rechts unmöglich sinnvoll mit der Verteidigung der Freiheit gleichsetzen. „Diß nennt man geistlich frey / diß heißt auff nimand sehen“: Die Verteidigung des Rechts als der Instanz, die den Menschen auf den anderen gerade zu achten verpflichtet, wird im Gegenteil durch den Freiheitsgedanken massiv behindert, solange noch nicht „die Unterwerfung unter die Gewalt des Staates rechtlich nur als eine durch einen allgemeinen Vertrag vereinbarte allgemeine Unterwerfung unter einen allgemeinen, also den eigenen
431 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau.
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[Willen] der Möglichkeit nach notwendig mit einschließenden gesetzgebenden Willen gedacht werden kann […]“.432 Ebenso wenig lässt sich daher die Verteidigung des Rechts durch diejenigen Subjekte gewährleisten, die vom menschlichen Recht genauso wenig frei sind wie vom göttlichen Recht. Im Gegenteil wird Fairfax’ Monolog gerade von der bitteren Erkenntnis abgeschlossen, dass weder seine Einhaltung des Königsmordverbotes für die Verteidigung dieses Rechts hinreicht noch seine eigentliche Integrität in den politischen Wirrnissen überhaupt wahrgenommen wird: Fairfax ahnt schon, dass ihm sowohl im Lager der Independenten Anfeindungen wegen seiner Zurückhaltung droht als auch von den Royalisten eine Mitschuld am Königsmord gegeben werden wird: Man sucht (ich spr es wol) mich heimlich anzurennen / Man gibt auff meine Wort / ja Tritt und Umbgang acht / Vnd zeucht den treuen Dinst leichtfertig in Verdacht. Dem Degen hab ichs nur und meiner Faust zu dancken; Daß ich mich noch nicht schau auff disem Glteiß wancken / Da mancher sich erhht durch meinen Fall will sehn. (GdW 4, III,7, S. 102, v. 410–415) […] Mein Geist erschrickt mir graut vor dem erhitzten Wtten! Ich fil der Mordschar nicht mit meiner Stimmen bey; Bin von der Vnterschrifft des rauen Macht=Brifs frey / Erklrte mich / daß mir nicht Stuards Tod belibte / Der weiß / der alles weiß / wie mich der Schluß betrbte! (ebd., v. 418–422) […] Vnd doch wird mir / was mir zu wider / hir betriben Ja dieser Mord=schlag selbst von meisten zugeschrieben. Wer nah diß Unheil siht / wer fern diß Traurspil hrt; Glaubt daß ich selbst mein Ehr auffs gifftigste versehrt / Vnd legt mir dises zu was ich doch hchst verfluche. (ebd., v. 425–429)
Fairfax’ Enthaltung bei Charles’ Verurteilung wird unter den Independenten nicht gleichmütig aufgenommen. Er kann bislang seinen Status nicht aus rechtlichen, sondern nur aus politischen Gründen halten. Zwar ist er als Feldherr gleichermaßen verdient wie mächtig, solange ihm das Heer untersteht. Für den König jedoch ist damit genauso wenig gewonnen wie für dessen Herrschaftsrecht. Wenn Fairfax schon in dieser Weise die immer nur eigene Sicherheit in der größeren Gewalt gesichert sieht, wie soll ihm die allgemeine Sicherheit durch ein allgemeines Recht gesichert erscheinen? In seinen Augen scheint der Naturzustand in
432 Vgl. ders.: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ Politischen Philosophie, S. 326.
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seinen wesentlichen Zügen zur politischen Realität des Englands 1649 geworden zu sein. Gleichzeitig ist das politische Ränkespiel inmitten dieses Revolutionschaos gerade so schwer durchschaubar geworden, dass Fairfax sein Einstehen für das Leben des Königs weder gegenüber Royalisten im Innern noch gegenüber dem Ausland wird glaubhaft machen können. In der gegenwärtigen Wirkmacht allein der Gewalt und in der Undurchschaubarkeit seiner politischen Rolle für Andere spricht Fairfax die schlechte Alternative für die Ideen von Universaljurisprudenz und rechtlicher Vergemeinschaftung an. Diese schlechte Alternative kann eine nur auf je persönliche Machtsicherung und Dissimulationsstrategien bedachte Klugheitslehre, kurz: der Machiavellismus sein. Sie ist weder normativ generalisierungsfähig, weil es ihr um interpersonal verbindliche Normen dezidiert nicht zu tun ist. Noch ist sie auch nur zu einer bloß prudentiellen Lehre kollektiven Handelns verallgemeinerbar, weil es gerade am nötigen kollektiven Durchblick im politischen Geschehen fehlt. Die angemessene Beurteilung des tatsächlichen Sachverhalts kommt nur dem zu, der diesen Sachverhalt adäquat zur Kenntnis nehmen kann. Das ist für Fairfax allein Gott: „Der weiß / der alles weiß / wie mich der Schluß betrbte!“. Bemerkenswert ist, dass Gryphius den rechtstheologischen Suprematieanspruch nicht bloß axiologisch oder dogmatisch untermauert: Vielmehr ‚tastet‘ sich Gryphius an diese Suprematie von der Vergegenwärtigung empirisch-politischer Probleme aus heran. Dies ist auch in der Traktatistik des siebzehnten Jahrhundert keineswegs unüblich: Die behandelten Beispiele vormoderner Rechts- und Staatslehren zeichneten sich allesamt dadurch aus, praktische Handlungsfragen anhand detailreicher Fallunterscheidungen penibelst zu erörtern (4.1.2, 4.1.3.2f., 4.1.4). Auch dort, wo auf theologischen Axiomen und Dogmen weiter bestanden wurde, war eine solche Zuwendung zu vermehrt empirischen Argumentationsund Erläuterungsstrategien keineswegs redundant: Gerade die Rechtstheologie musste sich seit Machiavelli als Rechtslehre mit Wirklichkeitssinn bewähren. Mit dessen Bedeutungszuwachs konnte das Drama als ästhetische Form zum vorzüglichen Feld dieser Reflexionen werden. Der Anspruch der Rechtstheologie lautete schließlich, den Hiatus zwischen juridisch-normativer Theorie und politisch-prudentieller Praxis zu schließen. Damit ist für Fairfax auch klar, wie er sich selbst nurmehr politisch verhalten kann: […] muß ich lnger denn zu schlimsten Bbereyen / Ich? Namen / Ehr’ und Faust als ein Leibeigner leihen? Nein warlich! bricht man heut des Knigs Thron und Stab; So schmeiß’ ich aus der Faust den Krigs=Stock bey sein Grab. (ebd., v. 441–444)
Gerade vor theonomem Hintergrund ist die entschiedene Unterlassung von Handlungen nicht notwendig die schlechtere Alternative. Sie ist auch nicht
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fatalistisch motiviert, denn der status quo wird nicht resignierend akzeptiert, sondern seine Erledigung wird der Gottesinstanz anheimgestellt. Dennoch teilt Fairfax eine grundlegende Voraussetzung der Lehre Niccolò Machiavellis: Fairfax anerkennt nämlich, dass die Wirklichkeit menschlicher Politik insofern der Moralität indifferent gegenübersteht, als moralische Überzeugungen auf moralwidrige Handlungen keinen Einfluss nehmen können, wenn das Subjekt dieser Überzeugungen keine Handlungsmacht mehr besitzt. Nach ebendiesem Muster erklärte auch Machiavelli den Handlungsspielraum des einen homo politicus als von der Schlechtigkeit der anderen eingegrenzt. Der Fiorentiner folgert daraus allerdings die Anpassung des homo politicus an diese Umstände, mithin die politische Dringlichkeit dessen, bisweilen selbst schlecht zu handeln, solange man noch überhaupt handlungsfähig bleiben möchte. Damit macht sich die prudentia von der Prävalenz der moralischen Norm frei. Gerade darin besteht der Unterschied zum Denken Fairfax’: Sein nichtsdestoweniger moralisches Verhalten wird gerade erst unter dieser Voraussetzung entscheidend motiviert. Ausgerechnet dann, wenn sich die Hinrichtung nicht mehr verhindern lässt und sich die Alternativlosigkeit der Umstände manifestiert, fügt er sich in diese Umstände nicht ein. Stattdessen bleibt Fairfax der moralischen Überzeugung dahingehend treu, nicht zu handeln, wo er gar nicht mehr moralisch handeln und sich ‚nurmehr‘ moralisch verhalten kann: „So schmeiß’ ich aus der Faust den Krigs=Stock bey sein Grab“.
5.4.9 Antworten zu Mittel, Maß und Motivation göttlicher Strafe: Die Vergegenwärtigung der Geschehnisse 1660/61 In V,2 erfolgt die Vision vom Scheitern der Independenten erstmals nicht seitens eines Royalisten, sondern mit Charles’ Richter Poleh durch ein Mitglied der Gegenseite selbst. Diese Vision schließlich ist auch die eindringlichste: Erst sie wird auch bildlich auf der Bühne dargestellt. Damit erlangt jene ‚Gewissheit des Erwarteten‘ auch dramatisch ihre volle kognitive Breite. Im Unterschied zu den Visionen der ermordeten Könige sowie Lauds und Straffords kommt hier die Strafe Gottes von Beginn an zu Sprache und ebenso, wen sie trifft: „Styx ist offen! / Geschehn! es ist geschehn! mein König! nicht umb dich: / Nein! nein! ach leider nein! es ist geschehn umb mich!“ (ebd., V,2, S. 128, v. 158–160)
5.4.9.1 Das Ob göttlicher Strafe: Die Versicherung der Wirklichkeit Unter den drei Visionen des Dramas bildet Polehs Monolog nunmehr die Climax. Nicht nur spricht hier ein Vertreter der Cromwell-Partei, sondern Poleh hegt im
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Unterschied zu den ermordeten Königen, Laud und Strafford keine anfänglichen Zweifel hinsichtlich der Mittel und des Ziels von Gottes Urteil. Die in I,5 noch zögerliche Überlegung, ob die Independenten nicht etwa doch Gottes Strafin strument über Charles seien, findet hier gar nicht mehr statt, im Gegenteil: „Du [sc. Charles] stirbst ohn Schuld; und ich leb’ allem Recht zu wider!“ (ebd., v. 161). Polehs Gewissensinstanz erweist sich dabei durchaus noch als intakt: „Wie wird mir? ists ein Traum? Ja Träume / Dunst und Wind / Bestreiten leider mich / und mein verletzt Gewissen. / Mein Hertz wird lebend noch in dieser Brust zurissen“ (ebd., S. 129, v. 180–182). Wie gezeigt gilt dies im Carolus Stuardus nicht mehr notwendig für jeden Menschen, womit Poleh zur privilegierten Figur einer solchen prospektiven Vision wird. Das unter den Independenten einzig noch funktionstüchtige Gewissen Polehs liefert somit gleichermaßen den ‚Exklusivbericht‘ vom künftigen Niedergang der Königsmörder. Das forum internum fungiert dramatisch als Fernrohr eines visionären Botenberichts, der wiederum von nichts Anderem als der Strafe im forum externum Nachricht gibt. Alsbald jedoch lässt Gryphius es nicht mehr bei einer bloß intramentalen, diachronen Teichoskopie433 bewenden. Er lässt den „inneren Schau-Platz“ sich öffnen, auf welchem dem Zuschauer nunmehr auch visuell die Vierteilung Hugo Peters und Hewletts 1660 (ebd., Anm. [e]), später die symbolische Erhängung Cromwells, Irretons und Bradshaws 1661 vorgestellt wird (ebd., S. 130, Anm. [g]). Es vollzieht sich nach den Visionen der ermordeten Könige, Straffords und Lauds (5.4.5.1f.) der entscheidende zusätzliche Schritt: Mit dieser unmittelbaren Visualisierung der Hinrichtungen sowie mit ihrem autor- wie rezipientenseitigen Status als historischen Fakten wird diese Vision Polehs ganz Vergegenwärtigung. Die bloße Wahrscheinlichkeit, wie sie durch die Figurenperspektive eigentlich verursacht wird, verdichtet sich durch die informell privilegierte Außenstellung des Lesers zur Gewissheit. Alles Unsichere wird eliminiert durch das historische Wissen, dass mögliche historische Verläufe, in welchen die Independenten unbelangt geblieben wären, nicht eingetreten sind. Mit diesem Wissen einher geht die rechtstheologische Bilanz, dass Cromwell und seine Gefolge gar nicht hätten unbelangt bleiben können – wenn nicht schon 1661, so doch später. Hinsichtlich des historischen Dramas des siebzehnten Jahrhunderts ist es keine naive Litera-
433 Die mehr definitorische als typologische Dramentheorie bestimmt die Teichoskopie als Bericht eines gegenüber der Bühnenszene synchronen Geschehens: vgl. Jürgen Kühnel: [Art.] Teichoskopie. In: MLL, S. 456. Im Hinblick auf solche externen, diachronen Geschehnisse, die durch das Medium der Vision gerade doch dramatisch synchronisiert werden können, ohne den systematischen Zeitunterschied einzuebnen (Vergegenwärtigung), scheint dem Verfasser die bewusste Verwendung von Teichoskopie hier durchaus treffend.
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turbetrachtung zu meinen, der Text bilde Wirklichkeit ab.434 Zwar ist auch Andreas Gryphius’ Carolus Stuardus nichts anderes als „Reaktion auf Wirklichkeit“.435 Sie funktioniert jedoch nur wiederum durch eine Reaktion des Lesers auf den Text, die aus dessen gegenwärtiger Wirklichkeit ihr Wissen nimmt. Allererst durch dieses Wissen gelingt die Reaktion des Textes auf die historische Wirklichkeit als deren rechtstheologische Bewertung (dass nämlich die vergangenen Taten in der jüngsten Gegenwart als Unrecht bestraft wurden). Dies eben ist das Zusammenwirken von rhetorical und cognitive approach, die Synthese von textstruktureller Offenheit und effektbestimmender Leseranteile, welche hier den Textsinn konstituieren.436 Dies bleibt dabei autorenseitig enorm beeinflussbar, denn schließlich setzt Gryphius für den cognitive approach keinerlei privates und damit arkanes Wissen beim Leser voraus, sondern Faktenwissen englischer Historie sowie die Lehren politischer Theologie, um deren Allgemeingültigkeit es schließlich geht: Der referential framework des Lesers437 ist dem Autor Gryphius ebenso wenig kategorisch entzogen wie dem Literaturhistoriker der Jetztzeit. Daher gilt auch und besonders für das historische Drama das, was Andreas Kablitz vordringlich für die Erzähldichtung festhält, nämlich „nichts anderes, als daß jede Aussage – und auch diejenige des fiktionalen Textes –, solange sie am Gegebenen, an der historischen Faktizität keine ausdrücklichen Veränderungen vornimmt, sich auf eben diese Faktizität bezieht“.438 In diesem Sinne beziehen sich auch die Hinrichtungen Cromwells und seiner Mitstreiter im Carolus Stuardus auf ihre faktischen Hinrichtungen. Gryphius kann seinem Leser dieses Wissen ebenso unterstellen, wie ihm die dadurch angezielte Lehre seiner politischen Theologie nahelegen.
434 So Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte (1974). In: Rezeptionsästhetik. Hg. von Rainer Warning. München 1975 (Uni-Taschenbücher 303), S. 228–252, hier S. 232. 435 Ebd. 436 Vgl. Ansgar Nünning: Reconceptualizing the Theory, History and Generic Scope of Unreliable Narration. Towards a Synthesis of Cognitive and Rhetorical Approaches. In: Narrative unreliability in the twentieth-century first-person novel. Hg. von Elke Dʼhoker, Gunter Martens. Berlin 2008 (Narratologia 14), S. 29–76; Kablitz: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, S. 124. Die von Nünning und Kablitz unternommenen Überlegungen zur referentialisierten Füllung von Leerstellen beschränken sich natürlich nicht auf Erzählerreden und daher nicht auf den Roman oder die Novelle. 437 Nünning: Towards a Synthesis of Cognitive and Rhetorical Approaches, S. 47. 438 Kablitz: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, S. 129.
