Transformationen: Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation 9783161559341, 9783161565137, 3161559347

English summary: Collected in this volume are several of Volker Leppin's essays from the past fifteen years. They c

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitendes
Kapitel 1: Wie reformatorisch war die Reformation?
Kapitel 2: Religiöse Transformation im alten Europa. Zum historischen Ort der Reformation
Kapitel 3: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten
Spätes Mittelalter
Kapitel 4: Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie
Kapitel 5: Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts
Kapitel 6: Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham
Kapitel 7: Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation
Kapitel 8: Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler
Kapitel 9: Katechismen im späten Mittelalter
Kapitel 10: Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein
Kapitel 11: Infragestellung der rituellen Vollzüge der Kirche: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter
Kapitel 12: Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik in Spätmittelalter, Renaissance und Reformation
Kapitel 13: „Cusa ist hie auch ein Lutheraner“? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues
Reformation
Kapitel 14: „Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“. Johannes von Staupitz als Geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung
Kapitel 15: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese
Kapitel 16: Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit
Kapitel 17: Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther
Kapitel 18: Sola fide und monastische Existenz. Die Amalgamierung von Paulus und Mystik in Luthers Römerbriefauslegung
Kapitel 19: Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation
Kapitel 20: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther
Kapitel 21: Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation. Zur Transformation eines akademischen Mediums
Kapitel 22: Luthers Vaterunserauslegung von 1519. Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu reformatorischer
Kapitel 23: Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“
Kapitel 24: Humanistische Gelehrsamkeit und Zukunftsansage – Philipp Melanchthon und das „Chronicon Carionis“
Kapitel 25: Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen
Kapitel 26: Kirchenraum und Gemeinde. Zur Änderung einer semiotischen Beziehung im Zuge der Wittenberger Reformation
Rezeption
Kapitel 27: Luthers Mönchtum in altgläubiger Polemik
Kapitel 28: Von charismatischer Leitung zur Institutionalisierung. Die Bedeutung der Monumentalisierung Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Personenregister
Stellenregister
Ortsregister
Sachregister
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Transformationen: Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation
 9783161559341, 9783161565137, 3161559347

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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)

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Volker Leppin

Transformationen Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation

Mohr Siebeck

Volker Leppin, geboren 1966; Studium der Ev. Theologie und Germanistik; 1994 Promotion; 1997 Habilitation; seit 2010 Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen; seit 2012 o. Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Unveränderte Studienausgabe 2018. ISBN 978-3-16-155934-1 / eISBN 978-3-16-156513-7 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und V erarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.



Vorwort Jubiläen haben ihre eigenen Gesetze – und die sind nicht immer günstig für die wissenschaftliche Arbeit: Wer ein Jubiläum feiert, sucht eher nach dem unterscheidend Besonderen als nach dem allgemein Traditionellen. So konzentrieren sich auch viele Debattenbeiträge vor 2017 eher auf das, was die Reformation unterscheidet – von dem, was davor war, und vielfach auch von dem, was in anderen Konfessionen danach geschah. Als gehörte es nicht zu einer Identität, neben den eigenen Besonderheiten auch das zu integrieren und anzuerkennen, was mit anderen verbindet, was mehr zum Erbe gehört als zu der eigenen Neuschöpfung. Doch werden solche differenzorientierten Zugänge zur Reformation auch im deutschen Wissenschaftssystem dadurch gefördert, dass evangelische Geschichtskonstruktionen die historischen Wissenschaften in evangelischtheologischen Fakultäten aber auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft anhand der Grenze von Mittelalter und Reformation organisiert haben – und dass im evangelischen Theologiestudium die mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit immer noch ehe ein Mauerblümchendasein fristet. Die Kenntnis der mittelalterlichen Quellen gehört nicht zum selbstverständlichen Gepäck derer, die eine evangelisch-theologische Fakultät verlassen. Die vertraute Welt beginnt vielfach erst um 1500 – und so wird die Reformation selbst, gelegentlich gegen den eigenen programmatisch vorgetragenen Anspruch, forschungsstrategisch entkontextualisiert. In Tübingen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch so unterschiedliche Gelehrte wie Hanns Rückert, Heiko Augustinus Oberman und Ulrich Köpf ein anderer Zugriff etabliert. Gemeinsam haben sie den reformationsgeschichtlich ausgerichteten Lehrstuhl, auf dem ich seit fast fünf Jahren in ihrer Nachfolge stehe, mehr als ein Dreivierteljahrhundert geprägt. Mittelalter und Reformation werden bei ihnen zusammengedacht, sind gleichermaßen im Zentrum der Forschung und gerade hieraus können Sichten entstehen, die klassische Bilder nicht nur jubiläumskompatibel bestätigen, sondern vielfach irritieren. Das wissenschaftliche Bild von den Vorgängen, die zur Herausbildung der Konfessionen führten, hat durch sie an Differenziertheit und Kontur gewonnen. Versucht man einen Zwischenbilanz zu ziehen, so wird deutlich, dass ein umfassendes Bild des Übergangs vom späten Mittelalter zur Reformation mindestens dreierlei braucht: Zum ersten ist der Mut nötig, in der Kirchengeschichte Theologie und Frömmigkeit in das Zentrum zu rücken – nicht als

VI

Vorwort



Phänomene, die von ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen isoliert wären, aber als mentale Konzepte, die Menschen in einer Weise begeisterten und motivierten, die im 21. Jahrhundert nur noch schwer vermittelbar ist. Eben dieser Schwierigkeit wird man sich aber als Kirchenhistoriker zu stellen haben – weil theologisch wie historisch ein umfassendes Verständnis der Reformation nicht zu gewinnen ist, wenn man Scheu hat, den religiösen Antriebskräften der Entwicklungen ihren angemessenen, und das heißt in der Reformation: zentralen Platz zu geben. Zum anderen wird man Theologie und Frömmigkeit der Reformation vor dem Hintergrund von Scholastik, Mystik wie Humanismus gleichermaßen zu sehen haben. Luther und die anderen Reformatoren wuchsen in einer Welt auf, in der sie in unterschiedlicher Weise Anteil an diesen Strömungen hatten. Und man wird sie nur angemessen verstehen, wenn man sie in ihrer Vielfalt betrachtet – eindimensionale Erklärungsansätze haben ausgedient, der Weg geht hin zu hochkomplexen Modellen des Verstehens. Zum Dritten wird man sich von harten Metaphern des Bruches ebenso zu verabschieden haben wie von pathetischen Formeln, die der Reformation auf je unterschiedliche Weise ungeprüft „ganz“ Neues, Analogieloses, Revolutionäres oder dergleichen zusprechen. In solchen Wendungen, die sich gerne an die Stelle von Erklärungen setzen, schwingen hagiographische Töne nach, die für eine nüchterne Geschichtsschreibung kaum mehr erträglich sind. Der vorliegende Band versucht dem ein weicheres Bild entgegenzustellen: die Transformation. Mit ihr verbindet sich der Gedanke allmählichen Wandels. Schon an dieser Stelle sei auf die Banalität hingewiesen: Eine Transformation enthält nicht nur das Moment der Kontinuität, sondern auch das der Änderung. Mit dem Begriff ist nicht ein Verzicht auf die Vorstellung verbunden, dass die Reformation Neues gebracht hat. Wohl aber wird die Neuheit auf eigene Weise beschrieben. Sie tritt nicht abrupt und unvorbereitet ein, sondern sie resultiert aus einem langen, allmählichen Wandel. Und sie steht zum Vorangehenden nicht in einem einfachen Verhältnis des Gegensatzes, sondern in einem hochkomplexen Verhältnis der Neu- und Umakzentuierung, der Ablösung und Anknüpfung. Dergleichen lässt sich nicht in einfache Formeln pressen, sondern es muss an vielen einzelnen Stellen jeweils neu erarbeitet und auch hinterfragt werden. So sind in dem Bemühen, diese Transformation nachzuzeichnen, über mehr als eineinhalb Jahrzehnte hinweg Einzelbeiträge entstanden, die nun gesammelt zur Diskussion gestellt werden – in der Hoffnung, dass sie die Richtung weisen, in die die Forschung sich weiterentwickeln kann, wenn sich der Staub von 2017 gelegt hat. Die Beiträge verdanken sich dem Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen, vor allem aber mit Berndt Hamm (Erlangen), mit dem mich seit meiner Jenaer Zeit freundschaftliche Kollegialität verbindet. Vor vier Jahren durfte ich von ihm die Hauptverantwortung für die Reihe „Spätmittelalter,

Vorwort

VII

Humanismus, Reformation“ übernehmen, in der nun auch der vorliegende Band erscheint. Dafür dass die Reihe weiter munter voranschreitet, gilt der besondere Dank meinen anregenden Mitherausgebern und -herausgeberinnen sowie dem Mohr Verlag, namentlich seinem Lektor und Geschäftsführer Henning Ziebritzki, mit dem sich auch komplizierte Fragen rasch und im Sinne bestmöglicher wissenschaftlicher Qualität klären lassen. Die redaktionelle Bearbeitung der an unterschiedlichen Orten erschienenen Aufsätze und die Erstellung der Register lagen in den Händen von Tobias Jammerthal MA, dem ich hierfür herzlich danke! Tübingen, Pfingsten 2015

Volker Leppin

Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. XIII

Einleitendes Kapitel 1 Wie reformatorisch war die Reformation? .......................................................... 1 Kapitel 2 Religiöse Transformation im alten Europa. Zum historischen Ort der Reformation ............................................................. 17 Kapitel 3 Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten .......................................................... 31

Spätes Mittelalter Kapitel 4 Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie ...................................................................69 Kapitel 5 Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts .....81 Kapitel 6 Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham .........................................95 Kapitel 7 Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation ................................................................ 109

X

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 8 Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler ......................................... 127 Kapitel 9 Katechismen im späten Mittelalter ............................................................. 137 Kapitel 10 Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein ....................... 159 Kapitel 11 Infragestellung der rituellen Vollzüge der Kirche: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter................................................................................... 171 Kapitel 12 Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik in Spätmittelalter, Renaissance und Reformation ........................................ 189 Kapitel 13 „Cusa ist hie auch ein Lutheraner“? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues ..................................................................................... 211

Reformation Kapitel 14 „Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“. Johannes von Staupitz als Geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung.................................................... 241 Kapitel 15 „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese .......... 261 Kapitel 16 Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit ..................................... 279 Kapitel 17 Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther ........................................................................................ 303

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 18 Sola fide und monastische Existenz. Die Amalgamierung von Paulus und Mystik in Luthers Römerbriefauslegung ................................................................. 333 Kapitel 19 Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation...................................................................... 355 Kapitel 20 Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther .......................... 399 Kapitel 21 Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation. Zur Transformation eines akademischen Mediums ..... 419 Kapitel 22 Luthers Vaterunserauslegung von 1519. Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu reformatorischer .................................................................................... 429 Kapitel 23 Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“ .................................................. 443 Kapitel 24 Humanistische Gelehrsamkeit und Zukunftsansage – Philipp Melanchthon und das „Chronicon Carionis“................................... 459 Kapitel 25 Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen ............................................................. 471 Kapitel 26 Kirchenraum und Gemeinde. Zur Änderung einer semiotischen Beziehung im Zuge der Wittenberger Reformation ...................................................... 487

XII

Inhaltsverzeichnis

Rezeption Kapitel 27 Luthers Mönchtum in altgläubiger Polemik ................................................ 507 Kapitel 28 Von charismatischer Leitung zur Institutionalisierung. Die Bedeutung der Monumentalisierung Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation ....................................................... 519

Nachweis der Erstveröffentlichungen ......................................................... 531 Personenregister ......................................................................................... 535 Stellenregister............................................................................................. 541 Ortsregister ................................................................................................. 549 Sachregister ................................................................................................ 551



Abkürzungsverzeichnis Grundsätzlich folgen die Abkürzungen: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4, Tübingen 2007. Zusätzlich werden folgende Abkürzungen verwendet:

AHSysTh – Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie ALKGMA – Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters ASBT.VS – Archenhold-Sternwarte Berlin-Trepttow. Vorträge und Schriften AV.S – Archa Verbi. Subsidia BCG – Buchreihe der CusanusGesellschaft BDSt – Bonner dogmatische Studien BEHE.SR – Bibliothèque de l’école des hautes études. Section des sciences religieuses BeSym – Biblia et Symbiotica BGQMA – Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters BibDSD – Bibliothek des deutschen Staatsdenkens BLVS – Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart BÖT – Beiträge zur ökumenischen Theologie BSK – Berliner Schriften zur Kunst BSPh – Bochumer Studien zur Philosophie BZBZR.KS – Bischöfliches Zentralarchiv und Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg. Kataloge und Schriften CMyst – Christliche Mystiker

CPTMA.B – Corpus philosophorum Teutonicum Medii Aevi. Beihefte CTQ – Concordia Theological Quarterly CusSt – Cusanus-Studien Diss.T – Dissertationen Theologische Reihe EichHR – Eichstätter Hochschulreden ErSap – Erudiri Sapientia ESMAR – Education and Society in the Middle Ages and Renaissance FHA – Frankfurter historische Abhandlungen FIP.Th – Franciscan Institute Publications. Theology Series FSWP – Frankfurter Studien zur Wissenschaft und Politik GFI – Giornale della filosofia italiana GKS.MB – Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge GlLeh – Glaube und Lehre HbibPhMA – Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters HPE – Historia profana et ecclesiastica JRE – Journal of Religious Ethics KSLuth – Kommentare zu Schriften Luthers LSt – Leucorea-Studien LStRLO – Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie

XIV

Abkürzungsverzeichnis

LÜAMA – Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter LuBu – Luther-Bulletin MFCG – Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft MGH.SSpMA – MGH. Staatsschriften des späten Mittelalters MHG.MA – Münchener Historische Studien. Abt. mittelalterliche Geschichte MTUDL – Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters NuS – Norm und Struktur OCLP – Obrasclássicas da literatura portugesa OT – WILHELM VON OCKHAM, Opera Theologica , ed. v. Juvenal Lalor et al., 10 Bde., St. Bonaventure (New York), 1967-1986. OP – WILHELM VON OCKHAM, Opera Philosophica, ed. v. Juvenal Lalor et al., 7 Bde., St. Bonaventure (New York), 1974-1988. OPol – WILHELM VON OCKHAM, Opera Politica, 5 Bde., ed. v. Jeffrey G. Sikes et al., Manchester / Oxford 1940-2011. LUTHER, StA – LUTHER, MARTIN, Studienausgabe, ed. v. Hans-Ulrich Delius, 6 Bde., Berlin / Leipzig 19791999. MELANCHTHON, StA – MELANCHTHON, PHILIPP, Werke in Auswahl, 7 Bde., ed. v. Robert Stupperich u. a., 19511980. PhMed – Philosophes mediévaux PPh – Perspektiven der Philosophie PuR – Philosophie & Repräsentation / Philosophy & Representation QFEL – Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit QFG.NF – Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Neue Folge QFGDO.NF – Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. Neue Folge

QSGÖ – Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Quodlib. – Quodlibeta RBSW – Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft RelArts – Religion and the Arts RPhTh – Religion in Philosophy and Theology SaeSp – Saecula Spiritualia ScrTh – Scripta Theologica, Facultad de Teologia de a Universidad de Navarra SDCS – Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung SF – Studia Friburgensia SGKMT – Studien zur Geschichte der katholischen Moraltheologie SGR – Studien zu den Grundlagen der Reformation SHK.K – Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien SMHR – Spätmittelalter, Humanismus, Reformation SNS – Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik SpecAM – Speculum Anniversary Monographs SpicBon – Spicilegium Bonaventurianum SSLG – Schriften der Stiftung LutherGedenkstätten in Sachsen-Anhalt SSySpTh – Studien zur systematischen und spirituellen Theologie StCRKG – Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte SteL – Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi TCusL – Trierer Cusanus-Lecture ThGQ.NF – Thüringische Geschichtsquellen. Neue Folge ThTS – Theologische Texte und Studien TrefI – Tradition – Reform – Innovation TSMA – Texte des späten Mittelalters TTG – Text und Textgeschichte VCC – Veröffentlichungen des Collegium Carolinum VTh – Vergessene Theologen VTMG – Veröffentlichungen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft

Abkürzungsverzeichnis WARF – Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung WMASt – Wolfenbütteler MittelalterStudien WSSt – Wiener Staatswissenschaftliche Studien

XV

ZDM – Zugänge zum Denken des Mittelalters ZFTV – Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg ZHTh.NF – Zeitschrift für historische Theologie. Neue Folge

Kapitel 1

Wie reformatorisch war die Reformation? „Ein andres ist ein Pastor, ein andres ein Bibliothekar. So verschieden klingen ihre Benennungen nicht, als verschieden ihre Pflichten und Obliegenheiten sind. Überhaupt denke ich, der Pastor und Bibliothekar verhalten sich gegeneinander wie der Schäfer und der Kräuterkenner. Der Kräuterkenner durchirret Berg und Tal, durchspähet Wald und Wiese, um ein Kräutchen aufzufinden, dem Linneus noch keinen Namen gegeben hat. Wie herzlich freuet er sich, wenn er eines findet! Wie unbekümmert ist er, ob dieses neue Kräutchen giftig ist oder nicht! Er denkt, wenn Gifte auch nicht nützlich sind – (und wer sagt es denn, dass sie nicht nützlich wären?) –, so ist es doch nützlich, dass die Gifte bekannt sind. Aber der Schäfer kennt nur die Kräuter seiner Flur und schätzt und pflegt nur diejenigen Kräuter, die seinen Schafen die angenehmsten und zuträglichsten sind.“1

Dem Kirchenhistoriker ist die Alternative nicht fremd, die Gotthold Ephraim Lessing mit diesen Worten umrissen hat: Manchem Kollegen aus dem eigenen Fach mag der Kirchenhistoriker als ein emsiger Kräutersammler erscheinen, der einen ungeordneten Strauß verschiedenster Pflänzlein pflückt, die erst dann zum veredelten theologischen Gebrauch taugen, wenn das hermeneutische Küchenmesser das Bitterkraut historischer Widerständigkeit daraus herausgeschnitten hat; und mancher historische Fachkollege mag wittern, der Kirchenhistoriker habe das historisch-kritische Katheder mit der Kanzel verwechselt, wenn er in seinem Forschen und Lehren einmal nicht nur cum studio, sondern womöglich gar noch cum ira verfährt. Diese Zwischenstellung kirchenhistorischer Arbeit macht gelegentlich dem Kirchenhistoriker seine eigenen Begriffe zum Problem: Würde er nicht ebenso in theologischer Verantwortung reden wollen wie in historischer, müsste er die Frage nicht stellen, wie reformatorisch denn die Reformation gewesen sei. Dass diese Frage nicht rein tautologisch ist, hat bereits Gottfried Seebaß in der Theologischen Realenzyklopädie festgehalten2. In der Tat ist der Begriff des Reformatorischen3 immer wieder mehr als ein bloß deskriptiver: Wer von „der“ reformatorischen Theologie spricht, von „dem“ reformatorischen Bekenntnis oder „den“ reformatorischen Kirchen, spricht nicht oder nicht nur 1

LESSING, GOTTHOLD EPHRAIM, Werke und Briefe. Bd. 9, ed. KLAUS BOHNEN und ARNO SCHILSON, 1993, 44,16–32. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um die Ausarbeitung meiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 5. Juni 2001. 2 SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Refomation, TRE 28 (1997), (386–404) 386f. 3 Zur Problematik dieses Begriffs s. bereits GÄBLER, ULRICH, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 1983, 47.

2

Wie reformatorisch war die Reformation?

von einem Phänomen im 16. Jahrhundert, sondern er leitet aus dem Geschehen des 16. Jahrhunderts Normen ab, die Gültigkeit für die Gegenwart beanspruchen4. Solche aktuelle Anwendung aber hat zwei historische Voraussetzungen, die alles andere als selbstverständlich sind: Dies ist zunächst die Voraussetzung, dass die Reformation etwas Neues in der Geschichte darstellte, ja, einen epochalen Einschnitt – eine Auffassung, die in den vergangenen Jahren zu überaus heftigen Debatten zwischen Allgemeinhistorikern und Kirchenhistorikern geführt hat: Charakteristisch für die eine Seite ist der Ausruf, mit dem Heinz Schilling vor wenigen Jahren ausgerechnet einen Kongress des Vereins für Reformationsgeschichte eröffnete: „Uns ist die Reformation abhanden gekommen!“5 Ihm steht das vehemente Plädoyer von Thomas Kaufmann gegenüber: „Aus kirchenhistorischer Perspektive ist jedenfalls mit Nachdruck auf dem epochalen Umbruchcharakter der Reformation ... zu beharren.“6 Der so behauptete Umbruchcharakter der Reformation aber setzt noch ein Weiteres voraus: dass nämlich jenes Phänomen, das man als „Reformation“ bezeichnet, ein einheitliches sei7. Und da der normative Gebrauch des Begriffes „reformatorisch“ ein theologisch-normativer Gebrauch ist, ist hinzuzusetzen: Behauptet wird eine theologische Einheit der Reformation. Darum wird im folgenden eine Frage, die mannigfache Aspekte der Politik-, Sozialoder Rechtsgeschichte betrifft, zunächst einmal als eine theologische behandelt und zunächst danach gefragt, welche theologische Rekonstruktion oder Konstruktion eigentlich das Bild von der theologischen Einheit der Reformation stützt.

4

Signifikant für diesen normativen Gebrauch etwa HAMM, BERNDT, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? (ZThK 83, 1986, 1–38), 4 Anm. 10, der gar erklärt, dass „nicht jede reformatorische Position des 16. Jahrhunderts notwendigerweise eine wirklich reformatorische, d.h. vom katholischen Gnaden- und Moralverständnis prägnant unterschiedene Rechtfertigungslehre“ enthalte (vgl. ähnlich auch ebd. 38). 5 SCHILLING, HEINZ, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes, in: Berndt Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996 (SVRG 199), 1998, 13–34, 13. 6 KAUFMANN, THOMAS, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte (ThLZ 121, 1996, 1008–1025. 1112–1121), 1118; vgl. die harsche Kritik an einem solchen Konzept von HEIKO AUGUSTINUS OBERMAN (ARG 91, 2000, 396–406). 7 Vgl. kritisch hierzu auch GOERTZ, HANS-JÜRGEN, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, 1987, 15, der gar erklärt, dass es „die Reformation gar nicht gegeben“ habe.

Kapitel 1

3

1. Das Urbild: Die Lutherdeutung Karl Holls Die Vorstellungen von einer Einheit der Reformation stehen noch heute im Bann der Luther-Renaissance, die Anfang des letzten Jahrhunderts von Karl Holl ausgegangen ist. Seine 1921 unter dem schlichten Titel „Luther“ gesammelten Aufsätze haben rasch und wirkungsvoll die wenige Jahre zuvor erschienenen Soziallehren Ernst Troeltschs in den Hintergrund gedrängt, in denen eine Engführung von Reformation und Neuzeit gerade bewusst vermieden worden war8. Neben der Änderung des allgemeinen theologischen Klimas nach dem Ersten Weltkrieg war der entscheidende Grund für diesen Erfolg von Holls Lutherdeutung die geniale Einfachheit, mit der er systematisch-theologische und historische Probleme zugleich lösen konnte: Die Rechtfertigungslehre, durch die Luther, in Holls Worten, „in einem bewußten und betonten Gegensatz“ zu seiner Zeit stand9, konnte als organisierendes Prinzip der Theologie Luthers erkannt und bestimmt werden, weil sie nicht nur systematische Leitfigur seiner einzelnen theologischen Ausführungen war, sondern auch am Anfang seiner Entwicklung stand, also den Bruch mit der mittelalterlichen Kirche begründete und den Gesamtvorgang der Reformation eigentlich erst anstieß. Expliziter, meist aber impliziter Leittext für diese Luther-Interpretation war dabei das sogenannte Große Selbstzeugnis Luthers von 154510. In der Vorrede zum ersten Band der lateinischen Ausgabe seiner Werke hatte Luther beschrieben, wie er zu Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit nach langem Grübeln über der Schrift zu der grundlegenden Erkenntnis über das Geschehen der Rechtfertigung gelangt war, dass Gerechtigkeit Gottes bei Paulus nicht als aktive zu verstehen sei, sondern als passive: dass Gerechtigkeit Gottes also nicht das bedeute, wodurch das Tun des Menschen strafend und richtend beurteilt werde, sondern umgekehrt: dass Gottes Gerechtigkeit eben das sei, was den sündigen Menschen ohne Voraussetzungen in seinem eigenen Handeln, allein durch den Glauben gerecht macht. Aus dieser einen Erkenntnis hätten

8 Zum Verhältnis Holls zu Troeltsch s. RENDTORFF, TRUTZ, Ernst Troeltsch (1865–1923), in: Martin Greschat (Hg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert II, 1978, 272–287, 283. Scharfsichtig hat dies schon Emanuel Hirsch als Rezensent festgestellt: „Durch die Anmerkungen des ganzen Buchs zieht sich eine Auseinandersetzung mit Troeltsch, die eingreifender ist als alles bisher zu Troeltsch Gesagte“ (HIRSCH, EMANUEL, Holls Lutherbuch, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther (WdF 123), 1968, 96–101, 99. 9 HOLL, KARL, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther, Tübingen 6 1932, 108. 10 Zu seiner Bedeutung für Holls Lutherdeutung s. HOLL (wie Anm. 9), 28 Anm. 1; vgl. auch insbesondere HIRSCH, EMANUEL, Initium Theologiae Lutheri, in: LOHSE (wie Anm. 8), 64–95.

4

Wie reformatorisch war die Reformation?

sich dann, so die Erinnerung Luthers, alle weiteren Erkenntnisse seiner Theologie gleichsam von selbst ergeben. Diese Beschreibung eines Urereignisses zu Beginn seines öffentlichen Wirkens durch Luther selbst prägte bei Holl und anderen das Bild, dass die Reformation inhaltlich eben deswegen eine theologische Einheit sei, weil sie genetisch auf einen einheitlichen Ursprung zurückgehe11; daran änderte die viel diskutierte Frage, ob man neben einem punktuellen „Durchbruch“ auch mit einer längerfristigen Entwicklung zu rechnen habe ebenso wenig wie die umstrittene Datierung der endgültigen reformatorischen Erkenntnis. Die Konstruktion eines einheitlichen Ursprungs blieb und mit ihr die Begründung der Einheit der Reformation in einem Urereignis, einer Art theologischem Urknall. Die Einheit der Reformation läge ja damit in der einen Person Martin Luthers, an dem einen Ort, dem Studierzimmer im Turm des Wittenberger Augustinerklosters, und in einer theologischen Grundfigur: dem Vertrauen auf die durch den Glauben erfolgende Rechtfertigung des Sünders, die im evangelischen Selbstverständnis bis heute den articulus stantis et cadentis ecclesiae bildet, den Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Mit erstaunlicher Beständigkeit hat diese Konstruktion Holls auch die methodischen Wandlungen überstanden, die die Fachdisziplin Kirchengeschichte in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. Als Beispiel sei nur Bernd Moeller genannt, der durch sein Buch über „Reichsstadt und Reformation“ 1962 entscheidend zur Etablierung sozialgeschichtlicher Methoden in der Kirchengeschichte beigetragen hat, aber dabei die Hollsche Konstruktion mehr gestützt als hinterfragt hat: Noch 1988 erklärte er auf dem Internationalen Luther-Kongress: „Ich scheue nicht vor der These zurück, es sei Luthers ‚Rechtfertigungslehre‘ gewesen, die ‚die Massen in Bewegung gebracht’ hat.“12 11 Zu den beiden Möglichkeiten, die Einheit der Reformation zu erweisen – genetisch einerseits, inhaltlich andererseits – s. WENDEBOURG, DOROTHEA, Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: Berndt Hamm / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, 1995, 31–51, 39. 12 MOELLER, BERND, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: Hamm / Moeller / Wendebourg (wie Anm. 11), 9–29, 27. An Moellers empirischer Stützung dieser Aussage – seiner Auswertung von Predigtsummarien in Flugschriften (vgl. jetzt das groß angelegte Werk MOELLER, BERND / STACKMANN, KARL, Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation. Eine Untersuchung deutscher Flugschriften der Jahre 1522 bis 1529 [AAWG.PH 3, 220], 1996) – hat WENDEBOURG (wie Anm. 11), 48f, die treffende Kritik geübt, dass hier letztlich schon die Auswahl der Quellen auf ein Vorverständnis des Reformatorischen zurückgeht, das das Ergebnis präjudiziert, indem Grenzgestalten wie etwa Staupitz, Karlstadt oder Sickingen ausgeblendet werden (vgl. ähnlich bereits KARANT-NUNN, SUSAN, What Was Preached in German Cities in the Early Years of Reformation? Wildwuchs Versus Lutheran Unity, in: Philipp Bebb / Sherrin Marshall [Hg.], The Process of Change in Early Modern Europe. Essays in Honour of Miriam Usher Chrisman, Athens 1988, 81–96).

Kapitel 1

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Der interpretative Gewinn des Hollschen Modells ist, das zeigen solche Äußerungen, enorm: Neuheit wie innere Einheit der Reformation lassen sich mit ihm gleichermaßen beschreiben. Die ganze Reformation erscheint als nicht mehr denn als „Luther-Rezeption“ – um den programmatischen Titel eines Aufsatzbandes von Moeller zu zitieren13. Je mehr man aber bereit ist, sich von dieser Fixierung auf Luther zu lösen, desto deutlicher werden auch die Verluste, die man sich mit diesem Modell einhandelt, weil es letztlich alle sich von Luther unterscheidenden Theologien unter den Verdacht der reformatorischen Illegitimität stellt, insofern ihre Unterschiede zu Luther sich vor allem als Abfall vom ursprünglichen gemeinsamen Anfang erklären lassen. Wie wenig damit dem Eigencharakter abweichender Theologien Gerechtigkeit widerfährt, will ich nur an einem, dem klassischen Gegenüber Luthers festmachen: dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli.

2. Das Gegenbild: Zwingli Dass Huldrych Zwingli in einer späteren Phase der Reformation geradezu zu dem Antipoden Luthers im reformatorischen Lager wurde, ist unumstritten. Das Marburger Religionsgespräch im Oktober 1529, auf dem man sich nicht auf eine gemeinsame Abendmahlslehre einigen konnte, machte die Spaltung des reformatorischen Lagers manifest, die noch heute in der Unterscheidung lutherischer und reformierter Protestanten spürbar ist. Doch dürfte es für das Bild von Zwingli und von der Reformation insgesamt nicht ganz unwesentlich sein, ob nun der Streit zwischen Luther und Zwingli als Bruch eines Schülerverhältnisses zu verstehen ist oder als das Scheitern einer Allianz einander selbständig gegenüber stehender Größen. Es kann nicht verwundern, dass die Eigenständigkeit Zwinglis gegenüber Luther traditionell besonders von schweizerischen und reformierten Forschern unterstrichen wird, während

Gemessen an dem schmalen zeitlichen Segment, das er untersucht, arbeitet HOHENBERGER, THOMAS, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–2 (SuR.NR 6), 1996, auf viel breiterer Quellengrundlage als Moeller und Stackmann und kommt folglich auch zu einem differenzierten Ergebnis hinsichtlich Einheit und Vielfalt in der Reformation, freilich mit starker Akzentuierung hinsichtlich der Moellerschen These von der Einheit (s. zusammenfassend 389f); allerdings bleibt auffällig, dass nach Hohenbergers Untersuchungen im Mittelpunkt der Luther-Rezeption gerade das admirabile commercium steht (a.a.O. 374f. 397): Gerade hier ist man ja beim Staupitzschen Erbe Luthers – und damit stellt sich die Frage, ob Hohenberger in seiner rechtfertigungstheologischen Engführung nicht ein Neuheitsverständnis der Rechtfertigungslehre Luthers voraussetzt, das eigentlich erst noch zu erweisen wäre. 13 MOELLER, BERND, Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte. Hg. v. Johannes Schilling, 2001; zur Programmatik des Titels s. ebd. 5.

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Wie reformatorisch war die Reformation?

sich in der lutherischen Forschung die Formel von „Zwingli als Schüler Luthers“ einer großen Beliebtheit erfreut14. Das kann innerhalb des üblichen, von Holl geprägten Rahmens freilich nur bedeuten: Zwingli ist durch Luther zur Rechtfertigungslehre gelangt – und es war eben diese Rechtfertigungslehre Luthers, durch die er zum Reformator wurde. Nun mag man die Tatsache, dass die Begrifflichkeit der iustificatio, wie Berndt Hamm festgestellt hat, „bei Zwingli nur eine recht bescheidene Nebenrolle spielt und eine sehr eingeengte Bedeutung hat“15, noch als eine bloß lexikalische Feststellung relativieren und statt der bloßen Begrifflichkeit auf analoge Denkmodelle zur Rechtfertigungslehre bei Zwingli verweisen. In der Tat gibt es bei Zwingli theologische Denkfiguren, die unter Verwendung anderen Vokabulars der Lutherschen Rechtfertigungslehre entsprechen. Aber: Die Behauptung, dass diesen Überlegungen bei Zwingli eben die Zentralstellung zukomme wie bei Luther, lässt sich bei einer unbefangenen Lektüre seines Werkes kaum aufrechterhalten. Zwinglis Denken liegt vielmehr ein ganz anderes Organisationsprinzip zugrunde: Es ist grundlegend von drei Begriffsoppositionen geprägt: Heilige Schrift versus Menschenwort, Freiheit statt Gesetz, Geist versus Materie. Diese drei Oppositionen stehen nicht neben- und schon gar nicht gegeneinander, sondern sie entwickeln sich wie konzentrische Kreise auseinander: Mit zunehmender Dauer seiner reformatorischen Tätigkeit und Lehre entfaltet Zwingli seine Theologie in diesen Oppositionen. Wenn man denn eine Grundfrage von Zwinglis Theologie ausmachen kann, so ist es gewiss nicht die berühmte Frage Luthers nach einem gnädigen Gott, sondern die ontologische Frage nach der unendlichen Differenz zwischen dem Schöpfergott und dem Menschen. Aus dieser Grundeinsicht nun entfaltet sich seine Theologie in den erwähnten konzentrischen Kreisen: Die erste Opposition, durch die Zwingli auffällig wird, ist die zwischen Gotteswort und Menschenwort. Seine ersten Maßnahmen als Leutpriester in Zürich sind der Freilegung des Gotteswortes gewidmet, indem er an Stelle der altkirchlichen Perikopenordnung eine Reihenpredigt über das Matthäusevangelium beginnt. Dabei folgt er noch ganz der humanistisch-erasmischen Tradition. Doch der Rahmen wird bald weiter gespannt, indem aus dem allgemeinen Gegensatz zwischen Gotteswort und Menschenwort insbesondere der Gegensatz zwischen Gotteswort und Menschensatzung wird. Das macht sich an dem ersten demonstrativen Akt der reformatorischen Partei in Zürich fest. Es ist immer wieder spöttisch festgestellt worden, dass 14

BRECHT, MARTIN, Zwingli als Schüler Luthers. Zu seiner theologischen Entwicklung 1518–1522 (1985), in: DERS., Ausgewählte Aufsätze, Bd. A: Reformation, 1995, 217–236. 15 HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 53.

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die Reformation in Zürich mit einem Wurstessen begonnen habe: In der Fastenzeit des Jahres 1522 versammelte sich eine Gruppe von Zürcher Bürgern in der Offizin des Druckers Froschauer und brach demonstrativ die Fastengebote. Zwingli, Leutpriester am Großmünster beteiligte sich am Essen zwar nicht, stand aber dabei und machte schon hierdurch deutlich, dass er dieses Verhalten guthieß. Wenig später hat er es dann in einer Predigt, die unter dem Titel „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“ zu einem großen Traktat ausgeweitet wurde, auch öffentlich gerechtfertigt. Der Hintergrund seiner Argumentation aber war eben dies: dass Menschensatzungen wie das Fastengebot den Menschen nicht binden könnten, der allein an Gottes Wort gebunden sei16. „dann“, so heißt es in dem Traktat, „sine wort mögend nit betriegen“17; entsprechend erfolgt die Ablehnung eines Pochens auf gute Werke, die Zwingli mit Luther verbindet, nicht aufgrund einer rechtfertigungstheologischen Argumentation, sondern mit der Begründung, in solcher Werkgerechtigkeit werde der Mensch durch Äußerliches, „mit einer ußwendigen gstalt“, verführt18. Diese Betonung der Alleinigkeit des Wortes Gottes wurde denn auch in den ersten Jahren der Reformation zu der Parole, um die in Zürich gestritten wurde. Als 1523 in Zürich die Erste Zürcher Disputation abgehalten wurde, ging es um eben diese Frage: ob denn die Predigt in der Stadt an die Schrift allein gebunden sein sollte. Und die Tatsache, dass eine solche allein an das Wort gebundene Predigt vom Rat geduldet wurde, machte den eigentlichen Erfolg Zwinglis aus. Parallel hierzu dringt aber immer stärker die Opposition von Gesetz und Freiheit in den Vordergrund von Zwinglis Denken und Lehren. Grundlegend wurde die Erkenntnis, dass das Wort Gottes mehr in der Kategorie der Freiheit zu verstehen sei als in der des Gesetzes oder der Vorschrift: Vielmehr setzt es den Menschen frei – frei vom Gesetz19, auch frei von der Sünde: Auf dieser Stufe kommt Zwingli unzweifelhaft zu Aussagen, die Luthers Rechtfertigungslehre entsprechen, am deutlichsten in der Schrift über göttliche und menschliche Gerechtigkeit von 152320. Selbst bei den hier zu beobachtenden Nähen freilich bleibt eine bemerkenswerte Differenz zwischen dem Zürcher und dem Wittenberger Reformator bestehen: Für Luthers Fragestellung ist entscheidend das Ergehen des Menschen vor dem Gericht Gottes. Er fragt 16

CR 88,99,12–15; 105,5–8. CR 88,97,13f. 18 CR 88,95,13–15. 19 CR 88,96,1–10. 20 CR 89,471–525. Auch hier ist freilich signifikant ist, dass die Rechtfertigung vor allem funktional als Bedingung der Möglichkeit guten Tuns durch den Menschen gedeutet wird (ZWINGLI, HULDRYCH, Schriften, ed. v. Thomas Brunschwiler / Samuel Lutz, 1995, Bd. 1, 260); BRUNSCHWEILER drückt diesen Sachverhalt in aller Schärfe aus: „Der Rechtfertigungslehre Luthers entspricht bei Zwingli die Auffassung vom Evangelium als der höchsten Offenbarung des Willens Gottes“ (a.a.O., Bd. 2, 4)! 17

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letztlich in eschatologischer Perspektive. Zwingli hingegen kommt auf seine Aussagen über die Befreiung des Menschen von der Sünde nicht aus eschatologischer Perspektive zu sprechen, ja er berührt die Frage des Jüngsten Gerichtes kaum, sondern er kommt auf sie aus schöpfungstheologischer Perspektive, eben aufgrund der von früh an gelehrten unendlichen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Dieser systematische Unterschied bringt mit sich auch einen Unterschied im Stellenwert der rechtfertigungstheologischen Aussagen: Diese rechtfertigungstheologischen Aussagen sind bei Zwingli Nebenkrater einer Theologie, die ihr Zentrum ganz woanders, eben in dem unendlichen Gegensatz zwischen Gott und Mensch hatte. So groß die Nähe zu Luther an manchen Stellen werden kann. Dies wird nichts daran ändern, dass Zwinglis reformatorischer Impetus seine Kraft, sein Zentrum und seinen Ursprung von anderen Denkmustern aus gewann als denen der Rechtfertigungslehre. Diesen unendlichen Gegensatz zwischen Gott und Mensch hat Zwingli dann in den folgenden Jahren zunehmend in einer weiteren Begriffsopposition ausgedrückt: der aus Geist und Materie. Sie steht letztlich hinter seinen von Luther abweichenden Anschauungen vom Abendmahl – auch der Streit dieser beiden in Marburg ist also nicht Folge eines Abfalls Zwinglis von ursprünglicher Gemeinsamkeit, sondern Folge einer konsequenten, in sich konsistenten Entwicklung bei beiden Reformatoren. Mit dem eben vorgetragenen Modell der konzentrischen Kreise lässt Zwingli sich also in einer Weise verstehen, die einerseits erklären kann, wie es zur engen Allianz mit Luther kam, die aber andererseits die Eigenständigkeit Zwinglis gegenüber Luther deutlich macht: Ein Schüler des Wittenbergers ist er gewiss nicht gewesen. Er ist vielmehr aus theologischen wie aus biographischen Gründen nicht in ein Bild des Reformatorischen einzuordnen, das den reformatorischen Charakter der Reformation an dem misst, was Luther als seine reformatorische Entdeckung beschrieben hat. Die Einheit zwischen Zwingli und den an ihn angelehnten Theologen des oberdeutschen Raumes auf der einen Seite und Luther mit seinen Anhängern im mitteldeutschen Raum auf der anderen Seite ist also nicht genetisch zu begründen, und in der Rechtfertigungslehre ist sie nur dann zu finden, wenn man das, was bei Luther im Zentrum steht, für entscheidend erklärt und mit dem verbindet, was sich bei Zwingli eher am Rande seines Denkens findet. Man könnte an dieser Stelle eine Fülle weiterer Theologen aufführen, die je in eigenständiger Entwicklung zu ihren theologischen Konzepten gekommen sind. Zwingli steht hier nur exemplarisch dafür, dass die Reformation nicht nur sozial und geographisch eine polyzentrische Bewegung war, sondern auch theologisch. Doch nicht nur die Einheit der reformatorischen Bewegung wird fraglich, wenn man beginnt, sich der Hollschen Konzeption zu entledigen, sondern

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auch die Theologie Luthers verliert an Geschlossenheit, wenn man sie neu befragt.

3. Das Vexierbild: Luther Das Hollsche Lutherbild verdankte seine enorme innere Konsistenz, wie erwähnt, der genialen Konstruktion, nach der sich Luthers Theologie genetisch aus ihrem systematischen Kern entwickelt habe. Nun mag zwar noch nicht der Zeitpunkt gekommen sein, das Hollsche Lutherbild mit einem in sich geschlossenen Gegenbild zu konfrontieren. Es gibt aber doch immerhin Gründe dafür, dass man in der Tat das feste Hollsche Lutherbild in Bewegung bringen kann und muss, wenn man solche Texte oder Textteile des nun wahrlich umfangreichen Œuvres Luthers stark macht, die im Rahmen der Hollschen Lutherdeutung an den Rand gedrängt beziehungsweise relativierend umgedeutet werden mussten. Kirchenhistorisch liegt es nahe, den Hebel an das Hollsche Lutherbild bei der Frage nach der Genese von Luthers Denken anzusetzen, also bei der Frage, ob dieses sich wirklich von einem Urereignis aus, wie Holl es einmal ausdrückt, „restlos“21, neu organisiert habe. In der Tat gibt es Anlass, diese Restlosigkeit wenigstens im Blick auf einen mittelalterlichen Traditionsstrang zu hinterfragen. Der Anlass hierfür ist schlicht, dass das Große Selbstzeugnis – der Kronzeuge für den genetischen Aspekt des Hollschen Lutherbildes – keineswegs der einzige autobiographische Konversionsbericht ist, den wir von Luther haben. Und er ist auch nicht der früheste: Schon einmal, im Jahr 1518, ein knappes halbes Jahr nach der Versendung seiner Thesen zum Ablass, hat Luther seinem Beichtvater Staupitz gegenüber von einem einschneidenden Bekehrungserlebnis berichtet22 – und es lässt sich forschungsgeschichtlich zeigen, wie dieses Dokument, das vor dem Auftreten Holls noch einige Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat, zunehmend aus der wissenschaftlichen Diskussion verschwunden ist23. 21

HOLL (wie Anm. 9), 111. Eine ausführliche Würdigung dieses Dokumentes und seiner Bedeutung für das Verständnis von Luthers reformatorischer Entwicklung findet sich meinem Aufsatz „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261-277 23 SEEBERG, REINHOLD, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4 / 1, 51954, 66f. Ebd. 67 Anm. 2 wendet Seeberg sich ausdrücklich gegen die Beschränkung der Sicht der reformatorischen Entwicklung auf rechtfertigungstheologische Zusammenhänge. Noch 1926 fühlte sich STRACKE, ERNST, Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator, 1926, 119f, genötigt, sich mit diesem Text immerhin auseinanderzusetzen. Seitdem spielt es nur noch gelegentlich eine hervorgehobene Rolle, so etwa bei OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“. Luther und die scholastischen Lehren von der 22

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Entscheidend für das Lutherverständnis ist nun: Das Wort, dessen neues Verständnis auf Luther nach diesem frühen Bericht eine befreiende, nach seiner Beschreibung geradezu himmlisch offenbarende Wirkung hat, ist nicht die Gerechtigkeit, sondern Buße. Und was Luther nun anhand dieses Begriffs beschreibt, ist nichts anderes als die Entdeckung eines mystischen Bußverständnisses. Schon mitten im Kampf, mitten in einer Zeit, in die auch die willigsten Spätdatierer Luthers reformatorische Entdeckung hineinsetzen, spricht Luther also von einer Entdeckung, die einen ganz anderen Inhalt hatte als die Rechtfertigungslehre und die ihn viel stärker in das Mittelalter einbindet als es der gängigen Rekonstruktion entspricht. Lässt man sich erst einmal auf diese Tatsache einer „mystischen Entdeckung“ des jungen Luther ein, so kann man sich von hier aus auf eine Spurensuche machen, und zwar eine solche Spurensuche, die der bisher geübten und gepflegten entgegenläuft. Statt dem Gedanken zu folgen, reformatorische Theologie sei und beginne dort, wo sich eine klare Rechtfertigungslehre finde, und entsprechend den jungen Luther stets nur unter der Frage zu betrachten, wo er denn schon rechtfertigungstheologisch denke, könnte man ja auch einmal umgekehrt fragen: Wo denkt Luther eigentlich noch auf den Bahnen der mystischen Theologie, deren Inhalte er 1518 als große Entdeckung gefeiert hatte? Ich will hierfür nur drei Beobachtungen benennen – drei Beobachtungen, die für sich keineswegs neu sind, in der Zusammenstellung aber vielleicht doch einen Hinweis auf die besondere Bedeutung des mystischen Traditionsstranges im Denken Luthers geben können. Das erste Beobachtung. Sie ist so allgemein bekannt, dass es verwundert, wie leicht die bisherige Forschung sich damit tut, sie in ihrer Bedeutung beiseite zu schieben. In einer seiner sogenannten reformatorischen Hauptschriften aus dem Jahre 1520, der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ beschreibt Luther das Geschehen zwischen Christus und der Seele im Bild von Braut und Bräutigam24. Es ist allenthalben bekannt, dass diese Bildwelt von Bernhard von Clairvaux in die christliche Mystik eingeführt worden ist. Und es ist in der Lutherforschung ebenso bekannt, dass diese Art der Bilder Luther nicht nur durch Lektüre Bernhards bekannt wurde, sondern auch und vor allem durch Johannes Staupitz – eben den Theologen, an den er sich mit dem Bericht über seine mystische Bekehrung wendet. Geht man von der Urereignisdeutung aus, Luther habe irgendwann, zu einem Zeitpunkt oder, et-

Rechtfertigung, in: LOHSE (wie Anm. 8), 413–444 430, ALAND, KURT, Der Weg zur Reformation, 1965, 63, oder HAMM, BERNDT, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers (LuJ 65, 1998, 19–44), 35f. Eine ausführliche Würdigung findet sich bei WETZEL, RICHARD, Staupitz und Luther, in: Volker Press / Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, 1986, 75–87. 24 LUTHER, StA 2, 275f.

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was moderater, in allmählicher Entwicklung, das Zentrum seiner reformatorischen Theologie in der Rechtfertigungslehre gewonnen, so kommt man zu der derzeitigen Standardauskunft der Lutherexegese: Luther habe eben seine Rechtfertigungslehre in mystische Bilder eingekleidet. Wie denn aber nun, wenn man den Denkversuch wagte, hier nicht nur von Einkleidung in mystische Bilder zu sprechen, sondern das von den Bildern Transportierte ernst zu nehmen? Stünde die erwähnte Stelle in Luthers Œuvre vereinzelt da, so wäre diese Frage obsolet. Aber sie ist durchaus nicht ein bloßes Einzelstück: Beobachtung Nummer Zwei. Albrecht Peters hat in einem Kontext, der schon in die innerreformatorischen Auseinandersetzungen der späten zwanziger Jahre hineingehört, der Abendmahlslehre, dargelegt, in welchem Maße Luther – bei allen auch von Peters aufrecht erhaltenen Differenzen zu bestimmten Formen hochmittelalterlicher Mystik25 – beim Abendmahl die reale Präsenz Christi eben nicht nur in den Elementen, sondern auch in den Gläubigen selbst betont26: „Dieses unmißverständliche Bekenntnis zum ‚Christus in nobis‘“, so Peters, „können wir aus Luthers Theologie nicht herausnehmen, wir würden sonst ihr ganzes Gefüge zerstören.“27 Und so lässt sich denn auch zeigen, dass noch der alt gewordene Luther das aus dem Spätmittelalter ererbte Bild von Braut und Bräutigam verwendet28, ja Mensch und Christus gar zu einer Person werden lässt 29. Auch an einer so zentralen Stelle seiner Theologie wie dem Abendmahl, also knüpft Luther an das Erbe der Mystik des späten Mittelalters an. Davon also, dass mittelalterliche Heilsvorstellungen restlos beseitigt worden seien, kann noch Jahre nach seinem ersten öffentlichen Auftreten keine Rede sein. Und eine dritte Beobachtung: Wiederum gibt es hierzu einen breiten Forschungsstrang – freilich nicht in der deutschen, sondern der finnischen Lutherforschung. Ein von mehreren Forschern getragenes Projekt hat hier den Nachweis unternommen, dass der auf Athanasius von Alexandrien beruhende und in der Mystik wiederkehrende Gedanke, Christus sei Mensch geworden, damit wir Menschen Gott würden, eine gewichtige Rolle im Denken Luthers spielte30. Diese skandinavischen Forscher haben für diese Ansicht von der 25

PETERS, ALBRECHT, Realpräsenz. Luthers Zeugnis von Christi Gegenwart im Abendmahl (AGTL 5), 1960, 60 Anm. 67. 26 S. etwa WA 23,239,6–12. 27 PETERS (wie Anm. 25) 60. Mit seiner Betonung, dass die unio auf den gesamten trinitarischen Gott bezogen ist, wendet sich Peters, Realpräsenz 58–63, implizit gegen den Versuch von Holl, Luthers Einungsverständnis durch seine Christozentrik von mittelalterlicher Mystik abzuheben (HOLL, wie Anm. 9, 81) 28 WA 39/I, 506,4f. 29 WA 40/I,285,5. 30 S. insbesondere PEURA, SIMO, Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, 1994; vgl. DERS. u. RAUNIO, ANTTI (Hg.), Lu-

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deutschen Forschung überwiegend Ablehnung erfahren, weil man fürchtete, dass die durch die Rechtfertigung des Menschen nicht aufgehobene Differenz zwischen Gott und Mensch, die für das klassische protestantische Rechtfertigungsverständnis entscheidend ist, auf diese Weise ganz unerträglich verwischt werde. Wie denn aber nun, wenn die Beobachtungen, die sie gemacht haben, zwar nicht ausreichen, den ganzen Luther systematisch zu erfassen, wenn sie aber damit einen Strang in Luthers Denken herausgearbeitet hätten, den ein fleißiges Festhalten an der in der Entdeckung der Rechtfertigungslehre begründeten Neuheit Luthers gegenüber dem Mittelalter normalerweise aus unserer Wahrnehmung verdrängt? Die vorgetragenen drei Beobachtungen bilden insgesamt eine ganz interessante Kette: Es scheint möglich, aus Luthers Denken noch bis weit in die späten zwanziger Jahre, einen starken mystischen Traditionsstrang herauszufiltern, dessen genaue systematische Stellung zur klassischen Rechtfertigungslehre freilich noch zu klären sein wird. Einstweilen dürfte so viel deutlich sein, dass mitnichten eine klare rechtfertigungstheologische Entdeckung am Anfang stand und Rudimente anderen Denkens restlos beseitigt hat, sondern dass die Zentralstellung der Rechtfertigungsaussagen einem Klärungsprozess entsprang, der dem realhistorischen Geschehen der Reformation nicht vorausging, sondern ihn begleitete und verarbeitete31. Am Ende war der Klärungsprozess so weit, dass Luther selbst ihn in seinem Großen Selbstzeugnis von 1545 auf seine Anfänge zurückprojizieren konnte. Am Ende seines Lebens ist es auch in der Tat unzweifelhaft klar, dass die Rechtfertigungslehre Mitte und Zentrum seines theologischen Denkens ist. Die Wege hierhin aber besitzen die Eindeutigkeit nicht, die Luther – und ihm folgend die Luther-Renaissance – im Nachhinein zu erkennen glaubt.

Abschluss: Wie reformatorisch war die Reformation? Die Frage, wie reformatorisch war die Reformation, findet nach diesen Überlegungen zunächst eine negative Antwort: Sie war jedenfalls nicht in der ther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der abendländischen Theologie (SLAG A 25), 1990. 31 Im Blick auf die jüngsten Überlegungen von HAMM, BERNDT, Wie innovativ war die Reformation?, in: ZHF 27 (2000), 481–497, bedeuten diese Überlegungen eine nachhaltige Unterstützung seines Bemühens, aus den harten Gegenüberstellungen von Kontinuität oder Umbruch in der Deutung der Reformation herauszukommen, zugleich aber auch eine genetische Dynamisierung seines Modells, insofern es die Folge der obigen Ausführungen sein wird, nicht nur verschiedene Weisen der Innovation analytisch voneinander zu trennen, sondern sie auch in ein zeitliches Verhältnis zu setzen, das etwa besagen würde, dass das Übergewicht der umbruchartigen Innovation in der Spätphase der Reformation stärker zu spüren gewesen wäre als zu Beginn.

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Weise reformatorisch, dass die heutige Anwendung des Adjektives „reformatorisch“ als einfache Ableitung vom Substantiv „Reformation“ gelten könnte. Die Kriterien nämlich zur Benennung dessen, was reformatorisch ist oder sein soll, entspringen letztlich nicht dem historischen Prozess der Reformation selbst; die in ihnen ausgedrückte theologische Normsetzung verdankt sich vielmehr der nachholenden Interpretation schon bei Luther selbst und ist in ihrer letzten Konsequenz wohl sogar als Produkt jener historischen Epoche ab den vierziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts anzusehen, die unter der Bezeichnung „Konfessionalisierung“ einer der wichtigsten Gegenstände der jüngeren Frühneuzeitforschung geworden ist. In der Selbstreflexion „des“ Reformatorischen in dieser Epoche wird die Zentralität der Rechtfertigungslehre als diejenige legitime Auslegung der Schrift gefestigt, die das lutherische Bewusstsein von anderen Auslegungen der Bibel und des Christlichen unterscheidet. Von dieser Selbstreflexion aus ist es möglich und im Sinne einer fortlaufenden Selbst-re-konstruktion auch geradezu notwendig, Anfänge und Gründe dieser Normbildung auch in den Anfängen der Reformation zu suchen. Die bedeutende, gegenwartslegitimierende Funktion einer solchen nachgängigen Rekonstruktion einer Entwicklungslinie ist aus der kirchenhistorischen Betrachtung auch gar nicht fortzudenken. Sie würde aber historisch wie theologisch auf tönernen Füßen stehen, träte neben sie nicht immer auch als Korrektiv eine relativierende Betrachtung: relativierend im Sinne der Aufdeckung von Potenzialen des Christlichen oder des Reformatorischen, die in die große, sich aus der Selbst-rekonstruktion ergebende Entwicklungslinie eben nicht eingegangen sind. Das heißt: Dieses relativierende Geschäft betreibt der Kirchenhistoriker nicht nur aus Freude an der Destruktion vorgegebener Legitimationsstrategien und auch nicht aus bloßer Freude an den vielen Kräutlein in Berg und Tal, sondern auch und vor allem deswegen, weil eine partikulare Position – und um eine solche handelt es sich beim lutherischen Christentum nun einmal – , weil also eine partikulare Position erst dann auf ihre Legitimität hin überprüft werden kann, wenn die Fülle der Alternativen klar vor Augen steht, aus denen sie sich abhebt. Erst eine solche Einsicht in die partikulare Selbstbegründung konfessioneller Kirchentümer aber bringt – mit Wilfried Härle gesprochen – „die Herausforderung eigenverantwortlicher Überprüfung und Entscheidung angesichts der geschichtlich vorgegebenen Interpretation der biblischen Botschaft zum Bewusstsein“32. Trotz der Hervorhebung, dass die theologische Einheit „der“ Reformation in der Rechtfertigungslehre ein zwar theologisch schlechthin entscheidendes, historisch gesehen aber sekundäres Interpretament der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen ist, bleibt eine Frage freilich noch offen: wie es nämlich bei all der vorgetragenen Disparatheit überhaupt dazu kommen 32

HÄRLE, WILFRIED Dogmatik, Berlin / New York 22000, 154.

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konnte, dass die reformatorische Bewegung offenkundig schon von Zeitgenossen innerhalb wie außerhalb des reformatorischen Lagers als eine in sich verbundene Gesamtbewegung wahrgenommen werden konnte. Anders gefragt: Wenn denn die Einheit der Reformation nicht in einem Urbild, einem Ursprungsereignis liegt, worin denn dann? Noch anders gefragt: Inwiefern war denn dann die Reformation doch, auf eine andere Weise, reformatorisch? Dorothea Wendebourg hat hierfür eine verblüffend einfache Erklärung gefunden: Die Einheit der Reformation kam nicht aus Wittenberg – sie kam aus Rom33: Der Druck, den Rom von Anfang an, seit dem Prozess gegen Luther34, auf die verschiedenen transalpinen Bewegungen ausübte, presste letztlich die heterogenen Entwicklungen unter eine gemeinsame häresiologische Messlatte und sprach ihnen so von außen eine Einheit zu. Das Anrennen Roms gegen die verschiedenen Bewegungen aber verweist auf eine Gemeinsamkeit, die für Luther von der Rechtfertigungslehre gar nicht zu trennen ist: die verschieden formulierte und begründete Lehre vom allgemeinen Priestertum. Es war die Aufhebung der Unterscheidung von Klerikern und Laien35, die die unterschiedlichen Bewegungen allesamt „systemsprengend“ machte, um ein Wort Berndt Hamms aufzugreifen36. Es konnte und musste gerade diese Stelle sein, weil sich in ihr theologisches Denken und Sozialgestaltung unmittelbar verbanden: Eben der Umbau und Neubau der Kirche unter Verzicht auf die Standesunterscheidung zwischen Klerikern und Laien macht die Reformation zu einer wirklichen Re-formation der vorfindlichen Kirche und damit reformatorisch. In diesem Ansatzpunkt lässt sich dann letztlich auch die Komplexität theologischer, rechtlicher, gesellschaftlicher und politischer Faktoren im Geschehen der Reformation fokussieren, die bei einer einlinig theologisch-personalistischen Ableitung – im Sinne der „Luther-Rezeption“ – nicht wirklich in Ausgleich miteinander zu bringen sind. Die Reformation hat damit ihren kirchenhistorisch angemessenen Ort in der langen Geschichte einer Zunahme des Pochens auf nicht-klerikale, das heißt: nicht-ständische Wahrheitsbegründungen. Diese Geschichte wäre nicht denkbar ohne das Aufkommen der europäischen Universität und der Scholastik – die ihren Ort zunächst noch ganz innerhalb des klerikalen Milieus hat33

WENDEBOURG (wie Anm. 11), 34. So ausdrücklich auch WENDEBOURG ebd. 136. 35 Die Auffassung, dass die Reformation in der Aufhebung dieser Standesgrenze ihre Einheit fand, ist freilich deutlich von der verkürzten Darstellung von Goertz zu unterscheiden, wonach der spätmittelalterliche „Antiklerikalismus“ der letzte Grund der Reformation gewesen sei (s. insbesondere GOERTZ, HANS-JÜRGEN, Antiklerikalismus und Reformation, 1995): Die theologischen Gründe, die die Reformatoren zur Kritik am Klerus brachten, waren durchaus disparat. 36 So das Charakteristikum des Reformatorischen bei HAMM, Rechtfertigungslehre (wie Anm. 4). 34

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ten. Und sie findet ihren Gipfel und ihre für das Christentum auch bedrohliche Radikalisierung in der Aufklärung. Innerhalb dieses lang dauernden Prozesses muss der Reformation mitsamt ihrem reformatorischen Gehalt kein epochaler Umbruchcharakter zugesprochen werden, aber eines bleibt doch ebenso sicher: Abhanden kommen wird sie uns gewiss auch nicht. 

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Religiöse Transformation im alten Europa Zum historischen Ort der Reformation Die Vielfalt der Metaphern, die der Beschreibung des Übergangs vom Mittelalter zur Reformation dienen, hat Heinz Schilling um eine besonders zeitgemäße erweitert: „[D]as späte Mittelalter war die boarding-, die Reformation die runway- und die Konfessionalisierung die take-off-Phase der alteuropäischen Modernisierung“1. Dieses Bild weist eine zu seinem Erfinder passende Dynamik auf. In seiner Prägnanz hat es sogar Eingang in den großen Artikel „Reformation“ von Gottfried Seebaß in der Theologischen Realenzyklopädie gefunden2 – und dies zu Recht, ist es doch in besonderer Weise geeignet, mit Mittelalter und Früher Neuzeit historische Phasen zusammenzudenken, die in der protestantisch gefärbten historiographischen Kultur des 19. Jahrhunderts organisatorisch auf unterschiedliche Departments der historischen Institute verteilt wurden, obwohl sie innerlich untrennbar zusammenhängen. Freilich mag das Bild aus dem Flugverkehr unterschiedliche Gefühle evozieren, ja, man mag sich fragen, ob es nicht in allzu einliniger Weise eine Teleologie ins Bild setzt: Der Prozedur des Boardings unterzieht der Fluggast sich ja nur, weil er im Anschluss an die take-off-Phase in alle Ruhe ein bestimmtes Ziel anstrebt: In Schillings Bild ist dieses wohl nichts anderes als die Moderne. Eben hier stellt sich das eigentliche historiographische Problem von Modellen der Verhältnisbestimmung zwischen unterschiedlichen Zeitabschnitten, zumal zwischen Spätmittelalter und Reformation. So gewiss es ist, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung beginnt3, so wenig kann es der historischen Beschreibung doch guttun, vor1 SCHILLING, HEINZ, Die Konfessionalisierung in Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtlichen Paradigmas, in: ders. / Wolfgang Reinhard (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, Gütersloh 1995 (SVRG, 198), 1–49, 35. 2 SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Reformation, in: TRE 28 (1997), 386–404, 399f. 3 S. das berühmte Diktum von HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie, ed. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1995, 17.

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Religiöse Transformationen im alten Europa

vergangene Epochen stets von ihrem Ziel her zu interpretieren. Geschichte wird so zur Vorgeschichte – und Historiker, ob in der allgemeinen Geschichte oder in der Kirchengeschichte verortet, werden sich fragen müssen, ob dies eigentlich befriedigend ist, und dies umso mehr, als der öffentliche Diskurs ohnehin einen Hang zu Geschichte als Vor-Geschichte hat und damit Geschichte mehr verwendet als analysiert. Erfahrungen hiermit haben professionelle Historiker reichlich gemacht – bis dahin, dass bei der Ottonen-Ausstellung von 2001 erklärtermaßen „eines der wichtigsten Ziele“ darin bestand, dem Land Sachsen-Anhalt „eine klare historische Verortung“ zu geben4. Geschichte als Suche nach Wurzeln in der Vergangenheit – wen würde das nicht reizen? Wer würde bestreiten, dass dies ein politisch hochakzeptabler Legitimationsgrund für die Befassung mit historischen Themen ist? Und doch bewegt sich, wer das historische Tun so legitimiert, auf einem schmalen Grat zwischen historischer Forschung und Bedienung gegenwärtiger Interessen. Für die Reformationsforschung wird dieser schmale Grat immer dann erkennbar, wenn wieder eines der Jubiläen zu feiern ist – wie das jetzt anstehende Jubiläum des „Thesenanschlags“5 2017. Jubiläen haben eine Affinität dazu, die Besonderheit, Neuheit oder Einzigartigkeit des gefeierten Geschehnisses herauszustreichen. Umso wichtiger ist es für Geschichtsschreibung, wenn sie seriös bleiben will, sich diesem Duktus nicht einfach willenlos hinzugeben, sondern darüber zu reflektieren, in welcher Weise die – von niemandem sinnvoll in Zweifel zu ziehende – Neuheit der Reformation ausgedrückt werden kann. Das alte, von Karl Holl geprägte Muster eines momenthaft-eruptiven Bruchs mit dem Mittelalter6, hat die evangelische Sicht lange geprägt. Es waren dann die Forschungen zum späten Mittelalter von Bernd Moeller7 und Heiko Augustinus Oberman8, die dieses eingängige Bild ins

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PUHLE, MATTHIAS, Historische Großausstellungen und ihre kulturpolitische Bedeutung, in: Otto der Große, Magdeburg und Europa. Die 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt im Kulturhistorischen Museum Magdeburg und die Tourismusprojekte des Landes Sachsen-Anhalt im Jahr 2001, hg. vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen-Anhalt, Kulturhistorisches Museum Magdeburg (Tourismus-Studien Sachsen-Anhalt 9), Magdeburg 2001, 7–13, 12 (http://www.sachsenanhalt.de/fileadmin/Files/09_Otto.pdf Zugriff am 8.6.2011). 5 Zu der ein wenig müßigen Debatte um die Historizität eines solchen Thesenanschlags s. JOACHIM OTT / MARTIN TREU (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008 (SSLG 9). Ich selbst habe in diesem Band die Gründe aufgeführt, die mich gegenüber der Annahme eines solchen Ereignisses skeptisch machen. 6 Zur kritischen Auseinandersetzung hiermit s. meinen Aufsatz Wie reformatorisch war die Reformation?, in diesem Band S. 1–15. 7 S. insbesondere MOELLER, BERND Spätmittelalter, Göttingen 1966 (KIG 2H); DERS., Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 73–85.

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Wanken brachten, wobei letzterer die Konsequenzen entschiedener gezogen hat als ersterer, der immer noch von einer sehr punktuellen Erklärung des reformatorischen Geschehens mithilfe einer Rechtfertigungslehre, die „die Massen in Bewegung gebracht“ habe9, ausging. Für Oberman hingegen wurden die Übergänge weicher und die Entwicklungen kontinuierlicher. Dass er hierbei vorwiegend theologiegeschichtlich gearbeitet hat, hatte seinen guten Grund darin, dass die Betonung des Bruchs zwischen Mittelalter und Reformation aus der Lutherforschung stammte und von hier aus das Gesamtbild der Reformation so sehr prägte, dass noch gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts Thomas Kaufmann forderte, man müsse aus kirchenhistorischer Sicht: „mit Nachdruck auf dem epochalen Umbruchcharakter der Reformation [...] beharren“10. Die Quellen sind freilich einer solchen Haltung nicht eben günstig, und man wird wohl nicht nur mit Berndt Hamm für die Lutherforschung ein „Wendekonstrukt“ konstatieren müssen11, sondern auch für die gesamte Reformationsgeschichte ein „Umbruch“-Konstrukt, das sich sogar in einem Band des Vereins für Reformationsgeschichte niedergeschlagen hat12, dessen Grundtenor Heinz Schilling freilich zu Recht gleich einleitend durch eine Einordnung der Reformation in einen temps des réformes konterkarierte13. Entsprechend ist es neuerdings zu einer neuen theoretischen Verortung von Kaufmann gekommen, wenn er die „Diskussion über die ‚Mittelalterlichkeit‘ oder ‚Neuzeitaffinität‘ Luthers oder der Reformation also getrost jenen überlassen“ will, „die daraus noch immer meinen, Funken schlagen zu können“14. 8

OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation 1. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965; DERS., Spätscholastik und Reformation 2. Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, Tübingen ³1989. 9 MOELLER, BERND, Die Rezeption Luthers in der frühen Reformation, in: BERNDT HAMM / BERND MOELLER / DOROTHEA WENDEBOURG, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 9–29, hier: 27. 10 KAUFMANN, THOMAS, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte, in: ThLZ 121 (1996), 1008–1025. 1112–1121, hier: 1118; vgl. die harsche Kritik an einem solchen Konzept von OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, in: ARG 91 (2000), 396–406. 11 HAMM, BERNDT, Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Berndt Hamm / Volker Leppin (hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (SuR.NR 36), 111–151, 112–117. 12 MOELLER, BERNDT (Hg.),Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 13–34 13 SCHILLING, HEINZ, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes, in: Moeller, Die frühe Reformation (wie Anm. 12) 13–34. 14 KAUFMANN, THOMAS, Geschichte der Reformation, Frankfurt ²2010, 21.

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Damit soll freilich keineswegs die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Reformation abgesenkt werden, sondern nur die zwischen Reformation und Früher Neuzeit, denn die Begründung für diesen Einordnungsversuch liegt in der „allgemein üblich gewordenen Einführung des Epochenbegriffs der ‚Frühen Neuzeit‘„15. Der geforderte Verzicht auf eine Epochendiskussion beruht also auf einer positiven Rezeption der Fächerpragmatik, die ihrerseits gerade den Spalt zwischen Mittelalter und Reformation bestätigt statt ein Nachdenken über seine Überbrückung zu befördern; unter der Hand wird der status quaestionis der Epochenzuordnung so verschoben und nicht mehr nach dem Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit gefragt, sondern nach dem zwischen der Reformation und der Folgezeit16, womit sich in der Tat eine einigermaßen müßige Diskussionslage ergäbe, aus der kaum ein Funken zu schlagen wäre, da ernsthafte Verteidiger eines scharfen Schnitts zwischen Reformation und sonstiger Früher Neuzeit kaum auszumachen sind. Das Interesse an dieser Verschiebung der Frage wird freilich klar, wenn man auf die Interpretation der Diskussion über Mittelalter und Reformation bei Kaufmann blickt: Hiernach neige jemand, der die Reformation näher ans Mittelalter rücke, dazu, ihre Geltungsansprüche „zurückhaltender zu interpretieren“, während jemand, der Luther „auf die Seite der Neuzeit herüberzieht“, Luther als eine Gestalt reklamiere, „die auch uns Heutigen noch Wesentliches zu sagen hat“17. Es ist zu hoffen, dass eine solche Geschichtsvergessenheit, die für uns Heutige Wesentliches nur von der Neuzeit erwartet, nicht aber von einem Plato, einem Augustin, einer Elisabeth von Thüringen18 oder auch einem Meister Eckhart, nicht der Reformationsgeschichte letzter Schluss ist. Nicht um eine Reduktion der Geltung der Reformation geht es bei einer Beschreibung ihrer Kontinuitätselemente zum Mittelalter, sondern um den möglichst plausiblen Weg, historische Entwicklungen zu erfassen, die eben nicht immer eruptiv erfolgen. Natürlich findet auch in Kaufmanns Reformationsverständnis das Mittelalter seinen Platz, und zwar mithilfe einer Kategorie, die noch einmal unterstreicht, dass die Einebnung der Epochen durchaus nicht dazu führt, die Differenz von Reformation und Mittelalter aufzuheben bzw. das „‚Nicht-mehrMittelalterliche‘ der Reformation“19 weniger zu betonen, sondern gerade im Gegenteil den Unterschied hervorhebt. Der Begriff, den Kaufmann nämlich für die Verhältnisbestimmung von Mittelalter und Reformation gebraucht, ist 15

KAUFMANN, Geschichte der Reformation (wie Anm. 14), 21. S. in diesem Sinne bereits KAUFMANN, THOMAS, Die Reformation als Epoche?, in: VF 47 (2002), 49–63. 17 KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 20. 18 S. HEIN, MARTIN Elisabeth von Thüringen als Glaubensvorbild? Chancen und Grenzen des Gedenkens im Jubiläumsjahr 2007. Ein hessischer Werkstattbericht, in:: JHKGV 56 (2005) 01–109. 19 KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 27. 16

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ein denkbar einfacher und nach seiner Benutzung durch so unterschiedliche Forscher wie Joseph Lortz20 und Olaf Mörke21 gewiss auch unverfänglicher: der der Voraussetzungen22. Damit kommt freilich das Epochendenken durch die Hintertür wieder in die Reformationsgeschichte hinein, denn Voraussetzungen sind in der Weise, wie Kaufmann sie beschreibet, im Wesentlichen eine conditcio sine qua non23, deren innerer Bezug zur Entfaltung reformatorischen Denkens und Handelns dann nicht weiter ausgearbeitet werden muss, ja, am Ende wird die Reformation in einen kruden Gegensatz zum Mittelalter gestellt: „Wo die Reformation vordrang, kam die Kirchengeschichte des Mittelalters in wesentlichen ihrer Erscheinungen an ein Ende“24. Die Diskussion um das Verhältnis der Reformation zum Mittelalter wird also nicht vermieden, um eine geschmeidigere Sicht der Geschichte zu erreichen, sondern gerade deswegen, weil die Kanten besonders markant gestaltet werden. Das Konzept der Voraussetzungen teilt somit eben jenen teleologischen Zugriff, der sich in dem oben angeführten Bild Schillings vom Flugstart zeigte. Zwar rückt Kaufmann runway- und take-off-Phase enger zusammen, die Boarding-time wird aber nach wie vor als bloße Vorstufe gewertet. Will man im Bild bleiben, so wird man wohl festzuhalten haben, dass dies exakt die Perspektive jener ist, die sich am Ende im Flugzeug befinden. Und eben darin besitzt sie ihre Ausschnitthaftigkeit, ihre Tendenz zur rückholenden Erklärung eines spezifischen Ausgangs der Geschichte. Das Vergangene gewinnt seinen Sinn vom späteren Ergebnis her – was wiederum für den Fluggast sinnvoll sein mag, der das Boarding ja auch gezielt angegangen ist, um in jenes Flugzeug zu kommen, für eine Geschichtsbetrachtung aber nur begrenzte Plausibilität besitzt, wenn sie ernst nehmen will, dass historische Entwicklungen zunächst einmal für mehrere Ausgänge offen sind. Spätestens hier beginnt das Bild vom Flugzeug wie seine Konzeptualisierung durch die Vorstellung der „Voraussetzungen“ auch unpräzise zu werden. Wer an das Boarding geht, hat schon längst ein Ticket gelöst – wer aber hätte im Jahre 1450, 1500 oder auch noch 1517 ein Ticket „Reformation“ gelöst? Diese Zeit als Boar20

LORTZ, JOSEPH, Die Reformation in Deutschland, Freiburg u.a. 61982, stellt den gesamten ersten Band unter die Überschrift „Ursachen, Aufbruch, erste Entscheidung“. 21 MÖRKE, OLAF, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München ²2011. Ebd. 2 relativiert Mörke freilich sogleich auch die Gefahr, dass mit dem Begriff der Voraussetzungen einlinige Kausalitäten unterstellt seien. 22 S. die Kapitelüberschrift bei KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 33. 23 Vgl. die wiederholten Formulierungen, die – ähnlich wie in der bekannten Formulierung Bernd Moellers: „Ohne Humanismus keine Reformation“ (MOELLER, BERND, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 98–110, 109) – auf eine mit „ohne“ eingeleitete Beschreibung spätmittelalterlicher Verhältnisse eine verneinte Formulierung zur Reformation folgen lassen, bei KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 24f. 24 KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 30.

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ding zu fassen oder aus ihr nur die condiciones qua non herauszupicken, stellt einen historiographischen Reduktionismus dar, welcher der selektiven Wirklichkeitswahrnehmung der Nachgeborenen gerecht werden mag, nicht aber der (auf andere Weise selektiven) der Zeitgenossen. Sehr deutlich hat dies Lortz ausgedrückt, indem er zur Einführung des Begriffs „Voraussetzungen“ erklärte, dass in seiner Darstellung der Reformationsgeschichte das Spätmittelalter nur unter der Perspektive des Übergangs in den Blick genommen werden könne, obwohl doch „[k]ein Jahrhundert … lediglich Ausklang oder lediglich Übergang“ sei25. Die Menschen des späten Mittelalters selbst lebten in einer Situation hochgradiger Entwicklungsoffenheit, gingen auf eine Zukunft zu, die eben noch nicht durch einen einzigen Ausgang bestimmt war, sondern durch eine Vielfalt von Möglichkeiten, aus denen dann nur die eine Geschichte gewordene entstand. Will man die Akteure des Geschehens begreifen, muss man genau diese prinzipielle Multipotentialität in Rechnung stellen, die eine grundsätzliche Offenheit des Verhaltens ermöglicht, ja, erzwingt. So betrachtet, gewinnt auch das, was für Spätere(s) eine condicio sine qua non darstellt, einen anderen Ort in seinem historischen Kontext. Sie ist mehr als eine bloße Vorbedingung beziehungsweise Voraussetzung eines Späteren, sie wird Teil eines integralen Zusammenhanges mit einer eigenen Dynamik und unterschiedlichen Möglichkeiten der Fortführung. So mag man etwa den Humanismus als eine der Voraussetzungen der Reformation betrachten26 – seine Entwickelbarkeit in andere Richtungen und seine vielfältige Rezipierbarkeit hingegen ist offenkundig. Um ihm also als Phänomen gerecht zu werden, wird man ihn nicht ausschließlich unter der Kategorie der Voraussetzung fassen dürfen, sondern muss seinen Facettenreichtum wahrnehmen. Dies gilt für alle anderen „Voraussetzungen“ der Reformation, ja überhaupt für alle Phänomene des späten Mittelalters, deren Potenzialität erst erkennbar wird, wenn man sie nicht unter der Leitperspektive der Voraussetzungen einschränkt, sondern in ihrer Breite untersucht. Wo, sei es im Bild vom Flugzeug, sei es im Konzept der Voraussetzungen, Geschichte teleologisch betrieben wird, droht eine radikale Verengung, wie sie nach dem heutigen Stand der Forschung kaum mehr angemessen sein kann. Dieser Einsicht Rechnung tragend, hat Berndt Hamm neuerdings in die Debatte eine Vorstellung eingebracht, die dezidiert der Offenheit der Entwicklung Rechnung trägt: das Emergenzmodell: Hamm unterscheidet ein einfaches und ein komplexes Emergenzmodell. Für das einfache Emergenzmodell gebraucht auch er eine Metapher – und vielleicht die schönste, die in die reformationshistorische Debatte Eingang gefunden hat: die vom Nil-

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LORTZ, Reformation (wie Anm. 14), 6f. KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 107–125

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pferd27. Wie dieses allmählich aus dem Wasser auftaucht, so wird im Sinne einer einfachen Emergenz auch die Reformation als ein Auftauchen aus dem Spätmittelalter beschrieben – als Vertreter eines solchen Modells benennt Berndt Hamm mich selbst28, was meinen Auffassungen aus einem schlichten, wiederum im Bild leicht zu fassenden Grund nicht gerecht wird: Das Nilpferd, das auftaucht, ist ja zuvor schon unter der Oberfläche präsent. Eben dies gilt aber in meinem Verständnis von Transformationen nicht für die Reformation als Ganze, sondern lediglich für Impulse, die auf sie hinführen, in ihr dann aber in einer Weise neu kombiniert werden, welche insgesamt ein neues, zuvor nicht gegebenes Phänomen begründet. Hamms Akzent liegt freilich auf etwas anderem: Das von ihm favorisierte komplexe Emergenzmodell rechnet nicht mit einem „Kontinuum des Sich-Entfaltens“, sondern mit einer „überraschende[n] sprunghafte[n] Zäsur“29. Sei es in dieser oder in jener Variante, gibt die Vorstellung von der Emergenz die Möglichkeit, das Neue vom Alten her zu denken statt umgekehrt, also die Logik der eigenen Erklärung am Geschehen nachzuvollziehen, statt sie vom Telos her zu konstruieren. Damit erscheinen dann frühere Entwicklungen nicht nur als condiciones sine qua non, sondern das „Neue setzt auf dem Vorhergenden auf und ist von ihm konstitutiv abhängig“30. Eben diese konstitutive Abhängigkeit macht die entscheidende Differenz aus: Während eine condicio sine qua non grundsätzlich ersetzbar ist, insofern kein innerer Zusammenhang bestehen muss, drückt die konstitutive Abhängigkeit einen solchen inneren Zusammenhang aus, der sich sogar noch weiter steigern kann: „Das Neue ist kompositionell vollständig mit den Begriffen des Bisherigen durchzustabieren, ohne dass man damit allerdings den Charakter des Neuen hinreichend erfassen und erklären kann.“31 Mit einer solchen Beschreibung steht ein Modell zur Debatte, das Neuheit und Bisheriges nicht mechanistisch einander gegenüberstellt, sondern dem Ineinander von Neuheit und Kontinuität gerecht wird. Freilich ist mir nicht ganz deutlich, welchen Gewinn man für die historische Beschreibung aus der Übernahme eines naturwissenschaftlichen Modells gewinnt: Was im naturwissenschaftlichen Kontext das Überraschende ist: dass es unableitbare Phänomene und Singularitäten gibt, ist für den kulturgeschichtlichen Zugriff ja gerade der Normalfall, demgegenüber Regularitäten nur mit großer Zurückhaltung zu beschreiben sind. Wenn Hamm betont, dass die Ereignisse der Reformation nicht „prognostizierbar“ waren32, rührt er an den entscheidenden Punkt: Nichtprognostizierbarkeit ist im Rahmen regelori27 HAMM, BERNDT, Die Emergenz der Reformation, in: ders. / Michael Welker, Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, 1–27, 3. 28 HAMM, Emergenz (wie Anm. 27), 4. 29 HAMM, Emergenz (wie Anm. 27), 16. 30 HAMM, Emergenz (wie Anm. 27), 17. 31 HAMM, Emergenz (wie Anm. 27), 18. 32 HAMM, Emergenz (wie Anm. 27), 16.