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5.4.9.2 Das Wie göttlicher Strafe: Gottes ausgleichende und verteilende Gerechtigkeit, oder: Voluntaristische Vermittlung zwischen Freiheit und Pflicht Gryphius zeigt sich hierbei dennoch bemüht, die Wort- und Bildgewalt der Exekutionen mit der Verhältnismäßigkeit der Strafen zu vermitteln. Hier wendet er sich von seiner Hauptquelle Philipp von Zesen ab und präsentiert dem vorzüglich deutschen Leser und Zuschauer all jene Strafen,439 die nach der Carolina, der im Heiligen Römischen Reich gültigen peinlichen Gerichtsordnung, auf Verrat standen: Vierteilung, Köpfen und Schleifen440 sind sämtlich Gegenstand des dortigen Art. 124.441 Peter Brenner hegt die historisch-rezeptionsästhetische Vermutung, dass die bei Gryphius dargestellten Hinrichtungsmethoden daher geläufig und mithin beim zeitgenössischen Leser nur eingeschränkt Entsetzen hervorgerufen haben müssten.442 Demgegenüber sei hier eingewandt, dass Gryphius eben einen Spagat versucht, wie er jeder Straftheorie eigen ist: den Spagat nämlich zwischen wirksamer Strafandrohung und dem hierzu eben notwendigen Wissen um den Charakter der Strafe. So grausam also die göttliche Strafe, vollzogen von der legitimen Regierung Charles’ II., also auch ist, so ist sie immer auch gerecht. Das darf als die ästhetische wie rechtspädagogische Wirkungsabsicht von V,2 gelten: Gottes Strafe ist furchtbar proprio sensu; der Leser soll sich einerseits vor ihr fürchten und eigene Unrechtstaten unterlassen, und sich andererseits dessen gewiss sein, dass diese Strafen niemanden ohne Verschulden und nie ohne gleiches Maß treffen. Im Hinblick auf jene Sorgen um Mittel und Maß göttlicher Strafe, wie sie in I,5 und II,1 geäußert wurden, bildet V,2 also gleichzeitig Höhepunkt und Ruhepol. Dies ist nur wirkungsästhetisch paradoxal; straftheoretisch jedoch ist es konsistent: Von einem gerechten Strafrecht und einer gerechten Strafpraxis haben diejenigen nichts zu fürchten, die gerecht sind. Dies gilt auch für ein
439 Philipp von Zesen: Die verschmähete, doch wieder erhöhete Majestäht: das ist, Karls des Zweiten Königs von Engelland, Schotland uam. Wunder-geschichte. Amsterdam 1661. Zesen berichtet von einem strangulierenden Erhängen Peters, nicht aber von einer Vierteilung (S. 416– 418). Über die genaue Hinrichtungsmethode Hewletts erfahren wir bei Zesen nichts (S. 421). Allein hinsichtlich Cromwells symbolischer Hinrichtung ist Gryphius reduktiv: Zesen berichtet nicht nur von einer symbolischen Erhängung, sondern auch vom Köpfen der Leiche und dem Ausstellen seines Kopfes (S. 421f.). Vgl. Berghaus: Die Quellen zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel ‚Carolus Stuardus‘, S. 278–280. 440 Lemm. schleifen. In: DWb 15, Sp. 590–602, hier Sp. 599: „verbrecher werden zur verschärfung der todesstrafe geschleift, auch durch schleifen getödtet, die leiche eines missethäters oder verhaszten feindes wird zur schmach noch geschleift u. ä.“ 441 Carolina, S. 78f. 442 Brenner: Der Tod des Märtyrers. ‚Macht‘ und ‚Moral‘ in den Trauerspielen von Andreas Gryphius, S. 248–251.
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lutheranisches Rechtsdenken, weil dieses solange nicht die lutherische Recht fertigungslehre berührt, wie es Gottes’ allein irdische Strafen betrifft. Insofern Poleh mit Aufrufen des Styx jedoch auch jenseitige Strafen anspricht, ist an das philippistisch geprägte Naturrechtsdenken zu erinnern: Durch die These eines die Unrechtstaten erst verursachenden Verlusts des Glaubens vermittelt Melanch thon geschickt Luthers sola fide-Prinzip mit einem auch jenseitigen Strafcharakter des göttlichen Gesetzes (4.4.4.3). In der Tat aber erfolgt die göttliche Strafe in Polehs Vision vordringlich im Irdischen, besonders wenn den Independenten bescheinigt wird, nirgendwo auf Erden mehr vor der göttlichen Strafe sicher zu sein (GdW 4, V,2, S. 130, v. 205– 208). Mit all diesen verschiedenen Aspekten und Realisierungsmöglichkeiten göttlicher Strafe soll ersichtlich die nicht bloß finale, sondern auch umfassende Gerechtigkeit Gottes dem Leser vor Augen geführt werden. Nicht nur bekommen die Unrechtstäter ihre Strafe, sondern die Stuards erlangen auch ihr altes Recht zurück (ebd., S. 130f., v. 232–234). Das göttliche Recht und schließlich die Rechtspraxis des Deus politicus vollziehen sich sowohl in ausgleichender Gerechtigkeit, indem entstandener Schaden äquivalent vergolten wird (iustitia commutativa), als auch in verteilender Gerechtigkeit, die jedem Subjekt göttlichen Rechts sein ihm Zustehendes (wieder)gibt (iustitia distributiva).443 Hierzu sei angemerkt, dass der Verfasser nicht ohne Bedacht diese sowohl von Aristoteles als auch Thomas von Aquin herkommenden Bestimmungen von iustitia bei Gryphius auf das göttliche Recht angewendet sieht. Zwar wird die Differenzierung von iustitia commutativa und iustitia distributiva sowohl bei Aristoteles als auch bei Thomas mit Blick auf die Polisgemeinschaft und das ius humanum positivum getroffen – ein intakter Staat wird also eigentlich vorangenommen: Gerade die ausgleichende Gerechtigkeit „betrifft die Vertrags-, Verletzungs- und Austauschverhältnisse zwischen den Bürgern als Personen, die einander selbständig, ohne Abhängigkeits- oder Herrschaftsbeziehung gegenüberstehen, wie inbes. die Bereiche des Vertrags- und Deliktrechts“.444 Diese Gesetzesbestimmungen scheinen damit auf die Situation eines Ausnahmezustands gar nicht anwendbar: Für den paradoxer Weise horizontalen Konflikt im doch eigentlich vertikalen Verhältnis von Herrscher und Untertanen liefern sie scheinbar gar keine Handhabe. Auch für die verteilende Gerechtigkeit gilt nach
443 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 116–119 und S. 255f.; Brieskorn: Rechtsphilosophie S. 93f. 444 Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 118f.
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Thomas die obrigkeitliche Sorge in eher „schöpferisch-gestaltendem“ Sinne, für die Bürger hingegen sind die Anforderungen eher „vollziehend“.445 Wenn daher Gott in Carolus Stuardus B sein Recht im vollen Umfang geltend macht, verdeutlicht dieses politische Trauerspiel nichts Anderes, als dass der Deus politicus einen nur zwischenmenschlich regelungs- und hierarchiefreien Naturzustand eben immer zu kompensieren weiß. Auch weltliche Obrigkeit kann Subjekt verteilender und ausgleichender Gerechtigkeit sein, solange ein transhumanes Recht, besonders aber eine dieses Recht vollziehende Zwangsgewalt angenommen werden darf. Gerade hierbei lässt Gryphius nicht aus dem Blick verlieren, dass es nicht nur um das Recht des Königs geht. Gott beseitigt mit dem Sieg über die Independenten kein Unrechtssystem, das etwa nur wider die Stuarts gerichtet war, sondern gegen alle Bürger Albions: „Worzu nunmehr bisher mit Mord und Schwerdt getobet. / Vnd Freyheit unverschmt in strengem Dinst gelobet?“ (GdW 4, V,2, S. 131, v. 237f.). Hierin findet sich der ‚Clou‘ jenes Rechtsdenkens im siebzehnten Jahrhundert, das einerseits endlich die Anthropologie der Bevorzugung Einzelner überwinden wollte (was Gryphius, wie im Dialog Lauds und Strafford zu sehen war, schon im Ansatz nicht ohne Widersprüche gelingt): Mit der natürlichen Gleichheit aller Menschen sollte ihre Freiheit endlich als Freiheit vom Zwang Anderer gedacht werden.446 Andererseits sollte gleichzeitig die ebenso natürliche Pflicht mitgedacht werden, welche die Unterwerfung unter ein gemeinsames staatliches Gesetz sowie einen Gesetzgeber und Herrscher gebietet.447 Der Mensch ist mit beiden Eigenschaften, der unbeschränkten Freiheit und dem appetitus societatis, ausgestattet. Die letztere Pflicht zur politischen Gemeinschaft besteht für Gryphius ohnehin – alle Befürchtungen des Trauerspiels, der Staat Albion könnte untergehen, gingen andernfalls ins Leere. Die gleichzeitige Aufrechterhaltung des Freiheitskriteriums über den Naturzustand hinaus und damit als Kriterium für gute Herrschaft zeigt die große Distanz zu Hobbes, für den der Freiheitsverzicht gerade politisch konstitutiv ist.448 Die Obrigkeit ist nicht zu jedweder Verfügung berechtigt, welche die Freiheit unverhältnismäßig einschränkt. Der Verweis auf den Naturzustand als allemal schlechtere Alternative reicht nicht hin, um die Willkürherrschaft von Menschen über Menschen zu legitimieren. Offensichtlich aber fand dies laut Polehs Aussage unter der Herrschaft der Independenten statt, und zwar unter breiter Zustimmung des Volkes. Der Demokratiefeindlichkeit des
445 Ebd., S. 256. 446 Vgl. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 396. 447 Vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III), S. 198–200. 448 Vgl. Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 170.
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Trauerspiels wohnt insofern ein moderner Funke inne, als Freiheit bis zu einem bestimmten Punkt als unbedingt veranschlagt wird: Mehrheitliche Entscheidungen sind nicht notwendig gut, nur weil sie mehrheitlich sind. Entsprechendes findet sich auch in Gryphius’ Anmerkungen zum schottischen Konflikt: Die Grossen und von Adel in selbigem Knigreiche […] ergreiffen diese Gelegenheit auf / und […] beflissen sich dem Volck eine Furcht und Jalousie einzubilden als ob Schottland zu einer Provintz gemachet / und hinfro durch einen Vice-Roy oder Stadt-halter (gleich Irrland) gouverniret werden solte. […] Also / daß der Pbel durchgehends in dieser Opinion vernarret seind / als ob beedes ihre Geist- und Weltliche Libertät nicht in geringe Gefahr lifen; von der Preßbyterianischen Faction sich leichtlich einnehmen lisse. (ebd., Anmerckungen, S. 146 [Hervorhebung O.B.])
Wenn eine Mehrheit hinsichtlich Legitimität und damit hinsichtlich Freiheit belogen werden kann, dann kann die Mehrheitlichkeit selbst nicht schon Grundlage von Legitimität und Freiheit sein. Freiheit ist weder monokratisch noch auf Grund von Mehrheitsentscheidungen beliebig einschränkbar, sondern hat bereits einen Eigenwert, dessentwegen es nicht ausreicht, dass „Freyheyt unverschmt in strengem Dinst gelobet“ wird – weder vom König noch vom Volk und dem Parlament. Dennoch ist das hier schwelende Rechtsdenken noch weit davon entfernt, im Begriff der Freiheit selbst die Möglichkeit und den Maßstab der Einschränkung ihrer selbst zu suchen und zu finden.449 Warum sich nämlich diese Freiheit gerade in der Monarchie der Stuarts allein sinnvoll und legitim realisieren können soll und eben nicht unter Oliver Cromwell, warum also mit Blick auf diese Freiheitsidee schon der Umsturz und nicht erst die Herrschaftspraxis der Independenten widersinnig und widerrechtlich sein soll, bleibt schließlich weitgehend unbegründet. Das scheint jedoch für Gryphius unproblematisch, solange es mit Gott eine Instanz gibt, die den Vorzug und damit das Recht eines Menschen zu herrschen, wenn schon nicht begründet, so doch unmissverständlich anzeigt. So bringt eben nicht der Freiheitsgedanke selbst Charles II. auf den Thron, sondern es „setzt der gerechte Gott / Den Frsten wider ein“ (ebd., V,2, S. 130f., v. 232f.). Bei Gryphius findet sich ein frühmodern freiheitsorientiertes Rechtsdenken, aber noch kein modern freiheitsbasiertes Rechtsdenken. Gott vermittelt eine prinzipielle Freiheit, die nicht nach ihrer Begriffslogik, sondern inhaltlich-schöpfungstheologisch aufgefasst wird, mitsamt den ebenso prinzipiellen Pflichten des Menschen, diese Freiheit einzuschränken. Gott macht dies praktisch möglich,
449 So eben erst Kant: Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, S. 178–189; auch Jakl: Recht aus Freiheit, S. 97.
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indem er den schmalen Grat dieser Bestimmung einzuhalten hilft. Er macht dies theoretisch unproblematisch, weil die Motivation seines absolut freien Willens, Herrscher zu sanktionieren, ohnehin nicht regredierbar ist.