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entierten naturwissenschaftlichen Denkens erstaunlich – für geschichtliche Entwicklungen ist sie der Normalfall: Auch wenn man wie ich – und in hervorragender Weise gerade Berndt Hamm selbst – die Reformation vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Gegebenheiten erklären will, bedeutet dies nicht, sie zu einem prognostizierbaren Ereignis zu machen. Eben weil die vielen Singularitäten, die sich im historischen Prozess finden, ihrerseits jeweils einzeln und individuell sind, ist eine Prognostizierbarkeit im Geschichtsablauf überhaupt nicht gegeben. Das bedeutet aber: Die Pointe eines historischen Erklärungsmodells muss an einer anderen Stelle gesucht werden als der, die das Emergenzmodell hervorhebt. Nicht um die Frage von Regularität und Prognostizierbarkeit kann es in ihr gehen, sondern nur um die Weise der Veränderungsdynamik. An dieser Stelle kann wiederum eine Metapher weiterhelfen, die Scott Hendrix ins Gespräch gebracht hat: Er sieht, biblisch fundiert, die unterschiedlichen Konfessionen, die im 16. Jahrhundert entstanden, als unterschiedliche Versuche, den Weinberg des Herrn zu bebauen33. Damit deutet er das Bild, das das berühmte Epitaph Paul Ebers in der Wittenberger Stadtkirche polemisch gebrauchte, um die rechten Arbeiter im Weinberg, die Reformatoren, von den Altgläubigen abzuheben, konstruktiv um: Luthertum, Katholizismus und Calvinismus erweisen sich gleichermaßen als Ansätze, das spätmittelalterliche Reformbemühen umzusetzen. So trägt Hendrix der skizzierten Offenheit der Entwicklung Rechnung: Geschichte wird nicht nur aus Perspektive jener betrachtet, die den „take-off“ in Richtung lutherischer Reformation mitgemacht haben, sondern wenigstens auf eine Vielzahl unterschiedlicher tatsächlich vollzogener Entwicklungen bezogen. Auch wenn man idealiter noch die gar nicht umgesetzten Möglichkeiten einbeziehen müsste, löst dies doch den Blick von einer einseitigen Fixierung auf die lutherische Reformation, so wie es generell in der englischsprachigen Forschung eine Tendenz gibt, den Begriff der „Reformation“ zu weiten und dadurch weicher und anwendungsfähiger zu machen: Man braucht nur daran zu erinnern, dass Thomas Brady diesen Begriff prononciert im Plural verwendet34 und Diarmaid MacCulloch seine große Darstellung der Reformation mit den Ereignissen im Spanien des ausgehenden 15. Jahrhunderts beginnt35. Reformation wird so zunehmend als ein polyformer Prozess wahrgenommen, der durch lineare Bilder vom Start eines Flugzeugs oder mechanistische Vorstellungen von zu erfüllenden „Voraussetzungen“ nicht zureichend erfasst werden kann. Das öffnet die Perspektive für die vielfältigen Umgestaltungsprozesse mit unter33

HENDRIX, SCOTT, Recultivating the Vineyard. The reformation agendas of christianization, Louisville 2004. 34 BRADY, THOMAS A., German Histories in the Age of Reformations, 1400–1650, Cambridge 2009 35 MACCULLOCH, DIARMAID, Die Reformation 1490–1700. Aus dem Englischen v. Helke Voß-Becher u.a., München 2008.

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schiedlichem Ausgang, die den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit prägten. Eben hier setzt auch das Erklärungsmodell ein, das ich seit einigen Jahren favorisiere36: die Transformation. Der Begriff hat zunächst einmal den Vorteil einer relativ breiten Gebräuchlichkeit. Die Rede von „Transformation“ ist verbreitet und offenbar sehr weitreichend akzeptiert37. Der Sprachgebrauch setzt dabei in der Regel voraus, dass etwas aus einer Gestalt bzw. Form in eine andere überführt wird. Damit ist in dem Begriff von vorneherein durch die Präposition Differenz, durch das Stammnomen hingegen Kontinuität gesetzt. Der Verdacht, dass der Begriff einseitig auf die Kontinuität setze und, angewandt auf die Reformation, deren Veränderungsdynamik nicht ausreichend beachte, wie er sich etwa in Hamms Zuordnung meines Modells zu einem nilpferdhaften einfachen Emergenzmodell niederschlägt, lässt sich rasch zerstreuen, wenn man auf den wissenschaftlich am nächsten verwandten Bereich einer Anwendung dieses Begriffes schaut: die Politikwissenschaft. Hier ist „Transformation“ zum bevorzugten Begriff zur Beschreibung der Veränderungen im ehemals sowjetisch beherrschten Osteuropa geworden38. Auch hier geht es also um einen Prozess, für den die Tatsache grundlegender Veränderungen auf der Hand liegt, der gleichwohl nicht allein als Bruch interpretierbar ist, sondern in sich Kontinuitäten aufgesogen hat. Dieser Forschung sind auch Differenzierungen zu entnehmen, die für den Umgang mit dem Begriff der „Transformation“ wichtig sind. Eberhard Sandschneider hat in seiner grundlegenden Studie von 1995 drei Typen des Gebrauchs unterschieden: 1. einen eher alltagsweltlich-unspezifischen Gebrauch im Sinne von Wandel, 2. einen vorwiegend ökonomischen Gebrauch, der den Übergang zu einer Marktwirtschaft beschreibt und wohl zur jüngeren politikwissenschaftlichen Konjunktur des Begriffs beigetragen hat, und schließlich 3. die Verwendung zur Beschreibung der Veränderung von einem Systemtyp zum anderen39. An letztere Bedeutung kann nun in der Tat die Reformationsgeschichtsschreibung anknüpfen und hier wiederum eine weitere Differenzie36

S. z.B. meine Aufsätze Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in diesem Band S. 109–125; Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in diesem Band S. 31–68 sowie Luther’s Transformation of Late Medieval Mysticism, in: Lutheran Forum 44 (2010), 25–29. 37 So wurde er im SFB 644 „Transformationen der Antike“ sogar zum Leitbegriff eines gesamten Sonderforschungsbereichs. 38 S. SANDSCHNEIDER, EBERHARD, Stabilität und Transformation politischer Systeme. Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Opladen 1995; MERKEL, WOLFGANG, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden ²2010. 39 SANDSCHNEIDER, Stabilität und Transformation (wie Anm. 38), 34f.

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rung Sandschneiders aufgreifen, der als Unterbegriff einer solchen Transformation von einem bloßen Systemwandel und dem revolutionären Systemzusammenbruch einen Systemwechsel unterscheidet: Hier „geht das System in einen neuen Zustand über, d.h. Identität, Strukturen und Ablaufmuster interner Regelungs- und Entscheidungsvorgänge werden prinzipiell geändert“40, und dies in der Regel evolutionär41. Damit ist das Entscheidende dafür genannt, warum ich den Transformationsbegriff für so treffend zur Beschreibung der Reformation halte. Tatsächlich gibt es mit der Reformation einschneidende systemische Änderungen, die in der Wandlung des Corpus christianum in ein trikonfessionelles Europa bestehen: Der Weinberg wird auf unterschiedliche Weisen bebaut. Die Entwicklung hierzu vollzieht sich aber weder teleologisch noch bruchartig, sondern in der Weise einer langandauernden Umwandlung, die freilich in den Jahren 1517–1525 eine erhebliche Akzeleration erfuhr. Um eine eher floristische Metapher zu verwenden: „Die reformatorische Theologie, wie Luther sie entwickelte, bricht nicht mit dem Mittelalter, sondern wächst aus ihm heraus.“42 Will man einen solchen Transformationsprozess beschreiben, kann dies nur in der Weise gelingen, dass frühere wie spätere Formation gleichermaßen möglichst vollständige Berücksichtigung finden. Auch dort, wo das für Reformationshistoriker ja keineswegs anstößige Interesse der Erklärung des Späteren im Vordergrund steht, muss und kann dies nicht in der Weise erfolgen, dass einfach nach Spuren oder „Voraussetzungen“ im Vorherigen gesucht wird – diese Suche wird je nach Gusto mehr Kontinuität oder mehr Diskontinuität herausarbeiten. Vielmehr muss es darum gehen, das späte Mittelalter unter dem Gesichtspunkt seiner offenen Potenzialität in den Blick zu nehmen. Um das Schillingsche Flugzeugbild aufzugreifen: Man würde nicht beim Boarding einsetzen, das in einem solchen Verständnis als zielgeleitetes Vorgehen überhaupt schon relativ spät einsetzte, sondern man würde dort einsetzen, wo überhaupt die Entscheidung zu reisen oder nicht zu reisen, mit dem Flugzeug zu reisen oder mit dem Auto, ein bestimmtes Ziel zu wählen oder auf einen last-minute-trip zu setzen, fällt bzw. dort wo sie fallen kann. Und man würde den, der in eine bestimmte Richtung reist, ebenso ernst nehmen wie den, der sich ein anderes Ziel wählt, oder den, der sich gar nicht auf die Reise macht. Die take-off-Phase wäre nicht das einzige Ziel geschichtlicher Beschreibung, sondern einer der möglichen Ausgänge. Es ist offenkundig, dass dieses Konzept der Transformation das reformationsgeschichtliche Pendant zu dem von mir angestrengten Experiment, Luther so lange wir ir40

SANDSCHNEIDER, Stabilität und Transformation (wie Anm. 38), 40. SANDSCHNEIDER, Stabilität und Transformation(wie Anm. 38), 38. 42 LEPPIN, VOLKER, Einleitung: Die Erforschung von Luthers reformatorischer Entwicklung auf dem Weg vom „Wende-Konstrukt“ zur Kontextualisierung, in: Christoph Bultmann et al. (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (SMHR 39), 1– 7,7. 41

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gend möglich so zu lesen, „als wüsste man nicht, dass sich mit ihm ein Neuaufbruch in Kirche und Gesellschaft, für manche, wohl allzu hoch gegriffen, sogar eine neue Epoche der Weltgeschichte verbindet“43, bildet. Dass der Historiograph immer schon über die Folgen Bescheid weiß, wird so gerade nicht wie im Modell von Voraussetzungen oder „take-offs“ zum methodischen Prinzip, sondern umgekehrt wie in der Emergenztheorie zu einer jener heuristischen Voraussetzungen, mit denen der Historiker kritisch und selbstkritisch umzugehen hat. Konkret bedeutet ein solches Ansatz, das späte Mittelalter als eine Zeit von enormer Vielfalt wahrzunehmen. Befreit man diese Zeit von der Suche nach spezifischen Voraussetzungen, wird erkennbar, dass sich in ihm eine Fülle unterschiedlicher Entwicklungsmöglichkeiten findet, die durchaus nicht spannungsfrei miteinander existierten. Wenn ich gelegentlich von „Polaritäten“ im späten Mittelalter gesprochen habe44, so soll damit genau dieses auf den Begriff gebracht werden: Das späte Mittelalter kennt die zutiefst innerliche Bußfrömmigkeit ebenso wie die Suche nach einer äußerlichen, rein quantitativen Abdeckung der Bußlasten im Ablass. Die dynamische Entwicklung der frühen reformatorischen Bewegung wird nur verstehbar, wenn man sich deutlich macht, dass Luther mit seinem Protest gegen den Ablass eben innerhalb dieser Polarität sehr deutlich Partei zugunsten des verinnerlichen Bußverständnisses nahm45. Zugespitzt gesagt: Die Thesen gegen den Ablass entfalteten ihre Wirkung nicht deswegen, weil sie besonders neu gewesen wären46, sondern gerade deswegen, weil sie eine vorhandene Spannung in besonders zugespitzter Weise auf den Punkt brachten. 43

LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt ²2010, 12. S. LEPPIN, Wittenberger Reformation (wie Anm. 36),; DERS., Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz et al. (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden/ Boston 2005 (SHCT 124), 299–315. 45 VOLKER LEPPIN, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261-277; vgl. insgesamt zum Verständnis von Buße im Mittelalter und bei Luther SCHWARZ, REINHARD, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968 (AKG 41). 46 HAMM, BERNDT, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 106–108, hat in nachvollziehbarer Weise beschrieben, wie in den Ablassthesen ein Glaubensverständnis entwickelt wird, das nicht ohne weiteres unter den Bußbegriff subsumiert ist. Freilich wird man sich fragen müssen, nach welcher Kriterienbildung diese weitere Transformation tatsächlich schon dezidiert als „reformatorisch“ anzusprechen ist (ebd.109–111). Vor allem aber gibt Luther auf die von Hamm als maßgeblich hervorgehobene Frage nach seiner Intention (ebd. 101) selbst eine klare Antwort: „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro46 nostro Christianno“ (WA.B 1,160,8f). Gerade die Intention Luthers war es demnach gewiss nicht, anderes zu sagen als die mystische Tradition. 44

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Mag man hier Gründe haben, das Neue sehr stark aus dem Alten heraus zu erklären, so gibt es andere Entwicklungsschritte, bei denen das Neue so sehr überwiegt, dass die in der Transformation liegende Veränderung in den Vordergrund tritt, ohne dass freilich der Gedanke einer Umformung von schon Vorhandenem verschwände. So ist das späte Mittelalter durchaus von einer zunehmenden Spannung zwischen laikalem Engagement und klerikaler Heilsverwaltung geprägt. Die vielfältigen von Bernd Moeller seinerzeit zusammengetragenen Bemühungen städtischen Bürgertums um Partizipation am Heilsgeschehen47 sind nicht einfach Ausdruck einer immens gesteigerten Frömmigkeit48, die nur benennbar wäre, wenn Frömmigkeit tatsächlich quantitativ messbar wäre, sondern sie sind vor allem Ausdruck dessen, dass die Laien eine Partizipation am Heiligen erlangen wollten, die über die bloße Passivität gegenüber sakramentalen Gaben hinausging. Dies äußerte sich in der jeweiligen praxis pietatis des späten Mittelalters wie auch in institutionellen Vorgängen, etwa der Verfügung stätischer Räte über Predigerstellen. Es ist offenkundig, dass die Reformation hier einsetzte. Als Luther davon sprach, dass „was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey“ 49, und hinzufügte: „Szo folget ausz dissem, das leye, priester, fursten, bischoff, und wie sie sagen, geistlich und weltlich, keinen andern unterscheyd ym grund warlich haben, den des ampts odder wercks halben, unnd nit des stands halbenn“50,

war dies zu guten Teilen Konsequenz aus diesem zunehmenden Bemühen um Aktivität der Laien. Ja, Luther griff sogar eine metaphorische Ausweitung des Priesterbegriffs auf, wie sie sich schon bei Tauler fand51 – aber all dies besaß eine Form, die ihrer Dynamik nach keineswegs zwingend auf die reformatorischen Folgerungen hindrängte, die Luther daraus zog, so wie umgekehrt seine Aussagen sich nicht im Vorherigen auflösen lassen. Der prinzipielle Charakter des allgemeinen Priestertums – nicht wie bei Tauler an die Andacht gebunden, sondern generell an die Taufe – und der Begründungszusammenhang im Aufruf an den christlichen Adel deutscher Nation sich der Kirche und ihrer Reform anzunehmen, gaben seinen Äußerungen eine eigene Dynamik, die nicht vollständig im Vorherigen enthalten ist und doch keinen völligen Bruch darstellt. Eben darin zeigt sich der transformative Charakter des Vorgangs, an 47 MOELLER, BERND, Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe, Berlin 1987. 48 MOELLER, Frömmigkeit in Deutschland um 1500 (wie Anm. 7), 74. 49 WA 6,408,11f. 50 WA 6,408,26–28. 51 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 164,34–165,1: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“.

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dessen Ende etwas Neues steht, das im Vorherigen nicht enthalten und ihm gegenüber doch nicht einfach äußerlich ist. Schon mit diesem Beispiel ist ein Bereich berührt, der trotz seiner Orientierung an Luther nicht einfach nur seiner Theologie zuzurechnen ist, denn gerade das allgemeine Priestertum ist der Schlüssel schlechthin für ein Verständnis des Übergangs von Theologie in politisches Handeln52. Treffender als der Satz, durch die Rechtfertigungslehre seien die Massen in Bewegung gebracht worden, wäre wohl die Aussage: Durch die Lehre vom allgemeinen Priestertum wurden die Verantwortlichen zum Handeln legitimiert. In diesem wiederum zeigt sich dann der transformative Charakter des Geschehens. Denn das Handeln der Obrigkeiten, das entscheidend für die Durchsetzung der Reformation wurde, bedeutete, gemessen an den Polaritäten des späten Mittelalters, dass die Spannung zwischen der zentralen Kirchenleitung und dem Bemühen um dezentrale Verantwortung für die Kirche zugunsten der letzteren aufgelöst wurde. Christoph Volkmar und Enno Bünz haben gezeigt, wie vielfältig gerade im sächsischen Raum im 15. Jahrhundert die weltlichen Herren kirchenleitend tätig wurden53. Insgesamt genommen, waren diese Entwicklungen ergebnisoffen und konnten zu sehr unterschiedlichen Neuformationen führen. Tatsächlich wurde es von den Fürsten der Reformationszeit aufgegriffen, fortgeführt und intensiviert. Diese stehen damit in einer unmittelbaren Kontinuitätslinie zum späten Mittelalter, haben aber zugleich der weltlichen Verantwortung im Zuge der reformatorischen Visitationen und der Aufhebung der Jurisdiktion der Diözesanbischöfe eine klar neue Gestalt gegeben. Sehr deutlich kann man diese unterschiedlichen Elemente von Kontinuität und Neuformierung beobachten – und eben darin einen inneren Zusammenhang wie einen Neuansatz zugleich. Das ist Transformation.

52

LEPPIN, Wie reformatorisch (wie Anm. 6); DERS., Evangelium der Freiheit und allgemeines Priestertum. Überlegungen zum Zusammenhang von Theologie und Geschichte in der Reformation, in: Mitteilungen des konfessionskundlichen Instituts Bensheim 58 (2007) 103–107; der Sache nach entsprechend KAUFMANN, Geschichte (wie Anm. 14), 300f. 53 BÜNZ, ENNO / VOLKMAR, CHRISTOPH, Das landesherrliche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Enno Bünz / Stefan Rhein / Günther Wartenberg, Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005 (SSLG 5), 89–109.

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Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten Dass Geschichtsschreibung nicht nur Bilder von Vergangenem zeichnet, sondern auch Bilder, die die Gegenwart sich von sich selbst macht, zeigt sich an kaum einem historischen Gegenstand so deutlich wie an der Reformation. Sich über die Reformation zu äußeren, heißt immer auch, sich Gedanken über das Erbe der Reformation zu machen, über die theologischen Bestimmungen, die aus ihr folgen, ebenso wie über ihre Bedeutung für eine Rekonstruktion der deutschen Geschichte und ihrer Bedeutung am Übergang des Mittelalters in die Neuzeit. Diesen Prozess nachzuzeichnen, heißt dabei, das haben die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte überdeutlich gezeigt, immer auch, sich auf ein mühsam zu entwirrendes Geflecht von Kontinuitäten und Diskontinuitäten einzulassen1. Der Gedanke, dass die Reformation mit einem Mal voraussetzungslos in die Geschichte eingetreten sei, widerspricht jeder Alltagserfahrung ebenso sehr wie den Möglichkeiten historischer Arbeit2. Diese wird ihren Weg zwischen der unverkennbaren Tatsache, dass die Reformation nicht nur in der Kirche, sondern auch im Reich eine nachhaltige Systemveränderung mit sich gebracht hat, und der ebenso unleugbaren Tatsache, dass diese Systemveränderung nicht einem vorgegebenen Plan folgte, sondern sich allmählich durch eine Vielzahl von Faktoren entwickelte, zu gehen haben. Ihr

1

S. an wichtigen Beiträgen zu dieser Frage: OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen ²1979; HAMM, BERNDT, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: JBTh 7 (1992) 241–279; Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199); DERS., Wie innovativ war die Reformation?, in: ZHF 27 (2000) 481–497. Zu meinen eigenen Überlegungen hierzu s. LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz / Heidrun Munzert / Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 299–315. 2 Die Rede von einem „analogielosen“ Moment in Luthers Wirken (KAUFMANN, THOMAS, Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: ZThK 101 [2004] 138–174, 158) hat stärker bekenntnishaften als historiographischen Charakter.

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Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation

Blick richtet sich daher nicht erst auf die Zeit ab 1517, die im Mittelpunkt stehen wird, wenn 2017 das fünfhundertste Reformationsjubiläum gefeiert wird, sondern sie wird die Zeit davor wahrzunehmen haben, um Faktoren erkennen zu können, die die Entwicklung er Reformation begünstigten, ohne doch das späte Mittelalter einfach nur aus der ex-post-Perspektive zu betrachten, was meist dazu führt, dass das Eigenrecht und die Eigenständigkeit des späten Mittelalters nicht mit der notwendigen Deutlichkeit wahrgenommen werden.

1. Kulturelle Polaritäten im späten Mittelalter Die Diskussion um das Verhältnis von spätem Mittelalter und Reformation war nicht nur von den Entwicklungen allgemeiner Geschichtsschreibung bestimmt, sondern auch von den Rahmenbedingungen der theologischen Großwetterlage und der ökumenischen Annäherung und auch Abgrenzung. So erlaubte die ökumenische Öffnung der katholischen Kirche im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils auch innerhalb der Kirchengeschichte eine Theorieentwicklung, die den Versuch macht, der Reformation einen nicht primär negativen Ort im Geschichtsablauf zu geben. Vor allem Joseph Lortz3 und sein Schüler Erwin Iserloh4 haben hier einen wichtigen Schritt getan, freilich in der Weise, dass sie die tradierte polemische Negativdeutung der Reformation, wie sie etwa noch das Bild eines Heinrich Suso Denifle Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmt hatte5, nun gewissermaßen verschoben und das späte Mittelalter zu einer Negativfolie für die Reformation machten. In einem schroffen Dekadenzmodell erschienen Spätscholastik und Frömmigkeit des Mittelalters nun als eine Phase der Geschichte des westlichen Christentums, in der sich dieses von seinen eigentlichen Wurzeln löste und nicht mehr im Vollsinne katholisch war. Vor diesem Hintergrund war dann der Protest Luthers gegen Auswüchse der spätmittelalterlichen Kirche bis zu einem gewissen Grade legitim – freilich hätte er seine Notwendigkeit und vor allem die Legitimität fortdauernden Bestandes in Gestalt evangelischer Kirchen in dem Moment verloren, in dem das Konzil von Trient (1546–1563) eine tatsächliche katholische Reform durchgeführt und so die Kirche zu ihrem Wesen zurückgeführt hätte.

3

LORTZ, JOSEPH, Die Reformation in Deutschland, Freiburg 1939/40, mit zahlreichen späteren Auflagen. 4 ISERLOH, ERWIN, Martin Luther und der Aufbruch der Reformation (1517–1525), in: HKG(J) 4, Freiburg u.a. 1967, 3–114, 3–10. 5 DENIFLE, HEINRICH, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung. Quellenmäßig dargestellt, Mainz 1904. 1909.

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Klarsichtig hat Bernd Moeller dem eine evangelische These entgegengestellt und erklärt, um 1500 habe sich „die Intensität der Frömmigkeit [...] mächtig gesteigert“6, das 15. Jahrhundert sei geradezu eines der frömmsten Jahrhunderte in der Kirchengeschichte überhaupt gewesen7: An die Stelle des Dekadenzmodells trat so programmatisch ein Kulminationsmodell, das die Reformation nicht als Reaktion auf einen Abstieg deutete, sondern als ein Ereignis auf dem Gipfelpunkt der Entwicklung, freilich einer Entwicklung, deren Frömmigkeit als nicht zureichende Ausdrucksform christlicher Haltung zu interpretieren und durch die Rechtfertigungslehre Luthers zu korrigieren war. Beide Modelle arbeiten je auf ihre Weise mit Wertungen. Die Dekadenz wird ebenso anhand eines zeitexternen Wertemaßstabes beurteilt wie die Frömmigkeit. Demgegenüber setzt Berndt Hamm auf rein deskriptive Begriffe, wenn er den systemsprengenden Charakter der Reformation mit dem Gegenüber von „Gradualismus“8 einerseits und „Zentrierung“9 andererseits beschreibt. Mit dem „Gradualismus“ nämlich sei, so Hamm, „der Nerv mittelalterlicher, katholischer Gemeinsamkeit“10 bestimmt diese Gemeinsamkeit also wurde gesprengt, als mit der Reformation eine einzigartige Zentrierung

6

MOELLER, BERND, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 73–85, hier: 74. 7 MOELLER, BERND, Spätmittelalter, Göttingen 1966 (KiG 2H), 40. Die jüngste Modifikation dieses Modells bietet sein Schüler Kaufmann, Laienbibel (wie Anm. 2); leitendes Interpretament ist der Begriff des „Anfangs“, der äquivok für einen – mit Luther verbundenen – „analogielosen“ Anfang (158) und andere, offenbar nicht als analogielos verstandene Anfänge (Bibellektüre im späten Mittelalter, Erasmus) benutzt wird, ohne dass deutlich würde, welche historiographischen Kriterien jenseits der theologischen Wertungen des Autors die Einordnung einer Differenz als „analogielos“ – und d.h. nach Troeltsch den Verzicht auf „das Mittel, wodurch Kritik überhaupt erst möglich wird“ (TROELTSCH, ERNST, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Friedemann Voigt [Hg.], Ernst Troeltsch Lesebuch, Tübingen 2003, 2–25) – erlauben; die von Kaufmann referierten Spezifika von Luthers Bibelübersetzung (164–169) sind jedenfalls unter diese Kategorie kaum zu fassen. Wie die Nachzeichnung von Analogien mit einer Hervorhebung der Besonderheit Luthers methodisch zu verbinden ist, zeigt nach wie vor das von Kaufmann nicht herangezogene Standardwerk zu seinem Thema: EBELING, GERHARD, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942 (FGLP 10/1). 8 HAMM, BERNDT, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: Was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, 69–71, 9 HAMM, BERNDT, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: JBTh 7 (1992), 241–279. 10 HAMM, Einheit und Vielfalt (wie Anm. 8), 71.

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Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation

aller Theologie und Frömmigkeit um die Überzeugung von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben erfolgte. Was allerdings bei solchen Beschreibungen problematisch bleibt, ist die Annahme einer Einheitlichkeit des späten Mittelalters. Diese Vorstellung hat den Vorzug, dass sie die Reformation klar profilieren lässt: Die in sich als einheitlich verstandene Reformation steht dann einem seinerseits einheitlichen Spätmittelalter gegenüber. Doch lässt sich fragen, ob die Schaffung einer Einheit des späten Mittelalters gewissermaßen ex eventu tatsächlich den Entwicklungen in Gesellschaft und Religiosität des späten Mittelalters entspricht. Berndt Hamm selbst hat en passant auch darauf verwiesen, dass ein angemessenes Beschreibungsmodell zum Verständnis des späten Mittelalters die Betrachtung durchgängiger Polaritäten sein könnte11. Tatsächlich ist wohl dies der angemessenste Weg zum Verständnis dieser Epoche12. Sie ist nicht von durchgängigen Gemeinsamkeiten geprägt, sondern von bipolaren Spannungen, die darauf hinweisen, dass die Entwicklungen des Spätmittelalters gerade nicht gemeinsam auf einen Fluchtpunkt zu-, sondern in mehrere Richtungen auseinanderliefen. Hierin liegt dann auch der naheliegende Schlüssel zum Verständnis der Entstehung der Konfessionen im 16. Jahrhundert: Weder setzt die eine das Mittelalter unmittelbar fort und bricht die andere ganz mit ihm, sondern die eine wie die andere führen in ihrer Institution bestimmte Aspekte der Polarität des späten Mittelalters fort, reduzieren aber zugleich die entgegenstehenden Aspekte. Die Polaritäten des späten Mittelalters lassen sich in theologie-, frömmigkeits-, und sozialgeschichtlicher Hinsicht deutlich machen: 1. In theologiegeschichtlicher Hinsicht liegt eine dieser Polaritäten so auf der Hand, dass ihre Nennung schon fast bloßen Handbuchcharakter hat13: der bis in institutionelle Regelungen hinein reichende Zerfall der artesFakultäten, aber ihnen folgend auch der Konzepte der Theologen, in unterschiedliche Viae: die Via antiqua einerseits, die Thomas von Aquin folgte und auf Basis eines generellen Universalienrealismus zu einem Vertrauen in 11

HAMM, BERNDT, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller et al. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. 1. Bd.: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, 159–211, 188–190. 12 Vgl. auch meine Ausführungen: LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 1), 299– 315. 13 S. z.B. LEINSLE, ULRICH G., Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn u.a. 1995, 175–181; SCHULTHESS, PETER / IMBACH, RUEDI, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Zürich / Düsseldorf 1996, 237–247; LEPPIN, VOLKER, Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007 (KGE I/11).

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die intellektuelle Erfassbarkeit der Welt und Gottes vermittels der Begriffe der Vernunft setzte, und die Via moderna andererseits, die auf den sprachkritischen Ansätzen in Philosophie und Theologie des 13. und 14. Jahrhunderts aufbaute und das Verhältnis zwischen Vernunftbegriffen und extramentaler Realität grundsätzlich und nachhaltig hinterfragte14. Diese Polaritäten allein schon machen deutlich, dass bestimmte Entgegensetzungen, die sich im Zuge der Selbstverständigung der Reformation herausbildeten, eine Vereinfachung der komplexen Realität des späten Mittelalters darstellten: Wenn Martin Luther sich am 4. September 1517 mit einer großen Disputation gegen die scholastische Theologie wandte, so wird die moderne Forschung fragen müssen, gegen welche Form scholastischer Theologie sie sich eigentlich richtete – und eben diese Frage wurde von dem dänischen Reformationshistoriker Leif Grane auch mit aller Gründlichkeit behandelt und in dem Sinne beantwortet, dass es die via moderna, zumal deren letzter Vertreter am Vorabend der Reformation, Gabriel Biel (ca. 1410–1495) war, den Luther ganz überwiegend im Visier hatte, als er sich gegen eine Aristotelisierung der Theologie wandte und Augustin als entscheidenden Maßstab dagegen ins Feld führte15. Doch ist damit nur die augenfälligste, beileibe aber nicht die einzige theologiegeschichtlich relevante Polarität benannt, die sich im späten Mittelalter zeigt. Noch bedeutsamer ist das Entstehen von Alternativen zur universitären Wissensverwaltung und damit auch zur klerikalen Alleinverfügung über Welterklärungskonzepte. Schon die mystische Predigt als genuiner Ort von Theologie stellte eine gewisse Herausforderung für die akademische Theologie statt, trat aber noch nicht wirklich in Konkurrenz zu ihr, insofern ihr bedeutendster Vertreter, Meister Eckhart, im 14. Jahrhundert selbst als akademischer Lehrer in Paris tätig war16. Viel bedeutsamer wurde, gerade auch für 14

S. zu den Anfängen dieser Auseinanderentwicklung meinen Beitrag Die spätmittelalterlichen moderni. Ein erster Emanzipationsversuch der Philosophie von der Theologie?, in: Mariano Delgado / Guido Vergauwen (Hg.), Glaube und Vernunft – Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, Fribourg 2003 (ÖBFZPhTh 44), 45–60; vgl. allerdings zur Relativierung dieses beliebten historiographischen Schemas BOLLIGER, DANIEL, Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis. Mit ausführlicher Edition bisher unpublizierter Annotationes Zwinglis, Leiden / Boston 2003 (SHCT 107), 3–59 15 GRANE, LEIF, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam, Kopenhagen 1962 (AThD 4). 16 S. zu seiner Pariser Lehrtätigkeit RUH, KURT, Meister Eckhart. Theologe – Prediger – Mystiker, München 1985, S. 21–25; vgl. zu dieser Thematik auch IMBACH, RUEDI, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg / Schweiz 1976 (SF 53); MOJSISCH, BURKHARD, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983; Maître Eckhart á Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie. Les Questions parisiennes no 1 et no 2 d’Eckhart. Études, textes et traductions, Paris 1984 (BEHE.SR 86); MANSTETTEN, REINER, Esse est Deus. Meister Eckharts

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Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation

den Verlauf der Reformation, dass sich mit der humanistischen Bewegung Formen von Wissensproduktion und –weitergabe entwickelten, die zwar, wie Kristeller betont hat, aus bestimmten Formen des akademischen Betriebes, insbesondere der nun aber auf die studia humanitatis konzentrierten artesWissenschaft herauswuchs17, sich aber, wie insbesondere die Forschungen Peter Burkes gezeigt haben, von sozial und institutionell eigene Kommunikationsräume schuf18: Die platonische Akademie in Florenz ist der signifikanteste Ausdruck hierfür, die übliche Vergemeinschaftungsform der sodalitas oder auch die Schaffung von Korrepondentennetzen für den gebildeten Diskurs sind andere Ausdrucksformen hierfür. Humanismus brachte also eine Spannung zwischen tradiertem Wissen und neuen Formen des Wissen mit sich, die freilich durch die humanistische Umgestaltung der Universitäten, im Reich beginnend mit Heidelberg19, dann aber auch mit geradezu als humanistische Paradeuniversität startenden Wittenberger Hochschule20 wieder überbrückt wurden. 2. In frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht wurde im späten Mittelalter die objektive Quantifizierung eines Heilsgewinns ebenso intensiviert wie die subjektive Heilsaneignung21. Das späte Mittelalter ist in einem Teil seiner christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, München 1993; KRIEGER, GERHARD, Mystik und Scholastik. Zur Diskussion um Meister Eckhart im Blick auf seine „Quaestiones parisienses“, in: TThZ 107 (1998) S. 123–148; LEPPIN, VOLKER, Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts, in diesem Band S. 81–94. 17 KRISTELLER, PAUL OSKAR, Die humanistische Bewegung, in: ders., Humanismus und Renaissance I: Die antiken und mittelalterlichen Quellen, hg. v. Eckhard Keßler, München 1980, 11–29, 17; vgl. MANN, NICHOLAS, The origins of humanism, in: Jill Kreya (Hg.), The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge 1996, 1–19, 1f; zur Diskussion s. BIANCHI, LUCA, Renaissance und ‚Ende‘ des Mittelalters: Betrachtungen zu einem historiographischen Pseudoproblem, in: Enno Rudolph (Hg.); Die Renaissance und ihre Antike. Die Renaissance als erste Aufklärung I, Tübingen 1998 (RuA 1), 117– 130. 18 BURKE, PETER, Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien. Übers. v. Klaus Kochmann, München 1998, 24–26. 19 S. hierfür noch immer grundlegende RITTER, GERHARD, Die Heidelberger Universität im Mittelalter (1386–1508). Ein Stück deutscher Geschichte, Heidelberg ²1986, 449–490. 20 S. hierzu TREU, MARTIN, Die Leucorea zwischen Tradition und Erneuerung. Erwägungen zur frühen Geschichte der Universität Wittenberg, in: Heiner Lück (Hg.), Martin Luther und seine Universität, Köln 1998, 31–51, 41f; J UNGHANS, HELMAR, Martin Luthers Einfluß auf die Wittenberger Universitätsreform, in: Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (LSt 5), 55–70; LÜCK, HEINER, Art. Wittenberg, Universität, in: TRE 36 (2004), 232–243, 232f. 21 Diese Diskrepanz thematisiert auch MOELLER, Spätmittelalter (wie Anm. 7), 34; vgl. auch meine Gesamtdarstellung der spätmittelalterlichen Frömmigkeit: LEPPIN, VOLKER, Spätmittelalter, in: Thomas Kaufmann et al. (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 2, Darmstadt 2008, 192–214.

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Frömmigkeit von einem Zug geprägt, den Berndt Hamm treffend mit dem Begriff der „nahen Gnade“ charakterisiert hat22. Dieser lässt sich besonders in der Entwicklung der Mystik ablesen23: Während die Mystik eines Bernhard von Clairvaux noch überdeutlich ihre enge Verbindung mit dem monastischen Milieu zeigt 24, hat insbesondere die religiöse Frauenbewegung des dreizehnten Jahrhunderts mit der religiösen Begeisterung von Beginen als Stand zwischen Welt und Kloster einer spirituellen Existenz Raum gegeben, die die unmittelbare Nähe zu Gott in einem Status suchte, der nicht ohne Weiteres in die kirchliche Struktur integriert war25. Eine Reaktion hierauf war nicht nur die Verurteilung der Beginen in Vienne durch die Bulle „Ad nostrum“26, sondern auch die Integration der religiös bewegten Frauen in die Bettelorden, zumal in den Dominikanerorden. Diese wiederum bildete den sozialen Nährboden für die cura monialium, mit der so bedeutende Mystiker wie Meister Eckhart und Johannes Tauler, beides Repräsentanten der Gruppe, die man statt mit „deutscher Mystik“ eher mit „Oberrheinische Mystik“ be-

22

HAMM, BERNDT, „Die nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen / Martin Pickavé (Hg.), Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004, 541– 557. 23 LEPPIN, VOLKER, Die christliche Mystik, München 2007, 95–110. 24 S. zu ihm KÖPF, ULRICH, Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980; HELLER, DAGMAR, Schriftauslegung und geistliche Erfahrung bei Bernhard von Clairvaux, Würzburg 1990; LECLERCQ, JEAN, Bernhard von Clairvaux. Ein Mann prägt seine Zeit, München u.a. 1990; DINZELBACHER, PETER , Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers, Darmstadt 1998. 25 S. GRUNDMANN, HERBERT, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Berlin 1935 (= Darmstadt 1970); Peter Dinzelbacher / Dieter R. Bauer (Hg.), Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln / Wien 1988; Béguines et Béguinages, Brüssel 1994; Martina WehrliJohns / Claudia Opitz (Hg.), Fromme Frauen oder Ketzerinnen? Leben und Verfolgung der Beginen im Mittelalter, Freiburg 1998. 26 TARRANT, JACQUELINE, The Clementine Decrees on the Beguines. Conciliar and Papal Visions, in: AHP 12 (1974), 300–308. Allerdings waren die Vorwürfe gegen Beginen komplex: Nicht immer ging es um religiöse Abweichung im Sinne besonderer Ekstase oder ähnliches, oft ging es auch um einfache Skepsis gegenüber der isolierten Lebensweise von Frauen (s. Jenseits der Häresie. Zur Stellung der Beginen im sozialen Beziehungsgeflecht des spätmittelalterlichen Mainz, in: Irene Dingel u. Wolf-Friedrich Schäufele [Hg.], Zwischen Konflikt und Kooperation. Religiöse Gemeinschaften in Stadt und Erzstift Mainz in Spätmittelalter und Neuzeit, Mainz 2006 [VIEG.B 70], 1–15).

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zeichnen sollte27 – betraut wurden und deren Aufgabe die Domestizierung der überschwänglichen Frömmigkeit dieser Frauen war28. Diese mystische Frömmigkeit nun erreichte schon durch die –nicht erhaltenen – Volkspredigten Johannes Taulers auch das Bürgertum der Städte am Oberrhein29. Und es fällt auf, dass gerade Tauler die ethische Stellung des Bürgers wie auch des Bauern grundlegend aufwertete. Mit der Bezeichnung der alltäglichen Erwerbsarbeit als „ruoff“ Gottes30 wurde ihre Nachrangigkeit gegenüber der monastischen Existenz programmatisch aufgehoben. Ausdrücklich heißt es bei Tauler: „Der eine kann spinnen, der ander der kann schuoch machen, und etliche die kúnnen wol mit disen uswendigen dingen, das si wol gescheffig sint, und das enkan ein ander nút. Und dis sint alles gnaden die der geist Gotz wúrket“ 31.

Diese Änderung im sozialtheoretischen Ansatz ist möglich geworden, weil immer stärker die Innendimension zum entscheidenden Ort der Begegnung mit Gott gemacht wurde: Wo nicht das äußere Werk, sondern die innere Haltung das Verhältnis zu Gott bestimmt, ist grundsätzlich in jeder äußeren Handlung Nähe zu Gott zu erlangen32. Auch wenn man trotz einer persönlichen Begegnung Taulers mit Jan Ruusbroec nicht eindeutig klären kann, in welchem Verhältnis die „Devotio moderna“33 zur oberrheinischen Mystik stand, kann man doch in dieser Frömmigkeitsbewegung am Niederrhein unzweifelhaft eine Taulers Anliegen entsprechende weitere Integration mystischen Erbes in den bürgerlichen Alltag – freilich unter immer stärkerer Brechung der Spitzen mystischer Erfahrungsräume – beobachten. Neben der Ausrichtung der Imitatio Christi auf das bürgerliche Leben ist hier insbesondere auf die Verbindung von handwerklicher Tätigkeit und Meditation zu verweisen, auf die Ulrike Hascher-Burger

27

LEPPIN, Christliche Mystik (wie Anm. 23), 97. LANGER, OTTO, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München 1987 (MTUDL 91). 29 LEPPIN, VOLKER, Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), 745–748, 745; GNÄDINGER, LOUISE, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, 117. 30 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Hs. sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, 1910 (DTMA 11) = Dublin 1968, 243,13–22 31 Ebd., 177,19–22. 32 Vgl. zu den ethischen Umbewertungen in der oberrheinischen Mystik MIETH, DIETMAR, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg 1969 (SGKMT 15). 33 Als Hinführung zur Fülle der Literatur zu diesem Thema sei verwiesen auf den konzisen, sehr knappen Artikel von BURGER, CHRISTOPH, Art. Devotio moderna, in: RGG4 2 (1999), 776. 28

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aufmerksam gemacht hat34: In der ruminatio eignet sich die oder der Gläubige während der Handarbeit die religiösen Gehalte an, macht sie sich innerlich zu eigen. All diesen Formen von Verinnerlichung, die bis in die Alltagsarbeit der Städte hineinreichen, läuft ein Strang der äußeren Quantifizierung entgegen, der vielfach die Wahrnehmung des späten Mittelalters bestimmt hat. Paradefall einer solchen Quantifizierung ist der Ablass. Dieser wird auf unterschiedliche Weisen von einem Ort auf den anderen übertragen. So wurde das logistische Problem einer Wallfahrt erleichtert – frömmigkeitsgeschichtlich sind solche Wallfahrten Ausdruck eines Phänomens, das mit dem Begriff der „Repräsentationsfrömmigkeit“ beschrieben werden kann35: Die gesamte spätmittelalterliche Frömmigkeit ist durchzogen von dem Gedanken, dass in Personen oder Gegenständen das Heilige präsent werden könne. Diese Gegenwart des Heiligen im Irdischen macht erst die Quantifizierung des Heils vermittels des Ad-instar-Ablasses und anderer Ablassformen denkbar36: Man kann sich jahres-, jahrzehnte- oder auch jahrhundertweise von den Folgen der eigenen oder – seit der Bulle „Salvator noster“ des Papstes Sixtus IV. (1471–1484) 37 – fremder Schuld befreien, kann das Unheil stückweise abarbeiten und das Heil entsprechend stückweise erwerben. Diese Art der Frömmigkeit ist fundamental unterschieden von jenen Konzepten der nahen Gnade, die sich als Erbe der mystischen Frömmigkeit entwickelt hatten. Sie ist gewiss nicht so durchgängig prägend für das späte Mittelalter, wie es der einseitige Rückblick vom 31. Oktober 1517 aus suggerieren könnte – aber sie ist Teil des Mittelalters, Teil einer Lebenswelt, in der man kaufmännisch zu handeln gelernt hat – auf Erden und auch im Himmel 38. Dabei können die beiden beschriebenen Frömmigkeitstypen durchaus ineinander liegen. So finden sich etwa bei Johannes Tauler nebeneinander jene nahe Gnade und ein

34 HASCHER-BURGER, ULRIKE, Gesungene Innigkeit: Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio moderna (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113), Leiden 2002 (SHCT 106), 99–104. 35 S. hierzu Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Mario Fischer / Margarethe Drewsen (Hg.), Die Gegenwart des Gegenwärtigen. FS Gerd Haeffner, Freiburg/ München 2006, 376–391. 36 S. hierzu MOELLER, BERND, Die letzten Ablaßkampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 53–72. 37 S. PAULUS, NIKOLAUS, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt ²2000, 323; MOELLER, Ablaßkampagnen (wie Anm. 36), 59f. 38 Vgl. zu diesen Zusammenhängen HAMM, BERNDT, Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: JBTh 21 (2006) 239–275.

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stufenhaftes Wegeschema zur Heilserlangung39. Nahe, unmittelbare Gnade und quantifizierbar vermittelte Gnade also liegen ineinander – und sind doch als einander elementar fremde Vorstellungen vom Verhältnis zu Gott anzusprechen. 3. In sozialhistorischer Perspektive steht einer Zunahme der Laienverantwortung auf der einen Seite eine Steigerung des klerikalen Charakters der Kirche auf der anderen Seite entgegen. Schon im beginnenden 14. Jahrhundert betonten so unterschiedliche Theologen wie Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham das Recht der Laien auf Partizipation an der theologischen Urteilsbildung40. Damit rezipierten sie auch gestiegene Bildungsansprüche auf Seiten der Laien41, die sich mit einem Wunsch nach Verstehbarkeit des religiösen Geschehens verbanden42. Dies zeigt sich besonders in dem Drang nach religiöser Lektüre, vornehmlich in der Volkssprache, über die wir insbesondere durch den Traktat De libris teutonicalibus Zerbolds von Zutphen bestens informiert sind 43. Wie ausgeprägt das Interesse an geistlicher Lektüre war, zeigt nicht nur der Erfolg der Imitatio Christi – ein ähnlicher literarischer Erfolg war schon der Vita Christi des Karthäusers Ludolf von Sachsen (ca. 1300–1378)44 beschieden gewesen. Katechetische Literatur wie die Hy39

Hierauf insistiert RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik. 3. Bd.: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 497–501. 40 S. LEPPIN, VOLKER, Die Aufwertung theologischer Laienkompetenz bei Wilhelm von Ockham, in: Elisabeth Strauß (Hg.), Dilettanten und Wissenschaft – zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses, Amsterdam/ Atlanta 1996 (PuR 4), 35–48; th DERS., Discovering the layman. New perspectives in the theology of the 14 century, in: Mikail Olszewski (Hg.), What is “Theology” in the Middle Ages? Religious Cultures of Europe (11th-5th Centuries) as reflected in their Self-Understanding (AV.S 1), Münster 2007, 533–544. Zur Bedeutung der Konzeption des Laien im späten Mittelalter s. IMBACH, RUEDI, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema, Amsterdam 1989 (BSPh 14). 41 S. GRUNDMANN, HERBERT, Litteratus-Illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: AKuG 40 (1958) 1–65. 42 Vgl. hierzu MOELLER, Spätmittelalter (wie Anm. 7), 39; FRANK, ISNARD WILHELM, Kirchengeschichte des Mittelalters, Düsseldorf 1984, 193f. 43 The De libris teutonicalibus by Gerard Zerbolt of Zutphen, ed. v. Albert Hyma, in: NAKG 17 (1924), 42–70; zur neueren Diskussion über diesen früher einseitig apologetisch eingeordneten Traktat s. HONEMANN, VOLKER, Zur Interpretation und Überlieferung des Traktats „De libris teutonicalibus“, in: Elly Cockx-Indestege / Frans Hendrickx (Hg.), Miscellanea Neerlandica. FS Jan Deschamps. Bd. 3, Löwen 1987, 113–124. – DERS., Der Laie als Leser, in: Klaus Schreiner (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter, München 1992 (SHK.K 20), 241–251; STAUBACH, NIKOLAUS, Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Apologie der Laienlektüre in der Devotio moderna, in: Thomas Kock / Rita Schlusemann (Hg.), Laienlektüre und Buchmarkt im späten MA, Frankfurt u.a. 1997 (GKS.MB 5), 221–289; LEPPIN, VOLKER, Art. Zerbolt, Gerhard, in: TRE 36 (2004), 658–660, 658. 44 KÖPF, ULRICH, Art. Ludolf von Sachsen, in: RGG4 5 (2002), 539.

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melstraß des Stephan von Landskron (gest. 1477)45 tritt daneben, ebenso auch die ars-moriendi-Literatur mit ihren Anweisungen zum gelingenden Leben46 – von der Fülle spätmittelalterlicher Bibelübersetzungen ganz zu schweigen47. Aufgrund solcher Lektüreeindrücke konnten die Laien sich das Heilsgeschehen subjektiv aneignen und seine Erklärung beurteilen, statt es nur objektiv zu empfangen. Wohl der signifikanteste Ausdruck hierfür ist, dass es im 15. Jahrhundert sogar eine Erklärung der Messe in deutscher Sprache gab48 – noch das Allerheiligste wurde so den Laien verständlich gemacht, wenn auch die Betonung der Alleinzuständigkeit der Priester das gesamte Werk durchzieht. Die Laien blieben aber bekanntlich nicht allein bei diesen kognitiven Formen der Heilsaneignung, sondern sie gaben ihrer gesteigerten Verantwortung für das Heil auch organisatorische Gestalt. Die Bruderschaften, die so prägend für das späte Mittelalter sind, sind auch Ausdruck für die Bereitschaft der Laien, bestimmte religiöse Anliegen selbst in die Hand zu nehmen, insbesondere soziale Anliegen und auch die Totenmemoria49. Die Entsprechung der Organisationsform dieser Verbände zu den Zünften zeigt, in welchem Maße religiöses Bedürfnis von den Laien aus definiert und erfüllt wurde. Allerdings waren diese Verbindungen, wie Robert W. Scribner betont hat,

45 S. JASPERS, GERARDUS JOHANNES, Stephan von Landskron, Die Hymelstrasz. Mit einer Einleitung und vergleichenden Betrachtungen zum Sprachgebrauch in den Frühdrucken (Augsburg 1484, 1501 und 1510), Amsterdam 1979. 46 O’CONNOR, MARY CATHARINE, The Art of Dying Well. The development of the ars moriendi, New York 1966; ANGENENDT, ARNOLD, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt ²2000, 659–683 47 BENTZINGER, RUDOLF, Zur spätmittelalterlichen deutschen Bibelübersetzung. Versuch eines Überblicks, in: Irmtraud Rösler (Hg.), „Ik lerde kunst dor lust.“ Ältere Sprache und Literatur in Forschung und Lehre. FS Christa Baufeld, Rostock 1999 (RBSW 7), 29– 41. Der die Bibellektüre aus ihrem frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext lösende Satz „Am Anfang war die Bibel“ (KAUFMANN, Laienbibel [wie Anm. 6], 139) ist, auch wenn man die geschickt gewählte rhetorische Hyperbel in Rechnung stellt, symptomatisch für einen Zugriff auf das späte Mittelalter, der schon in der Fragestellung nur die Kategorien protestantischer Theologie und Frömmigkeit zugrunde legt und damit die eigenen Bedingungen spätmittelalterlicher Frömmigkeit, wie sie die jüngere Forschung herausgearbeitet hat, verfehlt. 48 Die älteste deutsche Gesamtauslegung der Messe, ed. v. Franz Rudolf Reichert, Münster / W. 1967 (CCath 29). Als der Bischof von Chiemsee Berthold Pürstinger im Jahre 1535 in antireformatorischer Absicht die Messe in Volkssprache erläuterte und damit auch übersetzte, musste er sich hierfür noch eigenes rechtfertigen, obwohl es bereits im 15. Jahrhundert eine solche deutschsprachige Messerklärung gegeben hatte. 49 S. hierzu den instruktiven Überblick von DÖRFLER-DIERKEN, ANGELIKA, Art. Bruderschaften. II. Kirchengeschichtlich. 1. Abendland, in: RGG4 1 (1998), 1784f.

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„nie weit von offizieller Aufsicht entfernt“50. Dies liegt nahe, gab es doch bestimmte Verpflichtungen, für die die Bruderschaften elementar auf einen Priester angewiesen waren: Häufig genug war Stiftungszweck ein Altar beziehungsweise die Versorgung eines Altaristen. Der enorme Anstieg der Anzahl von Priestern in den Städten und auch Dörfern des Mittelalters reagierte auf den Bedarf in den Gemeinden51 und wurde vielfach von den Bruderschaften vorangetrieben. Damit aber hat die starke Betonung des Laienelements ihrerseits auch einen Klerikalisierungsschub der öffentlichen Religiosität mit sich gebracht. Die Weichen für eine solche Klerikalisierung hatte das hohe Mittelalter durch den Zwang zur jährlichen Buße52 und, am Übergang zum späten Mittelalter, durch die Sakramentalisierung der Ehe gestellt53 – das Alltagsleben stand so deutlich unter der Kontrolle der Priester. Die durch beide Vorgänge noch gesteigerte Regulierung des Alltags durch die klerikale Hand hat freilich auch das Diskrepanzempfinden zwischen den Ansprüchen an den Klerus und seiner Realität verstärkt54, also diejenige Stimmung, die in bestimmten theoretischen Zusammenhängen gerne als „Antiklerikalismus“ für eine Erklärung der Reformation stark gemacht wird 55. Die polare Spannung zwischen der Fähigkeit, religiöse Verantwortung zu übernehmen, auf der einen Seite und der unhintergehbaren Verwaltung des Heils durch die Kleriker auf der anderen Seite fand so ihren gelegentlich durchaus aggressiven Ausdruck. Freilich gab es auch eine institutionelle Reaktion hierauf innerhalb des Rahmens der spätmittelalterlichen Kirche: Schon die Bettelorden mit ihren Predigtscheunen boten eine erste Auffangmöglichkeit für die gesteigerten religiösen Ansprüche in den Städten56 – auf die Dauer konnte jedoch auch dies nicht ausreichen, und es kam zu einer Vielzahl von Prädikantenstellen an städtischen Kirchen57: So wurde mit Mitteln der klerikal strukturierten mittelalterlichen Kirche dem Laienbedürfnis nach rationaler Erklärung des Glaubens Rechnung getragen. Nicht zufällig waren es dann häufig gerade die 50 SCRIBNER, ROBERT W., Elemente des Volksglaubens, in: DERS., Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. v. Lyndal Roper, Göttingen 2002 (VMPIG 175), 66–99, 81. 51 Angenendt, Geschichte (wie Anm. 46), 329. 52 S. hierzu OHST, MARTIN, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (BHTh 89). 53 S. zu dieser Thematik den Forschungsüberblick von OHST, MARTIN , Zur Geschichte der christlichen Eheauffassung von den Anfängen bis zur Reformation, in: ThR 61 (1996), 372–387 54 STÖRMANN, ANTON, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgange des Mittelalters und in der Reformationszeit, Münster 1916. 55 GOERTZ, HANS-JÜRGEN, Antiklerikalismus und Reformation, Göttingen 1995. 56 FRANK, Kirchengeschichte (wie Anm. 42), 126–129. 57 MOELLER, BERND, Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe, Berlin 1987, 13.

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Prädikanten, die in den Städten auch die Reformation vorantrieben58. Dies ist auch Ausdruck dafür, dass das Auffangen der religiösen Bedürfnisse vermittels der Prädikanten nur zeitweise befriedigen konnte: Die Spannung zwischen eigener Einsicht in das Heil und dessen Vermittlung durch die dafür Geweihten wurde immer größer – und das bloße Kriterium der Weihe wurde, kenntlich am Antiklerikalismus, immer nachrangiger gegenüber Kriterien intellektueller oder moralischer Kompetenz.

2. Institutionalisierung der Polarität von Zentralität und Dezentralität im späten Mittelalter Schon im Blick auf die Geistes- und Bildungsgeschichte hat sich gezeigt, dass es sich hier um Phänomene handelt, die auch eine relevante institutionengeschichtliche Seite haben. Die geistesgeschichtlichen Polaritäten fanden rasch institutionellen Ausdruck, schon innerhalb der Universitäten durch die Institutionalisierung von Lehrstühlen unterschiedlicher Viae, dann aber auch durch die genannten Institutionalisierungsformen des Humanismus. Auch die Bruderschaften bilden eine Form der Institutionalisierung der Polarität von Kleriker und Laien – bei bleibender Bezogenheit aufeinander. Vor allem aber lässt sich nachzeichnen, dass eine grundlegende Polarität des späten Mittelalters, die von Zentralität und Dezentralisierung institutionellen Ausdruck fand59: Das fünfzehnte Jahrhundert ist geprägt, von einem Wiedererstarken der kirchlichen Zentralmacht. Das Schisma zwischen den Papststühlen in Avignon und in Rom hatte im ausgehenden vierzehnten Jahrhundert zu einem Zerfall Europas in unterschiedliche Obödienzen mit letztlich nicht immer klaren Zuweisungen geführt. Diese Lage hatte sich noch verschärft, als in Folge des Konzils von Pisa ein dritter Papst Anspruch darauf erhob, die Weltkirche zu leiten. Der dreifache Anspruch auf Zentralmacht stärkte selbstverständlich die unteren Ebenen der Kirchenleitung und die weltlichen Mächte in ihren Verselbständigungstendenzen gegenüber dem Papst. Die Obödienz unter den Papst war nicht mehr selbstverständliche Voraussetzung politischen und kirchlichen Handelns, sondern die Obödienz unter einen bestimmten Papst war Folge einer im Prinzip arbiträren Entscheidung und Ausdruck des politischen Kompromisses. Diese Lage änderte sich erst, als das Konzil von Konstanz sich in dem Dekret „Haec sancta“, 6. April 1415 auf seine unmittelbar von Christus gewährte Vollmacht berief, in dieser Situation als Repräsentant der gesamten Christenheit einzugreifen und auch 58 S. etwa zum Beispiel Nürnbergs SEEBAß, GOTTFRIED, Stadt und Kirche in Nürnberg im Zeitalter der Reformation, in: DERS., Die Reformation und ihre Außenseiter. Gesammelte aufsätze und Vorträge, hg. v. Irene Dingel, Göttingen 1997, 58–78. 59 Diese Spannung thematisiert auch ISERLOH, Martin Luther (wie Anm. 4), 4–6

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päpstliche Gewalt zum Gehorsam zu verpflichten60. Mit scharfem Druck gegenüber den drei Päpsten wurden diese zum Abdanken gedrängt61 beziehungsweise ihres Amtes enthoben62 und mit Odo Colonna wurde 1417 unter dem Namen Martin V. (1417–1431) ein neuer Papst gewählt63. Diese konziliare Entwicklung ist in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung zu Recht immer wieder als Ausdruck des Wirkens einer dem schroffen Papalismus entgegenstehenden Haltung gewürdigt worden. Gleichwohl ist sie im Blick auf die für die Reformation brisante Frage nach der Stellung kirchlicher Zentralmacht mindestens ambivalent, denn die Reetablierung nur eines Papstes bedeutete ja, dass die nicht aus Prinzip, aber aus der zufälligen Entwicklung unterschiedlicher Obödienzen heraus begonnene faktische Entwicklung von Dezentralität in der mittelalterlichen Kirche nicht nur angehalten, sondern sogar zurückgeführt wurde. Tatsächlich hatte das Konzil zwar als Konzil die oberste Macht in der Kirche behauptet64, aber gerade darin die Notwendigkeit einer solchen Zentralmacht eher unterstrichen als in Frage gestellt. Der Behauptung der Macht des Konzils schloss daher im weiteren Verlauf eine Stärkung auch der päpstlichen Zentralmacht nicht aus, sondern förderte sie in gewisser Weise sogar, sobald wieder ein legitimer Papst eingesetzt war. Diese Stärkung wurde noch dadurch unterstrichen, dass Papst Eugen IV. (1431–1447) den Konflikt mit dem Baseler Konzil und dessen nun in prinzipieller Form vorgetragenen konziliaristischen Ansprüchen siegreich bestand. Diese gerade durch den Konflikt mit den Konzilien erfolgte realpolitische Stärkung des Papstamtes bildete den Hintergrund für einen neuen theologischen Papalismus, der einen ersten Höhepunkt noch unter dem unmittelbaren persönlichen Eindruck der Konzilien in der Summa de ecclesia des Kardinals Juan de Torquemada (1388–1468) erfuhr65. Reformationsgeschichtlich be60 Vgl. hierzu JEDIN, HUBERT, Bischöfliches Konzil oder Kirchenparlament? Ein Beitrag zur Ekklesiologie der Konzilien von Konstanz und Basel, Basel-Stuttgart 1963; DENZLER, GEORG, Zwischen Konziliarismus und Papalismus. Die Stellung des Papstes im Verständnis der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1437), in: DERS. (Hg.), Das Papsttum in der Diskussion, Regensburg 1974, 53–72 61 Zur Abdankung von Gregor XII. s. BRANDMÜLLER, WALTER, Das Konzil von Konstanz 1414–1418. Bd. 1: Bis zur Abreise Sigismunds nach Narbonne, Paderborn u.a. 1991, 312–322; zur Absetzung Benedikts XIII. ders., Das Konzil von Konstanz 1414–1418. Bd. 2: Bis zum Konzilsende, Paderborn u.a. 1997, 275. 62 Zur Absetzung von Johannes XXIII. S. BRANDMÜLLER, Konstanz (wie Anm. 61), Bd. 1, 296f. 63 BRANDMÜLLER, Konstanz (wie Anm. 61), Bd. 2, 358–370. 64 Zu der Zuordnung von Neuartigkeit des Dogmas und Versuch, diesen Charakter nicht zu sehr zu betonen s. HELMRATH, JOHANNES, Das Basler Konzil 1431–1439. Forschungsstand und Probleme, Köln u.a. 1987, 473. 65 Vgl. zu ihm BINDER, KARL, Konzilsgedanken bei Kardinal Juan de Torquemada O.P., Wien 1976; SMOLINSKY, HERIBERT, Successio apostolica im späten Mittelalter und

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deutsam wurde diese Linie zwei Generationen später bei Torquemadas dominikanischem Ordensbruder Silvester Prierias (1456–1523/7), der diese Position in den Prozess gegen Luther einbrachte66. Freilich war die Restitution papaler Zentralmacht im Zuge des 15. Jahrhunderts nicht überall und in jeder Hinsicht erfolgreich. An verschiedenen Stellen machten sich Gegenkräfte bemerkbar, die zum Teil auf die faktische Bildung von Territorialkirchen hinausliefen, in einem Falle, Böhmen, sogar auf die dezidierte Anerkennung zweier Konfessionen nebeneinander67. Bedeutendstes Beispiel für solche Verselbständigungen ist Frankreich. Hier war früher und stärker als insbesondere im Römischen Reich deutscher Nation ein nationalstaatliches Gebilde entstanden, das zudem durch die Entwicklungen um Jeanne d’Arc im Hundertjährigen Krieg noch wichtige religiös grundierte Impulse eines erstarkenden Nationalbewusstseins erfahren hatte68. Entscheidend aber war für die weitere Entwicklung ein Ereignis, das sieben Jahre nach der Verbrennung Johannas erfolgte: Im Jahre 1438 erteilte der von ihr zur Krönung begleitete Karl VII. (1422/9–1461) in der Pragmatischen Sanktion von Bourges69 eine Anordnung an französische Kleriker, die im Wesentlichen der Umsetzung einiger Bestimmungen des Baseler Konzils dienten. Der französische König nutzte dabei die rechtlichen Unklarheiten aus, die die Auseinandersetzung zwischen Papst und Konzilien mit sich gebracht hatten: Am 8. Januar 1438 hatte in Vertretung des Papstes Kardinal Albergati im

im 16. Jahrhundert, in: Gunther Wenz / Theo Schneider (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge. Bd 1: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg / Göttingen 2004, 357–375, 361–363. 66 Zu ihm SMOLINSKY, HERIBERT, Art. Prierias, Silvester Mazzolini, in: TRE 27 (1997), 376–379; LEPPIN, VOLKER, Art. Prierias, Silvester Mazzolini, in: David Berger / Jorgen Vijgen (Hg.), Thomisten-Lexikon, Bonn 2006 526–529. 67 Vgl. das entschiedene Plädoyer von EBERHARD, WINFRIED, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530, München / Wien 1981 (VCC 38), 29f, für die Verwendung des Begriffs „Konfession“ in diesem Zusammenhang. Tatsächlich wird man ihm darin folgen können, da die von ihm kritisierten Aspekte des Zeedenschen Begriffs von „Konfessionsbildung“ mit der Einengung auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts und die territoriale Anbindung von Konfessionen heute weit eher auf den Begriff der „Konfessionalisierung“ zuträfe (s. hierzu REINHARD, WOLFGANG, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ARG 68 [1977] 265–252; DERS., Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: ZHF 10 [1983] 257–277, und SCHILLING, HEINZ, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftliche Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: HZ 246 [1988] 1–45; DERS., „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“, in: GWU 42 [1991] 447–463). Demgegenüber kann man den Begriff der „Konfessionsbildung“ früher ansetzen und auch auf die böhmische Entwicklung übertragen. 68 EHLERS, JOACHIM, Art. Natio. I. Natio (Nation), in: LMA 6, 1035–1038, 1037. 69 MÜLLER, HERIBERT, Die Franzosen, Frankreich und das Basler Konzil (1431–1449). Teil 2, Paderborn u.a. 1990, 823–828

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Konflikt mit Basel in Ferrara ein neues, päpstliches Konzil eröffnet70 und das in Basel verbliebene Restkonzil hatte noch im selben Monat den Papst seiner Funktion enthoben71. Der König agierte nun auf Grundlage der zuvor getroffenen Baseler Beschlüsse72, die zum Teil Ausgangspunkt des Konfliktes gewesen waren, und gab ihnen zudem eine dem französischen Königshaus günstige Zuspitzung. Insbesondere wurden die verschiedenen Formen finanzieller Ausnutzung papaler Rechte auf Stellenbesetzungen, die sich in Avignon herausgebildet hatten, untersagt beziehungsweise ganz erheblich eingegrenzt. Das Verbot von Appellationen an den päpstlichen Stuhl sicherte vor externen Rechtseingriffen aus Rom in die französischen inneren Angelegenheiten. Vor allem aber wurde eine weitreichende Herrschaft das Königs über die französische Kirche etabliert73 – damit gewann die französische Kirche Selbständigkeit gegenüber Rom, und zugleich war die Abhängigkeit von der französischen Krone gesteigert. Sie wurde ein Moment in einer Bewegung spätmittelalterlicher Herrschaft, die Peter Moraw treffend mit dem Stichwort der „Verdichtung“ beschrieben hat74: Die im frühen und hohen Mittelalter eher parzellierte Herrschaft rückt zusammen, wird in sich geschlossener und homogener. Ein entscheidender Vorgang hierfür war die Aufhebung der im Kirchenrecht konstitutiven Sonderstellung des Klerus, seine zunehmende Integration in die weltliche Herrschaft. Für die französische Kirche bedeutete dies, dass sie damit eine Gestalt anzunehmen begann, die später unter dem Stichwort des „Gallikanismus“ zusammengefasst wurde 75. Ohne formal als Nationalkirche konstituiert zu sein, gewann sie doch nationalkirchliche Züge. Deren Sicherung war nicht ganz unproblematisch: 1439 bewilligte zwar das Konzil von Basel die Pragmatische Sanktion von Bourges, doch Eugen IV. versuchte ihre Durchsetzung zu verhindern, was zunehmend ein Problem darstellte, insofern sich bald herausstellen sollte, dass die stärkeren Kräfte beim Papst und seinem Konzil als in Basel wirkten. So zog sich der Prozess einer Anerkennung der Pragmatischen Sanktion bis zum Fünften Laterankonzil 1516 hin; hier wurde sie selbst zwar aufgehoben, aber wesentliche Regelungen gingen in das Konkordat mit Frankreich ein76. Damit aber war die französische Kirche in ihrer auf Jahrhunderte hinaus eigentümliche Eigenständigkeit konstituiert. 70

GILL, JOSEPH, Konstanz und Basel-Florenz, Mainz 1967 (GÖK 9), 260. SUDMANN, STEFAN, Das Basler Konzil. Synodale Praxis zwischen Routine und Revolution, Frankfurt/ M. u.a. 2005 (TRefI 8), 109. 72 MÜLLER, Franzosen (wie Anm. 69), 826f. 73 MÜLLER, Franzosen (wie Anm. 69), 827. 74 MORAW, PETER, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Frankfurt am Main / Berlin 1989. 75 MARTIN, VICTOR, Les origins du gallicanisme. 2 Bde., Paris 1939. 76 DE LA BROSSE, OLIVIER U.A., Lateran V und Trient. 1. Teil, Mainz 1978 (GÖK 10), 85. 109–114 71

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Im Römischen Reich hingegen verlief die Entwicklung signifikant anders: Als 1448 das Wiener Konkordat geschlossen wurde, war die Situation nicht mehr so, dass man konziliare Beschlüsse zugunsten einer Reduktion der Abhängigkeit von Rom hätte nutzen können. So wurde eine Abhängigkeitsstruktur festgeschrieben, deren Folge es war, dass in der Folgezeit immer wieder auf den Reichstagen das Klagelid der Gravamina nationis Germanicae angestimmt wurde77. Eben das, was die Pragmatische Sanktion für Frankreich erreicht hatte, fehlte hier, und so klagten vornehmlich die geistlichen Stände über die finanziellen Abgaben in Gestalt von Servitien und Annaten an Rom78 und auch über die Vielzahl von nach Rom gezogenen Prozessen. Diese Schieflage zwischen den Bedingungen in Frankreich und in Deutschland ist einer der ganz wesentlichen Faktoren, die ein Entstehen der Reformation in Deutschland begünstigten. Dennoch gab es in Deutschland auch Entwicklungen, die an den Gang der Dinge in Frankreich erinnern, freilich, der anderen Verfassung entsprechend, auf anderen Ebenen: nicht das Reich befand sich auf dem Weg zu einer Nationalkirche, sondern die einzelnen Landestümer bewegten sich zum Teil auf Territorial- bzw. Landeskirchen zu. Besonders augenfällig sind hier die Beispiele zweier Territorien, die dann auch in der Reformationsgeschichte eine maßgebliche Rolle spielten: die Landgrafschaft Hessen und das Kurfürstentum Sachsen sowie, nach der wettinischen Erbteilung, neben diesem auch das Herzogtum Sachsen. In Sachsen zeigt sich im späten Mittelalter ein intensives Bemühen der Herrscher um eine Lenkung der religiösen Geschicke ihres Landes. Manfred Schulze hat sie genau beschrieben79. Hier ist insbesondere auf die Landesordnung Herzog Wilhelms III. von 1446 zu verweisen, die bestimmte, dass wer in einem weltlichen Prozess ein geistliches Gericht anrief, mit dem Verlust seines weltlichen Prozesses und einer hohen Buße bestraft werden sollte80. Das bedeutete im Sinne Moraws eine Verdichtung des Rechtssystems – und zwar an dem Punkt, an dem diese kirchengeschichtlich besonders heikel war. Faktisch wurde eine klerikal getragene Eigengesetzlichkeit in ihre Legitimität bestritten, der Eingriffsmöglichkeit des Kirchenrechts in weltliche Belange die Grundlage entzogen. Die lange Tradition unterschiedlicher Rechtsräume, die durch die Existenz und weitreichende Einflussmöglichkeit des geistlichen Rechts, insbesondere auch mit seinen Privilegien für Kleriker geschaffen war, 77 S. hierzu SCHEIBLE, HEINZ, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: DERS., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hg. v. Rudolf May und Rolf Decot, Mainz 1996 (VIEG.B 41), 393–409; WOLGAST, EIKE, Art. Gravamina nationis germanicae, in: TRE 14 (1986), 131–134. 78 Zum avignonesischen Finanzsystem s. GUILLEMAIN, B., Les papes d'Avignon 1309– 1376, Paris 2000, 49–59. 79 SCHULZE, MANFRED, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991 (SuR.NR 2). 80 SCHULZE, Fürsten (wie Anm. 79), 51f.

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besaß keine selbstverständliche Akzeptanz auf Seiten der politisch leitenden Akteure mehr. Noch wichtiger als solche einzelnen Maßnahmen aber war die eigentümliche Form von Zugriffen auf verschiedene Bistümer im Umfeld der wettinischen Lande, zu der es Vergleichbares zwar in Brandenburg gab, nicht aber in weiter westlich gelegenen Regionen des Reiches. Insbesondere Meißen, Merseburg und Naumburg entwickelten sich durch die personellen Zugriffsrechte der Wettiner de facto zu Landesbistümern, auch wenn sie formal als Reichsstände ihre Eigenständigkeit behielten81. Die kirchenrechtliche Diözesaneinteilung wurde zwar formal nicht aufgehoben, die bischöflichen Funktionen aber waren maßgeblich auf die Landesherren bezogen, denen sie in der Regel ihre Wahl verdankten und mit denen sie vielfach auch verwandtschaftlich verbunden waren. Noch direkter waren entsprechende Maßnahmen in Hessen, wo es im 15. Jahrhundert sogar den Versuch gab, ein eigenes Landesbistum in Kassel zu gründen, das damit völlig außerhalb der Diözesanordnung gestanden hätte82. Zwar wurde dieser Plan nicht durchgeführt, aber mit der Gründung eines Hofgerichtes in Marburg wurde 1500 ein Mittel eingesetzt, das es ermöglichte, das Abwandern von Prozessen zu verhindern83. Nicht nur hier wurde das Territorium stärker in sich abgeschlossen, sondern auch, durchaus vergleichbar mit dem sächsischen Vorgehen, in der verdichtenden Integration der Klöster in die Herrschaft, die es sogar mit sich brachte, dass der Landesherr Klostervisitationen durchführen ließ und somit eine Institution, für die die Exemtion aus landesherrlicher Gewalt geradezu konstitutiv war, in seine Herrschaftspraxis integrierte84. All diese Maßnahmen, in Frankreich wie in Sachsen oder Hessen sind Ausdruck der unterschiedlichen dezentralen Kräfte, die im späten Mittelalter Einfluss auf die Kirche zu nehmen suchten und die nur in der entfernten Rückschau unangefochten scheinende Zentralität des Papstes unterminierten. Man kann sogar noch weiter gehen: Der Territorialisierung der Kirche entsprach eine Kommunalisierung auf städtischer Ebene. Die städtischen Räte bemühten sich vielfach erfolgreich, die Kontrolle über die Pfründen an den zentralen Kirchen ihrer Stadt zu erhalten und die Pfar-

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Enno Bünz / Christoph Volkmar, Das landesherrliche Kirchenregiment in Sachsen vor der Reformation, in: Enno Bünz / Stefan Rhein / Günther Wartenberg, Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005 (SSLG 5), 89–109, 97–100; vgl. BLASCHKE, KARLHEINZ, Sächsische Landesgeschichte und Reformation. Ursachen, Ereignisse, Wirkungen, in: ebd. 111–132, 125. 82 HEINEMEYER, WALTER, Territorium und Kirche in Hessen vor der Reformation, in: HJLG 6 (1956) 138–163, 146. 83 SCHNEIDER-LUDORFF, GURY, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 (AKThG 20), 65. 84 SCHNEIDER-LUDORFF, Reformator (wie Anm. 83), 58.

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rerwahl in die Hand zu bekommen85. So gelang es beispielsweise in der Reichsstadt Nürnberg dem Rat, 1474 das Präsentationsrecht für die städtischen Pfarreien in den päpstlichen Monaten zu erhalten, 1513 auch das für die bischöflichen86. Und auch in einer landsässigen Stadt87 wie Jena lässt sich die allmähliche Prozess der Übernahme städtischer Verantwortung für die Propstei des Zisterzienserinnenklosters beobachten, das die zentrale Kirche St. Michael immer mehr zur eigentlichen Stadtkirche machte: Schon 1443 setzte der Rat sich, als die Nonnen den Propst entlassen wollten, erfolgreich für dessen Verbleib im Amt ein88, und 1484 wird aus einem Schreiben des städtischen Rates an die wettinischen Herzöge Ernst und Albrecht deutlich, dass der Propst im Einvernehmen zwischen Fürsten, Rat und Äbtissin, also keineswegs durch diese allein und wohl auch nicht auf deren Initiative bestimmt wird89 – der Rat konnte nun auch hier über die entscheidenden Stellen verfügen. Dieser Umbau der für die geistliche Versorgung entscheidenden Personalpolitik bedeutete, wenn auch im Rahmen von kirchenrechtlich akzeptablen Vereinbarungen, letztlich eine Verschiebung der vom Kirchenrecht her oberen klerikalen Graden zukommenden Zugriffsrechte auf den priesterlichen Klerus auf die weltlichen Instanzen und damit, wenigstens aufgrund seiner starken Verbreitung, eine faktische Unterhöhlung des geltenden Kirchenrechts. Bernd Moeller hat diese Vorgänge im Blick auf die Städte treffend zusammengefasst: „Die deutsche Stadt des Spätmittelalters hatte eine Neigung, sich als Corpus christianum im kleinen zu verstehen.“ 90 In der Tat war das Corpus christianum nicht mehr nur eine universale Größe, sondern auch eine regionale oder gar lokale geworden. Die kirchliche Landschaft zerfiel schon lange vor der Reformation in viele kleine Einheiten, in denen nationale oder regionale Instanzen Einfluss auf die Gestalt der Kirche und ihre personelle Leitung nahmen, ohne dass eine direkte Leitung durch den Papst hinderlich gewesen wäre. Die Vorstellung einer zentral vom Papst geleiteten Kirche war allenfalls die Fiktion papalistischer Theoretiker, der Realität wurde sie nicht gerecht. 85

MOELLER, BERND, Kleriker als Bürger in: Ders., Die Reformation und das Mittelalter (wie Anm. 6), 35–52, hier: 37; vgl. DERS., Reichsstadt und Reformation (wie Anm. 57), 14. 86 SEEBAß, Stadt und Kirche in Nürnberg (wie Anm. 58), 58–78. 60f. 87 Zur Notwendigkeit, die Unterschiede zwischen Freien und Reichsstädten auf der einen und landsässigen Städten auf der anderen Seite nicht zu scharf zu ziehen, s. HAMM, BERNDT, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, 48f 88 Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten. II. Band, ed. v. Ernst Devrient, Jena 1903 (ThGQ.NF 3), Nr. 376; s. hierzu Enno Bünz, Klosterkirche – Bürgerkirche. St. Michael in Jena im späten Mittelalter, in: Volker Leppin / Matthias Werner (Hg.), Inmitten der Stadt St. Michael in Jena. Vergangenheit und Gegenwart einer Stadtkirche, Petersberg 2004, 105–137, 116. 89 Ebd. Nr. 740. 90 MOELLER, Reichsstadt und Reformation (wie Anm. 57), 15.

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Noch etwas anders als in diesen prinzipiell vergleichbaren Vorgängen in Territorien und Städten sind die Verhältnisse in Böhmen einzuschätzen. Hier hatte vor dem Hintergrund einer Gemengelage aus Unsicherheit während des Papstschismas, nationalen Auseinandersetzungen rund um die Universität und sozialen Konflikten vor allem Jan Hus in einem Sinne gepredigt, der, geprägt von den Lehren John Wyclifs, ein neues Kirchenverständnis und eine Kritik an der gegenwärtigen päpstlichen Kirche mit sich brachte91. Sein persönliches Schicksal – mit der Hinrichtung trotz zugesichertem freiem Geleit auf dem Konzil von Konstanz92 – und die Verbindung mit den sozialen Konflikten führten eine kriegerische Situation in Böhmen herauf, in der die Anhänger des Hus ihr einendes Signal bald in der Forderung nach der Gabe des Kelchs an die Laien im Abendmahl fanden, die Hus nicht forciert vertreten, gegen Ende seines Lebens aber gutgeheißen hatte93. Die Bewegung selbst spaltete sich in einen radikaleren und einen gemäßigteren Flügel, und eine militärische Niederlage der radikalen, chiliastisch gesonnenen Taboriten gegen die kompromissbereiten Adeligen führte dazu, dass im Jahr 1433 eine Vereinbarung mit dem Baseler Konzil getroffen werden konnte, die Prager Kompaktaten, die faktisch die Anerkennung einer utraquistischen Kirche neben der katholischen bedeutete94. Weitere kriegerische Auseinandersetzungen um die Herrschaft in Böhmen mündeten schließlich in den Frieden von Kuttenberg, der 1485 die Anerkennung der Utraquisten als gleichberechtigt neben den Päpstlichen vorsah95. Siebzig Jahre vor dem Augsburger Religionsfrieden – und durch die Gewährung des individuellen Rechts auf Konfessionswahl in bemerkenswerter Weise von dessen Konzentration auf die Landesherren unterschieden96 – war damit in Europa eine Situation entstanden, in der zwei Konfessionen nebeneinander rechtlich anerkannt waren. Die Einheit der mittelalterlichen Kirche war also, durch Territorialisierungstendenzen in Frankreich und innerhalb des Reiches und durch die Auflösung der Einheitskirche in Böhmen längst hinterfragt, ehe mit der Reformation eine weitere Umwälzung stattfand. Das bedeutet aber auch, dass die im einleitenden Kapitel an91

S. zu Leben und Theologie von Hus MOLNÁR, AMADEO, Jan Hus, témoin de la vérité, Paris 1978; Ferdinand Seibt (Hg.), Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen, München 1997 (VCC 85); HILSCH, PETER, Johannes Hus (um 1370–1415). Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999. 92 S. hierzu SEIBT, Jan Hus (wie Anm. 91) 11–26, 24f. Wegen seiner Orientierung an einem geschichtsenthobenen Häresiebegriff unbefriedigend ist der Beitrag von B RANDMÜLLER, WALTER, Hus vor dem Konzil, ebd. 235–242. 93 KOLESNYK, ALEXANDER, Hussens Eucharistiebegriff, in: Seibt, Jan Hus (wie Anm. 91), 193–202, 200–202. 94 EBERHARD, Konfessionsbildung (wie Anm. 67), 41–43, mit der Betonung, es handle sich hier faktisch um die Anerkennung eines Nebeneinanders „von zwei konfessionellen Gruppen“ (ebd. 43). 95 S. hierzu EBERHARD, Konfessionsbildung (wie Anm. 67), 56–60. 96 EBERHARD, Konfessionsbildung (wie Anm. 67), 57.

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gesprochenen Polaritäten nicht allein auf der Ebene von Theologie und Mentalität zu suchen sind, sondern dass es jedenfalls für die Polarität von Zentralität und Dezentralität durchaus institutionelle Formen gab, die der Kirche des späten Mittelalters ein durchaus heterogenes Gesicht gaben.

3. Luthers Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit Die besondere Herausforderung bei der Beschreibung der Reformation stellt die Einordnung der Person Luthers in diesen Prozess dar: Das Nachwirken nationalprotestantischer Geschichtsbilder macht es bis heute schwer, die Außerordentlichkeit dieser Person gerecht zu werden und diese doch zugleich so zu beschreiben, dass man der heutigen Einsicht in die Vielfalt von Faktoren, die Geschichte gestalten, gerecht werden kann. Zu einer solchen präzisen historischen Erfassung gehört auch, Luther nicht allein als Gestalter seiner Zeit wahrzunehmen, sondern selbst auch als jemanden, der von Zeitumständen zu dem gemacht wurde, der er war97 – nur so ist seine enge Verquickung mit seiner Zeit und damit auch seine Wirkungsmöglichkeit in dieser Zeit zu erfassen. Man wird Martin Luther zunächst und ganz schlicht als jemanden zu verstehen haben, der seinen Weg innerhalb der spätmittelalterlichen Kultur ging und gestaltete und der erst aus dieser Entwicklung heraus zum Neuerer und Reformator wurde. Das heißt: Luther zu verstehen heißt, einen Menschen zu verstehen, der im Jahre 1505 in einer nicht vollends aufschlüsselbaren Konfliktsituation mit seinen Eltern den Weg ins Kloster wählte. Es spricht – ohne dass diese Deutung letztlich ganz beweisbar wäre – einiges dafür, dass Luther im Spätfrühling 1505 bereits zu seinen Eltern nach Mansfeld gereist war, um seinen Wunsch nach dem Rückzug in das monastische Leben aus dem von den Eltern bereiteten Weg in eine juristische Karriere zu artikulieren und das elterliche Einverständnis zu erwirken98. Dann wäre das Gewitter auf 97

S. zu diesem methodischen Ansatz LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 2006. Dieser Ansatz hat verschiedentlich scharfe Kritik hervorgerufen (s. WENDEBOURG, DOROTHEA, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.2.2007; BEUTEL, ALBRECHT, in: ThLZ, November / 2007, 1221–1224), die freilich nicht immer methodisch substantiiert wurden. Lediglich in der Rezension von KORSCH, DIETRICH, in: Luther 79 (2008), 45–49 finden sich eingehendere Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Geschichte, die aber mehr in Frageform als in Aussageform gefasst sind. Der Gedanke, dass eine ganze Epoche durch Luther, mithin durch eine Person, in Gang gesetzt worden wäre, setzt eine solche historiographische Singularität voraus, dass seine Begründung nach heutigen Maßstäben der Geschichtswissenschaft jedenfalls größeren Aufwandes bedürfte (s. meine Auseinandersetzung mit den Kritikern: LEPPIN, VOLKER, Streit um Luther? Gerne!, in: Luther 79 (2008), 49–52). 98 LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 31–34; zum Gelübde von Stotternheim vgl. auch DÖRFLER-DIERKEN, ANGELIKA, Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von

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dem Heimweg und sein darin formuliertes Gelübde ins Kloster zu gehen kein radikaler Bruch mit den eigenen Wünschen, sondern wäre diesen geradezu entgegengekommen. Auch wenn diese Vorgänge im Einzelnen anders gewesen sein mögen: Ab 1505 ist er Mönch, bald nimmt er das Theologiestudium auf, wird 1512 sogar zum Professor der Theologie. Er hat in dieser Zeit eine Vielfalt von Einflüssen aufgesogen. Dabei hat die Lutherforschung zu Recht immer wieder den Einfluss des Kirchenvaters Augustin und des Apostels Paulus, dessen Briefe an die Römer und die Galater Luther nun, nach dem Psalter, als Professor auslegte99, hervorgehoben. Tatsächlich ist dies die entscheidende Traditionslinie zur Herausarbeitung der reformatorischen Rechtfertigungslehre, nach der, im Einklang mit Augustin und Paulus, der Mensch nicht durch eigene Werke Gerechtigkeit vor erlangt, sondern allein aus Gottes Gnade Gerechtigkeit geschenkt bekommt, die ihm durch den Glauben individuell zugeeignet wird. Dies ist die Lehre, auf die sich evangelische Identität bis heute gründet100. Den historischen Entwicklungsprozess zu ihrer Entwicklung hat die Forschung des 20. Jahrhunderts aber erheblich verkürzt, die, ausgehend von Karl Holl und der von ihm inaugurierten Luther-Renaissance der Meinung war, man könne Luthers Entwicklung punktuell zusammenfassen und in einem Durchbruchserlebnis ganz und gar die Entstehung seiner reformatorischen Theologie biographisch wie theologisch erfassen101. Er habe, so konnte man dies, dem späten Selbstbericht Luthers, dem sogenannten „Großen Selbstzeugnis“ von 1545 folgend, schildern, an der Deutung der Formulierung „Der Gerechte wird aus dem Glauben leben“ in Röm 1,17 gelitten und gerungen, dann in einem Schlag erkannt, dass es sich hier nicht um eine richtende Gerechtigkeit im Sinne der Verurteilung des Ungerechten und Gerechtsprechung des Gerechten handelte, sondern um die sogenannte iustitia passiva, die dem Menschen als Geschenk von Gott zuteil wird. Dass sich in einer jahrzehntelangen Forschungsdebatte weder der Zeitpunkt dieses Ereignisses noch sein genauer Inhalt fassen ließ102, zeigt, dass diese Konstruktion im Ansatz problematisch war. Das grundlegende

Stotternheim, in: LuJ 64 (1997) 19–46; LINDNER, ANDREAS, Was geschah in Stotternheim?, in: Christoph Bultmann / Volker Leppin / Andreas Lindner (Hg.), Martin Luther und das monastische Erbe (SMHR 39), Tübingen 2007, 93–110. 99 S. LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 67f. 100 Zur theologischen Einordnung s. Wilfried Härle / Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1979; PETERS, ALBRECHT, Rechtfertigung, Gütersloh ²1990 (HST 12). 101 Zur Kritik hieran s. meinen Aufsatz Wie reformatorisch war die Reformation?, in diesem Band S. 1–15. 102 S. zur Diskussion um Luthers theologische Entwicklung Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); DERS., Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart / Wiesbaden 1988 (VIEG 25).

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methodische Problem bemerkt man, wenn man wahrnimmt, dass der für die Konstruktion zugrunde liegende Text über die Entdeckung einer iustitia passiva als Erinnerungstext an eine Konversion keineswegs allein steht, sondern im mindestens ein ganz paralleler, sehr viel früherer, allerdings in der Pointe anders gelagerter Text an die Seite zu stellen ist103, der nicht von einer Entdeckung eines neuen iustitia-Verständnisses spricht, sondern von einer poenitentia-Entdeckung, also einer Neufassung des Bußverständnisses104. Weitet man von hier aus den Blick, so kommen neben der wichtigen Traditionslinie Augustins und der Bibel noch ganz andere Einflüsse in den Blick. Ganz wichtig ist, so betrachtet, Luthers Beichtvater, der Frömmigkeitstheologie Johann von Staupitz105. Durch ihn vermittelt ist ein starker Einfluss der oberrheinischen Mystik, namentlich Taulers106, und letztlich wird man Luthers spätmittelalterliche Prägungen im Rahmen der oben skizzierten Entwicklungen jener Linie einer ansteigenden Betonung der Innerlichkeit zurechnen können, so dass es kaum erstaunen kann, dass sein Auftreten sich – nach seiner ersten Publikation, der Herausgabe einer mystischen Schrift, der Theologia deutsch107 – sich vor allem am Protest gegen die massivste Form quantifizierter und veräußerlichter Frömmigkeit im späten Mittelalter festmachen lässt: Der Streit um den Ablass hatte unverkennbar seine Wurzel in einer innermittelalterlichen Polarität, führte Luther aber bald darüber hinaus, zumal er sich 103 S. hierzu meinen Aufsatz „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in diesem Band S. 261–277; vgl. zur Kritik daran BRECHT, MARTIN, Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: ZThK 101 (2004) 281–291. Brecht unterschätzt meines Erachtens, dass die entgegen meiner Deutung von ihm beschriebene Harmonie beider Texte ganz gewichtige Folgen sowohl für die Datierung des „Durchbruchs“ (nämlich wohl um 1515) als auch für dessen Inhalt (nämlich ein neues poenitentia-, nicht ein neues iustitia-Verständnis) hätte. Zieht man diese unvermeidlichen Folgerungen, ergeben sich viel radikalere Änderungen unseres Bildes von Luthers reformatorischer Entwicklung als bei dem von mir vorgeschlagenen Verzicht auf die Annahme eines Durchbruchs. 104 WA 1,525f. 105 Vgl. zu Staupitz STEINMETZ, DAVID C., Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the protestant Reformation, Durham 1980; WETZEL, RICHARD, Staupitz und Luther, in: Volker Press / Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986 (SMAFN 16), 75–87; WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (VIEG 141); HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: ARG 92 (2001) 6–41; LEPPIN, VOLKER, „Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“. Johannes von Staupitz als geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung, in diesem Band S. 241–259. 106 LEPPIN, omnem vitam (wie Anm. 103); vgl. auch OTTO, HENRIK, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (QFRG 75). 107 S. WA 1, 153. 378f; zur Theologia deutsch s. jetzt PETERS, CHRISTIAN, Art. Theologia deutsch, in: TRE 33 (2002), 258–262.

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mit einer Distanz gegenüber der herrschenden scholastischen Theologie insgesamt verband, der Luther wenige Wochen vor den Thesen gegen den Ablass in seiner Disputatio contra scholasticam theologiam Ausdruck gab108. Dafür, dass er Alternativen zum herkömmlichen scholastischen Betrieb suchte und fand, wird man auch den Einfluss des Humanismus benennen dürfen, auf dessen Bedeutung für Luther Helmar Junghans wiederholt nachdrücklich hingewiesen hat109 – noch einmal in den oben angesprochenen Kategorien formuliert, macht sich hier die erwähnte Polarität zwischen der scholastischen Lehrform und den entstehenden alternativen Gestalten der Wissensvermittlung bemerkbar. Der Humanismus gehört in dieses Geflecht von Einflüssen des späten Mittelalters, aus dem sich bei Luther nicht mit einem Mal, sondern nach und nach eine neue Theologie entwickelt. Man kann diesen komplexen Prozess griffig beschreiben, wenn man sich an den vier reformatorischen Ausschließlichkeitsformulierungen orientiert, die den Grundbestand reformatorischer Theologie formelhaft zusammenfassen: solus Christus, Christus allein als Grund des Heils, sola gratia, allein durch Gnade, sola fide, allein durch den Glauben, und Sola scriptura110. Die Initialzündung für Luthers Entwicklung kam von Staupitz, weswegen er Zeit seines Lebens betont hat, dass dieser eigentlich die evangelische Lehre angefangen habe111. Staupitz hat ihn immer wieder auf Christus als den alleinigen Grund des Heils hingewiesen. Diese Anregung formte Luther dann mit Hilfe von Augustin und Paulus aus. Schon etwa 1516 lässt sich, markant in der Quaestio de viris hominis sine gratia disputata112 nachvollziehen, dass für Luther die Gnade Gottes in Entgegensetzung zu allem Tun des Menschen im Mittelpunkt steht. Diese Überzeugung war früher in der Beschreibung von Seiten Gottes klar als in anthropologischer Hinsicht. So sehr Luther schon betonte, dass der Mensch eigentlich nichts zu seinem Heil tun konnte, so sehr waren seine Vorlesungen doch noch von dem Gedanken getragen, dass der Mensch durch Demütigung seiner selbst sich so weit erniedrigen könne, dass Gott ihn in Gnade annähme113. Diese Beschreibung implizierte noch, wenn auch in der negativen 108

Vgl. hierzu GRANE, LEIF, Contra Gabrielem (wie Anm. 15); zu Luthers Verhältnis zu Aristoteles und zum Aristotelismus s. auch DIETER, THEO, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin u.a. 2001 (TBT 105). 109 S. vor allem JUNGHANS, HELMAR , Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985; vgl. auch DERS., Der mitteldeutsche Renaissancehumanismus. Nährboden der Frühen Neuzeit, Stuttgart / Leipzig 2004 (SSAW.PH. Bd. 139, Heft 1). 110 S. zu dieser Entwicklung LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 116f. 111 WA.TR WA.TR 1,80,6f (Nr. 173); 245,11f (Nr. 526). 112 WA 1, 145–151. 113 Grundlegend für die Beschreibung von Luthers früher Demutstheologie nach wie vor BIZER, ERNST, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchhen ³1966.

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Wendung der Selbstdemütigung eine Aktivität des Menschen und gab somit der Alleinigkeit der Gnade Gottes nicht zureichend Ausdruck. Hierfür gewann Luther mehr und mehr die Perspektive der Beschreibung der Heilszueignung an den Menschen durch den Glauben, und zwar durch einen Glauben, der auf nichts traute als auf Gottes Verheißung114. All dies waren inhaltliche Entfaltungen, deren methodische Grundlage vor allem eine Entgegensetzung zum spätmittelalterlichen Aristotelismus war. Die Implikationen der eigenen Äußerungen für die formal-methodisch Gewinnung aber wurden Luther erst nach und nach klar: Erst als auf der Leipziger Disputation vom 27. Juni bis 15. Juli 1519 Luthers altgläubiger Gegner Johannes Eck aus Ingolstadt insistierte, dass Luther nicht nur Aussagen vertrat, die der päpstlichen Lehre widersprachen, sondern dass er auch von Konzilien verurteilte Lehren vertrat, wurde deutlich, dass seine Lehre den Verzicht auf jede kirchliche Instanz zur Gewährleistung von Wahrheit nötig machte115. Die Konsequenz zog dann für ihn in aller Deutlichkeit Philipp Melanchthon. Am neunten September 1519 hatte er zur Erlangung des theologischen Baccalaureates Thesen zu disputieren, die jedenfalls zum Teil auch von ihm formuliert waren116. Sie formulierten klar die mittlerweile gewonnenen Grundsätze der reformatorischen Rechtfertigungslehre: „omnis iustitia nostra est gratuita die imputatio“117, aber sie taten noch mehr: „Catholicum praeter articulos, quorum testis est scriptura, non est necesse alios credere“, heißt es in der 16. These118. Das bedeutete nichts anderes als: Sola scriptura. Die Schrift allein konnte Grundlage für die heilsnotwendige Lehre in Kirche und Theologie sein. Damit stand im Sommer 1519 das Gerüst der reformatorischen Botschaft bereit, auch wenn es noch keineswegs an allen Punkten in einen Widerspruch zur vorherigen Theologie und Frömmigkeit formuliert wurde. Luther hat sich noch lange mystischer Begriffe und Vorstellungen bedient, um seine Theologie zu formulieren. Der Transformationsprozess von spätmittelalterlicher zu reformatorischer Theologie war weit weniger bruchartig, als dies modernen Deutern erscheinen will. Aber noch wichtiger als diese Beobachtung ist die Beantwortung der letztlich für jede reformationshistorischer Konzeption entscheidenden reformationshistorischen Frage, wie aus dieser theologischen Entwicklung ein gesamtgesellschaftlicher Vorgang werden konnte. Wie weitreichend die Folgerungen dieses, bei aller Anknüpfung an spätmittelalterliche Entwicklungslinie im Einzelnen in der Gesamtheit neuen theologischen 114 Vgl. hierzu BAYER, OSWALD, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989. 115 S. LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 150f. 116 S. zur Entstehung MAURER, WILHELM, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 2, Göttingen 1969 (= ebd. 1996), 101–103 117 MELANCHTHON, StA 1, 24, 18f. 118 MELANCHTHON, StA 1, 24, 29f.

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Komplexes waren, zeigte sich im Jahre 1520, als Luther seine Schrift De captivitate Babylonica an die Öffentlichkeit gab. In einem Durchlauf durch die sieben im Mittelalter gültigen Sakramente blieben von diesen nur noch Taufe und Abendmahl übrig; die Buße erhielt eine besondere Hervorhebung als Rückkehr in die Taufe, aber nicht mehr als eigenes Sakrament. Diese fundamentale Kritik wäre aufgrund des Schriftprinzips allein nicht möglich gewesen, sondern es war der beschriebenen Komplex reformatorischer Theologie, der hierfür leitend war: Maßstab war nicht allein, ob diese oder jene Handlung in der Bibel eingesetzt war, sondern ob sich in ihr mit einer äußeren Zeichenhandlung ein Einsetzungswort verband, das die Verheißung der Gnadenzuwendung Gottes zusprach. Damit war der Appell an einen Umbau des kirchlichen Heilsvermittlungssystems überdeutlich ausgesprochen. Eine über den kirchlichen Raum im engeren Sinne hinausgehende Reformation war damit noch nicht zwingend gegeben. Die zentrale Begründungsfigur hierfür fand sich in einem etwas früheren Text aus demselben Jahr 1520: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. Schon dieser etwas umständliche Titel zeigt, dass Luther sich hierin an die weltlichen Instanzen als Träger einer Veränderung wandte. Aber das tat er nicht einfach so, sondern mit einer konkreten Denkfigur, die sich in einer berühmten Formulierung ausdrückte: „Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey ... Szo folget ausz dissem, das leye, priester, fursten, bischoff, und wie sie sagen, geistlich und weltlich, keinen andern unterscheyd ym grund warlich haben, den des ampts odder wercks halben, unnd nit des stands halben“119

Was hier grundgelegt wird, ist die protestantische Lehre vom allgemeinen Priestertum120. Diese Lehre ist durchaus nicht vorbildlos im Mittelalter121, ja, sie knüpft in unmittelbar nachvollziehbarer Weise an die oben skizzierte Linie einer zunehmenden Betonung der Laienverantwortung in der spätmittelalterlichen Christenheit an, die den gleichfalls nachvollziehbaren klerikalen Entwicklungen entgegensteht. Und sie ist sogar konzeptionell im spätmittelalterlichen Denken nachvollziehbar: Bei dem spätmittelalterlichen Mystiker Johannes Tauler findet sich eine Formulierung, die das Priestertum wenigstens metaphorisch von der engen Bindung an die sakramentale Weihe löst: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“122 – dies gilt ausdrücklich auch für Frauen123. Allerdings ist dies

119

WA 6,408,11f. 26–28. S. hierzu GOERTZ, HARALD, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997 (MThSt 46). 121 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in diesem Band S. 399–418. 122 Taulers Predigten (wie Anm. 30), 164,34–165,1. 120

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kein allgemeines Priestertum. Es geht nicht wie bei Luther um alles, was aus der Taufe gekrochen ist, sondern es geht um Menschen mit einer bestimmten spirituellen Disposition, um die „gotdehtigen“ Menschen, also die besonders andächtigen, Gott zugewandten Menschen, kurz gesagt: um diejenigen, die im Sinne von Taulers Mystik leben und glauben. Luther führt also nicht einfach Gedanken Taulers fort, sondern vereindeutigt und radikalisiert sie: Indem bei ihm jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, zum Priester oder Bischof geweiht ist, gelangt er auf der Basis der Rechtfertigungslehre, die keine Voraussetzung von Seiten des Menschen benennt, zu einer Lehre von einem tatsächlich allgemeinen Priestertum, dessen einzige Voraussetzung die gnädige Zuwendung Gottes ist. Indem er so Priesteramt und Bischofsamt nicht mehr in einer eigenen Weihe, sondern in der Taufe begründet, wird einer grundlegenden sozialen Norm des späten Mittelalters ihre theologische Grundlage genommen, nämlich der Unterscheidung von Kleriker und Laien. Hier ist der entscheidende Punkt, an dem eine der oben beschriebenen Polaritäten nicht im Rahmen ihrer dialektischen Bezogenheit aufeinander fortgeführt, sondern gesprengt wird. Hatte es im Mittelalter einerseits eine Zunahme der Laienverantwortung, andererseits auch Züge der Klerikalisierung gegeben, so waren doch beide Entwicklungen auch aufeinander bezogen. Das Beispiel der Bruderschaften macht deutlich, dass die religiös agierenden Laien sich weiter auf Kleriker angewiesen sahen und sich ihrer auch für ihre religiösen Zwecke bedienten. Eben hier setzte Luther einen klaren Schnitt: Zwar wurde nicht die Unterscheidung zwischen Gemeindegliedern und Amtsträgern aufgehoben124, aber dieser Unterscheidung wurde ihr ständischer und rechtlicher Charakter genommen, der die Unterscheidung von Kleriker und Laien im Mittelalter ausgemacht hatte. Sie war nicht nur im mittelalterlichen Kirchenrecht selbst festgeschrieben125, sondern war auch konstitutiv für eine Vielzahl seiner Regelungen. Indem Luther sich aus rechtfertigungstheologischen Gründen gegen sie wandte, wandte er sich auch gegen einen Grundzug des Kirchenrechts So war es nur konsequent, dass Ende desselben Jahres, als schon die Androhung des kirchlichen Banns gegen ihn ausgesprochen war, Luther nicht nur die Bulle verbrannte, die diese Androhung bekanntgab, sondern mit ihr zugleich auch das Kirchenrecht.

123

Ebd., S. 165,15–17; vgl. GANDLAU, THOMAS, Trinität u. Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg im Breisgau 1993 (FThSt 155), S. 146f, mit der Unterscheidung von sakramentalem und geistlichem Priestertum. 124 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Zwischen Notfall und theologischem Prinzip. Apostolizität und Amtsfrage in der Wittenberger Reformation, in: Gunther Wenz / Theo Schneider (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge. Bd 1: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg / Göttingen 2004, 376–400. 125 C. 12 q. 1 c. 7 (ed. Friedberg I, 678).

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4. Institutionelle Aneignung reformatorischer Theologie Erst wenn man theologiegeschichtlich an diesem Punkt angelangt ist, lässt sich auch der gesellschaftliche Vorgang der Reformation verstehen. Die theologisch richtige und notwendige Konzentration auf die Rechtfertigungslehre droht den Blick auf den tatsächlichen Vorgang, in dem theologische Ideen in gesellschaftliche Gestaltung übergehen, zu verstellen und damit auf jene heikle, aber in der Reformationszeit stets gewahrte „Balance zwischen Glaube und Macht“, der Günther Wartenberg einen grundlegenden Aufsatz gewidmet hat126. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum erst ist die sozialförmige und sozialformende Gestalt der Reformation. Und wiederum wird man aufpassen müssen, den Prozess der Reformation mit der angemessenen Differenziertheit zu beschreiben. Der theologische Gedanke vom allgemeinen Priestertum hätte keine Wirkung entfaltet, hätte er nicht in eine Situation hineingesprochen, die hierfür aufnahmebereit war. Zu Recht ist in der reformationshistorischen Forschung hervorgehoben worden, dass die Adelsschrift, in der sich die angeführte prononcierte Formulierung von den aus der Taufe gekrochenen Priestern, Bischöfen und Päpsten findet, mehr ist als ein zufälliges Schreibtischprodukt des Theologen Luther. Ganz gezielt greift Luther hier Themen auf, die schon länger Thema der erwähnten Gravamina nationis Germanicae waren und verstärkt so die schon im späten Mittelalter den Zentralkräften entgegenstehenden Dezentralisierungskräfte127. Er klagt das Ziehen von Prozessen nach Rom an128, beschwert sich über die finanzielle Aussaugung Deutschlands durch die verschiedenen Abgaben wie Annaten und dergleichen129. Seine eigenen Position und bisherige Entwicklung wird wohl am deutlichsten in der Forderung nach einer Universitäts- und Bildungsreform zum Ausdruck gebracht130. Aber auch diese passt in ein Reformprogramm, das seinen Grundlinien nach nicht besonders originell war, sondern seine Leistung gerade darin aufwies, dass schon länger im Schwange befindlichen Reformforderungen nun eine Grundlage gegeben wurde.

126

WARTENBERG, GÜNTHER, Glaube und Macht in Kirche und Gesellschaft im Spätmittelalter und im Jahrhundert der Reformation, in: Enno Bünz / Stefan Rhein / Günther Wartenberg, Glaube und Macht. Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005 (SSLG 5),11–21, 21; das Zitat auf Seite 21. 127 SCHEIBLE, HEINZ, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: DERS., Melanchthon und die Reformation, Mainz 1996 (VIEG.B 41), 167–183; vgl. zur politischen Bedeutung der Adelsschrift SCHMIDT, GEORG, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, 56–62. 128 WA 6,430,5–7. 129 WA 6, 418,14–427,34. 130 WA 6,457,28–462,11.

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Diese Reformforderungen gewannen aber auch einen prinzipiellen Charakter131. Wenn Luther fordert, die Überordnung des Papstes über den Kaiser zu beenden132 und die eidliche Bindung der Bischöfe an den Papst aufzuheben133, so sind dies Hinweise auf eine auch institutionelle Lösung der deutschen Kirche von der Gesamtkirche, die in ihrem Kontext noch schwerer wiegen. Denn ganz deutlich waren ja im Titel die Adressaten benannt: der Adel deutscher Nation. Konkret sind damit die Fürsten und Bischöfe aufgefordert, gemeinsam die deutsche Nation schützen134. Auf der Grundlage des allgemeinen Priestertums also wurden nun diese Instanzen in ihrer weltlichen Funktion zur Reform der gesamten Kirche aufgefordert. Was bislang als Appell an Rom verklungen war, sollte nun in die eigene Hand genommen werden, sei es auch auf Kosten einer Lösung von Rom, wie sie ja faktisch durch den Gallikanismus schon länger vorgelebt wurde. Auch dies kam, bedenkt man die oben beschriebenen Entwicklungen zu einer Verselbständigung der Kirchenaufsicht der Territorien gegenüber der papstkirchlichen Hierarchie, vorhandenen Tendenzen durchaus zupass. Der Drang nach einer Verdichtung der Territorien und der Kommunalisierung der städtischen Kirchen, wurde durch Luther nicht erzeugt, er war längst da. Aber die reformatorischen Theologien gaben dieser längst vorhandenen Bewegung eine theologische Begründung und zugleich einen Schub. Treffend hat Berndt Hamm dieses Geschehen mit dem Begriff der „normativen Zentrierung“ zusammengefasst135: Was sich aus unterschiedlichen Gründen, oft verbunden mit lokalen politischen Interessen, ergeben hatte, erhielt so Grund und Richtung. Reformatorische Theologie war im strengen Sinne Verstärkung der vorhandenen mittelalterlichen Tendenzen. Sie griff diese auf und gab ihnen einen neuen Impuls und damit durchschlagenede Kraft. Tatsächlich muss an dieser Stelle allerdings von reformatorischen Theologien gesprochen werden. Der Vorgang der Reformation wurde nicht allein durch Luther angestoßen und nicht allein von Wittenberg aus gestaltet. Der Prozess der Entwicklung reformatorischer Theologie und Gestaltung hat heterogene Wurzeln. Man kann an dem Zürcher Reformator Huldrych Zwingli deutlich machen, der seine theologische Ausrichtung keineswegs einfach von Luther erhielt, sondern sie in einer eigenständigen Entwicklung, ausge-

131 Vgl. zur Deutung der Adelsschrift im Rahmen von Luthers Biographie LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 155–158. 132 WA 6,433,26–435,2. 133 WA 6,433,10ff. 134 WA 6,419,9f. 135 HAMM, BERNDT, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: JBTh 7 (1992) 241–279.

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hend vom spätmittelalterlichen Scotismus136 und dem Humanismus ausformte. So hat er auch nicht einfach eine im Sinne Luthers in der Rechtfertigungslehre zentrierte Theologie entwickelt, auch wenn Strukturanalogien auf einer hohen Abstraktionsebene zu entdecken sind137. Für den historischen Gesamtprozess der Reformation ist aber wichtiger, dass Zwingli in ganz ähnlicher Weise wie Luther, wenn auch mit anderer Begründungsstruktur das Kirchenrecht zum Angriffspunkt seiner Kritik machte. Seine theologische Entwicklung hatte ihren Ausgang bei der von Duns Scotus und den Scotisten betonten unendlichen Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf genommen 138. Diese Distanz hat dann im Laufe seiner theologischen Entwicklung verschiedene Konkretionen angenommen: Zunächst formulierte er sie als Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf, dann stand ab den frühen zwanziger Jahren die Distanz zwischen Gotteswort und Menschenwort im Mittelpunkt139. Eben von hier aus entstand dann die erste reformatorische Aktion in Zürich: Das berühmte Wurstessen in der Offizin des Druckers Froschauer, mit dem die Gebote der Fastenzeit gebrochen wurden, dem Zwingli zwar beiwohnte, ohne dass er selbst aktiv daran teilnahm. So bewegte er sich als Kleriker noch gerade im Rahmen der gültigen Vorschriften. Wenig später aber entwickelte er die Begründung für die Möglichkeit des Fastenbrechens beziehungsweise überhaupt des Durchbrechens kirchenrechtlicher Vorschriften. Zunächst in einer Predigt, dann in einer gedruckten Schrift behandelte er das Thema „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“140. Leitwort wurde bei Zwingli, wie zwei Jahre zuvor bei Luther, die Freiheit141. Diese hatte Gott gegeben, freilich nicht in dem Sinne wie bei Luther, dass der Gläubige durch den direkten Austausch mit Christus generell frei von Zwängen zu seinem Heilsgewinn war und freiwillig den Willen Gottes erfüllte, sondern in dem Sinne, dass das göttliche Gebot unwandelbar Bestand hatte, sich aber kein menschliches Gebot zwischen Gott und Mensch stellen konnte. Damit war, wiederum wie bei Luther, wenn auch auf anderer argumentativer Grundlage, das Kirchenrecht in seiner Legitimität von Grund auf bestritten. Jede besondere Möglichkeit von Klerikern, den Laien Vorschriften zu erteilen, war damit genommen. Die weitere Entwicklung in Zürich war dann nur konsequent: Mit der Zürcher 136

S. hierzu grundlegend BOLLIGER, DANIEL, Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis. Mit ausführlicher Edition bisher unpublizierter Annotationes Zwinglis (SHCT 107), Leiden u.a 2003: 137 HAMM, BERNDT, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre?, in: ZThK 83 (1986) 1–38. 138 BOLLIGER, Infiniti Contemplatio (wie Anm. 136). 139 S. zu dieser Deutung der Theologie Zwinglis LEPPIN, VOLKER, Art. Zwingli, Ulrich, in: TRE 36 (2004), 793–809, 798–804. 140 CR 88, 88–136. 141 Treffend ist daher der Titel von HAMM, BERNDT, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988.

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Disputation, von Bernd Moeller als „Erfindung Zwinglis“ charakterisiert142, nahm der städtische Rat die Dinge in die Hand; der Bischof war zu einer grundsätzlichen Disputation über die Rahmenbedingung von Predigt in Zürich gerade noch einmal eingeladen, schickte freilich nur einen Abgesandten, der dann keine Rolle spielte. Es war der städtische Rat, der unter Umgehung der mittelalterlichen Hierarchie die Regeln für Theologie in Zürich festlegte. Zürich ist damit freilich nur ein Beispiel für ein Phänomen, das sich in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts vielfach zeigte: Die Städte, zumal die Reichsstädte, das Corpus christianum im kleinen143, brachten die ersten politisch-rechtlichen Umsetzungsformen reformatorischen Denkens. Das bedeutet für die Wittenberger Reformation zweierlei: 1. Der erste Schritt zur rechtlichen Umsetzung von Reformation wurde nicht im unmittelbaren Wirkungskreis der Wittenberger, dem ernestinischen Sachsen getan, sondern im Südwesten des Reiches, der eine viel höhere Reichsstadtdichte aufwies als der mitteldeutsche Raum. 2. Nicht die Theologie Luthers war leitend für diese Durchsetzungsformen, sondern die vielen unterschiedlichen Theologien, die sich, teils im Anschluss an Luther, teils ihm gegenüber eigenständig wie im Falle Zwinglis144, im Südwesten entwickelten. Sie wiesen zwar in der Legitimierung der laikalen Rechtsinstanzen eine hohe Konvergenz zur Theologie Luthers auf, zeigten aber nur in Ausnahmefällen – wie etwa in der sich in Nürnberg durchsetzenden Theologie eines Andreas Osiander145 – eine deutliche Abhängigkeit von Luther. Solche Beobachtungen bedeuten freilich nicht, dass Reformation ohne Luther geschehen wäre, wie sie geschehen ist. Luther hat durch sein entschiede142

MOELLER, BERND, Zwinglis Disputationen. Studien zu den Anfängen der Kirchenbildung und des Synodalwesens im Protestantismus, in: ZSRG.K (1970) 275–324; 91 (1974) 213–364. 143 MOELLER, Reichsstadt und Reformation (wie Anm. 57), 15. 144 Die ältere Forschung (RICH, ARTHUR, Die Anfänge der Theol. Huldrych Zwinglis, Zürich 1949) hat diese Eigenständigkeit stark betont. Dagegen hat sich in der jüngeren Forschung eine Tendenz entwickelt, Zwingli in ganz erhebliche Abhängigkeit von Luther zu rücken (NEUSER, WILHELM H., Die reformatorische Wende bei Zwingli, NeukirchenVluyn 1977; BRECHT, MARTIN, Zwingli als Schüler Luthers. Zu seiner theologischen Entwicklung 1518–1522, in: ZKG 96 [1985] 301–319). Diese Forschungsrichtung bringt aber methodisch das Problem mit sich, reformatorische Theologie von einem an Luther geprägten Bild aus zu konstruieren. Sieht man, dass Zwinglis reformatorische Theologie ganz anders konturiert war als die Luthers, insbesondere die Rechtfertigungslehre nicht ins Zentrum gerückt hat, sondern die Grundunterscheidung zwischen dem unendlichen Gott und dem endlichen Mensch, so rücken diejenigen Punkte, an denen er Anregungen Luthers aufnahm, eher an den Rand seiner Theologie, die in ihrem Kern ein hohes Maß an Eigenständigkeit aufweist (s. LEPPIN, Zwingli [wie Anm. 139], 794f). 145 SEEBAß, GOTTFRIED, Das reformatorische Werk des Andreas Osiander, Nürnberg 1967.

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nes Auftreten auf der Leipziger Disputation 1519 und vor allem auf dem Wormser Reichstag 1521 den unterschiedlichen Bestrebungen zur Umformung der spätmittelalterlichen Kirche und Gesellschaft einen neuen Schub gegeben. Mit ihm war ein zugkräftiges Symbol entstanden146. Die positive Haltung zu dem gebannten und geächteten Luther markierte die Grenzziehung zwischen alter Kirche und reformatorischer Bewegung. Diese Option zugunsten Luthers bedeutete nicht eine durchgehende Bejahung seiner Theologie und schon gar keine Abhängigkeit von ihm – das sollte sich schon recht bald im sogenannten reformatorischen Abendmahlsstreit zweigen, als die unterschiedlichen Hintergründe der theologischen Entwicklungen vor allem Zwinglis und Luthers unversöhnlich aufeinander prallten147. Die Option für Luther bedeutete aber die Absage an das bisherige Kirchensystem und die Entscheidung für eine Änderung der alten Kirche durch die laikalen Instanzen. Luther war hierfür Katalysator, ja, mehr noch: So wie die Lehre vom allgemeinen Priestertum eine normative Zentrierung brachte, geschah durch das Schicksal Luthers eine symbolische Zentrierung durchaus heterogener Bestrebungen. Die Einheit der Reformation entstand theologisch durch die Begründung laikaler kirchenordnender Tätigkeit und die Aufhebung der grundlegenden Differenz von Klerikern und Laien148. Politisch-symbolisch entstand sie durch die Orientierung an der zentralen Symbolgestalt Luther. Reformation wäre so wenig ohne Luther verstehbar wie durch ihn allein. Dieser Zusammenhang wird noch komplexer, wenn man bedenkt, dass trotz der langen forschungsstrategischen Orientierung an der Reformation der Städte auch diese allein das Phänomen der Reformation, vor allem ihre Nachhaltigkeit nicht zu erklären vermöchten: Ohne dass die Fürsten schließlich die Reformation gestaltend in die Hand genommen hätten, wäre die reformatorische Bewegung vermutlich eine Episode geblieben149. Genau hier setzt nun

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S. zu der enormen Wirkung des Wormser Reichstages SCHILLING, JOHANNES, Passio Doctoris Martini Lutheri. Bibliographie, Texte und Untersuchungen, Gütersloh 1989 (QFRG 57). 147 Hierzu immer noch grundlegend KÖHLER, WALTHER, Das Marburger Religionsgespräch 1529. Versuch einer Rekonstruktion, Leipzig 1929 (SVRG 148); vgl. aber auch HAUSAMMANN, SUSI, Die Marburger Artikel – eine echte Konkordie?, in: ZKG 77 (1966) 288–321. 148 S. zu diesem Ansatz LEPPIN, Wie reformatorisch (wie Anm. 101). 149 S. hierzu WOLGAST, EIKE, Die deutschen Territorialfürsten und die frühe Reformation, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199); RUDERSDORF, MANFRED, Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie des deutschen Reformationsfürsten, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, Münster 1997 (KLK 57), 137–170; SEEBAß, GOTTFRIED, Die deutschen Fürsten und die Reformation: Kontext und Hintergrund des kirchlichen Wirkens Johann Friedrichs von

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aber, anders als in den Städten, die direkte Fortwirkung Martin Luthers ein. In sehr unmittelbarer Weise gilt dies für Sachsen, wo Luther seinen direkten Einfluss auf das Herrscherhaus geltend machen konnte, aber indirekt auch für das weitere gewichtige Territorium, das vergleichsweise früh der Reformation zufiel: Hessen. Wie Gury Schneider-Ludorff gezeigt hat, ist Philipp von Hessen nachdrücklich von Luthers Adelsschrift beeindruckt gewesen150, also eben von jener Schrift, der der wichtige Gedanke des Priestertums aller Gläubigen zu entnehmen ist. Beide, der hessische Landgraf wie die wettinischen Kurfürsten standen dabei in der oben im Zusammenhang der Dezentralisierung skizzierten Tradition ihrer Vorfahren, aber beide erfuhren durch die reformatorische Bewegung, und in diesem Falle nun tatsächlich personalisiert: durch Luthers Wirken und Schreiben eine Legitimation für ihr Tun, die sich ebenso wie die oben beschriebenen Phänomene im städtischen Bereich als normative Zentrierung des politischen Handelns durch Theologie beschreiben lassen. Die Theologie Martin Luthers gab den Fürsten für ihr Eingreifen in kirchliches Handeln den theologischen Grund, der nach der Adelsschrift einerseits in der Intransigenz Roms lag, andererseits aber im allgemeinen Priestertum, auf dessen Grundlage die gesellschaftlich hervorragendsten und geeignetsten Personen, eben die Adeligen zur Kirchenreform befähigt und aufgerufen waren. Dieser Impuls fruchtete mit einer zeitlichen Verzögerung gegenüber den ersten Ansätzen in den Städten, aber dann umso nachdrücklicher zu Veränderungen in den Territorien. Es war im Wesentlichen der Reichstag von Speyer 1526, dessen dissimulierender, also die Entscheidung zwischen den Parteien offen haltender Abschied151 von Hessen und dem ernestinischen Sachsen als Erlaubnis zur Durchführung von Reformation genutzt wurde. Der Abschied vom 27. August 1526 hatte formuliert, im Blick auf das Wormser Edikt solle es jedem Stand bis Abhaltung eines Konzils oder einer Nationalversammlung gestattet sein, „für sich also zu leben, zu regieren und zu halten, wie ein jeder solches gegen Gott, und käyserl. Majestät hoffet und vertraut zu verantworten“152. Hessen und Sachsen machten sich umgehend an die Umsetzung, wobei Hessen zunächst noch durch die Homberger Kirchenordnung153 einen eigenen Weg ging, ehe Philipp von Hessen dann, auch wegen des WiderstanSachsen, in: Volker Leppin / Georg Schmidt / Sabine Wefers (Hg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006 (SVRG 204), 9–27 150 SCHNEIDER-LUDORFF, Reformator (wie Anm. 83), 36f. 59. 151 KOHNLE, ARMIN, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh 2001 (QFRG 72), 271. 152 Neue und vollständigere | Sammlung | der | Reichs=Abschiede ... Zweyter Theil | derer | Reichs=Abschiede | von dem Jahr | 1495. Bis auf das Jahr 1551. | inclusive, Frankfurt/ Main 1747, 274 § 4. 153 Vgl. SCHNEIDER-LUDORFF, Reformator (wie Anm. 83), 45–59.

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des Luthers, aber zugleich in Anknüpfung an die eigenen mittelalterlichen Traditionen auf die sächsische Linie der Visitation einschwenkte. Mit diesen Aktivitäten ab dem Herbst 1526 wurde die Reformation zu einem territorialen Geschehen und damit der Handlungsrahmen auch gewichtiger politischer Einheiten im Reich – nicht zuletzt mit Sachsen in einem der Kurfürstentümer. Die Reformation war damit, die Anstöße Luthers aus der Adelsschrift aufgreifend und weiter gestaltend, zu einem Geschehen geworden, das nur noch zum Teil in der Hand der Theologen lag und viel stärker den Eigengesetzlichkeiten der Politik zu folgen hatte154.

5. Formierung der polaren Blöcke Langfristig führte dieser Prozess der politischen Umsetzung der Reformation durch die Obrigkeiten dazu, dass das, was als kulturelle Polaritäten das späte Mittelalter geprägt hatte, sich nun institutionell verfestigte. In gezielter Grobzeichnung kann man sagen, dass die Reformation sich Impulsen verdankte, die innerhalb der spätmittelalterlichen Polaritäten als antischolastisch, laikal und dezentral zu beschreiben sind: Diese drei Tendenzen erhielten einen kräftigen Schub durch die Reformation, deren erster Anstoß in Luthers Theologie aus den Verinnerlichungstendenzen des späten Mittelalters resultierte. Diese Verinnerlichungstendenzen sind freilich zugleich diejenigen, die im stärksten Maße auf beide sich formierende Großgruppen, die altgläubigen und die reformatorischen, gleichermaßen verteilt blieben; obwohl Tauler nicht zuletzt wegen der Einflüsse auf die reformatorische Theologie auf den römischen Index gesetzt wurde155, entwickelte sich doch mystische Theologie und Frömmigkeit auch im römisch-katholischen Kontext, zumal in Spanien weiter156. Wo aber am allerdeutlichsten und von früh an die Verhärtung einsetzte, war die Polarität von Zentralität und Dezentralität: Es gehört zu den dramatisch vorantreibenden Momenten der Entwicklung der Reformation, dass Luther auf Gegner stieß, die den an der Bußfrage157 entzündeten Konflikt zu einem Streit um die Papstfrage vorantrieben: Mit dem Gutachten im Lutherprozess wurde der oben schon erwähnte Dominikaner Silvester Mazzolini Prierias beauftragt, der die scharf papalistische Tradition seines Ordens fortschrieb. Als Höhepunkt seiner Gedankenführung kann sein Satz gelten: 154

Zu diesem Dilemma, dass Luther gerade mit der weitreichenden Durchsetzung seiner Ideen eher an den Rand des Geschehens gedrängt wurde, s. LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 97), 319–324. 155 GNÄDINGER, Tauler (wie Anm. 29), 418. 156 LEPPIN, Mystik (wie Anm. 23), 115. 157 LEPPIN, omnem vitam (wie Anm. 105), insbes. S. 274–277.

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„Quicunque non innitur doctrine Romane ecclesie, ac Romani pontificis, tanquam regule fidei infallibili, a qua etiam sacra scriptura robur trahit et autoritatem, hereticus est.“158

Mit einer solchen schroff zentralistischen Position war Luthers Anliegen nicht zu vereinbaren, und in ganz ähnlicher Weise entwickelten die neue, sich von der Scholastik lösende Theologie und die Betonung des Laienelements in der Lehre vom allgemeinen Priestertum die innerhalb eines einheitlichen Corpus christianum aushaltbaren Polaritäten zu Konflikten weiter, die nicht mehr unter einem gemeinsamen Dach gehalten werden konnten. Dies galt in besonderem Maße, als aus der Betonung der Verantwortung auch der Laien für die Kirchenreform die auf eine radikal dezentrale Kirchenorganisation hinauslaufende Konsequenz einer Gestaltung der Reformation durch die Landesherren gezogen wurde, wie es im Gefolge des ersten Speyerer Reichstages durch Hessen und Sachsen geschehen war. Dieses Vorgehen schärfte den Konflikt, und der zweite Speyrer Reichstag brachte die Reaktion der altgläubig gebliebenen Stände, die die Ereignisse in Hessen und Sachsen als Missbrauch der Rechtslage verstanden und, wie man zugespitzt sagen könnte, dagegen protestierten. Reichsrechtlich führte dies freilich dazu, dass der Reichstag nun wieder auf die Durchsetzung des gegen Luther gerichteten Wormser Edikts drängte und die evangelisch gewordenen Stände dagegen protestierten, woher der Name der „Protestanten“ rührt, auch wenn damit zunächst etwas anderes gemeint ist, als der moderne Sprachgebrauch vermuten lassen könnte: Wer im mittelalterlichen Recht eine protestatio vorlegt, bezeugt seine aufrecht bleibende Haltung gegen als illegitim wahrgenommene Vorgänge. Eben dies taten die protestierenden Stände, indem sie auf ihrer eigenen Auslegung des ersten Speyerer Reichstagsabschiedes und damit auf der Legitimität ihrer Reformmaßnahmen beharrten. Dieses Hin und Her in der Reichspolitik war auch dadurch mitbedingt, dass der Kaiser Karl V. längere Zeit nicht im Reich weilte. Für das Jahr 1530 aber schrieb er einen Reichstag aus, zu dem er in durchaus verbindlichem Ton beide Seiten aufforderte, ihre Auffassung darzulegen. Das reichsrechtlich durchaus schiefe Ergebnis war, dass lediglich die evangelische Seite ihre Sicht darlegte. Dies taten die Wittenbergisch Gesonnenen in der Confessio Augustana, die dann in einem längeren Prozess zum Grundbekenntnis des Luthertums werden sollte. Der Reichstag von 1530 endete mit einem offenen Dissens: Die Evangelischen, die noch dazu ihren inneren Zwiespalt dokumentierten, indem vier oberdeutsche Städte ein abweichendes Bekenntnis und Zwingli ein Privatbekenntnis vorlegten, erhielten für die von ihnen seit 1526 vorgenommenen Änderungen beziehungsweise für deren theologische Begründung keine Zustimmung. 158

Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521). 1, Teil: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518), ed. v. Peter Fabisch und Erwin Iserloh, Münster 1988 (CCath 41), 55.

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Angesichts der damit eingetretenen rechtlichen Unsicherheit schlossen sie bald einen Verteidigungsbund: den Schmalkaldischen Bund, mit seinen Hauptleuten dem Kurfürsten von Sachsen und dem Landgrafen von Hessen159, aber auch zahlreichen weiteren Mitgliedern, die sich zu gegenseitigem Schutz in Glaubensdingen verpflichteten. Hier bereits zeichnete sich ab, dass Differenzen in der Auslegung des Christlichen bestanden, die nicht mehr im 15. Jahrhundert noch innerhalb eines Corpus christianum nebeneinander gehalten werden konnten, sondern die sich konfrontativ verfestigten. Diese Konfrontation vermehrte sich durch die Erfolge des Schmalkaldischen Bundes – insbesondere mit der Einführung der Reformation in Württemberg 1534160, in Brandenburg schrittweise ab 1535161 und im albertinischen Sachsen 1539162 – eher noch, als dass sie sich verminderte, weil hierdurch die reformatorisch gesonnene Gruppe zu einer echten Partei im Reich wurde. Dieser zunehmenden Macht konnte der Kaiser nachgebend oder konfrontativ begegnen, und tatsächlich versuchte er zeitweise einen Weg, der hart an der Grenze zu der Forderung nach einem Nationalkonzil war, indem er Religionsgespräche innerhalb des Reiches anberaumte, also die theologischen Fragen, die eigentlich nach katholischem Verständnis nur durch ein weltweites Konzil hätten geklärt werden könnten, auf Reichsebene einer Kompromisslösung zuzuführen. Als dieser Kompromissweg allerdings scheiterte, wuchs auch die Konfrontation neu an, und sie entlud sich schließlich im Jahre 1546/7 im Schmalkaldischen Krieg, der das Desaster für Sachsen und Hessen darstellte und dem Albertiner Moritz von Sachsen nicht nur die Kurwürde, sondern auch den Ruf eines Judas von Meißen eintrug, der um des eigenen Vorteils willen seine Glaubensgeschwister verraten hatte; erst durch die Forschungen von Günther Wartenberg ist es gelungen, Moritz angemessen abgewogen zu interpretieren163. Umgekehrt ist es auch ihm zu verdanken, dass sich die politische Lage wieder umkehrte. Sein forsches Vorgehen gegen den Kaiser wendete das Blatt, und über den Passauer Vertrag 1552164 kam es 159 S. HAUG-MORITZ, GABRIELE, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002 (SSWL 44). 160 LEPPIN, VOLKER, Theologischer Streit und politische Symbolik. Zu den Anfängen der württembergischen Reformation 1534–1538, in: ARG 90 (1999) 159–187. 161 S. zur Notwendigkeit einer vorsichtigen Deutung dieses Geschehens Manfred Rudersdorf / Anton Schindling, Kurbrandenburg, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Bd. 2: Der Nordosten, Münster ³1993, 34–66, 41. 162 WARTENBERG, GÜNTHER, Art. Sachsen II. Freistaat, in: TRE 29 (1998), 558–580, 567f. 163 S. WARTENBERG, GÜNTHER, Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546, Gütersloh 1988 (QFRG 55). 164 DRECOLL, VOLKER HENNING, Der Passauer Vertrag (1552). Einleitung und Edition, Berlin 2000 (AKG 79).

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schließlich 1555 zum Augsburger Religionsfrieden mit seinen berühmten Regelungen, die für Reichsstädte ein konfessionelles Nebeneinander erlaubten, für geistliche Territorien eine dauerhafte Zugehörigkeit zur römischkatholischen Kirche und für weltliche Territorien eben jene Regelung einführten, die dann später mit dem Satz cuius regio, eius religio zusammengefasst wurde 165: Der Landesherr bestimmte über die Religion seiner Untertanen. Und als Religionen waren zwei anerkannt: die römisch-katholische, die sich gleichzeitig im Konzil von Trient ihr spezifisches neuzeitliches Gesicht gab, und die Verwandten der Augsburger Konfession. Das Reich zerfiel damit in zwei unterschiedliche Auslegungen des Christentums, es war verfassungsrechtlich religiös polar gegliedert. Aus den unterschiedlichen, einander an vielen Stellen überlagernden Polaritäten des späten Mittelalters, die innerhalb einer christlichen einheitlichen Gesellschaft mit aller Divergenz hatten existieren können, war die eine große verfassungsrechtliche Polarität geworden. Hatte im späten Mittelalter religiös vieles nebeneinander bestehen können, so standen nun zwei religiöse Blöcke gegeneinander, vertraten einander ausschließende Wahrheitsansprüche – und erkannten sich rechtlich gleichwohl gegenseitig an.

6. Ausblick: Internationalisierung der Polaritäten Auch für die Frühe Neuzeit ist das Reich nur Teil eines europäischen Gesamtkomplexes: Die Polarität von Augsburg betraf zunächst einmal nur das Reich. In anderen Regionen, etwa in Siebenbürgen oder in Polen, kam man zu ganz anderen Lösungen. So wurden etwa in Siebenbürgen vier Konfessionen nebeneinander anerkannt166. Das ist kaum mehr unter den Begriff der Polaritäten zu fassen, so wie bald ohnehin innerhalb des reformatorischen Lagers mit dem Calvinismus eine weitere Konfession entstand. Die Grundtendenz, dass religiöse Differenzen politische mit sich brachten, blieb aber in vielen Fällen in dem Maße erhalten, dass Heinz Schilling sogar von einer „Konfessionalisierung im internationalen System“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sprechen konnte167. Tatsächlich spielte bis in die Auseinan165

GOTTHARD, AXEL, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004; Carl A. Hoffmann u.a. (Hg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005. 166 LEPPIN, VOLKER, Siebenbürgen: ein kirchenhistorischer Sonderfall von allgemeiner Bedeutung, in: DERS. / Ulrich A. Wien (Hg.), Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2005 (QSGÖ 66), 7–13, 12. 167 SCHILLING, HEINZ, Die Konfessionalisierung und die Entstehung eines internationalen Systems in Europa, in: Volker Leppin / Irene Dingel / Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2002, 127–144, 136.

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dersetzungen des Dreißigjährigen Krieges hinein die Frage konfessioneller Divergenz eine mitentscheidende Rolle, auch wenn gerade für diesen Krieg sein Charakter als Religionskrieg vielfach in Zweifel gezogen worden ist. Eben dies hängt mit einer weiteren Stufe der Entwicklung zusammen: Die angedeutete Internationalisierung der Polaritäten durch eine Konfessionalisierung der Außenpolitik ist nur ein Aspekt der Entwicklung vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Hinzu kommt eine Tendenz zur Polyzentrik durch die vielfach sich gegeneinander abschließenden Territorien, die im Zuge der Entwicklung des Absolutismus immer stärker auf sich selbst bezogen waren. Diese Entwicklung brachte jenseits der konfessionellen Polarität und lange Zeit auch im symbolischen Konflikt mit ihr, eine Polyzentrik europäischer Mächte mit sich, die die Konflikte auf lange Zeit hinaus prägen sollte. Der Blick auf die Kirchen- und Christentumsgeschichte kann dies nur noch begrenzt in den Blick nehmen. Aber die entscheidende Weichenstellung, die aus dem vielfach in sich differenzierten Corpus christianum ein Gebilde mit institutioneller Polarität gemacht hat, ist in ihrem Kern Folge christlicher, theologischer Grunddifferenzen. Gerade sie hat freilich dann auch, indem sie auf Dauer das Nebeneinander zweier einander ausschließender Wahrheitsansprüche duldete, die Frage nach der Toleranz und damit eine der Grundfragen der Aufklärung mit sich gebracht. So wenig die Reformatoren sich selbst als Aufklärer im Sinne der Moderne verstanden, so sehr wurde die Aufklärung doch herausgefordert durch eine Entwicklung, die die Reformation angestoßen hatte.

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Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie Das Selbstverständnis der Theologie – das ist nur eine von vielen Fragen, in denen die Lehrverurteilung von 1277 Wirkung auf die Theologie erzielte. Daneben sei nur auf die Problematik des Nezessitarismus und ihre Folgen für den Gottesbegriff erinnert. Wenn ich im folgenden die wissenschaftstheoretische Frage herausgreife, so vor allem deswegen, weil diese Frage in das Zentrum der Auseinandersetzungen von 1277 reicht: Die Chiffre der doppelten Wahrheit besagte ja, auf ihren Kern zurückgeführt, nichts anderes, als daß es zwei Weisen der Wahrheitserkenntnis gab, die miteinander nur mühsam in Ausgleich zu bringen waren. Diese Entwicklung hatte nun zweifellos Folgen nicht nur für das Verhältnis von Philosophie und Theologie zueinander, sondern auch für die Selbstreflexion der Theologie. Das läßt sich sehr deutlich an der Thematik der Evidenz ablesen. Eileen Serene hat in ihrem Beitrag über beweisende Wissenschaft in der Cambridge History of Later Medieval Philosophy das Aufkommen des Insistierens auf Evidenz in wissenschaftstheoretische Zusammenhängen mit dem Namen Duns Scotus verbunden1 – und damit zweifellos einen hierfür namhaften und bedeutenden Denker benannt. Im folgenden soll aber gezeigt werden, daß diese Entwicklung von Duns Scotus nicht begründet, sondern aufgenommen wurde, und daß sie sich letztlich eben der Auseinandersetzung mit den 1277 verurteilten Thesen verdankt. Die Lehrverurteilung von 1277 enthält durchaus einige explizite Aussagen über die Theologie: Aus den Thesen 152 und 153 nach der Zählung des Chartularium der Universität Paris2 erfahren wir, daß theologisches Reden sich auf bloße Fabeln stütze und die Theologie generell das Wissen nicht vermehre3. 1 SERENE, EILEEN, Demonstrative Science, in: Norman Kretzmann et al. (Hg.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Desintegration of Scholasticism. 1100–1600, Cambridge 1982, 496–517, hier: 509; ähnlich schon WILPERT, PAUL, Das Problem der Wahrheitssicherung bei Thomas von Aquin. Ein Beitrag zur Geschichte des Evidenzproblems, Münster 1931, 74 (BGPhMA 30/3). 2 Cf. die Synopse der verschiedenen Zählungen bei HISSETTE, ROLAND, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Löwen/ Paris 1977, 319ff (PhMed 22). 3 Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs v. Paris, ed. v. Kurt Flasch, Mainz 1989, 217 (ExCl 6).

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Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung

Das sind nun zwar schöne Beispiele von der Atmosphäre im ausgehenden 13. Jahrhundert und den Befürchtungen, die die Theologen um Tempier offenbar hatten4. Die Theologie wird darin aus dem Kosmos der ernstzunehmenden Wissenschaften mit aller Brutalität ausgeschlossen – doch gerade wegen der Heftigkeit dieser Angriffe sind es nicht diese Aussagen, die der Reflexion den kommenden Generationen Schwierigkeiten machten – sie hatten nicht das sachliche Gewicht, das zu solcher Auseinandersetzung genötigt hätte. Weit schwieriger stand es mit den allgemeinen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Äußerungen, die 1277 verurteilt worden waren und die zeigten, wie nach strengsten aristotelischen Maßstäben Wissenschaft zu definieren sei. Entscheidend ist hier die 37. These der Lehrverurteilung: „Quod nihil est credendum, nisi per se notum, vel ex per se notis possit declarari“, in Kurt Flaschs Übersetzung: „Nichts darf man glauben, das nicht evident ist oder nicht aus Evidentem entwickelt werden kann“5.

Ebenso wenig wie für die anderen zitierten Thesen läßt sich nach den Forschungen von Roland Hissette auch für diese ein Beleg bei den Artisten der Zeit finden6. So ist wiederum zu fragen, welche denkerische Konzeption es eigentlich war, die Tempiers Kommission hier dämmern sahen: Hätte denn jemand diese These ernsthaft formuliert, so hätte er damit jeden eigenen Bereich des Glaubens bestritten, der Glaube wäre gleichsam von der wissenschaftlichen Erkenntnis geschluckt worden. Was als Erkenntnisbereich übriggeblieben wäre, war nur der Bereich der Evidenz und der innerhalb des Evidenten gezogenen Schlüsse, kurz: Prinzipien und Schlüsse. Ganz ähnlich tritt diese Vorstellung auch in der These 1517 entgegen, die erklärt, Gewißheit, certitudo, sei nur über Schlüsse aus selbstevidenten Prinzipien erreichbar. Eben dieser angebliche Anspruch von philosophischer Seite stellte die Theologen vor eine große Herausforderung: Man konnte schwerlich bestreiten, daß Evidenz ein entscheidendes Merkmal des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses war. Gerade angesichts dessen aber mußte man begründen, daß es aus erkenntnistheoretischen Gründen gleichwohl notwendig war, etwas zu glauben, was über den Bereich der Evidenz hinausging.

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So auch die Deutung bei HISSETTE, Enquête (wie Anm. 2), 275. Zum Theologieverständnis der bedeutendsten Gestalt des konsequenten Aristotelismus, Sigers von Brabant, vgl. auch BUKOWSKI, THOMAS P., Siger of Brabant vs. Thomas Aquinas on Theology, in: NSchol 61 (1987), 25–32. 5 FLASCH, Aufklärung (wie Anm. 3), 134. Die Herkunft dieser These ist nach HISSETTE, Enquête (wie Anm. 2), 21, nicht nachweisbar. 6 Ibid. 21. 7 FLASCH, Aufklärung (wie Anm. 3), 216.

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Welch geringes Gewicht die Evidenzproblematik vor 1277 noch besaß, zeigt sich symptomatisch daran, daß das Register der großen Monographie von Ulrich Köpf über die theologische Wissenschaftstheorie dieser Zeit8 zwar das Lemma „Gewißheit“, nicht aber das Lemma „Evidenz“ aufführt. Gleichwohl trat das Evidenzproblem natürlich mit der Lehrverurteilung von 1277 nicht erstmals in den Horizont theologischer Wissenschaftsreflexion. Berühmtestes Beispiel hierfür ist allemal Thomas. Er hatte in seiner berühmten Darlegung des Subordinationsmodells der Theologie auch und gerade das Problem der Evidenz aufgegriffen: Das erste Kopfargument zum hier einschlägigen 2. Artikel der Summa Theologiae I,1 lautet ausdrücklich: Omnis ... scientia procedit ex principiis per se notis9. Gleichwohl ist bei ihm die Bedeutung der Evidenzthematik für die Wissenschaftsreflexion noch sehr eingeschränkt. Zum einen ist festzuhalten, daß die Frage der Evidenz in seiner Wissenschaftsreflexion an anderen Stellen kaum begegnet10. Zum anderen begegnet er im Zusammenhang der Diskussion des Theologieverständnisses nicht mit der möglichen vollen Schärfe: Es geht Thomas hier nicht um die Evidenz der wissenschaftlichen Erkenntnis11 als ganzer, sondern nur um die Evidenz der Prinzipien. Ersteres ist zwar Fol8

KÖPF, ULRICH, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert, Tübingen 1974 (BHTh 49). 9 S. Thomae Aquinatis Opera Omnia, ed. v. Robert Busa, Bad Cannstatt 1980, Tom. 2, 185. 10 Thomas unterscheidet scientia und fides nur gelegentlich mit Hilfe der Begriffe evidentia oder per se notum (so ibid. Tom. 1, 343 [IV Sent d.23 q.2 a.2c ad 1]; Tom. 3, 91 [De Veritate q.14 a.1 ad 7]); an anderen Stellen arbeitet er mit dem dann der scientia zugeordneten visio-Begriff (Summa Theologiae I-II q.67 a.3 c. (ibid., Tom.2, 440; ähnlich Summa Theologiae II-II q.1 a.4 c. [ibid. 524]; a.5 ad 4 [ibid. 525]; q.2 a.1 c. [ibid. 527]; De Trinitate p.2 q.3 a.1 ad 4 [ibid. Tom.4 527]) und wieder an anderen Stellen nimmt er eine Binnendifferenzierung des certitudo-Begriffs ohne Rekurs auf die Evidenz-Thematik vor (ibid. Tom. 2, 185 [Summa Theologiae I q.1 a.5]; Tom. 4, 273 [Kommentar zu den Analytica Posteriora I/ 1,6]) oder spricht der scientia ohne weitere Differenzierung schlicht certitudo zu (ibid. Tom.3, 74 [De Veritate q.11 a.1 ad 13]; Tom. 4 295 [Kommentar zu den Analytica Posteriora I 41]); cf. QUINN, JOHN FRANCIS, Certitude of Reason and Faith in St. Bonaventure and St. Thomas, in: St. Thomas Aquinas. 1274–1974. Commemorative Studies. Bd. 2, Toronto 1974, 105–140, hier: 111f. 11 Der Blick auf die Schwächen der Herleitung des Erkannten war allerdings gelegentlich auch schon vor 1277 angedeutet. So hat etwa Odo Rigaldi festgestellt, „quod aliae scientiae sunt certiores, quia sunt per rationes necessarias et inevitabiles“ (zit. nach KÖPF, Anfänge (wie Anm. 8), 212 n. 288) – aber dies geht eben bezeichnenderweise unter der Fragestellung nach der certitudo nicht auf Evidenz, sondern auf Notwendigkeit ein und steht damit im Horizont der klassischen Gegenüberstellung von Glaube als willentlich beeinflußbar und Vernunft als notwendig zwingend, wie sie sich schon in dem berühmten Anselm-Ausspruch im Proslogion zeigt, in dem Anselm erklärt, der ausgeführte Gottesbeweis habe ihn so überzeugt, „ut si te esse nolim credere non possim non intelligere“ (S. Anselmi Opera Omnia, ed. v. Franziskus Salesius Schmitt, Neuausg. Stuttgart – Bad Cannstatt 1968, Vol. 1,104,6f).

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ge des Letzteren und das weiß Thomas, wie aus anderen Stellen seines Œuvres hervorgeht12, selbstverständlich sehr genau, aber es geht ihm eben in Zusammenhang seiner Reflexion auf die Theologie als Wissenschaft um die Grundlagen, nicht um die Erkenntnis insgesamt. Ohnehin wird ja das offenkundig gegebene und erkannte Problem der Evidenz von Thomas dann einfach wegdefiniert: Gerade weil Thomas sich in Fragen der Evidenz nicht auf die wissenschaftliche Erkenntnis insgesamt, sondern nur auf die der Prinzipien bezieht, kann er zu seinem bekannten Ergebnis kommen, daß die Theologie im Rahmen des Subordinationsmodells als Wissenschaft verstehbar sei: Er verlagert das Problem der Evidenz, indem er erklärt, es reiche aus, daß überhaupt jemandem – in diesem Fall Gott oder den Heiligen – die Erkenntnisse der Theologie evident seien. Unausgesprochen nimmt er dann den – gegenüber den Vergleichsgrößen wie Musik und Lehre von der Perspektive überdeutlichen – logischen Bruch des Subjektwechsels vor: Indem dem einen Subjekt, Gott und den Heiligen, die theologischen Erkenntnisse evident sind, enthebt er das andere Subjekt, den theologischen Wissenschaftler, der Forderung nach evidenter Erkenntnis der Prinzipien, was, wiederum unausgesprochen, in der Konsequenz heißt: Es gilt generell für die Theologie, sofern sie von Menschen betrieben wird, keine Evidenz – damit aber hebt er, auch dies unausgesprochen, für die Wissenschaftlichkeit die durchgängige Evidenzforderung insgesamt auf: Sind die Prinzipien nicht evident erkannt und für den Menschen auch – anders als im Falle der Musikwissenschaft – schlechterdings nicht evident erkennbar, so sind die Folgerungen auch nicht evident erkannt und erkennbar. Indem Thomas so den Wissenschaftscharakter der Theologie retten will, ermöglicht er eine Vorstellung von Wissenschaft, die dem menschlichen Erkenntnissubjekt generell keine Evidenz gewährleistet. Wird aber einer solchen nicht-evidenten Erkenntnis Wissenschaftlichkeit zugesprochen, so beruht diese Wissenschaftlichkeit allein auf einem formalen Schlußverfahren, bei dem es gleichgültig ist, ob es mittelbare Evidenz hervorruft oder nicht. Daß das Modell, mit dem Thomas die Wissenschaftlichkeit der Theologie retten will, in dieser Weise, konsequent weitergedacht, Rückwirkungen auf den Wissenschaftsbegriff hat, zeigt auch die Binnendifferenzierung, die er bei diesem vornimmt. Sie ist distributiv, nicht qualitativ: Ohne eine Abstufung des Grades der Wissenschaftlichkeit vorzunehmen, unterscheidet Thomas manche Wissenschaften, die auf evidenten Prinzipien fußen, von solchen, die dies eben nicht tun. Evidenz ist in diesem Modell zwar ein Problem, aber es ist kein wirkliches qualitatives Merkmal von Wissenschaftlichkeit.

12

S. z. B. IV Sent d. 23 q.2 a.2c ad 1 (Thomas, Opera [cf. n. 9] 1,343), wo Thomas eben der scientia Evidenz zuspricht (cf. zum ganzen Komplex der mittelbaren Evidenz bei Thomas WILPERT, Wahrheitssicherung (wie Anm. 1), 101–113).

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Vor dem Hintergrund einer solchen kritischen Würdigung des thomasischen Modells wird nun natürlich auch deutlich, daß die Spitze der verurteilten These 37 nicht allein in der Aufhebung eines Sonderbezirks für den Glauben liegt, sondern gerade auch in der präzisen Formulierung per se notum, vel ex per se notis possit declarari: Schärfer kann man dem thomasischen Modell kaum seine Unhaltbarkeit deutlich machen als durch diese Betonung, daß nur das als wahr anzunehmen ist – das ist mit dem credendum wohl gemeint – was unmittelbar und mittelbar evident ist: Sehr genau wird hier also die Forderung mittelbarer Evidenz expliziert, die Thomas, indem er die Frage nach dem Erkenntnissubjekt überspielte, hatte ignorieren können. Eben diese mittelbare Evidenz aber ist es, die die Wissenschaft auszeichnet, im Unterschied zu dem intellectus als Prinzipienhabitus, der eben über die unmittelbar evidenten Einsichten verfügt. Die Betonung der mittelbaren Evidenz im Kontext der Lehrverurteilung von 1277 führte unter Theologen der folgenden Generation zu einem gegenüber Thomas präzisierten Wissensbegriff: Heinrich von Gent fordert für Wissenschaftlichkeit nicht allein die Evidenz von Prinzipien, sondern er sieht wissenschaftliche Erkenntnis als ganze von Evidenz gekennzeichnet. Daß hier ein Zusammenhang mit der Lehrverurteilung naheliegt, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß Heinrich der führende Kopf in der von Tempier eingesetzten Kommission war, die die Verurteilung vorbereiten sollte; wohl im zeitlichen Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen 13 arbeitete er an seiner Summa, auf die ich mich im folgenden beziehe14: Dieser zeitliche Zusammenhang ist so augenscheinlich, daß man bei der Feststellung inhaltlicher Berührungen auch von einem tatsächlichen genetischen Zusammenhang wird ausgehen dürfen. Die Betonung der Forderung nach mittelbarer Evidenz schleicht sich allerdings erst in die Summa des Heinrich hinein: Noch im 2. Artikel der Quaestio prima seiner Summa, der de certitudine sciendi handelt, ist hiervon nicht die Rede. Hier operiert Heinrich noch mit einem gänzlich undifferenzierten certitudo-Begriff. Im Zusammenhang mit der Verhandlung der Wissenschaftlichkeit der Theologie aber geht er hierüber hinaus; dies zeigt den deutlich apologetischen Charakter dieser Erwägungen. Heinrich unterscheidet nun exakt

13

Zur zeitlichen Ansetzung der Summa in den letzten beiden Lebensjahrzehnten Heinrichs cf. MARRONE, STEPHEN P., Truth and Scientific Knowledge in the Thought of Henry of Ghent, Cambridge / Mass. 1985, 4f (SpecAM 11). 14 Aufgrund der Wirkung der Summa als Gesamttext kann im folgenden auf einer genauere Berücksichtigung der von MARRONE, Truth and Scientific Knowledge (wie Anm. 13) eindrücklich herausgearbeiteten Entwicklungen im Denken Heinrichs verzichtet werden.

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anhand der Evidenzfrage15 einen weiteren und einen strikten Begriff von scientia. Und letzterer nun bezeichnet „non quaecumque certa notitia, sed solummodo eorum quorum veritas intellectui ex rei evidentia apparet“(„nicht irgendeine gewisse Erkenntnis, sondern allein eine von solchem, dessen Wahrheit dem Intellekt aus der Evidenz der Sache einleuchtet“).16

Die Frage der Evidenz wird nun also zum Kriterium strenger Wissenschaftlichkeit – und zugleich wird durch die Unterscheidung von Wissenschaft im strengen Sinn und Wissenschaft im weiteren Sinne die Möglichkeit geschaffen, auch nicht evidente Formen von Erkenntnis noch unter den Wissenschaftsbegriff zu fassen. Heinrich trägt also dem in den verurteilten Thesen aufscheinenden strengen Wissenschaftlichkeitsanspruch anhand der Evidenzthematik Rechnung, ohne für die Theologie wichtigen institutionellen Boden preiszugeben. Denn eben auf diese Weise kann er nun der Theologie einen zwar im Hinblick auf Wissenschaftlichkeit niederen Status zusprechen, ohne sie doch gänzlich hinsichtlich der certitudo abwerten zu müssen. Heinrich betont geradezu den Mangel an Evidenz in der Theologie: „Primo modo ista scientia non est certissima ex rei scitae evidentia.... Sed haec incertitudo huius scientiae est incertitudo secundum quid, quia solum proveniens ex indispositione scientis“ („Auf die erste Weise ist diese Wissenschaft nicht die allergewisseste aufgrund der Evidenz der gewußten Sache ... Diese Ungewißheit dieser Wissenschaft aber ist nur relativ, weil sie aus einem Mangel des wissenden Subjekts hervorgeht.“)17.

Heinrich schlägt damit aufgrund der aus dem Streit um den Aristotelismus geschärften Wahrnehmung der Evidenzproblematik einen wichtigen Weg ein: Er nimmt das Problem der Evidenz als erkenntnistheoretisches ernst, das heißt: Er betont die Notwendigkeit der Berücksichtigung der bei Thomas vernachlässigten Erkenntnisbedingungen des Subjekts zur Evidenzanalyse, um so die Theologie selbst vor Vorwürfen zu schützen. Heinrich bestreitet nun aber der Theologie nicht jegliche certitudo, sondern gewinnt diese auf einer anderen Grundlage als der der strengen Wissenschaftlichkeit: Aus der augustinischen Tradition nimmt er den Begriff der adhaesio auf, der freilich bislang keineswegs auf das Gegenüber zur Evidenz

15 Cf. dagegen Thomas, der ebenfalls weiteren und engeren scientia-Begriff unterscheidet, aber nicht anhand der Evidenz, sondern anhand der Beweisbarkeit, so daß für ihn dann auch der Prinzipienhabitus unter diesen weiteren Begriff fällt (Commentarium in Posteriorum Analyticorum I l.7 n. 5: THOMAS, Opera [wie Anm. 9] 4, 276f.). 16 Summae Quaestionum Ordinariarum Theologi recepto preconio Solennis Henrici A Gandavo, cum duplici repertorio Tomos Prior, Paris 1520 (= St. Bonaventure, N.Y. et al. 1953), f.42vB; vgl. ebd. f.1vB: „scire large accepto ad omnem notitiam certam qua cognoscitur res sicut est absque omni fallacia et deceptione.“ 17 Ibid. f.49rN–O.

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festgelegt war 18 und auch in der Lehrverurteilung selbst nicht präzise der Evidenz, sondern der certitudo apprehensionis gegenübergestellt worden war19. Bei Heinrich steht die adhaesio nun klar der Evidenz gegenüber, wenn er der Theologie eine certitudo adhaesionis, quae bene potest sine omni clara et evidenti notitia zuspricht20. Mit dieser Begründung wird der Sonderbezirk des Glaubens gegenüber der verurteilten These 37 gesichert und theoretisch aufgefangen, ja, vor allem: Auch der 1277 anvisierte Streit der Fakultäten ist so – schiedlich-friedlich – entschieden; denn der Glaube gewinnt nun nicht nur seine Eigenständigkeit zurück, sondern er gewinnt sie anhand des certitudo-Begriffs, der seinerseits Wissenschaftlichkeit bedeutet: nun aber nicht im strengen, sondern im weiten Sinn. Heinrich zielt also ebenso wie Thomas darauf, nachzuweisen, daß die Theologie nicht mindere Sicherheit bietet als die anderen Wissenschaften auch. Während aber Thomas dies auf die Weise tut, daß er mit dem Hilfskonstrukt des Subordinationsmodells nachweist, daß die unmittelbare Evidenz der Prinzipien einer Wissenschaft nicht generell für das diese Wissenschaft treibende Subjekt gegeben sein muß, also den Wissenschaftsbegriff zugunsten der Theologie ohne qualitative Differenzierung aufweicht, schärft Heinrich einerseits durchaus das Evidenzkriterium als Merkmal strenger Wissenschaftlichkeit ein und weitet doch auch zugleich explizit den scientia-Begriff aus. Er geht dabei den Umweg über einen Wissen und Glauben gemeinsamen Oberbegriff, den der certitudo: In ganz anderer Weise als Thomas nimmt er also das Evidenzkriterium ernst und legt sich und seinen Lesern Rechenschaft darüber ab, daß die Theologie nicht – wie im Subordinationsmodell des Thomas – eine ganz normale Unterart der scientia ist, sondern daß sie nur dann scientia sein kann, wenn man hierfür geringere Standards anlegt. Theologie wird damit in Kategorien beschrieben, die der Wissenschaft nicht einfach völlig fremd, sondern vielmehr aus der wissenschaftstheoretischen Diskussion als Problem gewonnen sind. Aber sie erfährt mit Hilfe dieser Begrifflichkeit – eben des certitudo-Begriffs – eine eigenständige Begründung, die ihre Eigenheit gegenüber der allgemeinen scientia verstehen läßt.

18 Cf. das Gegenüber von certitudo adhaesionis und certitudo speculationis bei Peckham (KÖPF, Anfänge [wie Anm. 8], 213 n. 295); ebenso bei Aegidius Romanus (Primus Egidii D. Egidii Ro. [...] Primus Sententiarum [...], Venedig 1521 [= Frankfurt 1968] f. 7r [Prologus p.2 q.2]); in dieser nicht die evidentia, sondern die speculatio betonenden Tradition steht auch Bonaventura, wenn er der scientia im Gegenüber zur fides eine certitudo speculationis zuspricht (Doctoris Seraphici S.Bonaventurae S.R.E.Episcopi Cardinalis Opera Omnia, ed. R.P.Bernardini a Portu Romatino u.a. Bd. 3, Quaracchi 1887, 482a). 19 FLASCH, Aufklärung (wie Anm. 3), 216. 20 HEINRICH, Summa quaestionum (wie Anm. 16), f.49rN.