6 Schlüsse Andreas Gryphius steht in der Tradition Philipp Melanchthons, Georg Schönborners und Johann Heinrich Boeclers. Damit gehört er mit Claude Saumaise zu einer Richtung des barocken Politikdiskurses, die mit Machiavelli die Frage der Rechtsgeltung als eine eminent politische Frage stellt, aber entgegen Machiavelli das politisch souveräne Handeln eben nicht als vom Recht befreit ansieht. Als Gryphius die Catharina, den Papinian und den Carolus Stuardus verfasst und veröffentlicht, hat Hobbes inzwischen den Rechtsquellencharakter der Natur 1642 bestritten und somit das gleichzeitig politische und rechtliche Problem erkannt, dass der Mensch im Naturzustand allein keinen rechtlichen Zwang über den je anderen ausüben kann. Für Saumaise und Gryphius jedoch existiert dieses Problem schlicht nicht. Gryphius sieht zwar, dass es im Naturzustand einer natürlichen Zwangsbewehrtheit des Naturrechts ermangelt: Das ist jedoch politisch dort unproblematisch, wo an die Stelle der natürlichen Zwangsbewehrtheit der göttliche Zwang tritt, und zwar in Form eines unmittelbar irdischen Eingriffs des politischen Gottes. Das siebzehnte Jahrhundert stellte vermehrt die komplizierte Frage, wie Gottes Gesetzeswillen in der Natur und gegenüber dem menschlichen Willen als verbindlich gedacht werden sollte. Bei Schönborner, Saumaise und Gryphius sollte diese Frage beantwortet werden, indem sie durch die konsequente Politisierung des göttlichen Willens vom Tisch gefegt wurde. Aus der Sicht dieser Entwürfe entsprang der Irrtum bisheriger Rechtslehren letztlich aus ihrem politischen Endlichkeitsmonismus, der sich entweder in sonderbarer Weise mit einem juridischen Jenseitsmonismus verknüpfen wollte (Neoaristotelismus, Neoscholastik) und damit diese komplizierten Probleme überhaupt hervorbrachte oder das Jenseits ganz raushielt, um sich selbst gerecht zu werden (Hobbes). Saumaise genauso wie Gryphius bestreiten diese Problematik, indem sie bestreiten, dass die politische Wirklichkeit des Diesseits vom politischen Handeln ihres juridischen Gewährsmannes aus dem Jenseits unberührt bliebe. Ihr Bestreben ist es daher historische Beispiele anzuführen, die von der politischen Wirklichkeit des Vollzugs göttlicher Rechtsurteile zeugen. Zugegeben: Alle Menschen sind in ihrem natürlichen Stande gleich – so schon die Scholastik; und zugegeben: der Mensch hat daher im Naturzustand keine rechtliche Zwangsgewalt über den je anderen. Dies wäre allerdings nur problematisch, falls die Menschen die einzigen irdischen Vollstrecker ihrer natürlichen oder göttlichen Rechte wären – was nicht der Fall ist. Tritt ein irdisch politisch handelnder Gott auf, so ist die Entscheidungsfrage beantwortet. Wenn Saumaise sich auf das Beispiel Sauls, der junge Gryphius sich auf das Beispiel des Herodes bezieht, entnehmen sie der Heiligen Schrift nicht nur die Normen göttlichen Rechts, sondern
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auch solche historischen Zeugnisse seines Vollzugs: Die Bibel liefert gleichermaßen göttliches Recht und göttliche Rechtsgeschichte. Vor der Säkularisierung der Jurisprudenz führten Saumaise und Gryphius eine der letzten großen Verteidigungsschlachten für die Heilige Schrift, indem sie diese als empirisches Zeugnis einer rechtspolitischen Wirklichkeit Gottes im Diesseits anführen. Schon die Herodes-Epen bereiten einer politischer Theologie des Gryphius den Boden, die ihren Gipfelpunkt in einer theologischen Politologie findet: Gott ist Deus legislator und Deus politicus, er stiftet sein göttliches Recht und bringt es strafbewehrt zur Geltung. Der politische Mensch wiederum hat daher nicht nur den gesetzgebenden, sondern auch den politisch strafenden Gott zu gewahren und in seinem Handlungskalkül zu berücksichtigen. Der machiavellische Fürst handelte in seinem Ansinnen, auf Gottes Rechte keine Achtung mehr geben zu müssen, nicht allein rechtswidrig, sondern auch entgegen der Klugheit, derer er sich so vorzüglich rühmte. Er wollte anstelle der Norm nurmehr Tatsachen zur Maßgabe seiner Entscheidungsfindung machen. Dabei übersah Machiavelli stets, dass Gottes Norm selbst nur ebenso Tatsache ist wie ihr geschichtlicher Vollzug. Der epische und dramatische Aufweis von der Wirklichkeit dieses göttlichen Strafvollzugs trägt nicht mehr die Lehre im Sinn, dass Regenten sich an göttliches Recht anstelle der Klugheit halten sollten. Schon die Annahme, dass iustitia und prudentia konkurrierende Alternativen seien, war für politische Theologen wie Gryphius ein Denkfehler des Machiavellismus ebenso wie des frühen Anti-Machiavellismus. Da die politische Wirklichkeit ihren zwar nicht festlegbaren, aber nichtsdestoweniger wirkmächtigsten Akteur in Gott hat, ist jede Klugheitslehre, die in überbordendem Profanismus ausgerechnet diesen wirkmächtigsten Akteur außer Acht lässt, die denkbar unklügste Klugheit. Untheologisch zu sein – dieser Vorwurf hätte den Machiavellismus nicht treffen können: dies war tatsächlich seine bewusste Absicht. Geschichtsblind zu sein – dieser Nachweis sollte den Machiavellismus erst eigentlich schwächen. Unklug zu sein – dieser Nachweis sollte ihn vernichten. So gefestigt aber Gryphius’ Überzeugung von der Wirklichkeit göttlicher Strafe seit der Verarbeitung des Herodesstoffes auch ist, so wenig überspielt er daher schon das Problem, das in der Evidenz dieser Wirklichkeit immer wieder besteht. Im Gegenteil: Die Genese von Gryphius’ politischer Theologie ist nicht nur ein stetiger Weg bergauf vom biblisch-historischen Zeugnis göttlicher Strafe im Herodes und Olivetum hin zum gegenwartshistorischen Zeugnis göttlicher Strafe im Carolus Stuardus. Mit der zunehmenden Skepsis an der Funktionstüchtigkeit der Gewissensinstanz durchschreitet Gryphius’ politische Theologie auch eine Talsohle und dieses Tal ist in der Tat nicht wenig finster: Die angemessene Erkenntnis göttlicher Gesetze wird derart erschwert, dass ihre Unkenntnis dem Menschen kaum mehr würde zum Vorwurf gemacht werden können. Die
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fatalen Irrtümer, denen ein Michael Balbus, ein Chach Abas, ein Kaiser Bassian und Hugo Peter unterliegen, wären nur ebenso unüberwindbar wie ihre blutigen Folgen unstrafbar. Wenn daher in diesem Tal dennoch kein Unglück zu fürchten sein soll, dann nur deshalb, weil Gryphius den Weg aus der Krise des Innatismus bereits bei denen bereitet findet, die die Lehre angeborener Ideen eigentlich hatten stärken wollen. Melanchthon sucht die Versicherung der Perennität göttlichen Rechts, die dessen Universalität erst erfüllt, nicht ebenso im Innationsakt, sondern findet sie in Gottes Wort in Mal 3,6. Die schon bei Melanchthon zu findende Bewunderung für den Dekalog als den vorzüglichen Ausdruck des Naturrechts schlägt beim Straßburger Melanchthonianer Johann Heinrich Boecler um in eine Hochachtung der zehn Gebote als des einzig angemessenen Ausdrucks des Naturrechts. Mit Blick auf die göttliche Reaktion auf schwerste Unrechtstaten weisen die vier politischen Trauerspiele eine unterschiedliche Gestaltung auf. Leo Arme nius bleibt in dieser Hinsicht gänzlich offen: Hier wird weder eine Gewissensqual noch gar eine Strafung des Michael Balbus im forum externum auf die Bühne gebracht. Es wird sich ganz auf die zeitgenössische Episteme verlassen, d.h. beim Leser und Zuschauer wird das Wissen um und die Zustimmung zum göttlichen und natürlichen Recht vorausgesetzt. Poetische Gerechtigkeit wird hier ganz durch eine rezipientenseitige Kompensationsleistung hergestellt (6. 5). Catharina von Georgien und Æmilius Paulus Papinianus bringen demgegenüber wenigstens die Gewissensqual innerdramatisch zur Darstellung. Selbst strafend und weitere Strafe ankündigend, verweist das Gewissen auch auf eine jenseits des Dramenendes liegende Strafe Gottes. Möchte man über die Reife der politischen Trauerspiele des Gryphius sprechen, so bildet dramenpoetisch sicherlich der Papinian den Höhepunkt seiner Trauerspielkunst. Anders als in den anderen Trauerspielen entsteht hier kein Ungleichgewicht zwischen Theoriedebatten einerseits, die sachlich früh abgeschlossen werden, und nachfolgenden Handlungssträngen andererseits, deren Figurenreden gegenüber der ‚fertigen‘ politischen Theologie redundant sind und die diese fertige Lehre nurmehr ‚exekutiv‘ dramatisieren. Mit Blick auf diese politische Theologie jedoch darf allererst der Carolus Stuardus in seiner erweiterten Fassung von 1663 als Vollendung und Zielform der gryphschen Auseinandersetzung mit den praktischen Geltungsfragen göttlichen Rechts gelten. Erst der Carolus Stuardus B bringt auch die äußere Bestrafung der Antagonisten im forum externum auf die Bühne. Er kann daher als das ‚geschlossenste‘ der vier Trauerspiele gelten – und damit auch als der Gipfelpunkt der gryphschen politischen Theologie. Sein Cromwell-Epitaph expliziert die Dysfunktionalität der Gewissensstrafe nur genauso schonungslos, wie im Gegenzug die körperlichen Strafen gegen die Independenten vor Augen geführt werden und auch, wodurch sich vor dieser göttlichen Strafe gehütet
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werden kann: „Du hast des Hchsten Buch“ (GdW 4, Carolus Stuardus B, II,4, S. 86, v. 437).1 Anders als die naturrechtliche Rezeption der Frühaufklärung löst Gryphius das Rechtsdenken Melanchthons nicht aus seiner impliziten schrifttheologischen Verankerung,2 sondern führt es umgekehrt noch stärker, weil explizit auf diese zurück. Damit stellt der schlesische Dichterjurist in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ein eigentümliches Phänomen in der Entwicklungsgeschichte des politischen Denkens dar. Dass Handlungsanweisungen und Gesetze aus der Natur sicher ablesbar seien (4. 3), zieht Gryphius ebenso in Zweifel, wie er die Angeborenheit ihrer Prinzipien nicht mehr als evident ansah (5. 3 und 5. 4). Die Regelung eines qua Tyrannis oder Umsturz verursachten Ausnahmezustands stand systematisch in Frage und drängte politisch zur Lösung. Für Gryphius bestand die tief empfundene Notwendigkeit einer transzendenten sowie irdisch wirksamen Regelungsmacht. Dieses Bedürfnis konnte im Rahmen eines ‚natürlichen‘ Rechts nur noch in der Suche jenseits seiner natürlichen Ressourcen, jenseits selbst der menschlichen mens befriedigt werden: Die Lösung glaubte Gryphius in demjenigen Wort Gottes gefunden zu haben, das ohne Umwege über natürliche Mittel ausbuchstabiert wurde, in der Heiligen Schrift. Wenn Gryphius so stark auf Gottes Straftätigkeit abstellt, ist dies gegenüber dem zeitgenössischen Naturrechtsbegriff mehr als konsequent: Vor Christian Thomasius’ fundamentalen Bruch mit dem Gedanken, dass das Naturrecht überhaupt zwangsbewehrter Befehl sei (4. 3. 5) garantiert die göttliche Wahrheit nur die Güte des göttlichen und natürlichen Rechts; erst die göttliche Strafandrohung hingegen garantierte auch die objektive Geltung desselben. Es ist dieses dem frühneuzeitlichen Gesetzesbegriff selbst immer schon wesentliche politische Moment einer Rechtswirklichkeit, das Gryphius sein Unternehmen einer theologischen Politologie gegen den Machiavellismus erlaubt.
6.1 Politische Theologie und Ausnahmezustand: Die Verbote von Widerstand und Tyrannei als göttliche weltliche Gesetze Es war der vorliegenden Studie immer auch um den Hinweis zu tun, dass Machiavellis Denken nicht in toto abgelehnt wurde – und wohl gar nicht in toto abgelehnt werden konnte. Zuletzt im Falle des Thomas Fairfax zeigt sich vielmehr,
1 Vgl. Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, S. 99f. 2 Vgl. Scheible: [Art.] Melanchthon, Philipp (1497–1560), S. 395.
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dass gewichtige Prämissen Machiavellis übernommen wurden: etwa wie diejenige, dass viele politische Akteure de facto moralisch verdorben sind und sich das eigene Handeln mit naivem Gutmenschentum angreifbar machen würde. Die häufige Ausweglosigkeit menschlicher Handlungswirklichkeit bestreitet Gryphius in seiner Dichtung an keiner Stelle: Im Gegenteil bildet die von Machiavelli unterstrichene Schlechtigkeit der meisten Akteure gerade Ausgangspunkt nicht nur der gryphschen Trauerspieldramatik, sondern auch der vanitas-Dichtung. Der Determinismus gibt dem Vergänglichkeitsdenken Gryphius’ nicht den entscheidenden Anstoß. Zwar geben auch Naturgewalten Anlass zur Vergleichgültigung des Diesseits; auf’s Ganze gesehen interessieren sie Gryphius nur am Rande: In der Tat ist es vordringlich die menschliche Interaktion, die Gryphius im Blick hat, wenn er Ausweglosigkeit und Beständigkeit thematisiert. Akteure engen andere Akteure ein, drängen sie darauf, mitzutun oder handlungsunfähig zu bleiben. Mit Blick auf den Einzelnen mag die ἀπάθεια für alternativlose Situationen zwar ausreichend sein. Im politischen Rahmen jedoch hat es gerade darum zu gehen, dass die Entscheidung zum normkonformen Verhalten denjenigen, der sie fällt, nicht ‚zum Dummen‘ macht. Seine ἀπάθεια selbst mindert nicht die Lust seiner Gegner am Verstoß und auch nicht ihren Erfolg. Die Selbstkontrolle muss die Kontrolle der Anderen auch gar nicht leisten können, solange Handlungswirklichkeit eben nicht nur menschliche Handlungswirklichkeit meint – und ebendies ist für den rechtstheologischen Politikdramatiker Gryphius der entscheidende Denkfehler Machiavellis. Zwar wird Machiavellis Annahme von der faktischen Amoralität vieler Menschen als Prämisse geteilt. Sie ist jedoch gleichermaßen nur der Untersatz im praktischen Syllogismus aller Politik. Sie ist nicht schon der Obersatz, wie Machiavelli meint. Sie gibt nur die Situation vor, hinsichtlich derer es zu handeln gilt, nicht aber auch die Regel, nach der es zu handeln gilt. Diese Regel ist das göttliche Gesetz und bis Thomasius ist dieses Gesetz seinem Begriffe nach selbst schon von einer Strafandrohung geprägt. Rechtstheologen wie Francisco Suárez stärken die göttliche obligatio schon dadurch, dass nur Gott äußerlich und innerlich, d.h. im Gewissen verpflichten kann. Der weltliche Gesetzgeber kann selbst keine Gewissensverpflichtung seiner Untertanen bewirken.3 Wenn er daher möchte, dass sie sich gegenüber den staatlichen Gesetzen auch im Gewissen verpflichtet fühlen, hat er bei der Legislation darauf zu achten, dass seine Gesetze denen des göttlichen und natürlichen Rechts entsprechen. Nur so kann das menschliche Gesetz sich seiner Verpflich-
3 Suárez: De legibus ac Deo legislatore, III. 21. 2, Bd. 2, S. 20: „[F]orum conscientiae est forum Dei; sed homo non potest obligare in foro Dei; ergo nec in foro conscientiae.“
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tung im Gewissen versichern.4 Das legislatorische Können zeichnet sich mithin dadurch aus, Gesetze zu schaffen und zu formulieren, die diesem Bereich der menschlichen mens zugänglich sind. Gryphius widerspricht dem konzeptionell nicht. Insofern es ihm allerdings um die staatstragenden Legitimationsrechte des Souveräns, mithin um die Verbote von Widerstand und Tyrannei zu tun ist, interessiert er sich gerade für diejenigen göttlichen Gesetze, deren Strafinstanz ausschließlich Gott ist: Sie nehmen erstens eine Strafinstanz an, die dem Zweck dieser Gesetze nach der Souverän selbst gar nicht sein kann. Dieser Zweck, nämlich Strafe seines eigenen Umsturzes oder seiner Tyrannei, setzt schließlich die Handlungsunfähigkeit oder Handlungsunwilligkeit des Souveräns voraus. Tyrannei- und Widerstandsverbot stellen zweitens diejenigen Gesetze dar, welche die Stabilität des Staates unter Einhaltung der moralischen Güte der Mittel gewährleisten. Insofern haben sie gegenüber allen übrigen staatlichen Gesetzen den politischen Supremat inne: Werden sie nicht geltend gemacht, ist gar kein guter Staat zu machen. Das Tyranneiverbot soll den Staat gegen Unrecht seitens der Obrigkeit, das Widerstandsverbot gegen Unrecht seitens der Untertanen schützen. Tyrannei- und Widerstandsverbot entstammen dem traditionellen Verständnis nach der göttlichen und natürlichen Rechtsquelle, ihre Ausformulierung in positiven Rechtskorpora ist mithin redundant. Dennoch legen Gryphius’ politische Trauerspiele einen wunden Punkt der Staatsrechtssystematik offen: Zum Einen gelten Tyrannei- und Widerstandsverbot auch als weltliche Gesetze, insofern sie staatstragend sind. Zum Anderen ist ihre zwangsbewehrte Legisla tions- und Obligationsinstanz unmöglich der weltliche Herrscher selbst, weil es diesen Gesetzen um den Verlust bzw. die Übertretung seiner Macht gerade zu tun ist. Damit ergibt sich ein Paradoxon, das sich nur auf zwei Arten auflösen lässt: Entweder würde diesen Gesetzen begriffslogisch der Gesetzescharakter abgesprochen und so der Weg in einen Naturzustand geebnet, im dem sich nur das Recht des Stärkeren findet. Oder Tyrannei- und Widerstandsverbot bleiben ihrem Begriff nach Gesetze und implizieren der begriffslogischen Notwendigkeit folgend eine Verpflichtungsinstanz, die vom weltlichen Herrscher gerade unterschieden ist. Ebendies ist bei Gryphius der Fall: Verpflichtungs-, weil Strafinstanz der staatstragenden Tyrannei- und Widerstandsverbote ist allein Gott. Gott ist nicht nur auf der Bühne, sondern systematisch der politische Gott, insofern nämlich Gott unmittelbare Verpflichtungsinstanz weltlicher Gesetze ist, und zwar
4 Ebd., III. 21. 5, Bd. 2, S. 26 : „Dicendum vero est legem humanam civilem habere vim et efficaciam obligandi conscientia“; vgl. Stiening: Libertas et potestas. Zur Staatstheorie in ‚De legibus‘ (DL III), S. 221.