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Die von Heinrich vorgenommene Betonung der mittelbaren Evidenz im Zusammenhang der scientia-Definition wurde rasch zum philosophischtheologischen Gemeingut21. Auf diese Basis nun wurden zwei verschiedene Strategien im theologischen Umgang mit der Evidenz-Problematik entwickelt, die sich beide bei Heinrich angelegt finden: Die eine Linie macht sich das Evidenzkriterium in der Weise zu Eigen, daß sie zu zeigen versucht, daß die Theologie eigentlich und wesentlich in dieser Hinsicht keinen Mangel leide. Die andere Linie geht konstitutiv vom Fehlen der Evidenz aus und versucht zu zeigen, daß eben dieses Fehlen selbst kein Mangel sei. Die erstgenannte Linie, die über Wilhelm von Ware zu Duns Scotus führt, geht von der problematischen, weil nicht wirklich erkenntnistheoretisch gedachten Formulierung der evidentia rei bei Heinrich aus und versucht nun, einer abstrakt gedachten theologia in se positiv eben jene Evidenz zuzusprechen, die der irdischen Theologie fehlt. Die andere Strategie findet sich bei Wilhelm von Ockham, der an die Wissenschaftsdefiniton des Duns Scotus anknüpft, aber das abstrakte Ideal einer theologia in se nicht mehr zum Konstituens seiner theologischen Wissenschaftslehre macht, sondern im Gegenteil gerade bei der Defizienz einsetzt, indem er die von Heinrich angedachte – und selbstverständlich bei Duns wie bei Ware präsente – Seite stark macht, daß der theologia nostra ein eigener, nicht evidenter, aber nicht minderwertiger Grund zuzusprechen ist. In der ersten Traditionslinie hatte Wilhelm von Ware die Unterscheidung einer Betrachtung des Göttlichen nach seiner eigenen Natur und hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens, die sich bereits bei Thomas findet22, in den Mittelpunkt der Klärung der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie gerückt. Theologie kann man nach Ware unter zwei Perspektiven betrachten: einerseits hinsichtlich ihres Objektes und andererseits hinsichtlich des Erdenpilgers als des Erkenntnissubjektes23. Und hinsichtlich des ersten Aspektes, also des Objektes der Erkenntnis gilt, daß die Theologie „scientia [...] perfecta, immo perfectissima, et hoc ex evidentia rei“ („eine vollkommene, ja absolut vollkommene Wissenschaft, und dies aus der Evidenz der Sache“) ist24, womit Ware ganz offenkundig an die erwähnte Formulierung von der evidentia rei bei Heinrich anknüpft. Entsprechend gilt umgekehrt: „Quod autem theologia non est nobis scientia, non est ex parte sua ex defectu aliquo, sed propter parvitatem intellectus nostri“ („Daß die Theologie für uns keine Wissenschaft ist,

21

Belege bei LEPPIN, VOLKER, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995, 85f (FKDG 63). 22 Cf. Thomas, Opera (wie Anm. 9) Tom.4, 524 (De Trinitate p.1 q.2 a.2). 23 Ms. Wien 1424 f. 7vA: „ista scientia dupliciter potest considerari: vel in se et in comparatione ad obiectum (...) Alio modo in comparatione ad scientem viatorem.“ 24 Ibid. f. 7vA.

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liegt nicht daran, daß sie selbst irgendeinen Mangel hätte, sondern liegt an der Begrenztheit unseres Verstehensvermögens“)25.

So rettet Ware also in vollem Wissen um die Defizienz unserer theologischen Erkenntnis doch die Würde der Theologie als einer evidenten Wissenschaft. Sieht man nun noch, daß für Ware die theologia in se nichts anderes ist als die theologia Dei oder die theologia beatorum, da Gott und die Seligen allein in der Lage sind, die Prinzipien der Theologie evident zu erkennen26, so wird deutlich, was hier unter dem Eindruck des durch die Lehrverurteilung von 1277 geschärften Blicks für Evidenz geschieht: Das, was bei Thomas als hierarchische Subordination entwickelt wurde, wird nun vermittels der Unterscheidung der Wesensbestimmung von der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Erkenntnissubjekt gelöst, die Frage wird also in der Tat verschärft und verstärkt zu einer erkenntnistheoretischen im eigentlichen Sinne – freilich nicht in wirklichem Bemühen um die erkenntnistheoretische Fragestellung, sondern eben aufgrund des Versuchs, ein wahres Wesen der Theologie ungeschoren herauszuarbeiten: Es handelt sich hier letztlich um ein Rückzugsargument, mit dem der Theologie die letzte Bastion gewahrt werden soll, die durch die erkenntnistheoretische Infragestellung im Zuge der Lehrverurteilung gefährdet worden war. Damit war bei Ware eine Grundentscheidung gefällt, die Duns Scotus nur noch systematisierend nachvollziehen mußte. Er entwarf eine ganze Systematik verschiedener theologiae, in der er theologia in intellectu divino, theologia beatorum und theologia nostra unterschied27. Dies ist hier im einzelnen nicht darzulegen, sondern der Blick soll nun auf den anderen Traditionsstrom gerichtet werden, der nicht wie Ware und Duns danach strebte, über den Begriff der theologia in se den Evidenzmangel der Theologie fortzudefinieren, sondern konsequent erkenntnistheoretisch vorging. Der Zug zu verschärft erkenntnistheoretischen Fragestellungen zeigt sich bereits bei Robert Cowton und Petrus Aureoli, die sich strikt gegen eine Spekulation über eine subjektlos beschriebene theologia in se aussprechen28. 25 Ibid. 1424 f. 7vA; cf. GÁL, GEDEON, Gulielmi de Ware, O.F.M. Doctrina Philosophica per summa capita proposita, in: FrS 14 (1954), 155–180. 265–292, hier: 158. 26 Ms. Wien 1424 f. 7vA: Die Prinzipien „sunt secundum se certissima et evidentissima et verissima, non tamen nobis, sed soli deo et beatis in patria“ (cf. Gál, op. cit., 158). 27 Cf. hierzu LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 21), 111–119. 28 Peter Aureoli, Scriptum super Primum Sententiarum, ed. v. Eligius M. Buytaert. Tom. 1, St.Bonaventure, N.Y. et al. 1952, 146,19–37 (FIP.T 3/1); zu Robert Cowtons Äußerungen s. THEISSING, HERMANN, Glaube und Theologie bei Robert Cowton OFM, Münster 1970, 271,19–21 (BGPhMA 42/3). Im Gegensatz zu Aureoli nimmt Cowton allerdings den argumentativen Kern des Gedankens der theologia in se durchaus in modifizierter Form positiv auf und erklärt, daß die theologia nostra virtuell als Wissenschaft angesehen werden könne (ibid. 271,21–26; cf. ibid. 155).

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Eben hieran knüpft nun Wilhelm von Ockham an. Auch er betont, daß es theologia in se nicht losgelöst von jeglichem Intellekt geben könne29, verschiebt also den Status quaestionis deutlich zur Frage nach dem erkennenden Subjekt hin. Dabei bleibt bei ihm das Erbe der Diskussion um die theologia in se insofern erhalten, als er erklärt, die theologia nostra sei ex se durchaus geeignet, Wissenschaft und Weisheit zu sein, und hierher rühre es, daß die autoritativen theologischen Väter30 sie als scientia bezeichneten31: Die theologia in se bleibt also als Wesensbeschreibung der theologia nostra erhalten, aber in strikter Bindung an eben diese und damit an das Erkenntnissubjekt, den Menschen. Eine eigenständige Lehre von der theologia in se hält Ockham daher offenkundig nicht für nötig. Für seine Überlegungen ist vielmehr ganz etwas anderes entscheidend: Ihm geht es darum, für die Theologie die Vorstellung der im Glauben fundierten certitudo adhaesionis zu präzisieren. Es ist hier wiederum nicht der Ort, dieses Modell im Einzelnen darzustellen32. Es sei nur zusammenfassend darauf hingewiesen, daß Ockham für die Theologie einen eigenen Grund in der fides infusa sucht. Ausgangspunkt ist dabei das Problem, daß in der Tat die Theologie zu Teilen nicht evident ist – daß sie durchaus evidente, wissenschaftliche Erkenntnisse enthält, bestreitet er dabei keineswegs. Wie Heinrich von Gent mit Hilfe des certitudo-Begriffs versucht nun aber auch Ockham, die Gewißheit der Theologie durch Rekurs auf eine zusätzliche externe Vergleichsebene zu sichern und mit der der scientia gleichzusetzen. Das Vehikel nun, das er dazu wählt, ist viel ausgeprägter als bei Heinrich ein aristotelisches Konzept, nämlich das der habitus veridici, der Wahrheit gewährleistenden Vernunfthabitus; von diesen kannte Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nur fünf: intellectus, sapientia, scientia, ars und prudentia. Ockham nun erklärt, diese Aufzählung sei allein dann vollständig, wenn es nur um die evidenten Wahrheit gewährleistenden Habitus ginge – lasse man aber das Evidenzkriterium fort, so sei hier noch der Glaube hinzuzufügen. 29 OT 1, 342,1f. Entsprechend benutzt Ockham auch die Formulierung theologia in se praktisch nirgends: Sie kommt lediglich einmal in Auseinandersetzung mit Duns Scotus vor (ibid. 339,9–16). Wenn BECKMANN, JAN P., Wilhelm von Ockham: Die Philosophie unter dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit, in: Wolfgang Kluxen (Hg.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg / München 1975, 245–255, hier: 253ff, daher in seiner Ockham-Deutung theologia in se und theologia nostra einander gegenüberstellt, so beruht dies nicht so sehr auf den expliziten Aussagen Ockhams als auf einer Sichtung eben dieser Aussagen durch eine von Duns geformte und geprägte Brille, die von dessen Lehren her Lücken bei Ockham zu schließen sucht. 30 Zur auch hier von Ockham angesprochenen Gruppe der sancti s. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 21), 213–218. 31 OT 1, 200, 12–15. MIETHKE, JÜRGEN, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 270 n. 471, bezieht die Stelle auf die Theologie als scientia in se. 32 Dies habe ich in meiner Dissertation getan, insbesondere in deren drittes Kapitel (LEPPIN, Geglaubte Wahrheit [wie Anm. 21], 169–254).

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Ockham schreitet also gegenüber Heinrich deutlich fort: Er akzeptiert nicht allein die verschärfte Aristoteles-Wahrnehmung, wie sie nach den Lehrverurteilungen unausweichlich geworden war, sondern er schreitet weiter zu offensiver Kritik an Aristoteles: Das aristotelische Erkenntnismodell ist unzureichend und muß daher kritisiert beziehungsweise ergänzt werden. Auf diese Weise gelingt es ihm, in aristotelischer Terminologie über Aristoteles hinauszuschreiten, und so im Rahmen eines gezielt und bewußt modifizierten Aristotelismus Platz für die Theologie zu finden. Daß ihm dabei bewußt war, daß er seine eigenen Einsichten der durch die Lehrverurteilung geschaffenen Diskussionslage verdankt, macht eine kleine Formulierung deutlich: In der Quaestio 7 seines Sentenzenprologes, in dem er sein Modell von Theologie entwirft, führt er als Meinung der philosophi zur Bestreitung der Wissenschaftlichkeit der Theologie an, „quod ad omnem scientiam nobis possibilem possumus naturaliter attingere, et ideo nihil est credibile mere nisi quod potest sciri evidenter“ („daß wir zu aller uns möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis auf natürliche Weise gelangen können und daher nichts glaubbar ist bis allein auf die Ausnahme, daß es evident gewußt werden kann“),33

ein auffälliger Anklang an die vorhin zitierte These 37. Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß Ockham auch sonst immer wieder als Meinung der philosophi eben solche Punkte anführt, wie sie 1277 verurteilt worden waren34. So knüpft Ockham einerseits an die über Ware und Duns vermittelte Auffassung von der mittelbaren Evidenz als einem entscheidenden Kriterium für Wissenschaftlichkeit im strengen Sinne an, und greift andererseits über sie zurück auf die direkte Auseinandersetzung mit der Lehrverurteilung. Indem er letztlich – und zwar eben aufgrund des Mangels an Evidenz – die strenge Wissenschaftlichkeit der Theologie bestreitet, macht er sich die Wissenschaftsauffassung der Aristoteliker zu Eigen. indem er aber dem Glauben einen eigenen Grund nicht unter, nicht über, sondern im Rahmen der habitus veridici schlicht neben der scientia einräumt, gibt er dem Selbstbewußtsein der Theologie Ausdruck, trotz und gerade in Aufnahme der philosophischen Kritik eine Erkenntnisform sui generis zu sein. Der Durchgang durch etwa vierzig Jahre Theologiegeschichte – mehr liegt nicht zwischen der Lehrverurteilung von 1277 und Ockhams Sentenzenkommentar – hat gezeigt, wie die neu erwachte Aufmerksamkeit auf die Evidenzthematik die Theologen vor Probleme stellte. Schon bei Heinrich von Gent stellen sich, in reichlich unausgegorenem Zustand, zwei Alternativen: Man kann das Problem auf den Wesensgehalt der Theologie verlagern und ihr so 33

OT 1, 192,23–193,2. Vgl. OT 4, 308,22–24 mit These 138–141 (FLASCH, Aufklärung [wie Anm. 3] 209f); 615,6–10 mit These 99 (ibid. 181) und 43 (ibid. 142). 34

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Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung

weiterhin wesentlich Evidenz zusprechen. Oder man kann scharf vom Problem des Erkenntnissubjektes ausgehen – und ihr dann einen eigenen, der scientia analogen Grund geben. Beide Wege sind theologisch produktiv beschritten worden. Beide Wege aber verdanken sich letztlich der Frage nach der mittelbaren Evidenz, die die Lehrverurteilung von 1277 unausweichlich gestellt hatte.

Kapitel 5

Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts Meister Eckhart wird man, das steht seit Denifle fest1, ohne sein lateinisches Werk nicht verstehen können – und ebenso steht fest, dass dieses lateinische Werk weder einfach die Hintergrundfolie für die deutschsprachigen Predigten und Traktate bildet noch in Gegensatz zu ihnen gestellt werden kann. Seine Bedeutung und Besonderheit liegt darin, dass wir in ihm Eckhart in einer spezifischen Gestalt seines Wirkens zu fassen kriegen: als akademischer Lehrer. Und als solcher war er in die Debatten seiner Zeit eingebunden. Meine folgenden Ausführungen sollen den Versuch machen, die Pariser Quaestionen, und zwar, noch genauer: die Pariser Quaestionen seines ersten Pariser Magisteriums 1302/3 in den Horizont der akademischen theologischen Debattenlagen der Zeit im beginnenden vierzehnten Jahrhundert einzuordnen. Hierzu will ich zunächst die Argumentation Ockhams in der ersten Pariser Quaestio in Erinnerung rufen, dann, aufgrund der dritten Quaestio, die Debattenlage rekonstruieren, in die dies hineinspricht, um schließlich allgemeine Überlegungen zur Dynamisierung des Gottesbildes vorzustellen.

1. Eckharts Entscheidung für den Primat des intelligere in theologischer Perspektive Diejenige Quaestio, um die sich die Frage nach der angemessenen Einordnung in die Debattenlage um 1300 rankt und ranken muss ist die erste, nach der Zählung der Edition Bernhard Geyers in den Lateinischen Werken, mit dem berühmten Titel: „Utrum in Deo sit idem esse et intelligere.“2 Diese Quaestio, die 1927 Ephrem Longprè und Martin Grabmann bekannt gemacht haben, ist vielfach interpretiert worden, und vielleicht ist noch häufiger von ihr Gebrauch gemacht worden. Jedenfalls kann ich momentan auf eine ausführliche Paraphrase des Inhalts verzichten. Ich will nur kurz den Gedankengang in Erinnerung rufen: 1

DENIFLE, HEINRICH SUSO, Meister Eckharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre, in: ALKGMA 2 (1886), 417–615. 2 Quaest. Paris. I, LW V, 37–48.

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Eckhart fragt, wie erwähnt, ob in Gott Erkennen und Sein identisch seien und kommt zunächst zu der wenig spektakulären Antwort, dass sie der Sache nach, vielleicht auch der Sache und dem Begriff nach identisch seien. Er führt hierfür Thomas von Aquin an, was für einen Dominikaner im frühen vierzehnten Jahrhundert noch nicht ohne weiteres selbstverständlich, aber in jedem Falle nahe liegend ist3. Dann aber kommen zwei zusätzliche Beweisgänge, die nicht mit Selbstverständlichkeit in der Titelfrage impliziert sind: Der erste von ihnen, das heißt, insgesamt in der Quaestio der zweite Beweisgang erklärt (ich zitiere jetzt und im Folgenden gleich nach der gegebenenfalls leicht korrigierten Übersetzung Geyers und greife nur, wo es für die Argumentation nötig ist, auf den lateinischen Text zurück): „Obschon ‚Mensch‘ und ‚vernünftig‘ (rationale) in der Aussage vertauschbar sind, so ist doch das Verhältnis beider nicht so aufzufassen: weil etwas vernünftig ist, deshalb ist es Mensch, sondern vielmehr so: weil einer Mensch ist, deshalb ist er vernünftig. Es ist aber sicher, dass, wenn das Sein vollkommen ist, durch das Sein selbst alles gegeben ist: das Leben und das Erkennen und jegliches Wirken.“4

Für die Anthropologie als den einzig möglichen Fall der Anwendung von Intellekt- und Rationalitätsspekulationen innerhalb des Geschöpflichen gilt also eine klare Priorität der species-Zuordnung vor der differentia specifica, als die für den Menschen die Rationalität gegeben ist. Für den Menschen zumindest also legt sich nahe, dass das Sein dem intelligere vorgeordnet ist – und diese Beobachtung sollte vorsichtig gegenüber dem Versuch machen, die Aussagen über die Zuordnung von intelligere und esse, die Eckhart in der Ersten Pariser Quaestio trifft, über Gott hinaus zu verallgemeinern5 und undifferenziert vom Vorrang des Erkennens vor dem Sein zu sprechen6. 3

Auf die Differenz Eckharts zu Thomas ist zu Recht immer wieder hingewiesen worden (vgl. etwa RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik. 3. Bd.: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 270f; IMBACH, RUEDI, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg / Schweiz 1976 [SF 53]). 4 Quaest. Paris. I n. 3, LW V, 39,6–9. 5 Die komplexe Frage, inwieweit Eckharts Denken im Opus tripartitum eine Änderung erfahren hat, kann in diesem Rahmen nicht angemessen behandelt werden. KERN, UDO, Die Anthropologie des Meister Eckhart, Hamburg 1994, 33–36; VIANU, STEFAN, L’intellect divin et l’intellect humain selon Maître Eckhart, in: RThPh 132 (2000), 223– 237, hier 230f, und BEIERWALTES, WERNER, Deus est esse – esse est Deus, in: DERS., Platonismus und Idealismus, Frankfurt ²2004, 5–82, hier 51f, votieren in der Richtung einer größeren Einheit von Eckharts Denken, und im Unterschied zu Vianu trägt Beierwaltes dabei auch der radikalen Unterscheidung von schöpferischer und geschöpflicher Intellektualität in den Pariser Quästionen Rechnung (vgl. zu dieser großen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf bei Eckhart auch HAUG, WALTER, Das platonische Erbe bei Meister Eckhart, in: Olaf Hildebrand / Thomas Pittrof [Hg.], „... auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift Jochen Schmidt, Freiburg im

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Denn die eigentliche Pointe, das dritte Argument der ersten Pariser Quaestio, ist eine spezifisch auf Gott bezogene Aussage: „Drittens zeige ich, dass ich nicht nur der Meinung bin, dass Gott erkennt, weil er ist; sondern vielmehr, dass er ist, weil er erkennt, in der Weise, dass Gott Intellekt und Erkennen ist, und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist.“7

Dies sind auch Intellektprädikationen, aber in erster Linie sind es Gottesprädikationen, und dies nehme ich zum Anlass, im Folgenden den theologischen Hinweisen in der Quaestio weiter nachzugehen. Für diese ist als erstes relevant, dass neben den philosophischen Autoren – vor allem Aristoteles und der Liber de causis – biblische Zitate eine ganz entscheidende Rolle spielen, und unter diesen wieder sehr spezifische Bibelstellen: der Johannesprolog sowie Joh 14,6 und Sir 24,14. Wenigstens für den Johannesprolog dürfte evident sein, dass es sich hier um einen biblischen Text handelt, der für Eckharts theologisches Schaffen von besonderer Bedeutung war, spielt er doch im Opus Tripartitum wiederum eine prominente Rolle. Und eben diese nimmt er nun auch in der Quaestio prima Parisiensis ein. Es verkürzt nämlich das argumentative Gewicht des Bibelbelegs, wenn man Eckharts Aussagen zu Joh 1,1 bloß als „ironisch“8 charakterisiert. Was ironisch ist, ist die Widerlegung eines seinem eigenen gegenteiligen Bibelgebrauchs, wenn er darauf verweist, dass es hier heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“9, und eben nicht: „Im Anfang war das Sein und Gott war das Sein“10. Aber in dieser ironischen Wendung erschöpft sich der argumentative Duktus nicht, denn es handelt sich hier um eine der traditionell stärksten Belegstellen für die Präexistenz Jesu Breisgau 2004 [Paradeigmata 1], 17–35, insbesondere 29–33). Auch die Darlegungen von STURLESE, LORIS, Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des ‚Opus Tripartitum’, in: Andreas Speer (Hg.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus, Berlin/ New York 1995 (MM 23), 434–446, der gegenüber der älteren Forschung eine größere zeitliche Nähe der lateinischen Schriften zueinander plausibel machen kann, unterstützt die Überlegung, hier Inhaltliches nicht zu weit auseinander zu reißen. 6 So FLASCH, KURT, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart ²2000, 464. 468. 7 Quaest. Paris. I n. 4, LW V, 40,5–7: „Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed qui intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse“; die Übersetzung von Quint korrigiert nach STURLESE, LORIS, Meister Eckhart. Ein Porträt, in: EichHR 90, Regensburg 1993, 5–27, hier: 23, Anm. 35. 8 FLASCH, Denken (wie Anm. 6), 465; ebenso MOJSISCH, BURKHARD, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 31. 9 Quaest. Paris. I n. 4, LW V, 40,7–9. 10 Quaest. Paris. I n. 4, LW V, 40,9. In diesem Sinne hat GROTZ, STEPHAN, Meister Eckharts Pariser Quaestio I: Sein oder nichtsein – ist das hier die Frage?, in: FZThPh 49 (2002), 370–398, hier 385, die Ironie zutreffend erklärt und eingegrenzt.

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Christi11 – eine Interpretation, die noch verstärkt wird, wenn man bedenkt, dass Eckhart zudem mit Sir 24,14 argumentiert: „Im Anfang und vor der Welt bin ich geschaffen“, der traditionell einschlägigen Belegstelle für eine Weisheitschristologie12. Beide biblischen Belege konvergieren im Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Christi13 – zusätzlich belegt durch Joh 1,3 – einerseits, in der Betonung der Intellektualität und Geistigkeit Christi andererseits; für diesen Aspekt wird dann noch Joh 14,6 herangezogen, die Selbstaussage Christi: „Ich bin die Wahrheit“14. Was hier also geschieht, ist eine Heranziehung der Spekulationen über die immanente Trinität. Indem der Akzent auf die Geistigkeit Christi gelegt wird, stellt Eckhart sich in die Tradition einer solchen Interpretation des trinitarischen Gottes – und nicht nur des Heiligen Geistes als dritter Person – als Geist. Das angeschlagene Thema ist also keineswegs eine allgemeine Erkenntnis- oder Verstehenslehre, sondern wir haben es hier mit der Zuordnung von Gotteslehre, Christologie und Schöpfungslehre zu tun. Und genau so verläuft dann auch die weitere Argumentation, der es um eine Schärfung der Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf geht 15. Dies 11 Entsprechend gibt auch WÉBER, EDOUARD-HENRI, L’argumentation philosophique personelle du théologien Eckhart à Paris en 1302/1303, in: Klaus Jacobi (Hg.); Meister Eckhart: Lebensstationen – Redestationen, Berlin 1997 (QFDGO. NF 7), 95–114, hier 96, diesen johanneischen Zitaten starkes Gewicht als eigenständiger Argumentationsstrang. 12 Quaest. Paris. I n. 4, LW V, 41,10–12: „Sapientia autem. Quae pertinet ad intellectum, non habet rationem creabilis. Et si dicatur quod immo, quia Eccl. 24: ‚ab initio et ante saecula creata sum’, potest exponi ‚creata’, id est genita“. Die Deutung, die das christologisch Anstößige Geschaffensein auf das christologisch akzeptable Gewordensein umdeutet, unterstreicht den Gebrauch der Stelle im Sinne der Weisheitschristologie. Dies erst gibt der ganz philosophischen Deutung dieser Stelle bei FLASCH, KURT, Meister Eckhart, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Klassiker der Theologie 1: Von Tertullian bis Calvin, München 2005, 145–173, hier 163, die theologische Tiefenschärfe. 13 Die Bedeutung des Schöpfungsgedankens in diesem Zusammenhang betont zu Recht auch GROTZ, Sein oder nichtsein (wie Anm. 10), 383, freilich ohne auf den spezifischen Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft einzugehen. 14 Quaest. Paris. I n. 4, LW V, 40, 11: „Item dicit salvator Ioh. 14: ‚Ego sum veritas‘“. 15 Dabei kann Eckhart durchaus in anderen Kontexten in höchster Form die Einheit von Gott und Mensch ausdrücken (s. hierzu WILDE, MAURITIUS, Das neue Bild vom Gottesbild. Bild und Theologie bei Meister Eckhart [Dokimion 24], Freiburg/Schweiz 2000, 196– 199). So ist eine gnadenhafte Entsprechung zu Gott auch im Bereich des Erkennens in Pr. 1, DW 1, 16,8f, ausgedrückt, und genau vor diesem gnadentheologischen, nämlich das Freiwerden der Seele ermöglichenden Hintergrund ist dann auch die steile Aussage derselben Predigt zu verstehen: „disem tempel ist ouch nieman glîch dan der ungeschaffene got aleine“ (ebd. 13,1f); vgl. hierzu BECCARISI, ALESSANDRA, Predigt 1: ‚Intravit Iesus in templum’, in: Georg Steer / Loris Sturlese (Hg.), Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Bd. 2, Stuttgart 2003, 1–27, hier 21f. Diesen Zusammenhang von Gnade und (menschlicher) Vernunft formuliert sehr deutlich Pr. 70, DW 3, 196,2–5: „Daz lieht der sunnen ist kleine wider dem liehte der vernünfticheit, und

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macht Eckhart nun anhand der Unterscheidung von intelligere und esse deutlich. Unter Heranziehung von Metaphysik 3 (996 a 29) und 6 (1027 b 25) argumentiert er an den Grenzen des sprachlich Möglichen, dass das, was in der Seele ist, kein Seiendes sei16. Was in der Seele ist, ist also ontologisch von ganz anderer Qualität (conditio)17 als das extramentale Sein18. Dies hat auch für die Kosmologie ein hohes Maß an Plausibilität, weil, so Eckhart, nichts seinem Wesen nach in der Ursache und im Verursachten ist19. Wahre Ursächlichkeit setzt also gerade die Differenz zwischen Ursache und Folge voraus. Wenn nun aber die Welt des extramental Seienden kategorial durch esse geprägt ist, dann muss umgekehrt für Gott gelten, dass er weder ens noch esse ist. Es ergibt sich also als Gedankengang, dass einerseits intelligere und esse kategorial unterschieden sind, andererseits Gott und die Welt des esse und der entia kategorial unterschieden sein müssen. Dies gibt der herangezogenen Autorität Joh 1,1, „Im Anfang war das Wort“ auch eine denkerische Plausibilität: Das Erkennen ist als erste Seinsstufe dem Schöpfer, also Gott zuzuordnen20. Genau genommen ist es nach diesem Bibelvers natürlich Jesus Christus als dem Schöpfungsmittler zuzuordnen, und genau das gibt den Überlegungen auch einen so freilich von Eckhart nicht explizierten Sinn: Insofern im intelligere eine Bezogenheit auf ein anderes mitgesetzt ist, ist die zentrale Bezugsform Gottes auf die Schöpfung, eben Jesus Christus, auch der theologisch angemessenste Ort, dieses intelligere zu konstituieren, wobei stets mit zu bedenken ist, dass der Schöpfungsmittlerschaft noch die, ebenfalls in der Quaestio Parisiensis nicht explizit thematisierte innertrinitarische Selbstunterscheidung logisch vorgängig ist, so dass Gottes intelligere denkerisch nicht auf die Existenz einer geschöpflichen Seinswelt angewiesen ist. Nach diesen Überlegungen, die theologische Plausibilitätshorizonte ergänzen und in diesem Ergänzungscharakter notwendig spekulativ sein müssen, kehre ich zum Argumentationsgang der ersten Pariser Quaestio zurück: Denn nun gilt es noch, die Zuordnung von intelligere und Schöpfung deutlicher zu

diu vernünfticheit ist kleine wider dem liehte der gnâde. Gnâde ist ein lieht überswebende und übergânde über allez, daz got ie geschuof oder geschepfen möhte. Da z lieht der gnâde, swie groz ez ist, ez ist doch kleine wider dem götlîchen liehte.“ 16 Quaest. Paris. I n. 7, LW V, 43,10f: „Unde ibi dicitur quod verum, quod est in anima, non est ens.“ 17 Quaest. Paris. I n. 5, LW V, 42,1f: „intelligere est altius quam esse et est alterius condicionis.“ 18 Vgl. Pr. 9, DW 1, 145,36–146,1: „er ist als hôch über wesene, als der oberste engel ist über einer mücken.“ 19 Quaest. Paris. I n. 8, LW V, 45,1f: „nihil est formaliter in causa et causato“. 20 Quaest. Paris. I n. 6, LW V, 43,3–5: „‚In principio’ enim ‚erat verbum’, quod ad intellectum omnino pertinet, ut sic ipsum intelligere teneat primum gradum in perfectionibus, deinde ens vel esse.“

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konturieren: Gott, der durch das intelligere geprägt ist, hat die entia lediglich als Ursache in sich21. Auf diese Weise, virtuell, ist alles in Gott enthalten, aber eben nur auf diese Weise22. Die gesamte Schöpfung also ist zunächst im erkennenden Gott potenziell oder virtuell enthalten und tritt dann durch einen nicht näher beschriebenen, aber christologisch vermittelten Schöpfungsakt in ein Sein, für das kennzeichnend ist, dass es einen ontologisch niederen Status hat als das intelligere23. Hier aber muss man präzisieren: Der Status ist niedriger als das intelligere Gottes24, denn Eckhart notiert ausdrücklich, dass unser Wissen (scientia) sich von Gottes Wissen unterscheide, „weil das Wissen Gottes Ursache der dinge ist, während unser Wissen von den Dingen verursacht ist. Während deshalb unser Wissen unter das Seiende fällt, von dem es verursacht wird, fällt das Seiende selbst aus dem gleichen Grunde unter das Wissen Gottes“25.

Eckhart spricht also – in Entsprechung zu ähnlichen Äußerungen bei Averroes26 – im wahrsten Sinne des Wortes von einem Gefälle 27: Die erste Ursache 21

Quaest. Paris. I n. 9, LW V, 45,7–12: „Dicitur enim III Metaphysicae quod in mathematicis non est finis nec bonum, et ideo per consequens nec ens, quia ens et bonum idem. Dicitur etiam VI Metaphysicae: bonum et malum sunt in rebus, et verum et falsum in anima. Unde ibi dicitur quod verum, quod est in anima, non est ens sicut nec ens per accidens, quod non est ens, quia non habet causum, ut ibi dicitur.“ 22 Quaest. Paris. I n. 10, LW V, 46,5f „et in ipso intelligere omnia continentur in virtute sicut in causa suprema“. 23 Quaest. Paris. I n. 12, LW V, 47,14f: „Sic etiam dico quod deo non convenit esse nec est ens, sed est aliquid altius ente.“ 24 Auch die eben angeführte Stelle Quaest. Paris. I n. 12, LW V, 47,14f, bezieht sich ausdrücklich auf Gott und redet nicht allgemein vom Erkennen! 25 Quaest. Paris. I n. 8, LW V, 44,11–13. Zu dem damit ausgesprochenen Dilemma des menschlichen Intellekts, als Intellekt mit der Aufgabe versehen zu sein, von den Sinneswahrnehmungen zu abstrahieren, gleichzeitig aber auf diese Sinneswahrnehmungen als menschlicher Intellekt angewiesen zu sein vgl. MANSTETTEN, REINER, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, München 1993, 314, der in seiner Deutung freilich, wie schon der Titel des Buches deutlich macht, stärker auf dem Opus tripartitum aufbaut als auf den frühen Quästionen. 26 S. hierzu WÉBER, L’argumentation (wie Anm. 11), 106. 27 Zu dieser Unterschiedenheit des geschöpflichen Intellekts gegenüber dem göttlichen vgl. auch GROTZ, Sein oder nichtsein (wie Anm. 10), 393; KRIEGER, GERHARD, Mystik und Scholastik. Zur Diskussion um Meister Eckhart im Blick auf seine „Quaestiones parisienses“, in: TThZ 107 (1998), 123–148, hier 134. 143. Auch MOJSISCH, Meister Eckhart (wie Anm. 8), 35, erkennt an, dass diese Rede von der menschlichen Vernunft „pejoratives Kolorit“ aufweise, verweist aber darauf, dass eben dasselbe „später“ zur „Auszeichnung der Vernunft“ werde – diese ex-post-Perspektive aber relativiert die reduktive Deutung der menschlichen Vernunft zum Zeitpunkt der Pariser Quästionen keineswegs, wenn man die Denkbewegung Eckharts nicht teleologisch, sondern tatsächlich genetisch interpretieren will.

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ist das Wissen Gottes, das im eigentlichen Sinne Verstehen ist, darauf folgt die Welt des Seins und der Seienden, also die Schöpfung, und erst in dritter Position rückt das Wissen des Menschen ein. Betrachtet man diese klare Hierarchisierung, die vom intelligere über das Sein zur scientia hominis voranschreitet, so scheint es mir deutlich, dass es zumindest zu kurz griffe, wollte man die erste Pariser Quaestio ausschließlich im Sinne einer allgemeinen Intellekttheorie verstehen. Das ist sie nur insoweit, als reines intelligere allein in Gott vorfindlich ist: Gott ist totum intelligere, im expliziten Unterschied zu der Auffassung, die ihn als ipsum esse ansieht28. Das menschliche Verstehen hingegen ist nicht, wie das göttliche über, sondern unter dem Sein. Die eigentliche Pointe der Quaestio ist also die theologische Zuordnung von Gott und Welt, nicht aber eine allgemeine Qualifizierung des Verstehens.

2. Der Diskussionskontext: die Quaestio des Gonsalvus Die vorgestellten Überlegungen haben für diejenigen, die die Diskussion kennen, schon implizit sehr deutlich Stellung zu einer bestimmten, vor allem im deutschsprachigen Raum verbreiteten Deutung der ersten Pariser Quaestio genommen, wie sie insbesondere durch Kurt Flasch und seine Schule in eindrücklicher Weise vorgenommen worden ist. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch29 und jüngst in einer profunden Studie sehr dezidiert Andrés QueroSanchez30, haben Eckharts Pariser Quaestionen in die intellekttheoretische Debattenlage der Zeit um 1300 eingeordnet: Die neue Aufmerksamkeit auf das Werk Dietrichs von Freiberg und die damit verbundenen editorischen Projekte haben es ermöglicht, die Betonung des intelligere, die Eckhart in

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Quaest. Paris. I n. 8, LW V, 44,13f. Siehe insbesondere MOJSISCH, Meister Eckhart (wie Anm. 8), 138f; FLASCH, Denken (wie Anm. 6), 468. Dass HALFWASSEN, JENS, Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg, in: ThPh 72 (1997), 337–359, in kritischer Auseinandersetzung mit Flasch die genetische Frage nach dem Ursprung neuzeitlicher Metaphysik im Mittelalter für weniger bedeutend erachtet (359), ändert den implizit neuzeitlichen Maßstab seiner Betrachtung der mittelalterlichen Philosophiegeschichte, wenn von einer Entdeckung der Selbstbezüglichkeit des Denkens „bereits im Mittelalter“ (338) die Rede ist, nicht. 30 QUERO-SANCHEZ, ANDRÉS, Sein als Freiheit. Die idealistische Metaphysik Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichtes, Freiburg / München 2004, 38–52; vgl. auch die programmatischen Überlegungen ebd. 263–270, auf denen Quero-Sánchez auch luzide die Konstruktion solcher Gemeinsamkeit aufgrund der Folie eines „deutschen“ Geistes vor dem Zweiten Weltkrieg thematisiert und die Unterschiede seines Ansatzes hierzu aufweist (268–270). 29

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dieser Quaestio vornimmt, erkenntnistheoretisch zu würdigen und auch in die Entwicklung hin zur Moderne einzuordnen. Diesen Einordnungen soll im Folgenden durchaus nicht einfach widersprochen werden31, wohl aber soll in der angedeuteten Weise die damit vorgenommene Akzentuierung etwas relativiert werden32. Ich knüpfe dabei einerseits an Kurt Flasch an, versuche andererseits aber auch über seine Deutungen hinaus zu kommen. Die Anknüpfung mache ich im Titel meines Vortrages deutlich: Dass es sich bei der Ersten Pariser Quaestio um eine „Dynamisierung des Gottesbegriffs“ handelt, ist so bei Kurt Flasch zu lesen33, und darin will ich ihm gerne folgen. Gerade angesichts dieser interpretativen Bemerkung scheint es mir aber wenig verständlich, wenn Flasch notiert: „Man beschreibt diesen für die Grundlegung der Neuzeit entscheidenden Vorgang nur ungenau, nämlich im Rahmen theologischer Befangenheit, wenn man ihn als das Ringen um einen nicht länger verdinglichten Begriff von Gott interpretiert.“34

Muss es wirklich Befangenheit sein, wenn man –in Kenntnis und Respektierung der eindrücklichen philosophischen Deutungen – die Äußerungen eines theologischen Magister actu regens aus dem Jahr 1302/3 primär in ihrer theologischen Ausrichtung deutet? Eben dies habe ich eben schon anhand einer textnahen Lektüre versucht und will es noch weiter profilieren, indem ich die Einordnung in die philosophische Debattenlage um eine Einordnung in die theologische Debattenlage ergänze35. Darin folge ich vor allem Anregungen, 31 Zu Recht mahnt allerdings IMBACH, Deus est intelligere (wie Anm. 3), 149, zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Zuordnungen des Denkens Eckharts zum Idealismus. 32 Zu Recht hat LARGIER, NIKOLAUS, Die „deutsche Dominikanerschule“. Zur Problematik eines historiographischen Konzepts, in: Jan A. Aertsen / Andreas Speer (Hg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert, Berlin / New York 2000 (MM 27), 202–213, hier 212, deutlich gemacht, dass ein Wiedergewinnen der theologischen Perspektive zur Interpretation Eckharts nicht ihrerseits der bei manchen Philosophiehistorikern begegnenden falschen Opposition von Philosophie und Theologie zum Opfer fallen darf, die erst ein Produkt der Neuzeit ist: Die Theologie Meister Eckharts ist selbstverständlich eine philosophisch belehrte Philosophie. Zu Recht spricht SPEER, ANDREAS, Sapientia nostra. Zum Verhältnis von philosophischer und theologischer Weisheit in den Pariser Debatten am Ende des 13. Jahrhunderts, in: Jan A. Aertsen / Kent Emery Jr. / Andreas Speer (Hg.), Nach der Verurteilung 1277. Philosophie und Theologie an der Universität Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte – After the Condemnation of 1277. Philosophy and Theology at the University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century. Studies and Texts, Berlin / New York 2001 (MM 28), 248–275, hier 267f, hier von einem „Integrationsmodell“. 33 FLASCH, Denken (wie Anm. 6), 468. 34 FLASCH, Denken (wie Anm. 6), 468. 35 Mit anderer Akzentuierung hat dies auch WÉBER, L’argumentation (wie Anm. 11), 97–100, vor allem unter Verweis auf Heinrich von Gent und Duns Scotus getan; vgl. ähnlich auch ZUM BRUNN, EMILIE, Les premières „Questions Parisiennes“ Maître Eckhart, in: Kurt Flasch (Hg.), Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, Hamburg 1984 (CPTMA.B

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wie sie insbesondere die französischsprachige Eckhartforschung seit einiger Zeit wiederholt gegeben hat, indem sie auf die große Bedeutung des Duns Scotus für ein Verständnis der Pariser Quästionen hingewiesen hat: Edouard Wéber hat in einer grundlegenden Studie vor allem für die ersten beiden Quaestionen36 deutlich gemacht, dass diese nicht allein in die philosophische Debatte über das Sein und den Intellekt hineinsprechen, sondern auch in die theologische über die via beatifica37. In der Tat weisen die Quellen selbst noch auf einen ganz anderen Kontext als den der Dietrichschen Intellekttheorie hin. Und es ist, wie im selben Zusammenhang mit Wébers grundlegender Untersuchung Alain de Libera gezeigt hat38, vor allem die dritte Pariser Quaestio, die dies deutlich macht. Bei ihr handelt es sich eigentlich um eine Quaestio des Franziskaners Gonsalvus39. Ihre Bedeutung für die Eckhartforschung hat diese Quaestio unter dem Titel „Utrum laus Dei in patria sit nobilior eius dilectione in via“ dadurch, dass Gonsalvus sich ausführlich mit „rationes Equardi“ auseinandersetzt40.

2), 128–137, hier 134, sowie QUERO-SÁNCHEZ, Sein als Freiheit (wie Anm. 30), 46f; LANGER, OTTO, Meister Eckhart. Die Einheit von Theologie, Philosophie und Spiritualität, in: Ulrich Köpf (Hg.), Theologen des Mittelalters. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 149– 167, hier 153. 36 Die französische Zählung weist bei diesen beiden Quästionen gegenüber der im deutschen Sprachraum üblichen eine umgekehrte Zählung auf: Hiernach ist die erste Pariser Quaestio die Frage „Utrum intelligere angeli, ut dicit actionem, sit suum esse“, die zweite: „Utrum in Deo sit idem esse et intelligere“ (s. KALUZA, ZENON, Les questions parisiennes: caractère et datation, in: Maître Eckhart á Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie. Les Questions parisiennes no 1 et no 2 d’Eckhart. Études, textes et traductions, Paris 1984 [BEHE.SR 86], 157–166, hier 157). 37 WÉBER, EDOUARD-HENRI, Eckhart et l’ontothéologisme. Histoire et conditions d’une rupture, in: Maître Eckhart á Paris (wie Anm. 36), 13–83, besonders 55–83; B ÉRUBÉ, CAMILLE, Le dialogue de Duns Scot et d’Eckhart à Paris en 1302, in: CFr 55 (1985) 206– 227, hat den Beitrag von Wéber einer scharfsinnigen Kritik unterzogen, die sich vorwiegend aus das darin präsentierte Bild des Duns Scotus und die damit verbundene starke Abgrenzung des Doctor Subtilis von Thomas von Aquin bezieht – diese Kritik kann aber den grundsätzlichen methodischen Ansatz, nach konkreten Kontext der Genese eines Denkens zu fragen, nicht in Frage stellen. 38 DE LIBERA, A LAIN, Les „raisons d’Eckhart“, in: Maître Eckhart á Paris (wie Anm. 36), 109–140,vor allem 110–114; De Libera geht sogar so weit, zu erklären: „Il n’ya donc aucune raison de voir dans la ratio 3 a un écho de la doctrine de l’essence de Dietrich de Freiberg“ (ebd. 131), und bezieht den argumentativen Zusammenhang bei Eckhart viel stärker auf Thomas von Aquin. 39 Siehe zu ihm WÉBER, Eckhart et l’ontothéologie (wie Anm. 37), 69f; DE LIBERA, „raisons d’Eckhart“ (wie Anm. 38), 109 Anm. 1. 40 Hinsichtlich des Textes folge ich, trotz der kritischen Bemerkungen von LIBERA, „raisons d’Eckhart“ (wie Anm. 38), 114–121, der Ausgabe Geyers in den Lateinischen Werken.

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Das ausführliche Referat dieser Gegenposition setzt uns in die Lage, Eckharts Überlegungen einigermaßen sachgemäß zu rekonstruieren41. Gonsalvus selbst will, wie der Titel seiner Quaestio besagt, das himmlische Gotteslob mit der irdischen Gottesliebe vergleichen und kommt zu dem Ergebnis, dass die irdische Liebe edler sei als das Lob Gottes im Himmel. Da aber der Liebesakt im Unterschied zur Schau Gottes, mit der er mehr und mehr statt des Lobes argumentiert, ein Willensakt ist, sieht er sich veranlasst, sich mit der Position Eckharts auseinander zu setzen, nach der „der Verstand, sein Akt und sein Habitus ... etwas Edleres [sind] als der Wille, sein Akt und sein Habitus“42. Ausführlich referiert er Eckhart – und ich will diese Ausführlichkeit hier nicht einfach reproduzieren. Wichtig ist für den vorliegenden Zusammenhang neben dem Rekurs auf die Gleichsetzung Gottes mit dem Erkennen statt dem Sein, die die enge Verzahnung mit der ersten Quaestio zeigt43, vor allem eine bestimmte Argumentationslinie, die auf die weitere Diskussionslage hinweist: Ein zentrales Eckhartsches Argument – so wie es Gonsalvus referiert – ist der Freiheitsbegriff: „Jenes Vermögen ist edler, in dem vorzüglich die Freiheit liegt. Diese liegt aber vorzüglich im Verstand; denn etwas ist frei, weil es der Materie ledig ist, wie bei den Sinnen klar ist. Nun ist aber der Verstand und das Erkennen am meisten der Materie ledig; denn ein Ding besitzt um so weniger die Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuwenden, je materieller es ist. Die Fähigkeit des Zurückwendens liegt aber nicht im Sein, sondern im Erkennen, wie denn das mit sich Identische sich im Erkennen auf sich selbst zurückwendet“44.

Das Argument macht deutlich, dass Eckhart hier gegenüber der Wahlfreiheit einen anderen Freiheitsbegriff ins Spiel bringt. Denn die Wahlfreiheit ist nicht zufällig traditionell dem Willen zugeordnet, der frei ist, sich zwischen Alternativen zu entscheiden. Der von Eckhart ins Spiel gebrachte Freiheitsbegriff ist ein ontologischer, der an Gedankengänge der stoischen oder neuplatonischen Tradition anknüpft: Freiheit ist primär Nicht-Gebundenheit, nämlich Nicht-Gebundenheit an die stoffliche Existenzform. Die Parallele zu dem zur ersten Quaestio Ausgeführten drängt sich förmlich auf: Dort waren ja un41

VON PERGER, MISCHA, Disputatio in Eckharts frühen Parser Quästionen und als Predigtmotiv, in: Klaus Jacobi (Hg.); Meister Eckhart: Lebensstationen – Redestationen, Berlin 1997 (QFGDO.NF 7), 115–148, hier 118–128, hat die Argumentationen von Eckhart und Gonsalvus einander gegenübergestellt und das Wechselspiel der Argumente eingehend untersucht, so dass ich mich im folgenden auf die für meinen Gedankengang wesentlichen Punkte beschränken kann. 42 Quaest. Paris. III n. 6, LW V, S. 59, 13f. 43 Vgl. hierzu Libera, „raisons d’Eckhart“ 121. 44 Quaest. Paris. III n. 13, LW V, 61,4–9: „Illa potentia est nobilior in qua principaliter est libertas. Sed est principaliter in intellectu, quia aliquid est liberum, quia immune a materia, ut patet in sensibus. Sed intellectus et intelligere maxime est immune a materia, quia tanto aliquid est minus reflexivum quanto materialius. Reflexio autem non est in essendo, sed in intelligendo, ut „idem eidem idem“ secundum intelligere ad se reflectitur.“

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terschiedliche Existenzweisen – intelligere einerseits, esse andererseits – einander gegenüber gestellt und als kategorial unterschieden vorgestellt worden. Eben diese Grunddifferenz erscheint nun auch hier wieder, insofern das stoffliche Sein offenbar mit dem gleichgesetzt wird, was in der ersten Quaestio Sein und Seiendes darstellten. Dies macht insbesondere die Abschlussargumentation über Reflexivität deutlich, in der es wörtlich heißt: „Reflexio autem non est in essendo, sed in intelligendo“. Verstehen als Reflexion also begründet Freiheit im Sinne der Nichtgebundenheit. Damit sind, ganz entsprechend den jüngst von Alessandra Beccarisi ausführlich untersuchten Ausführungen Eckharts in Pr. 1 Vernunft und Freiheit unmittelbar aufeinander bezogene und miteinander zusammenhängende Charakteristika der menschlichen Existenz45. Und dieses Freiheitsargument scheint für Eckhart wie auch für seinen Gegner Gonsalvus große Bedeutung gehabt zu haben, denn es folgt eine Reihe weiterer Argumente, unter denen das Interessanteste wohl dasjenige ist, in dem Eckhart versucht, in sein Denkmodell die Wahlfreiheit hineinzulesen, wenn er erklärt: „Etwas ist frei, weil es sich für Verschiedenes entscheiden kann. Der Wille kann das aber nur aufgrund der Vernunft und durch die Vernunft“46.

Dieses Argument konnte Gonsalvus recht leicht als fallacia consequentis entlarven, insofern er es zwar als richtig zugestand, dass die Entscheidung des Willens eine Wahrnehmung derjenigen Dinge, zwischen denen er sich zu entscheiden hat, voraussetzt, aber darum nicht dir Freiheit im Wahrnehmungsvermögen verortet sehen wollte47. Gerade wenn man hier eine Schwäche in Eckharts Argumentation annehmen will, so wird doch deutlich, welchen Wert er auf die Verbindung von Intellekt und Freiheit legte, und wie stark er diese gegen eine Verbindung mit dem Willensbegriff ins Spiel brachte – und genau damit ist dann die Diskussionslage angesprochen, in die seine Argumentation zumindest auch hineingehört.

45 Siehe hierzu BECCARISI, ALESSANDRA, Libertà e intelletto. Una lettura di Eckhart, Predica 1 (Quint), in: GFI 23 (2003), 383–401. 46 Quaest. Paris. III n. 15, LW V, 62,3f: „aliquid est liberum, quia potest in diversa. Sed voluntas non potest in diversa nisi ex ratione et per rationem.“ 47 Quaest. Paris. III n. 29, LW V, 68,5–7: „cum dicunt quod voluntas non potest ferri in diversa ‚nisi‘ sicut apprehensa, hoc est ‚verum‘. Sed ex hoc non sequitur quod solum in apprehendente diversa sit libertas, immo est ibi fallacia consequentis.“

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Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts

3. Eckhart und die Dynamisierung des Gottesbildes im frühen vierzehnten Jahrhundert Über Gonsalvus ist bislang leider nur sehr wenig geforscht. In den wenigen Notizen zu seiner Person findet sich immer wieder der Verweis darauf, dass er Lehrer des Duns Scotus gewesen sei, wobei mindestens ebenso wichtig ist, dass beide zeitgleich in Paris gewirkt haben, also wohl mehr Kollegen als Lehrer waren. Sie repräsentieren gemeinsam das, was Vignaux als „milieu franciscain“ beschrieben hat48 – gerade auch in Abgrenzung von veralteten Lehrer-Schüler-Kategorien. Und für dieses Milieu war nun bekanntlich der Gedanke einer starken Betonung des Willens sowohl in der Anthropologie als auch in der Gotteslehre prägend. Man spricht ja sogar von einem Voluntarismus des Duns Scotus wie auch des Gonsalvus49, was sicher falsche Assoziationen wecken kann, aber insofern berechtigt ist, als die voluntas hier zu einer entscheidenden Kategorie wurde, um das Mensch-Gott-Verhältnis zu klären, und auch und vor allem das Verhältnis Gottes zur Schöpfung. Die Betonung des Willens hat bei Duns Scotus und seinem Milieu auch die Funktion, gegenüber dem konsequenten Aristotelismus Gottes Freiheit wiederzugewinnen50. Der konsequente Aristotelismus, wie er uns in der Lehrverurteilung von 1277 begegnete, hatte ja Aristoteles in der Weise interpretiert, dass ein unmittelbares Handeln Gottes in der Welt nicht mehr möglich schien. Entscheidend wurde zum Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch die ununterbrochene Kausalkette vom Schöpfer bis zum letzten Geschöpf, die jeden einzelnen Vorgang innerhalb dieser Kausalkette letztlich aus den Zweitursachen erklärte und damit ein Überspringen dieser Kausalketten durch Gott ausschloss. Dass hiergegen ein Protest nicht philosophischer, sondern theologischer Art geäußert wurde, war naheliegend, und bei aller Problematik der Arbeit der von Bischof Tempier beauftragten theologischen Expertenkommission 51 wird man sagen können, dass der theologische Grundgedanke, dass ein solches Modell nicht mit dem biblischen Gottesbild vereinbar sein konnte, unmittelbar einleuchtet. Die Wunder waren so vielleicht nicht bestritten, aber 48

SCHULTHESS, PETER / IMBACH, RUEDI, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Düsseldorf 22000, 235. 49 S. WÉBER, Eckhart et l’ontothéologisme (wie Anm. 37), 69, der sogar scharf von einem „volontarisme simplet“ bei Gonsalvus spricht. 50 KOCH, JOSEF, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts, in: ders., Kleine Schriften. Bd. 1, Rom 1973 (SteL 127), 247–347, 252–254, meint nachweisen zu können, dass Eckhart die entsprechenden Ereignisse in Paris 1277 als Student der artes erlebt habe, aber die angeführten Belege reichen wohl nicht aus, diese Vermutung sicher zu machen. 51 Vgl. die verdienstvolle Edition: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs v. Paris eingeleitet, übersetzt und erklärt von Kurt Flasch (ExCl 6), Mainz 1989.

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ihres Wundercharakters ebenso entkleidet, wie das Geschehen der Eucharistie: beides Vorgänge, die ein Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen geradezu zwingend voraussetzten. Bekanntlich hat Duns Scotus hier vehement mit der Unterscheidung der potentiae argumentiert, die solches direktes Eingreifen erklärbar machte. Das muss im vorliegenden Kontext nicht weiter interessieren: Wichtig ist die Beobachtung, dass nach der Lehrverurteilung von 1277 theologische Neuansätze über die Kategorie des Willens eine Wiedergewinnung der biblischen Souveränität und Freiheit Gottes angestrebt und so das durch die aristotelische Interpretation Gottes, wie sie sich besonders bei Thomas fand, mit ontologischen Kategorien aufgefüllte Gottesbild ganz erheblich dynamisiert haben. Und damit ist dann wohl genau die Debattenlage erreicht, mit der wir es bei Eckhart zu tun haben. Es sei daran erinnert: die ersten drei Pariser Quaestiones stammen nach allem, was wir wissen aus Eckharts erstem Pariser Magistrat, also aus der Zeit 1302/352. Zu dieser Zeit wirkten in Paris auch Gonsalvus und Duns Scotus. Und man diskutierte offenbar – wenngleich möglicherweise nur indirekt über den Vorlesungsbetrieb – miteinander über die Zuordnung von Willen und Intellekt. Die Quaestio des Gonsalvus ermöglicht uns in wünschenswerter Deutlichkeit einen Einblick in die intellektuelle Debattenlage des Paris der ersten Jahre des vierzehnten Jahrhunderts. Und die ungeheure Verdichtung dieser Debatten in einem engen, nachweislich aufeinander bezogenen universitären Milieu legt es nahe, primär diese aktuelle Diskussionssituation, in der Eckhart sich vorfand, zur Interpretation seiner Texte heranzuziehen und erst sekundär auf weitere Kontexte einzugehen, die – wie die Intellekttheorie Dietrichs – unverkennbar im Hintergrund stehen, aber nicht die aktuelle Pointe der Argumentation zu erklären vermögen. Diese Fragerichtung wird dadurch unterstützt, dass Eckhart selbst in Pr. 9 „Quasi stella in matutina“ genau auf diesen Konflikt zwischen Intellekt und Willen anspielt: „Ich sprach in der schuole, daz vernünfticheit edeler waere dan wille, und gehoerent doch beidiu in diz lieht. Dô sprach ein meister in einer andern schuole, wille waere edeler dan vernünfticheit, wan wille nimet diu dinc, als si in in selben sint, und vernünfticheit nimet die dinc, als sie in ir sint. Daz ist wâr. Ein ouge ist edeler in im selber dan ein ouge, daz an eine want gemâlet ist. Ich spriche aber, daz vernünfticheit edeler ist dan wille.“53 52 Zu diesem Magistrat und den Pariser Quästionen s. RUH, KURT, Meister Eckhart. Theologe – Prediger – Mystiker, München 1985, 21–25; ders., Geschichte der abendländischen Mystik 3 (wie Anm. 3), 268. 53 DW 1, S. 152,9–153,3. Möglicherweise ist mit FLASCH, KURT, Predigt Nr. 52 ‚Beati pauperes spiritu’, in: Steer / Sturlese (Hg.), Lectura Eckhardi (wie Anm. 15) 163–199, und DEMS., Converti ut imago – Rückkehr als Bild. Eine Studie zur Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, in: FZPhTh 45 (1998) 130–150, 144f, auch die Anspielung auf die Auseinandersetzung um „minnen“ und „bekennen“ in Pr. 52, DW 2, 488,3f, auf diesen Konflikt zu beziehen.

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Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts

Eckhart rekurriert in den späteren Erinnerungen nicht auf allgemeine intellektphilosophische Diskurse, sondern genau auf die mit der franziskanischen Theologie und Philosophie ausgerichtete Debatte um den Status des Willens. Seine eigene Position innerhalb dieser Debattenlage war offenkundig die Bestreitung des Primats des Willens in der Gotteslehre, aber er tat dies mit einem Argument, das die von den Franziskanern intendierte Frontstellung unterlief: Er betonte zwar den Vorrang des Intellekts, aber er kehrte gerade nicht zu der Intellektlehre der konsequenten Aristoteliker zurück, die Gott zur Erstarrung gebracht und in ein nezessitaristisches Netz eingebunden hatten, sondern er gab dem Intellektbegriff eine neue Note, indem er ihn mit der Freiheit assoziierte, er nahm also unter Rückgriff auf intellekttheoretische Reflexionen an dem Zug zur Dynamisierung des Gottesbildes teil. Das jenseits des Streits Verbindende zeigt sich damit in dieser Situation gerade in der Betonung der Freiheit Gottes und damit in der gemeinsamen Konfrontationsstellung gegenüber den konsequenten Aristotelikern. Dass Eckhart hier ontologisch argumentiert, ist die eine Seite seines Argumentationsstranges, die andere ist der vorhin erwähnte Rekurs auf das biblische Modell christologischer Schöpfungsmittlerschaft. Es sind die biblischen Texte, denen er die Impulse entnimmt, um die im Verstehensbegriff liegende Dynamik zu artikulieren und Gott in völlige Freiheit von seiner Schöpfung zu setzen. Dass Eckhart hierfür mit dem Intellektbegriff argumentierte, macht die Argumentation nicht zu einer rein philosophischen. Sie bedient sich in ganz selbstverständlicher Weise auch der Philosophie, wie auch ein Duns Scotus oder ein Wilhelm von Ockham sich in dieser Zeit bei aller Kritik der Philosophie bedienten, um ihre theologischen Ideen zu artikulieren. Aber er artikulierte ein theologisches Interesse: die Wahrung der Freiheit und Souveränität Gottes.

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Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham Die Wirkungsgeschichte Wilhelms von Ockham ist, zumal im zwanzigsten Jahrhundert, vorwiegend eine philosophische gewesen1: Der Franziskaner, der sich nach vermutlich nur sehr kurzem artes-Studium an einer Ordenshochschule nach Oxford aufgemacht hatte, um dort Theologe zu werden, kommt als solcher kaum mehr in den Blick2. Seine theologische Wirkung scheint vielmehr zwischen der Ablehnung durch die seinerzeitige päpstliche Kirche einerseits und, dann auch durch die Reformatoren andererseits, geradezu zerrieben und bis heute auch in der Forschung nur wenig erschlossen3. Demgegenüber wurde er in der jüngsten Vergangenheit von philosophischer Seite neu als inspirierender Anreger entdeckt4: als eben jener Venerabilis

1

Zur modernen Ockham-Literatur s. die umfassende Bibliographie von BECKMANN, JAN P. (Hg.), Ockham-Bibliographie 1900–1990, Hamburg 1992. 2 Zum biographischen Zusammenhang s. MIETHKE, JÜRGEN, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 1–136, sowie LEPPIN, VOLKER., Wilhelm von Ockham. Ein mittelalterlicher Intellektueller zwischen Universität, Kurie und Kaiserhof, Darmstadt 2003. 3 Im Gefolge der Versuche einer Rehabilitierung aus franziskanischer Warte sind allerdings einige Studien zu im engeren Sinne theologischen Fragen gefolgt: JUNGHANS, HELMAR, Ockham im Lichte der neueren Forschung, Berlin / Hamburg 1968 (AGTL 21); BANNACH, KLAUS, Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutung, Wiesbaden 1975 (VIEG 75); SCHLAGETER, JOHANNES, Glaube und Kirche nach Wilhelm von Ockham. Eine fundamentaltheologische Analyse seiner kirchenpolitischen Schriften, Münster 1975 (= Diss. München 1970); LEPPIN, VOLKER, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (FKDG 63); BIARD, JOËL, Guillaume d'Ockham et la théologie, Paris 1999; MÜLLER, SIGRID, Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen / Basel 2000 (TSTP 18). 4 Geradezu symptomatisch hierfür ist der beispiellose Erfolg von Umberto Ecos „Name der Rose“, hinter dessen Titelgestalt Wilhelm von Baskerville nach den Aussagen des Autors selbst Wilhelm von Ockham steht; vgl. zur mediävistischen Einschätzung dieses Romans KERNER, MAX (Hg.), „...eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman „Der Name der Rose“, Darmstadt 1987; zu Ockham darin besonders den Beitrag von Jürgen Miethke.

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Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham

Inceptor, als der er schon dem späten Mittelalter galt5. Will man sich Ockham nun von theologischer Seite nähern, wird es kaum sinnvoll sein, diese philosophische Seite einfach auszublenden. Es wird vielmehr darum gehen, sie in solcher Verknüpfung mit seinen theologischen Anliegen zu begreifen, dass auch philosophische Aussagen in ihrem Zusammenhang mit theologischen Intentionen lesbar werden. Zu diesem Zweck will ich zunächst darstellen, wieso sich dem Theologen Ockham überhaupt logische Probleme stellten. Dann werde ich auf das wissenschaftstheoretische Verhältnis von Logik und Theologie bei Ockham eingehen und schließlich auf zwei Anwendungskontexte: Gottes Handeln einerseits, das die Bedeutung der Logik für Ockham insofern zeigt, als es strikt an die Logik gebunden ist, und Gottes Sein andererseits, das die Logik an ihre Grenzen stoßen lässt. Da es sich dabei nicht allein um theologische, sondern in besonderer Schwerpunktsetzung um kirchenhistorische Ausführungen handelt, wird bei diesen Ausführungen freilich ein Logik-Begriff zugrunde gelegt, der auf seine Entsprechung zu modernen Logik-Theorien nicht geprüft wurde. Leitlinie für sein Verständnis ist im Folgenden schlicht Ockhams eigene „Summe der Logik“, in der diese Wissenschaft als die Lehre von den Begriffen, den Sätzen und den Schlüssen erscheint, also als eine Art sprachphilosophischer Gesamtentwurf.

1. Von der Gotteslehre zur Logik: zum Stellenwert der Philosophie für den Theologen Ockham Wie eng verschränkt Philosophie und Theologie bei Ockham sind, zeigt die bloße Tatsache, dass das Universalienproblem im Kontext seines Œuvres chronologisch erstmals in der vierten bis neunten quaestio zur zweiten distinctio des Ersten Buches des Sentenzenkommentars erscheint, also in seinem theologischen Hauptwerk. Ausgangspunkt dieser breit angelegten Überlegungen zu einem grundlegenden sprachphilosophischen Thema ist denn auch die theologische Frage: „Gibt es irgend etwas, was Gott und Geschöpf gemeinsam ist und univok und unter Bezug auf das Wesen von beiden ausgesagt werden kann?“6 Es ist also das Problem von Univokation und Äquivokation, das Ockham noch einmal, wieder einmal aufrollt. Um sich dieser Frage zu nähern, musste Ockham den Umweg über die Universalienlehre gehen: Um überhaupt zu wissen, ob wir unsere Begriffe univok oder äquivok verwenden, müssen wir zunächst wissen, in welchem 5 Zu den sehr konkreten Hintergründen dieses Titels im nicht abgeschlossenen Promotionsverfahren Ockhams s. MIETHKE, Sozialphilosophie (wie Anm. 2), 29–34. 6 „an Deo et creaturae sit aliquid commune univocum praedicabile essentialiter de utroque“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 4 [= OT 2, 99,10f]).

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Verhältnis unsere Begriffe überhaupt zur Realität stehen. Es ist dieses Thema, das nun in überraschender Gründlichkeit die folgenden Seiten des Sentenzenkommentars füllt: Die Frage nach Univozität und Äquivokation wird in der auf sie ausgerichteten Frage gar nicht wirklich beantwortet, sondern Ockham mäandert die folgenden Fragekomplexe durch das Universalienproblem hindurch, ehe er in der neunten Frage neu ansetzt: „Ich frage, ob irgend etwas Allgemeines für Gott und Geschöpf univok sei“7. Schon dieser lange Umweg zeigt, wie sich das Problem gewissermaßen unter der Hand verselbständigte. Das für die Universalienlehre entscheidende Ergebnis findet sich dabei schon in der quaestio septima: Das universale, der Allgemeinbegriff ist keine Realität außerhalb der Seele8, positiv formuliert: Das Allgemeine existiert allein im menschlichen Verstand: zwar nicht, wie die Bezeichnung „Nominalismus“ für Ockhams Denken suggeriert, im bloßen Namen, aber eben doch nur im Begriff9. Die Bedeutung dieser Quaestionen des Ockhamschen Sentenzenkommentars aber geht über eine solche lehrhaft fassbare Definition weit hinaus. Die weitgehend systematisch ausgerichtete philosophische und theologische Forschung beachtet meines Erachtens zu wenig, dass hier nicht nur gewichtige Erkenntnisse inhaltlicher Art zu gewinnen sind, sondern dass es sich hier im Verlauf der intellektuellen Biographie Ockhams um eine Art Umbruch- oder Durchbruchstelle handelt. Hier geschieht in der akademischen Vita des etwa dreißigjährigen Franziskaners etwas höchst Bedeutsames: Es scheint, dass er zum ersten Mal von seinem eigenen Tun und Denken den Eindruck gewinnt, es sei etwas wirklich Neues. Äußeres Indiz hierfür ist, dass die Gliederung des Sentenzenkommentars an dieser Stelle geradezu aus den Fugen bricht – die eigentliche Frage nach Äquivokation und Univokation wird fast verdrängt durch die gewichtigere Frage nach dem Status der Universalien, verschwindet thematisch geradezu aus diesem Vorlesungszusammenhang. Den Grund für die überraschende Breite der Behandlung der Universalienfrage aber gibt Ockham selbst an, wenn er erklärt, hier an eine Stelle gelangt zu sein, an der er von der opinio communis abweicht. Die Diskussionslage zur Universalienlehre nämlich stellt sich nach Ockham so dar:

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„... quaero utrum aliquod universale sit univocum Deo et creaturae“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 9 [OT 2, 292,9f]). 8 OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 7 (OT 2, 248,23–249,1). 9 Zu der gleichwohl gegebenen realen Fundierung der Allgemeinbegriffe LEPPIN, VOLKER, Does Ockham's Concept of Divine Power Threaten Man's Certainty in His Knowledge of the World?, in: FrS 55 (1998), 169–180.

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„In der abschließenden Beantwortung dieser Frage stimmen alle, die ich eingesehen habe, überein, insofern sie sagen, dass die Natur, die auf irgendeine Weise allgemein ist – wenigstens der Möglichkeit nach und unvollständig – , real im Einzelding ist“10

Dem aber setzt er seine schon erwähnte klare Position entgegen: „Ich sage hierzu, dass keine Entität außerhalb der Seele ... allgemein ist“11. Man wird diesen Vorgang in einer Zeit, in der Kriterium für theologisch und wissenschaftlich angemessenes Denken nicht unbedingt Kreativität und Originalität waren, nicht unterschätzen dürfen. Ockham entdeckt sich selbst als einen Neuerer – und wird damit geradezu zur intensiveren Auseinandersetzung mit der Philosophie gezwungen, und das hieß angesichts der am Begrifflichen orientierten Universalientheorie Ockhams: Er musste sich von nun an intensiver als bislang mit der sprachlich orientierten terministischen Logik auseinandersetzen. Auch wenn Ockham hier Vorläufer für sein eigenes Denken fand, bleibt die Feststellung bemerkenswert, dass wir hier bei Ockham eine Selbstwahrnehmung der kompletten Abweichung vom Konsens und damit der völligen Neuerung haben. Und es scheint angesichts dessen, dass der Sentenzenkommentar ja das älteste erhaltene Werk Ockhams ist, durchaus plausibel, an dieser Stelle überhaupt erst den Anstoß für eine eigenständige Auseinandersetzung mit philosophischen Themen zu sehen. Wenn wir heute Ockham als Gestalt der Philosophiegeschichte kennen und würdigen, dürfen wir ja dabei nicht vergessen, dass seine eigene Ausbildung in den artes eher kümmerlich war: Er dürfte die artes nicht an der Universität Oxford studiert haben, sondern an einem Ordensstudium12, vermutlich in London, verfügte also, als er mit der Theologie anfing, nicht einmal über den Abschluss eines Magister artium – das war aufgrund einer allerdings sehr umstrittenen Sonderregelung der Oxforder Statuten für Angehörige von Bettelorden möglich13. Und erst später – nach Abschluss seiner Sentenzenvorlesung – konnte er sich dann intensiver der Philosophie des Aristoteles zuwenden. Die derzeit plausibelste Annahme über die chronologische Reihenfolge seiner Schriften nämlich besagt, dass er hier den Auftrag eines philosophischen Lehrers für die nachwachsenden Franziskaner der Londoner Kustodie hatte14. Diesem ist er dann

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„In conclusione istius quaestionis omnes quos vidi concordant, dicentes quod natura, quae est aliquo modo universalis, saltem in potentia et incomplete, est realiter in individuo“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 7 [= OT 2, 225,17–19]). 11 „Ideo aliter dico ad quaestionem quod nulla res extra animam ... est universalis“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 3 [= OT 2, 248,23 – 249,1]). 12 Vgl. hierzu MIETHKE, Sozialphilosophie (wie Anm. 2), 7f. 13 Zu den Streitigkeiten s. The Friars Preachers vs. the University, ed. v. Hastings Rashdall, in: Collectanea 2, ed. v. Montagu Burrows, Oxford 1890, 193–273, 195–215 samt den folgenden Quellen, sowie LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3), 246–254. 14 Eine – im Ergebnis allerdings skeptische – Zusammenfassung der einschlägigen Argumente bietet COURTENAY, WILLIAM J AMES, Ockham, Chatton, and the London studium:

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mit großem Engagement nachgekommen: In diesen Jahren, etwa 1320 bis 1324, hat er neben der allgemeinen Vorlesungstätigkeit sein logisches Hauptwerk, die „Summe der Logik“ abgefasst. Und dieses Werk wie auch andere Werke dieser Phase zeigen, dass Ockham sich hier in einem lebhaften intellektuellen Prozess des Ringens um die angemessene philosophische Theorie befand: Im Laufe der wenigen Jahre, die er als akademischer Lehrer in England wirkte – wenn die üblichen Datierungen stimmen, waren es nicht mehr als sieben Jahre – hat Ockham wenigstens zwei zentrale philosophische Lehren nicht allein mehrfach behandelt, sondern seine diesbezügliche Position erkennbar weiter entwickelt. Das gilt zum einen für den ontologischen Status der Universalien, zum anderen für die zentrale Lehre der neuen Logiker, die Suppositionslehre. Philotheus Boehner, der trotz seiner apologetischen Tendenzen unzweifelhaft bedeutendste Vertreter der modernen Ockham-Forschung hat aufgezeigt, dass Ockham den ontologischen Status der Universalien anfänglich mit dem Begriff des fictum, später aber mit dem der intellectio gedeutet hat15. Diese Verschiebung ist philosophisch nicht unerheblich: Die fictum-Theorie bedeutete, dass die Allgemeinbegriffe bloß vom Verstand Hervorgebrachtes seien, dass sie demnach auf den Verstand lediglich als dessen Objekt im Sinne der Hervorbringung und der Wahrnehmung zugleich bezogen seien. Dieser Annahme eines bloßen esse obiectivum aber stellte Ockham in seiner späteren intellectio-Theorie die Auffassung von einem esse subiectivum gegenüber, von einer gegenständlichen Existenz im Verstand und zwar als dessen eigene Denkvorgänge, die intellectiones. Sie stellten hiernach mindestens eine psychische Realität dar. Handelt es sich bei dieser gedanklichen Neuerung um eine Absicherung des Verständnisses der Universalien gegenüber einer ontologisch zu schwachen Deutung, zeigt die Änderung der Suppositionslehre16, wie Ockham ein übernommenes Konzept, wohl nicht aus eigener Kraft, sondern vor allem durch Lektüre der Schriften Walter Burleighs17, seinem eigenen Denken anverwandelte. Die semantische Analyse mit Hilfe der Suppositionslehre diente den neuen Logikern dazu, zu erklären, wofür die Bestandteile mentaler oder gesprochener Sätze jeweils im konkreten sprachlichen oder gedanklichen Vollzug stünden. Eben diese Suppositionslehre hatte Ockham im SentenzenObservations on Recent Changes in Ockham's Biography, in: Wilhelm Vossenkuhl / Rudolf Schöfberger (Hg.), Die Gegenwart Ockhams, Weinheim 1990, 327–337. 15 BOEHNER, PHILOTHEUS, The Relative Date of Ockham's Commentary on the Sentences, in: ders., Collected Articles on Ockham, ed. v. Éloi M. Buytaert, St. Bonaventure, N.Y. u.a. 1958 (= 1992), 96–110 (FIP.Th 12). 16 S. hierzu SCHULTHESS, PETER, Sein, Signifikation und Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham, Berlin 1992, 14–23. 17 Zu ihm s. BROWN, STEPHEN F., Walter Burleigh's Treatise De Suppositionibus and its Influence on William of Ockham, in: FrS 32 (1972), 15–64.

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kommentar noch so gefasst, dass er vier Formen von Supposition unterschied: personal, einfach, material oder signifikativ18. Während sich einfache und materiale Supposition ihrerseits wieder auf begriffliche beziehungsweise sprachliche oder schriftliche Zeichen bezogen, war mit den beiden anderen Suppositionsformen, also mit personaler bzw. signifikativer Supposition, ein Bezug auf außermentale Realität möglich. Nach seiner damaligen Deutung, zur Zeit des Sentenzenkommentars, bedeutet personale Supposition das Stehen für ein subiectum, schlicht gesagt: für einen Gegenstand, während signifikative Supposition des Stehen für den Bedeutungsinhalt meint19 – diese Unterscheidung war nötig für die Interpretation akzidentieller Begriffe: Im Satz „Sokrates ist weiß“ etwa steht „weiß“ einerseits für den Gegenstand Sokrates, andererseits für seinen Bedeutungsinhalt, eben die Farbe Weiß, im ersten Fall also personal, im zweiten signifikativ. Bei Begriffen, die eine Substanz bezeichnen, also etwa im Satz „Sokrates ist ein Mensch“ hingegen fallen beide Bedeutungsarten zusammen. An der Kompliziertheit des eben Ausgeführten ist schon zu merken, dass es eine Schwierigkeit dieses Definitionsansatzes darstellt, dass Ockham sprachlogische und ontologische Ebenen verwirrte. Und eben diese Verwirrung hat er in seiner „Summe der Logik“ geklärt20: Der Sache nach bleibt lediglich die alte signifikative Supposition erhalten – freilich begrifflich als „personale Supposition“. Diese also bezeichnet jetzt das Stehen für den Bedeutungsinhalt, unabhängig von seinem ontologischen Status. Daneben sind dann denkerisch nur noch einfache und materiale Supposition nötig, eine vierte Kategorie gibt es nicht mehr, weil es Ockham nun reicht, eine sprachphilosophische Definition ohne jede ontologische Vorannahme zu formulieren.

2. Theologie und Logik: die wissenschaftstheoretische Frage Der eben anhand der Suppositionslehre beschriebene Prozess lässt sich als De-ontologisierung oder auch als Formalisierung beschreiben. Und eben diese Formalisierung stand zumindest auch im Dienste der Theologie; dies lässt sich an Ockhams theologischer Wissenschaftstheorie nachzeichnen21. Ockhams Ausgangsfrage war hierbei, ob die allgemeine Definition von Wissen-

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OCKHAM, Sentenzenkommentar II q. 10 (= OT 5, 227,8–15). Ockham benutzt den Begriff subiectum sehr selten in der hier offenbar vorliegenden ontologischen Bedeutung – der häufigste Gebrauch sind Wendungen wie subiectum scientiae u.ä. 20 OCKHAM, Summa Logicae I c. 64 (= OP 1, 195,4–9; 196,26f.38–40). 21 LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3). 19

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schaft im strengen Sinne, wie man sie den zweiten Analytiken entnehmen konnte, auf die Theologie zutreffe: „Wissenschaftliche Erkenntnis ist eine evidente Erkenntnis eines wahren und Notwendigen, die geeignet ist, durch vermittels syllogistischem Diskurs auf es angewendete Prämissen verursacht zu werden.“22

Der argumentative Problempunkt an dieser Definition war die Betonung der Evidenz: Der Glaube unterschied sich, dies stand schon lange fest und war durch die Auseinandersetzung mit den konsequenten Aristotelikern um Siger von Brabant im 13. Jahrhundert noch einmal ganz deutlich geworden, vom Wissen gerade darin, dass es ihm an Evidenz mangelte23. Nun hat Ockham zwar nicht der Theologie insgesamt jede Fähigkeit zu evidenter Erkenntnis abgesprochen, aber er hat doch erklärt, die entscheidende Wahrheitsfunktion der Theologie sei eben nicht die scientia, sondern die fides infusa, die, jedem Gläubigen in der Taufe eingegossen, die grundsätzliche Anerkennung, dass Gott die Wahrheit offenbare, bedeutete24. An dieser Stelle hat er recht unbekümmert Aristoteles kritisiert, indem er dessen Benennung von fünf Vernunfthabitus in der Nikomachischen Ethik für unzureichend erklärte und als sechsten den Glauben hinzu setzte, dem es zwar im Unterschied zu den anderen an Evidenz fehle, der aber gleichwohl wie sie die Erkenntnis von Wahrheit gewährleiste25. Aber er ist bei diesem trotzigen Bekenntnis zur Wahrheit der Theologie nicht geblieben: Wenn die Evidenz das einzige Kriterium ist, das die Theologie von den anderen Wissenschaften unterscheidet, so bleibt ein anderer Punkt der eben zitierten Definition unberührt: die Herleitbarkeit der theologischen Sätze mit Hilfe des syllogistischen Diskurses. Mit dieser Formulierung, die Ockham nicht erfunden, sondern von seinem franziskanischen Vorgänger Robert Cowton26 und durch diesen letztlich von Duns Scotus übernommen hat, ist die Logik gewissermaßen in eine Schlüsselstellung für Wissenschaftlichkeit hineingeraten. Und dies wird dann besonders deutlich – und auch besonders empfindlich, wenn die mit der Evidenz verbundenen anderen Kriterien der Definition für die Theologie nicht gelten – und gleichwohl an ihrem 22

„scientia (...) est notitia evidens veri necessarii, nata causari per praemissas applicatas ad ipsum per discursum syllogisticum“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar Prolog q. 2 [= OT 1, 87,20 – 88,2]) 23 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie, in diesem Band S. 69–80. 24 OCKHAM, Sentenzenkommentar Prolog q. 7 (= OT 1, 196,20–199,7); zur Deutung s. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3), 191–194. 25 OCKHAM, Sentenzenkommentar Prolog q. 7 (= OT 1, 206,2–8). 26 S. THEISSING, HERMANN, Glaube und Theologie bei Robert Cowton OFM, Münster 1970 (BGPhMA 42/3) 269,11–14; vgl. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3), 37; zum Bezug auf Duns s. ebd. 36f Anm. 120.