ἀπάθεια? Dulden und Ertragen als Rechtspflichten
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der politisch wichtigsten. An jener Scharnierstelle, die das weltliche Herrschaftsrecht darstellt, ist bei Gryphius auch das weltliche Recht göttliches Recht. Es ist nicht nur und nicht erst der freiheitliche säkularisierte Staat, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht gewährleisten kann.5
6.2 ἀπάθεια? Dulden und Ertragen als Rechtspflichten Damit stellt sich erneut die Bedeutung neostoizistischer ἀπάθεια-Lehren für die Einordnung desjenigen Verhaltens, das die gryphschen Trauerspielprotagonisten auszeichnet. Denn die constantia ist im Rahmen der antiken Stoa vor allem als individualethische Verhaltensregel zu begreifen, die dem Einzelnen den determinierten Weltenlauf gleichmütig zu ertragen rät, und zwar schlicht deshalb, weil er in diesen nicht eingreifen kann. Die Stoa konnte sich nie ganz der tendenziellen Antinomie entledigen, dass mit Blick auf diese deterministische logos-Ordnung imputationstheoretisch nicht sinnvoll von Geboten und Pflichten gesprochen werden kann: Im Determinismus steht dem Menschen die Alternative differenter äußerer Handlungen eigentlich nicht offen. Stoischer Gleichmut vollzieht sich quasi nur im Rahmen der theoretischen Vernunft, weil ein von den Naturgesetzen Unterschiedenes im Determinismus eigentlich nicht angenommen werden kann: Von einer praktischen Vernunft, die sich mit der Frage des Unternehmens oder Unterlassens äußerer Handlungen beschäftigt, ist hier schon kategorisch nicht sinnvoll zu sprechen, weil diese Alternative nicht existiert. Wenn daher mit Blick auf einen Stoizismus, der auch in der Frühneuzeit meist an Seneca seinen Ausgang nimmt,6 von Zwang gesprochen werden kann, dann nur bildlich mit Blick auf die Ausweglosigkeit eines weitgehend vorherbestimmten Schicksals. Demgegenüber ist das eigene Handeln jedoch gerade indifferent; das Schicksal kann ausschließlich in der persönlichen Haltung ‚bewältigt‘, d.h. bloß erduldet werden: Der Mensch wird – so Seneca – „im Universum dahingerissen“.7
5 Vgl. Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 60. 6 Vgl. Arend: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins. 7 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch. Bd. 1: De Providentia. Hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, V, 7f., S. 32: „Ideo fortiter omne patiendum est, quia non, ut putamus, incidunt cuncta sed ueniunt. Olim constitutum est quid gaudeas, quid fleas, et quamuis magna uideatur uarietate singulorum uita distingui, summa in unum uenit: accipimus peritura perituri. Quid itaque indignamur? quid querimur? ad hoc parati sumus. Vtatur ut uult suis natura corporibus: nos laeti ad omnia et fortes cogitemus nihil perire de nostro. Quid est boni uiri? praebere se fato. Grande solacium est cum uniuerso rapi.“
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Damit ist die entscheidende Differenz zwischen antiker Stoa und einem lipsianischen Neostoizismus angezeigt: Im Falle des letzteren ist das Handeln durchaus differenzbildend. Die schlechte Handlung wird nicht unterlassen, weil sie ohnehin unmöglich wäre, sondern weil ihr mit der göttlichen Strafe gedroht wird, zunächst vor allem durch die Gewissensqual (5. 2. 5. 2, 5. 3. 5. 5). Dieser fundamentale Unterschied zwischen antiker und neuer Stoa wird in der Gryphiusund Barockforschung noch zu selten veranschlagt. Während jene in der Tat einen Determinismus annahm, in dessen Rahmen dem Menschen eigentlich keine realen Handlungsalternativen offenstanden, räumt der vor allem lipsianische Neostoizismus dem Menschen als imago Dei natürlich Entscheidungsfreiheit ein – mit weitreichenden Folgen für die Beständigkeit. Da sich im Determinismus die Frage nach der Herrschaft über die eigenen äußeren Handlungen eigentlich gar nicht stellt, ist die constantia der antiken Stoa ein ausschließlich inneres Verhalten, d.h. ein reflexives psychisches Disponieren, durch das der Mensch sich vom Außen gerade abgrenzt. Sobald aber der Determinismus vom Neostoizismus durchbrochen ist und dem Menschen eine Entscheidungsfreiheit gegenüber Gebotenem, Erlaubtem und Verbotenem eingeräumt wird, bedeutet constantia ein vermehrt äußeres Verhalten und Handeln. Hier besteht Beständigkeit in der Unterlassung pragmatisch möglicher, aber normativ unerlaubter Alternativen. Insofern stellt Günter Berghaus zurecht fest, „daß der Neostozisimus keine kontemplative Philosophie war, sondern zur aktiven Anteilnahme an den politischen Geschäften aufrief“.8 Wer constantia übt, versucht natürlich langfristiges Glück zu erlangen, indem er kurz- und mittelfristiges Glück vermeidet, das dem im Wege steht. Wer wie Papinian in seinem passiven Widerstand beständig bleibt, tut dies letztlich innerhalb der Grenzen zweier Verbote: Weder darf er aktiven Widerstand gegen die Obrigkeit leisten, noch darf er gegen sein Gewissen für die Obrigkeit handeln.
6.3 Bis an die Schwelle zu Hobbes und nicht weiter: Zum steigenden Reflexionsniveau der Legitimationsproblematik in Gryphius’ Trauerspielen Allen Trauerspielen ist das Problembewusstsein gemein, dass die persönliche moralische Integrität nicht hinreichende Erfolgsbedingung der politischen Stabilität ist – wie groß, wie ‚bewehret‘ oder ‚großmthig‘ sie auch sein mag. Damit wird Gryphius allerdings noch nicht zum Protohobbesianer oder gar -kantianer:
8 Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 254.
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Für diese nämlich ist Moralität als innere Ausrichtung des eigenen Wollens auf bestimmte Ziele überhaupt indifferent für die Regelung äußerer interpersonaler Handlungen. Vor allem Kant wird den entscheidenden Gedanken ausformulieren, dass Moralität als inneres Ausrichten auf Zwecke für die Regelung äußerer Handlungen schon deshalb indifferent sein muss, weil selbst Personen unter Wahl gleicher Zwecke konfligieren können, auch wenn sie noch so moralisch sind.9 Bei Gryphius ist diese Indifferenz dank des Deus politicus noch nicht gegeben. Denn die Moralität des Herrschers und jedes politischen Akteurs ist erstens durchaus different für den allgemeinen politischen Erfolg, da Gottes Strafe umso heftiger ausfällt, je mehr sich an der Missetat beteiligt wird und Schuld gemehrt wird. Die Moralität des politischen Akteurs ist zweitens different für das moralische Urteil, das Gott über den Herrscher fällt und das immer auch ein rechtliches Urteil ist: Zur Trennung von moralischer und rechtlicher Sphäre kommt es bei Gryphius deshalb nicht, weil die Gottinstanz als Urteilsinstanz die Introspektion in die Zweck- und Mittelabsichten der Handelnden besitzt und als Vollzugsinstanz die politische Konsequenz daraus ziehen kann. Insofern macht die Gottesinstanz die Bereiche von Moralität und Rechtlichkeit nicht etwa nur einander kompossibel, sondern stellt ihre systematische Verbindung her. Insofern die göttliche Straftätigkeit gleichermaßen juridisch und politisch ist, werden gute Gründe denkbar, auf Macht und Selbsterhalt zu verzichten wie Papinian. Gerade die Subordination der Selbsterhaltung stellt die politische Theologie des Gryphius als theologische Politologie der Staatslehre Hobbes’, aber auch neoaristotelischen Ansätzen wie demjenigen Samuel Pufendorfs diametral entgegen, für welche die conservatio sui sowohl geboten als auch politisch konstitutiv ist. Das Verhältnis von Rechtlichkeit und politischer Zwecksetzung problematisiert Gryphius also auf unterschiedlichem Niveau. Wird nämlich die herrschaftliche Legitimität erst einmal von einer materialen Endzweck-Bestimmung abhängig gemacht, so ist die Illegitimität von Herrschaft schon dort zu diagnostizieren, wo der Souverän diesen Endzweck nicht mehr teilt. Dies ist besonders bei Chach Abbas der Fall: Die Problemkonstellation von Catharina von Georgien ist insofern die legitimationstheoretisch fragloseste – um nicht zu sagen: die uninteressan-
9 Wie Georg Geismann zurecht festhält, muss hinsichtlich dieser Indifferenz der Versuch einer staatlichen Bestimmung bestimmter Endzwecke notwendig im Rechtspositivismus enden, weil eben der Nexus von individuell-persönlicher Moralität und allgemein-interpersonaler Handlungsregulierung nicht systematisch zu denken, sondern nur willkürlich zu setzen ist: Geismann: Politische Philosophie – hinter Kant zurück? Zur Kritik der ‚klassischen‘ Politischen Philosophie, S. 330.
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teste. Chach Abbas’ Wollen und Absicht sind schon deshalb politisch wie auch rechtlich schlecht, weil sie gar nicht politisch sind: Er möchte durch Gefangensetzung Catharinas seinen individuellen, persönlichen Wunsch, sie zu heiraten, befriedigen. Es werden apolitische Ziele mit politischen Mitteln verfolgt. Die Illegitimität Abbas’ liegt also schon im Hinblick auf das politische Telos offen zu Tage: Es ist nicht nur das falsche politische Ziel, sondern gar kein politisches Ziel. Im Umkehrschluss ist Gryphius’ Kritik an einem Absolutismus, der sich von jedweder äußeren Bedingung freimachen will, am deutlichsten eben in Catharina von Georgien artikuliert. Hier überzeichnet der Schlesier den Anspruch des Absolutismus so stark, dass sein Vertreter Abbas meint, eben jegliches persönliche Interesse politisieren zu können. Komplexer verhält es sich da etwa bei Carolus Stuardus, zumal in der zweiten Fassung. An der Zwecksetzung der Independenten einerseits und des Königs andererseits lässt sich nämlich der legitimatorisch entscheidende Unterschied nicht feststellen. Charles wie auch Hugo Peter sorgen sich um das Gemeinwohl, über dessen göttliche Gewollt-, mithin Gesolltheit sie sich beide im Klaren sind. Am Nexus von Moralität und Legitimität lässt sich daher nur mit Blick auf die unterschiedlichen Mittel festhalten, die für die Erreichung desselben Ziels aufgewandt werden. Andreas Gryphius darf nun gerade nicht auf den Schluss kommen, dass der Zweck allein die Mittel heilige: Denn dieser Schluss erlaubte keine Entscheidung für oder gegen die Independenten, für oder gegen die Royalisten. Er erlaubt gerade keine differente Beurteilung der konfligierenden Mittel, die einmal die Independenten, ein andermal Charles I. wählen bzw. wählen möchten. Gryphius teilt durchaus schon das für Hobbes, Rousseau und Kant tragende Problembewusstsein, dass moralisch integere Zwecksetzung allein noch nicht konfliktbefreiend wird: Auch das strikteste Befolgen sittlicher Gebote für die Bestimmung des je eigenen Wollens und Handelns kann keinerlei notwendige Übereinstimmung zwischen den Individuen bewirken. Ein Individuum als solches kann immer nur für sich eine vernünftige Einheit in seinem Wollen und Handeln stiften, nicht aber auch für Gemeinschaft mit anderen Individuen. Die schlichte Tatsache, daß dabei jeder seinem eigenen Kopf folgt und dazu im Naturzustand auch das Recht hat, macht diesen Zustand des natürlichen Rechts der Menschheit mit apriorischer Notwendigkeit zu einem (friedlosen) Zustand universell-reziproker Rechtsstrittigkeit. Also auch eine Gemeinschaft rein vernunftgeleiteter Menschen befände sich von Natur in einem Zustand prästabilierter Disharmonie […].10
10 Geismann: Naturrecht nach Kant, S. 159.
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Im Unterschied zu den späteren Vernunftrechtlern sieht Gryphius dennoch eine mögliche Antwort in einer materialen Gerechtigkeitsbestimmung der für ein identisches Telos aufgewandten konfligierenden Mittel. Der Naturzustand, in den mit der Anfechtung des Herrschers eingetreten wird, ist für den reifen Vernunftrechtler und nur für diesen problematisch: Im Unterschied zu Gryphius sieht das Vernunftrecht die nur zweckrationale – und nicht freiheitsrationale11 – Entscheidung über den Rechtsstreit zweier oder mehrerer Personen nur wieder bei diesen selbst liegen, was eine unauflösbare Paradoxie darstellt. Mit Gryphius’ politischer Theologie ist zwar nicht die Möglichkeit eines rechtlichen Mittelkonflikts zweckidentischer Handlungen ausgeräumt – gerade diese wird im Carolus Stuardus thematisiert. Diese Möglichkeit ist jedoch politisch unproblematisch, weil die Individuen Cromwell und Charles ‚die vernünftige Einheit, die sie in ihrem Wollen und Handeln stiften, für die Gemeinschaft mit anderen Individuen‘ gar nicht stiften müssen. Dieses Problem ist erst ein echt säkulares und muss und kann von Gryphius gar nicht geteilt oder auch nur gesehen werden. Denn die Stiftungsinstanz der moralischen wie rechtlichen Gemeinschaft sind nicht deren Teilnehmer, sondern ist Gott. Die von Gryphius durchaus erkannte „Tatsache, daß […] jeder seinem eigenen Kopf folgt […], macht diesen Zustand“ eben deshalb nicht „mit apriorischer Notwendigkeit zu einem (friedlosen) Zustand universellreziproker Rechtsstrittigkeit“, weil Gott diesen Rechtsstreit entscheidet. Die Disharmonie des Ausnahmezustands ist zwar auch in Gryphius’ Augen gefährlich und tödlich: Dank des Deus politicus ist sie aber unmöglich prästabiliert.