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universitären Status als Wissenschaft nicht im engeren, wohl aber im weiteren Sinne nicht gerüttelt werden soll. Das bedeutete auch einen Eingriff in die universitäre Verfassung des späten Mittelalters. Wenn eine der höheren Fakultäten proklamierte, dass für ihre Wissenschaftlichkeit nicht mehr nötig sei, als die Logik, also ein Teilgebiet der artes-Fakultät, war damit implizit die Frage zu stellen, ob der gesamte übliche Vorbau des Theologiestudiums im bislang üblichen Maße denn überhaupt notwendig sei. Und diese Frage stelle ich nun nicht nur in der historischen Rückschau, sondern sie hat einen sehr realen Hintergrund: Eben zu Ockhams Zeit wurde den Bettelorden das Recht bestritten, mit einem bloßen Ausbildungsgang an der eigenen Ordenshochschule an der Oxforder Theologischen Fakultät zu studieren: Magister aus der artes-Fakultät meinten, ein solcher Weg gebe nicht das nötige philosophische Rüstzeug, um die diffizilen theologischen Probleme zu bewältigen27. Dass Ockham es vor diesem Hintergrund mit einem Umbau des universitären Fächerkanons ernst meinte, bestätigte sein weiterer Denkweg: Schon im Sentenzenkommentar deutete er eine Art der Wissenschaftseinteilung ein, die er dann in den Schriften seiner Londoner Phase ausgebaut hat: Unter anderem mit der Begründung, dass die Logik allen anderen Wissenschaften die Wissenschaftlichkeit garantierte, stellte er sie als einzige Rationalwissenschaft den anderen Wissenschaften als den Realwissenschaften gegenüber. Dies war eine sprachphilosophisch und letztlich suppositionstheoretisch orientierte Gegenüberstellung: Die Rationalwissenschaft war jene, die sich ausschließlich mit Begriffen befasste, die für Begriffe standen, während in den Realwissenschaften von solchen Begriffen gehandelt wurde, die für reale Entitäten standen28. Der Logik war damit im wissenschaftstheoretischen System Ockhams eine unvergleichliche Zentralität zugewachsen, die Ockham in seiner Londoner Zeit in der Expositio Artis Logicae, noch prinzipieller begründete und lehrte29. Für die Theologie aber bedeutete all dies eine bemerkenswerte Legitimität: Je stärker der Logik die Rolle einer Garantin der Wissenschaftlichkeit zukam, desto geringer war das Gewicht des Mangels an Evidenz für die Theologie und desto wesentlicher wurde es für die Theologie, in welchem Verhältnis sie zur Logik stand.

27

Friars Preachers (wie Anm. 13), 217; vgl. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3),

247. 28

OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 2 q. 4 (= OT 2, 134,3–137,13). OCKHAM, Expositio in libros artis logicae Prooemium (= OP 2, 7); vgl. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3), 107f. 29

Kapitel 6

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3. Gottes Handeln in den Grenzen der Logik Ockhams Verständnis des Verhältnisses von Gotteslehre und Theologie kann man erst richtig nachvollziehen, wenn man sich seine potentia-Lehre vergegenwärtigt. Dabei stellt es ein derzeit schwer lösbares Problem dar, dass er die Gedanken der potentia absoluta und der potentia ordinata zwar offenkundig von früh an reichlich gebraucht, aber erst in seinen Quodlibeta präzise definiert hat, die mit Sicherheit nach dem Sentenzenkommentar und unter dem Eindruck des auf ihn zukommenden Häresieprozesses entstanden sind30. Hier findet sich im Quodlibet Sextum, quaestio prima folgende, berühmt gewordene Definition: „Vielmehr ist diese Unterscheidung so zu verstehen, daß „etwas können“ manchmal im Blick auf die von Gott angeordneten und eingesetzten Gesetze verstanden wird. Dann wird gesagt, Gott könne das gemäß der anordnungsgemäßen Macht tun. Anders wird „können“ in folgendem Sinne verstanden als: alles machen können, was nicht impliziert, daß ein Widerspruch entstünde – unabhängig davon, ob Gott angeordnet hat, daß er dies tun werde oder nicht.“31

Die Lehre von Gottes Allmacht also gewinnt ihre Zuspitzung und inhaltliche Füllung durch einen Zentralsatz der Logik, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Diesem Gesetz unterliegt Gott unweigerlich in all seinem Handeln. Damit aber wird die Logik nicht nur allgemein wissenschaftstheoretisch zu einem Zentralinstrument theologischer Arbeit, sondern auch aus Gründen der speziellen Gotteslehre: Die logische Überprüfbarkeit von Aussagen über Gott wird zum Mittel theologischer Arbeit. Das heißt nun nicht, dass man nach Ockham die Theologie gewissermaßen aus der Logik heraus konstruieren könnte oder dürfte: Die Theologie bleibt eine Offenbarungswissenschaft, ja wird es gerade durch die wissenschaftstheoretische Bedeutung der fides als entscheidende Wahrheitsfunktion in besonderer Weise, ist doch die fides infusa auf die Offenbarung Gottes bezogen. Aber die Offenbarung wird gewissermaßen einer Konsistenzprüfung unterzogen, die verschiedene Auswirkungen haben kann. Ich verweise nur in aller Kürze auf zwei der markantesten Beispiele für die aus der Überzeugung vom an Logik gebundenen Charakter des göttlichen Handelns folgende logische 30 Zu den möglichen realhistorischen Hintergründen dieser Überarbeitung seiner Position s. demnächst LEPPIN, Ockham (wie Anm. 2). 31 „Sed est sic intelligenda quod posse ‚aliquid‘ quandoque accipitur secundum leges ordinatas et institutas a Deo, et illa dicitur Deus posse facere de potentia ordinata. Aliter accipitur ‚posse‘ pro posse facere omne illud quod non includit contradictionem fieri, sive Deus ordinaverit se hoc facturum sive non.“ (OT 9, 586,22–26); zur potentia-Lehre Ockhams in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext s. BANNACH, Doppelte Macht Gottes (wie Anm. 3), sowie COURTENAY, WILLIAM JAMES, Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990 (Quodlib. 8).

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Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham

Durchdringung theologischer Komplexe: die Eucharistielehre und die Prädestinationslehre. Gerade bei der Eucharistielehre32 wird deutlich, wie wenig es um Konstruktion theologischer Wahrheit aus der Logik geht: Was Ockham hier betreibt, ist ein sich hart an der Grenze der Selbstverleugnung bewegender Versuch, die Denkbarkeit der Eucharistielehre und das heißt: ihre logische Haltbarkeit zu begründen. Nur wenn sie denkbar ist, kann die offizielle Eucharistielehre, das heißt die Lehre von der Transsubstantiation akzeptiert werden – dann allerdings muss sie auch akzeptiert werden. Leitlinie seiner Darstellung im vierten Buch des Sentenzenkommentars ist daher der Nachweis, dass die Vorstellung, Christi Leib befinde sich im Brot, nicht widersprüchlich ist. Entscheidend ist hierbei weniger die – später sehr umstrittene – eigene Quantitätslehre, die er entwirft, um sich die Gegenwart des Leibes Christi in den eucharistischen Elementen vorstellbar zu machen, als die Tatsache, dass Ockham nach längerem Abwägen ausdrücklich erklärt, die plausibelste Erklärung des Geschehens auf dem Altar sei eine Konsubstantiationslehre33. Aber lehrhaft entscheidet er sich dann für die Transsubstantiationslehre, weil die Kirchenlehre sie festgelegt hat, und: weil er in ihr zwar manches Unplausible aufdecken kann – aber keinen Widerspruch im strengen Sinne 34. Und damit bleibt sie denkbar und innerhalb der Handlungsmöglichkeiten Gottes verstehbar. Ist die Eucharistielehre vor allem wegen der steten Wiederkehr des Wunderbaren eine Herausforderung für den logisch denkenden Theologen, so stellt sich die logische Problemstellung der Präszienz und der Prädestination noch etwas anders35: Das aus der Allwissenheit resultierende philosophische Problem liegt auf der Ebene des Verhältnisses von Kontingenz und Notwendigkeit: Die Kontingenz kontingenter Wahrheiten liegt ja definitorisch eben darin begründet, dass sie auch nicht-wahr sein könnten36. So ist in Ockhams Beispiel die Aussage „Petrus ist ein Fischer“ erst in dem Moment tatsächlich wahr, in dem Petrus diesen Beruf ergreift – er hätte aber auch einen anderen Beruf ergreifen können, und die Aussage wäre mithin nicht wahr. Wegen dieses Andersseinkönnens aber ist es, so Ockham im Anschluss an Aristoteles, 32

S. hierzu nach wie vor BUESCHER, GABRIEL, The Eucharistic Teaching of William Ockham, St. Bonaventure, N.Y. / Löwen 1950 (FIP.Th 1), und, mit überaus kritischem Unterton, ISERLOH, ERWIN, Gnade und Eucharistie in der philosophischen Theologie des Wilhelm von Ockham. Ihre Bedeutung für die Ursachen der Reformation, Wiesbaden 1956 (VIEG 8). 33 OCKHAM, Sentenzenkommentar IV q. 8 (= OT 7, 138,22–139,6). 34 OCKHAM, Sentenzenkommentar IV q. 8 (= OT 7, 139,18–140,2). 35 Vgl. hierzu PERLER, DOMINIK, Prädestination, Zeit und Kontingenz. Philosophischhistorische Untersuchungen zu Wilhelm von Ockhams Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurorum contingentium, Amsterdam 1988 (BSPh 12). 36 OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 38 q. un. (= OT 4, 584,3–19).

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philosophisch nicht möglich, dass eine solche kontingente Aussage zu einem Zeitpunkt evident gewusst wird, in dem das durch sie beschriebene kontingente Faktum noch nicht eingetreten ist. Man braucht neben den zu aller Zeit zur Verfügung stehenden Kenntnissen über das Wesen von Dingen noch Informationen über tatsächliche Ereignisse in der extramentalen Realität, die ihrerseits an Raum und Zeit gebunden sind und daher nicht zu aller Zeit zur Verfügung stehen. Dieser philosophischen Einsicht aber steht das biblische Bekenntnis zur Allwissenheit und die dogmatische Lehre vom Vorherwissen aller Dinge durch Gott entgegen. Und ganz ähnlich wie in der Abendmahlsfrage entscheidet Ockham sich auch in diesem Falle für die biblische und kirchliche Autorität – und wird noch etwas unsicherer als im Zusammenhang der Eucharistielehre: „Man muss unzweifelhaft davon ausgehen, dass Gott mit Gewissheit und Evidenz alles weiß, was künftig kontingent eintrifft. Dies aber mit Evidenz zu erklären und die Weise, auf die Gott alles, was künftig kontingent eintrifft, auszudrücken, ist in diesem (irdischen) Stand für jede Vernunft unmöglich.“37

Wieder bekennt Ockham sich keineswegs zu einem widervernünftigen Glauben, aber doch zu einem, der nicht vernünftig aufschlüsselbar ist. Die Glaubensinhalte entziehen sich hier nicht nur, wie in der Eucharistielehre, der rationalen Konstruierbarkeit, sondern sogar der rationalen Re-konstruierbarkeit: Sie sind nicht nur nicht aus der Vernunft abzuleiten, sondern mit ihren Mitteln auch nicht nachzuvollziehen. Dieses Problem des Vorherwissens kontingenter Wahrheiten aber wird zugleich konkret und akut im Zusammenhang der Prädestinationslehre, da diese bei Ockham schon allein begrifflich unauflösbar mit der Präszienzlehre verschränkt ist. Denn weil Ockham einerseits keine explizite gemina praedestinatio lehrt, andererseits bei ihm dennoch das Schicksal des am Ende der Zeiten Verdammten schon vor aller Zeit feststeht, ist der zu Verdammende begrifflich präzise als ein „praescitus“ zu bestimmen, einer von dem Gott vorher weiß, dass er verurteilt werden wird. Nun ist die Aussage, dass jemand verdammt wird, unzweifelhaft kontingent, da der zum Heil gelangende Mensch auch verdammt sein könnte und umgekehrt38. Und damit stellt sich ein Problem, das Ockham in der quaestio quadragesima des ersten Buches seines Sentenzenkommentars mit Mitteln der Logik seziert. Der Sache nach besteht kein Zweifel, dass Prädestination zum Heil und Vorherwissen zum Unheil auch 37

„... indubitanter est tenendum quod Deus certitudonaliter et evidenter scit omnia futura contingentia. Sed hoc ecidenter declarare et modum quo scit omnia futura cintengentia exprimere est impossibile omni intellectui pro statu isto“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 38 q. un. [= OT 4, 583,21–584,2]) 38 OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 40 q. un. (= OT 4, 593,17–20).

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Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham

anders sein könnten: Hierfür spricht die Freiheit Gottes, zu verwerfen und zu erwählen, ebenso wie die Freiheit des Menschen, ein Verdienst zu erbringen oder eben nicht39. Es handelt sich also in der Tat um kontingente Wahrheiten. Logisch analysiert aber ist die Sache bedeutend komplizierter40. Denn der Satz „Es ist möglich, dass ein zum Heil Prädestinierter verdammt wird“, hieße ja: „Möglich ist: ein zum Heil Prädestinierter ist ein Verdammter“. In diesem Sinne ist die Aussage offenkundig unsinnig. Sinnvoll aber wird sie bei suppositionslogischer Aufteilung. Dann wird deutlich, dass die Aussage „Ein zum Heil Prädestinierter kann verdammt werden“, suppositionslogisch gesprochen, über den, für den das Subjekt supponiert, also einen zum Heil Prädestinierten – etwa Petrus – eine Möglichkeitsaussage trifft: Für Petrus ist es prinzipiell möglich, dass er verdammt würde. Da er aber von Gott in einem unwandelbaren Ratschluss41 prädestiniert ist, wird er nie verdammt werden. Das heißt: Das Prädikat „verdammt“ kann niemals tatsächlich für Petrus supponieren oder supponiert haben. In diesem aufgeteilten Sinne dann kann man die Aussage „Petrus kann verdammt werden“ logisch korrekt treffen. In extremer und höchst subtiler Weise wird hier also die moderne Logik dazu genutzt, eine klassische theologische Lehre zu stabilisieren. Und doch stößt auch nach Ockham der Theologe an die Grenzen der Logik.

4. Gottes Sein als Grenze der Logik Ockham hat die im Zusammenhang der Eucharistie- und der Prädestinationslehre angewandten Argumentationsmuster durchaus auch im Bereich der Lehre von Gottes Sein angewandt; das heißt: Auch hier werden Probleme, die sich dem Logiker in der Bearbeitung seines Stoffes ergeben, logisch aufgeschlüsselt. Dies zeigt sich exemplarisch am Umgang Ockhams mit der bei Petrus Lombardus schon vorgegebenen Frage, ob man im Blick auf die Hervorbringung Christi zugeben müsse, dass Gott sich selbst hervorgebracht habe42. Ockham formuliert diese Frage charakteristisch um, indem er nämlich fragte, „ob Gott Gott hervorgebracht hat“43. Die Auflösung des Pronomens machte die logische Problematik noch deutlicher, und Ockham hat diese Frage genutzt, um seine Suppositionstheorie zu erläutern und dann zu dem Schluss zu kommen, dass bei klarer suppositionstheoretischer Analyse der 39

OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 40 q. un. (= OT 4, 593,16–594,8). OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 40 q. un. (= OT 4, 595,6–596,9). 41 OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 40 q. un. (= OT 4, 594,9–595,5). 42 „utrum concedendum sit quod Deus se genuerit“ (LOMBARDUS, Sentenzen I d. 4 c. 1 [= PETRUS LOMBARDUS, Sententiae in IV libris distinctae. 2 Bde., Grottaferrata 1971. 1981 (SpicBon 4) S. 77, 21]). 43 „an Deus genuit Deum“ (OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 4 q. 1 [= OT 3, 3,4f]). 40

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Satz „Gott hat Gott hervorgebracht“ durchaus zuzugestehen sei44. Nur: Er muss ebenso zugestehen, dass der Satz „Gott hat nicht Gott hervorgebracht“, gleichfalls logisch zutreffend ist, wenn in ihm das Subjekt nicht für den Vater, sondern für den Sohn supponiert. Doch reicht dieses Verfahren für die Behandlung der Trinitätslehre nicht aus. Zu offenkundig ist es, dass eine strenge Anwendung der Logik auf die Trinitätslehre den Theologen in unrettbare Widersprüche bringen müsste. Ockham greift auf die schon von anderen thematisierten offenkundig unsinnigen Syllogismen im Bereich der Trinitätslehre zurück. So hatte etwa Duns Scotus den Syllogismus: Dieser Gott ist der Vater Der Sohn ist dieser Gott Der Sohn ist der Vater

Als Beispiel eines scheinbar unsinnigen Syllogismus angeführt und durch sein universalientheoretisches Konzept der distinctio formalis aufzulösen versucht45. Zu den intellektuell unglücklichsten und unbefriedigendsten Passagen im Werk Ockhams gehört sein Versuch, solche trinitarischen Syllogismen in der Summe der Logik als nur einen bestimmten Anwendungsfall eines auch sonst begegnenden Fehlschlusses zu interpretieren, wenn er etwa folgende Syllogismen parallelisiert46: Sokrates ist ein Mensch Plato ist ein Mensch Plato ist Sokrates

Dieses Wesen ist der Vater Dieses Wesen ist der Sohn Der Sohn ist der Vater

Wenn denn Ockhams Universalienlehre zutrifft, so ist es offenkundig, dass beide Fehlschlüsse nicht parallel sind, insofern das eine Wesen Gottes eine ontologische Größe darstellt, der „Mensch“ an sich aber nach Ockhams Konzeptualismus gerade nicht außerhalb des erkennenden Verstandes existiert – hier verstellt Ockham sich selbst den Blick für das tieferliegende Problem des Verhältnisses von Theologie und Logik.

Fazit Mit der Trinitätslehre ist eine entscheidende Grenzziehung für das Verhältnis von Theologie und Logik markiert, das Ockham selbst freilich nicht in der Deutlichkeit markiert, wie es implizit aus seiner Argumentation deutlich wird: Das Wesen Gottes ist so einzigartig, dass es gewissermaßen im Verhält44

OCKHAM, Sentenzenkommentar I d. 4 q. 1 (= OT 3, 13,15–19). S. LEPPIN, Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 3),, 239. 46 OCKHAM, Summa Logicae III-4 c. 11 (= OP 1, 819,40f; 821,94f). 45

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Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham

nis zu allen anderen Entitäten vor-logisch strukturiert ist. Während das gesamte Handeln Gottes und damit auch die gesamte Schöpfung mindestens dem Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch unterworfen ist, weil selbst Gott nichts Widersprüchliches tun kann47, greift dieser Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch für die Rede von Gott selbst nicht. Diese Einsicht aber hat nun Konsequenzen nicht nur für die Theologie Ockhams, sondern auch für sein Grundverständnis von Ontologie: Wenn es denn ein vor-logisch strukturiertes Sein gibt, heißt dies in der unvermeidlichen Konsequenz, dass Ockhams Logik nichts anderes sein kann als eine Denkregel, dass also seine stete Betonung der Logik in allen Denkzusammenhängen rein denkerisch-methodischen Charakter hat und gerade nicht die Logizität allen Seins behaupten will: Die logischen Denkregeln gelten als Seinsregeln nur für die Welt der Geschöpfe, aber nicht für das Sein schlechthin. Das Sein an sich ist mithin, kenntlich an Gott selbst größer und weiter als das dem denkenden Verstand zugängliche. Wenn also Ockham später gelegentlich als Rationalist verschrieen wurde, so trifft dies zwar sicher seine Argumentationsweise, die oft von geradezu eisiger Kälte geprägt scheint – sie trifft aber nicht, und so war der Vorwurf doch in der Regel gemeint, sein Weltbild. Ockham weiß, und er weiß dies als frommer Franziskaner, dass es eine Realität gibt, die höher ist als alle unsere Vernunft.

47

So explizit OCKHAM, Quodlibeta VI q. 1 (= OT 9, 586,24–26), aber auch in den früheren Schriften stets vorausgesetzt.

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Repräsentationsfrömmigkeit Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation Eine der grundlegenden Fragen des ökumenischen Gespräches ist eine Präsenzfrage: die nach der Weise der Präsenz Christi in Eucharistie im Herrenmahl. Zwar scheint hier der Graben zwischen Luthertum und römischem Katholizismus viel weniger tief zu sein als innerhalb des reformatorischen Lagers selbst, wo die Frage der Gegenwart Christi schon im ersten Jahrzehnt der reformatorischen Bewegung den erbitterten Streit zwischen Luther und Zwingli ausgelöst und auch die pneumatologische Deutung Calvins keine Einigung erbracht hat. Aber die auch bei aller Gesprächsbereitschaft zwischen evangelischer und römisch-katholischer Seite kirchenhistorisch und theologisch unhintergehbare Tatsache, dass seit der Leuenberger Konkordie Abendmahlsgemeinschaft zwischen Kirchen und Christen lutherischer und reformierter Konfession besteht, zeigt doch, dass der Gedanke der Präsenz Christi im evangelischen Lager in vielfältiger Weise denk- und auslegbar ist1. Die Frage der Rückwirkung auf das Gespräch mit der römisch-katholischen Seite ist damit wenigstens gestellt, kann aber in einem historischen Ansatz schwerlich beantwortet werden. Wohl aber kann historisch danach gefragt werden, wie sich Vorstellungen von Präsenz vom späten Mittelalter zur Reformation, näherhin zur Wittenberger Reformation, gewandelt haben. Diese Nachfrage führt dabei keineswegs ausschließlich in den theologisch strittigen Bereich der Abendmahlslehre, sondern auf einen viel komplexeren Aspekt spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Mannigfach wissen spätmittelalterliche Christen und Christinnen ihre eigene, immanente Lebenswirklichkeit geprägt von Weisen der Präsenz des Heiligen. Hieraus entstehen Frömmigkeitsformen – etwa in der eucharistischen Verehrung oder im Reliquienkult –, 1

Insofern ist es bemerkenswert, dass eine jüngere Handreichung der EKD als gemeinsames evangelisches Verständnis des Abendmahls auch von einer „Realpräsenz Jesu Christi“ sprechen kann (Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche. Vorgelegt vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2003, 27).

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Repräsentationsfrömmigkeit

die den protestantischen Frömmigkeitskulturen der Neuzeit (und in vielen Bereichen auch der römisch-katholischen Frömmigkeitskultur) fremd geworden sind. Um so mehr stellt sich die Frage, ob hier von einem Bruch zu reden ist, den die Reformation vollzogen hat oder ob sich Transformationen nachzeichnen lassen, in denen die starke Veränderung mitschwingt, aber auch die beibehaltene Kontinuität2. Zum Leitbegriff dieser Skizze, die nur Überlegungen für weitere Forschungsperspektiven andeuten, noch keine ausgereiften Ergebnisse vorlegen kann, wird dabei der Begriff der „Repräsentation“ gewählt. Durch seine Verwendung, die mittelalterlich vor allem von der Abendmahlstheologie herrührt, soll deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Präsenz Christi oder des Heiligen, wo und wie auch immer sie sich auf Erden ereignet, um ein Wieder-Präsentwerden handelt, das für die jetzt und hier Lebenden sowohl eine zeitliche Distanz zu einstmals auf Erden Lebenden überwindet, als auch zugleich und vor allem die Diastase zwischen Diesseits und Jenseits3. Das Diesseitige partizipiert so am Jenseits, ohne die Unterscheidung durch die Annahme einer in sich subsistenten immanenten Heiligkeit aufzuheben4. Personen, Ereignisse, Gegenstände, in denen das Jenseitige wieder präsent wird, sind damit auf Christus und die Heiligen zeichenhaft bezogen, und zwar als solche Zeichen, die Anteil an der Wirklichkeit des Bezeichneten haben und geben. Man kann damit die Repräsentationsfrömmigkeit auch als einen be2 Da, wie angedeutet, gerade die Präsenzfrage ein innerevangelisches Unterscheidungsmerkmal ist, beschränken sich die nachfolgenden Überlegungen auf den Typus der Wittenberger Reformation, sind aber prinzipiell offen für eine „calvinistische Erweiterung“. 3 Zur räumlichen und zeitlichen Dimension von Präsenz vgl. HAEFFNER, GERD, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart 1996, 12–15. 4 Es ist diese aufrecht erhaltene Differenz zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten, die solche Frömmigkeitsformen grundsätzlich von Magie unterscheidet – doch kann die Diskussionslage, in der eine einheitliche Deutung von Magie noch nicht gefunden wurde (s. WIGGERMANN, FRANCISCUS ANTONIUS MARIA, Art. Magie. I. Religionswissenschaftlich, in: RGG4 5, Tübingen 2002, 661f; PETZOLDT, LEANDER, Magie und Religion, in: Peter Dinzelbacher / Dieter R.Bauer [Hg.], Volksreligion im hohen und späten Mittelalter, Paderborn u.a. 1990 [QFG.NF 13], 467–485), hier nicht aufgearbeitet werden. Einen Zugang zum mittelalterlichen Denken gewinnt man aber wohl, wie SCRIBNER, ROBERT W., Magie und Aberglaube. Zur volkstümlichen sakramentalischen Denkart in Deutschland am Ausgang des Mittelalters, ebd. 253–273, 257–260, einleuchtend gezeigt hat, eher über die Kategorie des „Sakramentalischen“ als des „Magischen“. Die nächstliegende, freilich wegen ihrer Orientierung an der Beteiligtenperspektive nicht unproblematische Deutung für Magie ist die, die KIECKHEFER, RICHARD, Magie im Mittelalter, München 1992, 24, vertritt, wenn er sich an dem Magiebegriff der christlichen Theologen orientiert: „Wenn jemand sich von Gott oder von einer bekannten, ‚unverborgenen‘ Naturkraft die Wirkung erhofft, so haben wir es nicht mit Magie zu tun, eine Handlung dagegen, die auf dämonische Mächte oder auf okkulte Naturkräfte vertraut, ist magisch“. Nach dieser Begriffsbestimmung würde es sich bei den Formen der Repräsentationsfrömmigkeit, die durchgängig auf Gott und Christus bezogen ist, nicht um Magie handeln.

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sonders intensiven Ausdruck für die semiotische Durchdringung der Welt in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit ansehen5.

1. Repräsentation in der Liturgie Die Eucharistie ist die paradigmatische Form von Repräsentationsfrömmigkeit. Ausdrücklich deutet Thomas von Aquin im Sentenzenkommentar die Eucharistie als ein „sacramentum directe repraesentativum [...] dominicae passionis“6, eine Formulierung, die auch in ST III beibehalten wird7. Es ist der Gesamtvorgang, der repräsentiert, und innerhalb dieses Gesamtvorganges ist es nach dem Sentenzenkommentar vor allem der im Zuge der mittelalterlichen Frömmigkeit immer mehr in Stellvertretung Christi wahrgenommene8 Priester, der Christus repräsentiert, insofern der in der Hostie umfasste Leib ja mit dem realen Leib Christi identisch ist, diesen also mehr als nur repräsentiert. Im strengen Sinne wird also die Repräsentationsfrömmigkeit der Eucharistie nach dieser komplexen Deutung, was die Elemente des Sakramentes selbst angeht, zur Präsenzfrömmigkeit. Wie schwer eine solche komplexe Deutung zu rezipieren war, zeigen Ansätze von Deutungen, in denen nicht allein in den Elementen der Leib Christi als voll präsent galt, sondern auch zwischen dem Priester und Christus sprachlich kaum mehr unterschieden wird. So heißt es in der ältesten deutschsprachigen Messauslegung aus dem 15. Jahrhundert ei-

5

Die vielfältige semiotische Struktur der eucharistischen Feier hat RUBIN, MIRI, Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, 288–346, eindrücklich vorgestellt, eine Deutung von Reliquien als „ikonische Zeichen“ hat sehr überzeugend KÜHNE, HARTMUT, ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum, Berlin u.a. (AKG 75), 2000, 900 in Abgrenzung von magischen Deutungen vertreten. Zum semiotischen Bedeutungsgehalt von Repräsentation vgl. GERHARDUS, DIETFRIED, Art. Repräsentation, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), EPhW. Bd. 3, Stuttgart / Weimar 1995, 590f. Zu dem weiteren theoretischen Horizont dieser semiotischen Überlegungen vgl. LEPPIN, VOLKER, Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch. Zur Bedeutung der Semiotik für das Selbstverständnis einer theologischen Disziplin, in: Wolfram Kinzig / Volker Leppin / Günther Wartenberg (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch, Leipzig 2004 (AKThG 15), 223–234. 6 IV Sent d. 8 q.2 a. 1 sol. 4 ad 4. 7 ST III q. 73 a. 5 responsio: „Et ideo oportuit omni tempore apud homines esse aliquid repraesentativum dominicae passionis“; vgl. zum Repräsentationsbgriff bei Thomas SCHEERER, ECKART Art. Repräsentation. I. Erkenntnistheorie, in: HWP 8, Basel 1992, 790– 797, 791f. 8 ANGENENDT, ARNOLD, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 504.

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nerseits, dass Christus sich täglich neu auf dem Altar opfere9, andererseits aber auch als Deutung des „Ite missa est“ des Priesters: „gand hin! Das oppfer, das Cristus ist, den hab ich fuer mich und euch auffgeoppfert und gesant seynem himelischen Vater“ 10

Einmal also ist es in demselben Text Christus, der sich opfert, das andere Mal der Priester, der ihn opfert: Priester und Christus werden zum in der heiligen Handlung nicht mehr unterscheidbaren Subjekt, so wie ohnehin das Corpus reale Christi ununterschieden Christus selbst ist – und doch weiß die sinnliche Erfahrung um die Differenz zwischen Priester und Christus, zwischen dem eucharistisch begegnenden Leib und dem Leib am Kreuz selbst, die freilich in der Frömmigkeit in unterschiedlicher Weise thematisch wird. Wohl das direkteste Beispiel einer absoluten Gleichsetzung von eucharistischem Leib und fleischlichem Leib Christi sind die Legenden vom Hostienfrevel, die neben ihrer antijudaistischen Ausrichtung noch einen zweiten Ort in der Frömmigkeit haben, eben den, von dem Wunder des eucharistischen Leibes zu erzählen11, der noch dem Tabernakel entnommen, lange nach der Wandlung in sinnlicher Weise, mit sichtbarem Blut, die Präsenz Christi in der Hostie unterstreichen12. Das Eigenartige an diesen Erzählungen ist nun gerade, dass eben diese Pointe nicht nur der sauberen Trennung von Substanz und Akzidens widersprach, sondern auch der offenkundigen sinnlichen Wahrnehmung, für die Brot Brot bleibt, auch wenn es der Substanz nach in den Leib Christi gewandelt ist. Die Legenden vom Hostienfrevel sind damit auch 9

Die älteste deutsche Gesamtauslegung der Messe, ed. v. Franz Rudolf Reichert, Münster 1967 (CCath 29), 98,7f. 10 Älteste Gesamtauslegung (wie Anm. 9), 201,14f; vgl. auch die Deutung beider Aussagereihen durch Reichert ebd. CXIV. 11 S. BROWE, PETER, Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, Münster 2003 (VTh 1), 211–300. 12 Das Phänomen der Präsenzfrömmigkeit ist so keineswegs unbeobachtet geblieben, soll in den folgenden Ausführungen lediglich in besonderer Weise in den Vordergrund gerückt werden. Auch ANGENENDT, Religiosität (wie Anm. 8), 505, spricht im Blick auf die konsekrierte Hostie von der „Gottespräsenz schlechthin“; HAMM, BERNDT, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller et al. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. 1. Bd.: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, 159–211, 202, erwähnt die „präsente Passionsgnade“ im Zusammenhang von kultischem Umgang mit Bildern; vgl. auch DERS., Die „Nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen / Martin Pickavé (Hg.), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, , Berlin / New York 2004 (MM 31), 541–557, 552–554, mit der Betonung der Momente von „Realpräsenz“ und „Vergegenwärtigung“ im Umgang mit Bildern; MOELLER, BERND, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 73– 85, hier: 76, erklärt: „Die überirdische Welt war den Menschen noch in jedem Augenblick gegenwärtig und nahe.“

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ein Indiz für die Varianz der Frömmigkeit im späten Mittelalter, so wie umgekehrt das Bemühen, durch liturgische Gestaltung immer mehr den Gedanken der tatsächlichen Präsenz der Gemeinde nahezubringen, der nach Arnold Angenendt und Karen Meiners die Messe immer mehr von einem officium Dei zu einem sacrum theatrum wandelte, zeigt, wie stark das Bemühen war, den Widerspruch zwischen Theologie und Sinnlichkeit zu überwinden und die theologischen Überzeugungen auch sinnlich erfahrbar zu machen13. Und so ist es kein Zufall, dass ihnen ein anderer Ausdruck spätmittelalterlicher Frömmigkeit entgegensteht, in dem gerade die sinnliche Diskrepanz, die durch die komplexe Unterscheidung von Substanz und Akzidens entsteht und entstehen muss, zum Thema gemacht wird: die seit der Wende zum 15. Jahrhundert dargestellte Gregorsmesse14, die den wohl bekanntesten Fall einer Fülle von Hostienwunder darstellt15. Denn sie zeigt gerade, um die Identität einzuschärfen, die differenten Leiber Christi: als Hostie einerseits, als Schmerzensmann andererseits, und ihr künstlerischer Appell läuft darauf hinaus, dieses Zugleich von Differenz und Identität als einen wunderbaren Modus der Präsenz Christi wahrzunehmen16. Hier ist wohl mehr dem Aspekt der Re-praesentatio als dem der einfachen Präsenz Rechnung getragen. In der einen oder anderen Weise aber wird die Eucharistie zu einem innerweltlichen Objekt, das an der Erhabenheit der transzendenten Heiligkeit, genauer: des transzendenten heiligen Gottessohnes partizipiert und eine entsprechende umfassende Verehrung erfährt17. Auch hier bemüht sich die spätmittelalterliche Frömmigkeit und Kunst, dem Ausdruck zu geben: Die Monstranzen dienen nicht nur dazu, das Objekt, den Leib Christi auszustellen, sondern indem sie ihn künstlerisch mit einem goldenen Nimbus umgeben, unterstreichen sie auch die Diskrepanz zwischen der Unscheinbarkeit des Brotes und seiner tatsächlichen Bedeutung. Kaum anders steht es mit den Tabernakeln, die in der spätmittelalterlichen Kunst sich – bis hin zu dem berühmten Bei-

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Arnold Angenendt / Karen Meiners, Erscheinungsformen spätmittelalterlicher Religiosität, in: Divina Officia. Liturgie und Frömmigkeit im Mittelalter, Wolfenbüttel 2004, 25–35, 32. 14 Vgl. hierzu den Überblick in THOMAS, ALOIS, Art. Gregoriusmesse, in: LCI 2, Freiburg u.a. 1970, 199–202; KELBERG, KARSTEN, Die Darstellung der Gregorsmesse in Deutschland, Diss. Münster 1983; RUBIN, Corpus Christi (wie Anm. 5), 308–310. Ein derzeit angekündigter Sammelband von Thomas Lentes zur Gregorsmesse lässt neue Perspektiven erwarten, war aber zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages noch nicht zugänglich. 15 S. hierzu ANGENENDT, Religiosität (wie Anm. 8), 506–508. 16 SCRIBNER, ROBERT W., Die Wahrnehmung des Heiligen am Ende des Mittelalters, in: DERS.: Religion und Kultur in Deutschland 1400 – 1800, hg. v. Lyndal Roper, Göttingen 2002, (VMPIG 175), 101–119, 106f. 17 Nach wie vor grundlegend: BROWE, PETER, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1933; vgl. DERS.: Eucharistie (wie Anm 11), 381–536.

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spiel des zwischen 1493 und 149618 aufgrund einer Stiftung Hans Imhoffs entstandenen Sakramentshauses von Adam Kraft aus St. Lorenz in Nürnberg19 – immer mehr zu eigenen Architekturelementen auswachsen20, die baulich der besonderen Bedeutung des in ihnen Enthaltenen Ausdruck geben. Freilich steht die Eucharistie auch nicht ganz konkurrenzlos in der mittelalterlichen Liturgie: Eine herausragende Verehrung genoss auch die Bibel, vor allem die Evangelien: Die kostbare Ausstattung der Evangeliare21, ihre feierliche Verlesung in der Messe zum Ende des Wortgottesdienstes ging über den rein informationellen Charakter der Textverlesung weit hinaus und unterstrich, dass in dem Buch Präsenz von Heiligkeit erfahrbar war, es konnte nach Ulrike Surmann geradezu als „Stellvertreter Christi“ gelten22, womit es dieselbe Funktion eingenommen hätte wie der Priester! Ganz in diesem Sinne kann Mechthild von Magdeburg berichten, dass Gott, als er sie in ihrer Sorge tröstete, das Buch ihrer Offenbarungen werde verbrannt werden, dieses Buch als zeichenhaften Repräsentanten seiner selbst beschrieben habe: „Lieb minú betruebe dich nit ze verre, die warheit mag nieman verbrennen. Der es mir us miner hant sol nehmen, der sol starker denne ich wesen. Das buoch ist drivaltig und bezeichent alleine mich. Dis bermit23, das hie umbe gat, bezeichent min reine, wisse, gerehte menscheit, die dur dich den tot leit. Dú wort bezeichent mine wunderliche gotheit; dú vliessent von stunde ze stunde in dine sele us von minem goetlichen munde. Dú stimme 18

S. ARNDT, CLAUDIA, Zierarchitekturformen an freistehenden spätgotischen Sakramentshäusern. Zum Sakramentshaus des Adam Kraft, in: Frank Matthias Kammel (Hg.), Adam Kraft. Die Beiträge des Kolloquiums im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2002, 213–230, 214. Grundlage für die Datierung sind die bei STERN, DOROTHEA, Der Nürnberger Bildhauer Adam Kraft. Stilentwicklung und Chronologie seiner Werke, Straßburg 1916 (SDKG 191), 50–52, und DAUN, BERTHOLD, Adam Krafft und die Künstler seiner Zeit. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Nürnbergs, Berlin 1897, 30–36, ausgewerteten (und beim Letzteren auch abgedruckten) Urkunden zur Werkentstehung. 19 S. hierzu HERTLEIN, BEATA, Das Sakramentshaus von Adam Kraft in der Nürnberger Lorenzkirche. Zu Konstruktion und Werkprozeß, in: Kammel (Hg.), Adam Kraft (wie Anm. 18) 195–212; SCHMID, WOLFGANG, Strategien künstlerischer Selbstdarstellung in Nürnberg um 1500. Zum Selbstbildnis des Adam Kraft am Sakramentshaus in St. Lorenz, ebd. 231– 252. Abbildungen in: SCHWEMMER, WILHELM, Adam Kraft, Nürnberg 1958, Abb. 7–27. 20 S. zu diesem Prozess ARNDT, Zierarchitekturformen (wie Anm. 18), 213. 21 S. hierzu FAUPEL-DREVS, KIRSTIN, Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296), Leiden u.a. 2000 (SHCT 89), 291f; ANGENENDT, ARNOLD, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter, München 2003 (EDG 68), 34. 22 SURMANN, ULRIKE, Evangeliar, in: Biblioteca Apostolica Vaticana. Liturgie und Andacht im Mittelalter, hg. vom Erzbischöflichen Diözesanmuseum Köln, Köln 1992, 26–29, 28. 23 Gemeint ist der Pergamentdeckel oder -umschlag oder der weiße Rand des Pergaments (s. WEBER, BARBARA, Die Funktion der Alltagswirklichkeit in der Metaphorik Mechthilds von Magdeburg, Göppingen 2000, 136 Anm. 773).

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der worte bezeichenet minen lebendigen geist und vollebringet mit im selben die rehten warheit. Nu sich in allú disú wort, wie loblich si mine heimlichheit meldent, und zwivel nit an dir selben!”24

Über solche Buchmetaphorik, die sich hier freilich nicht auf den inspirierten Text der Bibel, sondern auf den inspirierten Text der Visionärin Mechthild bezieht, ist nun aber auch eine Brücke geschlagen, die verstehbar macht, wie sich Präsenzvorstellungen in der Reformation erhalten und zugleich verlagern konnten. Zum Einen bleibt theologisch in der Wittenberger Reformation selbstverständlich die Vorstellung von der Präsenz Christi im Abendmahlsgeschehen – nicht freilich in den von diesem gelösten Abendmahlselementen – erhalten: In, mit und unter den Elementen ist er selbst gegenwärtig. Das führt liturgisch dazu, dass Luther den Messtypus grundsätzlich als Normalform des Gottesdienstes beibehält. Allerdings ordnet er die Messe neu zu: Sie dient ihrem Kern und Wesen nach der Wortverkündigung. So wie sie negativ um alles entschlackt wird, das im Sinne einer Deutung des Herrenmahls als Opfer als Werkfrömmigkeit verstehbar war, so wird positiv der ganze liturgische Vorgang auf das Wort ausgerichtet. Das Sakrament gewinnt seine Dignität vom Wort her und auf dieses hin. Dieses Wort allerdings ist nun weder jenes materiell am Buch haftende Objekt wie in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit noch auch einfach das informationelle Wort der zwischenmenschlichen Kommunikation. Es ist das pneumatisch erfüllte Wort. So wie man in gewisser Weise für die mittelalterliche Frömmigkeit die Eucharistie als paradigmatischen Fall des Zu-den-Menschen-Kommens der Inkarnation deuten kann, ist für Luther das Wort Gottes, wie es in der Schrift begegnet, der Ort, an dem der Weg Christi zu den Menschen zu seinem Ziel kommt. Das leiblich begegnende Wort – nicht das materielle Buch – ist mehr als nur Leibliches: Es ist das geisterfüllte Wort. Gerade hierin liegt die wohl schärfste Differenz zu Huldrych Zwingli, für den der Geist ohne das Wort auskommt und das Wort seinerseits nur materieller Art ist. Indem aber das Wort ganz geisterfüllt ist, ist es der Ort, an dem Gottes Wort an den Menschen stets neu ergeht und lebendig werden kann25. Hier nur von Präsenz oder Repräsentation zu sprechen, wäre zu wenig: Christus wird 24

MECHTHILD VON MAGDEBURG: ‚Das fließende Licht der Gottheit‘. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung, ed. v. Hans Neumann, Bd. 1: Text, besorgt von Gisela Vollmann-Profe, München / Zürich 1990, 68,9–17 (vgl. hierzu PALMER, NIGEL F., Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg, in: Wolfgang Harms / Klaus Speckenbach [Hg.], Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992, 217–235, 231f). Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Herrn Kollegen Burkhard Hasebrink, Freiburg. 25 Vgl. hierzu jetzt zusammenfassend: BEUTEL, ALBRECHT, C.II.2. Wort Gottes, in: ders. (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 362–371. Zum Zusammenhang von Christus, Wort und Geist s. auch LOHSE, BERNHARD, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 207–209.

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gerade dann und darin präsent, dass das Wort in lebendiger Weise aktualisiert wird. Wie in der Abendmahlspräsenz, die nicht statisch an die Elemente gebunden ist, sondern dynamisch an das Abendmahlsgeschehen, das freilich eine an den Elementen greifbare Präsenz mit sich bringt, so ist auch in der Wortfrömmigkeit Luthers ein zugleich von Präsenz im Wort und dynamischer Aktualisierung des Wortes durch dessen Zuspruch und Weitergabe.

2. Heiligenkult Nicht nur das Corpus Christi reale begründet im späten Mittelalter eine Präsenz Christi, sondern auch das Corpus Christi mysticum ist in einer Weise mit Christus zusammenzudenken, die die Kirche mindestens in metaphorischer Weise mit Christus verbindet. Die Präsenz ereignet sich in Kristallisationspunkten oder vielmehr in Kristallisationspersonen. Schon seit den Berichten der Antike ist Heiligkeit ein Konzept, nach dem Christus in bestimmter Weise in Menschen präsent wird. Ob Cyprian von Karthago und viele andere den Prozess Christi gewissermaßen nachleben26, ob die Christen von Lyon nach dem Bericht Eusebs (Hist.eccl. V,1) in der Märtyrerin Blandina den Gekreuzigten selbst erkannten: Nicht als Taten, die im Sinne der reformatorisch kritisierten Werkgerechtigkeit Gott gegenüberstehen und ihm etwas abverlangen, wird das Verhalten der Heiligen zu einem herausragenden, aber eben dann nur moralischen Ereignis, sondern als Aktualisierung der Gegenwart Christi in einzelnen hervorgehobenen Menschen, und es ist offenkundig, dass in dieser Heiligkeitskonzeption durchaus auch ein Moment an Dynamik mitschwingt. Gleichwohl traten neben diese christologisch vermittelte personale Heiligkeit bald auch materialisierte Formen der Heiligkeit. Die Grabstellen standen am Anfang, bald rückten auch die Leichname selbst in ihrer vielfältigen Zerstückelung in den Mittelpunkt des Interesses. Es ist hier nicht nötig, die umfassende Beschreibung, die Arnold Angenendt für das Aufkommen der Reliquien geboten hat, zu wiederholen: jener Prozess, in dem zunehmend der Körper der verstorbenen Heiligen als teilbar wahrgenommen wurde, anfangend mit den ersetzbaren Körperteilen wie Haaren und Fingernägeln bis hin zur vielfachen kleinteiligen Zerstückelung von Körpern27 und auch von Gegenständen der Passio Christi, vor allem seinem in viele Splitter aufgeteilten Kreuz28. Der enorme Aufschwung, den die Reliquiensammeltätigkeit am Vor26

LEPPIN, VOLKER, Das Bischofsmartyrium als Stellvertretung bei Cyprian von Karthago, in: ZAC 4 (2000), 255–269. 27 ANGENENDT, ARNOLD, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1997, 154. 28 Ebd. 215.

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abend der Reformation genommen hatte, ist vielfach beschrieben worden; auch auf den Hintergrund in der Verbindung von Reliquienverehrung und Ablass wurde wiederholt hingewiesen29. Man kann zusammenfassend auf das berühmte Heiltumsbuch des Lukas Cranach für die großen Sammlungen des Kurfürsten Friedrichs des Weisen hinweisen, in dem Stück für Stück aufgelistet ist, was man in Wittenberg sehen und was man dafür an Ablass erhalten konnte30. Der Ablass mit der ihm eigenen, in der Tarifierung der Bußfrömmigkeit zu Beginn des Mittelalters wurzelnden Quantifizierbarkeit führt zu entsprechend quantifizierbaren Verhaltensformen der Frömmigkeit31: der puren Sammlung, deren Sinn sich freilich in der Sammelleidenschaft – Henk van Os spricht geradezu von einer „Reliquieninflation“32 – nicht erschöpft, sondern die ausgerichtet ist auf die Fülle der Präsenz des Heiligen an einem Ort33. Welche Bedeutung diese Orte von Heiligkeit hatten, kann man etwa nachvollziehen, wenn man darauf blickt, wie nicht fern von Wittenberg bald eine zweite große Heiltumssammlung entstand: in Halle, wohin Albrecht von Mainz vor der aufmüpfigen Magdeburger Bürgerschaft geflohen war. Der Verzicht auf Magdeburg als Residenz des Bischofs bedeutete auch den Verzicht auf die tradierte Heiligkeit Magdeburgs, die sich vor allem mit Reliquien des Mauritius und des Norbert von Xanten verband. Offenkundig war eine solche tradiert präsente Heiligkeit durchaus durch die Präsenz neu gesammelter Heiligkeit ersetzbar. So bedeutsam gerade der Wittenberger Reliquienschatz für das Umfeld des Verständnisses Martin Luthers ist – man würde den historischen Prozess der Genese der Reformation unziemlich vereinfachen, wenn man das späte Mittelalter einfach als unkatholischen Verfall wie die ältere Luther-Biographik oder Lortz und Iserloh in ihrer verstehend-wohlwollenden katholischen Re-

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PAULUS, NIKOLAUS, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt ²2000, 364. 30 Wittenberger Heiltumsbuch, illustriert von Lucas Cranach d. Ält., Wittenberg 1509 (= Unterschneidheim 1969 [Faksimile]). 31 ANGENENDT, ARNOLD et al., Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995) 1–71; Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter, Paderborn u.a. 2000, 66f; HAMM, Theologie und Frömmigkeit (wie Anm. 12), 183. 32 VAN OS, HENK, Heiligenverehrung früher und heute, in: ders. (Hg.): Der Weg zum Himmel. Reliquienverehrung im Mittelalter, Regensburg 2001, 15–54, 32. 33 S. hierzu DINZELBACHER, PETER, Die „Realpräsenz“ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: ders. / Dieter R. Bauer (Hg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, 115–174. Auf die Parallelität der auf Reliquien und Eucharistie bezogenen Frömmigkeit hat nachdrücklich SNOEK, GODEFRIDUS J., Medieval Piety from Relics to the Eucharist. A Process of Mutual Interaction, Leiden 1995, (SHCT 63) hingewiesen.

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formationsdeutung deuten würde34, so wie auch das umgekehrte Modell einer intensivierten Frömmigkeit im späten Mittelalter, wie es von evangelischer Seite Bernd Moeller vorgetragen hat35, gerade an dieser Stelle vereinseitigend wirken müsste: Eine intensivierte Ablassfrömmigkeit ist natürlich gerade aus evangelischer Perspektive nichts anderes, als das, was die katholischen Autoren als unkatholischen Verfall beschrieben haben: Das Mittelalter wird dort am stärksten gemacht, wo es aus evangelischer Perspektive am schwächsten ist, in seiner Tendenz zu Materialisierung und Quantifizierung. Gerade weil diese Züge in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit unleugbar sind, wird man an dieser Stelle wohl nur weiterkommen, wenn man gerade die Disparatheit des späten Mittelalters zum Schlüssel für einen Erklärungsansatz macht36. Das Mittelalter ist nicht von einer einseitigen Abwärts- oder einer ebenso einseitigen Aufwärtsbewegung (die zudem noch inhaltlich eine Abwärtsbewegung wäre) geprägt, sondern vielmehr von einer Fülle von Polaritäten. Dies erscheint gerade an dieser Stelle, an der es nicht nur die Bewegung hin zu einer Materialisierung und Quantifizierung der von personaler Heiligkeit abgeleiteten Heiligkeitspräsenz in Reliquien und etwa auch in den eigentlich auch in diesen Zusammenhang gehörenden, aus Raumgründen aber zu überspringenden Bildern gibt, sondern auch eine Verschiebung der personalen Heiligkeit, deren Wurzeln eigentlich schon in der Spätantike liegen: Die Präsenz Christi muss sich mit der Etablierung des Christentums von der Situation des Martyriums lösen, da sonst Heiligkeit in einer nicht-bedrückten Situation kein lebbares Modell wäre37. So wird Heiligkeit zu einer Frage der Lebensführung gemäß den biblischen Weisungen und Räten, also zu einer nicht mehr an der existenziellen Frage des Martyriums, sondern an der Frage moralischer Qualität bemessbaren Größe. Eben dieses Konzept von Heiligkeit erfährt nun im Zuge des späten Mittelalters neue Intensivierungen, zum Teil auch Verschiebungen. Die Intensivierung lässt sich wohl am Deutlichsten an 34

LORTZ, JOSEPH, Die Reformation in Deutschland, Freiburg 1939 / 40, mit zahlreichen späteren Auflagen; ISERLOH, ERWIN, Martin Luther und der Aufbruch der Reformation (1517–1525), in: HKG(J) 4, Freiburg u.a. 1967, 3–114, 3–10. 35 MOELLER, Frömmigkeit (wie Anm. 12), 74. Eine interessante Differenzierung hierzu bietet BURGER, CHRISTOPH, Volksfrömmigkeit in Deutschland um 1500 im Spiegel der Schriften des Johannes von Paltz OESA, in: Dinzelbacher / Bauer (Hg.), Volksreligion (wie Anm. 4), 307–327, insbesondere 326f, durch den Hinweis auf die innermittelalterliche Kritik an Auswüchsen der Volksfrömmigkeit, die erkennen lässt, dass die Selbstwahrnehmung der Frömmigkeit im späten Mittelalter keineswegs so positiv war, wie es die Rekonstruktion Moellers erwarten lassen müsste. 36 S. zu diesem Ansatz und seiner ausführlicheren Begründung LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz et al. (Hg.), Frömmigkeit, Theologie, Frömmigkeitstheologie: contributions to European church history. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, Leiden 2005 (SHCT 124). 37 Vgl. hierzu DINZELBACHER, Handbuch (wie Anm. 31), 337.

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der Stigmatisierung des Franz von Assisi deutlich machen38: Was hier geschieht, ist in der Mentalität der Glaubenden – und damit ganz unabhängig von der Frage des historisch rekonstruierbaren Geschehens39 – die himmlische Legitimierung des an Armut gebundenen Apostolates des Franz als dem Martyrium gleichwertiges Lebenszeugnis: Der arme Prediger erhält eben die Stigmata, die das Leiden Christi in vielfältigen Darstellungen repräsentieren und wird so selbst noch zu Lebzeiten zu einem Repräsentanten der Leiden Christi und damit Christi selbst40. Eine gewisse Verschiebung ergibt sich durch die geschlechtliche Frage: Schon bei der oben erwähnten Blandina im dritten Jahrhundert war es auffällig, dass hier in einer Frau Christus erkannt wurde. Angesichts der kirchlichen Engführung der priesterlichen Christusrepräsentanz auf Männer wird die Frage der Christusrepräsentanz durch weibliche Nachfolge zumindest zu einem Problem, für das nun aber auch andere Modelle, gerade im frömmigkeitsgeschichtlichen Umfeld des Franz entstehen. Ein berühmtes Beispiel ist Elisabeth von Thüringen. Eine in der Vita ihres Gemahls Ludwig IV. von Thüringen überlieferte Legende berichtet – in offenkundiger Verzerrung des Verhältnisses zu ihrem Ehemann –, sie habe bei einem Aufenthalt auf der Neuenburg einen Aussätzigen gepflegt und in das Bett ihres Mannes gelegt, damit er sich erhole. Landgraf Ludwig wurde von seiner Mutter hierhin geführt, die ihm das unverantwortliche Handeln der Schwiegertochter demonstrieren wollte – die Assoziation, die ein fremder Mann im Bett des Ehegemahls auch wecken kann, wird im Text nicht angesprochen – und entdeckt in seinem Bett mit den „inwendigen ougin“ den gekreuzigten Heiland41 – spätestens die künstlerischen Darstellungen, etwa in der Elisabethkirche in Marburg42, konnten die Inwendigkeit des Sehens nicht darstellen: Der Gekreuzigte im Bett des Ehegemahls wurde zu einem für alle sichtbaren Faktum. Diese Erzählung verdichtet eine Fülle von Frömmigkeitswelten, ist eine Variation des Themas der Konkurrenz zwischen der Ehe mit Christus, die Elisabeth wenigstens für die Zeit nach dem Tod ihres Ehegatten 38

S. hierzu WOLF, NORBERT, Die Macht der Heiligen und ihrer Bilder, Stuttgart 2004,

210. 39 S. hierzu FELD, HELMUT, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 256–268. 40 Umgekehrt können dann die Abbildungen dieses Geschehens zu einer Repräsentation der tatsächlichen Stigmatisierung werden, wie KRÜGER, KLAUS: Repräsentation und Sinnstiftung. Zum Franziskusbild im Medium der frühen Tafelmalerei, in: Dieter Bauer R. u.a. (Hg.), Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln u.a. 2005, 251–270, 258f, etwa an den Beispielen von Bildern, die nach Entfernung der Stigmata diese neu erhalten und sogar bluten, eindrücklich zeigen kann. 41 Das Leben des Heiligen Ludwig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der Heiligen Elisabeth. Nach der lateinischen Urschrift übersetzt von Friedrich Kädiz von Salfeld, hg. v. Heinrich Rückert, Leipzig 1851, 35f (Buch III.8). 42 S. LEPPIN, EBERHARD, Die Elisabethkirche in Marburg. Ein Wegweiser zum Verstehen, Marburg 1983, 29.

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anstrebte, und der tatsächlichen Ehe, wie sie sich anderwärts im Braut-Bräutigambild niederschlug, ist aber auch Ausdruck für die Umsetzung einer Repräsentationserzählung par excellence: Der Gedanke aus Mt 25,40, dass jemand das, was er dem Geringsten unter Christi Brüdern getan habe, diesem selbst getan habe, gewinnt hier unmittelbare und zugleich pointenhaft zugespitzte Gestalt. Die Präsenz Christi im Objekt der Zuwendung oder im Subjekt der Nachfolge: Elisabeth oder Franz, beide stellen Modelle dar, wie diese Präsenz und Repräsentation intensiver gedacht werden konnte als in früheren Jahrhunderten. Und eben dieser Gedanke erfuhr im späten Mittelalter vielfache Weiterentwicklungen, die sich auch jenseits der Konzeption exzeptioneller Heiligkeit bewegen konnten. Entscheidend für diese Vermittlung ist wohl die mystische Frömmigkeit. In einer berühmten, vielfach interpretierten Predigt thematisiert Eckhart das Verhältnis von Anbetung und Tat anhand einer Heiligengestalt: Maria Magdalena, die für ihn wie überhaupt für die mittelalterliche Frömmigkeit mit der Maria aus Lk 10,38–42 identisch ist. Gegenüber Beginen bzw., in den Dominikanerorden integrierten ehemaligen Beginen schärft er ein, dass es nicht allein darum gehe, die visionäre Anbetung Mariens nachzuahmen, sondern das eigene Leben auch auf die Tat des Dienens auszurichten43. Bedenkt man, dass sich die Mahnung in einem Kontext entfaltet, in dem die Lehren vom Seelenfünklein und von der Gottesgeburt in der Seele Jesus Christus in ganz besonderer Weise als präsent im Menschen – statisch schon immer da im Seelenfünklein oder dynamisch entstehend in der Gottesgeburt – denkt, so wird deutlich, wie sich hier der Gedanke einer durch das christliche Leben vermittelten Repräsentation Christi im Einzelnen neu formiert, und zwar so, dass nun nicht mehr die Repräsentanz Christi durch einen Menschen für einen anderen im Vordergrund steht, wie es noch bei Franz von Assisi der Fall war, sondern die Präsenz wird unmittelbar in jedem Menschen erfahrbar: Der durch die Präsenz Christi ausgezeichnete Mensch – und dies kann spätestens bei Tauler dann jeder Mensch sein – ist nicht mehr auf Re-präsentanz angewiesen. Jene Doppelung von Christi himmlischem Körper einerseits und seiner innerweltlichen Konkretion andererseits, wie sie sich im eucharistischen Element zeigte, findet nun nicht mehr im Gegenüber zu den Glaubenden statt, sondern ist in die Glaubenden selbst eingekehrt: Aus der Repräsentation durch eucharistische Elemente, durch Reliquien, Priester oder Heilige, wird in einer Zeit, die auch in anderen Bereichen – es sei nur an die papalisti-

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S. hierzu MIETH, DIETMAR, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, (SGKMT 15), Regensburg 1969.

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schen Konzeptionen der potestas directa des Papstes erinnert – durch Immediatisierung gekennzeichnet war44, die unmittelbare Präsenz im Glaubenden. Mit dieser Immediatisierung als einem das frühe vierzehnte Jahrhundert prägenden Phänomen verbindet sich aber zugleich ein Problem, das sich fast von den Anfängen an mit der mystischen Bewegung verbindet. Als signifikant kann man die Verurteilung der rheinischen Beginen durch die Bulle Ad nostrum qui auf dem Konzil von Vienne 1311 nennen, denen unter Anderem vorgeworfen wurde, eine Gottunmittelbarkeit zu beanspruchen, die sakramentale Heilsvermittlung unnötig mache45. Damit ist der heikle Punkt jener Wandlung von Repräsentation zu Präsentation – die, daran sei erinnert, nicht das gesamte Frömmigkeitsleben erfasst, sondern nur Ströme darin – erreicht: die implizite und explizite Wendung gegen die klerikale Heilsvermittlung. Wer – unabhängig vom Geschlecht – die Präsenz Christi in sich erfährt, braucht den Repräsentanten Christi nicht, als der ihm nach der Lehre des Thomas der Priester entgegentritt. Und so ist es kein Zufall, dass eben in diesem Kontext das Bild vom königlichen Priestertum aus 1 Petr 2,9 aktualisiert wird, wenn Johannes Tauler schreibt: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“46 – eine Aussage, die übrigens ausdrücklich auch für Frauen gilt47. Diese Aussage ist weder im Sinne eines gemeinsamen noch im Sinne eines allgemeinen Priestertums zu deuten: Es geht um eben jenen Prozess der Immediatisierung, der sich auch anderwärts feststellen und beschreiben lässt, der aber strikt an eine besondere Haltung, jene Gottandächtigkeit, gebunden ist, die den mystisch bewegten, ganz auf Gott bezogenen Menschen kennzeichnet. So sehr dies eine Grenze zur späteren reformatorischen Theologie markiert, so deutlich wird doch, wo und wie hier die Transformation bei Luther einzusetzen vermag: Luther greift dasselbe Bild vom Priestertum auf, radikalisiert es aber gegenüber Tauler: Nicht allein der gottandächtige Mensch ist nun ein Priester, sondern: „Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey“48. Nicht mystische Frömmigkeit, sondern elementare Christlichkeit, wie sie in der Taufe nicht selbsttätig erworben, sondern durch Gottes Gnade zugesprochen wird, begründet nun die Unmittelbarkeit zu Gott für jeden und jede in der Christenheit. Trotz der damit begründeten unmittelbaren Nähe Christi zu jedem Gläubigen ist der Gedanke einer Repräsentanz freilich bei Luther nicht aufgeho44

S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003, 169f. 45 DS 371991 Nr. 899. 46 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. v. Ferdinand Vetter, (DTMA 11), Berlin 1910 (= 1968), 164,34–165,1. 47 Predigten Taulers 165,15–17. 48 WA 6,408,11f.

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ben, ja, man kann geradezu sagen, dass er so wie er in der Ausdehnung der Priesterlichkeit auf alle Gläubigen mystische Ansätze radikalisiert, an dieser Stelle weniger radikal ist als zumindest die impliziten Auffassungen der Mystiker, insofern er die göttliche Stiftung des Amtes als maßgeblich für die Vermittlung des Wortes Gottes beschreibt und benennt. Zwar gibt es keinen Priester als Repräsentanten Christi mehr, wohl aber einen Amtsträger als Tradent des Wortes, das seinerseits Christus, wie oben ausgeführt, bei seinen Gläubigen präsent macht und diese unmittelbar auf ihn bezieht.

3. Topographische Repräsentanz Wenigstens ein weiterer Punkt der Transformation von Repräsentationsfrömmigkeit im späten Mittelalter sei genannt, weil er sich wiederum in besonderer Weise mit Frömmigkeitsformen verbindet, auf die die Reformation nicht nur des Wittenberger Typs scharf reagiert hat: mit dem Ablasswesen. Zu den wichtigsten Ermöglichungen von Ablässen dienten in der mittelalterlichen Frömmigkeit nicht allein die Jubeljahre, deren Feier ab dem Jahr 1300 die Ablassfrömmigkeit erst richtig in Gang gebracht hat, sondern auch Translokationen49: Ad-instar-Ablässe, d.h. Ablässe „nach Art“ eines anderen Privilegs, ermöglichten es, den einem Ort geltenden Ablass auf einen anderen zu übertragen50. Besondere Bedeutung gewannen hier der Ablass von San Marco in Venedig und der Portiuncula-Ablass aus Assisi, der auf hunderte von Orten – auch die Wittenberger Schlosskirche51 – übertragen wurde52. So wie es bildlich möglich wurde, heiliges Geschehen in ein vertrautes regionales Umfeld zu versetzen und damit näher an die Glaubenden zu bringen53, so wurde auch das mit Orten verbundene Heil, das eigentlich der Wallfahrer in Italien erfahren sollte, durch den ad-instar-Ablass in Sachsen erwerbbar und gültig. Kaum anders steht es mit jenen vielen Nachbildungen des Heiligen Grabes54, die immer wieder auch die Möglichkeit mit sich brachten, Ablass zu erwerben55 – das erste Beispiel hierfür auf deutschem Boden ist das um 1080 entstandene

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Dieses Thema wird von ANGENENDT, Religiosität (wie Anm. 8), 209, nur knapp tangiert; vgl. ausführlicher HAMM, Theologie und Frömmigkeit (wie Anm. 12), 188. 50 PAULUS, Geschichte des Ablasses (wie Anm. 29), 132f. 51 JUNGHANS, HELMAR, Martin Luther und Wittenberg, München / Berlin 1996, 16; KÜHNE, ostensio reliquiarum (wie Anm. 5), 405. 52 PAULUS, Geschichte des Ablasses (wie Anm. 29), 132; ANGENENDT, Religiosität (wie Anm. 8), 655. 53 S. hierzu JARITZ, GERHARD, Bildquellen zur mittelalterlichen Frömmigkeit, in: Dinzelbacher / Bauer (Hg.), Volksreligion (wie Anm. 4), 195–242, 212. 54 S. hierzu RUBIN, Corpus Christi (wie Anm. 5), 294–297. 55 DINZELBACHER, Handbuch (wie Anm. 31), 244. 257–259.

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Heilige Grab in der Stiftskirche von Gernrode56, für das noch die Liturgie in einer Niederschrift von 1502 dokumentiert ist57. Bezeichnend ist, dass auch dieses frühe Denkmal erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwähnt wird58: In dieser Zeit steigerte ich die Aufmerksamkeit für solche Repräsentationsbauten der heiligen Stätten. Ein typisches Beispiel dieser spätmittelalterlichen Frömmigkeit entstand 1481 bis 1504, am Vorabend der Reformation, in Görlitz. Seine Erbauer bemühten sich, die Maße der Heiligen Stätten nachzuahmen, die der Stifter Georg Emmerich von seiner fast zwanzig Jahre vor Baubeginn vollzogenen Pilgerfahrt nach Jerusalem mitgebracht hatte59. So wurden die heiligsten Stätten Teil einer heiligen Geographie, die sich nicht mehr der kartographisch erfassbaren Geographie unterwarf, sondern die eigentlich ortsgebundene Heiligkeit in Bewegung brachte. Nicht der heilige Ort, der in Wallfahrten schwer zu erreichen war, rückte näher, wohl aber die Heiligkeit des Ortes, und allein darauf kam es ja an. Wiederum liegt hier ein deutlicher Form der Repräsentation des einen Ortes durch den anderen vor, wobei die Repräsentation den Vorteil mit sich bringt, die Vorzüge des repräsentierten Ortes auf den repräsentierenden zu übertragen. Doch war diese in der Reformationsgeschichtsschreibung gerne beschriebene und mit gutem Recht zur Erklärung mannigfacher Kritik in der reformatorischen Ablasspolemik herangezogene Entwicklung nicht der einzige Umgang mit der Heiligkeit von geographischen Gegebenheiten. Es gab auch eine Übertragung von heiligen Plätzen in die Gegenwart der Menschen, die nicht an das Ablasssystem gebunden war, sondern an die Erfahrung einer eigenen Wirklichkeit im Angesicht Gottes. Gelegenheit hierzu boten Situationen, die sich im Horizont der biblischen Heilsgeschichte deuten ließen. Wenn etwa Wilhelm von Ockham sein Exil in München als „Patmos“ bezeichnete60, so machte er damit sein eigenes Schicksal durchsichtig für das Geschehen in der Offenbarung des Johannes, stilisierte sich selbst als Repräsentanten dieses Johannes im 14. Jahrhundert. Was hier im kleinen Maßstab geschieht, haben dann die Hussiten mit Großzügigkeit vollzogen: Vor dem chiliastischen Hintergrund ihrer Frömmigkeit machten sie – so wie schon Franz von Assisi den Berg Alverna als Ort der Vollendung der Welterlösung identifiziert hatte61 – 56

VOIGTLÄNDER, KLAUS, Die Stiftskirche zu Gernrode und ihre Restaurierung 1858– 1872, Berlin 1980, 87–104. 57 VOIGTLÄNDER, Stiftskirche (wie Anm. 56), 87f. 58 VOIGTLÄNDER, Stiftskirche (wie Anm. 56), 87. 59 S. hierzu LEMPER, ERNST-HEINZ, Kreuzkapelle und Hl. Grab Görlitz, München 1992, 4f (zum Ablass ebd. 6); Ines Anders / Marius Winzeler (Hg.), Lausitzer Jerusalem. 500 Jahre Heiliges Grab zu Görlitz, Görlitz 2005, hierin insbesondere der Beitrag von SEIFERT, SIEGFRIED, Das Heilige Grab in Görlitz – ein Zeugnis mittelalterlicher Frömmigkeit (30–37). 60 „Per istos, inquam, indictus, sum cum aliis Christicolis cum iniuria in Patmos deportatus.“ (OPol 4, 15,25f). 61 FELD, Franziskus von Assisi (wie Anm. 39), 256.

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Repräsentationsfrömmigkeit

ganz Böhmen zum Ort der Endzeit und damit zu biblischen Landschaft. Die Bezeichnung als „Taboriten“ für den radikalen Flügel geht ja eben auf diesen Vorgang zurück, dass Berge in Böhmen mit biblischen Namen – Tabor, Horeb, Ölberg – benannt wurden62, dass in ihnen also das Heilige Land neu präsent wurde. Dieses Phänomen zeigt, dass es falsch wäre, die Translozierbarkeit, wie sie sich in den Ad-instar-Ablässen und Ähnlichem zeigt, ausschließlich vom Phänomen des Ablasses her zu deuten. Zugrunde liegt offenbar eine Mentalität, die es ermöglicht, heilige Orte sei es metaphorisch – wie möglicherweise in dem Ockham-Zitat –, sei es aber auch heilsgeschichtlich-real wie wohl bei den Taboriten, an anderen Orten präsent bzw. repräsentiert werden zu lassen. Der Ort ist der Heiligkeit untergeordnet, nicht die Heiligkeit dem Ort. Und eben dies lebt in der reformatorischen Frömmigkeit fort, die sich von den mit dem Ablass verbundenen Formen der Repräsentation selbstverständlich rasch und entschieden abgrenzte: Eben jenes Patmos Ockhams gibt es auch bei Luther wieder, wenn er seinen erzwungen Wartburgaufenthalt so deutet63, und seltener beobachtet, aber noch charakteristischer ist seine Deutung der Zeit auf der Veste Coburg, von der aus er 1530 beobachten musste, wie das Geschehen auf dem Augsburger Reichstag weitgehend in der Hand der Fürsten bzw. theologisch in der Hand Melanchthons lag: Da wähnte er sich auf dem Sinai64, und es liegt nahe, die aktuellen Bezüge herauszustreichen. Wenn Luther der Mose auf dem Sinai war, so musste es wohl auch einen Aaron in der Wüste unterhalb des Berges geben. Luther sprach es nicht aus, aber die Zwischentöne lassen die Warnung an Melanchthon erkennen. So wie Luther selbst als Repräsentant Elias gedeutet werden konnte65, formt auch seine Biographie die Geographie je nach heilsgeschichtlicher Lage um. Dies bewegt sich natürlich im Bereich des Metaphorischen, aber es ist doch auch ein letzter Ausläufer jener Aspekte mittelalterlicher Frömmigkeit, die zunehmend den frühen Gedanken von der Heiligkeit bestimmter Orte dazu transformierte, dass Orte ihre Heiligkeit nicht aus sich heraus hatten, sondern durch die Berührung mit Heiligkeit, die durchaus neue Orte suchen und an diesen – freilich nur momenthaft und vorübergehend66 – präsent werden konnte. 62

S. hierzu LAMBERT, MALCOLM, Häresie im Mittelalter. Von den Katharern zu den Hussiten, Darmstadt 2001, 333. 63 WA.B 2, 355, 37f (Nr. 417); 490,9 (Nr.470) u.ö. 64 WA.B 5,285,3–6. 65 Z VII 114,7. 66 ROSS, ELLEN, Divsersities of Divine Presence. Women’s Geography in the Christian Tradition, in: Jamie Scott / Paul Simpson-Housley (Hg.): Sacred Places and Profane Space. Essays in the Geographics of Judaism, Christianity, and Islam, New York u.a. 1991, 93– 114,94f, spricht von vier Typen heiliger Orte: „Land as Sacred Presence“, „Historical Place as Sacred Presence“, „Created Space as Sacred Place“ und „Landed Eruptions of the Sacred“. Mit diesem Begriffsinstrumentarium könnte man die dauerhafte Verlagerung von Heiligkeit

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So findet sich hier ein weiterer Baustein für eine Liste von Formen der Repräsentationsfrömmigkeit in Mittelalter und Reformation: eine Liste, die lang werden könnte, weil sich dieser Modus von Frömmigkeit an die verschiedensten Konzepte heften kann: Der Durchgang hat bei dem Paradefall der Eucharistie eingesetzt und diesen über die Heiligkeit der Heiligen und ihre Folgen weitergeführt bis zu dem zunächst scheinbar fern stehenden Konzept topographischer Wahrnehmung. Gerade die Vielfalt67 zeigt, wie schwierig es nach dem heutigen Stand der Forschung noch immer ist, die spätmittelalterliche Frömmigkeit unter einen oder auch nur unter wenige Begriffe zu bringen – es sei denn: den der Vielfalt. Zu den Kristallisationskernen innerhalb dieser Vielfalt aber dürfte jene Vorstellung von Repräsentation gehören, die Präsenz des Heiligen in dieser Welt ermöglicht.

auf andere Orte durch den ad-instar-Ablass und dergleichen unter den dritten, die heilsgeschichtliche Transformierung in Luthers Leben hingegen unter den vierten Typus subsumieren. 67 Vgl. HAMM, Theologie und Frömmigkeit (wie Anm. 12), 186: „Pluralität im Sinne von Ausdifferenzierung ist eines der hervorstechenden Merkmale der Frömmigkeitsentwicklung seit der Mitte des 14. Jahrhunderts“; ähnlich über die Theologie SCRIBNER, Wahrnehmung (wie Anm. 16),105.

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler Die Fragestellung dieses Beitrages verdankt sich einem umfassenderen Forschungskontext: Mein Weg von der Scholastik zur Mystik war, aus mediävistischer Sicht gesprochen, ein Umweg, der, für einen evangelischen Kirchenhistoriker nicht verwunderlich, über die Reformationsgeschichte, speziell über die Lutherforschung erfolgte. Kurz zusammen gefasst: Ich meine, eine ganze Anzahl von Indizien dafür beisammen zu haben, dass die reformatorische Theologie Martin Luther sich zu guten Teilen aus seiner Mystikrezeption erklärt1 – was umgekehrt bedeutet: Die spätmittelalterliche Mystik, und dabei denke ich insbesondere an die auch heute noch gelegentlich „Deutsche Mystik“ genannte deutschsprachige Dominikanermystik des Oberrheins im vierzehnten Jahrhundert, enthält theologische Elemente und Grundstrukturen, die in der reformatorischen Theologie rezipierbar waren, ja, die ausgesprochen produktiv rezipiert wurden und zur Genese reformatorischer Theologie beigetragen haben. Insofern folge ich mit den folgenden Überlegungen einer auch reformationshistorischen Heuristik, aber nicht im Sinne des veralteten Konzeptes von „Reformatoren vor der Reformation“2, sondern im Sinne der Fragestellungen, die vor etwas mehr als einer Generation Heiko Augustinus Oberman an scholastische Texte herangetragen hat3: Es geht mir um die Rekonstruktion jener für reformatorisches Denken rezeptionsoffenen Teile mystischer Theologie in ihrem ursprünglichen Entstehungs- und Denkzusammenhang. Im innerevangelischen Diskurs bedeutet diese Methodik gewissermaßen den permanenten Ruf danach, die Neuheit Luthers nicht zu überschätzen, aber nicht auf Kosten der genuinen mediävistischen Einordnung der mystischen Theologen, sondern gerade mit ihrer Hilfe. Da die Anthropologie, zumal die exzentrische Personbegründung, zu jenen Elementen der Theologie Luthers gehört, mit denen durch Wilfried Joest4 und 1 Cf. meinen Aufsatz „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261–277. 2 S. ULLMANN, CARL, Reformatoren vor der Reformation, vornehmlich in Deutschland und den Niederlanden. 2 Bde., Gotha ²1866. 3 OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation 1. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 196. 4 JOEST, WILFRIED, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967.

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler

andere die Lutherforschung der vergangenen sechzig Jahre in besonderer Weise Luthers Besonderheit herauszustreichen suchte, habe ich die Gelegenheit einer auf Anthropologie konzentrierten Fragestellung gerne genutzt, dieser Frage bei Tauler nachzugehen5. Indem ich also die externe Personkonstitution bei ihm nachzeichne, werde ich als erstes das hierfür entscheidende Konzept der Gottesgeburt in der Seele in den theologischen Gesamtzusammenhang einordnen, dann die anthropologische Fundamentalbedeutung dieser Gottesgeburt herausarbeiten, um schließlich kurze Erwägungen zum Bezug auf das Gesamtthema des Kongresses – Selbstbewusstsein und Person – anzustellen.

1. Die Gottesgeburt: Vorstellung einer exemplarischen Predigt Das Thema der Gottesgeburt hat einen prominenten Platz in Taulers bekanntlich nicht sehr umfangreichem Œuvre: Es steht im Mittelpunkt der ersten Predigt der Sammlung von Taulers Predigten, die noch zu dessen Lebzeiten und möglicherweise auch unter seinem Einfluss zusammengestellt worden ist6. Dies erklärt sich zum einen aus dem Prinzip der Anordnung dieser Sammlung, die dem Kirchenjahr folgt und mithin mit der Advents- und Weihnachtszeit zu beginnen hat. Indem der Advent übersprungen wird, steht nun eine Weihnachtspredigt am Beginn, was die Thematik der Gottesgeburt nicht weiter erklärungsbedürftig macht. Freilich ist die Tatsache, dass der Advent gewissermaßen übersprungen wird, doch auch in Indiz dafür, dass hier nicht nur dem Systemzwang chronologischer Anordnung gefolgt wird, sondern auch inhaltlich gewichtet werden sollte. Die Gottesgeburt zieht sich als Thema durch die Predigten und stellt so in der ersten Predigt gewissermaßen die Summe des Ganzen dar. Tatsächlich ist die Predigt 1 auch eine der theologisch dichtesten im gesamten Œuvre Taulers. Das dem weihnachtlichen Prophetentext Jes 9: „Puer natus est nobis et filius datus est nobis“ entnommene Motiv wird unter Nutzung des mehrfachen Schriftsinns in dreifacher Hinsicht ausgedeutet: Die Rede ist nach Tauler von der innertrinitarischen Geburt des Sohnes durch den Vater, zum zweiten – das wäre wohl für Tauler dann der historische Sinn des Prophetenwortes – von der Geburt Jesu in der Zeit, und zum dritten von der Geburt Gottes in der Seele des glaubenden Menschen. Diese allegorische Lektüre verschränkt nicht nur mehrere Sinnebenen, sondern auch mindestens 5

Zu Biographie und Werk Taulers s. LEPPIN, VOLKER, Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), 745–748. 6 Zur – gelegentlich überscharfen – Kritik an dieser Forschungsrichtung vgl. SAARINEN, RISTO, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des GegenwartChristi-Motivs in der Lutherforschung, Wiesbaden 1989.

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zwei metaphorische Ebenen: nicht nur der Text wird allegorisch gelesen, sondern auch die verschiedenen Weihnachtsmessen werden einer solchen allegorischen Deutung zugeführt und damit auf die verschiedenen Weisen der Geburt bezogen7. In dieser Deutung wird die historische Geburt Jesu geradezu zerrieben: Zwar nennt Tauler sie zunächst in seiner Aufzählung an zweiter Stelle, kommt aber im Verlauf der Predigt erst an dritter Stelle auf sie zu sprechen, und dann auch nur sehr kurz, indem er eine erneute metaphorische Schleife zieht: Durch die historische Geburt kommt er auf Maria zu sprechen – und indem er diese wiederum allegorisch auf die gläubige Seele deutet, ist er rasch bei der wohl eigentlich intendierten inneren Gottesgeburt in der Seele. Insofern kann man sich für die Interpretation dieser Predigt auf die innertrinitarische und die innerseelische Gottesgeburt beziehungsweise ihr Verhältnis zueinander konzentrieren: Unter Berufung auf Boethius und Augustin wird die innertrinitarische Gottesgeburt in neuplatonischer Terminologie als „uzgiesse(n)“ gedeutet8 und damit die göttlichen Selbsthervorbringung als wesenhaft göttlich gedeutet. Noch bedeutsamer allerdings ist, dass gewissermaßen in einem Atemzug mitgeteilt wird, dass „der vatter such uzgegossen [hat] an dem usgange der götlichen personen, und vor [ferner] hat er sich entgossen an die creaturen“9 – der innertrinitarische Selbsthervorbringungsakt ist also – was neuplatonischem Denken ja auch immer wieder vorgeworfen wurde – vom Schöpfungsakt kaum klar getrennt, sondern ein formal gleicher, in sich freilich abgestufter Vorgang. Übrigens steht dies durchaus in Spannung zu anderen kosmologischen Aussagen, in denen Tauler ganz deutlich das Konzept einer creatio ex nihilo benennt: „Er machte alle ding von nute“10. Dieser Denkhorizont erzwingt es nicht, macht es aber doch plausibel, die als verschiedene allegorische Deutungsebenen gemeinsam auf die biblische Gottesgeburt bezogenen Ebenen von immanenter Trinität und innerem Seelengeschehen, auch sachhaft näher zu denken: Die innertrinitarische Selbstunterscheidung, bei der der Vater sich selbst unterscheidet und doch mit sich

7

Zur Einbindung der allegorischen Textinterpretation in ein allegorisches Liturgieverständnis vgl. LEPPIN, VOLKER, „Als wir dieses spise essent, so werden wir gessen“. Reale und metaphorische Nähe Christi bei Johannes Tauler, in: Jörg Frey / Jan Rohls / Ruben Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie, Berlin 2003 (TBT 120), 167–177; FAUPEL-DREVS, KIRSTIN, Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum. Mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296), Leiden u.a. 2000 (SHCT 89). 8 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Hs. sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Hss., ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910 = Dublin 1968 (DTMA 11), 8, 23. 9 Ebd. 8,23f. 10 Ebd. 205,5.