6.4 Der schmale Grat zwischen Tyrannei und Märtyrertum als Signum menschlicher Geschöpflichkeit? Zu einer These Walter Benjamins Dass der Antagonismus heilsgeschichtlicher und politisch-jurisprudentieller Perspektiven auf Gryphius’ politische Trauerspiele schon methodisch problematisch ist, wurde in der Forschungsdiskussion bereits ausführlich besprochen (2.). Es ist als Walter Benjamins Verdienst zu würdigen, in Ursprung des deutschen Trauerspiels die beiden Perspektiven verbunden zu haben. Gleichwohl wurde in 2. ebenso schon hervorgehoben, dass auch Benjamin diese Verbindung nur in Form einer Subsumtion des politisch-rechtsgeschichtlichen Paradigmas unter dasjenige der Martyrologie vornimmt.
11 Vgl. ebd.
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Benjamin diagnostiziert hierbei die „Antithese von Herrschermacht und Herrschervermögen“12 als das zentrale, „fesselnde“ Interesse der Zeitgenossen Gryphius’ und Lohensteins: Der Herrscher kann als Mensch gar nicht, was er als Gottes weltlicher Stellvertreter soll.13 Den hiesigen Ergebnissen folgend, trifft dies insofern zu, als Gryphius sich in der Tat auch für den Fall interessiert, dass der Herrscher seiner Handlungsmacht beraubt wurde: durch einen Umsturz, durch seine Gefangensetzung oder – noch drastischer und jenseits jeder Möglichkeit zur Rehabilitation – durch seine Ermordung. Hier tut sich in der Tat ein politisch-juridisches Dilemma auf: Der Idee nach ist eigentlich niemand da, der über mehr legitime Macht als der Souverän verfügte, um diesen wiederum ‚in Stand zu setzen‘. Benjamin sieht die Antithese jedoch allgemeiner und will daher auch auf ein Komplement der hiesigen Sichtweise hinaus: Das Spannungsverhältnis von göttlich installierter Würde und anthropologischer Depraviertheit, die für den Souverän nur genauso gilt wie für seine Untertanen, macht das Amt des Herrschers grundsätzlich zur ‚Zumutung‘: […] so spricht für den im Machtrausch sich verlierenden Cäsaren dieses Eine: er fällt als Opfer eines Mißverhältnisses der unbeschränkten hierarchischen Würde, mit welcher Gott ihn investiert, zum Stande seines armen Menschenwesens.14
Damit einher geht jenes Interesse, das Benjamin für das wesentliche Interesse der Zeitgenossen hält, nämlich weniger das juridisch-politische Fragezeichen des Ausnahmezustands mit seinen kollektiv- und individualethischen Folgen für das Duldungsvermögen der Menschen, sondern umgekehrt die spannungsvolle Geschöpflichkeit des Menschen zwischen dem, was er muss, und dem, was er kann – die Grundzumutung also, überhaupt Geschöpf zu sein, die im Souverän nur ihren extremen Ausdruck hat. Damit ist weniger der Souveränitätsbegriff als politisch-juridischer Grenzbegriff interessant, sondern der Souverän als schöpfungsanthropologische Grenzfigur. Benjamins implizite, im vorigen Zitat allemal kenntliche Folgerung ist daher, dass Gryphius’ besonderes Interesse den Antagonisten seiner Trauerspiele gilt und – konsequent gedacht – entschuldigend wirkt: Die Unrechtstaten der Souveräne Chach Abbas und Bassian, aber auch derjenigen, die sich zu Souveränen machen wollen wie Michael Balbus und Oliver Cromwell, haben ihren Grund in einer geschöpflich notwendigen Ohnmacht. Aufgrund dieser kann das menschliche Vermögen nie derjenigen Herausforderung gerecht
12 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 62. 13 Ebd., S. 61f. 14 Ebd., S. 62.
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werden, die in der herrscherlichen Pflicht besteht. Am deutlichsten zeigte sich das an Chach Abas mit all den Fehlern seiner natürlich-leidenschaftlichen Ausstattung. Diese Studie ist nicht der Ort, diese These Benjamins umfassend, d.h. für alle seine Gegenstandsbereiche zu prüfen – hinsichtlich Lohensteins Trauerspiele, insbesondere Cleopatra, sprechen einige Indizien dafür, dieser Sichtweise zuzustimmen. Jedoch fällt die Konzeptualisierung politischer Theologie bei Gryphius eben anders aus als bei Lohenstein, mithin ist die Verallgemeinerbarkeit von Benjamins Beobachtung nicht dergestalt gegeben, wie es seine schmissige Formulierung nahelegt. Im Hinblick auf Gryphius nämlich ist Widerspruch angebracht: Dass Gryphius für die Antagonisten seiner historischen Stoffe Balbus, Abas, Bassian und die Independenten ein nur irgendwie konzessives Verständnis hegt, gar ein entschuldigendes, widerspricht der Lektüre der Trauerspieltexte wie auch deren Paratexte, in denen Gryphius seine Haltung unzweideutig erklärt: Die Vorworte, Widmungsepistel und seine eigenen Anmerkungen beschimpfen die Unrechtstaten zum Teil wüst. In jedem Fall zeigen sie, dass Gryphius aus einer Zumutungsanthropologie nicht die imputationstheoretische Folgerung zieht, die Antagonisten trügen nicht eigentlich selbst Schuld an ihrem Unrecht. Vor allem aber konnte nachgewiesen werden, dass Gryphius’ Interesse vordringlich dem politisch-juridischen Grenzfall des Ausnahmezustands gilt und all seine politischen Trauerspiele bestimmt. Dass dieses Interesse dringlich war, wurde in der Auseinandersetzung mit den zeitnahen Staats- und Staatsrechtslehren aufgezeigt. Es soll und kann gar nicht bestritten werden, dass Gryphius in Folge dieses Interesses notwendig auch das Moment der Zumutung zur Darstellung bringt, die für den homo politicus, insbesondere für Papinian, in der Handlungsunterlassung besteht, welche zwischen den Grenzen zweier göttlicher Verbote notwendig wird. Erstens jedoch spielt diese Zumutung bei Gryphius eben erst in der logischen Folge nach dem rechtstheologischen Fokus eine Rolle. Zweitens ließ sich zeigen, dass Gryphius die (als Zumutung empfindbare) Handlungsunterlassung bzw. Duldung als Ergebnis eines vom Rechtssystem Gesollten betrachtet, nicht als das Ergebnis eines geschöpflichen Ist-Zustandes. Vor allem aber ist drittens mit der Bedeutung des Deus politicus deutlich geworden, dass die Spannung zwischen göttlich installierter Herrscherwürde und göttlich eingeschränktem Herrscherrecht, zwischen Widerstandsverbot und Beihilfeverbot zur Tyrannei nicht ungelöst bleibt: So arkan Gottes Ratschlüsse für das menschliche Erkenntnisvermögen gemäß dem theologischen Voluntarismus auch sind, so bleiben sie dennoch verlässlich. Besonders Carolus Stuardus und Papinian zeigen, dass die Wahrnehmung des Spannungsverhältnisses gerade nicht in eine Ausweglosigkeit münden soll. Ausweglosigkeit bestimmt zwar die Situation des einzelnen politischen Akteurs, der unmittelbar betroffen ist. Für diesen allerdings interessiert
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sich die Vormoderne und alles Denken vor dem echten Individualismus ohnehin wenig.15 Für die politische Gemeinschaft jedoch schlägt eine angemessene Wahrnehmung des Spannungsverhältnisses gerade in die Auflösung dieser Spannung um: Indem sich nämlich der menschliche Akteur keine Handlungen anmaßt, die allein Gott zustehen, macht er diesem den Weg zur Problemlösung frei. Besonders Balbus und die Independenten unterliegen dem Irrtum, dass das Spannungsverhältnis von Widerstandsverbot und Beihilfe zur Tyrannei, die sie Leo Armenius bzw. Charles I. unterstellen, sich nur durch ein eigenmächtigmenschliches Handeln auflösen ließe, das notwendiger Weise zu Lasten einer der beiden Spannungspole ausfällt und damit einen Rechtsbruch für den anderen eintauscht. Mit anderen Worten: Selbst wenn sich die Hinweise verdichtet hätten, dass Leo und Charles tatsächlich Tyrannen sind, so wäre es gerade angemessen gewesen, wenn Balbus und Cromwell genauso wie Papinian im Spannungsverhältnis zweier Verbote ausgeharrt und es allein Gottes Urteils- und Vollzugsbefugnis überlassen hätten, strafend einzugreifen.
6.5 Trauerspielpoetik unter dem Leitstern des theologischen Voluntarismus, der Christiana Philosophia und politischen Theologie Wenn Daniel Heinsius das Problem des sich abschottenden Tyrannen nur unter erheblichem Widerstand von außen wie auch seitens seiner eigenen Tragödientheorie dramatisiert (4.4.3.4), lassen sich Gryphius’ Bearbeitungen der Tyrannenproblematik sowohl im Herodes als auch in den Trauerspielen besser einordnen, und dies nicht nur ideen-, sondern auch gattungsgeschichtlich. Sowohl hinsichtlich der Tyrannenthematik als auch hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Formfrage gehören die Herodes-Epen in das Ganze der Werkgenese der politischen Trauerspiele. Gryphius fühlt sich der aristotelisch-scaligerischen Tradition und damit der Einheit von Handlung und Zeit offensichtlich genauso verpflichtet wie der Einheit des Ortes, wie sie Castelvetro zur Norm erhoben hat.16 Daher entscheidet sich der junge Gryphius beim Herodes nur konsequent zur epischen Form: Er
15 Selbst in dessen Rahmen gilt eine positive Rezeption nur eingeschränkt, nämlich im Hinblick auf den angelsächsischen Raum, wohingegen in Deutschland die negative Entgegensetzung – als Egoismus – gegenüber dem „Corporations- und Associations-Geiste“ überwog: vgl. Anton Rauscher: [Art.] Individualismus. In: HWPh 4, S. 289–291, hier S. 290. 16 Vgl. Georg-Michael Schulz: [Art.] Drei-Einheiten-Lehre. In: RLW I, S. 408f., hier S. 408.
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‚scheut‘ die Dramatisierung des Tyrannenthemas noch, mithin eine Episierung des Dramas, wie sie Heinsius gewagt hatte. Dies impliziert nicht nur eine vorläufige Affirmation der Tradition, sondern auch Gryphius’ Erkenntnis, dass der wesentlich monologische Tyrann vor dem Hintergrund dieser Tradition eigentlich nicht dramatisierbar ist. Wenn Gryphius in seinen politischen Trauerspielen schließlich doch die Dramatisierung wagt, kommt er auch dort nicht ohne große Monologanteile aus.17 Dies versucht er einerseits durch eine andernorts verstärkte formelle Einhaltung der Einheitspoetik zu kompensieren, die ihm seine historischen Stoffe erlauben: Die Zeit der Dramen umspannt stets bloß einen Tag. Die Handlung ist einheitlich bzw. stellt sich mit Blick auf die Katastrophe, auf welche die verschiedenen Handlungsstränge gemeinsam zulaufen, als einheitlich heraus. Der Ort ist stets der Hof bzw. der höfische Kontext. Andererseits legen erst diese Einheiten den Pluralisierungsdruck offen, der auf dem politisch-höfischen Einheitsgedanken tatsächlich lastet: Die Handlungen sind nur ihrem effektiven Verlauf nach einheitlich, ihre Motivationen hingegen sind höchst heterogen, wenn etwa Charles um einer anderen Schuld willen auf den Richtplatz geht als derjenigen, die ihm die Independenten zur Last legen.18 Der Hof als politischer Ort wird als gerade heterotoper Schauplatz dechiffriert, an dem sowohl Verschwörungspläne unbemerkt gesponnen als auch herrschaftlich-autoritäre Handlungen vollzogen werden. Die gedrängte Einheit der Zeit umkreist damit nichts Anderes als die merkwürdige Gleichzeitigkeit dieser heterogenen Entwicklungen am dergestalt heterotopen Hof. Dies wird eben ermöglicht durch eine vermehrt monologische Dramengestaltung: Die Antagonisten sind besserem Rat genauso wenig zugänglich wie schon Herodes. Sich in Monologe einkapselnd, beharren sie auf ihrem Standpunkt und Anspruch. Dialoge führen sie nur defensiv und mit dem einzigen Ziel, ihn wieder zu beenden. Dem Protagonisten bleibt demgegenüber nur die zunehmende Innerlichkeit zum Zweck der Beständigkeits- und Heilssuche; sein Monologisieren ist also nur die gleichsam notwendige Reaktion auf die Unbeugsamkeit des ‚Bösen‘. Mit seinen nurmehr formalen Einheitsmarkierungen erlaubt die Trauerspielform, gerade den Einheitsverlust des verhandelten Themas hervorzuheben: Eine erfolgreiche und gute Politik hätte eines in der Tat einheitlichen Machtzentrums bedurft, nicht eines bloß einheitlichen Ortes, an dem sich disparate Haltungen unversöhnlich manifestieren. Diese Politik müsste zu einheitlichen wie auch ein-
17 Vgl. etwa Rolf Tarot: Die Kunst des Alexandriners im barocken Trauerspiel des Andreas Gryphius’ ‚Papinian‘. In: Simpliciana XIX (1997), S. 125–154, hier S. 136. 18 Vgl. Berghaus: Andreas Gryphius’ ‚Carolus Stuardus‘, S. 251.