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler

identisch bleibt11, wird nun zum Vorbild für den Menschen, der „in sich gon und denne usser sich gon“ soll12. Die Analogie nimmt Tauler wiederum von Augustin auf, der die Seelenkräfte memoria, intellectus und voluntas bekanntlich als vestigia trinitatis gedeutet hatte. Alle drei Kräfte sind, so Tauler, dem Irdischen zguewandt13, und hier muss nun ein „widerlouf“ geschehen14 – dieser erfolgt dadurch, dass die Seele des Menschen ganz leer wird „itel, lidig und wan“15: Nun aber gilt von Gott: „Gott müsse do alzuomole erfüllen, der himel risse e und erfulte daz itel, und Got lot nu vil minre die ding itel, es wer wider alle sin nature und wider sin gerehtikeit“16. Tauler beschreibt also eine Art horror vacui Gottes: Gott kann die Leere nicht dulden und füllt sie darum selbst aus. Dies ist der Moment der Gottesgeburt, anders ausgedrückt: das „usser sich gon“ des Menschen. Es handelt sich offenkundig um eine zweiseitige Dynamik, bei der einerseits Gott in den Menschen, andererseits der Mensch in Gott gezogen wird. Die Hauptforderung an den Menschen als dispositio hierzu ist das Lassen seiner selbst, das reine Leiden: „Denne sol do geschehen ein uzgang, jo ein ubergang usser ime selber und uber in, do sullent wir verlougenen allen eigenschaft wellens und begerens und wurckens“17. Dies ist die konsequente Folgerung aus dem augustinischen Sündenverständnis, das in concupiscientia – wieder erkennbar im „wellen und begeren“ – wie in der reinen Selbstbezüglichkeit die Hauptmerkmale der sündigen Struktur des Menschen erkannt hatte. Nur wenn der Mensch hiervon frei ist, wirkt Gott in ihm, dann freilich ganz. Und er wirkt als der trinitarische Gott, ja nimmt den Menschen geradezu in dieses trinitarische Geschehen hinein, wenn er selbst in ihm die Gottesgeburt geschehen lässt.

2. der „edle Mensch“ und seine Konstitution durch die Gottesgeburt Das Frappierende nun, das aus dieser soteriologischen Rahmensetzung eine im eigentlichen Sinne anthropologische Bestimmung macht, ist wiederum eine Vernetzung des Taulerschen Denkens, die ihn zu der Aussage führen kann, dass die Gottesgeburt letztlich die Geburt des Menschen sei:

11

Ebd. 8,32–34. Ebd. 9,8f. 13 Ebd. 9,9–18. 14 Ebd. 9,19. 15 Ebd. 10,3. 16 Ebd. 10,9–11. 17 Ebd. 9,28–30. 12

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„also der sun wurt geborn zu dem vatter und widerflusset in den vatter, also wurt dis mensche in dem sune von dem vatter geborn und flusset wider in den vatter mit dem sune und wurt eine mit ime“ 18.

In einem gewissen Sinne ist also die Gottesgeburt in der Seele als konstitutiv oder mindestens restitutiv für den Menschen und seine Existenz zu verstehen. Dass damit nicht der Mensch in seiner schöpfungsmäßigen leib-seelischen Existenz gemeint sein kann, ist unmittelbar einleuchtend. Um dies zu präzisieren, führt Tauler an anderen Stellen die Unterscheidung zwischen dem semantisch ausdrücklich vom moralisch „guten“ Menschen unterschiedenen19 „edlen“ Menschen und dem „natürlichen“ Menschen ein. Dieser Entgegensetzung entspricht das Gegensatzpaar innerer oder inwendiger Mensch und äußerer oder natürlicher Mensch. Der innere, edle Mensch ist der von Gott in das Heilsgeschehen hineingenommene, in mystischer Wechselwirkung in Gott gesogene Mensch. Der natürliche Mensch hingegen ist derjenige, der sein Vertrauen ganz auf Äußeres setzt, das kann die eigene Vernunft sein20, wenn sie gewissermaßen anstelle Gottes die Orientierung des Menschen übernimmt. Das können ausdrücklich auch die eigenen, „guotschinenden“ Werke sein21. Diese Bestimmungen machen deutlich, dass die Opposition innerlich – äußerlich keineswegs in simpler Weise in einen Seele-Leib-Gegensatz zu projizieren ist: Es geht hier nicht etwa um unterschiedliche Bereiche des Menschen, sondern um unterschiedliche Bezugssysteme. Ausdrücklich benennt Tauler auch das Problem eines mit seinen höchsten Seelenkräften den zeitlichen Dingen zugewandten Menschen22. Die Taulersche Anthropologie als Dichotomie aufzulösen23, griffe also viel zu kurz, eher haben wir es mit einer relationalen Anthropologie zu tun24. Um so stärker stellt sich die Frage, wie der ja durchaus auch für Tauler dichotomisch als Seele und Leib oder, im Anschluss an Plotin, trichotomisch

18

Ebd. 301, 27–29. Ebd. 92,11–13. 20 Ebd. 288,1–3. 21 Ebd. 288,2. 22 Ebd. 9,15–17. 23 Hierzu neigt GNÄDINGER, LOUISE, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, 130–132, auch wenn sie durchaus den äußeren Menschen von seiner Zuwendung zur Sinnenwelt her interpretiert – insgesamt aber bleibt die Dominanz der Einteilung anhand bestimmter Seelenvermögen. 24 So schon HAAS, ALOIS MARIA, Nim din selbes war. Studien zur Lehre v. der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler u. Heinrich Seuse, Freiburg i. Ue. 1971 (Dokimion 3), 133f; DERS., Gottleiden-Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt / M. 1989, 84. 19

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler

als Leib, Geist und Seele25 beschreibbare Mensch der Schöpfung zu verbinden ist mit jenem durch die Gottesgeburt neu konstituierten oder restitutierten Menschen. Der Punkt, an dem beides zusammenkommt, ist der Seelengrund26. Die oben erwähnte Rückführung des Menschen bedeutet letztlich die Rückführung zu jenem Grund, in dem wir das Bild der Trinität zu erkennen vermögen27, das heißt: in uns tragen. Tauler baut hier also auf der biblisch begründeten Anthropologie der Gottebenbildlichkeit auf, die ja in gewisser Weise auch im Rahmen der Gottesgeburt thematisiert wird, wenn hier die Einteilung des Menschen in Gedächtnis, Verstehen und Wille als vestigium trinitatis gedeutet wird. Das Konzept der Gottebenbildlichkeit ist so tief in seinem Denken verankert, dass er gerade auch über den Bildbegriff den Heilsweg des Menschen beschreiben kann, indem er es unter Berufung auf Proklos als notwendig beschreibt, dass der Mensch aller irdischen Bilder ledig werde, um ganz Gottes Ebenbild sein zu können28. Wiederum geht es also um die nun als Abbildrelation ausgedrückte rechte Relation, wobei auffällig der Numerus ist, in dem gesprochen wird: das eine, in sich trinitarisch gestaltete Abbild Gottes steht den vielen Bildern der Welt gegenüber. Die von Gott her gedachte Ursprungsrelation bringt schon einen Einheitsgedanken mit sich, der in der auf die Welt bezogenen Erkenntnisrelation der Bilder nicht ausdrückbar ist. Dieser Seelengrund ist nun nach Tauler offenkundig im Grundsatz unversehrt erhalten geblieben. Nirgends thematisiert er eine Korruption dieses Grundes oder dieses Abbildes selbst. Man wird aber wohl davon ausgehen dürfen, dass er die von Irenäus her tradierte Differenz von imago und similitudo vielleicht nicht begrifflich kannte, aber doch der Sache nach weitergab, 25

TAULER, Predigten (wie Anm. 8), 365,30–366,9; vgl. zu diesem Dreierschema und seinen plotinischen Hintergründen GNÄDINGER, Tauler (wie Anm. 23), 133; RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 496f. Letzterer gibt dem Dreierschema geradezu eine zentrale Stellung, die der großen Bedeutung des Zweierschemas nicht ganz gerecht wird (ähnlich SCHLÜTER, DIETRICH, Philosophische Grundlagen der Lehren Johannes Taulers, in: Ephrem Filthaut [Hg.], Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag, Essen 1961, 122–161, 125f). GANDLAU, THOMAS, Trinität und Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg u.a. 1993 (FThSt 150), 45–54, macht den starken inneren Zusammenhang von Zweier- und Dreierschema deutlich, indem er äußeren, inneren und innersten Menschen unterscheidet. 26 Vgl. GNÄDINGER, Tauler (wie Anm. 23), 241; OZMENT, STEPHEN EDGAR, Homo spiritualis. A comparative study of the anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509–16) in the context of their theological thought, Leiden 1969 (SMRT 6), 18; ZEKORN, STEFAN, Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993 (SSySpTh 10), 53. 27 TAULER, Predigten (wie Anm. 8), 300,1–4. 28 Ebd., 26,16–22; 300,27–301,4.

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insofern der Gedanke der Rückführung und der ihr vorausgehenden Entfernung des Menschen von Gott und der Gottebenbildlichkeit unter gleichzeitigem prinzipiellen Erhalt des Seelengrundes als Ort der Ebenbildlichkeit jedenfalls eine von der imago unterscheidbare Ebene der Entfremdung von Gott voraussetzt – eben in jener erwähnten Hinwendung des Menschen zur Welt, die eine Verkehrung des Grundes bedeutet, die umzukehren der Mensch aufgerufen ist29. Dies beschreibt er nur äußerst selten unter Rekurs auf den Sündenfall, den er als „vergiftikeit des ersten valles“ freilich auch keineswegs negiert30. Sein Akzent allerdings liegt nicht auf der Entstehung der Verkehrung des Menschen, sondern auf der dadurch gegebenen ontologischen Bestimmtheit des jetzigen Menschen. Mit diesem Begriff der Umkehr, „keren“31, ist auch das semantische Feld angesprochen, das sich jenseits der neuplatonischen Vorstellungen im Horizont traditioneller christlicher Terminologie eröffnet: Der Vorgang der Umkehr ist der Grundvorgang der Buße. Tauler konzentriert die Buße in ihrem Dreischritt aus contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis elementar auf den ersten Schritt: Abkehr vom Irdischen versteht er als Reue32, wobei eben Abkehr vom Irdischen immer auch und vor allem heißt: Abkehr von allem Eigenen33 – diese Konzentration auf das innerliche Geschehen im Gewissen vor Gott ist ein in mystischem Horizont naheliegender Schritt, der freilich implizit auch ein Unterlaufen kirchlicher Hierarchie bedeutet34. Zugleich bedeutet es aber, und nichts anderes lag wenigstens in der Intention Taulers, auch eine Bekräftigung tradierter kirchlicher Lehre, insofern der klassische erste Schritt des mystischen Heilsweges, die purgatio, hier als Element des sakramentalen Bußaktes interpretiert wird, der freilich seine Fülle weniger durch die weiteren Schritte des Bußsakramentes erfährt als durch den folgenden mystischen Schritt der illuminatio, die die Erleuchtung des Seelengrundes durch Gott bedeutet und als solche die Voraussetzung für die in der Gottesgeburt vollzogene unio darstellt35. Und insofern hier nun von einer Umkehr oder auch von einer Rückkehr die Rede ist, steht diese Gottesgeburt auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Schöpfungsausstattung des Menschen, ja restituiert diese gewissermaßen:

29

Ebd., 97,23–26. Vgl. ebd., 202,12–16. 31 Ebd., 97, 24. 32 Ebd., 36,10–15. 33 Ebd., 251,25–30. 34 Zum Spannungsverhältnis von klerikaler Hierarchie und Mystik vgl. LEPPIN, VOLKER, Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in diesem Band S. 171–187. 35 Ganz deutlich ist die unio-Konzeption ausgeführt in TAULER, Predigten (wie Anm. 8), 363,11–15. 30

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler

„Der innewendige edel mensch der ist zu dem edelen grunde der gotheit heruzkummen und ist gebildet nach dem edeln lutern Gotte, und ist do wider ingeladen und wider ingeruoffet und wurt wider gezogen, das er alles des guotes teilhaftig mag werden das der edel wunnencliche grunt hat von naturen, das mag su erkriegen von genoden“36.

Der edle Mensch ist nach diesem Satz gerade nicht erst durch die Gottesgeburt konstituiert, sondern wird offenkundig mit jenem Seelengrund gleichgesetzt, in dem von der Schöpfung her das Ebenbild Gottes präsent ist. Gottesgeburt also ist, ganz präzise gesprochen, nicht die Konstitution, sondern die Rekonstitution des wahren, edlen Menschen. Dem entspricht, dass nach Tauler Gott einerseits, wie beschrieben in der Seele des Menschen geboren wird, andererseits schon immer in dieser, nämlich in ihrem Grund „verborgen und bedecket lit“37. Wir haben es hier mit unterschiedlichen Aussagereihen zu tun, die nicht ohne weiteres logisch aufzulösen sind. Neben einer Beschreibung der Gottesbeziehung als dynamisch steht eine eher statische Beschreibung, die Gott als den immer schon präsenten versteht; Tauler kann dies auch unter Auslegung der biblischen Wendung vom Reich Gottes in uns ausdrücken, das dann nur noch zu suchen sei38. Der innere Zusammenhang ergibt sich daraus, dass das, worauf es Tauler im Zuspruch an seine Gemeinde ankommt, jenes dynamische Element ist: die durch Buße erfolgende Rückkehr, der Ermöglichungsgrund hierfür aber die statische Dimension des nie verlorene Ebenbildes und damit die Präsenz eben nicht nur eines Bildes, sondern Gottes selbst im Menschen nach seiner schöpfungsmäßigen Ausstattung. Beide Aussagereihen aber konvergieren darin, dass das eigentliche Sein des Menschen nicht nur von Gott herkommt – das wäre als kosmologische Aussage über Gott als den Schöpfergott innerchristlich einigermaßen banal, sondern dass das Sein letztlich in Gott ist. Die pure Passivität, die Tauler vom Menschen fordert, wenn er als Bedingung für die Gottesgeburt das Loslassen von allem Eigenen beschreibt, bedeutet, dass letztlich das Kommen in den eigenen Grund ein Kommen ins Nichts ist39: Nicht mehr der Mensch ist und wirkt, sondern Gott allein wirkt im Menschen40 und diese Menschen sind „erhaben uber sich selber“41. Und ausdrücklich erklärt Tauler für diese Gottesrelation, die von Gott her den schöpfungsgemäßen edlen Menschen neu konstituiert, dass der Mensch nichts sich zu eigen zu nehmen hat, sondern alles Gott zuzuschreiben habe42. Dies allerdings gilt, wohlgemerkt, nur für den erlösten Menschen: Taulers Anthropologie, sofern sie eine externe Personkonstitution vorträgt, ist nicht 36

Ebd., 25, 19–24. Ebd., 25,25. 38 Ebd., 144,1–7. 39 Ebd., 90,22–25. 40 Ebd., 23,8–15. 41 Ebd., 24,11. 42 Ebd., 64,9–11. 37

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eine allgemeine Anthropologie, sondern eine Anthropologie des Gläubigen, was freilich zugleich impliziert: Allein der Gläubige existiert und lebt in Entsprechung zur schöpfungsgemäßen Ausstattung des Menschen an sich.

3. Selbstbewusstsein und Person bei Tauler Mit dem Vorgetragenen habe ich dem ersten Anschein nach den Rahmen unserer Tagung ganz erheblich gesprengt: Was Tauler vorträgt, ist eine Lehre der Vernichtung des Selbst und hat prima facie mit Selbstbewusstsein wenig zu tun. Und doch bin ich der Meinung, dass es, unter den von Tauler gesetzten theologischen Vorzeichen, sehr deutlich in diesen Horizont hineinpasst – und dies, was Sie vielleicht am meisten erstaunen mag, auch in einer sozialhistorischen oder wenigstens sozialethischen Perspektive. Jene Zerstörung des Selbst, die nach Tauler die Voraussetzung der Gottesgeburt ist, ist ja streng genommen die Vernichtung eines Selbst als Ichbezogenheit, als Selbstverkrümmung. Es geht um die Umkehr der Ausrichtung des Menschen: vom Irdischen auf Gott bzw. von Gott her. Entscheidend ist nun aber die Stellung des Menschen in der Welt, die aus dieser neu konstituierten Relation entsteht. Die Aussage nämlich, dass Gott der sei, der alles im Menschen bewirke, führt nicht etwa zu einer Abwertung der banalen Tätigkeiten des Menschen, sondern geradezu zu einer welthaften Theologie und Anthropologie. Der von Gott geleitete Mensch ist für Tauler nicht allein der Mönch oder die Nonne im Kloster. Diese Beobachtung ist um so bemerkenswerter, als wir lediglich solche Predigten Taulers erhalten haben, in denen er sich an ein monastisches Publikum – in der Regel wohl in den Dominikanerorden zu integrierende Beginen – wendet. Die vielen Volkspredigten sind verloren43. Und doch finden wir in diesen Predigten Aussagen über eine Heiligung des Alltags, die wenigstens ungewöhnlich sind: Er ist wohl der erste, der ausdrücklich das Arbeitsleben der Menschen als „ruoff“ Gottes deutet44 und damit zwei Jahrhunderte vor dem hierfür in der Regel in Anschlag gebrachten Luther das deutsche Wort „Beruf“ vorprägt. Das Spinnen und Schustern wird bei ihm ausdrücklich zu einer Gnade, die der Geist Gottes wirkt45. Mit solchen Ausführungen aber gewinnt das eben theoretisch Ausgeführte eine deutliche Konkretion in der bürgerlichen Alltagswelt der Städte des späten Mittelalters: Tauler nobilitiert das Handwerk im Angesicht Gottes. Gerade weil es nicht das Tun des Menschen ist, das seine Gottesbeziehung konsti43

RUH, Mystik (wie Anm. 25), 490. TAULER, Predigten (wie Anm. 8), 243,13–22; vgl. GNÄDINGER, Tauler (wie Anm. 23), 311. 45 TAULER, Predigten (wie Anm. 8), 177,19–22. 44

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Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler

tuieren, sondern das ablassen von allem Eigenen und das Wirkenlassen Gottes, werden die Taten des Menschen ihrem materialen Gehalt nach heilsirrelevant. Das hat nicht nur den negativen Aspekt, dass sie zur Konstitution des Gottesverhältnisses nichts beitragen können, sondern es hat auch den positiven Aspekt, dass sie bei einer positiv gesetzten Gottesrelation prinzipiell alle als von Gott her kommend gedacht werden können, auch wenn Tauler natürlich, anders als etwa gleichzeitig Wilhelm von Ockham, keine Reflexion auf die Möglichkeit anstellt, dass Gott moralisch verwerfliche Taten als anerkennenswert annehmen könne. Tauler geht es nicht um die spekulative Auseinandersetzung mit diesem Thema, sondern um den Zuspruch an das bürgerliche Publikum seiner Zeit, dass auch sein Alltag ein geheiligter sein kann. Er steht damit in einer von Eckhart herleitbaren Entwicklung eines Konzeptes von im bürgerlichen Alltag lebbarer Mystik, das die Möglichkeit mystischen Lebens nicht auf die Klostermauern beschränkt sieht. Dann aber bedeutet seine Lehre vom Empfangen des eigenen Seins von Gott her gerade auch die Möglichkeit des je einzelnen Menschen, sein Selbst in der Differenzierung der Gaben des Geistes Gottes wahrzunehmen, das heißt: die je eigene Fähigkeit als gottgegeben und damit nicht in Unterscheidung zu anderen – etwa monastischen – Lebensentwürfen defizitär wahrzunehmen. Gerade die Zerstörung des Selbst ermöglicht eine Legitimation des eigenen Tuns in der Welt als gottgewollt – und sie ist es letztlich auch, die den Menschen erst zu sich selbst bringt: Der Mensch, in dessen Grund Gott nicht gewesen ist, ist der veräußerlichte Mensch, der sich selbst verfehlt46. Erst die Aufhebung des Selbst ermöglicht es, auch diese Verfehlung aufzuheben – erst hierdurch ist die menschenangemessene Relation hergestellt, nach der das eigentliche Personzentrum des Menschen in Gott gesetzt ist. Der Mensch selbst aber vermag sich so in einem sehr ursprünglichen Sinne als Person wahrnehmen: Nämlich als ein Wesen, durch das Gott hindurch in der Welt wirksam wird.

46

Ebd., 413,19–24.

Kapitel 9

Katechismen im späten Mittelalter Die Katechismen haben für ein Verständnis des Verhältnisses von Mittelalter und Reformation eine eigenartige Schlüsselstellung inne: Zum einen ist es offenkundig, dass sich das protestantische kollektive Gedächtnis in ganz besonderer Weise auf den Katechismus Luthers bezieht. Die jahrhundertealte Bildungstradition in Schule und Konfirmandenunterricht hat ihn zu einem hervorgehobenen Beispiel der kulturellen Vermittlung reformatorischer Überzeugungen werden lassen. Zum anderen aber sieht Luther selbst sich mit seiner Pflege des Katechismus in der Tradition seines eigenen Elternhauses: „Ego quidem, quanquam magnus doctor nondum excessi puerilem doctrinam decalogi et symboli et orationis dominicae, sed adhuc quotidie illa disco et oro mit meinem Hansen vnd meinem Lenichen“1,

heißt es in einer von Veit Dietrich überlieferten Tischrede aus dem Herbst 1531. Zwar handelt es sich nicht eindeutig um eine Erinnerung an die eigene Jugend, aber die zeitliche Bestimmung – „adhuc quotidie“ – macht doch deutlich, dass Luther nicht nur an die gegenwärtig praktizierte Kinderlehre – puerilis doctrina – denkt2, sondern auch an die selbst erfahrene. Luther dürfte, wie es im Mittelalter immer wieder vorausgesetzt wurde3, selbst bei seinen Eltern elementaren Katechismusunterricht erfahren haben4. 1

WA.TR 1, Nr. 81 (30, 26–31,2). Zum Begriff „Kinderlehre“ für den Katechismus s. WA 30/I,27,26; BSLK 553,37. 3 S. GÖBL, PETER, Geschichte der Katechese im Abendlande vom Verfalle des Katechumenats bis zum Ende des Mittelalters, Kempten 1880, 19–34; PFLEGER, LUZIAN, Beiträge zur Geschichte des katechetischen Unterrichts im Elsass im Mittelalter, Straßburg 1922, 4–7; WEIDENHILLER, EGINO, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. München 1965, 13f, jeweils mit zahlreichen Belegen. Neben dem elterlichen Haus kommt auch der Gottesdienst als Vermittlungsinstanz für religiöses Wissen in Frage: COHRS, FERDINAND, Zur Katechese am Ende des Mittelalters, in: ZPrTh 20 (1898), 289–309, 293, weist auf verschiedene Bestimmungen zur öffentlichen Verlesung der Katechismusstücke im 15. Jahrhundert hin. Für beides, Eltern wie gottesdienstliche Verlesung, gilt freilich das allfällige Problem, dass wir hierüber vorwiegend aus normativen Texten wissen. 4 Der wohl deutlichste Beleg für das katechetische Grundwissen im Hause Luthers ist das Gespräch von Hans Luder mit den Gästen bei der Primiz seines Sohnes, die sich nach den Gründen für seinen Widerstand gegen Luthers Weg ins Kloster erkundigten: „Ey lieben herren, wißt jr auch, das geschrieben stehet: Du solt vater und muter ehren? Oder kennt ihr das 2

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Katechismen im späten Mittelalter

Wie sehr freilich Gegenwart und Vergangenheit ineinander wirken, ist an einem Detail der Tischrede abzulesen: Luther nennt die Stücke in der Reihenfolge, in der er sie im Großen und Kleinen Katechismus anordnete5 und die im späten Mittelalter nur außerordentlich selten verwendet wurde6. Gemeint ist dabei mit der Kinderlehre beziehungsweise dem Katechismus selbstverständlich nicht die literarische Gattung, die wir unter diesem Titel kennen, sondern lediglich die Sammlung der von Luther genannten Stücke. Wenn Luther auf die Notwendigkeit, diese zu lernen und zu memorieren, verweist, steht er nicht allein in der Tradition seines Elternhauses, sondern einer lang anhaltenden mittelalterlichen Frömmigkeitskultur. Die Admonitio generalis von 789 hielt die Bischöfe und Priester an, dafür zu sorgen, dass die Gemeinden das Vaterunser verstünden7, und eine althochdeutsche Anweisung aus der Zeit Karls des Großen schrieb vor: „Höret, ihr allerliebsten Söhne, die ihr den Namen eines Christen angenommen habt, die Grundregel des Glaubens, die ihr ständig im Herzen angenommen haben sollt! Denn sie ist das vom Herrn den Menschen offenbarte und von seinen Jüngern eingesetzte Zeugnis für eure Christenheit. Dieser Glaube enthält nur wenige Worte, in die jedoch sehr große Ge-

Gebot Gottes, die Eltern zu ehren nicht? An nescitis mandatum Dei de honorandis parentibus?“ (WA 44,712,4f; vgl. WA.TR 1,294,9–12 [Nr. 623]). 5 PETERS, ALBRECHT, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote, Luthers Vorreden, ed. v. Gottfried Seebaß Göttingen 1990, 40 Anm. 197, verweist allerdings darauf, dass Luther selbst die Stücke in sehr unterschiedlichen Reihenfolgen aufführen konnte; vgl. WA 19,75,16; 23,486,29f; s. auch die Reihenfolge Dekalog, Vaterunser, Credo im Brief von Justus Jonas vom 4. Mai 1530 (WA.B 5,302,65–68). Zum theologischen Sinn dieser Anordnung s. grundlegend DERS., Die Theologie der Katechismen Luthers anhand der Zuordnung ihrer Hauptstücke, in: LuJ 43 (1976) 7–35. 6 S. MEYER, JOHANNES, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh 1929, 82, der diese Reihenfolge nur in zwei Quellen nachweisen konnte. Luther verwendete diese Reihenfolge schon 1520 in der „Kurzen Form“ (WA 7,204–229); Darin folgte ihm möglicherweise schon 1527, also vor Großem und Kleinem Katechismus Kaspar Aquila: Kaspar Aquilas Katechismus wurde erst 1538 veröffentlicht (VD 16 A 250). Aber im Vorwort führt er sie auf Predigten zurück, die er seit 1527 in Saalfeld gehalten hat (REU, JOHANN MICHEL, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530 und 1600. Bd. 1/2. Abt. 2: Texte, Gütersloh 1911 [= Hildesheim 1976]), 173; ebenso die handschriftliche Biographie Aquilas von Christian Schlegel aus dem Jahre 1737: „Als er nun nach Saalfeld kommen / hat er anfänglich eine lautere Barbarey / ungezogen / und unverständig Volck im Worte GOttes gefunden / und als er ihnen angekündiget / er wolte sie den Catechismus lehren lassen / haben sie nicht gewust / was es sey“ (zit. nach: Caspar Aquila, Schriften und Lebenszeugnisse des Saalfelder Reformators. Theologie und Frömmigkeit, Bildung und Armenfürsorge in der Reformation. Ausgewählt und kommentiert v. Heinz Endermann, Hildesheim 2009 [ThTS 14], 320); zur Reihenfolge und ihrer Verwendung im 16. Jahrhundert s. die Übersicht bei WEISMANN, CHRISTOPH, die Katechismen des Johannes Brenz. Bd. 1: Die Entstehungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Berlin 1990, 85f. 7 MGH. Capit. 1,59,25–27.

Kapitel 9

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heimnisse eingeschlossen sind. Der Heilige Geist diktierte wahrhaftig den Lehrern der Christenheit, seinen heiligen Aposteln, diese Worte in einer solchen Kürze, damit alle Christen sie glauben und danach handeln, sie verstehen und im Gedächtnis behalten können. Wie könnte sich der einen Christen nennen, ja, wie kann der ein Christ sein, der diese wenigen Worte des Glaubens, durch den er gerettet und erlöst werden wird, sowie die Worte des heiligen Gebets, das der Herr selbst als Bitte einsetzte, nicht lernen und im Gedächtnis festhalten will?”8

Damit waren Credo und Vaterunser als Grundbestand dessen, was die Bewohner des karolingischen Reiches auswendig zu beherrschen hatten festgelegt. Die Norm, dass religiöses Grundwissen bei allen Gläubigen vorhanden sein müsse, zog sich durch das Mittelalter durch. So konnte etwa Wilhelm von Ockham 1335/36 im Tractatus contra Ioannem als selbstverständlich voraussetzen, dass die Christen und Christinnen die Glaubenssätze des apostolischen Bekenntnisses wüssten. Freilich rekurrierte er damit nicht so sehr auf eine bestimmte Texttradition, denn er fügte hierzu nicht etwa Vaterunser und Dekalog hinzu, sondern andere dogmatische Sätze wie „Corpus Christi continetur in sacramento altaris“ und ähnliches9. Das religiöse Wissen der mittelalterlichen Christenheit gruppierte sich also auf unterschiedliche Weise um die Glaubenssätze des Credos. Das Erlernen dieser christlichen Elementarkenntnisse war im eigentlichen Sinne „Katechismus“. So definiert der erstmals in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts erschienene und vielfach aufgelegte Vocabularius praedicantium des Johannes Melber: „Cathecismus: vnderweisung in den grundtlichen stucken des glaubens scilicet pater noster credo septem sacramenta.“10

Über diese Grundbedeutung hinaus wurde aber schon vor der Reformation das Wort „Katechismus“ auch für ein Buch entsprechenden Inhalts verwendet. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, dass es sich bei diesem Buch8

Althochdeutsche Literatur. Von der „Benediktinerregel“ zum „Ezzolied“. Eine Auswahl, ed. v. Hans Joachim Gernentz, Berlin 1979, 42f.: „Hloset it, chindo liupostun, rihtida thera galaupa, the ir in herzin kahuctlicho hapen sculut, ir den christianun namun intfangan eigut, thaz ist chundida iuuerera christianheiti, fona demo truthine in man gaplasan, fona sin selpes iungiron kasezzit. thera galaupa gauuisso fohiu uuort sint, uzan drato michilu garuni dar inne sint piuangan. Uuiho atum gauuisso dem meistrun thera christanheiti dem uuihom potom sinem theisu uuort tihtota suslihera churtnassi za diu daz allem christanem za galaupian ist ia auh simplun za pigehan, thaz mathin alle farstantan ia in gahuhti gahapen. In huueo chuidit sih ther man christanan, ther theisu fohun uuort thera galaupa, thera er gaheilit scal sin ia dera er ganesan scal, ia auh thei uuort thes frono gapetes, thei der thrutin selpo za pete gesazta, uuero mag er christiani sin, ther dei lirnen niuuili noh in sinera gahukti hapen?“ 9 OP 3, 47, 22–33. 10 [MELBER, JOHANNES,] vocabularius | predicantium, Augsburg: Sorg 1489, s.v. (unpaginiert); hierauf verweist bereits GEFFCKEN, JOHANNES, Der Bildercatechismus des funfzehnten Jahrhunderts und die catechetischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther. I. Die zehn Gebote, mit 12 Bildtafeln nach Cod. Heidelb. 438, Leipzig 1855, 18.

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Katechismen im späten Mittelalter

titel um eine reformatorische Neuerung handelte11, hat vor einiger Zeit Gerhard Bellinger korrigiert. Er verwies darauf, dass 1504 in portugiesischer Sprache der „Cathecismo Pequeno da doctrina e instruiçam que os christianos ham de creer e obrar“ von Diogo Ortiz de Vilhegas (1457–1519)12 erschien13. Damit ist freilich über die Idee des Katechismus noch nicht viel gesagt. Will man ihr im späten Mittelalter nachgehen, so wird man mindestens zwei Zugangsweisen zu unterscheiden haben14. Es gibt eine Fülle von katechetischen Texten15, deren Inhalt Egino Weidenhiller, dem wir die bislang gründlichste neuere Untersuchung zum Thema verdanken, als „Trias von Glaube, Gebet und gewissen sittlichen Normen, in unserer Zeit [d.h. im späten Mittelalter; V.L.] bereits größtenteils die zehn Gebote“ zusammengefasst hat 16. Mögliche Stücke, die dies leisten konnten, waren demnach17: 1. 2. 3.

Glaubensbekenntnis Vaterunser Die zehn Gebote

11 Üblicherweise gilt als erster Beleg der Katechismus von ALTHAMER, ANDREAS, Catechismus. | Das ist Vnterrricht zum | Christlichen Glauben / wie | man die jugent leren vnd | ziehen sol / in frag weyß | vnd antwort ge=| stelt. |, Nürnberg: Friedrich Peypus 1528 (VD 16 R 3816); s. hiuerzu etwa LÄPPLE, ALFRED, Katechismen im Wandel der Zeit, in: Der Katechismus von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausstellungskatalog, München / Zürich 1987 (BZBZR.KS 1), 14–31, 15. 12 Zu ihm: BELLINGER, GERHARD J., Art. Ortiz de Vilhegas, in: ³LThK 7, 1158. Zum Gebrauch des Wortes „Catechismus“ als Buchtitel s. den gründlichen Überblick bei SIEVERNICH, MICHAEL, Gesetz oder Weisheit. Zum theologischen Prinzip der Katechismen Martin Luthers und Petrus Canisius‘, in: Rainer Berndt (Hg.), Petrus Canisius SJ (1521–1597). Humanist und Europäer, Berlin 2000 (ErSap 1), 300–422, 403 13 BELLINGER, GERHARD J., Art. Katechismus, in: ³LThK 5, 1311–1315, 1313; vgl. DERS., Der Catechismus Romanus, seine Geschichte und bleibende Bedeutung für Theologie und Kirche, in: Matthias Buschkühl (Hg.), Katechismus der Welt – Weltkatechismus. 500 Jahre Geschichte des Katechismus. Ausstellungskatalog, Eichstätt 1993, 41–64, 42. Der Text ist jetzt ediert: O cathecismo pequeno de D. Diogo Ortiz, ed. v. Elsa Maria Branco da Silva, Lissabon 2001 (OCLP 115). 14 Seit der Grundlegung der neueren katholischen Reformationsgeschichtsschreibung durch Lortz und Iserloh findet sich eine Geringschätzung dieser enorme Bemühungen des Mittelalters gerade bei römisch-katholischen Autoren; s. etwa BEDOULLE, GUY, Das Entstehen des Katechismus, in: Communio 12 (1983) 25–40, 30, der meint, die katholische Kirche habe geradezu „auf den Donnerschlag der lutherischen Reformation“ gewartet, um wieder katechetische Literatur zu entwickeln. Die Fülle der vorhandenen katechetischen Texte des späten Mittelalters spricht eine deutlich andere Sprache. 15 Einen Überblick über die seinerzeit bekannten, als Katechismen einzuordnenden spätmittelalterlichen Texte bietet MEYER, Kommentar (wie Anm. 6), 73–75 – immerhin mehr als 50 Titel. Eine umfangreiche Auflistung allein der in der Bayrischen Staatsbibliothek enthaltenen Einzelauslegungen katechetischer Stücke bietet WEIDENHILLER, Untersuchungen (wie Anm. 3), 213–243. 16 WEIDENHILLER, Untersuchungen (wie Anm. 3), 16. 17 WEIDENHILLER, Untersuchungen (wie Anm. 3), 17–24.

Kapitel 9 4. 5.

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Die sieben Hauptsünden Die sieben Sakramente

Mit ihnen beschäftigten sich einerseits Texte, die, kenntlich an der lateinischen Sprache, für Kleriker verfasst waren und ihnen entweder ihr eigenes Grundwissen sichern oder Anhaltspunkte für die Leitung der Gemeinden geben sollten. Andererseits gibt es seit dem 14. Jahrhundert zahlreiche volkssprachliche Texte, welche im weitesten Sinne dem von Berndt Hamm „Frömmigkeitstheologie“ genannten Schrifttum zuzurechnen sind 18. Als bedeutendster Autor dieser Gruppe kann Johannes Gerson genannt werden, zumal von ihm eine geradezu programmatische Aussage über die Abfassung von katechetischer Literatur überliefert ist: In einem Schreiben an Pierre d’Ailly regte er am 1. April 1400 an, „ita fieret per facultatem vel de mandato eius aliquis tractatulus super punctis principalibus nostrae religionis, et specialiter de praeceptis, ad instructionem simplicium, quibus nullus sermo aut raro fit, aut male fit.”19

Dieser Brief war, wie Christoph Burger gezeigt hat, auch die Folge einer tiefen Lebenskrise, in der sich der Kanzler der Pariser Universität seinerzeit befand20, aber der darin enthaltene Ratschlag war ungeheuer wirkungsvoll, zumal ihn Gerson wenige Jahre später noch um die Forderung erweiterte, an verschiedenen Orten Tafeln mit dem Katechismusstoff aufzustellen21. Beispiele solcher Tafeln sind noch erhalten, am bekanntesten wohl die von Nikolaus von Kues in der Lamberti-Kirche in Hildesheim aufgestellte22 – ob damit Gersons Anregung umgesetzt oder aus anderem Antrieb gehandelt wurde, lässt sich im einzelnen nicht genau bestimmen23.

18

HAMM, BERNDT, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65); DERS., Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden / Marcel Nieden (Hg.), Praxis pietatis. FS Wolfgang Sommer. Stuttgart 1999, 9–45. 19 GERSON, JEAN, Œuvres complètes, ed. v. Palémon Glorieux. Bd. 2 : L’œuvre épistolaire, Paris u.a. 1960, 28 (Nr. 3). 20 BURGER, CHRISTOPH, Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986 (BHTh 70), 42. 21 GERSON, L’œuvre épistolaire (wie Anm. 19), 75 (Nr. 18). 22 S. RIECKENBERG, HANS-JÜRGEN, Die Katechismustafel des Nikolaus von Kues in der Lamberti-Kirche zu Hildesheim, in: DA 39 (1983) 555–581; vgl. zu weiteren Beispieln PFLEGER, Geschichte (wie Anm. 3), 21. 23 Auf ein weiteres Feld katechetischer Lehre, dem in der vorliegenden Studie nicht weiter nachgegangen werden kann, weist PFLEGER, Geschichte (wie Anm 3), 12–16, hin: die Bildprogramme insbesondere von Kirchenfenstern. Zwar wird man die Identifikation mit der Biblia pauperum (ebd. 12f) nach heutigem begriffsgeschichtlichen Stand so nicht aufrechterhalten können (s. LEPPIN, VOLKER, Art. Armenbibel, in: RGG4 1, Tübingen 1998, 753), aber die grundlegende Funktion für religiöse Bildung bleibt davon unbenommen.

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Katechismen im späten Mittelalter

Neben Gerson finden sich auch zahlreiche weitere Autoren, die sich bemühten, den Laien einen christlichen Elementarunterricht angedeihen zu lassen24. Das geschah dann nicht immer so knapp wie im Falle der einfachen Tafeln oder auch der Texte Gersons: Gabriele Baptist-Hlawatsch hat berechnet, dass der Katechismus Ulrichs von Pottenstein, wäre er geschlossen abgeschrieben worden, 1200 Blätter umfasst hätte25 – naheliegender Weise ist er entsprechend nur in seinen Einzelteilen vervielfältigt worden. Aber viele andere Texte hatten in ihrer Schreibweise unmittelbar die Laien als Adressaten im Blick.

1. Katechetische Literatur von Klerikern für Kleriker Es gab für Kleriker einen hervorgehobenen Kontext, in dem auf das Credo und das Vaterunser eingegangen werden musste: die Messdeutungen. Für ein Verständnis Luthers und der Reformation sind auch dies wichtige Quellen, da ihm die Canonis missae Expositio Gabriel Biels bekannt war26. Es würde beispielsweise lohnen, dem nachzugehen, welchen Einfluss Biels Deutung des Namens „pater“ als „nomen amoris et pietatis“27 auf Luthers Ausführungen zum Vaternamen in seiner Vaterunserauslegung von 151928 hatte. Aber mit den liturgischen Schriften käme man in ein eigenes literarisches Genre, das nicht unter den Begriff „Katechismus“ zu fassen ist, obwohl es, zumal in deutschsprachigen Varianten29, einige Berührungen hierzu aufweist. Das für weitere Reflexionen grundlegende speziell katechetische Werk stammt von Thomas von Aquin. Genau genommen handelt es sich um drei Traktate, in denen der Aquinate Glaubensbekenntnis, Vaterunser und das Doppelgebot der Liebe samt den zehn Geboten auslegt. Ihre Entstehung fällt

24

Eine besondere Bedeutung erlangten auch die Katechismen devianter Gruppen; s. hierzu ZEZSCHWITZ, GERHARD, Die Katechismen der Waldenser und Böhmischen Brüder als Documente ihres wechselseitigen Lehraustausches. Kritische Textausgabe mit kirchen- und literargeschichtlichen Untersuchungen, Erlangen 1863. 25 BAPTIST-HLAWATSCH, GABRIELE, Das katechetische Werk Ulrichs von Pottenstein. Sprachliche und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1980 (TTG 4), 8. Einen Eindruck hiervon bietet die umfängliche Edition: VON POTTENSTEIN, ULRICH, Dekalog-Auslegung. Das erste Gebot. Text und Quellen, ed. v. Gabriele Baptist-Hlawatsch, Tübingen 1995. 26 S. WA.TR 3,564,5–7 (Nr. 3722). 27 Gabrielis Biel canonis misse exposition, ed. v. Heiko A. Oberman / William J. Courtenay. 3. Teil, Wiesbaden 1966 (VIEG 33), 60. 28 WA 2,83,14–22. 29 S. Die älteste deutsche Gesamtauslegung der Messe. ed. v. Franz Rudolf Reichert, Münster / W. 1967 (CCath 29). VON

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aber nach der gängigen Datierung gleichermaßen in das Jahr 127330, so dass man sie als zusammengehörig betrachten kann. Dies unterstreicht auch Thomas selbst durch eine Bemerkung zu Beginn der Gebotsauslegung: „Tria sunt homini necessaria ad salutem: scilicet scientia credendorum, scientia desiderandorum, et scienti operandorum. Primum docetur in symbolo, ubi traditur scientia de articulis fidei; scundum in oratione dominica; tertium autem in lege.”31

Es geht also um den Grund von Glaube, Gebet und Ethik. Indem Thomas dem Wissen um diese drei Heilsnotwendigkeit zuspricht, reduziert er einerseits den Rang des viel umfassenderen theologischen Wissens, das er in seinen Summen entfaltete, und scheint doch auch zugleich eine kognitive Zuspitzung bieten: Nicht an Glauben, Gebet und ethischem Tun selbst scheint er das Heil zu binden, sondern lediglich an die Kenntnis von ihnen. Freilich wird man diese Formulierung nicht überstrapazieren dürfen: Das Wissen, an das Thomas denkt, ist kein für sich bleibendes, sondern eines, das sich in eben den genannten Vollzügen umsetzt. So heißt es auch zu Beginn der CredoAuslegung, ohne kognitive Verengung, schlicht: „Primum quod est necessarium Christiano, est fides“32. Die Betonung der scientia rührte offenbar daher, dass Thomas seine Schriften für Gelehrte verfasste, die das Grundwissen ihrerseits an andere Glaubende weiterzugeben hatten und deren Zugang als Vermittler des Glaubens zunächst einmal intellektuell erfolgen musste Die von ihm gewählte Reihenfolge ist für die Zeit bis Mitte des 15. Jahrhunderts charakteristisch33. Gerade in der Hintanstellung des Dekaloges spiegelt sich wider, was bei der Anweisung Karls des Großen, aber auch etwa noch im Vocabularius praedicantium zu beobachten war: Der Dekalog gehörte ursprünglich gar nicht zu den entscheidenden katechetischen Stücken, sondern hatte seinen Ort zunächst in der Beichtpraxis. Erst allmählich wuchs er zum Katechismus hinzu34. Die Binnengliederung ist bei Thomas ganz traditionell: Das Vaterunser besteht aus sieben zu erklärenden Stücken35, und auch das Glaubensbekenntnis folgt der Einteilung in 12 Sätze, die, anknüpfend an Rufins Legende von der

30

S. Thomae Aquinatis, Opuscula Theologica. Bd. 2: De re spirituali, ed. v. Raimondo M. Spiazzi, Turin / Rom 1954, 191. 219. 243. 31 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 245. 32 THOMAS, Opuscula 2(wie Anm. 30), 193. 33 MEYER, Kommentar (wie Anm. 6), 82; zur Problematik, solche Reihenfolgen aufzulisten s. PETERS, Kommentar (wie Anm. 5), 40 Anm. 194: Die Nennung der drei Stücke orientiert sich an dem seit Luther Üblichen. In den mittelalterlichen Texten sind sie aber oft von weiteren Texten durchsetzt. 34 COHRS, Katechese (wie Anm. 3), 293; PETERS, Kommentar (wie Anm. 5), 40. 35 Diese bestätigt Thomas auch in der Summa theologiae (ST II-II q. 83 a. 9 [Editio Leonina 9, 201]).

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apostolischen Entstehung36, vor allem durch die pseudoagustinische Predigtreihe „De symbolo“ breite Anerkennung im Mittelalter gefunden hatte37. Wie sehr Thomas sich hier von der katechetischen Aufgabe hat leiten lassen, macht die Tatsache deutlich, dass er in der Summa theologiae er für eine Einteilung der Glaubensartikel in insgesamt vierzehn votierte: sieben für die Gottheit und sieben für die Menschheit Christi (ST II-II q. 1 a. 8 Responsio)38. Was dogmatisch angemessen schien, eignete sich in seinen Augen offenbar nicht für die katechetische Anwendung – spätere Autoren sollten das anders sehen. Auch sonst ist den Texten anzumerken, dass sie bewusst für einen eigenen Zweck geschrieben worden sind. Zwar macht Thomas für die Auslegung der katechetischen Stücke von seiner scholastischen Bildung Gebrauch. Dies zeigt sich am stärksten in der Kommentierung des Glaubensbekenntnisses. Hier nutzt Thomas manche Passagen für ausführliche theologische Debatten. So werden etwa zum zweiten Artikel in der Einteilung des Thomas: „et in Iesum Christum, Filium eius unicum, Dominum nostrum“, die Häretiker Photinus, Sabellius und Arius aufgeführt39. Diese reiche Argumentation mit der Dogmengeschichte kennt man vor allem aus der Summa contra gentiles, wo sie auch ein Symptom für die Anpassung an die Argumentationsweise der Griechen war. Hier nun dient sie der Absicherung der dogmatischen Grundüberzeugungen. Aus den scholastischen Texten stammt auch die allerdings außerordentlich sparsam gebrauchte Infragestellung von Aussagen. Am deutlichsten prägt sie eine fiktive Debatte zu Beginn der Credo-Auslegung: Thomas führt den möglichen Einwand auf, es sei töricht, etwas zu glauben, was man nicht sehe und antwortet darauf mit mehreren Argumenten 40. Insgesamt aber sind die Texte kaum dialogisch ausgerichtet. Thomas kommentiert die Katechismusstücke fortlaufend und weitgehend affirmativ. Das ist als solches keine Besonderheit – die quaestiones-Struktur ist zwar für die Summa theologiae und damit das bekannteste Werk des Thomas charakteristisch, aber schon die Summa contra gentiles ist in der Argumentation viel stärker auf die Entwicklung von Gedanken angelegt, und auch die Kommentare folgen in der Regel nicht dem Muster von Frage und Antwort. Für die drei katechetischen Auslegungen charakteristisch ist, dass dem Kommentar jeweils ein definitorisches Stück vorangestellt ist, das die Bedeutung des interpretierten Textes herausstreichen soll. Der Glaube bringt hier36

CChr.SL 20,134f (Expositio Symboli 2); s. hierzu VINZENT, MARKUS, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung, Göttingen 2006 (FKDG 89), 26f. 37 AUGUSTIN, Serm 240 (PL 39,2189); zur Datierung ins 8. Jahrhundert s. KELLY, JOHN NORMAN DAVIDSON, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 1972, ³1972, 10 Anm. 11. 38 Editio Leonina 8,21; vgl. KELLY, Glaubensbekenntnisse (wie Anm. 37), 11. 39 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30),198f. 40 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30),194.

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nach vier bona: erstens die Verbindung mit Gott, denn, so Thomas: „per fidem anima christiana facit quasi quoddam matrimonium cum Deo“41. Zweitens ist der Glaube Beginn des Ewigen Lebens, drittens leitet er das gegenwärtige Leben an, und viertens bringt er den Sieg über die Anfechtungen42. Diese vier Wohltaten zeigen, dass der Glaube, der durch das Credo vermittelt und bestätigt wird, nicht allein den Glaubensinhalt bedeutet, sondern auch die existentielle Glaubenshaltung, in der der Christ vor Gott steht. Auch das Gebet, über das Thomas zu Beginn der Vaterunserauslegung spricht, bringt drei Güter: Es ist ein Mittel gegen das Übel, dient der Erlangung des Erbetenen und macht uns Gott vertraut43. Hierzu dient das Gebet freilich nur, wenn es bestimmte Merkmale aufweist, durch deren Auflistung Thomas die spezielle Auslegung des Vaterunsers zu einer allgemeinen Gebetslehre macht: Das Gebet solle sich in Gewissheit vollziehen, wir sollen, so Thomas, „cum fiducia“ zum Thron Gottes schreiten44. Es soll recht erfolgen, das heißt, der Beter soll nur erbitten, was ihm zukommen mag. Er soll sich zudem, so das dritte Kriterium der Ordnung, eher auf Geistliches als auf Weltliches richten, dazu soll es hingebungsvoll (devotus) und demütig sein45: „nam vera humilitas est quando aliquis nihil ex suis viribus praesumit, sed totum ex divina virtute impetrandum expectat“46. Thomas will mit dieser Beschreibung ganz offenkundig das Glaubensleben der frommen Christinnen und Christen anleiten und erfüllt damit in gewisser Weise schon das, was Berndt Hamm als Charakteristikum der Frömmigkeitstheologen beschreibt, „deren ausschließlich seelsorgerliche Intentionen“, so Hamm, „darauf ausgerichtet sind, der Ferne zwischen scholastischer Theologie der Universität und Frömmigkeit des Alltags entgegenzuwirken und sich ganz der Anleitung zum rechten Vollzug eines christlichen Lebens, seiner geistlichen Vertiefung und ordnenden Gestaltung, zu widmen“47.

Bei Thomas zeigt sich, dass diese Art, Theologie zu treiben, nicht so sehr eine Frage der Personen, sondern der Kontexte und literarischen Genera ist. Wo er katechetisch schreibt, wird auch der Aquinate zu einem Frömmigkeitstheologen. Gleichwohl haben die Zeitgenossen wohl gespürt, dass der Text eher 41 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30),193; vgl. bei Luther den Glauben als Brautring: WA 7,25,37. 42 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30),193. 43 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 222. 44 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 221. 45 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 221f. 46 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 222; diese Gebetsanleitung zeigt bereits viele Elemente dessen, was BRECHT, MARTIN, „und willst das Beten von uns han“. Zum Gebet und seiner Praxis bei Martin Luther, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 268–288, 268–270 als Charakteristika der Gebetstheologie Luthers in „Abgrenzung von der hergebrachten Gebetspraxis“ beschreibt. 47 HAMM, BERNDT, Art. Paltz, Johann von, in: TRE 25 (1995), 606–611, 608.

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an Klerikern als an Laien orientiert war: Die deutschsprachig umlaufende Auslegung des Vaterunsers, die sich auf Thomas berief, wich von diesem, wie Bernd Adam gezeigt hat, deutlich ab48. Thomas‘ Texte sind allein schon durch ihre lateinische Sprache geeignet, Kleriker dazu anzuleiten, wie sie das Christentum dem Volk nahebringen können, nicht aber dieses selbst anzusprechen. Das Doppelgebot der Liebe sieht Thomas schon in gewisser Weise im Vaterunser präformiert: Die Liebe zu Gott äußere sich in der Anrede „Pater“, während das „noster“ wie auch die Bitte um eine Vergebung der „debita nostra“ im Plural die Nächsten einschließe49. Auch diesem Doppelgebot der Liebe weist Thomas wie den anderen Stücken besondere Güter zu: Die Liebe als Gesetz Christi begründet in uns das geistliche Leben, ermöglicht die Befolgung der Gebote Gottes, wehrt ab, was dem entgegensteht, und führt zur Glückseligkeit50. Mit dem zweiten genannten Gesichtspunkt, der Befolgung der Gebote, ist auch der Zusammenhang mit dem Dekalog gegeben: während nämlich nach Thomas das Gesetz des Mose eigentlich nur geeignet war, den Menschen äußerlich, durch Furcht, vom schlechten Verhalten abzubringen51, gibt nun die Liebe die Möglichkeit zur Erfüllung – und zwar deswegen, weil sie nicht auf den eigenen Kräften des Menschen beruht, sondern ein Geschenk Gottes ist52. In wenigen Strichen skizziert Thomas so die Grundlage christlicher Geboteethik. Der Dekalog hat seinen Sinn darin, aufgeteilt auf seine beiden Tafeln53, Gottes- und Nächstenliebe anzuleiten. Sie geben Hinweise auf das rechte wie das falsche Verhalten, aber die eigentlichen radices der Gebote sind die beiden Teile des Doppelgebotes der Liebe54. Auch darin zeigt sich die der Sache nach frömmigkeitstheologische Ausrichtung dieser Texte des Thomas: Sie zielen nicht allein auf Analyse, sondern auch und vor allem auf die Umsetzung im Leben der Christen und Christinnen.

48 ADAM, BERND, Katechetische Vaterunserauslegungen. Texte und Untersuchungen zu deutschsprachigen Auslegungen des 14. und 15. Jahrhunderts, München 1976 (MTUDL 55), 142. 49 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 222. 50 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 246f. 51 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 246. 52 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 248. 53 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 253. 54 THOMAS, Opuscula 2 (wie Anm. 30), 271.

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2. Katechetische Literatur für Laien im Horizont von Frömmigkeitstheologie Der wohl bekannteste Vertreter der Frömmigkeitstheologie ist Johannes Gerson. Anknüpfend an Christoph Burger55 hat vor allem Sven Grosse den Pariser Universitätskanzler mit Hilfe dieser Kategorie interpretiert56. Für die Frage nach katechetischer Literatur maßgeblich sind seine volkssprachlichen Traktate. Dass auch er sich nicht allein den Laien zuwandte, zeigt freilich der Begleitbrief zum Opus tripartitum, in dem er den Miroir de l’âme, das Examen de conscience selon les péchés capitaux und seine ars moriendi zusammenfasste. Hiernach wandte er sich mit diesen Schriften sowohl an Priester und Seelsorger in den Hospitälern als auch an einfache Menschen und sogar Kinder und Jugendliche, denen er die Grundlagen des christlichen Glaubens vermitteln wollte, setzte aber zugleich und vor allem darauf, dass diesen das Wissen durch kirchliche Prälaten und andere weitergereicht werde57. Grundsätzlich dachte er also an ein ähnlich gestuftes Verfahren, wie man es bei Thomas unterstellen muss. Aber sein Drang, einfache Gläubige zu erreichen, war weit stärker ausgeprägt als bei diesem. Dies zeigt sich schon an einem Titel wie A. B. C. des simples gens58. Diesen Text hat Gerson 1401 / 02 verfasst59. Er bietet kaum Erklärungen, sondern lediglich französische Fassungen der wichtigsten Stücke des Christentums: Nach einer Auflistung der fünf Sinne sowie der sieben Todsünden und der ihnen entgegenstehenden Tugenden folgen das Vaterunser, in sieben Teile aufgeteilt, das Ave Maria, Glaubensbekenntnis in zwölf Artikeln, die Zehn Gebote, die sieben Gaben des Heiligen Geistes, die sieben Haltungen, die seliggepriesen werden, die sieben geistlichen und die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit, die sieben Weihegrade, die sieben Sakramente, die sieben Stufen der Buße, die sieben Auszeichnungen (douayres) der Herrlichkeit des Paradieses, die sieben Verheißungen der Seligpreisungen, die vier Räte Jesu Christi für die Vollkommenen (also eine etwas andere Reihung als bei

55

BURGER, Aedificatio (wie Anm. 20). GROSSE, SVEN, Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tübingen 1994 (BHTh 85). 57 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 74 (Nr. 18); vgl. hierzu Burger, Zuwendung 100f. 58 GERSON, JEAN, Œuvres complètes, ed. v. Palémon Glorieux. Bd. 7 : L’œuvre Française, Paris u.a. 1966, 154–157 (Nr. 310); vgl. hierzu ganz knapp BEDOUELLE, Entstehen (wie Anm. 14), 30, sowie BURGER, CHRISTOPH, Direkte Zuwendung zu den ‚Laien‘ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Berndt Hamm / Thomas Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001 (SuR.NR 15), 85–109, 98f. 59 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), XIII. 56

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den consilia evangelica üblich60) sowie die Hauptfreuden des Paradieses und die Qualen der Hölle. Die Tatsache, dass allein diese beiden letzten Gruppen ohne eigene Zählung geboten werden, unterstreicht den mnemotechnischen Charakter des Textes. Offensichtlich sollten mit ihm die Glaubenden das Nötigste in der Hand haben. Und das Nötigste hieß: das, dessen man bedurfte, um in der Todesstunde bereitet vor seinen Herrn zu treten. Schon im ABC machen die vielen eschatologischen Hinweise diesen Horizont deutlich, wenn sich auch die Ratschläge darin nicht erschöpfen. Noch klarer aber wird die Perspektive in der oben erwähnten Sammlung von Traktaten im Opus tripartitum. Es läuft auf die ars moriendi hinaus, und die beiden anderen Stücke Miroir de l’âme und Examen de conscience selon les péchés capitaux gewinnen ihren Sinn vor allem von dieser Ausrichtung des Lebens auf den rechten Tod her. Dabei ist an die bekannte Tatsache zu erinnern, dass eine ars moriendi sich nicht einfach auf die Todesstunde bezieht, sondern das ganze Leben auf den rechten Tod ausrichtet61. Die Hilfe zum Sterben ist eine Anweisung zum Leben, aber eine solche, die den Menschen so vorbereitet, dass er in Demut und möglichst frei von Sünden vor Gott steht. So sind der Miroir wie das Examen auf die eine oder andere Weise als Beicht- oder besser: Sündenspiegel zu verstehen. Sie sind nicht unbedingt auf die soziale Situation der Beichte hin geschrieben, orientieren sich aber gewissermaßen paradigmatisch an ihr, insofern sie dazu anleiten, die eigenen Sünden zu betrachten und ständig vor Gott zu bringen. Der Miroir62 beschreibt zunächst die Erschaffung des Menschen und den Sündenfall. Dann aber besteht er zum allergrößten Teil aus einer Adaption der zehn Gebote. Diese werden einzeln genannt. Daraufhin listet Gerson jeweils auf, wer sich auf welche Weise gegen sie vergehe. Diese Auflistung sollen sich die Menschen ständig vergegenwärtigen und, so Gersons Mahnung, ein- oder zweimal am Tag sollen sie in sich gehen und Gott drei Wahrheiten bekennen63. Die erste lautet: „Sire, j’ay peché ainsi et ainsi contre vostre bonté ; je m’en repent et m’en desplait pour ce que vous estes digne d’estre amé et honoré, et que vous m’aues commande le contraire.“64

Die weiteren beiden Wahrheiten, die der oder die Glaubende vor Gott bringen soll, sind die Bitte um Gottes Beistand gegen die Sünde und die Bereitschaft, „selon le commandemens de vous et de vostre eglise“ zu beichten65. Entspre60

Gerson nennt: „la parfaicte humilité“, „Poureté d’esprit“, „virginté“ und „charite empbrassee“ (GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 156f). 61 S. hierzu stellvertretend RUDOLF, RAINER, Art. Ars moriendi I: Mittelalter, in: TRE 4 (1979), 143–149, 144f. 62 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 193–206 (Nr. 312). 63 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 204. 64 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 204. 65 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 204.

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chend folgen Hinweise zur Beichtsituation66. Gerson setzt selbstverständlich voraus, dass von Notsituationen abgesehen, die Beichte, wie vom IV. Lateranum vorgeschrieben67 nur einmal jährlich, an Ostern, abgelegt wird68. Die eigentliche Spitze des Miroir liegt damit auch nicht auf dieser einmal jährlichen sakramentalen Situation, sondern auf der durch die tägliche Einkehr hervorgerufenen permanenten Introspektion. Der Unterschied wird im Vergleich zu einem anderen katechetischen Stück desselben Autors deutlich: der Breve maniere de confession pour les jeunes69. Hier drückt schon allein der Titel aus, dass Gerson speziell die Beichtsituation im Blick hat und Ratschläge hierfür geben will. Das ist im Miroir deutlich anders. Hier wird die Prüfung des eigenen Gewissens zu einer ständigen Haltung des Menschen, die Sündenerkenntnis also wird in erheblichem Maße internalisiert. Die Auslegung der zehn Gebote nimmt daher, allein schon dadurch, dass hauptsächlich die Verfehlungen ihnen gegenüber aufgelistet werden, den Charakter einer Anleitung zur Selbstprüfung an. Sie schreiben nicht primär Handlungen vor, sondern dienen vor allem zum Aufweis der eigenen Sündigkeit, die dann aber, im Vertrauen, dass Gott den Kampf gegen sie unterstützen werde, vor den Herrn getragen wird. Ganz ähnlich ist auch das Examen de conscience selon les péchéz capitaux70 angelegt. In ihm stellen, wie der Titel deutlich macht, nicht die Zehn Gebote den Leitfaden zur Gewissenserforschung dar, sondern die ja auch im ABC enthaltenen Todsünden. Der Glaubende soll sich selbst prüfen, ob er ihnen in irgendeiner Weise verfallen ist. Das Geschehen ist offenkundig ein inneres – und die Mahnung, öffentlich zu beichten, die Gerson anfügt71, wächst keineswegs organisch aus diesen Ausführungen hervor, sondern klingt wie die nachholende Bestätigung kirchenkonformen Verhaltens. Der Duktus zielt auf Introspektion des Glaubens. Bei aller von Gerson immer betonten Kirchlichkeit geben damit seine katechetischen Schriften doch auch einen starken Impuls für die Individualisierung von Religiosität im späten Mittelalter. Im deutschen Sprachraum ist die Frömmigkeitstheologie zunächst vor allem durch die sogenannte Wiener Schule aufgetreten72. Diese Gruppe zeichnete sich theologisch durch einen gewissen Eklektizismus aus. Vor allem aber 66

GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 204f. DH 812; s. hierzu TENTLER, THOMAS N., Sin and Confession on the Eve of the Reformation, Princeton 1977, 21f; OHST, MARTIN, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (BHTh 89), 14–49. 68 Zur Häufigkeit der Beichte im späten Mittelalter s. GROSSE, Heilsungewißheit (wie Anm. 56), 176. 69 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 408f (Nr. 333). 70 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 393–400 (Nr. 330). 71 GERSON, Œuvres 2 (wie Anm. 19), 398. 72 Zu deren katechetischen Bemühungen s. BAPTIST-HLAWATSCH, Katechetisches Werk (wie Anm. 25), 2. 67

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bemühte sie sich um eine Intensivierung des monastischen Frömmigkeitslebens. Die Melker Reform73 war ganz wesentlich von ihren Impulsen beeinflusst. Entsprechend ist das wichtigste Corpus aus dem Kontext auch nicht in deutscher, sondern in lateinischer Sprache verfasst: die offenkundig zusammengehörenden tractatus octo des Nikolaus von Dinkelsbühl74. Die Auswahl der Stücke ist bemerkenswert: In der von Thomas her bekannten Kombination ist der erste Traktat dem Doppelgebot der Liebe gewidmet und der zweite dem Dekalog. Der Dekalog also ist hier nun vollständig in den Katechismus hineingewachsen und sogar – wie später bei Luther – an seinen Anfang gerückt. Allerdings fehlt das Glaubensbekenntnis. Stattdessen folgt eine Auslegung des Vaterunsers, daraufhin ein Traktat über die drei Teile der Buße, einer über die acht Seligpreisungen und einer über die sieben Todsünden. Es folgen ein Confessionale anhand der sieben Todsünden und schließlich Ausführungen über die fünf Sinne. Nikolaus argumentiert sehr viel weitschweifiger als seine Vorgänger: Während das ABC Gersons nur wenige Zeilen umfasste und auch die Traktate des Thomas knapp und eingängig waren, umfasst die Druckausgabe der Tractatus octo von 1516 163 Blätter. Dass sie noch etwa hundert Jahre nach der Entstehung der Texte erschien, zeigt allerdings auch, dass der große Umfang deren Verbreitung und Beliebtheit offenbar keinen Abbruch tat. Die Stärke der Traktate war offenbar auch, dass sie den Eindruck einer umfassenden Themenbehandlung boten. Dabei partizipierte Nikolaus vielfach an der Tradition des Thomas, formte diese aber auch eigenständig um. Deutlich wird dies bei den Ausführungen über die Früchte des Vaterunsers. Wie Thomas kennt Nikolaus hier drei Vorzüge. Diese seien spiritualis consolatio, meritum vitae aeternae und impetratio istius quod orans petit75. Die Abwehr des Übels erscheint hier nicht, und vor allem liegt der Gipfel der Argumentation auf einem Gut, das zwar Thomas auch benannte, aber nicht so betonte: dem Eintreten des Gewünschten. Die Gebetsauslegung beginnt mit einem Zitat von Joh 16,23: „Quid petieritis patrem in nomine meo / dabit vobis“76. Damit ist der Grundtenor vorgegeben. Die Glaubenden werden der Gebetserfüllung versichert. Dies geschieht wiederum auf eine bemerkenswert akademische Weise. Nikolaus breitet weitschweifig Überlegungen zum Gebet aus, in denen er et73

S. NIEDERKORN-BRUCK, META, Die Melker Reform im Spiegel der Visitationen, Wien / München 1994; TREUSCH, ULRIKE, Bernhard von Waging († 1472), ein Theologe der Melker Reformbewegung. Monastische Theologie im 15. Jahrhundert?, Tübingen 2011 (BHTh 158). 74 Nycholai Dünckelspühel | Tractatus hoc voumine contenti sunt vi. | I De dilectione dei et proximi. II. De preceptis decalogi.| III De Oratione dominica.| III De tribus partibus penitentie. V De octo beatitudinibus. VI De septem peccatis mortalibus et septem virtutibus illis oppositis.| VII. Confessionale.| VIII. De quinque sensibus, Straßburg: Schott 1516. 75 NIKOLAUS, Tractatus octo (wie Anm. 74), 49va. 76 NIKOLAUS, Tractatus octo (wie Anm. 74), 49rb.

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wa der Frage nachgeht, ob ein Privatgebet immer auch gesprochen und verbal artikuliert sein müsse77 – dies erinnert wiederum an die Summa des Thomas: In ST II-II q. 83 a. 12 hatte Thomas ebenfalls die Frage gestellt, „utrum oratio debeat esse vocalis“78. Aber nicht nur in diesen allgemeinen Abwägungen zu den Bedingungen des Gebetes scheint Nikolaus stärker im akademischen Diskurs verankert zu sein, sondern auch in seinen Einzelausführungen, wenn er etwa zu der Anrede „Pater noster“ erklärt: „Loquendo de prima particula primae partis quando deo dicimus Pater noster est notandum quod deus est pater noster secundum triplex esse quod ab eo accipimus, scilicet naturae, gratiae et gloriae“79

Das Thema wird also in scholastischer Manier durch definitorische Teilung angegangen, und der folgende Text argumentiert sowohl mit Gegenfragen als auch mit scholastischen Autoritäten: War bei Thomas eine deutliche Wendung der literarischen Gattung hin zu einer frömmigkeitstheologischen Ausrichtung auch der Rede- und Argumentationsweise zu beobachten gewesen, so schreibt der Frömmigkeitstheologe hier wie ein Scholastiker. Möglicherweise war es gerade der hierdurch hervorgerufene Eindruck einer umfassenden Behandlung insbesondere der Beichtproblematik, der die Popularität des Buches ausmacht. An ihr zeigt sich, dass die Aufwertung des Dekaloges innerhalb der katechetischen Literatur mit einer verstärkten Orientierung an der sakramentalen Buße verbunden war. So wird die katechetische Literatur zum „Beichtspiegel“80 – wenn auch der Blick auf vorherige Entwicklungen vorsichtig machen sollte, sie ganz auf diese Funktion zu verengen. Entsprechend der Neuorientierung hob Nikolaus die Kirchlichkeit deutlicher hervor, als dies bei Gerson der Fall gewesen war: Hatte bei diesem die Aufforderung, die eigenen Sünden einmal jährlich zu beichten wie ein unorganischer Nachtrag zu einer intensiven Introspektion geklungen, gibt Nikolaus nun eben dieser inneren Prüfung ihren bußtheologischen Ort, indem er auf die Dreierstufung von contritio, confessio und satisfactio verweist81. In dieser Abfolge hat die Introspektion ihren guten Sinn zur Anregung der con77

NIKOLAUS, Tractatus octo (wie Anm. 74), 53ra. Editio Leonina 9, 204. 79 NIKOLAUS, Tractatus octo (wie Anm. 74), 54va. 80 Zu dieser literarischen Gattung s. TENTLER, Sin (wie Anm. 67), 39–46, sowie Der Spiegel des Sünders. Ein katechetischer Traktat des fünfzehnten Jahrhunderts, hg. v. M. A. van den Broek, Amsterdam 1976 (QFEL 11), 1f. Das von van den Broek abgedruckte Werk trägt alle Züge eines solchen Beichtspiegels: Es setzt mit einer Beschreibung der wahren Beichte ein, um dann anhand der Sündenkataloge wie der zehn Gebote zu einer Gewissensprüfung voranzuschreiten; vgl. auch die Gattung der Beichttafeln (MEYER, Kommentar (wie Anm. 6), 4). Die enge Verbindung zwischen Beichte und Katechese belegt GÖBL, Geschichte (wie Anm. 3), 105–118. 81 NIKOLAUS, Tractatus octo (wie Anm. 74), 146rb. 78

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tritio. Sie steht aber in keinerlei Spannung zum sakramentalen Geschehen. Das katechetische Werk des Nikolaus zeichnet sich damit durch die Integration innerlicher Frömmigkeit in das äußerliche sakramentale Geschehen aus. Während das späte Mittelalter insgesamt eher von der Tendenz geprägt ist, beides polar auseinanderfallen zu lassen82, hat man hier einen Autor, der beide in der spätmittelalterlichen Spiritualität begegnenden Weisen von Frömmigkeit zu integrieren versteht und diese Integration auch noch mit stupender Gelehrsamkeit leistet. Wer diese Traktate besaß, konnte den Eindruck gewinnen, für die Fährnisse der Sündenbetrachtung bestens gewappnet zu sein. Nikolaus zeigt die spätmittelalterliche bußtheologische Zuspitzung der katechetischen Literatur, die eine wesentliche Voraussetzung für Luthers Katechismen ist. War bei Thomas noch zu erkennen gewesen, dass der Dekalog dem katechetischen Genre zugewachsen war, so steht er nun nicht nur, verbunden mit dem Doppelgebot der Liebe, dem er zugeordnet ist, am Anfang, sondern bestimmt als Anleitung, die eigenen Sünden zu entdecken, den gesamten Aufbau. Der Katechismus dient in dieser Form ganz als Beichtspiegel und entbehrt jener Tendenz zur Individualisierung, wie sie sich bei Gerson gezeigt hatte. Stattdessen integriert sie die Gewissensprüfung in ein kirchlich kontrolliertes Geschehen. Die vielleicht konsequenteste und geschlossenste Durchführung dieser Idee findet sich in einem weiteren Werk, das im allgemeinen unter die katechetische Literatur des späten Mittelalters gerechnet wird: der „Hymelstrasz“ des Stephan von Landskron aus dem Jahre 146583. Der Titel ist Programm: Stephan, Propst des Wiener St. Dorothenstifts, will den Weg zeigen, den „all die menschen geen m(sen die gen hymel kommen wlen“84. Dieser Weg beginnt mit der Einsicht in die eigene Sünde: Nach einem Ausblick auf das erstrebte und erwartete Heil85 führt Stephan aus, dass wahre Buße nicht allein

82

S. HAMM, BERNDT, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller u.a. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. 1. Bd.: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, 159–211, 188–190; LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz / Heidrun Munzert / Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 299–315; DERS., Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in diesem Band S. 31–68. 83 Zur Datierung: VON LANDSKRON, STEPHAN, Die Hymelstrasz. Mit einer Einleitung und vergleichenden Betrachtungen zum Sprachgebrauch in den Frühdrucken (Augsburg 1484, 1501 und 1510) von Gerardus Johannes Jaspers, Amsterdam 1979 (QFEL 13), 13; vgl. ausführlich zu diesem Werk BOCH, UWE, Katechetische Literatur im fünfzehnten Jahrhundert. Stephan von Landskron (1477): „Die Hymelstrasz“, Diss. Tübingen 1994. 84 r VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), II . 85 r v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), III -VI .

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mit Furcht beginnen dürfe, sondern mit der Liebe zu Gott86. Diese aber führt den Menschen in eine Erforschung seiner eigenen Sünden87. Wie bei Nikolaus von Dinkelsbühl erscheint diese bei Landskron nicht als Konkurrenz zur Beichte, sondern als deren angemessen Vorbereitung: Noch in den Ausführungen zur Introspektion gibt er Ratschläge, wie man sich vor dem Beichtvater verhalten solle88. Auch die „Hymelstrasz“ kann insofern mit guten Gründen als ein Beichtspiegel angesehen werden, in dem es um die Erfüllung der Vorschriften des Vierten Lateranums geht: „Wenn der mensch sey schuldig z) beichten Sprechen die lerere Das ein yeder mensch der z) seinen vernünfftigen iaren komen ist, der ist schuldig z) beichten einest jm jar Auß dem gebott der christenlichen kirchen und gottesleichnam enpfahen z) den Ostern.“89

Die Selbsterforschung erfolgt darin anhand der zehn Gebote, der sieben Todsünden und weiterer diverser Sündenkataloge. Eine Art von Umschlagspunkt erreicht das Werk aber dann im 38. Kapitel. Dieses behandelt die sieben Sakramente90, dabei freilich nur kurz die Eucharistie91, denn ihr ist das ganze folgende Kapitel gewidmet92: Der Aufbau des Buches vollzieht also gewissermaßen die sakramentale Begehung des Osterfestes nach: Nach einer langen Introspektion, mit der der Mensch durch das Jahr gehen kann, hat er das Stadium erreicht, aufgrund der Buße ohne Sünde den Leib Christi zu empfangen – und im folgenden dann die Himmelsstraße weiter aufwärts zu beschreiten. Hier ist entsprechend der Ort für die weiteren katechetischen Stücke: die Auslegung des Vaterunsers im 43. Kapitel93, dann des Ave Maria94 und im 45. Kapitel des Glaubensbekenntnisses, hier übrigens wie in der Summa des Thomas, in vierzehn Artikel eingeteilt95. Es folgen Ausführungen zu den Werken der Barmherzigkeit, anderen guten Taten wie Fasten und Almosen und schließlich, anknüpfend an den Beginn, auf das rechte Sterben. Wer diesem Weg folgt, so die offenkundige Botschaft, tritt recht bereitet vor Gottes Thron. Das Werk Stefans von Landskron ist ein besonders bekanntes Beispiel für eine Art von Beichtspiegeln, wie sie seit Mitte des 15. Jahrhunderts verbreitet waren. Wenigstens Erwähnung finden sollten hier drei weitere: In den Jahren 1470–1520 erschien in allein 29 Drucken der niederdeutsch verfasste „Chris86

LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), VIIIv; dergleichen Mahnungen gab es später auch im Umfeld Luthers: WA 1,525,4–14. 87 r VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), XV . 88 v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), XVI . 89 v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), XXX . 90 v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CXLII . 91 v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CXLIII . 92 r VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CXLVI . 93 v r VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CLXIII -CLXVIII . 94 r v VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CLXVIII -CLXIX . 95 v r VON LANDSKRON, Hymelstrasz (wie Anm. 83), CLXIX -CLXXIII . VON

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tenspiegel“ des Dietrich Kolde von Münster96. Er setzt mit dem Glaubensbekenntnis ein97 und bietet danach in gewohnter Weise Darlegungen zum Doppelgebot der Liebe98, zu anderen Sündenreihen und auch wieder zum Vaterunser99. Die poimenische Stoßrichtung aber merkt man den praktischen Hinweisen zu Gebeten und vor allem zur Beichte an: Nach Ausführungen über die innere Reue heißt es: „Bouen alle dinck so sal eyn mynsche der gesundiget hait soechen eynen goeden geistlichen wijsen bichtuader.“100

In ähnlicher Weise gipfelt auch der „Gewissensspiegel“ Martins von Amberg aus den siebziger oder achtziger Jahren des 14. Jahrhunderts101 nach einer ausgeprägten Introspektion anhand der zehn Gebote und andrer Sündenkataloge in den tröstenden Hinweis: „Nw ist selden ein mensche auf ertreich er hab sich denn an ettleichen der sunden vergessen. Dorumb hat uns got von seiner parmherczicheit wegen hie gegen noch ym eyn erczney gelassen. Daz ist peicht rew und buzz do mit wir uns alhie in dieser werlt mugen reynigen“102.

Solche Aussagen machen deutlich, dass die katechetische Literatur im späten Mittelalter tatsächlich auf zwei Schwerpunkten aufruht: Besonderes Augenmerk gilt den zehn Geboten und anderen Reihen von Sünden, die dem Menschen seine eigene Sündigkeit vor Augen führen. Der Trost dafür aber liegt in der sakramentalen Versorgung der Christen und Christinnen durch die Beichte. Katechetische Literatur ist damit im ausgehenden 15. Jahrhundert zu guten Teilen Beichtspiegelliteratur. Diese Grundstruktur prägt auch den eingangs erwähnten portugiesischen „Cathecismo pequeno“: Nach Auslegungen von Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Ave Maria und Salve regina bietet er im zweiten Teil eine Darlegung der zehn Gebote und eine umfassende Tugendlehre. Zielpunkt ist auch hier die Beichte, über die die drei letzten Kapitel handeln103. So reiht sich das erste Werk, das den Titel „Katechismus“ trägt, nahtlos in die Reihe der beichtorientierten Werke des späten Mittelalters ein.

96

Auflistung der Drucke in: Der Christenspiegel des Dietrich Kolde von Münster, ed. v. Clemens Drees, Werl 1954 (FrFor 9), 16*-38*; Nr. 8 ist eine Handschrift, ab Nr. 31 folgen spätere Drucke. 97 KOLDE, Christenspiegel (wie Anm. 96) c. 2 (Ed. Drees 50f). 98 KOLDE, Christenspiegel (wie Anm. 96) c. 10 (Ed. Drees 78–81). 99 KOLDE, Christenspiegel (wie Anm. 96) c. 25f (Ed. Drees 182–193). 100 KOLDE, Christenspiegel (wie Anm. 96) c. 21 (Ed. Drees 164f). 101 WEIDENHILLER, Untersuchungen (wie Anm. 3), 135. 102 VON AMBERG, MARTIN, Der Gewissensspiegel, ed. v. Stanley Newman Werbow, Berlin 1958 (TSMA 7), 69,726–731. 103 ORTIZ, Cathecismo pequeno (wie Anm. 13), 269–287.