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mütigen Handlungen fähig sein, um das gute Ziel zu erreichen. Bestehen über dieses Ziel oder zumindest über die aufzuwendenden politischen Mittel doch Uneinigkeit, bedürfte es allemal mehr Zeit, um nicht nur irgendeine, sondern eine gute Lösung zu finden. Gerade Zeit ist unter dem Entscheidungsdruck, dem politisches Handeln unterliegt, nicht vorhanden: Der Verschwörer drängt auf schnelle Ausführung seiner Taten genauso wie der Tyrann. Ihrem politischen Gegner, der gegenüber göttlichem Recht eigentlich pflichtbewusst ist, bleibt so nur noch die Alternative zwischen einer ebenso zügigen, aber damit eben nicht mehr zweifelsfrei guten Handlungsfindung einerseits und langmütiger, juridisch einwandfreier, aber eben meist tödlicher Handlungsunterlassung andererseits. Vor allem das Einheitskriterium der Zeit fungiert damit als Kontrastfolie, die es dem politischen Trauerspieldichter Gryphius erlaubt, den Problemkern der Lehre Machiavellis einzukreisen: Das heteronome und eilige Handeln des Gegners lässt dem integeren Politiker nicht ausreichend Zeit, selbst eine gute Lösung zu finden. Der Protagonist sieht daher nur eine Alternative zur rechtlich fragwürdigen Handlung, nämlich die normkonforme Handlungsunterlassung. Diese aber ist nur dann keine schlechte Alternative, wenn sie eine wirkmächtige Instanz hinter sich weiß, die diese Unterlassung einer bloß widerrechtlich möglichen Handlung gutheißt, den Normdruck durch eigenes Handeln kompensiert und so die schlechte Handlung des Gegners sanktioniert. Vergegenwärtigt man sich die bedeutenden Folgen der politischen Theologie bei Gryphius für die (De)Motivation der Figurenhandlungen, kann man Gryphius’ politische Trauerspiele auch als eine Kritik der aristotelischen Tragödien-Poetik lesen, wie sie aus diesem ihren politisch-theologischen Gegenstand nachgerade folgen musste. Aristoteles hält nämlich regelpoetisch fest, dass die „Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorzugehen hat“. Der Eingriff eines Gottes darf nur das außerhalb der Bühnenhandlung stattfindende betreffen und gerade das, was der Mensch ohne Vorhersage nicht wissen kann: Es ist offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorzugehen hat, und nicht – wie in Medea und in der Ilias die Geschichte von der Abfahrt – aus dem Eingriff Gottes. Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung liegt, oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf – den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken.19
19 Aristoteles: Poetica, 15, 1454 a37–b6: „Φανερὸν οὗν ὅτι καὶ τὰς λύσεις τῶν μύθων ἐξ αὐτοῦ δεῖ τοῦ μύθου συμβαίνειν, καὶ μὴ ὥσπερ ἐν τῇ Μηδείᾳ ἀπὸ μηχανῆς καὶ ἐν τῇ Ἰλιάδι τὰ περὶ τὸν ἀπόπλουν. Ἀλλὰ μηχανῇ χρηστέον ἐπὶ τὰ ἔξω τοῦ δράματος, ἢ ὅσα πρὸ τοῦ γέγονεν, ἃ οὐχ οἷόν τε
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In 4.1.1 wurde der ebenso dispositiv wie expositiv leitende Charakter des Ausnahmezustands für den Trauerspielverlauf hervorgehoben. Mit der Wahl dieses Stoffes lag der Handlungsverlauf nicht mehr im Belieben des Dichters. Zum Einen erlaubt Gryphius’ politisch-theologisches Denken nicht die Auflösung des Problems aus der Handlung der irdischen Figuren: Das göttliche Recht kann allein von Gott geltend gemacht werden; er delegiert die Strafe nur an den exklusiven Kreis anderer Souveräne. Zum Anderen ist das Geschehen nicht weniger tragisch: Machtinstanzen und hohe höfische Würden konstitutieren Fallhöhen, die sich durch das verübte Unrecht im Fall entladen. Natürlich hält sich Gryphius insofern an Aristoteles, als er Gott außerhalb der Bühnenhandlung lässt und ihn nicht etwa wie in den Herodes-Epen selbst als Figur auftreten lässt. Insofern bleibt die Bühne das Feld des Irdischen. Im politisch-theologischen Diskurs tritt dieses Irdische jedoch mit systematischer Notwendigkeit in Beziehung zum Himmlischen, weil auch irdische Rechtskonflikte nach göttlichem Recht nur von Gott gelöst werden können. Aristoteles’ Tragödienpoetik erweist sich in diesem Punkt also als paradox: Gemäß Aristoteles’ zweiter Forderung an die Tragödie – der dramatischen Externalität der Gottesinstanz – gibt es Tragödienstoffe, die entgegen Aristoteles’ erste Forderung – die integrale Handlungsauflösung – diese ihre Auflösung gar nicht innerhalb der Handlung selbst haben können. Andreas Gryphius konnte der Poetik des Aristoteles’ eben nur bis an die Grenze folgen, ab welcher dem heidnischen Stagiriten die Konsequenzen eines transzendenten und doch irdisch wirkmächtigen Gottes nicht bewusst sein konnten. Die politisch-theologische Anverwandlung der aristotelischen Poetik musste sie in ebenjenem Punkte sprengen. Seine politische Theologie musste Gryphius auch über solche Poetiken hinausgehen lassen, die es als Gotteslästerung verstanden, „wann / in Schauspielen / die Tugend nicht belohnt / und die Laster nicht gestrafft erscheinen“ – so lautet noch 1679 die Auffassung von Gryphius’ Kollegen in der Fruchtbringenden Gesellschaft Sigmund von Birken.20 Wo es bei Gryphius erstens um die göttliche, dem Menschen ebenso verbotene wie unmögliche Strafe geht, dort kann die Lysis nicht auf der Bühne, nicht
ἄνθρωπον εἰδεναι, ἢ ὅσα ὕστερον, ἃ δεῖται προαγορεύσεως καὶ ἀγγελίας· ἅπαντα γὰρ ἀποδίδομεν τοῖς θεοῖς ὁρᾶν“. Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik, S. 49. 20 Sigmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln. Nürnberg 1679, S. 331 [Hervorhebung O.B.]; ausführliches Zitat: „Ist er [der Held] aber ja ein Tyrann oder Bswicht / so soll ihm seine Straffe auf dem Fus nachfolgen / oder er endlich / wie der Knig Manasse / bekehrt werden. Dañ wann / in Schauspielen / die Tugend nicht belohnt / und die Laster nicht gestrafft erscheinen / so ist solches (rgerlich und eine Gottslsterung / weil es der Gttlichen Regirung zuwider lauffet.“
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im Rahmen des kollektiv-menschlichen Handlungsspielraums statthaben.21 Wo folglich zweitens der entscheidende Umschlag der Zustände – nämlich dass das Recht wieder hergestellt wird – vom Menschen nicht zu leisten ist und damit innerhalb der Dramenhandlung nicht erfolgen kann, dort kann es nur eine rechtstheologisch perspektivierte, jedoch keine dramatische Peripetie geben.22 Wo es drittens um die Grenzen der Figurenperspektive geht, weil Art und Zeitpunkt der göttlichen Strafe sub specie creationis nie vorhergesagt werden können, dort kann es keine Anagnorisis geben, zumindest nicht dieses gesamtdramatisch tragenden Sachverhalts von Gestalt und Zeit der Strafe: Als ‚(Wieder)Erkennen‘ können lediglich die Erkenntnis hiervon gelten und damit die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer allein duldenden Glaubensfestigkeit, die sich anmaßender Ansprüche an den strafenden Gott entschlägt.23 Menschliches Erkennen als handlungsauflösend einzusetzen, verbietet sich dort, wo dieses Erkennen unter den Vorzeichen eines theologischen Voluntarismus ausgeschlossen ist. Allerdings ist die menschliche Erkenntnis im Rahmen von Gryphius’ Philosophia Christiana durchaus in der Lage, sich ebendieses Sachverhalts seiner notwendig beschränkten Erkenntnisfähigkeit selbst gewahr zu werden. Und sie kann und muss dieses Wissen insofern negativ in Handlung umsetzen, als aktive Handlungen unterlassen werden. Somit drängt diese christlich-theologische Philosophie auf eine Metaisierung der aristotelischen Poetik hin: Anagnorisis ist in entscheidenden Punkten nur als die allgemeine Erkenntnis von der Unmöglichkeit besonderer Erkenntnis zu haben. Damit ist sie gerade philosophisch allgemeiner, ethisch verbindlicher und didaktisch umfassender. Dass Gryphius Gottes Strafe weitgehend aus der Dramenhandlung verbannt, hat mit einer regelpoetischen Orientierung etwa an Harsdörffer, ebenfalls ‚Kommilitone‘ in der Fruchtbringenden Gesellschaft, nichts zu schaffen. Dieser lehnte die Darstellung des Abscheulichen und expliziter Gewalt auf der Bühne ab und verwies sie in die Botenberichte.24 Andreas Gryphius wendet beide Mittel an. Dabei wird die Vierteilung Hugo Peters und Hewletts im Carolus Stuardus bild-
21 Vgl. Aristoteles: Περὶ ποιητικῆς, 1455 b24–26: „Ἔστι δὲ πάσης τραγῳδίας τὸ μὲν δέσις τὸ δὲ λύσις· τὰ μὲν ἔξωθεν καὶ ἔωια τῶν ἔσωθεν πολλάκις ἡ δέσις, τὸ δὲ λοιπὸν ἡ λύσις.“ / „Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfaßt gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest“. Übers. nach Fuhrmann: ders.: Poetik, S. 57. 22 Vgl. ebd., 11, 1452 a22–24. 23 Vgl. ebd., 11, 1452 a29–31: „Ἀναγνώρισις δέ, ὥσπερ καὶ τοὔνομα σημαίνει, ἐξ ἀγνοίας εἰς γνῶσιν μεταβολή […]“. Vgl. dazu Pfister: Das Drama, S. 137f. 24 Georg Philipp Harsdoerffer: Poetischē Trichters zweyter Theil. Nürnberg 1648 [ND: Darmstadt 1969], S. 82: „[G]rausame Marter und Pein so die Henkerbuben verben / werden auf den
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lich und sogar in Aktion dargestellt. Auch die Ermordung Getas, Papinians und seines Sohns sind unmittelbar szenisches Geschehen. Zudem zeugen die Botenberichte etwa von Catharinas Verbrennung von einer solchen rhetorischen Imaginationskraft, dass die bloße Verbalität der Grausamkeit keinen Abbruch tut. Gryphius’ Dichtung, so darf festgestellt werden, ist daher auch nichts weniger als die praktische Widerlegung von Harsdörffers eigentümlicher Meinung, Grausamkeit sei nur visuell wirksam darstellbar und könnte daher durch den Rückzug auf das Verbale vermieden werden. (Inwiefern diese Meinung in einer unvermittelten ästhetischen Priorisierung des Visuellen durch Harsdörffer seinen Grund hat und für einen Poetiker von einer sonderbaren Unterschätzung des Darstellungspotenzials des Wortes zeugt, ist hier allerdings nicht der Ort zu erörtern.) Die Vermeidung von Gewaltdarstellung kann für Gryphius nicht der Grund gewesen sein, Gottes Strafhandlungen gegenüber der Dramenhandlung außenvorzulassen. Ursache scheint vielmehr Gryphius’ politische Theologie in ihrer Zuspitzung zu einer theologischen Politologie zu sein. Blickt man auf die idealtypischen Bestimmungen von geschlossenem25 und offenem Dramenende,26 so findet man in Gryphius’ politischen Trauerspielen weder nur das erste noch nur das zweite: Seine Dramenausgänge sind insofern offen, als die Lösung des Konflikts, die Bestrafung geschehenen Unrechts nicht innerhalb der Dramenhandlung geschieht. Seine Dramenausgänge sind jedoch insofern ‚geschlossen‘, als der Fluchtpunkt, den Gryphius’ politisch-theologisches Denken einfordert, gerade so alternativlos ist, dass die eigentliche Problemfrage aufgelöst ist: Gott wird die Gerechtigkeit wieder herstellen – das ist
Schaupltzen nit gesehen / sondern von den Botten oder auch der Geplagtē Angehrigen uñ Freundē erzehlet“. Vgl. Martinec: Rhetorik und Moral in der barocken Trauerspielpoetik, S. 152. 25 Pfister: Das Drama, S. 138f.: „In seiner idealtypischen Form setzen hier die Einlösung aller noch offenen Fragen, die Aufhebung aller Informationsdiskrepanzen und die Entscheidung aller Konflikte ein deutlich markiertes Schlußsignal […]. Mit der Auflösung und Aufhebung aller faktischen Informationsdefizite und Diskrepanzen der Informiertheit korrespondiert auf der thematischen Ebene die Klärung oder Entscheidung aller Wertambivalenzen und -konflikte […].“ 26 Ebd., S. 140: „Als Gegenentwurf zum geschlossenen Dramenende hat sich gerade im modernen Drama das offene Dramenende entwickelt. Diese Abweichung vom klassischen Schema, der Verzicht auf einen Dramenschluß, in dem die Informationsdiskrepanzen aufgehoben und die Konflikte gelöst werden, kann dabei unterschiedliche Funktionen haben. Sie kann sich aus einer veränderten Handlungskonzeption ergeben, die nicht mehr auf einer einmaligen Krisenoder Konfliktkonstellation beruht, sondern auf der Demonstration eines dauernden Zustandes, für den – wie etwa in den Dramen Samuel Becketts – eine Lösung oder ein Abschluß undenkbar sind, sondern allenfalls ein zyklisch-repetitives Wiedereinmünden in den Anfang. Oder sie kann – wie etwa bei Brecht – in der Verweigerung einer Lösung den Fall als Problem an das Publikum delegieren.“
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schlüssig. Wie und wann genau diese Gerechtigkeit hergestellt wird, bleibt – mit Ausnahme des Carolus Stuardus 1663 – offen. Diese Frage muss offen bleiben im Hinblick auf die freiwillentliche Befugnis Gottes, dies nach eigenem Ratschluss zu handhaben und nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt und eine bestimmte Gestalt seiner Strafe festgelegt zu werden, weder von den betroffenen Figuren der Trauerspiele noch vom Dramatiker Gryphius. Dies folgt aus dem Wesen göttlicher Gerechtigkeit und ist damit, obgleich es selbst die Offenheit gerade einfordert, insofern schlüssig, als sowohl die dramatische als auch die menschlich-perspektivische Offenheit der Straferwartung erstens eingehegt sind in die letztlich allemal statthabende Schlüssigkeit der göttlichen Gerechtigkeit und sie dabei zweitens aus dem selben Grunde eben dieser Gerechtigkeit geboten sind: Die Dramenfiguren dürfen gegen Gottes Widerstandsverbot nicht handeln und sie können auf Grund seines voluntaristischen Wesens seine Strafe nicht genau prophezeien. Gleichwohl sollen sie sich auf diese verlassen, ohne sie wiederum im Detail einfordern zu dürfen. Dies sind die aus den göttlichen Gesetzen folgenden Handlungsanweisungen an die Dramenfiguren: die Unterlassung des Widerstands und das Vertrauen in Gottes zwar unbekannten, aber gewiss gerechten Ratschluss, und das Ertragen der hieraus erwachsenden Zumutung an den duldenden Menschen. Diese Handlungsanweisungen sind normativ dergestalt alternativlos, dass das formaldramatisch offene Trauerspielende daraus seine (kontext)gehaltliche Geschlossenheit gewinnt. Eine echte systematische Offenheit, d.h. ein veritabler „Verzicht auf einen Dramenschluß, in dem die Informationsdiskrepanzen aufgehoben und die Konflikte gelöst werden“,27 liegt nicht vor. Es wäre die interessante Aufgabe weiterer, vermehrt dramentheoriehistorischer Forschungen zu erschließen, inwiefern das tatsächlich offene Dramenende erst mit der Säkularisierung zu haben war oder ist: Solange ein transzendenter Horizont angenommen wird, der letztlich Schlüssigkeit und Gerechtigkeit verspricht, solange ist eine offene Handlungsund Konfliktsituation immer auf diesen Horizont zu verweisen und ihre letztlich nur formale Offenheit gesamtsystematisch auflösbar. Poetische Gerechtigkeit28 wird bei Gryphius daher nicht immanent hergestellt, da ihre Herstellungsinstanz transzendent ist. Auch deren immanentes Handeln ist innerdramatisch nicht notwendig aufzeigbar, sprengen doch dessen unbekannte Gestalt und Zeitpunkt die aristotelische Maßgabe zeitlicher Einheit. ‚Poe-
27 Ebd. 28 Vgl. instruktiv Wulf Segebrecht: Schwert und Waage in der Dichtung. Über ‚poetische Gerechtigkeit‘. In: Deutsche Nation. Acta Ising 1984. Hg. von Helmut Kreutzer. München 1985, S. 126–138, besonders S. 126–130.