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3. Schlussüberlegungen Die spätmittelalterliche katechetische Literatur ist nicht ohne weiteres als geschlossenes literarisches Genre zu behandeln. Sie findet sich in unterschiedlichen Sprachen und mit sehr verschiedenen Inhalten. Es lassen sich aber einige Tendenzen erkennen, die zum Verständnis der sich in der reformatorischen Theologie vollziehenden Transformation wesentlich sind. Was als erstes auffällt, ist, dass sich vor allem im 15. Jahrhundert die Integration des Dekalogs in die katechetische Literatur verfestigt. Dies verbindet sich insbesondere bei Nikolaus von Dinkelsbühl und Stefan von Landskron mit der Voranstellung der Gebote innerhalb des Katechismus. Dessen Hauptaugenmerk liegt nun auf der Selbstüberprüfung des Sünders, aber nicht als individuelle Introspektion, sondern als Vorbereitung auf die Beichte und damit den einmal jährlichen Vollzug des Bußsakraments. Diese dezidierte Verbindung mit der Beichtsituation war für die katechetische Literatur nicht selbstverständlich. Bei Johannes Gerson ließ sich beobachten, dass sie zwar auch vorausgesetzt und explizit benannt ist, aber kaum konstitutive Bedeutung für die Durchführung der Gewissensprüfung hat. Der Unterschied zu den Werken Dinkelsbühls und Landskrons hat wohl nicht nur mit der zeitlichen Entwicklung zu tun, sondern auch damit, dass im späten Mittelalter mit sehr unterschiedlichen Frömmigkeitsformen zu rechnen ist. Innerhalb der Polaritäten des späten Mittelalters stehen Landskron und Dinkelsbühl für einen eher äußerlich-sakramentalen Typus, während Gerson den innerlich-mystischen Typus repräsentiert und als solcher Luther auch bekannt war104. In dieser mystischen Tradition konnte gelegentlich die äußere Beichtsituation zugunsten der Introspektion völlig vernachlässigt werden. „... so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit”105,

heißt es bei Johannes Tauler. Solche Äußerungen waren in der Frühzeit der reformatorischen Bewegung bekannt. Luther selbst hat sie mit einem „Hoc nota tibi“ am Rand gekennzeichnet106. Mit dieser Traditionslinie ist man wohl an dem Punkt, aufgrund dessen Luther die Ausrichtung der Katechismen ändert. Er setzte nicht völlig neu an, sondern in seiner Spiritualität prallten unterschiedliche, bis ins Mittelalter rückführbare Traditionslinien aufeinander: Gegenüber einer Literatur der 104

S. z. B. WA.TR 1,40,5f (Nr. 104); 2,64f (Nr. 1351). Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 355,36–356,2. 106 WA 9,104,11. 105

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konzentrierten Beichte gewinnt bei ihm die verinnerlichte Buße jenseits der sakramentalen Beichte ein klares Übergewicht. Daher kann er die Impulse der katechetischen Literatur fortführen107 und doch im Sinne des usus elenchthicus legis intensivieren und radikalisieren. Man kann auch zugespitzt formulieren: Luther setzt die im 15. Jahrhundert zu beobachtende zunehmende Integration des Dekalogs in die katechetische Literatur fort, ja, gehört zu deren intensivisten Vertretern, indem er den Dekalog an den Beginn der Katechismen stellt – und zugleich wendet er diese Zuspitzung neu, indem er sie von der Beichtsituation löst und damit wieder die bei Gerson zu beobachtende, sonst aber zurückgetretene innerliche Funktion des Sündenspiegels in den Vordergrund rückt. Die skizzierte Polarität spiegelt sich auch in Luthers eigenem frühen Schaffen. Zeitgleich zu seiner ersten katechetischen Versuchen, den Auslegungen der zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers bis hin zur „Kurzen Form“ von 1520108, hat er auch Beichtratschläge verfasst und sich damit ganz auf der skizzierten Bahn der spätmittelalterlichen katechetischen Literatur bewegt: Die kurze Unterweisung, wie man beichten soll, von 1519 verfährt in ganz traditioneller Weise anhand der zehn Gebote109. Die Einsicht in die Sünde verbindet sich dabei mit der Bitte, dass Gott helfe, sie zu unterlassen: „O mein got unnd herr, ich habe ye das nicht, das ich schuldig bin, ich vormags auch nicht, Darumb bit ich dich, du wollest mir das gnedicklich geben, das du gebeutst, unnd mir gebieten, das du wilt.“110

Eben hieraus entwickelt Luther dann auch die Grundidee für die Kurze Form, in der er Dekalog, Glaubensbekenntnis und Vaterunser – in dieser Reihenfolge – verbindet und dies auch ausdrücklich begründet: „Alßo leren die gepott den menschen seyn kranckheit erkennen, das er siht und empfindet, was er thun und nit thun, lassen und nit lassen kann, und erkennet sich eynen sunder und bößen menschen. Darnach helt yhm der glaub fur uns leret yhn, wo er die ertzney, die gnaden, finden soll, die yhm helff frum werden, das er die gepott halte, Und tzeygt yhm gott und seyne bermhertzickeyt in Christo ertzeygt und angepotten. Zum dritten leret yhn das vatter unßer, wie er die selben begern, holen und zu sich bringen soll, nemlich mit

107 Eine andere Frage ist die der literarischen Abhängigkeit. Ihr hat sich Otto Dibelius anhand des Vaterunsers gewidmet und dargelegt, dass die vielen wörtlichen Anklänge von Luthers Auslegung an mittelalterliche Texte sich aus der gemeinsamen patristischen Tradition erklären lassen, mit dem Ergebnis, „daß wir an keinem einzigen Punkte eine Abhängigkeit Luthers von den Monumenten anzunehmen brauchen“ (DIBELIUS, OTTO, Das Vaterunser. Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittleren Kirche, Gießen 1903, 112). 108 WA 7,204–229. 109 WA 2,59–65. 110 WA 2,59,32–34.

Kapitel 9

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ordenlichem demutigen trostlichem gepeet, ßo wirrts yhm geben, und wirt alßo durch die erffullung der gepott gottis selig.“111

Im Vergleich zu Luthers späteren Katechismen fällt in diesem frühen Text die stark kasuistische Durchführung der Gebotsauslegung auf, die noch die deutliche Sprache des Beichtspiegels spricht, wenn etwa als Übertretung des ersten Gebotes Zauberei, Schwatzkunst, Teufelsfurcht, Kräutergebrauch, Verwendung von Wünschelruten und dergleichen aufgelistet werden112. Der Luther des Jahres 1520 schreibt hier in einer Weise, die in hohem Maße an die katechetische Literatur des späten Mittelalters anknüpfte. Wie Stefan Landskron will er den Weg zur Seligkeit weisen113. In seinen Formulierungen orientiert er sich stark an den Handlungen der Menschen. Luther gehört in gewisser Weise durchaus in den Strom spätmittelalterlicher katechetischer Literatur – so mahnt er etwa im Blick auf die Erfüllung des dritten Gebotes auch ganz kirchenkonform zum Besuch von Messe und Evangelium und zum Empfang des Sakraments114. Aber zugleich folgt er doch bereits jener innerlichen Linie, wie sie im späten Mittelalter durch Gerson repräsentiert und ihm durch Tauler bekannt war: Eine Orientierung an der Beichtsituation ist in der Kurzen Form nicht mehr leitend. Es liegt nahe, hiermit auch die Beobachtung zu verbinden, dass die Katechismen des Jahres 1529 in ihrem Dekalogteil weit weniger kasuistisch sind als die frühen Texte. Die Sündenerkenntnis wird mit fortschreitender Gesetzeslehre auch grundsätzlicher. Die Gestalt der lutherischen Katechismen verdankt sich damit einer reformatorischen Transformation der spätmittelalterlichen katechetischen Literatur. Ohne diese ist sie nicht erklärlich – aber durch sie allein auch nicht zureichend verstehbar.

111

WA 7,204,22–205,3. WA 7,207,19–22. 113 WA 7,204,12: Die kurze Form soll den Glaubenden lehren, „was yhm nodt ist zur selickeyt.“ 114 WA 7,212,27–29. 112

Kapitel 10

Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein In der Ockham-Forschung ist es üblich geworden, die Rede von einem Ockhamismus oder einer „Schule Ockhams“ als anachronistische Rekonstruktion anzusehen, die einzelne Denker zusammenbindet, die doch viel besser je für sich zu verstehen wären1. Das begründet auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Rede von einer „Schule Buridans“, und in der Tat wird man wohl auch die Wirkung Buridans eher als eine verzweigte, vielfältige Einflüsse integrierende und weiterentwickelnde Wirkung zu verstehen haben, denn als eine tatsächliche ausgeprägte Schulbildung. In diesen Kontext weiter Geflechte gehört es auch, wenn nun im Folgenden ein Theologe untersucht wird, der in der Philosophie als Schüler Buridans gilt. Über das Leben Heinrichs von Langenstein ist man durch die grundlegenden Forschungen von Georg Kreuzer einigermaßen gut informiert: Langenstein stammte aus dem Dörfchen Langenstein bei Marburg und hat unter Umständen erst ab 1360/1 in Paris die artes gehört2, so dass fraglich ist, ob er Buridan noch persönlich hören konnte; hier wurde er 1375/6 Magister der Theologie3. Infolge des Großen Schismas musste er 1382 die Pariser Universität verlassen4 und kam auf Umwegen nach Wien, wo er entscheidend am Aufbau der Universität, ihrer Theologischen Fakultät und auch deren Prägung durch die Wiener Schule beteiligt war5. Sein theologisches Œuvre ist noch wenig erforscht6, insbesondere sind die theologisch-philosophischen 1

S. exemplarisch Gordon Leff in: DERS. / VOLKER LEPPIN, Art. Ockham / Ockhamismus, in: TRE 25 (1995), 6–18, 16. 2 KREUZER, GEORG, Heinrich von Langenstein. Studien zur Biographie und zu den Schismatraktaten unter besonderer Berücksichtigung der Epistola pacis und der Epistola concilii pacis, Paderborn u.a. 1987 (QFG.NF 6), 49. 3 KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 51. 4 KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 63. 5 S. hierzu SCHWARZ, KARL, Art. Wien, in: TRE 36 (2004), 20–33, 26; GERWING, MANFRED, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegung im mittelalterlichen Deutschland, Paderborn u.a. 2000, 215–228. 6 S. aber die grundlegende Studie von HÄMMERL, ALFONS, Die Welt – Symbol Gottes oder eigenständige Wirklichkeit? Verachtung und Hochschätzung der Welt bei Heinrich von Langenstein (†1397), Regensburg 1994 (SGKMT 31); LANG, JUSTIN, Die Christologie bei Heinrich von Langenstein, Freiburg 1966; immerhin hat Langenstein in die neueren

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Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein

Einflüsse auf ihn noch wenig im Blick, so dass die im Folgenden vorgetragene Suche nach einer möglichen Wirkung Buridans7 – um mehr kann es nicht gehen – sich als einen kleinen Mosaikstein zu einem noch in weiter Ferne stehenden großen Bildnis versteht.

1. Zur Überlieferungslage des Sentenzenkommentars Wer die Sakramentenlehre eines mittelalterlichen Autors untersucht, wird klassischerweise zum vierten Buch seines Sentenzenkommentars greifen – und hat es damit im Falle Heinrichs von Langenstein nicht einfach: Insgesamt liegen zwei Manuskripte vor, die einen von einem Heinrich von Hessen, so eine andere gängige Bezeichnung für Heinrich von Langenstein, verfassten Sentenzenkommentar enthalten sollen: eine ausführliche Münchner Handschrift, sowie eine knappere, nur das zweite bis vierte Buch enthaltende Handschrift, die in Wien verwahrt wird und die der unermüdliche Rudolf Damerau in nicht unproblematischer Weise transkribiert und annotiert hat8. Damerau hat auch so gründlich dargelegt, dass zwischen diesem Sentenzenkommentar und dem der Münchner Handschrift ganz erhebliche Differenzen bestehen9, dass man jedenfalls beide Werke nicht als identisch ansehen kann. Diese Untersuchung konvergiert auch damit, dass Damasus Trapp die Identität der Münchner Handschrift mit einem Sentenzenkommentar des Jakob von Eltville aus dem späten vierzehnten Jahrhundert nachweisen konnte10. Damit dürfte feststehen, dass der Kommentar Langensteins lediglich in der Wiener Handschrift zu fassen ist. theologiegeschichtlichen Darstellungen von LEINSLE, ULRICH G., Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn u.a. 1995, 190–194; und GERWING, Theologie (wie Anm. 5), 216–219, Eingang gefunden; zu erwähnen ist auch die Darstellung der Abendmahlslehre Heinrich Langensteins bei DAMERAU, RUDOLF, Die Abendmahlslehre des Nominalismus insbesondere die des Gabriel Biel, Gießen 1963, 32–55, die sich freilich weitgehend in Paraphrase erschöpft. 7 DAMERAU, Abendmahlslehre (wie Anm. 6), 54, beschränkt sich darauf, Langenstein in ein Verhältnis zu Ockhamismus und Scotismus zu setzen, ohne auf Buridan einzugehen. 8 Der Sentenzenkommentar des Heinrich von Langenstein. Buch II, ed. v. Rudolf Damerau, Marburg 1980 (SGR 15); dass. Buch III und IV, hg. v. dems., Marburg 1979/80 (SGR 17). Dameraus Edition, an der gelegentlich deutliche Kritik geübt wurde (KREUZER, Langenstein [wie Anm. 2], 101f Anm. 390), wurde für die vorliegende Arbeit an der Handschrift Wien M 499/05 überprüft, ohne dass dabei gravierende Abweichungen festgestellt wurden. Für die Zurverfügungstellung einer Microfilmkopie danke ich der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. 9 LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar II (wie Anm. 8), XXXIII-XXXVII. 10 TRAPP, DAMASUS, Augustinian Theology of the 14th Century. Notes on Editions, Marginalia, Opinions and Book-Lore, in: Aug(L) 6 (1956) 146–274, 252 Anm 9; vgl. KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 63–79

Kapitel 10

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Hierdurch ist auch der wahrscheinlichste Zeitpunkt für die Entstehung geklärt: Während es für die Erstellung der längeren Fassung unterschiedliche Auffassungen geben konnte, insofern man an eine Ordinatio und damit an eine unabhängig vom Universitätsbetrieb erstellte Textfassung denken könnte11, spricht bei der Kurzfassung alles für eine Entstehung im Universitätsbetrieb, also im Zusammenhang von Heinrichs Pariser Lehrtätigkeit vor seinem Magistrat, demnach in der ersten Hälfte der siebziger Jahre des vierzehnten Jahrhunderts12. Diese Datierung ist insofern von inhaltlicher Bedeutung, als die vorliegende Fassung des Sentenzenkommentars eine Besonderheit aufweist: Der Sentenzenkommentar enthält im vierten Buch der Sentenzen lediglich eine einzige Frage: „Utrum consecracione eucharistie sub speciebus panis et vini fiat realiter corpus Christi?“13, also die Frage nach der Realpräsenz im Abendmahl. Diese Konzentration auf die Realpräsenzfrage entspricht zwar dem Duktus der spätmittelalterlichen Eucharistiediskussion14, ist aber dennoch in der Radikalität ihrer Reduktion auffällig. Mit der Datierung des Sentenzenkommentars in die frühen siebziger Jahre aber entfallen Gründe, diese Konzentration auf die Realpräsenzfrage auf die Wyclif-Diskussion zu beziehen, die erst wenige Jahre später voll entbrannte: Es spricht vielmehr viel dafür, dass diese Reduktion erst auf den Verfasser der maßgeblichen Handschrift, Michael Suchenschatz, zurückgeht. Dieser erklärt im Explizit, er habe die Quaestionen des vierten Buches „ex suo primario conceptu“ gesammelt und abgeschrieben15 – und das Explizit zum zweiten Buch macht klar, dass es sich tatsächlich um die in Wien befindlichen Aufzeichnungen Langensteins handelt, die Suchenschatz zur Vorlage seines Manuskriptes hatte16. Dabei hat er aber durchaus formale Veränderungen vorgenommen17, und es ist nicht auszuschließen, dass er in den Wogen der Streitigkeiten um die Böhmen besonderes Interesse an der Realpräsenzfrage hatte und das Exzerpt entsprechend zuschnitt, so dass hier also wenigstens mittel-

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S. hierzu KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 67. KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 51. 101; vgl. allerdings zur möglichen Entstehung erst 1385 ebd. 102. 13 Hs. Wien M 499/05 f. 226v; vgl. LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 159,2–5. 14 S. mit kritischem Unterton NEUNHEUSER, BURKHARD, Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit, Freiburg u.a. 1963 (Handbuch der Dogmengeschichte IV,4b), 44–51. 15 Hs. Wien M 499/05 f. 237v; vgl. LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 204,13–18. 16 „Hec est finis questionum secundi sententiarum M. Heinrici de Hassia pie memorie, et hoc in parte quantum in Wienna de ipsis inveniri valuit“ (Hs. Wien M 499/05 f. 189v); vgl. LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar II (wie Anm. 8), 150,26–29. 17 KREUZER, Langenstein (wie Anm. 2), 101. 12

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bar die Diskussionen um die Eucharistie, wie sie durch Wyclif und Hus angestoßen waren, eine Wirkung auf den Text hatten. Zusammengefasst gilt also: Wir haben wahrscheinlich einen 1411 vorgenommenen Ausschnitt aus einen im Zuge der siebziger Jahre erstellten Text Langensteins vorliegen. Dass dieser in eine ausführlichere Sakramentenlehre eingebettet war, lässt sich nicht beweisen, aber vermuten. Vorhanden ist nur die Abendmahlslehre, genau genommen nur der auf die Realpräsenz gerichtete Ausschnitt aus derselben.

2. Die theologische Position Die Diskussion zur Frage der Realpräsenz ist bekanntlich von jenen Unterscheidungen bestimmt, die schon Petrus Lombardus vorgebracht hatte, wonach in der Eucharistie entweder die Substanzen von Brot und Wein im annihilatio-Modell vernichtet würden oder in die Substanz Christi gewandelt würden, die Transsubstantiation, oder im Sinne der Konsubstantiation dass beide nebeneinander bestünden18. Im Unterschied zu Ockham, der zu Anfang des Jahrhunderts diese Modelle noch mit einer gewissen Offenheit gehandhabt hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, die Konsubstantiationslehre sei die rational verträglichste Auffassung, aufgrund der Kirchenlehre aber schließe er sich der Lehre von der Transsubstantiation an19, lässt Langenstein, den Erwin Iserloh in dieser Frage noch schlicht in die Ockhamsche Traditionslinie eingeordnet hatte20, von vorneherein keinen Zweifel an der Kirchenlehre. Schon zu Beginn der Behandlung der Frage, ob durch die Weihe in der Eucharistie unter den Gestalten von Brot und Wein real der Leib Christi präsent werde, führt er als Antwort ausdrücklich die veritas catholica an, die durch den Lombarden, aber auch die Aufnahme des Berengar-Bekenntnisses in das Decretum Gratiani21 und eine Stelle aus den Dekretalen22 abgesichert wird23. Schon allein diese Reihung der Autoritäten, insbesondere der stark präsente Rückgriff auf das Kirchenrecht zeigt, wie sehr aus der Frage, die bei Ockham gut zwei Generationen zuvor zunächst noch in ganz akademischem Sinne traktiert worden war, mittlerweile eine Frage geworden war, die unter der 18

Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libros distinctae. Bd. 2, Grottaferrata 1981, 298,1–13, 19 S. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter – Streiter – Bettelmönch, Darmstadt 2003, 81–84. 20 ISERLOH, ERWIN, Art. Abendmahl III/2: Mittelalter, in: TRE 1 (1995), 89–106, 101. 21 De consecratione, d. 2 c. 42 (Corpus Iuris Canonici, ed. v. Emil Friedberg. Bd. 1, Leipzig 1879 [= Graz 1955], 1328f). 22 Decretales Gegorii IX. l.3 t. 41 c. 6 (Corpus Iuris Canonici [wie Anm. 21], 636–639. 23 Hs. Wien M 499/05 f. 226v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 160,16–20.

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Drohung kirchenrechtlicher Sanktionierung stand: So wie Ockham selbst nach begonnener kirchenrechtlicher Drohung in seinen Eucharistietraktaten24, sichert Langenstein sich schon von vorneherein kirchenrechtlich ab und stellt sich mit dem Bekenntnis zur veritas catholica auf den Boden der Kirchenlehre. Ehe auf die philosophischen Deutungsmuster eingegangen wird, die ihm dies auch erlauben, sei zunächst ein Blick auf die im engeren Sinne theologischen Deutungsstrategien geworfen. Es sind im Wesentlichen drei: eine erkenntnistheoretische, die die Begrenztheit des menschlichen Verstehensvermögens betont, eine in die Theologie im engeren Sinne, die Gotteslehre, reichende, und eine christologische. 1. Das erkenntnistheoretische Argument ist denkbar einfach und hinreichend bekannt: Langenstein appelliert im Sinne von 2 Kor 10,5 daran, den Verstand „in obsequium fidei“ zu geben25. So hatte schon seinerzeit die Pariser Theologenkommission, die 1277 die konsequenten Aristoteliker verurteilte, geurteilt26, und das Paulus- Zitat war nicht nur Teil des Arsenals der Zensoren geworden27, sondern es hatten sich auch Theologen selbst diesen Satz zu eigen gemacht28, um den kirchenrechtlichen Fängen zu entgehen. Allerdings würde man es sich wohl zu einfach machen, wollte man Langenstein nur einen solchen kirchenrechtlichen Opportunismus unterstellen. Vielmehr enthält sein Zurückstehen vor einer völligen rationalen Aufschlüsselung des Geschehens im Abendmahl auch eine gewichtige Frömmigkeitsdimension. Aus dem Lombarden zitiert er Augustin: „misterium fidei credi salubriter potest, investigari salubriter non potest“29. Das Abendmahl wird zutiefst als Mysterium verstanden und gewinnt damit zugleich eine eschatologische Dimension: Mit Augustin bezieht Langenstein Mt 28,20: „Siehe, ich will bei euch bleiben alle Tage bis an das Ende der Welt“ auf die reale Präsenz in der Eucharistie30. Diese gewinnt also eine zentrale und damit letztlich durch den Verstand weder einholbare noch auflösbare Stellung für das Frömmigkeitsleben der Kirche. Allerdings macht Langenstein nur sehr restriktiven Gebrauch von diesem Gedanken eines Mysteriums: An einer Stelle spricht er davon, es bleibe noch 24

LEPPIN, Wilhelm von Ockham (wie Anm. 19), 114–118. Hs. Wien M 499/05 f. 227v, LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 164,1f. 26 S. Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs v. Paris, ed. v. Kurt Flasch, Mainz 1989 (ExCl 6), 113. 27 BIANCHI, LUCA, „Captivare intellectum in obsequium Christi“, in: RCSF 38 (1983), 81–87. 28 S. z.B. bei OCKHAM OT 2, 7,13–18,1. 29 Hs. Wien M 499/05 f. 227v; vgl. LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 164,9f; vgl. LOMBARDUS, Sentenzen (wie Anm. 297,7f (IV d. 11 c. 2). 30 Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 162,5–10). 25

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eines „mirabile vel miraculosum“31, und dieses eine ist nun auffälligerweise nicht die später durchaus thematisierte Berengarfrage nach dem Verbleib der Akzidentien bei sich wandelnder Substanz, die Langenstein auch als markanten, aber eben nicht wunderhaften, Unterschied zu anderen Wandlungen sieht32, sondern es ist das Phänomen, dass die Präsenz Christi in jedem Teilstück der Hostie gleicherweise gegeben ist33 – wenn man den Gedankengang genau verfolgt, so wird auch dieses Problem letztlich rational aufgelöst durch die quantitas-Lehre. Zunächst aber bleibt der Charakter des Wunderbaren und damit die Einordnung nicht unter das Wissbare, wohl aber unter etwas, dessen „credibilitas“ noch plausibel zu machen ist34. Glaubwürdigkeit ist also entgegen dem ersten Anschein keineswegs durch Autoritäten gegeben, sondern durch eigene, methodisch nicht aufgeschlüsselte Plausibilitätskriterien. So wie das Bekenntnis zu den Grenzen der Vernunft Langenstein hier nicht das Fragen beendet sein lässt, so gilt erst recht, dass auch die Vernunft trotz dieses Bekenntnisses weiter fragen darf, soll und kann. Denn Langenstein zielt gerade nicht auf jenen Gebrauch des Korintherzitates, der das Verstehen-Wollen verhindern will, wendet sich dabei freilich nicht gegen die Zensoren, sondern gegen jene, die wie die konsequenten Aristoteliker in Paris im 13. Jahrhundert behaupteten, was nicht verstanden werde, müsse auch nicht geglaubt werden35. Unter Verweis auf 1 Petr 3,15 erklärt er es zur Aufgabe, Rechenschaft über den eigenen Glauben abzugeben36 und eröffnet damit die Möglichkeit rationaler Argumentation auch in Bezug auf das unzweifelhaft geglaubte Mysterium. Der Grund aber dafür, dass es überhaupt solche Mysterien gibt, ist die Tatsache, dass Gott mehr tun kann als der Verstand des Menschen begreifen kann37. Damit sind wir 2. beim theologischen Argument im engeren Sinne: der Gotteslehre. Es ist bei einem Theologen, der gemeinhin der Via moderna zugerechnet wird, nicht überraschend, dass bei ihm die Gedankenfiguren der 31

Hs. Wien M 499/05 f. 228r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 166,3f. 32 S. Hs. Wien M 499/05 f. 228r-v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 167,8–14. 33 Hs. Wien M 499/05 f. 228r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 166,4–8. 34 Hs. Wien M 499/05 f. 228r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 166,10f; vgl. ganz ähnlich Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 162,3–5 (hier mit dem Parallelbegriff verisimilitas). 35 Hs. Wien M 499/05 f. 227v: „Deus potest facere plus quam nos possumus intelligere“; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 163,25–28; vgl. FLASCH, Aufklärung (wie Anm. 26), 134. 36 Hs. Wien M 499/05 f. 227v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 164,14–19. 37 Hs. Wien M 499/05 f. 227v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 163,23f.

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potentia absoluta eine ganz erhebliche Rolle spielen. So wird schon ganz grundsätzlich als Kriterium für die Möglichkeit der Realpräsenz im Abendmahl – genauer: der gleichzeitigen Präsenz Christi zur Rechten des Vaters und in der Eucharistie – der fehlende Widerspruch zur omnipotentia Gottes benannt38. Und diese Argumentationsfigur wird auch im Folgenden wieder gebraucht, wenn es um die Begründung von Wandlungsmöglichkeiten geht39. Dabei fällt auf, dass die Allmacht durchaus ihre materialen Grenzen findet40: Gott vermag einen Engel zwar in jedwede Entität, aus der er ihn herstellen könnte, zurück zu verwandeln – aber ohne Schuld41. Wichtiger als diese Begrenzung ist aber die Begrenzung im argumentativen Gebrauch: das potentiaabsoluta-Argument erscheint ausschließlich an jenen Punkten, an denen es um das geht, was oben mit der „credibilitas“ der Glaubensinhalte angesprochen war, also für begrenzte Fälle, in denen die Vernunft nicht weiter kommt. Damit deutet sich an, dass Langensteins potentia-Modell stärker an dem des Duns Scotus orientiert ist als an Ockham: Hatte dieser mit Hilfe der potentia absoluta bewusst nur Möglichkeiten Gottes benennen wollen, aber keine Handlungsbereiche in Gott unterschieden, so hatte Duns potentia absoluta und potentia ordinata gerade so aufgeteilt, dass der potentia ordinata gewissermaßen die normalen Handlungswiesen zugeordnet wurden, der potentia absoluta hingegen einige besondere, die Normalität durchbrechende Handlungen42. Eben dieses letztere Modell scheint auch für Langensteins potentiaDenken maßgeblich. Das aber hat eine doppelte Konsequenz: Zum Einen fallen Seins- und Denkordnung auseinander – sozusagen der klassische Fall nominalistischer Problematisierung der Möglichkeiten von Rationalität. Umgekehrt aber heißt es auch, dass die Rationalität in jenem Bereich der Normalität ungehindert voranschreiten kann und unbeschadet Gottes etwaiger weiterer Möglichkeiten zu korrekter Weltwahrnehmung gelangt. Zu diesen beiden sich eng aufeinander beziehenden Argumenten erkenntnistheoretischer und im engeren Sinne theologischer Art gesellt sich nun noch 3. ein christologisches Argument, das man mit der Sprache der späteren Dogmenbildung wohl als kenotisches Argument bezeichnen könnte: Langenstein legt dar, dass Christus sich dem Verstehensvermögen der Menschen angepasst hat, indem er seine Präsenz auf Erden nach Mt 28 nicht „sub propria

38 Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 162,13–16. 39 Hs. Wien M 499/05 f. 236v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 176,7–16. 40 Vgl. ähnlich schon bei Ockham: LEPPIN, Wilhelm von Ockham (wie Anm. 19), 69f. 41 Hs. Wien M 499/05 f. 236v; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 176,11–14. 42 Zu diesem Unterscheid s. LEPPIN , VOLKER, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (FKDG 63), 47f.

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specie glorie“ verwirklicht habe, sondern in sinnenhafter Weise43. Entscheidendes Motiv hierfür ist der Heilswille Christi, „qui praecipue venit propter salutem hominis“44. Dieser Aspekt des Heilswillens ist von besonderer Bedeutung, da Langenstein an anderen Stellen die Möglichkeit christologischer Argumentation ausdrücklich ausschließt: Er will die Präsenz Christi unter den Abendmahlselementen bewusst nicht im Sinne einer hypostatischen Einung nach dem Vorbild der Einung der beiden Naturen in Christus vorstellen45. Die Christologie wird also nicht zum Universalschlüssel der Abendmahlslehre, wird nicht, wie später in den reformatorischen Streitigkeiten zur materialen Erklärung des Abendmahlsgeschehens herangezogen, wohl aber zu seiner Begründung: Der Heilswille Gottes und Christi ist das Entscheidende, das die schwer verstehbare Realpräsenz motiviert. Wie die beiden anderen theologischen Gedankengänge ist also auch dieser eher auf die Begründungsstruktur bezogen als auf die materiale Durchführung der Erklärung des Transsubstantiationsvorganges – hierzu bedient sich Langenstein nun der Philosophie.

3. Die philosophische Argumentation Wie erwähnt, diente Langensteins Betonung der Wunderhaftigkeit der Eucharistie keineswegs dazu, gedankliche Rekonstruktionen ganz zu vermeiden; vielmehr bemühte er sich um solche, auch im Rückgriff auf die Philosophie. Die für die Abendmahlstheologie des vierzehnten Jahrhunderts entscheidende Frage war dabei die nach dem Verhältnis von Substanz und Quantität. Sie steht im Mittelpunkt der Lösung von Langenstein, wenn er die Präsenz Christi als eine im „modus quantitativus“ gegebene deutet46. Das Problem also wird nicht mehr allgemein anhand der seit Berengar so problematischen Zuordnung von Substanz und Akzidens behandelt, sondern es geht nun um eine physikalische Aufschlüsselung anhand des quantitas-Begriffs. Damit wird sicher allgemein der Aufschwung der Physik, der sich im Laufe des 14. Jahrhunderts abzeichnet, aufgenommen. Aber Langenstein steht damit auch in einer theologischen Tradition der quantitas-Argumentation im Zusammenhang der Eucharistielehre. Es war wiederum Ockham, der 43

Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, 8), 162,25–163,10. 44 Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, 8), 162,28f. 45 LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV ebd. 169,25–30. 46 Hs. Wien M 499/05 f. 229r; LANGENSTEIN, 8), 186,7–10.

Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. (wie Anm. 8), 170,18–20, bezogen auf Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm.

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diese Fragestellung vorgeprägt hatte47, indem er im Gefolge Olivis48 und möglicherweise Heinrichs von Harclay49 die Quantität als von Substanz und Qualität nicht real unterschieden gedeutet50 und sie als bloßen Ausdehnungsmodus der Substanz definiert hatte51 – so konnte es denkbar werden, dass die Substanz Christi nicht tangiert wurde, wenn sie unterschiedliche räumliche Ausdehnungen, sei es im menschlichen Leib, sei es in der Hostie bzw. in vielen Hostien einnahm. Wie markant dieser Punkt seinerzeit war, zeigt die Tatsache, dass er unter den Anklagepunkten steht, die Johannes Lutterell gegen Ockham sammelte52. Interessanterweise ist Johannes Buridan genau an diesem Punkt dezidiert von Ockham unterschieden53. Gerhard Krieger hat in seiner eingehenden Analyse der Metaphysik Buridans gezeigt, dass die Quantität als räumliche Ausdehnung gegenüber anderen Seinsgegebenheiten für Buridan eine ausgeprägte Selbständigkeit besitzt54: „ponamus dimensionem distinctam a materia et forma a caliditate et frigditate et huiusmodi qualitatibus, qua praedicta omnia sint extensa“55

Hatte Ockham die Quantität letztlich im Unterschied zur res selbst als bloß sprachliche Bestimmtheit definiert56, so wird bei Buridan die Quantität ihrerseits nach der Deutung Gerhard Kriegers, „ein objektives Fundament“ der Physik57. Man hat hier also einen klassischen Anwendungsfall für das, was wohl charakteristisch für Buridan ist: dass nämlich die sprachphilosophisch orientierte Sprachkritik eben nicht in eine reine Orientierung an der Logik

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Vgl zur Schlüsselstellung Ockhams in dieser Frage NEUNHEUSER, Eucharistie (wie Anm. 14), 44. 48 OLIVI, Quaestines in II Sent. Q. 58, ed. v. Bernhard Jansen, Bibliotheca Franciscana Scholastica medii Aevi V, Quartacchi 1924, 440–458; vgl. OCKHAM, OT 7, 71, Anm. 1; vgl. MAIER, ANNELIESE, Das Problem der Quantität oder der räumlichen Ausdehnung, in: DIES., Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie, Rom 1955 (SNS 4), 139–223; BURR, DAVID , Quantity and Eucharistic Presence. The Debate from Olivi through Ockham, in: CFr 44 (1974) 5–44) 49 S. URBAN, WOLFGANG, Art. Quantität. II. Mittelalter, in: HWP 7, 1796–1808, 1804. 50 OP 7, 71,6–8. 51 OT 7, 71,8–72,2; vgl. LEPPIN, Ockham (wie Anm. 19), 83. 52 HOFFMANN, FRITZ, Die Schriften des Oxforder Kanzlers Iohannes Lutterell. Texte zur Theologie des vierzehnten Jahrhunderts, leipzig 1959 (EThSt 6), 3,12. 53 Zu Ockhams Kritikern rechnet ihn URBAN, Quantität (wie Anm. 49), 1806. 54 KRIEGER, GERHARD, Subjekt und Metaphysik. Die Metaphysik des Johannes Burian, Münster 2003 (BGPhMA 65), 226–231. 55 Acutissimi philosophi reverendi Magistri Johannis buridani subtilissime questiones super octo phisicorum libros Aristotelis .... Paris 1509 (= Frankfurt / M. 1964), f. 11r; vgl. zu dieser Stelle KRIEGER, Subjekt und Metaphysik (wie Anm. 54), 20 Anm. 29. 56 S. den Vergleich mit der duratio OZ 7, 72,2–12. 57 KRIEGER, Subjekt und Metaphysik (wie Anm. 54).

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Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein

führt, sondern in eine Kritik der Sprache durch Empirie58 – Buridan hat sein quantitas-Verständnis denn auch durch empirische Beispiele unterfüttert und begründet59 und kritisiert nun Ockham auf neuer Grundlage – aber in einer Weise, die auch eine Wiederanknüpfung an ältere, vor-ockhamsche Positionen der deutlichen realen Unterscheidung von Quantität und Substanz ermöglicht60. Eben dies ist nun, vor allem sprachlich, bei Langenstein zu beobachten: Er spricht von der Notwendigkeit einer „unio quantitatis ad substantiam“61, setzt also deren reale Unterscheidung und Trennung voraus, und dies in einer Begrifflichkeit, die klar an unterschiedliche Entitäten denken lässt. Auf dieser Grundlage aber kann er dann zu einer Erklärung der realen Präsenz Christi unter den Elementen der Eucharistie kommen: Diese erfolgt im Modus quantitativus, aber in intrinsischer Weise, das heißt nicht so, dass die äußeren Dimensionen entsprechend messbar und proportionengerecht verteilt würden62. Die Quantität wird also als eine Bestimmtheit genommen, die nicht ohne weiteres zählbar, aber eben doch gegeben ist – so ist es möglich, dass Christus quantitativ in der Eucharistie präsent ist und doch die Maße einer Hostie sich offenkundig von denn Maßen eines Menschen unterscheiden. Die Quantität also hat eine eigene Form von Realität, die über solche äußerlichen Merkmale hinausgeht, und in dieser Realität kann sie nun, ganz im Sinne jener Schaffung eines objektiven Fundamentes für die Physik, eine Schlüsselstellung für die Präsenz des Leibes Christi erhalten. Ausdrücklich nämlich stellt Langenstein die Folgerung auf, dass dann, wenn die Quantität des Leibes Christi unter den Elementen vorhanden ist, durch sie der Leib Christi intrinsisch und quantitativ dort ist63. Die Quantität also bildet den Angelpunkt, über den die reale Anwesenheit des Leibes Christi ermöglicht wird. Und eben hiermit ist nun die entscheidende Kehrtwende gegenüber der Argumentati58 S. zu dieser Buriodan-Deutung LEPPIN, VOLKER, Die spätmittelalterlichen moderni. Ein erster Emanzipationsversuch der Philosophie von der Theologie?, in: Mariano Delgado / Guido Vergauwen (Hg.), Glaube und Vernunft – Theologie und Philosophie. Aspekte ihrer Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart, Fribourg 2003 (ÖBFZPhTh 44), 45– 60, 57f; zu der Schwierigkeit, Buridan eindeutig einer nominalistischen Tendenz zuzuordnen s. SCHÖNBERGER, ROLF, Relation als Vegleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik, Leiden u.a. 1994 (STGMA 43), 21– 24. 59 S. KRIEGER, Subjekt und Metaphysik (wie Anm. 54), 228f. 60 Zu dieser Zuordnung Buridans als Kritiker Ockhams aus erneuerter Grundlage unter Anknüpfung an ältere Positionen s. SCHÖNBERGER, Relation (wie Anm. 58), 22. 61 Hs. Wien M 499/05 f. 233r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 186,11f. 62 Hs. Wien M 499/05 f. 233r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 186,7–10. 63 Hs. Wien M 499/05 f. 233r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 186,22–24.

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onsweise Ockhams erreicht: Hatte dieser das Problem der Quantität gewissermaßen weg interpretieren müssen, indem er sie zu einer bloßen Funktion der Substanz machte, wird sie umgekehrt bei Langenstein zum Schlüssel, der die reale Präsenz der Substanz ermöglicht, weil Quantität eine „inhaesio[nem] informativa[m] quantitatis ad substantiam“ ist64. An dieser Stelle nun scheint es mir möglich, etwas grundsätzlicher die Stellung Langensteins zur Buridanschule zu bestimmen, auch ohne auf die weitere Detaildiskussion zur Eucharistie bei ihm einzugehen. Die Dinge liegen hier offenbar so, dass Langenstein eine Problemstellung aufnimmt, die Ockham in die Diskussion gebracht hatte und der es eigen war, dass eine theologische Frage nicht ohne Rückgriff auf philosophisch-physikalische Überlegungen zu klären war. Diese Problemstellung, die Intrepretation ders eucharistischen Geschehens vermittels der Kategorie der quantitas, übernahm Langenstein implizit und wohl durch andere vermittelt, von Ockham, aber die Problemlösung erfolgte mit Hilfe Buridans und seiner quantitas-Deutung. Dabei kam Langenstein zu einer Antwort, die im Ergebnis, in ihrer affirmativen Haltung zu Transsubstantiation, „konservativer“ ist als die Ockhams65.

Schlussbemerkungen: Die Frömmigkeitsdimension Blickt man nach dieser geistesgeschichtlichen Einordnung noch einmal auf die vorgetragenen Überlegungen, so fällt eine gewisse Spannung zwischen Fideismus und Rationalität bei Langenstein auf: Das Bekenntnis zum Mysterium des Sakramentes, das auch materiale Folgen im Sinne von Handlungssträngen Gottes jenseits des vernünftig Begreifbaren haben soll, steht nicht völlig in Einklang damit, dass am Ende doch der Vorgang der Transsubstantiation als rational erklärbar geschildert wird. So haben wir bei Langenstein nebeneinander ein Bewusstsein von der schwierigen Zuordnung von Glauben und Wissen, das sich sicher von Ferne den mit Ockham Anfang des Jahrhunderts begonnenen Weichenstellungen verdankt, aber wir haben im Ergebnis ein bedeutend harmonischeres Modell als beim Venerabilis Inceptor: Vernunft und – in der Kirchenlehre fassbare – Offenbarung sind miteinander versöhnt. Dass dennoch die vorhandenen Spannungen benannt werden, verweist allerdings auf eine weitere Dimension im Denken Langensteins: Die Kategorie der credibilitas gibt seinem theologischen Denken eine Ausrichtung, die so dem Gesamtduktus seiner Argumentation nicht anzumerken ist. Denn die

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Hs. Wien M 499/05 f. 233r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 186,25–27. 65 So im Ergebnis auch DAMERAU, Abendmahlslehre (wie Anm. 6), 54.

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Die Deutung der Sakramente bei Heinrich von Langenstein

credibilitas hat ein klares Objekt: Sie soll „persuaderi christianis“66. Das heißt: Die Argumentationsrichtung geht hier nicht im akademischen Kontext auf, sondern hat alle Christen im Blick. Nimmt man die klare Orientierung am Heilswillen Christi mit hinzu, so ergeben sich Perspektiven, die aus anderen Kontexten bekannt sind: Eine Theologie, die nicht allein im abstrakten akademischen Diskurs, in der internen Auseinandersetzung der BuridanSchule ihr Ziel hat, sondern im Glaubensleben der Christen und Christinnen. Es sind dies Aspekte der Theologie, die bei anderen Autoren von Berndt Hamm mit dem Begriff der „Frömmigkeitstheologie“ benannt worden sind 67. Und genau in diesem Sinne wird man Langenstein wohl zu verstehen haben. Die Untersuchung der einen erhaltenen Quaestio des vierten Buches seines Sentenzenkommentars zeigt ihn wenigstens in Ansätzen als einen Frömmigkeitstheologen, der akademische Theologie in praktischer Abzweckung treibt – und damit als bemerkenswerte Parallelerscheinung etwa zu Johannes Gerson. Eben dies macht es auch verständlich, warum der Pariser Sententiar, mit dessen Text wir es vermutlich zu tun hatten, in Wien zu einem der wichtigsten Vertreter jener Wiener Schule werden konnte, die in herausragender Weise als Ort der „Frömmigkeitstheologie“ zu beschreiben ist.

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Hs. Wien M 499/05 f. 227r; LANGENSTEIN, Sentenzenkommentar III/IV (wie Anm. 8), 162,3–5. 67 S. HAMM, BERNDT, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden / Marcel Nieden (Hg.), Praxis Pietatis. FS Wolfgang Sommer, Stuttgart 1999, 9–45.

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Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter1 Anfang Juni 1998 lud die Evangelische Akademie in Thüringen zu einer Tagung für Schüler und Schülerinnen ein. Geworben wurde mit einem vielversprechenden Thema: „Mystik und Widerstand“. Thema und Titel sind nur ein Indiz in einer ganzen Kette von Anzeichen der Konjunktur, die Mystik seit einigen Jahren im Protestantismus erfährt. Der Titel „Mystik und Widerstand“ zitiert unverhohlen die Überschrift des jüngsten Buches von Dorothee Sölle. Und nicht nur Frau Sölle hat im vergangenen Herbst ein Buch zur Mystik veröffentlicht, sondern auch Jörg Zink, also ein weiterer Autor, der auf der Höhe des protestantischen Zeitgeistes zu reden und zu schreiben pflegt2. Bei dieser Konjunktur der Mystik scheint nicht nur das verständliche Bedürfnis eine Rolle zu spielen, die Protestantinnen und Protestanten der Gegenwart darauf hinzuweisen, dass die Begegnung mit Gott nicht allein im und durch den Kopf stattfindet. Die seltsame, aber anscheinend äußerst attraktive Wortkombination „Mystik und Widerstand“ weist auf ein tieferliegendes Bedürfnis: Mystisches Denken und noch mehr: mystisches Erleben soll als neue Quelle kritischer Potentiale entdeckt werden. Damit aber zeigt die Mode ihre äußerst konventionellen Wurzeln, denn die Kombination aus Mystik und Kritik ist vor dem Hintergrund traditioneller Mystikdeutung im Protestantismus alles andere als überraschend. Die einschlägige und grundlegende Formulierung der darin ausgedrückten Sicht der Dinge stammt von Ernst Troeltsch. In seinen „Soziallehren“ führte er gegenüber der Religionstypologie von Max Weber neben Kirche und Sekte einen weiteren Religionstypus ein, eben den mystischen3. Und er charakterisierte ihn bei seinem Aufkommen im späten

1 Der folgende Aufsatz geht auf meine Heidelberger Antrittsvorlesung vom 3. Juni 1998 zurück. Der Text wurde nur geringfügig überarbeitet und um die nötigsten Fußnoten ergänzt; die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. 2 SÖLLE, DOROTHEE, Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, Hamburg 1997; ZINK, JÖRG, Dornen können Rosen tragen. Mystik – die Zukunft des Christentums, Stuttgart 1997. 3 S. MOLENDIJK, ARIE L., Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (Troeltsch-Studien Bd. 9), Gütersloh 1996, 43.

172 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter Mittelalter als „eine mächtige Konkurrenz gegen die bisherige, kirchlich und priesterlich geleitete Ideenwelt“4. Dieses von Troeltsch auf den Begriff gebrachte und vielfach repetierte beliebte Modell der Mystikdeutung hat auf den ersten Blick viel für sich. So schwierig es ist, Mystik zu definieren, so wird man doch wenigstens soviel festhalten können, daß im Zentrum mystischen Christentums die momenthafte Wesens- oder Willenseinigung des Erdenbürgers oder der Erdenbürgerin mit Gott steht5: Ist eine solche unmittelbare Einung mit Gott möglich, fragt sich in der Tat, wozu ein Priester, der durch die Sakramente Heil vermittelt, noch nötig sein soll. Entsprechend gibt es im späten Mittelalter durchaus auch solche Erscheinungen mystischer Frömmigkeit, die in Konkurrenz zur Kirche traten. Das ist vor allem an den Brüdern und Schwestern vom freien Geist festzumachen, die seit dem späten dreizehnten Jahrhundert immer wieder erwähnt werden. Es handelt sich hier wohl nicht, wie die kirchlichen Autoren glauben machen wollen, um eine weit verzweigte, gefährliche Sekte, sondern um viele einander ähnliche Phänomene, die eben unter diesem Begriff zusammengefasst wurden. Häufig sind es insbesondere die Schwestern, auf die dabei die Aufmerksamkeit fällt, in vielen Fällen Beginen, deren soziale Sondersituation mit Häresie in Verbindung gebracht wurde oder sich tatsächlich verband. So war es ganz gewiss eine Herausforderung für die priesterliche Heilsvermittlung, wenn die Begine Margareta Porete schrieb, dass die mystisch mit Gott geeinte freie Seele Gott nicht mehr durch Sakramente suchen müsse6, oder wenn kirchliche Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen, niederrheinische Beginen lehrten, dass dem Altarsakrament in der Elevation keinerlei Verehrung zukommen müsse7. Das zeigt, dass es in der Tat Tendenzen gegeben hat, auf4

TROELTSCH, ERNST, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1994 (= ebd. 1912); vgl. MOLENDIJK, Theologie (wie Anm. 3), 58. Gegen Troeltschs Mystikdeutung und ihre folgen wendet sich auch in aller Schärfe HAAS, ALOIS M., Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern u.a. 1995, 67– 70. 5 Genauer verstehe ich im folgenden unter „Mystik“ eine Ausprägung von Theologie oder Frömmigkeit, in deren Mittelpunkt die innerweltlich proleptisch schon mögliche innerliche Wesens- oder Willenseinung des gläubigen Menschen mit Gott steht. Diese Einung kann Ausgangspunkt des Denkens sein oder auch sein Zielpunkt. Innerhalb der spätmittelalterlichen Mystik sind als Idealtypen zu unterscheiden die spekulative Mystik und die devotionale Mystik. 6 CChr.CM 69,242,20f: „Ceste, qui telle est, ne quiert plus Dieu par penitance ne par sacrement nul de Saincte Eglise“; vgl. PORETE, MARGARETA, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik. Übers. v. Louise Gnädinger, München 1987, 131; zum Zusammenhang Poretes mit den Brüder und Schwestern vom freien Geiste s. MANSELLI, RAOUL, Art. Brüder des freien Geistes, in: TRE 7 (1981), 218–220, hier 219. 7 DS 898; vgl. hierzu BROWE, PETER, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1933, 50. Zum Zusammenhang dieser Verurteilung mit der der Margareta Porete s.

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grund mystischer Erfahrungen der sakramentalen Heilsvermittlung den Boden unter den Füßen fortzuziehen. Der Blick auf dieses Phänomen schafft aber hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Mystik und Kirchlichkeit eine trügerische Eindeutigkeit. Die Dinge werden schon allein durch die ganz schlichte Tatsache um einiges komplizierter, dass nicht nur die Mystiker des Hohen Mittelalters – die Viktoriner oder Bernhard von Clairvaux – äußerst kirchenfromme Männer waren, sondern auch Eckhart und seine Schüler im 14. Jahrhundert alles daran setzten, ihre Lehren innerhalb der Kirche zu vertreten: Mystik führte im späten Mittelalter nur ausnahmsweise und gerade im Regelfall nicht zur Konstitution von Gruppen außerhalb der Kirche, sie war zunächst und vor allem ein Phänomen in der Kirche. Erst wenn man dies in den Blick nimmt – und das soll im Folgenden anhand der Frage der priesterlichen Heilsvermittlung durch das Sakrament8 geschehen – kann man die Ambivalenz spätmittelalterlicher Mystik recht wahrnehmen.

1. Die Kirchlichkeit mystischer Theologien Die Autoren der wichtigsten mystischen Schriften aus dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert waren selbst Kleriker und als solche voll und ganz in das System kirchlicher Heilsvermittlung involviert. Sie haben als Beichtväter und als Priester, die das Opfer vollzogen, gewirkt9. Das springt in den erhaltenen Texten deswegen nicht ins Auge, weil auch deren Sammlung sich ja dem Interesse an dem Besonderen dieser Prediger verdankt und sie nicht zunächst den kirchenüblichen Alltag vor Augen stellen wollen – von Johannes Tauler zum Beispiel ist keine einzige seiner berühmten Volkspredigten erhalten, sondern lediglich solche Predigten, die er vor ohnehin religiös bewegten Nonnen und Beginen hielt. Trotzdem finden sich in den mystischen Texten immer wieder Hinweise auf die ganz selbstverständliche rituelle Praxis des kirchlichen Alltags: Immer wieder mahnen die Mystiker dazu, häufig die Kommunion zu empfan-

RUH, KURT, Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen, in: PPh 8 (1982) 323–334, hier 324. 8 Diese Frage ist, soweit ich sehe, bislang nicht systematisch aufgearbeitet worden. Einzelstudien gibt es insbesondere zu Tauler (HOFFMANN, ADOLF, Sakramentale Heilswege bei Tauler, in: Ephrem Filthaut [Hg.], Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag, Essen 1961, 247–267 [freilich mit Tendenz zum systematischen Korsett]; ZEKORN, STEFAN, Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler [SSySpTh 10], Würzburg 1993, 149–160). 9 Diesen realen Hintergrund betont auch COGNET, LOUIS, Gottes Geburt in der Seele. Einführung in die Deutsche Mystik, Freiburg u.a. 1980, 101.

174 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter gen10. Ganz plastisch wird das traditionsgebundene Eucharistieverständnis in einer Episode aus der Vita Heinrich Seuses. Bei dieser Vita handelt es sich nicht im modernen Sinne um eine Autobiographie, aber doch um eine stilisierte Selbstdarstellung, die zunächst die Dominikanerin Elsbeth Stagel zusammengestellt hat, die aber wohl abschließend von Seuse selbst redigiert wurde. Darin berichtet Seuse, er habe in seiner Jugend mit einem Freund verabredet, wer von ihnen den anderen überlebe, wolle ein Jahr lang für ihn zweimal wöchentlich die Messe lesen lassen. Als Seuse dies nach dem Tod seines Freundes vergaß, erinnerte dieser ihn sogar noch aus dem Jenseits heraus11: Die satisfaktorische Wirkung der Opfermesse ist in diesem Gedanken überdeutlich vorausgesetzt, davon, dass mystische Erfahrung zu ihr in Konkurrenz stehen könnte, keine Spur12. Was hier als individuelle Episode erscheint, begegnet anderwärtig geradezu programmatisch, nämlich in dem wirkmächtigsten und am weitesten verbreiteten Werk aus dem Umfeld der spätmittelalterlichen Mystik, der „Nachfolge Christi“. Dieses Werklein, das Thomas von Kempen im 15. Jahrhundert redigiert hat13, ist in vier Bücher geteilt. Und deren letztes heißt nun: „De sa10 S. z. B. Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (DTMA 11), 283,18–25; TAULER, JOHANNES, Predigten, ed. v. Georg Hofmann, Freiburg 1961, 120; SEUSE, HEINRICH, Deutsche Schriften, ed. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (= Frankfurt 1961), 301,14–302,4; vgl. SEUSE, HEINRICH, Deutsche mystische Schriften. Übers. v. Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, 305. 11 SEUSE, Schriften (ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10) 144,3–20; vgl. SEUSE, Schriften (ed. Hofmann, wie Anm. 10) 151f. 12 ZEKORN, Gelassenheit (wie Anm. 8), 154, verweist auf ähnliche, z.T. wörtlich von Thomas von Aquin abhängige Stellen bei Tauler. Vergleichbar ist auch die Tatsache, daß Thomas von Kempen von Gert Groote, dem Gründer der Brüder vom gemeinsamen Leben, zu berichten wußte, ihm sei in Deventer ein Platz zugewiesen worden, von dem aus er stets die Eucharistie sehen konnte (s. BROWE, Verehrung (wie Anm. 7), 57): Hier findet sich mitten in einer mystisch beeinflußten Bewegung pure Schaufrömmigkeit! 13 DE BRUIN, CEBUS C., Ist Geert Groote der Verfasser des Büchleins „De imitatione Christi“? Kritische Randbemerkungen zu Van Ginnekens Hypothese betreffs der Autorschaft der Imitatio, in: Kurt Ruh (Hg.), Altdeutsche und altniederländische Mystik, Darmstadt 1964, 462–496, 469, nennt als die drei gängigen Thesen: 1. De imitatione Christi ist ursprünglich niederländisch und ein Werk Grootes (Van Ginneken) 2. Thomas von Kempen ist der Redaktor 3. Thomas von Kempen ist der Autor Bevorzugt wird heute im allgemeinen die zweite These, die signifikant für die Entstehung eines Werkes in Devotio-moderna-Kreisen mit zahlreichen verschiedenen Autoren wäre. Ihr schließt sich auch ISERLOH, ERWIN, Thomas von Kempen und die Devotio moderna, Bonn 1976, 19, an. Im Rahmen der Gesamtkomposition, die Thomas vorgenommen hat, dürfte das vierte Buch dann geradezu die Funktion haben, den Lesern deutlich zu machen, daß die in den ersten drei Büchern entfaltete Nachfolge-Frömmigkeit nicht in Spannung zur kirchlich-

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cramento“, „Vom Sakrament“, wobei allen mittelalterlichen Lesern klar war, daß „das“ Sakrament nur das Abendmahl, die besondere Zueignung Christi unter Gestalt von Brot und Wein sein konnte. Das ganze Buch stellt eine Feier dieser Nahwerdung Christi dar: „O admirabilis et abscondita gratia sacramenti; quam novunt tantum Christi fideles“ („O wunderbare und geheime Gnade des Sakraments, die nur die gläubigen Christen kennen“)14, und die auf das Sakrament gerichtete Verehrung steigert sich zum Jubelruf auf die Priester: „Grande ministerium, et magna dignitas sacerdotum“: „Hohes Amt und erhabene Würde der Priester!“15. Im selben Zusammenhang wird dann zusätzlich auch ganz kirchenkonform die Pflicht zur Beichte vor dem Abendmahlsempfang eingeschärft16. Die insgesamt deutlich von der Mystik gefärbte Theologie dieser Traktatsammlung wird hier also gerade in den Dienst der Stabilisierung der vorgegebenen klerikalen Heilsvermittlung, der Einordnung des Gläubigen in die Normen und Normalvollzüge ihres Glaubens, gestellt. Nicht nur die Eucharistie wurde von diesen Mystikern hochgeschätzt, sondern auch die sakramentale Buße: Heinrich Seuse galt hier geradezu als Perfektionist. In seiner Vita berichtet er, dass eine Frau über ihn zu einem schweren Sünder gesagt habe: „eya, lieber geselle, ga hin und biht och! Su sind da heime in guotem globen gen ime: wer im gebihtet, wie sundig er ist, daz den got niemer well gelassen.“ („Ach, lieber Mann, geh hin und beichte auch [ – und zwar bei Seuse -]; bei uns zu Hause haben sie das Vertrauen zu ihm, daß Gott den niemals verlassen wird, der bei ihm gebeichtet hat, wie schwer er auch gesündigt hat.“)17

Natürlich ist dies stilisiert. Aber gerade wer etwas stilisiert, zeigt ja dadurch um so mehr, was sein Ideal von sich ist – und Seuse will sich also als perfekten Vermittler der Gottesnähe durch das Sakrament der Buße sehen. Dieses offiziell vorgetragene Ideal ist sicher nicht davon unabhängig, dass mystische Theologie mittlerweile auch unter akuter Bedrohung von seiten der Kirche stand: Die Begine Margareta Porete war verbrannt, Meister Eckhart verurteilt worden. Natürlich musste man sich da, wenn man als Mystiker der Verurteilung entgehen wollte, von allen häretischen Umtrieben absetzen. Das ist ganz offenkundig, wenn der anonyme Autor der „Theologia Deutsch“, ein

eucharistischen Frömmigkeit steht, sondern wenigstens in den Augen des abschließenden Redaktors eben darin gipfelt. 14 VON KEMPEN, THOMAS, De imitatione Christi. Nachfolge Christi und vier andere Schriften. Lateinisch und deutsch, ed. v. Friedrich Eichler, München 1966, 414. 15 Ebd. 434. 16 Ebd. 426. 454; vgl. ähnlich Tauler: TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 283,18–25; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 120. 17 SEUSE, Schriften (ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10), 79,28–30; vgl. SEUSE, Schriften (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 88.

176 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter Frankfurter Ordensherr, sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts18 gleich zu Beginn seiner Schrift von den freien Geistern absetzt19 und wenig später „geistliche Hoffart“ geißelt, die meint, „sie bedorff nicht schrifft noch lere und des gleich, ßo werden do alle wiße, ordenunge und gesetze unnd gebote der heiligen kirchen und die sacrament czu nichte geachtet“ 20 („sie bedürfe nicht der Schrift noch der Lehre und dergleichen, so werden da alle Obrigkeit, Ordnung und Gesetze und Gebote der heiligen Kirche und die Sakramente für nichts geachtet“).

Allerdings kann man mit einem Verweis auf solchen Opportunismus sicher nicht alle kirchenkonformen Äußerungen von Mystikern erklären und wegerklären: Gerade der eben in diesem Zusammenhang erwähnte Seuse hat ausdrücklich die Rechtgläubigkeit des verurteilten Meister Eckhart verteidigt21 – das ist gewiss nicht Kennzeichen eines opportunistischen Geistes. Den kirchenkonformen Charakter der Mystik unterstreicht zudem noch der besondere Auftrag, den die meisten Mystiker von der Kirche erhalten hatten: Gerade die großen Theologen, mit denen die spätmittelalterliche Mystik einsetzt, hatten geradezu die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Rechtgläubigkeit als ihre besondere Aufgabe. Seuse und Eckhart waren ebenso wie der in Straßburg wirkende Johannes Tauler in der cura monialium, der Nonnenseelsorge, tätig. Sie hatten die Aufgabe, Dominikanerinnen seelsorgerlich zu betreuen; deren Spiritualität war oft mit der der Beginen sehr verwandt, ja, viele Dominikanerinnenkonvente waren aus Beginenhöfen hervorgegangen. Die mystischen Prediger hatten es also mit eben dem Frömmigkeitsmilieu zu tun, das auch die Grundlage für häretische Mystik bildete. Ihre Aufgabe war es aber, diese Nonnen disziplinierend und mäßigend zu beeinflussen. Insbesondere für Meister Eckhart konnte Otto Langer zeigen22, daß zahlreiche Äußerungen sich gerade als ein Versuch lesen lassen, der Mystik 18

So die Datierung bei HAAS, Kunst (wie Anm. 4), 267; ebenso VON HINTEN, WOLFArt. Der Franckforter (‚Theologia Deutsch’), in: VerLex 2 (1979) 802–808, unter Verweis auf sprachliche Gründe und die Überlieferung im Zusammenhang mit Tauler und Eckhart. 19 Der Franckforter (‚Theologia Deutsch’), ed. v. Wolfgang von Hinten, München 1982 (MTUDL 78), 67,7; vgl. Der Franckforter. Theologia Deutsch. Übers. v. Alois M. Haas, Einsiedeln 1980 (CMyst 7), 37. 20 Der Franckforter (ed. v. Hinten, wie Anm. 19), 105,31–33; vgl. Der Franckforter (ed. Haas, wie Anm. 19,) 80. 21 So hielt die Verurteilung Eckharts Heinrich Seuse nicht davon ab, ihn als selig zu bezeichnen und in einer Vision aus dem Himmel berichten zu lassen (s. SEUSE, Schriften [ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10] 22,20–23,12; vgl. SEUSE, Schriften [ed. Hofmann, wie Anm. 10], 32f). Entsprechend wurde auch Seuse immer wieder der Häresie bezichtigt, wie Hinweise in seiner Vita zeigen (SEUSE, Schriften [ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10] 69,17–69,3; vgl. SEUSE, Schriften [ed. Hofmann, wie Anm. 10] 77). 22 LANGER, OTTO, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München 1987 (MTUDL 91). GANG,

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dieser spirituell äußerst erregten Frauen die Spitzen zu kappen. Für die Person Eckharts, des Lehrers der folgenden mystischen Generationen, hat Langer damit das Profil eines Predigers gezeichnet, dessen Hauptaufgabe und -anliegen es war, mystische Erregung kirchlich zu kanalisieren. All diese Faktoren zusammengenommen lassen es allein schon aufgrund der äußeren Situation der wichtigsten mystischen Prediger gerechtfertigt scheinen, von einer kirchlichen Mystik zu sprechen. Allerdings enthebt dieser Verweis auf den sozialen Ort der mystischen Predigt nicht der Verpflichtung, auch inhaltlich zu betrachten, wie denn nun das Verhältnis zwischen Kirchlichkeit und potentieller Kirchenkritik in den Lehren und Predigten der Mystiker aussieht.

2. Intensivierung und Verinnerlichung der Sakramentenfrömmigkeit in der kirchlichen Mystik Betrachtet man die mystischen Texte des späten Mittelalters genauer unter dem Aspekt ihres Verhältnisses zur kirchlichen Heilsvermittlung, so kommt man zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die normalen Vollzüge kirchlicher Heilszueignung werden nicht nur neben der mystischen Predigt anerkannt und ausgeübt, es existiert nicht nur beides nebeneinander her, sondern beides wird sehr eng miteinander verschränkt: An vielen Stellen wird deutlich, daß gerade das Abendmahlssakrament der hervorragende Ort für eine mystisch interpretierbare Gottesbegegnung ist23. Hierfür gibt Johannes Tauler ein deutliches Beispiel ab. Seine Predigten sind uns als eine Sammlung überliefert, deren Gliederung dem Kirchenjahr folgt. Unter ihnen finden sich auch mehrere zum Fronleichnamstag, der ja – entgegen seinem Stiftungszweck24 – primär ein der eucharistischen Schaufrömmigkeit gewidmeter Festtag geworden war. In einer dieser Predigten hat Tauler nun, geradezu im Gegenschlag zu dieser Entwicklung zu einer Veräußerlichung, zu einer Reduktion auf das Sehen, jubilierend ausgerufen: „Wir essent unsern Gott“25, und wenig später hinzugefügt: „Nu ist enkein materielich ding das als nahe und inwendiklich den menschen kume als essen 23

Gleiches findet sich auch bei Eckhart; s. das 20. Kapitel der Reden der Unterweisung, wonach das Sakrament der herausragende Ort der Gottesbegegnung ist (ECKHART, Deutsche Werke. ed. v. Josef Quint. Bd. 4, Stuttgart 1963, 262ff); vgl. hierzu MANSTETTEN, REINER, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, München 1993, 494. 24 BROWE, Verehrung (wie Anm. 7), 87f, weist darauf hin, daß Urban IV. in seiner Einsetzungsbulle ausdrücklich zum Sakramentsempfang aufgerufen hat, dies jedoch keine Wirkung zeigte. 25 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 293,27; vgl. TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 208.

178 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter und trinken, das der mensch zuo dem munde in nimet“ („Nun gibt es keinen stofflichen Vorgang, der dem Menschen so nahe und vertraut wäre, als Essen und Trinken, das durch des Menschen Mund eingeht“) 26. Das äußere Essen also bedeutet das Nahwerden Gottes, und die Realpräsenz wird im folgenden Anlass zur innerlichen mystischen Reflexion. Solch einen Bezug zwischen Eucharistie und mystischem Erleben kennt man auch aus der mystischen Praxis. Das zeigen die zufällig erhaltenen Berichte über mystisch bewegte Nonnen bei Kirchberg zu Sulz. Dieses Dokument, das von mehreren Händen geschrieben worden ist, gibt einen einzigartigen Einblick in die praktischen Vollzüge mystischer Frömmigkeit, von tranceartigen Verzückung, der „genad contemplativa“27, ist darin ebenso die Rede wie von der extrovertierten „genad jubilus“28; von einer Schwester erfahren wir gar, dass man sie während des Chorgesanges ein wenig über der Erde habe schweben sehen29. In diesem übervollen Text kann von einer Konkurrenz zwischen mystischem Erleben und Sakrament überhaupt nicht die Rede sein, im Gegenteil: Immer wieder heißt es, eine Nonne sei in Verzückung geraten, gerade als sie den Herrn empfing, also in der leiblichen Nießung der Eucharistie30: Diese wird geradezu als Katalysator der mystischen Erfahrung gebraucht, wie umgekehrt diese mystische Erfahrung eine Übersteigerung und Intensivierung der Abendmahlsfrömmigkeit bedeutete: Mystische Erfahrung, so kann man es plakativ fassen, machte die reale Gegenwart des Herrn im Sakrament, wie sie kirchlich gelehrt wurde, zum realen Erlebnis. Und dazu muss es gar nicht einmal zur leiblichen Nießung kommen, die ja im späten Mittelalter immer seltener geübt wurde: Heinrich Seuse weiß in seinen Selbstreflexionen davon zu berichten, wie er angesichts der Elevation durch einen Priester zu mystischen Erfahrungen gelangte31. So liegt denn der Grund der mystischen Deutung der Eucharistie auch nicht so sehr in einem massiven Verständnis von Realpräsenz. Johannes Tauler führte seine vorhin erwähnten Betonungen der Nähe Gottes durch das Essen keineswegs auf dieser äußerlichen Eben fort, sondern fand in Anknüpfung an Bernhard, den Weg zu einer Umkehr der Argumentationslinie: „als wir diese spise essent, so werden wir gessen“ („Wenn wie diese Speise essen, 26

TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 293,31–33; vgl. TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 208. 27 ROTH, FRIEDRICH WILHELM EMIL, Aufzeichnungen über das mystische Leben der Nonnen von Kirchberg bei Sulz Predigerordens während des XIV. und XV. Jahrhunderts, in: Alemannia 21 (1893) 103–148. 28 Ebd. 105. 107. 29 Ebd. 106. 30 Ebd. 106f. 111 u.ö. 31 SEUSE, Schriften (ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10), 386,11ff; vgl. SEUSE, Schriften (ed. Hofmann, wie Anm. 10) 392.

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werden wir selbst gegessen“)32. Nicht mehr die leibliche Nießung des Sakramentes durch den Menschen stand bei einer solchen Auffassung im Vordergrund, sondern der Vorgang des Gegessenwerdens durch Gott. Zunächst übersteigert und intensiviert Tauler durch diesen Gedanken den Abendmahlsvollzug, doch löst sich sein Gedankengang immer mehr vom konkreten Geschehen am Altar: Von Gott gegessen werden wir, „wenne er in uns unser gebresten straffet und unser inwendigen ogen uf tuot und git uns ze erkennende unser gebresten“ („wenn er in uns unsere Fehler straft, unsere inneren Augen öffnet und uns unsere Gebrechen erkennen lässt“)33. Mit dieser Deutung wird der zunächst scheinbar ganz materiell verstandene Vorgang der Nießung der Eucharistie auf das Gewissen des Menschen bezogen34: Was hier aus einer Deutung der Eucharistie heraus entwickelt wird, ist der für Taulers MystikKonzeption konstitutive35 Vorgang der durch Selbsterkenntnis bewirkten Zerknirschung, der Reue. Sie macht den Menschen frei von allen selbstischen Wahrnehmungen, macht ihn letztlich leer und damit frei für Gott. In diesem Sinne kann Tauler diesen Zentralvorgang der Mystik an anderer Stelle mit den Worten des einundvierzigsten Psalms als eine innere Leere deuten, die Gott geradezu in den Menschen hineinzieht: „abyssus abyssum invocat, das abgrunde das inleitet das abgrunde“ (Abyssus abyssum invocat – Ein Abgrund ruft den anderen in sich hinein“) 36. Der Mystiker, der das Sakrament in dieser Weise deutet, kann für sich beanspruchen, es nicht allein nach seinem äußerlichen Sinn zu verstehen, sondern zu seinem inneren Sinn vorzudringen: Taulers Deutung der eucharisti32

TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 294,3f; TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 208. Tauler denkt wohl an die 71. Hoheliedpredigt, in der Bernhard eben diesen Zusammenhang zwischen Essen und Gegessenwerden ausführt (s. Bernhard von Clairvaux, Sämtlicher Werke. Lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 6, Innsbruck 1995, 448f). 33 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 294,24–26; TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 209. 34 Durch die Betonung des inneren Geschehens holt der Dominikaner Tauler eine Dimension des Sakramentes wieder ein, die in anderen Denkkontexten durch die Aufnahme des symbolischen Abendmahlsverständnisses Augustins aufgehoben war, wenn etwa Bonaventura und andere erklären, daß das äußere Zeichen des Sakramentes das unmittelbare Wirken Gottes an der Seele des Menschen begleite (s. hierzu ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Zur Rezeption der Augustinischen Sakramentsformel „Accedit verbum ad elementum, et fit sacramentum“ in der Theologie Luthers, in: ZThK 70 [1973] 50–76, 52f [= DERS., Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, Göttingen 1995, 13–39, 15f]). 35 GNÄDINGER, LOUISE, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, 121. 36 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 176,7; TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 315; vgl. die ebenso paradoxe Formulierung in der Imitatio 322 (wie Anm. 14): „Tanto etiam [homo] altius iad Deum ascendit; quanto profundius in se descendit et plus sibi ipsi vilescit“..

180 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter schen Frömmigkeit steht nicht in Konkurrenz zu ihr, sondern führt sie durch Verinnerlichung zu ihrem eigentlichen Sinn. Doch noch mehr: Fast unmerklich hat Tauler bei dieser Verinnerlichung des eucharistischen Sakramentes den Weg zu einem anderen Sakrament eingeschlagen: Tauler redet, indem er vom Abendmahl auf die Reue des Menschen vor Gott zu sprechen kommt, schon über die Buße. Und er steht damit durchaus nicht allein: Auch die „Theologia deutsch“ umschreibt den Vorgang des vollkommenen Sich-Lassens als Umkehr37 und benutzt in diesem nicht-sakramental ausgeformten Zusammenhang auch letztlich das Verbum „büßen“38. Blickt man nun aber genauer auf den Kontext bei Tauler, so fällt ein merkwürdiger Zusammenhang auf: Indem Tauler versucht, das Verständnis des Abendmahlssakraments durch eine bußtheologische Interpretation zu intensivieren, unterhöhlt er eben das Sakrament der Buße. Und damit sind wir bei denjenigen Äußerungen der Mystiker, die der These von der Mystik als einer Konkurrenz zur Kirche Nahrung geben können.

3. Die Ambivalenz kirchlicher Mystik: Substitution der Sakramente und Destabilisierung der Hierarchie Diesen engen Zusammenhang von Intensivierung und Relativierung der Sakramentenfrömmigkeit zeigt eine Bemerkung Taulers aus einem anderen Zusammenhang: „Wider die mannigvaltige hindernisse so het uns der minnecliche Got gegeben grosse helffe und trost [...] uns er het uns die heiligen sacramente gegeben, von erst den heiligen tof und den heiligen crisemen [Salbung, Firmung], darnoch also wir usvallent, die heilige bihte und die penitencien, darzuo sinen heiligen lichamen und an dem lesten daz heilige oley. Dis sind iemer starckeund grosse sture und helffe wider in zuo gon in den ursrpung und in unsern begin.“ („Gegen die mannigfaltigen Hindernisse hat uns der liebreiche Gott große Hilfe und Trost gegeben; [...] er hat uns die heiligen Sakramente gegeben, angefangen mit der heiligen Taufe und der heiligen Firmung; darnach, sobald wir sündigen, die heilige Beichte und die Buße, dazu seinen heiligen Leib und schließlich die heilige Ölung. Das sind starke Unterstützungen und Hilfen, um wieder in unsern Ursprung und in unseren Beginn zurückzukehren.“)39

37

Vgl. auch schon BONAVENTURA, Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis. Lat. / deutsch. ed. u. übers. v. Josef Hosse, München 1958 90. 38 Der Franckforter (ed. v. Hinten, wie Anm. 19) 91,28. 32; 92,35 („gebusset“); vgl. Der Franckforter (ed. Haas, wie Anm. 19) 65f. 39 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 49,29–50,2; TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 73.

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Das ausgesprochene Lob für die Sakramente ist mindestens zwiespältig: Die Sakramente sind nur Unterstützung, „sture“, und Hilfe zu einem anderen40. Diese bloß dienende Funktion der Sakramente begegnet auch sonst gelegentlich bei Tauler: In einer anderen Predigt erklärt er im Zusammenhang von Ausführungen über den dreistufigen Weg zu Gott, auf den ersten beiden Stufen seien Sakramente nützliche Hilfe, auf der dritten Stufe aber stehe alles, das helfen könne, eigentlich im Wege 41: Letztlich steht der oder die Gläubige Gott in aller Vereinzelung gegenüber – ohne die sakramentale Hilfe. Angesichts solch gutgemeinter Abwertung der Bedeutung der Sakramente ist es nicht verwunderlich, dass Tauler an manchen Stellen den Vorrang der Innerlichkeit so sehr betont, dass eine Konkurrenz zur priesterlichen Heilsvermittlung denkerisch kaum mehr zu vermeiden scheint. Ein treffendes Beispiel entstammt wiederum der vorhin erwähnten Fronleichnamspredigt: Nachdem er auf den Gedanken zu sprechen gekommen ist, der Christ solle sich durch Gott zerkauen lassen, warnt Johannes Tauler davor, sich dem dadurch zu entziehen, „das du ze hant us louffest zuo dem bichter“ („daß du gleich zum Beichtvater rennst“). Dagegen fordert er: „Nein, bichte Gotte zem ersten“ („Nein, beichte zunächst Gott [selbst]“)42 – „Zunächst“, „zem ersten“ im mittelhochdeutschen Text – durch diese Partikel wahrt Tauler noch die Kirchenförmigkeit seiner Aussage: Den normalen Vollzug des Bußsakramentes negiert er nicht völlig, aber er verschiebt ihn an die zweite Stelle. Denn der entscheidende Akt der confessio oris43, also des zweiten Schrittes im Bußsakrament, wird bei ihm gleichsam immediatisiert: Es ist nun nicht entscheidend, vor den Priester zu treten44, sondern der entscheidende Akt ist das individuelle, private Bekenntnis vor Gott selbst. Konsequenterweise kann angesichts mystischer Unmittelbarkeit nicht nur die confessio, sondern auch die satisfactio ersetzt werden. Geradezu verächtlich hatte etwa Eckhart in seinen Reden der Unterweisung geschrieben:

40

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Tauler den Empfang des Heiligen Geistes denn auch nicht an die Sakramente bindet, sondern an die rechte „bereitunge“, die einem Christen täglich das Kommen des Geistes ermöglichen kann (TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 91,12–16. 41 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 316,2f: „in diesem so hindert alles, daz behelffen mag“; vgl. TAULER, Predigten (Hofmann, wie Anm. 10), 223. Allerdings findet sich auch in KEMPEN, Imitatio (wie Anm. 14), 168, die Vorstellung von einer Übersteigerung der Buße durch das innere Leerwerden. 42 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 294,33–250,1; vgl. TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 209. 43 Zur Zentralität der Beichte im Bußsakrament s. OHST, MARTIN, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (BHTh 89), 240, anhand der Summa Angelica aus dem späten 15. Jahrhundert. 44 KEMPEN, Imitatio (wie Anm. 14), 102.

182 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter „Vil liute dünket, daz sie grôziu werk süln tuon von ûzern dingen, als vasten, barvuoz gân und ander dinc des glîche, daz pênitencie heizet. Wâriu und diu aller beste pênitencie ist dâ mite man groezlîche und ûf daz hoehste bezzert, daz ist: daz der mensche habe en grôz und volkomen abekêren von allem dem, daz niht zemâle got und götlich ist an im und an allen crêatûren, und habe ein grôz und ein volkomen und ein ganz zuokêren ze sînem lieben gote“ („Es dünkt viele Leute, sie müßten große Werke in äußeren Dingen tun, wie Fasten, Barfußgehen und dergleichen mehr, was man Bußwerke nennt. Die wahre und allerbeste Buße [aber], mit der man kräftig und in höchstem Maße Besserung schafft, besteht darin, daß der Mensch sich vollkommen abkehre von allem, was nicht völlig Gott und göttlich an ihm selbst und an allen Kreaturen ist, und sich gänzlich und vollkommen seinem lieben Gott zukehre“)45

Es ist bei Eckhart wie bei Tauler die Betonung des innerlichen Teils des Bußaktes, die in derartigen Spitzensätzen dazu führt, die äußeren Aspekte des Sakramentes geringzuschätzen. Ergebnis aber ist in beiden Fällen, dass man kaum mehr einsehen kann, warum ein Christ oder eine Christin nach vollzogener intensiver Beichte vor Gott überhaupt noch vor den Priester treten soll: Die der inneren contritio folgenden Bußakte confessio und satisfactio verlieren angesichts der Überbetonung der contritio ihre heilskonstitutive Bedeutung, sie werden zu einem Anhängsel, das nicht schadet, aber im Rahmen der Verkündigung der Mystiker auch keine eigene Notwendigkeit zugesprochen erhält. Diese Betonung und Überbetonung der contritio unterhöhlt also, denkt man sie zu ihrer extremen Konsequenz weiter, implizit die kirchlich sanktionierte Bußpraxis. In einzelnen Fällen kann diese Unterhöhlung auch explizit folgen, wenn nämlich Tauler die ritualisierte und veräußerlichte Bußpraxis seiner Zeit kritisiert, weil in ihr die contritio cordis fehle: „Man vindet vil menschen, die bichtent zwenzig oder drissig jar und engetaten nie recht bichte noch sienwurden nie absolviert und gont do mit zuo dem heiligen sacrament“ („Viele Menschen findet man, die durch zwanzig Jahre hindurch zur Beichte gehen und nie richtig beichteten und kein Lossprechung empfingen und so zum heiligen Sakrament gehen“)46,

Der Nachsatz macht deutlich, wie es zu verstehen ist, dass diese Menschen keine Lossprechung erhielten: Wenn sie denn danach zur Eucharistie gingen, muss der Bußakt in kirchenamtlich anerkannter Weise erfolgt sein, sonst wären diese Menschen ja nicht zum Altar zugelassen: Keine Lossprechung zu erhalten, heißt also: Wohl die Worte der Absolution hören, aber nicht wirklich absolviert sein: Das Sakrament gewinnt seine Wirkung nur durch die schon vorausgesetzte wahre contritio. Taulers Interesse, ein mechanistisches Sakramentenverständnis zu verhindern, ist offenkundig. In der Konsequenz 45 MEISTER ECKHART, Die deutschen Werke, ed. v. Josef Quint. Bd. 5, Stuttgart 1963, 244,5–245,2. 46 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 282,7–9; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 118f.