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tische‘ Gerechtigkeit ist sie daher nur insofern, als in der frühen Neuzeit sowohl werk- als auch rezipientenseitig eine politische Theologie in Kraft ist, die diese Gerechtigkeit eigentlich herstellt. Diese eigentliche rechtstheologische Gerechtigkeit gerinnt ästhetisch zur zwar dramenhandlungsexternen, aber dennoch poetischen Gerechtigkeit, indem der Diskurshorizont der gryphschen Pro- wie auch Antagonisten theologisch bleibt. Der rechtsideengeschichtliche Abriss sowie die Trauerspielanalysen sollten aufgezeigt haben, dass es sich weniger um eine „Ordnungskonkurrenz […] von Naturrecht und positivem Recht“29 handelt, sondern um eine Deutungskonkurrenz hinsichtlich der Inhalte eines Naturrechts, dessen übergeordneter Status gegenüber dem positiven Recht per se unbestritten ist. Die göttliche Gerechtigkeit wird gerade hinsichtlich ihrer Auslegung, Gestalt und Zeit zum innerdramatischen Streitgegenstand. Ihr Fakt sowie ihr Supremat gegenüber der weltlich-menschlichen Gerechtigkeit werden dramenintern allemal anerkannt. Mithin wird die deutungssystematische Prävalenz der theologischen gegenüber der poetischen Gerechtigkeit anerkannt. Auf das „intakte Rechtsbewußtsein im Publikum“30 allein, wie 1751 bei Gottsched in dessen Akademischen Vorlesung über die Frage: Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse,31 wird bei Gryphius lediglich im Leo Armenius gesetzt. Und man darf fragen, ob Gryphius auf eine solche exklusiv rezeptionsästhetische Herstellung poetischer Gerechtigkeit gar nicht setzen konnte. Denn Gottsched baut wieder auf das innatistische Fundament einer „natrliche[n] Empfindung der Billigkeit und Unbilligkeit“,32
29 Karl Eibl: Poetische Gerechtigkeit als Sinngenerator. In: Poetische Gerechtigkeit. Hg. von Sebastian Donat u.a. Düsseldorf 2012, S. 215–240, hier S. 226 [Hervorhebung O.B.]. 30 Wulf Segebrecht: Über ‚Poetische Gerechtigkeit‘. Mit einer Anwendung auf Kafkas Roman ‚Der Proceß‘. In: Die Literatur und die Wissenschaften. 1770–1930. Hg. von Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann. Stuttgart 1997, S. 49–69, hier S. 53. 31 Johann Christoph Gottsched: Akademische Vorlesung […] über die Frage: Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse?. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1 (1751), S. 391–405 und 486–496, hier S. 494: „Was also diesen großen Dichtern [Homer und Vergil] nicht zum Fehler gemachet worden, das knne ja unmglich den dramatischen Dichtern, als ein Laster angerechnet werden: und es sey also gar nicht nothwendig, in Schauspielen allemal Lohn und Strafen nach Verdienste auszutheilen. Man darf auch nicht denken, daß dergestalt Tugend und Laster mit einander vermischet werden wrden. Nein, jene behlt noch allemal unzhlige Vorzge vor dieser. Die natrliche Empfindung der Billigkeit und Unbilligkeit redet in der Brust der Zuschauer allemal der Tugend das Wort. […] Es wohnt Gott Lob! in den Herzen aller Menschen ein billiger Richter, der auch an fremdem Leiden, wenn es nur unverschuldet ist, ungehuchelt Antheil nimmt.“ Vgl. Segebrecht: Über ‚Poetische Gerechtigkeit‘, S. 51–53. 32 Gottsched: Akademische Vorlesung, S. 494.
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das Gryphius zunehmend in Zweifel gezogen hatte: Es stellt Gerechtigkeit nur kognitiv-propositional, aber nicht wirkmächtig, d.h. strafbewehrt her. Daraus schließlich folgt für Gryphius die Notwendigkeit des göttlichen Eingriffs: Dass das bloße Wissen um die göttlichen Gesetze von den Menschen verdrängt werden kann und in jedem Fall für ihre Geltendmachung unzureichend ist, war die grausame Lehre des Dreißigjährigen Krieges, die Gryphius offensichtlich präsenter war als Gottsched. Gottschedisches Sich-Verlassen auf den Innatismus hätte Gryphius nur vor diese persönliche Lehre zurückgeworfen. Ein Weiteres ist hinsichtlich Gryphius’ poetologischer Stellung festzuhalten: Die Dramenkonflikte werden nicht nur durch einen interpersonalen Dissens über die Auslegung des göttlichen und natürlichen Rechts konstitutiert. Vielmehr haben sich die Protagonisten zum Gutteil auch tatsächlich schuldig gemacht. Es liegt also ebenso eine intrapersonale Zerrissenheit vor, deren rechtstheologische Auflösung Gryphius’ Trauerspielen allererst ihr bestimmtes Ende gibt. Mit Ausnahme des Papinian ist bei keinem seiner Protagonisten diejenige sittliche Vollkommenheit der Protagonisten zu konstatieren, wie sie die Tragödienpoetik des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts noch vermehrt fordert: Sie behalten zwar gegenüber ihren Gegnern Recht; damit sind sie jedoch noch nicht ideale Tugendbolde. Tomas Martinec hat luzide herausgearbeitet, dass Aristoteles gerade die Hamartie des Helden nicht moralisiert: Vielmehr führte erst eine von Scaliger begründete und über Opitz vermittelte humanistische Rhetorisierung der Tragödienpoetik und die daraus resultierende Lehrverpflichtung auch des Trauerspiels33 zu jener Auffassung, wie man sie noch bei Birken finden wird: „Der Held / welchen man als Hauptperson vorstellet / muß ein Frbild aller Tugenden […] seyn“.34 Gerade dies kann von Gryphius’ Hauptfiguren ebenso wenig behauptet werden wie der von Birken umrissene Umkehrschluss: „Ist er [der Held] aber ja ein Tyrann oder Bswicht / so soll ihm seine Straffe auf dem Fus nachfolgen / oder er endlich / wie der Knig Manasse / bekehrt werden“.35 Indem Gryphius’ Titelhelden bekehrt werden, nämlich zum allein reinigenden Glauben, werden sie noch nicht zu besseren Politikern. Der politische Umbruch ist nicht Folge ihrer Bekehrung. Er ist es höchstens insofern, als ihre anfängliche Gnadenverwirkung und ihre schlussendliche Gnadenerwirkung durch den Glauben künftigen Generationen von Herrschern als Vorbild dazu dienen, das persönliche Heil von vornherein nicht durch von Unglauben zeugender Tyrannei zu verwirken. Im Falle
33 Martinec: Rhetorik und Moral in der barocken Trauerspielpoetik, S. 134f. und 145. 34 Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 330f. 35 Ebd., S. 331.
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von Balbus und Bassian folgt die Strafe nicht ohne Weiteres auf den Fuß. Damit sind sie allerdings nicht ‚aus dem Schneider‘: Wertet man Leos Tod in der Tat als schicksalhafte Strafe für seine Unrechtstaten, so ist damit noch nicht die Integrität Michael Balbus’ ausgesagt; verurteilt man umgekehrt Michael Balbus als Königsmörder, ist damit noch nicht die umfassende Integrität Leos behauptet. Was die Ausstattung der Charaktere betrifft, können Gryphius’ politische Trauerspiele folglich als eine Rückkehr zur eigentlichen aristotelischen, ‚entscaligerisierten‘ Tragödienpoetik gelten. Auch diese aspektuelle Re-Aristotelisierung geschieht jedoch nur auf den Flügeln melanchthonianischer politischer Theologie und damit nur bedingt. Denn natürlich ist der Zweck der Tragödie mehr als nur das Hervorrufen von eleos und phobos, nämlich die damit verbundene moralische Lehre.36 Damit ist Gryphius’ Trauerspielpoesie der Trauerspielpoetik Scaligers immer noch mehr verpflichtet als der echt aristotelischen. Allerdings steht diese moralische Lehre bei Gryphius nicht schon fertig zur Verfügung (3.3), sodass dramatisch nurmehr vermittelt werden müsste (Didaxe), sondern sie ist in den rechtstheologischen Grenzen überhaupt erst dramatisch auszuloten (Analyse). Ferner besteht für Gryphius der interessante tragische Konflikt weniger zwischen einem eindeutig Guten und einem eindeutig Bösen. Das Augenmerk liegt auf dem Konflikt zwischen den mal mehr, mal minder schwerwiegenden Vergehen gegen göttliche Gebote: Umsturz oder schlechte Herrschaft. Insoweit musste Gryphius von der späthumanistisch-barocken, rhetorisierten Tragödienpoetik Abstand nehmen. Der aristotelische Fokus auf die Handlung, der den Figurencharakteren nur insofern Bedeutung zusprach, als deren Züge die Handlung vorantreiben, kam natürlich auch für Gryphius nicht in Frage, weil dieser Fokus von moralischen Erwägungen unberührt blieb. Der Weg der scaligeristischen Tradition zur eindeutigen Figurenausstattung musste für Gryphius jedoch gegenüber den systematischen Problemen, den der moralische Zweck in sich barg, nur in das andere Extrem führen: Sie invisibilisierte diese Probleme unter einem übermächtigen Eindeutigkeitspostulat und machte sich ihnen a priori unzugänglich. Andreas Gryphius ging es um den moralischen Zweck der Tragödie, und zwar in systematischer und nicht bloß didaktischer Hinsicht. Es ging ihm um Konflikte zwischen politischen und polittheoretischen Positionen, deren jeweilige Legitimität bzw. Illegitimität unter Zeitgenossen in der Tat nicht eindeutig auf der Hand lag. Sie ist zwar feststellbar, aber diese Feststellung war nach Gryphius’ Anspruch allererst noch zu unternehmen. Eine Ausstattung dieser Positionen mit eindeutig guten bzw. eindeutig schlechten Figuren wäre daher gerade kontraproduktiv, der systematischen moralischen Gesamtabsicht gegenüber nicht zweckmäßig gewesen.
36 Vgl. Martinec: Rhetorik und Moral in der barocken Trauerspielpoetik, S. 144.
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Ein bloß dramatisches genauso wie ein bloß didaktisch-ästhetisches Apriori der Regelpoetik musste in einen Indifferentismus münden, der dem rechtstheologischen Systematiker Gryphius offensichtlich unangemessen schien.
6.6 Gryphius’ politische Theologie: Eine Friedenslehre? Gryphius’ Schilderungen von Kriegsgreueln, ihre wortgewaltige Vergegenwärtigung exzessiver Gewalt zählen zu den eindringlichsten poetischen Auseinandersetzungen mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Die vorliegende Studie hat bereits in der Einleitung (1.) mit der Widmungsepistel des Olivetum eine der schonungslosesten Schilderungen zwischenmenschlicher Grausamkeit zitiert, die Gryphius hinterlassen hat. Neben ihrer rhetorischen Plastizität ist sie dies auch deshalb, weil der Schlesier nicht nur die Gewalttätigkeit unter Kombattanten und auch nicht nur diejenige von Soldaten gegenüber der Bevölkerung im Auge hat. Beobachtungsscharf registriert Gryphius dort auch die Grausamkeiten, zu denen sich Zivilisten gegeneinander bewegt sehen, teils sogar gegen die eigenen Kinder: Das Beispiel der Mutter, die ihr Kind verzehrt, wurde ebenso angeführt.37 Ohne Zweifel diente solche Dichtung dem Schlesier zur Mahnung zum Frieden: Die dritte Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius-Gesellschaft 2002 nahm sich dieses Themas an.38 Vor dem Eindruck jedoch, dass Gryphius deshalb schon als Pazifist zu gelten hat, ist mit allem Nachdruck zu warnen. In seiner dramatischen Kritik am Gesandtschaftswesen in der Catharina von Georgien weist der Dichterjurist die unübersehbare Bedingtheit des Friedenswillens aus (5.2.3f.). So ehrenwert nämlich der Versuch auch ist, durch eine diplomatische Lösung einen Krieg zwischen Georgien und Persien zu vermeiden, so wenig wird mit dem Vertrag zwischen Russland und Persien Catharinas Souveränitätsrecht verwirklicht. Gerade dieses hätte jedoch verteidigt werden müssen. Im Endeffekt nimmt Gryphius mit der Gefangensetzung einer Herrscherin einen Präzedenzfall auf, in welchem Krieg nicht nur gerecht, sondern nachgerade geboten scheint. Natürlich befürworten so gut als alle Völkerrechtslehrer von Vitoria bis Grotius den Versuch einer zunächst friedlichen Beilegung des zwischenstaatli-
37 Herodes, S. 156. 38 Mirosława Czarnecka u.a. (Hg.): Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Breslau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504).
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chen Konflikts.39 Sie erachten diese sogar als obligatorisch, insofern zuerst alles versucht sein muss, bevor eine Kriegserklärung ergeht: Der Frieden muss verantwortet werden.40 Mit der hohen Bedeutung, die der von Gott erteilten Souveränität mit Blick auf diese Aufgabe zukommt, stehen völkerrechtliche Beziehungen unter Bedingungen, die eine Friedenspflicht nicht zu verabsolutieren erlauben. Im Unterschied zu Gebiets-, Material- und Bodenschatzstreitigkeiten kann der Mensch als Subjekt göttlichen und natürlichen Rechts – und niemand ist das seinem politischen Range nach unmittelbarer als der Souverän – nicht ohne Weiteres zum Objekt eines Tauschs gemacht werden. Mit dem Tatbestand einer illegitimen Gefangennahme einer Souveränin wird ein Recht gebrochen, hinsichtlich dessen ein friedlicher Vertrag nicht nur wenig hilfreich, sondern im Gegenteil kontraproduktiv erscheint. Ausgerechnet er besiegelt denjenigen Souveränitätsverlust, vor dem er hat bewahren wollen. Die völkerrechtlichen Implikationen der Catharina schließen mehr an die bellum iustum-Theorie eines Luis de Molina an als an die Standpunkte Luthers und Erasmus’, denen Molina – nicht immer treffend – die Auffassung vorwarf, Krieg sei unter allen Umständen illegitim. Der Salmantiner Jesuit kennt Umstände, „in welchen es schwere Schuld wäre, nicht Krieg zu führen“.41 Wie hoch Molina dabei gerade das Herrschaftsrecht achtet, verdeutlichte er dadurch, dass das Naturrecht der Notwehr gegenüber einem Souverän nichtig ist (4.1.4). Die etwa von Grażyna Barbara Szewczyk teils euphorische gefeierte „Sehnsucht des Dichters nach dem Frieden“42 hat ihre Grenzen dort, wo fundamentale göttliche Rechte wie das der Herrschaft nicht anders geltend gemacht werden können als durch Krieg. Zugegeben erscheint das Ergebnis von Gryphius’ dramatischer Reflexion nach den Greueln des Dreißigjährigen Krieges erstaunlich. Schließlich liegt dieser bei Erscheinen der Catharina noch keine zehn Jahre
39 Vgl. Rolf Grawert: Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht. In: Der Staat 39 – 1 (2000), S. 110–125, hier S. 122f.; Wilfried Nippel: ‚Gerechter Krieg‘ und ‚Sklaven von Natur‘ in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts. In: Entdeckungen und frühe Kolonisation. Hg. von Christof Dipper, Martin Vogt. Darmstadt 1993 (THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik 63), S. 69–90, hier S. 73–76. 40 Vgl. Markus Kremer: Den Frieden verantworten. Politische Ethik bei Francisco Suárez (1548– 1617). Stuttgart 2008 (Theologie und Frieden 35). 41 Brieskorn: Luis de Molinas Weiterentwicklung der Kriegsethik und des Kriegsrechts der Scholastik, S. 173 [Hervorhebung O.B.]. 42 Grażyna Barbara Szewczyk: Andreas Gryphius als Dichter der Verständigung und Ökumene in der Zeit des Konfessionalismus. In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Hg. von Mirosława Czarnecka, Thomas Borgstedt, Tomasz Jablecki. Bern 2010 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A 99), S. 355–364, hier S. 361.
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zurück. Szewczyk bezieht sich u.a. auf das Geburtstags-Sonett für Gryphius’ Tochter Maria Elisabeth,43 das im Rahmen dieser Untersuchung gleichfalls besprochen wurde (4.3.4.3). Allerdings heißt es auch dort zum Friedensstreben: „Ists mglich / es gescheh: Bit aber ich zuviel / So bleibe deinem Gott mit Eintracht doch verbunden“ (GdW 1, Sonette aus dem Nachlass, XXXV, S. 112, v. 9f.). Zu Recht macht Szewczyk hier die Beobachtung, dass für Gryphius „der Friede mit Gott auch in der Zeit des Unfriedens möglich ist“.44 Sie übersieht allerdings das Bedingungsverhältnis und die Relevanzhierarchie, die damit ausgedrückt sind: Der Friede mit Gott steht höher als der zwischenmenschliche und internationale Friede. Der Friede unter den Menschen ist unter Missachtung des Friedens mit Gott lästerlich. Das göttliche Recht darf nicht ‚um des lieben Friedens willen‘ gebrochen werden. Gryphius’ Befürwortung des gerechten Krieges bleibt nicht implizit. Das vom Sohn Christian Gryphius aus dem Nachlass edierte Sonett An einen hchstberhmten Feldherrn / bey Vberreichung des Carl Stuards gipfelt in nichts Geringerem als dem ausdrücklichen Imperativ zum Krieg: Die Vnschuld / die den Geist in solchem Hohn auffgiebt / Erfordert was gerecht / und rechte Waffen liebt / Zu rchen diesen Fall. Heer Schwerdter aus der Scheiden! (GdW 1, Sonette aus dem Nachlaß, XLVII, S. 118, v. 12–14.)
Den bei Szewczyk und Walter Jens kaum zu übersehenden Aktualisierungstendenzen von Andreas Gryphius’ Denken vom Frieden, seiner Feier als „moderner Christ“45 ist nachdrücklich zu entgegnen, wie wenig die politische Theologie des Andreas Gryphius für eine in der Tat moderne Friedenslehre taugt: Diese wird erst mit Kant verwirklicht sein, indem sie dort als apriorische Rechtslehre ohne die umstrittenen Direktiven einer entweder verborgenen oder nur bedingt offenbarten Gottesinstanz auskommt und nicht an den Willen zum Glauben appelliert, sondern an den „wohlverstandenen eigenen Vorteil“.46 Wenn die Auffassung von
43 Ebd., S. 362f. 44 Szewczyk: Andreas Gryphius als Dichter der Verständigung, S. 363. 45 Ebd., S. 364, ihre Bezugnahme auf Jens S. 355; Walter Jens: Das Schwert in einen Pflug verkehrt. In: Dichtung und Religion. Pascal, Gryphius, Lessing, Hölderlin, Novalis, Kierkegaard, Dostojewski, Kafka. Hg. von Walter Jens, Hans Küng. München 1988 (Serie Piper 901), S. 62–79, besonders S. 73; ders.: Ein Friedenstraum in dunkler Zeit. Andreas Gryphius. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1 (1987), S. 13–27. 46 Georg Geismann: Warum Kants Friedenslehre für die Praxis taugt und warum die Friedenslehren von Fichte, Hegel und Marx schon in der Theorie nicht richtig sind. In: Kritisches Jahrbuch der Philosophie 1 (1996), S. 37–51, hier S. 37.
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der Aktualisierbarkeit Gryphius’ merklich Schule macht,47 so ist dies deshalb in der Tat gefährlich, weil Gryphius’ Friedensdenken nicht nur nicht Krieg verhindern kann und will, sondern affirmativ für Kriegsgründe einsteht, die von internationalen Konflikten absehen – Kriegsgrund muss nicht erst die Verletzung von Menschenrechten sein. Andreas Gryphius hat die Aufgaben, die seine Zeit wie auch die Paradoxien ihrer politischen Theologien ihm stellten, nicht auf die leichte Schulter genommen. Die Spannungspole mussten penibel geprüft und abgewägt, ihre Lösung auf einen soliden Grund gestellt werden, wenn Gryphius nicht wie Don Quijote an den Folgen einer schlecht reflektierten politischen Theologie ebenso leiden wollte wie die Galeerensklaven an den Folgen eines willkürlichen Positivismus. Von der Heilsgeschichte ist Gryphius schon soweit entfernt, dass sich der Mensch in der Welt politisch wie rechtlich zu verhalten hat: Dieser Anspruch schwindet nicht unter Vergänglichkeitsbekundungen dahin. Von einer säkularen Jurisprudenz ist Gryphius noch soweit entfernt, dass diesem Verhalten nicht die Freiheit selbst, sondern Gott das Gesetz gibt. Diesem Gott verdankt der gryphsche Mensch die concordia juris. Diesem Gott schuldet er im Zweifelsfall den Krieg auch dort, wo es nicht um genuin menschliche Rechte geht. Den Weg eines echten Menschenrechts auf dem Fundament einer Freiheit, die sich nur selbst das Gesetz geben kann, werden andere gehen.
47 So nämlich o.A.: [Art.] Andreas Gryphius. In: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Gryphius [zuletzt geändert am 23. August 2013; zuletzt eingesehen am 6. März 2014].
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7.1.2 Andere Quellentexte Articles agreed upon by the arch-bishops and bishops of both provinces, and the whole clergie, in the convocation holden at London, in the year 1562. London 1632.
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Register Personen, die Gryphius als historische Figuren seiner Dramen dienen, werden im Folgenden nur aufgeführt, insofern von der Realperson gesprochen wird. Aegidius Romanus 92 Agamben, Giorgio 57, 99 Alciato, Andrea 431 Althusius, Johannes 29, 31, 110, 111–119, 126, 133, 525, 566 Andreae, Johann Valentin 134 Aristoteles 65f., 77, 88f., 139, 143, 149–152, 175, 194f., 239, 246, 264–266, 294, 299, 324f., 333, 354f., 363, 578, 598–600, 604 Arnisaeus, Henning 40f., 131–134, 138, 261, 525, 527, 547 Assmann, Jan 54 Augustín, Antonius 445f. Augustinus, Aurelius 27, 104, 144, 273f., 283, 289, 292, 294, 320, 515 Averroës 66 Bacon, Francis 9, 230–236, 243, 259, 273 Baldus de Ubaldis 431 Balzac, Jean-Louis Guez de 299 Bassian → Caracalla Bartolus de Saxoferrato 168, 315, 326f., 329, 375, 470 Benjamin, Walter 13, 451, 593–596 Besold, Christoph 134–137, 198, 261, 421, 521, 548 Birken, Sigmund von 599, 604 Blumenberg, Hans 4, 6, 34–37, 42, 53, 55–57, 59f., 222f., 229, 239, 282, 292f. Bodin, Jean 15, 56, 111, 114, 131, 196, 282f., 292, 315, 324f., 367, 373, 422, 436–438, 468–470, 474–479, 481, 483, 525f. Boecler, Johann Heinrich 205–212, 243f., 322, 334, 342, 345, 510, 556, 583, 585 Bolmeier, Haro Antonius 422 Borgia, Cesare 452 Bornitz (Bornitius), Jacob 48, 119–122, 136, 198, 525 Botero, Giovanni 90, 520 Botsack, Johann 171
Burckhardt, Jacob 518f. Caligula, Gaius Caesar Augustus Germanicus 106f., 308, 315, 330 Calixt, Georg 171 Calov, Abraham 171f., 344 Cano, Melchior 180 Caracalla 330, 472, 477, 595 Carpzov, Benedikt (der Jüngere) 394 Castelvetro, Lodovico 299, 596 Cervantes Saavedra, Miguel de 2, 4f., 8, 37f., 69, 73, 75, 79–83 Charles I., König von England 243, 335, 337, 535, 537, 541f. Charles II., König von England 243f., 546, 551 Chokier, Jean de 177, 548 Chrysostomos, Johannes 104 Cicero, Marcus Tullius 8, 55, 88, 107, 144, 252, 425, 501, 505, 547 Commodus 308, 315, 328 Connan, François de 424f., 431, 449 Conring, Hermann 422 Cromwell, Oliver 335f., 338, 340, 532, 546, 553, 575–577, 580 Derrida, Jacques 57, 357, 397 Descartes, René 9, 22, 54, 215, 230f., 234–246, 259, 444 Duns Scotus 311, 556 Elisabeth I., Königin von England 562 Ferdinand I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 164 Ferdinand III., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 160 Fichte, Johann Gottlieb 72 Friedrich Wilhelm Kurfürst von Brandenburg 5, 316 Gadamer, Hans-Georg 34
646
Register
Galba, Lucius 107 Garcia, Fortunius 145f. Gentili, Alberico 27, 46, 418–422 Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen 105 Gottsched, Johann Christoph 603f. Grotius, Hugo 15f., 205, 209–212, 244, 251, 322, 342, 344, 421f., 424f., 431f., 450, 500f., 554–558, 562, 606 Gryphius, Christian (Sohn) 608 Gryphius, Maria Elisabeth (Tochter) 250, 608 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24f., 71, 453f. Heinsius, Daniel 298–305, 341–343, 596f. Henning, Adam 275 Hewlett, William 575, 577 Hobbes, Thomas 4, 6, 16, 22, 33f., 40, 42, 51, 54, 56–60, 109, 111, 157, 160, 176, 178, 195f., 211, 221, 243–254, 278, 282, 369, 378, 446, 473f., 483, 488, 508, 523, 525, 550, 569–571, 579, 583, 590–592 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 166, 334 Hotman, François 431 Ibn Ruschd → Avveroës Ivan IV. der Schreckliche, Zar von Russland 434 James I., König von England 538 Johann II. von Oppeln 164 Jonas, Justus 139, 180 Justinian 79, 145, 430 Kant, Immanuel 41, 52, 70–72, 80, 109, 111, 130, 142, 160, 190f., 230, 254, 374, 397, 432, 456, 484, 491, 494, 520, 571, 580, 590–591, 608 Keckermann, Bartholomäus 84, 105, 107, 117, 122–130, 166, 344, 525, 557 Kedrenos, Georgios 346f., 351f., 375f., 383, 396, 407 Kelsen, Hans 52f., 87 Keller, Jakob 128 Kepler, Johannes 134 Kircher, Athanasius 167, 275–282 Konstantin (Constantinus), Flavius Valerius 308, 315, 489
Kopernikus, Nikolaus 35, 43, 45, 229 Lessius, Leonhardus 431 Linde, Adrian von 178 Lipsius, Justus 102–111, 119, 128, 149, 151f., 166, 188f., 193, 198, 261, 324–326, 380, 398–400, 445, 461, 488, 499, 525 Locke, John 327 Lohenstein, Daniel Casper von 31, 166, 501, 594f. Luther, Martin 14, 20f., 23, 27, 62, 85, 105, 133, 140, 183, 186, 199–201, 219, 232, 247, 260, 269f., 294, 310f., 313, 317, 319, 321, 347, 350f., 410, 505, 527, 544, 578, 607 Machiavelli, Niccolò 2–4, 27, 33, 37, 42–48, 87–94, 101, 103, 109f., 120–122, 143–146, 148f., 151–154, 157f., 163, 166–169, 176f., 179, 193, 201, 203, 208, 223–229, 243, 260, 263–265, 270, 297, 301, 317, 324, 358, 363–365, 370, 372, 376f., 406, 415, 423f., 433f., 438, 452, 463, 465, 467, 472, 478, 481, 487, 500, 509, 514, 520, 543, 545f., 550, 573f., 583f., 586f., 598 Malingre, Claude 426, 434, 439 Maria I., Königin von Schottland 562f. Maria Theresia von Österreich 415 Maurikios, Kaiser Ostroms 383, 389 Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 164 Maximilian II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 160 Melanchthon, Philipp 21, 33, 61, 91, 97, 114, 123f., 137, 139–142, 168, 179–191, 193, 210f., 217, 229, 265, 274, 282–297, 305–323, 333, 338, 340, 345, 375, 384f., 399, 407, 410, 412, 441f., 448f., 470, 484, 487, 505–507, 510–513, 515f., 527f., 535, 544, 558, 562–564, 578, 583, 585f. Michael I. Rhangabe, Kaiser Ostroms 351–353, 376 Michael II. Psellos (Balbus), Kaiser Ostroms 198, 375f., 389, 407 Michail I. Romanow, Zar von Russland 429, 433
Register
Molina, Luis de 46, 154–157, 166, 294, 431, 521, 547, 607 Montaigne, Michel de 390–394 Monzambano, Severinus de → Samuel Pufendorf Morus, Thomas 260f. Müller, Sigismund 232 Nero, Claudius Caesar Augustus Germanicus 106f., 287, 308, 315, 487, 517f. Newton, Isaac 22, 36 Nicolai, Heinrich 171f. Nietzsche, Friedrich 191 Nittenberg, Karl von 174–176 Ockham, William → Willhelm von Ockham Opitz, Martin 166f., 604 Origenes 104 Peter, Hugo 544, 546, 575, 577 Petrarca, Francesco 274 Petrus Ramus 101, 117, 140f., 152 Philo Alexandrinus 104, 462 Phokas, Kaiser Ostroms 383, 389 Pole, Reginald 46 Popschitz, Marianne von 342, 445f. Protagoras 354 Pufendorf, Samuel 15, 79, 251, 254f., 294, 340f., 369, 374, 413, 418, 431, 434, 477f., 485, 493, 522, 555, 591 Reifenberg, Justus 520f. Riccius, Christoph 173–178 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, duc de 161–163 Rousseau, Jean-Jacques 109, 111, 130, 160, 190f., 254, 571, 592 Salmasius, Claudius 31, 124, 334–343, 583f. Saxoferrato (Sassoferrato), Bartolus de →Bartolus de Saxoferrato Scaliger, Julius Caesar 303f., 596, 604f. Schelwig, Samuel 180 Schiller, Friedrich 67, 448 Schmitt, Carl 49, 51–60, 92, 99, 123, 128f., 191f., 245
647
Schönborner, Georg 28–31, 40, 97, 131, 139, 148–154, 162, 165, 170, 174–176, 179–181, 183, 192–205, 218, 251f., 265, 306, 323–334, 345, 352–355, 363–365, 367, 388, 400, 413–416, 421, 461, 463f., 483f., 522, 526f., 583 Seianus, Lucius 107 Selden, John 209f. Seneca, Lucius Annaeus 23, 103f., 153, 202f., 365, 487, 589 Spee, Friedrich von 390–394 Spinoza, Baruch de 22, 167, 235, 342 Stosch, Baltzer Siegmund von 161–163, 165, 168–170, 205, 234 Suárez, Francisco 5, 8, 43–46, 80, 91, 114, 142–148, 152, 154f., 166, 315, 375, 382, 399, 412, 415f., 442f., 470, 478, 484, 493f., 496, 505, 511, 552, 587 Tacitus, Publius Cornelius 103f., 108, 205, 461, 497 Terentius Afer (Terenz), Publius 554f. Thomas von Aquin 72, 145–148, 168, 200, 294, 326, 349, 360, 367, 371, 444, 563, 578f. Thomasius, Christian 189, 254–258, 323, 335, 470, 586f. Tiberius, Iulius Caesar Augustus 106f. Ubaldis, Baldus de → Baldus de Ubaldis Ulpian, Domitius 178, 199, 410, 470 Vitoria, Francisco de 44, 91f., 137, 155, 271, 301, 315f., 333, 375, 421, 442, 470, 501, 606f. Vossius, Gerardus Joannes 65 Weber, Max 52 Weise, Christian 341 Wesenbeck (Wesenbecius), Matthaeus 490 William III. of Orange 243 Willhelm von Ockham 312, 556f. Xenophon 89, 545 Zesen, Philipp von 577