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wird dabei aber die in der sakramentalen Heilsvermittlung gegebene Sicherheit des Heilsempfangs durch den Priester an Christi statt unterhöhlt, die Wirksamkeit der Sakramente wird auf eine subjektive und damit unsichere Basis gestellt. In diese Richtung weiterdenkend, kann Tauler dann gar zu Formulierungen kommen, die, ausgehend von einer positiven Übersteigerung, die die Wirkung des Sakramentes mit der individuellen Würdigkeit des Spenders verbinden. So ermahnt Tauler dazu, jeder Mensch solle sich durch seine „begerunge“, sein inneres Sehnen, zu den Meßfeiern aller Priester der Welt begeben, besonders aber „zuo den heiligen priestern [...] von den dis opher Gotte als geneme ist“ (zu „denen der heiligen Priester [...], deren Opfer dem Herrn so angenehm ist“)47: In bestem Wollen wird hier die persönliche Qualität des Priesters zu einem Maßstab der Qualität des durch ihn vollzogenen Sakramentes – damit aber wir die objektive Heilszueignung ganz erheblich in Frage gestellt, und die gleiche Gefahr liegt denn auch bei der oben zitierten Äußerung über den hervorragenden Beichtiger Seuse vor: Wenn die Buße bei ihm besonders wirksam ist, wird wiederum eine interne Hierarchie zwischen den Priestern vorgenommen, die sakramententheologisch höchst problematisch ist. So führt die Beschreibung der mystischen Erfahrung in Bußterminologie in ihrer schärfsten Konsequenz zu einer solchen Betonung des innerlichen Aspektes der Buße, dass die äußerliche, kirchliche Buße entwertet und das System sakramentaler Heilsvermittlung auf unsichere Füße gestellt zu sein scheint. Ganz ähnliches lässt sich neben der Buße nun aber auch immer wieder für die Eucharistie beobachten. So lässt Heinrich Seuse Christus sagen: „Meniger mensch wirt min nüchterlingen vol, und maniger gewint min ob dem tische mangel (ermangelt meiner am Abendmahlstisch); diu kuwent mich allein liplich, aber diese niezent mich geistlich“ („Manchen Menschen erfülle ich ganz, auch wenn er mich nicht genossen hat, manch einer, der zu mir kommt, geht ungesättigt hinweg; diese genießen mich leiblich, jene nehmen mich geistig in sich auf.“)48

Und auch die Imitatio Christi stellt fest: „Nam totiens mystice communicat et invisibiliter reficitur; quotiens incarnationis Christi mysterium passionemque devote recolit: et in amore eius accenditur“ („Man kommuniziert jedes Mal auf geheimnisvolle Weise [ – im Lateinischen: mystice] und wird unsichtbar gestärkt, so oft man andächtig an das Geheimnis der Menschwerdung Christi und an sein Leiden denkt und mit Liebe zu ihm erfüllt wird“)49.

47 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 319,5–7; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 248. 48 SEUSE, Schriften (ed. Bihlmeyer, wie Anm. 10), 302,12–15; vgl. SEUSE, Schriften (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 306; ähnliche Überlegungen bei TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 313,30–33; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 219f.; zu den Wurzeln bei Eckhart s. MANSTETTEN, Esse est deus (wie Anm. 23), 495f. 49 KEMPEN, Imitatio (wie Anm. 14),456f .

184 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter Freilich sind diese Äußerungen zur Substituierung des Abendmahls durch ein innerliches Geschehen deutlich seltener als die zur Buße, was wohl damit zu tun hat, dass deren Grundlage mit der contritio ja ohnehin ganz selbstverständlich ein innerer Vorgang war. Dieser Vorgang konnte nun alles andere schlucken: Hatte Tauler noch von einem Bekenntnisakt vor Gott gesprochen, so ist doch eigentlich gar keine verbale Kommunikation mehr vonnöten, sondern die Begegnung mit Gott geschieht, ganz entsprechend den mystischen Vorgaben Eckharts, auf denen Tauler fußte, ontologisch: Schon der Akt der Selbsterkenntnis als Sünder schafft eine Leere im Innern des sündigen Menschen, die ganz von selbst Gott in den Menschen hineinzieht. Und in den so im Innern leer gewordenen Menschen fließt nun Gott ein und wandelt ihn innerlich so, dass er nun seinerseits von Liebe überströmt – diese Begegnung zwischen Gott und Mensch ist von einer solchen Unmittelbarkeit, dass ein Priester nicht mehr nötig scheint50. Und noch mehr wird überflüssig: In einer Predigt berichtet Tauler von einer Frau, die in der Gottesschau ihre Niedrigkeit vor Gott erkannte. In dieser Situation konnten ihr nicht einmal die Heiligen oder die – personalisiert gedachten – „pine“ und „wunden“ Christi helfen, sondern allein Gott selbst51: Jegliche Vermittlung durch andere Instanzen als Gott selbst wird hier obsolet. So scheinen mystische Konzeptionen nicht nur die Notwendigkeit der Beichte, die das IV. Laternaum zur Pflicht gemacht hatte 52, in Frage zu stellen, sondern in letzter Konsequenz den Unterschied zwischen Laie und Priester. Metaphorisch kann Tauler ihn gleich ganz überbrücken, wenn er erklärt, Hohepriester sei „ein ieklich guot inwendig mensche“, der, wenn er in sein Innerstes einkehrt, das priesterliche Amt ausführe53 – in solchen metaphorischen Äußerungen erscheint eine Aufhebung der strengen Scheidung zwischen Klerus und Laien am Horizont. Betont man solche Aspekte in aller Schärfe, kann man leicht dazu kommen, die Mystik Eckharts und seiner Schüler als Konkurrenz zur Kirche zu interpretieren: Durch sie erfolgende Substitution der Sakramente und implizite Destabilisierung der kirchlichen Hierarchie scheinen dies nahezulegen. 50 Ausdrücklich spricht Tauler im Zusammenhang des mystischen Weges von der Berührung durch den Heiligen Geist – ohne dabei priesterliche Vermittlung auch nur zu erwähnen (TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 38,4–11; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 57). 51 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 45,11–46,4; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 66f; vgl. TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 117,26–28: „Diesen ker den kundent alle engele und alle heiligen nut gegeben, noch alles daz in himmelrich und errtrich ist, nut gemachen, noch alle ding, sunder alleine daz goetteliche abgrunde in aller siner unmassen“; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 197. 52 S. hierzu Ohst, Pflichtbeichte (wie Anm. 41), 32–49 . 53 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 165,31–33; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10),327f.

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Und doch kann der Gedanke von der Mystik als einer „mächtigen Konkurrenz“ zur Kirche schwerlich befriedigen, denn gegen ihn spricht sehr deutlich die eingangs getroffene Feststellung: Die Vertreter dieser Mystik mögen in einzelnen Formulierungen sehr weit gegangen sein. Doch sie taten nicht den Schritt aus der Kirche, und das ist im strengen Sinne zu verstehen: Sie verließen nicht die sakramentale Gemeinschaft der Kirche, sondern blieben in ihr und förderten sie. Sie selbst setzten sich gerade nicht explizit und gezielt in Konkurrenz zur Kirche. Eine Deutung der spätmittelalterlichen Mystik darf daher nicht einseitig und emphatisch die Konsequenzen aus ihren potentiell kritischen Elementen ziehen.

Schluss: Mystische Kirchlichkeit Es ist kennzeichnend für die intellektuelle Redlichkeit von Ernst Troeltsch, dass er die Tatsache kirchlicher Mystik, die ein wenig quer zu seiner eigenen Typologie steht, durchaus beobachtet und in seine Theorie integriert hat, wenn er mit spürbarem Erstaunen notiert: „Dieser Typus [gemeint ist der mystische; V.L.] gewinnt aber seine selbständige universalhistorische Bedeutung erst in den späteren protestantischen Dissentern und in ihren Verwachsungen mit dem Humanismus“54. Die spätmittelalterliche Mystik also weist auf anderes, Bedeutenderes voraus: Auch Troeltsch war, so zeigt sich hier, von den Konzeptionen nicht ganz frei, die Phänomene des Mittelalters als „Reformatoren vor der Reformation“ (Carl Ullmann) einordneten55. Diese Perspektive hat in der einen oder anderen Form lange Zeit die besondere Attraktivität der Mystik für protestantische Kirchengeschichtler gefördert56. Doch gerade eine solche wohlwollende Anwendung dieses Schemas, das das Mittelalter unter Maßstab und Perspektive protestantischen Bewußtseins stellt, ist für ein Verständnis mittelalterlicher Frömmigkeit hinderlich. Für das hier zur Rede stehende Problem heißt das: Eine solche Betrachtung, die über das Fehlen einer kritischen Wendung gegen die Institution der Kirche erstaunt ist, deutet die mystisch geprägten Theologen von Randphänomenen oder von Spitzensätzen aus: zum einen von der häretisch gewordenen Mystik aus, zu deren Schärfe gerade auch die sozial und geschlechtergeschichtlich problematische Situation des Beginenstatus beigetragen haben dürfte, zum andren aber von einzelnen Sätzen aus, die, wie dargelegt, durch54

TROELTSCH, Soziallehren (wie Anm. 4), 420. Den Zusammenhang einer Einschätzung der Mystik als institutionell mit diesem Modell betont kritisch auch HAAS, Kunst (wie Anm. 4), 69. 56 Belege bei WEILNER, IGNAZ, Johannes Taulers Bekehrungsweg. Die Erfahrungsgrundlagen seiner Mystik, Regensburg 1961, 45–47. 55

186 Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter aus eine ungeheure Brisanz enthalten, wenn man sie aus ihrem theologischen und kommunikativen Zusammenhang nimmt. Dieses Denken von den Spitzensätzen her aber ist, scharf formuliert, das Denken der Inquisitoren, die einen Eckhart nach Avignon vorluden oder einen Seuse bekämpften. Umgekehrt sollten diese Spitzensätze auch nicht durch Verweis auf situative Bedingtheit entschärft werden, so sehr man eine solche beachten muss: Es ist überdeutlich, dass insbesondere Tauler57, aber wohl auch Seuse durch ihre verinnerlichende Deutung der Sakramente auch Zeiten zu überbrücken suchten, in denen ein Interdikt die reale Sakramentenspendung unmöglich machte. Solche situativen Erklärungen allein können aber die beschriebene Ambivalenz schwerlich ausreichend erfassen. Dazu sind diejenigen Sätze, die die Sakramente zu relativieren scheinen, zu tief in den jeweiligen Theologien verankert. Es ist vielmehr gerade der oben entfaltete theologische Kontext, der deutlich macht, dass und warum die spätmittelalterlichen Mystiker solche Spitzensätze nicht dazu aussprachen, um in Konkurrenz zum traditionellen Kirchensystem zu treten: Alles, was unter die Begriffe der Substitution von Sakramenten oder der Destabilisierung der kirchlichen Hierarchie fällt, ist theologisch nur verstehbar als Ausfluss eben der zunächst beschriebenen Vertiefung der vorgegebenen Heilsvermittlung. Dies zeigt sich augenfällig an dem Ineinander einer Vertiefung der Abendmahlsfrömmigkeit und eines Substitution des Bußsakramentes bei Tauler. Es ging gerade nicht darum, eine Konkurrenz zu den Sakramenten zu etablieren, sondern im Gegenteil: Diese mystischen Autoren knüpften mit ihren Überlegungen ja an die auch kirchenamtlich zum Bußsakrament hinzugehörige contritio an – und was sie anstrebten, war es, das Sakrament an dieser Stelle zu intensivieren, gerade nicht, es zu beseitigen: Tauler hat gerade aufgrund seines tief verinnerlichten Bußbegriffs offenbar strengste äußere Bußdisziplin geübt. Jedenfalls muss er sich in einer Predigt auch gegen den Vorwurf, ein allzu strenger Beichtvater zu sein, zur Wehr setzen: „Ich bin begriffen ze unrecht als ob ich sulle han gesprochen, ich enwelle niemans bichte hoeren, er sulle mir geloben das er tuon sulle das ich welle. Das ist gar unreht gesprochen: das ich welle; ich enwil von nieman nut denne als geschriben stat und das selbe enbit ich mir nieman geloben. Ich enmag nieman absolvieren, im ensin denne sine sunde leit.“ („Ich bin mißverstanden worden, wenn man behauptet, ich habe gesagt, ich wollte niemandem die Beichte abnehmen, es sei denn, er verspreche mir, alles zu tun, was ich wolle. Dies ‚was ich wolle‘ ist falsch wiedergegeben. Ich verlange von niemandem anderes als das, was geschrieben steht, und heiße niemandem, mir ein solches Versprechen abzulegen. Ich kann (aber auch) niemanden lossprechen, es sei ihm denn seine Sünde leid.“)58 57

S. hierzu GNÄDINGER, Tauler (wie Anm. 33), 32. 336; RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3, München 1996, 479. 58 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 10), 202,30–35; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 10), 418. Vgl. auch die vereinzelten Aussagen Taulers, nach denen für Todsünden in der Tat das Sakrament der Buße nicht substituierbar war (s. hierzu GANDLAU,

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In harscher Weise hat Tauler offenbar die contritio, das Vehikel eben der scheinbar kirchenkritischen Verinnerlichung, die den Substitutionsgedanken mit sich bringen kann, zu einem auch dem Beichtvater erkennbaren Kriterium rechter, kirchlicher Beichte und damit zum Ermöglichungsgrund rechter, kirchlicher Buße gemacht. Deutlicher kann es kaum werden, daß diese Verinnerlichung nicht etwa die Sakramentenfrömmigkeit einschränken oder bestreiten sollte, sondern zur rechten Sakramentenfrömmigkeit hinführen sollte. Die Substitution der Sakramente ist nur deswegen überhaupt denkerisch möglich, weil eine verinnerlichende Deutung das Sakrament zu seinem eigentlichen Sinn gebracht hat. Wo sich die kirchliche Mystik in radikalen Spitzensätzen zu Kritik der Kirche zu steigern scheint, ist dies dann aber recht verstanden nicht Resultat nicht einer Normkritik, sondern Resultat einer Normübererfüllung. Eine mystische Bewegung, die solcherart die Normübererfüllung propagiert, war aber gewiß keine „mächtige Konkurrenz gegen die [...] kirchlich und priesterlich geleitete Ideenwelt“. Sie war eine Reformbewegung aus der Mitte und in der Mitte der Kirche.

THOMAS, Trinität und Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg u.a. 1993 [FThSt 155], 143).

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Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik in Spätmittelalter, Renaissance und Reformation Helmar Junghans zum 75. Geburtstag Kaiser Konstantin I. der Große hat wie kaum ein anderer Projektionen auf sich gezogen, die im Einzelnen das Grundsätzliche suchen. In einer großen Studie hat Kurt Nowak gezeigt, wie sich seit Gottfried Arnold immer wieder die Kritik an der Verbindung von Staat und Kirche, zumal im protestantischen Raum in Konstantin das historische Objekt suchte, an dem der Anfang dieses Übels zu suchen war – eine gedankliche Linie, die bekanntlich in das Konzept einer Konstantinischen Wende mündete, das zwar, wie Nowak zeigen konnte, nicht einfach Folge der Dialektischen Theologie des 20. Jahrhunderts ist, von dieser aber einen entscheidenden Impuls gewann, der sich besonders infolge des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Krisenerfahrung und in der Zeit der Diktaturen entfaltete1. Konstantin als Chiffre, an der sich Gegenwartsinterpretation entzündet: Das ist nicht nur ein neuzeitliches Phänomen. Schon Dante wusste in der Divina Commedia zu singen: „Ahi, Constantin, di quanto mal fu matre, non la tua conversion, ma quella dote che da te prese il primo ricco patre!“ (Inferno XIX,115–117) 2

Mit diesen Worten Dantes ist deutlich, woran sich die Kritik an Konstantin heftet: an die sogenannte Konstantinische Schenkung. Der großen Diskussion um die Konstantinische Wende präludierte gewissermaßen in Mittelalter und Früher Neuzeit der Streit um die Konstantinische Schenkung. Worum es in 1

NOWAK, KURT, Der erste christliche Kaiser. Konstantin der Große und das „Konstantinische Zeitalter“ im Widerstreit der neueren Kirchengeschichte, in: DERS., Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001, ed. v. Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart 2002 (KoGe 25), 277–317; Nowaks Beitrag stellt auch eine bedeutende Weiterführung von SCHNEEMELCHER, WILHELM, Art. Konstantinisches Zeitalter, in: TRE 19 (1990), 501–503, dar. 2 Dantis Alaghierii Comedia, ed. v. Federico Sanguineti, Tavrnuzze / Florenz 2001, 102.

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der Urkunde geht, die hiervon berichtet, dem Constitutum Constantini, ist immer wieder nacherzählt worden3: Konstantin überträgt dem Papst Silvester und, wie immer wieder betont wird, seinen Nachfolgern nach seiner Taufe ein umfassendes privilegium: Nicht allein, dass er ihn zum Oberhaupt der ganzen Christenheit macht, indem er ihn über alle Patriarchate erhebt, sondern er macht den Papst auch zum Verfügungsgewaltigen über alle Besitzungen des Kaisers, überträgt ihm mit dem Lateranpalast den vornehmsten Palast der Ökumene, überlässt Rom, Italien und den gesamten Westen dem Befehl des Papstes und zieht sich nach Byzanz zurück, um dort unter seinem eigenen Namen eine neue Residenz zu errichten, die ihn aber aus dem Untergebenenverhältnis zum Papst, ausgedrückt durch den strator-Dienst, nicht entlässt. Über die Entstehung dieser Urkunde besteht wenigstens insofern ein Grundkonsens, als man wohl in die Zeit zwischen der Mitte des 8. und des 9. Jahrhunderts gehen muss4. Damit lässt sich schon dieses Dokument selbst, auch wenn philologisch exakte Verbindungen nicht nachweisbar sind, als Ausdruck einer Selbstinterpretation einer Zeit verstehen, die durch die Pippinsche Schenkung und die damit gegebene gegenseitige Abhängigkeit von Frankenherrschern und Papst bestimmt war. Auch wenn der Text, wie Horst Fuhrmann betonte, keine herausragende Bedeutung für das Selbstverständnis des Papsttums erlangte, wurde es doch zum selbstverständlichen Gemeingut papalen Selbstverständnisses im Mittelalter, was sich besonders in der Aufnahme des zweiten Teils des Constitutum, der Donatio5, in das Decretum Gratiani (D. 96 c. 14) niederschlug6, die es zum Teil des kirchenrechtlichen Grundbestandes der Kirche des Abendlandes werden ließ; allerdings erfolgte diese Aufnahme nicht durch Gratian selbst, sondern es handelte sich um eine Palea, eine Zufügung aus der Mitte des 12. Jahrhunderts7. Der Einfügung in das Kirchenrecht war bereits im Zuge und infolge des Investiturstreites eine intensive Diskussion vorausgegangen, die einen vorläufigen Abschluss durch die Palea fand. Aber eben der sekundäre Charakter der Palea hatte schon in der Kano3 Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text, ed. v. Horst Fuhrmann, Hannover 1984 (= 1968) (MGH.F 10); bis heute grundlegend für Erforschung und Einordnung des Constitutum: FUHRMANN, HORST, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, in: DA 22 (1966) 63–178. 4 Constitutum Constantini (wie Anm. 3), 7; vgl. zur älteren Forschung FRIEDRICH, JOHANNES , Die Constantinische Schenkung, Nördlingen 1889. 5 S. zur präzisen Unterscheidung PETERSMANN, JOHANNA, Die kanonistische Überlieferung des Constitutum Constantini bis zum Dekret Gratians. Untersuchung und Edition, in: DA 30 (1974) 356–449, 356. 6 Corpus Iuris Canonici, ed. v. Emil Friedberg. Bd. 1, Leipzig 1879 (= Graz 1955), 342–345. 7 S. hierzu PETERSMANN, Überlieferung (wie Anm. 5), 390–399; WEIGAND, RUDOLF, Fälschungen als Paleae im Dekret Gratians, in: Fälschungen im Mittelalter. Bd. 2, Hannover 1988 (MGH.SRI 33/II), 301–318, 310f.

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nistik dazu geführt, dass das Constitutum für die Diskussion des Verhältnisses von sacerdotium und imperium keine entscheidende Rolle gespielt hat.8 Eine hitzige Diskussion allerdings entspann sich im ausgehenden Mittelalter: So wie der Investiturstreit naheliegenderweise das historische Thema Konstantin deswegen behandelte, weil der Bezug zu den aktuellen Auseinandersetzungen mit Händen zu greifen war, brachte auch der letzte große Konflikt zwischen Imperium und Sacerdotium ein neuerliches Aufbranden der Diskussion um die donatio Constantini, die bis in das 16. Jahrhundert und damit in die für die westliche Christenheit grundlegende Kirchenspaltung hinein nachwirkte9.

1. Die Konstantinische Schenkung im Streit um den papalen Universalismus Die Zeit um 1300 ist in mancher Hinsicht weniger klar als die des Investiturstreites: Hatte dieser in Papst und Kaiser noch ein klares bipolares Gegenüber gesehen, das Haupt des Sacerdotium einerseits, das des Imperium andererseits, so hatte sich die politische Welt im Zuge des 13. Jahrhunderts vervielfältigt, die Päpste hatten nicht mehr in der Ausschließlichkeit wie im 11. Jahrhundert mit dem Kaiser als Gegenüber zu kämpfen, wenn es um die Behauptung der höchsten geistlichen gegen die höchste weltliche Macht oder gar, wie es zeitweise schien, um die Behauptung der höchsten geistlichen als die höchste weltliche Macht ging. Zu der neuen Unübersichtlichkeit hatte auch beigetragen, dass das Reich zeitweise zutiefst geschwächt war: Nach der glanzvollen, freilich auch im steten Konflikt mit dem Papst durchgefochtenen Herrschaft Friedrichs II., des „Stupor mundi“ war das Herrschergeschlecht der Staufer recht bald erloschen: Mit Konradin starb 1268 der letzte männliche Erbe, gerade sechzehnjährig, durch Enthauptung aufgrund eines gegen ihn geführten Scheinprozesses. Dies war schon Ausdruck dessen, dass mit dem Tod seines Vaters Konrad IV. 1254 eine Unklarheit über die Herrschaftssituation im Reich eingesetzt hatte, die bis zur Wahl Rudolfs I. 1273 dauern sollte. Diese Lage führte nicht nur zu einer Stärkung der Territorien innerhalb des Reiches, sondern begünstigte auch den Aufstieg anderer Mächte, der seine Auswirkungen noch nach dem Ende des Interregnums zeigte. 8 PETERSMANN, Überlieferung (wie Anm. 5), 396f; Weigand, Fälschungen (wie Anm. 7), 311. 9 Einen immer noch beeindruckenden, quellengesättigten Überblick über die mittelalterliche Diskussion bietet VON DÖLLINGER, JOHANN JOSEPH IGNAZ, Die Papst-Fabeln des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte, München 1863, 61–106, umfassend auch: LAEHR, GERHARD, Die konstantinische Schenkung in der abendländischen Literatur des Mittelalters bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Berlin 1926 (= Vaduz 1965) (HS 166).

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Zeitweise schien geradezu Frankreich, das sich unter der langen Regentschaft Ludwigs IX. (1226–1270) konsolidieren konnte zum eigentlichen Gegenüber der Päpste zu werden. Frankreich verfügte in der Krondomäne rund um Paris über eben das, was dem Reich fehlte: einen zentralen Bereich, von dem aus es regiert werden konnte, ohne dass solche geographische Zentrierung durch politische Wechselfälle gefährdet worden wäre, wie sie etwa zeitweise unter Friedrich II. dazu geführt hatten, dass der Kaiser weitgehend von Sizilien aus regierte und kaum einmal nördlich der Alpen zu sehen war. Die Zentralisierung brachte, einhergehend mit den Anfängen eines Selbstbewusstseins als Nation, das sich freilich erst im Zuge des Hundertjährigen Kriegs wirklich konturierte, einen Drang zur Homogenisierung der Herrschaft mit sich: Das, was Peter Moraw für die Territorien des Reiches als Prozess der „Verdichtung“ im späten Mittelalter beschreibt10, fand in Frankreich um Einiges früher statt. Repräsentativ hierfür war die Regierungszeit Philipps IV. des Schönen (1285–1314), der sehr früh erkannte, dass die Existenz eines durch eigenes kirchliches Recht konstituierten Personalverbandes innerhalb seines Territoriums, wie ihn die Kleriker darstellten, ein Problem bedeutete. Vor diesem Hintergrund machte er 1296 den Versuch, die Kleriker in Frankreich zu besteuern. Ihm aber stand in Bonifaz VIII. (1294–1303) ein Papst gegenüber, der mit der Bulle Clericis laicos noch im selben Jahr die Provokation aufgriff und nun seinerseits dem Klerus verbot, ohne päpstliche Erlaubnis Abgaben an den König zu leisten. Dieser Streit konnte zwar rasch – und vor allem auf Kosten des Papstes – beigelegt werden: Spätestens die Heiligsprechung König Ludwigs IX. am 11. August 1297 besiegelte den neuen Frieden. Aber die praktische Politik ging einher mit einem neuen Schub für die politische Theoriebildung. Insbesondere Aegidius Romanus entwarf in seinem Traktat De ecclesiastica potestate ein schroffes papalistisches Bild, das den Papst in einer Weise definierte, die jede weltliche Herrschaft in unmittelbare oder mittelbare Abhängigkeit von ihm brachte. Die Geschichte der berühmten Bulle Unam Sanctam muss hier nicht eigens erzählt werden, aber sie ist doch Gipfelpunkt der kirchlichen Sanktionierung des ägidischen Konzeptes, das auch weiter gewichtige theoretische Verfechter besaß – am bedeutendsten wohl Augustinus Triumphus, der 1326 in seiner Summa de ecclesiastica potestate den Gedankengang des Aegidius aufnahm und weiterführte11. Das Bemerkenswerte an diesem theoretischen Diskurs war, dass er gegenüber der realpolitischen Lage einen gewissen theoretischen Überschuss aufwies: Die reale Situation war ja, wie ausgeführt, eher von einem Gegenüber des Papstes zum König von Frankreich geprägt, der theoretische Diskurs aber 10 MORAW, PETER, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Frankfurt / Berlin 1985. 11 Zu ihm s. LEPPIN, VOLKER, Art. Augustinus Triumphus, in: David Berger / Jorgen Vijgen (Hg.), Thomistenlexikon, Bonn 2006, 24–26.

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musste die damit gestellten Fragen grundsätzlich behandeln, das hieß: Zur Rede stand nicht die Frage des Verhältnisses des Papstes zu einem einzelnen Herrschaftsgefüge, sondern sein Verhältnis zur weltlichen Macht überhaupt. Und paradigmatisch hierfür war, wiederum, der Kaiser. Auch wenn Unam Sanctam als Träger der weltlichen Gewalt die reges und milites angab12, so machte doch gerade das in der Bulle ausgedrückte Gegenüber von geistlichem und weltlichem Schwert Gebrauch von einer Denkfigur, die klassischerweise das Gegenüber von Papst und Kaiser ausgedrückt hatte. Gerade in einer Phase also, in der das Kaisertum seine exzeptionelle Stellung als Gegenüber des Papsttums realpolitisch zu verlieren drohte, kam diese Frage in die theoretische Diskussion zurück – und das bestimmte den weiteren Umgang mit der Frage nach der Konstantinischen Schenkung in der Politiktheorie. Diese war mittelbar durchaus bedeutsam auch für die spezielle Frage nach dem Verhältnis des französischen Königs zum Papst, wie insbesondere der Traktat De regia potestate et papali deutlich macht, in dem Johannes Quidort nicht nur darauf verweist, dass nach bestimmten älteren Chroniken die Konstantinische Schenkung überhaupt nicht das Gebiet Frankreichs betraf, sondern auch insgesamt grundlegend die Unanwendbarkeit des Constititums für die Behauptung einer Vormacht des Papstes gegenüber dem französischen König nachweist13. Wirkungsmächtiger wurde freilich die Frage nach dem Verhältnis zum Kaiser. Es waren zunächst einmal Theoretiker aus einem Randbereich des Reiches, die neu auf ein starkes Imperium reflektierten, nämlich zwei Italiener: der oben schon erwähnte Dante Alighieri (1265– 1321) und Marsilius von Padua (ca. 1280–1323/4). Die Nennung beider Namen macht deutlich, dass das in der Überschrift begegnende Nebeneinander von Renaissance und Spätmittelalter eigentlich ein Ineinander ist: Beide Gestalten sind weder dem einen noch dem anderen Begriff ohne Weiteres ganz zuzuordnen. Man wird aufgrund seiner volkssprachlichen Werke eher geneigt sein, Dante in der Renaissance zu verorten, Marsilius von Padua als ausgeprägten Aristoteliker wohl eher dem Spätmittelalter zurechnen, aber die aristotelischen Argumentationen des einen in der Monarchia wie die weit vorausweisenden politiktheoretischen Konzeptionen des anderen zeigen, wie verkürzend jeder derartige Etikettierung wäre. Gemeinsam ist beiden der norditalienische Hintergrund, doch ist dies bei Dante, der stets dem norditalienischen Stadtmilieu verbunden blieb, wohl als viel prägender anzusehen, als bei Marsilius, der durch seine Karriere in Paris und seine spätere Tätigkeit in München von ganz anderen Kontexten geprägt wurde.

12 DEINZINGER, HEINRICH, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, ed. v. Peter Hünermann, Freiburg u.a. 402005, 873. 13 JOHANNES QUIDORT VON PARIS, Über königliche und päpstliche Gewalt (De regia potestate et papali), ed. u. übers. v. Fritz Bleienstein, Stuttgart 1969 (FSWP 4), 185–191.

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Dantes Biographie ist dabei aber durchaus eng mit den Ereignissen um Bonifaz VIII. verwoben: Als Angehöriger der Partei der weißen Guelfen14 – die Ghibellinen waren ohnehin schon vertrieben und in der Schlacht von Campaldino 1289 unter Beteiligung Dantes geschlagen worden – gehörte er zu denen, die in seiner Heimatstadt Florenz gegen eine Unterstützung Bonifaz‘ VIII. opponierten. Als er möglicherweise15 in diesem Zusammenhang 1301 zu einer Mission beim Papst weilte und gleichzeitig Karl von Valois in Florenz einrückte, stürzten die schwarzen Guelfen seine Partei, und er wurde sukzessive zu Verbannung und Tod bestraft16. Unter diesem Eindruck verfasste er wenig später – das genaue Jahr ist nicht bekannt – seine libri tres de monarchia, die – wohl in Erwartung einer friedenstiftenden Regierung Heinrichs VII. – eine harmonische Leitung der Welt durch den Kaiser als den für das zeitliche Glück und den Papst als den für das ewige Heil Zuständigen entwarfen17. Die Behauptung der eigenen Gottgegebenheit des Kaiseramtes wurde am Ende zwar milde eingefangen: „Que quidem veritas ultime questionis non sic stricte recipienda est ut Romanus Princeps in aliquo Romano Pontifici non subiaceat, cum mortalis ista felicitas quodam modo ad inmortalem felicitatem ordinetur. Illa igitur reverentia Cesar utatur ad Petrum auq primogenitus filius debet uti ad patrem ut, luce paterne gratie illustratus, virtuosius orbem terre irradiet cui ab Illo solo prefectus est qui est omnium spiritualium et temporalium gubernator.”18

Doch die sachten Formulierungen könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Reverenzverhältnis eines Sohnes zum Vater schwerlich in politische Kategorien ummünzbar war, zumal wenn am Ende das eindeutige Bekenntnis zur einzigen Regentschaft Gottes stand. Es kann nicht verwundern, dass in diesem Kontext nun auch die Frage nach der Konstantinischen Schenkung geradezu behandelt werden musste. Dante kommt hierauf im 10. Kapitel des Buches zu sprechen. Schon die Einleitung ist auffällig distanziert:

14 Zur Unterscheidung in schwarze und weiße Guelfen s. KRAUS, FRANZ XAVER, Dante. Sein Leben und sein Werk. Sein Verhältniss zur Kunst und Politik, Berlin 1897, 45. 15 Zu dieser Gesandtschaft, an der die neuere Forschung (BUCK, AUGUST, Art. Dante Alighieri, in: TRE 8 (1981), 349–353, 349f) festhält, vgl. die skeptische Äußerung von KRAUS, Dante (wie Anm. 14), 49. 16 BUCK, Dante (wie Anm. 15), 349f. 17 Zu einer Deutung, die die Monarchia in ein Verhältnis zur Divina Commedia setzt, s. HOLMES, GOERGES, Monarchia and Dante’s Attitude to the Popes, in: John Woodhouse (Hg.), Dante and Governance, Oxford 1997, 46–57; vgl. als umfassende Deutung GOUDET, JACQUES, La politique de Dante, Lyon 1981. 18 DANTE ALIGHIERI, Monarchia, ed. v. Gustavo Vinay, Florenz 1950, 288; zum naheliegenden Bezug auf den Schlusssatz von Unam sanctam s. KRAUS, Dante (wie Anm. 14), 707 Anm. 1.

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„Dicunt adhuc quidam quod Constantinus imperator, mundatus a lepra intercessione Silvestri tunc summi pontificis, Imperii sedem, scilicet Romam, donavit Ecclesie cum multis aliis Imperii dignitatibus.”19

In dem „quidam“ schwingt offenbar schon ein Hauch von Zweifel an der Zuverlässigkeit des Berichts mit20, den Dante aber anders als Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla im 15. Jahrhundert noch nicht zu einer Bestreitung der Historizität des Berichtes ausbaut. Was er vielmehr bestreitet, ist die Legitimität21. Juristisch gesprochen: Die quaestio facti, ob Konstantin eine solche Schenkung vorgenommen hatte, wird jedenfalls offengelassen, die quaestio iuris aber, ob er eine solche Schenkung vornehmen durfte, mit Vehemenz gestellt. Dante lässt dabei seine aristotelische Schulung durchblicken, wenn er die Position seiner Gegner mit einem Syllogismus zusammenfasst, der in etwa lautet: 1. Was der Kirche gehört, kann von Rechtswegen niemand besitzen, außer indem er es von der Kirche erhält. 2. Die römische Regierungsgewalt gehört der Kirche. 3. Also kann niemand die römische Regierungsgewalt von Rechtswegen besitzen, außer indem er sie von der Kirche erhält.22

Nicht die Schlüssigkeit dieses Syllogismus ist nun das Problem für Dante, sondern der Untersatz, dass die römische Regierungsgewalt der Kirche gehöre, der von seinen Gegnern eben mit der Donatio Constantini begründet werde. Hiergegen bringt Dante mehrere Einwände vor, die im Blick auf den Schenkenden, Konstantin, wie die Beschenkte, die Kirche, die Legitimität einer solchen Schenkung bestreiten23: 1. Niemand darf von Amts wegen etwas tun, was seinem Amt widerspricht. Da es aber das Amt des Kaisers – so wie es Dante in der Monarchia ausführt – ist, die gesamte Menschheit in einem Willen zusammenzuschließen, widerspräche es seinem Amt, das Reich zu zerreißen. 2. Die Grundlage des Imperiums ist das ius humanum, daher darf das Imperium nichts dem ius humanum Widersprechendes tun. Die Zerstörung des Imperiums aber widerspräche dem ius humanum und wäre folglich illegitim. 3. Jede Rechtsgewalt ist vor dem einzelnen Richter. Folglich kann ein Richter in seiner Funktion nicht die Rechtsgewalt ändern – und entsprechend kann der Kaiser nicht die Rechtsgewalt des Imperiums ändern. 4. Da die Kirche nach Mt 10,9 zum Besitzverzicht verpflichtet ist, kann sie das Geschenk gar nicht annehmen. 19

DANTE, Monarchia (wie Anm. 18), 246. Diesen Zweifel gab es aber vermutlich auch in der Kanonistik; s. WEIGAND, Fälschungen (wie Anm. 7), 311. 21 S. hierzu KELSEN, HANS, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wien / Leipzig 1905 (WSSt 6/3), 107f. 22 DANTE, Monarchia (wie Anm. 18), 248. 23 S. zum Folgenden DANTE, Monarchia (wie Anm. 18), 248–256. 20

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Es ist deutlich, dass Dante mit diesen letzten Überlegungen die Kirchenkritik aus der vita-apostolica-Bewegung vehement auf die Frage der Donatio Constantini anwendet. Der Gesamtzusammenhang der Argumentation aber läuft weniger auf eine solche Form der Papstkritik hinaus als darauf, den Schenkungsvorgang als Ganzen als einen rechtlich und ethisch unmöglichen darzustellen und damit den überlieferten Rechtstext faktisch auszuhöhlen. Dabei sind die Argumente ganz auf der Basis der theoretischen Annahmen Dantes formuliert, die die Fundierung des Imperiums im ius humanum herausgearbeitet haben. Logisch betrachtet, handelt es sich hier durchaus um eine Petitio principii, in der Dante nicht bereit ist, seine Theorie durch einen historischen Bericht umwerfen zu lassen. Aber er hat in jedem Falle einen Weg gefunden, die Anwendbarkeit des Constitutum noch vor dessen tatsächlicher historischer Entkräftung zu bestreiten – gerade weil er mit ihm nicht in historischer, sondern in theoretischer Weise argumentiert. Marsilius von Padua geht da schon etwas anders mit der Frage der Historizität um. Wohl nur kurz nach Dantes Monarchia hat er am 24. Juni 1324 den Defensor pacis abgeschlossen, jenes große Manifest, das die Herleitung der politischen Macht aus der Gesamtheit der Bürger oder ihres bedeutsameren Teils ableitet24 und das den Streit zwischen Kaiser und Papst schon allein durch die an Ludwig den Bayern gerichtete Widmung deutlich erkennen lässt25. Dies ist der schärfte Ausdruck dessen, dass er konsequent politische Macht aus den Bedürfnissen des Menschen und seiner Vergesellschaftung ableitet, also ihr eine Eigenursprünglichkeit jenseits jeder möglichen kirchlichen Instanz, letztlich aber auch ohne jede Transzendenzbegründung, wie sie Dante durch seinen abschließenden Verweis auf Gott als den Lenker des Geistlichen wie Weltlichen immerhin noch hatte, zuspricht. Diese Gesamtkonzeption, in der der Religion nur eine sakramentale, keine politische Funktion zukommt, musste wiederum mit dem Constitutum Constantini in Konflikt kommen, es zumindest erklären. Anders als Dante deutet Marsilius aber nun das Constitutum nicht einfach vor dem Hintergrund seiner Theorie, um es hierdurch zu entkräften, sondern er macht es im Gegenteil gerade als historisches Zeugnis bzw. als Eigenbehauptung der Papalisten stark, um hierdurch seine eigene Theorie zu unterstützen. So lautet seine in – meist auf die binnenkirchliche Hierarchie bezogenen – Varianten26 immer wieder ähnlich vorgeführte Argumentation im Kapitel 12 des zweiten Teils: 24 MARSILIUS VON PADUA, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis), bearb. u. eingel. von Horst Kusch, Berlin 1958 (LÜAMA A 2). Teil1, 120 (I,12,5). 25 S. MIETHKE, JÜRGEN, De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000 (SuR.NR 16), 221f. 26 S. MARSILIUS VON PADUA, Defensor pacis. Teil 2 (wie Anm. 24), 694–696 (II,18,7); 782 (II,22,10).

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„Cumque concessionem eam (d.h. die donatio Constantini; V.L.) fuisse validam fateatur quilibet papa Romanus et cum eo presbyterorum seu episcoporum reliquus cetus, consequenter ipsis concedendum est eundem Constantinum hanc iurisdiccionem seu potestatem in eos primitus habuisse, presertim cum ad ipsos virtute verborum scripture nulla talis iurisdiccio inquemquam clericum aut laicum pertinere noscatur”27

Die Argumentation dreht in einer bei Marsilius gelegentlich begegnenden genialen Einfachheit das Argument der Papalisten um, das sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts immer mehr als Restitutionstheorie verfestigt hatte, nach der Konstantin den Päpsten eigentlich nicht die Macht geschenkt, sondern ihnen zurückgegeben habe, was ihnen ursprünglich gehörte28: Die Tatsache, dass die weltliche Gewalt des Papstes auf Konstantin zurückgeführt werden muss, zeigt, dass sie nicht auf die Schrift und das heißt letztlich: nicht auf Einsetzung Jesu Christi, dessen Anweisungen an die Kirche Marsilius ganz wie Dante im Sinne der Aussendungsrede als Anweisung zur Armut deutet, zurückgeht. Noch weniger als Dante muss Marsilius daher an der Faktizität der Schenkung zweifeln, ja, er muss sie nicht uminterpretieren, sondern gerade indem er sie so nimmt, wie seine Gegner sie interpretieren, wird sie zur Munition in seinem argumentativen Arsenal. Dass dies geschätzt wurde, zeigt auch die Tatsache, dass Marsilius alsbald zu Ludwig dem Bayern stieß und damit in den Dunstkreis der neu auflebenden Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Kaisertum geriet29: Er begab sich in den Schutz Ludwigs IV. des Bayern in München, der schon länger in einem heftigen Konflikt mit Papst Johannes XXII. stand. Nach dem Tod Heinrichs VII. am 24. August 1313 war es im Jahr 1314 zu einer Doppelwahl des neuen deutschen Königs gekommen: Am 20. Oktober war der Habsburger Friedrich von Österreich, am 21. Oktober eben Ludwig der Bayer gewählt worden. Nun erhob der gewiefte Machtpolitiker Johannes XXII. den Anspruch, dass zur rechtlichen Gültigkeit der Wahl eines römischen Königs die Approbation des Gewählten durch den Papst erforderlich sei30, machte sich also zum Schiedsrichter in der Angelegenheit, indem er die Kaiserkrönung nicht als bloße rituelle Bestäti27

MARSILIUS VON PADUA, Defensor pacis. Teil 1 (wie Anm. 24), 470–472 (II,11,7). S. hierzu SETZ, WOLFRAM, Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung. De falso credita et ementita Constantini donatione. Zur Interpretation und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1975, 19; QUILLET, JEANNINE, Autour de quelques usages politiques de la Donatio Constantini au Moyen Age. Marsile de Padoue, Guillaume d’Ockham, Nicolas de Cues, in: Fälschungen im Mittelalter. Bd. 2, Hannover 1988 (MGH.SRI 33/II), 537–544, 538f. 29 Zu Ludwig dem Bayern s. THOMAS, HEINZ, Ludwig der Bayer (1282–1347). Kaiser und Ketzer, Regensburg 1993; Hermann Nehlsen / Hans-Georg Hermann (Hg.), Kaiser Ludwig der Bayer. Konflikte, Weichenstellungen und Wahrnehmungen seiner Herrschaft, Paderborn 2002. 30 S. hierzu MIETHKE, JÜRGEN, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 196, 401 Anm. 218. 28

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gung der Wahl interpretierte, sondern schon im Vorhinein, in der Frage der Wahl des dann zum Kaiser zu krönenden Königs eigene Entscheidungskompetenz beanspruchte. Und er machte dies unmittelbar zu Politik: Da nach seiner Auffassung das Reich derzeit keinen legitimen Herrscher besaß, sah er alle Rechte des römischen Königs und Kaisers an den Papst zurückgefallen und versuchte während der Vakanz im Reich seine Macht von seinem Papstsitz in Avignon aus Richtung Italien vorzuschieben. Hierzu hatte er auch die Möglichkeit, weil im Reich weiterhin kriegerische Auseinandersetzungen um die Krone stattfanden, die er im September 1322 in der Schlacht bei Mühldorf durch einen Sieg Ludwigs beendet wurden. Statt nun aber den Siegreichen als römischen König anzuerkennen und zum Kaiser zu krönen, eröffnete Johannes XXII. am 8. Oktober 1323 einen Prozess gegen ihn31, wobei entscheidender Anklagepunkt war, dass der Bayer sich den Titel des römischen Königs angemaßt habe, ohne vom Papst approbiert worden zu sein. Statt sich wie gefordert diesem Anspruch zu beugen, appellierte Ludwig der Bayer am 18.12.1323 in Nürnberg erstmals vom Papst an den Apostolischen Stuhl32. Kerninhalt war dabei die Berufung auf das Reichsrecht, nach dem Ludwig legitimerweise durch die Kurfürsten gewählt sei. Der Anspruch auf die Notwendigkeit der Approbation durch den Papst wurde also schlankweg abgelehnt. Vor allem aber suchte Ludwig nach einem Mittel, um deutlich zu machen, dass er in der Tat von dem derzeitig regierenden Papst an eine andere Instanz appellieren konnte, und dies verschärfte er noch in der zweiten Appellation, die er nur wenige Wochen später, am 5. Januar 1324 in Frankfurt formulierte33: Er appellierte nun nicht mehr einfach an den Apostolischen Stuhl, den theoretisch vom aktuellen Papst zu trennen ohnehin ein rechtliches Konstrukt darstellte, sondern an ein künftiges Konzil. Damit war die Situation da, dass Papst und Kaiser sich gegenseitig delegitimierten, und in dieser sich immer weiter zuspitzenden Situation stieß 1326 Marsilius zu Ludwig, um ihm fortan als Ratgeber – bis hin zur Inszenierung einer Kaiserkrönung auf Grundlage der Rechte des römischen Volkes gemäß den Ideen des Marsilius – zur Seite zu stehen. Er war damit Teil einer ganzen Gruppe von Intellektuellen, die sich in größer werdender Zahl um den bayrischen Herzog und römischen König scharten. Unter ihnen befand sich ab 1328 auch Wilhelm von Ockham und damit ein weiterer gewichtiger Politiktheoretiker34, der wie Dan-

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S. MIETHKE, Sozialphilosophie (wie Anm. 30), 403f. S. hierzu THOMAS, Ludwig 159–161. 33 S. ebd. 163. 34 Grundlegend für Ockhams Politikverständnis: MIETHKE, Sozialphilosophie (wie Anm. 30). Zu Ockhams Leben und Werk insgesamt s. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003. Eine knappe Einführung vorwiegend in sein philosophisches Werk bieten KRAML, HANS / LEIBOLD, GERHARD, Wilhelm von Ockham, Münster 2003 (ZDM 1). 32

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te und Marsilius die Frage nach der konstantinischen Schenkung nicht unberührt lassen konnte. Ockham35 hatte sich seit 1324 am Papsthof befunden, weil gegen ihn Anklagen wegen verschiedener Lehren vorlagen, die er als theologischer Lehrer in England vertreten hatte. Der langwierige Prozess kam zu keinem klaren Ergebnis, Ockham selbst aber in Avignon zu immer deutlicheren Erkenntnissen: Er wurde in Avignon mit dem Armutsstreit zwischen Johannes XXII. und Ockhams Orden, den Franziskanern, konfrontiert, in dessen Verlauf Johannes XXII., um die Armutsideale der Franziskaner zu legitimieren, sich sogar zu der lehramtlichen Aussage verstiegen hatte, es sei häretisch, zu behaupten, dass Jesus und seine Jünger ohne Besitz gewesen seien. Ockham selbst berichtete später, durch die Konfrontation mit solchen und ähnlichen Aussagen aus demselben Kontext sei ihm deutlich geworden, dass der Papst eigentlich kein legitimer Papst gewesen sei. Darum verließ er mit einigen Gefährten – unter anderem dem ehemaligen Ordensgeneral Michael von Cesena – Avignon und traf in Pisa auf Ludwig, dem er später dann nach München folgte. Ockham wurde nicht sogleich ein vehementer Vertreter kaiserlicher Ideologie: Die ersten Jahre in München nutzte er vielmehr dazu, seine franziskanische Position klar auszuloten und auszuformulieren. Erst etwa ab 1337, also fast ein Jahrzehnt nach seiner Annäherung an den Kaiser, griff er auch die Frage nach dem Kaisertum theoretisch auf. Er hatte mittlerweile schon aufgrund seiner franziskanischen Interessen eine Eigentumstheorie entworfen, die eine Art von gebrochenem Naturrecht vertrat: Der Mensch verfügte nach dem Fall über Nutzungsbefugnisse an der Natur, die er durch positiv-rechtliche Bestimmungen zu Eigentumsrechten ausübte. In ganz ähnlicher Weise verstand er nun auch Herrschaft als eine – erstmals in der Herrschaft Adams über Eva ausgedrückte – in der Menschheit der gefallenen Natur unabweisliche Vergesellschaftungsform, deren konkrete Ausgestaltung aber wiederum positiv-rechtlichen Regelungen unterlag. Wie jede weltliche Herrschaft war damit auch das Kaisertum gänzlich unabhängig von jeder kirchlichen Instanz. Und vor diesem Hintergrund kommt nun auch Ockham auf die Konstantinische Schenkung zu sprechen, behandelt dies aber relativ lapidar – und in ähnlicher Weise wie Marsilius zum Zwecke des Nachweises, dass das privilegium Constantini nicht zu belegen vermag, was es nach Auffassung seiner papalistischen Interpreten beweisen soll: den Ursprung des Kaisertums vom Papst36. Denn in der Tat besagt es ja, wie Ockham nach ausführlicher Zitie35

Zum Verhältnis von Marsilius und Ockham s. DOLCINI, CARLO, Marsilio e Ockham. Il diploma imperiale Gloriosus Deus, la memoria politica Quoniam Scriptura, il Defensor Minor, Bologna 1981. 36 Vgl. hierzu auch MANTEY, VOLKER, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005 (SuR.NR 26), 94f.

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rung kurz resümiert, das Gegenteil: die Ableitung der weltlichen Gewalt des Papstes vom Kaiser37. Der Bericht von der konstantinischen Schenkung lief nach Ockhams klarer Position im Breviloquium auf die einfache Folgerung hinaus: „Ex quo infertur quod Constantinus papae et clericis, quibus huismodi temporalia conferebat, se superiorem in temporalibus reputavit“ 38

Wie bei Marsilius war dabei das Gegenüber eine Restitutionstheorie, die Ockham in Dialogus III, tractatus 2, liber 1, capitulum 27 vom Schüler fragend vortragen ließ, und auf die der Magister antwortete: „Ex his verbis colligitur, quod Constantinus non assignavit Papae Imperium, tanquam non habens potestatem legitimam recipiendi Imperium, et quod antea non habuisset verum Imperium, sed ex devotione et Imperiali munificentia concessit ei ea, de quibus mentio fit, Papa Silvester nihil habuit, nisi ex dono Constantini, non ex resignatione alicuius prius iniuste detenti: nec unquam Constantinus fatebatur, quod ante baptismum non habuerit verum Imperium“ 39

Resümiert man die Positionen papstkritischer Lektüre, die sich im Umfeld des Pontifikates von Bonifaz VIII. und seiner avignonesischen Nachfolger entfalteten, so wird bei allen unterschiedlichen Herangehensweisen ein gemeinsamer Zug deutlich: Der Bericht von der Konstantinischen Schenkung wurde in seiner Historizität jedenfalls nicht explizit bestritten. Vielmehr wurde er gerade in seinem strengen Sachgehalt als Beleg für die Oberhoheit der weltliche Gewalt, des Imperiums über den Papst, wenigstens in weltlichen Dingen reklamiert. Er galt als theoretischer Beleg für eine in je unterschiedlicher Weise erfolgte naturrechtliche Begründung von Herrschaft und ihrer Legitimität vor jedem päpstlichen Zugriff. Die im engeren Sinne historische Frage wurde dann erst im 15. Jahrhundert gestellt.

2. Im Schatten des Konzils Die Frage nach der Konstantinischen Schenkung rückte neu in den Blick40, als unter anderen Voraussetzungen wiederum über die päpstliche Gewalt ge-

37

OPol 4, 257,99–104; vgl. ähnlich ebd. 438,265f. OPol4, 53,163f; vgl. hierzu KÖLMEL, WILHELM, Wilhelm Ockham und seine kirchenpolitischen Schriften, Essen 1962, 128. 39 [GOLDAST, MELCHIOR,] MONARCHIAE | S: ROMANI IMPERII | SIVE | TRACTATUUM | DE IURISDICTIONE IMPERIALI SEU REGIA | et Pontificia seu Sacerdotali [....] | TOMUS SECUNDUS.| [...], Frankfurt: Nikolaus Hoffmann u. Konrad Biermann 1614, 900,57–64; vgl. ebd. 905, 31–35 (Dialogus III tr. 2, l.2 c. 5).. 40 Es sei allerdings erwähnt, dass die Frage auch zwischenzeitlich nicht völlig stumm blieb, s. etwa WYCLIF, IOHANNIS, Tractatus de ecclesia, ed v. Johann Loserth, London 38

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stritten wurde. Dabei war der Kontext zunächst stärker binnenkirchlich als in den Auseinandersetzungen des 14. Jahrhunderts, die von Anfang an von dem Gegenüber von Papst und Kaiser bestimmt waren. Nach der Beendigung des avignonesischen Papsttums und des ihm folgenden Schismas hatten die Konzilien bekanntlich die Aufgabe, die Kirche zu reformieren. Dies bedurfte neuer Erwägungen über das Gesamte der Kirche. Auf der Suche nach einer umfassenden concordantia catholica kam daher Nikolaus von Kues41 in seiner gleichnamigen Schrift von 1433/442, wohl einerseits unter dem Eindruck des von ihm und anderen mit vielen Hoffnungen beobachteten Einzugs Kaiser Sigismunds im Oktober des Jahres43, anderseits zur Legitimierung seiner kritischen Position zum Papst, die er als Anwalt Ulrichs von Manderscheid innehatte44, auch auf die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt – und in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Konstantinischen Schenkung zu sprechen. Im zweiten Kapitel des dritten Buches von De concordantia catholica begann er, zum Teil auch durch Marsilius geprägt45,

1886, 300–305. 318f. 322f, 367–369 u.ö; vgl. zu Wyclif WILKS, MICHAEL, Wyclif. Political Ideas and Practice, Oxford 2000. 41 Zu seiner Stellung auf dem Konzil, insbesondere als Mitglied der Kongregation für Glaubensfragen s. MEUTHEN, ERICH, Nikolaus von Kues 1401–1464. Skizze einer Biographie, Münster 71992, 37–40; WALTHER, HELMUT G., Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, München 1976, 230–243 . 42 Vgl. zu dieser Schrift die knappe Übersicht bei KANDLER, KARL-HERMANN, Nikolaus von Kues, Göttingen ²1997, 56–48; zu dem Gedanken der concordantia HAUBST, RUDOLF, Die leitenden Gedanken und Motive der cusanischen Theologie, in: DERS., Streifzüge in die cusanische Theologie, Münster 1991, 21–42,26–39; LÜCKING-MICHAEL, CLAUDIA, Zur Gesellschaftstheorie des Nikolaus von Kues. Von der concordantia zur coincidentia, in: MFCG 22 (1995), 3–54; DIES. Konkordanz und Konsens. Zur Gesellschaftstheorie in der Schrift „De concordantia catholica“des Nicolaus von Cues, Würzburg 1994 (BDSt 16). 43 MEUTHEN, Nikolaus von Kues (wie Anm. 43), 42. 44 Auf diesen Kontext verweist STIEBER, JOACHIM W., Der Kirchenbegriff des Cusanus vor dem Hintergrund der kirchenpolitischen Entwicklungen und kirchentheoretischen Vorstellungen seiner Zeit, in: Klaus Kremer / Klaus Reinhardt (Hg.), Nikolaus von Kues, Kirche und Respublica christiana. Konkordanz, Repräsentanz und Konsens, Trier 1994 (MFCG 21), 87–156, 135. 45 FLASCH, KURT, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt 2001, 79. 88. Zur Begegnung des Cusanus mit dem Defensor Pacis vermutlich auf dem Baseler Konzil s. PIAIA, GREGORIO, Marsilius von Padua (+ um 1342) und Nicolaus Cusanus (+1464): Eine zweideutige Beziehung?, in: Klaus Kremer / Klaus Reinhardt (Hg.); Nikolaus von Kues als Kanonist und Rechtshistoriker, Trier 1998 (MFCG 24), 171–193, 176–179; vgl zur kanonistischen Diskussion im Kontext MORRISSEY, THOMAS E., Canonists in Crises ca. 1400–1450: Pisa, Constance, Basel, in: Thomas M. Izbicki / Christopher M. Bellitto (Hg.), Nicholas of Cusa and his

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mit der Untersuchung der Frage, inwiefern das heilige Imperium von Gott stamme46 und behandelte hierzu die Erzählung von der Donatio Constantini. Sie wurde nun aber nicht, wie bei den Theoretikern des frühen vierzehnten Jahrhunderts, unter dem Gesichtspunkt einer Entsprechung zu einer vorgängig schon entfalteten Theorie behandelt, sondern hinsichtlich ihrer historischen Valenz befragt: Wenn man irgendwo die Folgen der humanistischen Orientierung an der Geschichte festmachen kann, so an dieser Brechung der Argumentation mit der Donatio Constantini von einer primär philosophischen zu einer primär historischen. Der Theologe aus der Moselregion nahm etwas vor, was man nach heutiger Begrifflichkeit als eine externe Quellenprüfung bezeichnen könnte: in dem Bewusstsein, dass beinahe niemand Zweifel an der Faktizität der Donatio hege47, erklärte er, er sei sämtliche verfügbaren Quellen der römischen Geschichte, der Kirchenväter und der Konzilien durchgegangen – und habe nichts gefunden, was sich in Übereinstimmung mit dem Bericht von der Schenkung bringen lasse48. Es bleibt aber nicht bei der Behauptung der eigenen Gelehrsamkeit als Argument, sondern der Cusaner breitet dann auch Einzelfallargumentationen aus. Diese umfassen zum einen argumenta e silentio – etwa den Verweis auf das Fehlen entsprechender Nachrichten im Liber pontificalis –, vor allem aber den Verweis auf explizit der Annahme einer Konstantinischen Schenkung entgegenstehende Geschehnisse. Von tragender Bedeutung wird hier die Pippinsche Schenkung und ihre Bestätigung durch Karl den Großen49, die als Gesamtvorgang, wenn es sich denn um eine echte Schenkung handeln soll, selbstverständlich voraussetzen, dass der Beschenkte nicht zuvor schon legitimer Eigentümer des Geschenks war, weswegen Cusanus zufrieden schließen kann: „Ex istis constat Constantinum imperium per Exarchatum Ravenatem, urbem Romam et eccodentem minime papae dedisse“ 50

Dieser Feststellung folgen noch weitere historische Belege – etwa darüber, dass viele Päpste die kaiserlichen Besitztitel an den vermeintlich geschenkten Gebieten respektiert haben51 –, aber im Grunde ist damit das Beweisziel bereits erreicht: Der Papst verfügt nicht aufgrund einer etwaigen Schenkung Konstantins über imperiale Rechte. Mit all diesen Argumenten ist freilich der Bindecharakter, den die Aufnahme des Constitutum in das Kirchenrecht Age: Intellect and Spirituality. Essays Dedicated to the Memory of F. Edward Cranz, Thomas P. McTighe and Charles Trinkaus, Leiden u.a. 2002 (SHCT 105), 63–75. 46 Nicolai de Cusa Opera omnia, XIV,3: De Concordantia catholica Liber tertius, Hamburg 1959, 328–337 (§§ 294–312). 47 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 328 (294,8–11). 48 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 329 (295,5–10). 49 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 330f (296,11–297,10). 50 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 331 (297,8–10). 51 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 331 (299).

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grundsätzlich bewirken konnte, noch nicht erklärt beziehungsweise wegerklärt: Für einen Marsilius, Dante oder Ockham musste dies kein Problem darstellen, da sie ja die Donatio nicht bestritten, sondern nur anders interpretierten. Der Cusaner aber musste sich der Frage stellen, wie er es mit dieser Aufnahme ins Decretum hielt, und unterhöhlte tatsächlich auch hier deren autoritativen Charakter unter Verweis darauf, dass es sich um eine Palea handelte: Die Tatsache, dass es nicht Gratian selbst war, der die Donatio in das Decretum aufnahm, war schon zuvor – entsprechend der Vorsicht, mit der auch die Kanonistik an den Text ging – gelegentlich thematisiert worden. So hatte etwa Ockham den Text als apokryph bezeichnet52, und insbesondere Lupold von Bebenburg hatte in seinem Tractatus De iuribus regni et imperii um 1340 als eine Meinung zur Donatio Constantini angeführt, dass diese, weil es sich bei ihr um eine Palea handele, nicht von kanonischer Bedeutung sei53. Lupold hatte sich aber im Blick auf eine eigene Position bedeckt gehalten, während der Cusaner das Argument forciert zur Bestreitung der Bindewirkung des Textes nimmt. Und er demontiert auch die Grundlagen der Entscheidung, die der Gratianschüler, der das Constitutum in das Dekret aufgenommen hat, vorgenommen hat. Dieser berufe sich explizit auf die Approbation durch Gelasius auf einer Synode54 – den Charakter dieser Approbation aber könne man, so Nikolaus, anhand von D. 15 c. 3 nachvollziehen, wo sie ausgeführt sei55: und hiernach beinhalte sie nicht mehr als die Aussage, dass der Autor der Erzählung von Silvester zwar nicht bekannt sei, sie aber von Katholiken gelesen werde und daher gelesen werden könne. „Qualis sit approbatio quisque considerare potest“56, endet Cusanus süffisant und macht so, durchaus im Einklang mit dem Stand der Kanonistik, deutlich: Auch die Aufnahme ins Kirchenrecht ist in sich problematisierbar und kann die Authentizität des Berichteten nicht sichern. Diese Ausführungen waren Lorenzo Valla wohl bekannt57, als er 1440, in einer Zeit, als er zu den Beratern Alfonsos V. von Neapel gehörte, an die 52 OPol 4, 258,8f; vgl. hierzu KÖLMEL, Ockham (wie Anm. 38), 154; QUILLET, Usages politiques (wie Anm. 28), 540. 53 Politische Schriften des Lupold von Bebenburg, ed. v. Jürgen Miethke und Christoph Flüeler, Hannover 2004 (MGH.SSpMA 4), 371,11–13; vgl. VON BEBENBURG, LUPOLD, De iuribus regni et imperii. Über die Rechte von Kaiser und Reich, hg. v. Jürgen Miethke. Übers. v. Alexander Sauer, München 2005 (BibDSD), 222f; s. zu Lupold von Bebenburg MIETHKE, JÜRGEN, Frömmigkeit als politisches Argument im 14. Jahrhundert. Der ‚Libellus de zelo christiane religionis veterum principum Germanorum‘ des Lupold von Bebenburg, in: Gudrun Litz / Heidrun Munzert / Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 89–103. 54 So in der Tat D. 96 c. 13 (Corpus iuris canonici ed. Friedberg [wie Anm. 6] 1, 342). 55 D. 15 c. 3 § 19 (Corpus iuris canonici ed. Friedberg [wie Anm. 6] 1, 37). 56 CUSANUS, Opera XIV,3 (wie Anm. 46), 333 (302,6f). 57 SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 28.

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Ausarbeitung De falsa credita et ementita Constantini donatione ging58. Wie bei dem Cusaner bildete ein Konzil den Rahmen und Anlass seiner Überlegungen, allerdings unter geänderten Bedingungen: Nikolaus von Kues hatte noch für eine starke Stellung des Baseler Konzils im Gegenüber zum Papst gefochten, letztlich also eine konziliaristische Position vertreten, aufgrund deren er dann auch die Konstantinische Schenkung mit Skepsis betrachtet hatte. Das Konzil, das Valla inspirierte, war nun wohl nicht das verbliebene Rumpfkonzil von Basel, sondern jener Teil des Konzils, der zum Papst übergelaufen, mit ihm nach Italien gezogen war und dort die Verhandlungen mit den Griechen über eine mögliche Aufhebung des Schismas aufgenommen hatte. Neben der gewichtigen Frage des Filioque59 stand hier selbstverständlich auch die Frage nach dem päpstlichen Primat zur Debatte. Und in diesem Kontext wurde auch die Konstantinische Schenkung als ein Argument herangezogen. Valla wollte offenbar hierzu Stellung nehmen und den Ausführungen des Cusaners, die dem Konzil bekannt waren, aber ignoriert wurden, zu neuer Geltung verhelfen60. Er hat dabei nicht einfach die Argumentation des Cusaners aufgenommen und weitergeführt, sondern hat einen eigenen Ansatz gewählt, in dem sich allgemeine historische Plausibilitätsargumente und detaillierte Urkundenkritik miteinander verbanden61. Die Plausibilitätsargumente greifen dabei in Teilen auf den Diskurs des 14. Jahrhunderts zurück, vor allem auf jenen schon bei Dante zu findenden Argumentationsstrang, dass es dem Papstamt widerspreche, weltliche Gewalt anzustreben beziehungsweise anzunehmen. Dabei spielte weniger als im von franziskanischen Fragen bestimmten vierzehnten Jahrhundert die grundsätzliche Betonung der Armut eine Rolle als die unmittelbar christologische Begründung, dass dessen Reich nicht von dieser Welt sei62 – so wie auch die Macht, die er Petrus in Mt 16 übertragen hat, eine rein spirituelle ist63. Doch nicht nur von Seiten des Papstes ist eine solche Schenkung unplausibel – auch hier findet sich eine strukturelle Analogie zur Argumentationsweise Dantes –, sondern auch von Seiten des Kaisers, da es einem weltlichen Herrscher kaum entspreche, seine weltliche Macht einzuschränken64 und Konstan58

SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 13. S. hierzu jetzt die grundlegende Studie von GEMEINHARDT, PETER, Die FilioqueKontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter, Berlin / New York 2002 (AKG 82). Gemeinhardt macht übrigens a.a.O. 338–340 darauf aufmerksam, dass ausgerechnet gegenüber den Griechen 1053/4 erstmals päpstlicherseits mit der Donatio argumentiert wurde. 60 S. hierzu SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 76f. 61 S. zu Gliederung und Aufbau SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 34–42. 62 VALLA, LORENZO, De falso credita et ementita Constantini donatione, ed. v. Wolfram Setz, München 1986 (= Weimar 1976) (MGH.QG 10), 81,19f. 63 VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 84,4–12. 64 VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 63,7–10. 59

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tin mit einem solchen Schritt seine Legitimation in Senat und Volk gänzlich untergraben hätte65. All diese Argumentationen sind aber nicht die entscheidende Waffe Vallas, sondern er rückt die Frage, die auch der Cusaner schon angesprochen hatte, nun in den Mittelpunkt: die Zuordnung zum Kirchenrecht. Gratian selbst hätte den Text eben deswegen nicht aufgenommen, weil er seinen Gehalt nicht für wahr hielt66. Und dann kommt in ausführlicher Argumentation die eigentliche kritische Sezierung der Urkunde, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, zumal diese Schrift in einer ausführlichen Monographie von Wolfram Setz analysiert worden ist, in der auch die einzelnen Argumente gewürdigt werden. Zur Charakterisierung von Vallas Argumentation sei nur einzelnes hervorgehoben, das die Schärfe der humanistisch geschulten Analysekraft Vallas zeigt: Das wohl schlagendste Argument ist, dass er immer wieder deutlich machen kann, dass die Urkunde weder der Sprache67 noch den Verhältnissen der Zeit, aus der sie stammen soll, gerecht wird: Da werden Satrapen als römische Amtsträger erwähnt68 oder die optimates falsch aufgefasst69. Die Fülle der Einzelbeobachtungen, der internen und externen Widersprüche macht, aus historischen Gründen, offenkundig, dass dieser Text schlechterdings nicht auf die Zeit Konstantins zurückgehen kann, es sich also um eine spätere Fälschung handelt, und Valla nutzt dieses Ergebnis, um zu einem generellen Angriff auf das geldsüchtige, verweltlichte Papsttum voranzuschreiten. Die historische Kritik wird zu einem Reformappell, sie hat in sich selbst eine Valenz, die ein Jahrhundert zuvor noch nicht denkbar gewesen wäre. Auch beim Cusaner war diese scharfe Spitze noch nicht zu sehen: Er hatte zwar den Fälschungscharakter der Donatio offenkundig gemacht, dies war aber nur ein Argument in einer ganzen Reihe von Argumentationsgängen gewesen, die deutlich gemacht hatten, dass die weltliche Gewalt nicht von der geistlichen abhängig war. Bei Valla wurde der an die Päpste gerichtete Fälschungsvorwurf die eigentliche Nachricht, die Donatio und ihre Fälschung das eigentliche Thema. Nicht eine Theorie wurde bestätigt, auch nicht ein weiterer Baustein zu einem Gedankengang hinzugefügt, sondern die historische Kritik wurde zum entscheidenden Impuls der Papstkritik. Erst mit Valla – und deswegen ist die donatio Constantini untrennbar mit seinem Namen verbunden – war aus diesem Dokument ein entscheidendes Argument der allerschärfsten Papstkritik und Reformforderung geworden.

65

VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 65,16f. VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 96,2–5. 67 VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 117,12–15. 68 VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 102,23–103,1. 69 VALLA, De Constantini donatione (wie Anm. 62), 104,6–12. 66

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3. Im Zuge der nationalen Reformation Waffe im Kampf gegen die Päpste: Das war die Donatio Constantini bzw. der Nachweis ihrer Fälschung durch Valla erst recht im 16. Jahrhundert. Ihr Gebrauch ist dabei auch ein Exempel für das Ineinanderschießen unterschiedlicher Gemengelage in der Reformation, die eine allein auf Luther fixierte Sicht der Reformation und des Reformatorischen gerne übersieht70. Denn dass das Thema der Donatio Constantini in die Meinungsbildung des 16. Jahrhunderts gelangte, ist zunächst einmal nicht Martin Luther zu verdanken, sondern Ulrich von Hutten, der Vallas Schrift in zwei Ausgaben 1518 und 151971 herausbrachte, also in den Jahren, in denen sich überhaupt erst die reformatorische Bewegung bildete. Hutten war als Humanist hervorgetreten, unter anderem durch seine Beteiligung an den Dunkelmännerbriefen72, die das eigentliche Fanal der Abgrenzung des deutschen Humanismus von der Scholastik darstellten. Seine Botschaft war dabei in allererster Linie eine nationale: Sein Auftreten stand im Horizont der Herauskristallisierung eines nationalen Selbstverständnisses in Deutschland, das sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts beobachten lässt: Die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus hatte die Vorfahren der Deutschen und damit aus transalpiner Sicht auch sie selbst als Barbaren kenntlich gemacht, wogegen sich eine nationale Selbstverständigung in humanistischen Kreisen formierte, die gerade die Andersheit der Deutschen gegenüber Italienern und Franzosen als qualitativ positiv besetzt sehen wollten. Sie bekamen neue Nahrung, als mit der Wiederentdeckung einer zweiten Tacitus-Schrift, der Annalen, durch den Arminius-Stoff auch eine positive Identifikationsfigur aus der Geschichte erschien. Zu denen, die an dieser Rezeption eifrig teilhatten und eine deutsche Freiheit propagierten, gehörte auch Ulrich von Hutten. Und in diesen Kontext einer Abgrenzung von Rom im nicht nur kirchlichen, sondern auch nationalen Sinn gehört auch seine Valla-Edition. Sein Vorwort suggerierte, dass die Päpste gerade im Blick auf die Deutschen die Fälschung hätten behaupten können: „Sed Germanis persuasuros se putabant, utpote quos cerebrum non habere fama est, atque igitur ingenio usi non sunt. Quippe si fuisset cum aliis sibi gentibus negotium, utique non sic frigida esset haec effictio, et cautius moliti hoc commentum essent, nisi reperitur qui ostendat ex Imperatoribus ulli, antequam ad Germanos perveniret imperii nomen, intentatam fuisse hanc fraudem“ 73,

70 Zur Kritik an solchen Konzepten innerhalb der Reformationsgeschichtsschreibung s. LEPPIN, VOLKER, Wie reformatorisch war die Reformation?, in diesem Band 1–15. 71 S. hierzu VON HUTTEN, ULRICH, Ulrichi ab Hutten Equitis Germani Opera quae extant omnia, ed. v. Joseph Hermann Münch. 2. Bd., Berlin 1822, 408f. 72 VON HUTTEN, ULRICH, Ulrich Hutteni Equitis Operum Supplementum. Epistolae obscurorum virorum, ed. v. Eduard Böcking,Leipzig 1869. 73 HUTTEN, Opera 2 (wie Anm. 71), 416.

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und den besonderen Bezug durch die Translationstheorie des Imperiums ergänzte Hutten durch die aus den Gravamina folgende Behauptung einer besonderen Aussaugung Deutschlands durch das päpstliche Abgabensystem74: Auf knappstem Raum wurden nationaler Stolz und nationale Klage zusammengeführt, um die Stoßrichtung des Ganzen gegen den Papst und zugunsten der deutschen Nation in ihrer Abgrenzung vom transalpinen Papsttum als der bedrohlichen Macht zu klären. Hutten konnte geschickt mit Sprache umgehen und agitieren, und er nutzte die Donatio zu dieser seiner Agitation. Seine Edition wurde Luther75 schon rasch bekannt, dessen enge Berührung mit dem Humanismus heute außer Frage stehen dürfte76. Am 24. Februar 1520 berichtete er dem sächsischen Hofsekretär Spalatin: „Habeo in manibus officio Schleupner Donationem Constantini A Laurentio Vallensi confutatam per Huttenum editam. Deus bone, quante seu tenebre seu nequitie Romanensium & quod in Dei iuditio mireris per tot secula non modo durasse, Sed etiam preualisse ac inter decretales relata esse. Tam impura tam crassa tam impudentia mendacia inque fidei articulorum (nequid monstrosissimi monstri desit) vicem successisse. Ego sic angor, ut prope non dubitem papam esse proprie Antichristum illum, quem vulgata opinione expectat mundus“ 77

Luther dachte nicht nur wie in dieser Äußerung in einem apokalyptischen Horizont, sondern ihm waren auch nationale Töne78 keineswegs fremd. Charakteristisch ist seine Vorrede zur vollständigen Ausgabe der Theologia deutsch, die er nach dem Druck eines Fragments 1518 vornahm: „Leß diß Buchlin wer do will, unnd sag dann, ab die Theologey bey unß new adder alt sey, dann dißes Buch ist yhe nit new, Werden aber villeicht wie vormals sagen, Wyr seyen deutsch Theologen, das laßen wyr ßo seyn. Ich danck Gott, das ich yn deutscher zungen meynen gott alßo höre und finde, als ich und sie mit myr alher nit funden haben, Widder in lateynischer, krichscher noch hebreischer zungen. Gott gebe, das dißer puchleyn mehr an

74

HUTTEN, Opera 2 (wie Anm. 71), 416. S. zu Luthers Zwei-Regimente- bzw. Zwei-Reiche-Lehre: HECKEL, JOHANNES, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953 (ABAW.PH 36).; DERS., Im Irrgarten der Zwei-Reiche-Lehre. Zwei Abhandlungen zum Reichs- und Kirchenbegriff Martin Luthers, München 1957 (TEH 55); DUCHROW, ULRICH, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970 (FBESG 25); MANTEY, Zwei Schwerter (wie Anm. 36). 76 S. hierzu JUNGHANS, HELMAR, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985 77 WA.B 2,48,20–49,28 (Nr. 257). 78 Zum nationalen humanistischen Diskurs s. Herfried Münkler / Hans Grünberger / Kathrin Mayer (Hg.), Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland, Berlin 1998. 75

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tag kumen, ßo werden wyr finden, das die Deutschen Theologen an zweyffel die beßten Theologen seyn, Amen“ 79,

und auch die Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung fing mit ihren Andeutungen eines nationalkirchlichen Konzeptes80 nicht nur die Gravamina-Bewegung des späten Mittelalters81 auf, sondern auch die nationale Stimmung, dass die deutsche Kirche unabhängig von Rom werden müsse – und machte hierzu übrigens auch von dem Hinweis auf die Fälschung der Konstantinischen Schenkung Gebrauch82. Man unterschritte die Komplexität von Luthers Denken, wenn man hier nur die humanistisch-nationale Motivation sähe. Entscheidend war für ihn die theologische Überzeugung, zu der er sich im Verlauf der Jahre 1519/20 immer mehr durchgerungen hatte: dass das Papsttum – tatsächlich nicht ein einzelner Papst, sondern das System als ganzes – der Antichrist sei83. Was bei den einen national unterfütterte Welschenabneigung war, konnte bei den anderen die zutiefst theologische Überzeugung sein, dass die Stunde gekommen sei, nun gegen den Antichrist und sein Heer zu kämpfen. Siebzehn Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Vallas Schrift griff Luther das Thema neu auf und verfasste eine Schrift Einer aus den hohen Artikeln des päpstlichen Glaubens, genannt Donatio Constantini84. Die Schrift hatte einen klaren Kontext: Wieder einmal war das – für Mantua geplante – Konzil aufgeschoben worden, und Martin Luther, der in diesen Jahren unter anderem durch seine Schmalkaldischen Artikel seine unversöhnliche Haltung gegenüber Rom unterstrich, wollte alle diplomatisch gesonnenen Kräfte innerhalb des Schmalkaldischen Bundes vor der Beteiligung an einem päpstlichen Konzil warnen, das seine Forderung nach einem freien, und das hieß

79

WA 1,379,5–12. Vgl. SCHMIDT, GEORG, Luther und die frühe Reformation – ein nationales Ereignis?, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 54–75, 66–68; LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 12006. 81 SCHEIBLE, HEINZ, Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: DERS., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, ed. v. Rudolf May und Rolf Decot, Mainz 1996 (VIEG.B. 41), 393–409. 82 WA 6,434,25–435,2. 83 SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Antichrist. IV. Reformations- und Neuzeit, in: TRE 3 (1995), 28–43; LEPPIN, VOLKER, Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: KuD 45 (1999) 48–63. Zu den Nachwirkungen dieses Konzeptes im entstehenden Luthertum s. LEPPIN, VOLKER, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999 (QFRG 69). Zur Verbindung des Antichristgedankens mit der Donatio Constantini s. SCHÄFER, ERNST, Luther als Kirchenhistoriker. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft, Gütersloh 1897, 71; MANTEY, Zwei Schwerter (wie Anm. 36), 195. 84 WA 50, 69–89. 80

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auch: nicht durch den Papst einberufenen und geleiteten Konzil85, nicht zu erfüllen vermochte. Hier schien ihm der Nachweis der Fälschung des Constitutum Constantini das beste Mittel, die Durchtriebenheit der päpstlichen Seite anzuprangern, und er griff, wenn auch zurückhaltend, auch in diesem Kontext die nationale Komponente auf: „Aber die weil es uns Deudschen nutz ist zu wissen, was schendlicher, verzweivelter, böser grewel unter dem schendlichen, verzweivelten, bösen Bapstum wir haben angebetet und fur warheit gehalten, mus ich das beste, so ich vermag, thun und das schendliche, verzweivelt, böse Latin und lügen mit gutem, verstendlichen und deudlichen deudsch an den tag geben, damit wir deste sicherer werden, das wir nicht wider Gott noch wider seine heilige Kirchen handeln, wo wir der Bepstlichen kirchen lügen und grewel angreiffen, Sondern wider den Teufel selbs und seine verdampte buben Schule die warheit verfechten.“ 86

Da war sie: die Front gegen die – letztlich durch ihr Latein als die eigentlichen Barbaren erwiesenen – transalpinen Italiener und gegen den Antichrist. Auf einen Römer aber konnte Luther sich stützen: auf Lorenzo Valla87, dessen Argumentation er nun repetierte. Wie stark der reformatorische und der humanistische Diskurs mittlerweile auseinandergingen, zeigt die relativ gelassene Reaktion des Cochläus, der zu Recht darauf verweisen konnte, dass er selbst schon längst die Authentizität der Schenkungsurkunde bestritten habe88, wozu ihn deren Palea-Charakter leitend bestimmt hatte89. Tatsächlich hatte er seinerzeit vor dessen Edition mit Hutten in Kontakt über die Donatio gestanden90. Was für ihn aber Teil des humanistischen Diskurses und damit gerade auch Ausdruck der Wahrheitsliebe unter dem Papsttum war, das solche Diskussionen zuließ, blieb für Luther Stütze seiner aus anderen Gründen gefassten Überzeugung, dass ihm die Aufgabe zukomme, den päpstlichen Antichrist zu offenbaren. Die theologischen Gründe, die Ansprüche des Papstes, über die Bibel zu bestimmen, die er seit der Diskussion mit Eck in Leipzig ausmachte, blieben hier im Hintergrund, so entscheidend sie für sein eigenes Urteil waren: In einer politischen Kampfsituation, in der es auch darum ging, die Bevölkerung so zu motivieren, wie es ihm mit seinen Flugschriften der zwanziger Jahre gelungen war, griff er gerne auf die national unterfütterte Kritik zurück, so wie ihm dies auch in den zwanziger Jahren Erfolg gebracht hatte. Die Donatio war damit zugleich zu einem reformatorischen und zu einem deutschen Thema geworden.

85 S. diese Forderung auch in der Schrift von der Konstantinischen Schenkung: WA 50,88,4. 86 WA 50,70,2–10. 87 WA 50,73,30. 88 S. WA 50,66; SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 173f 89 SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 175. 90 SETZ, Vallas Schrift (wie Anm. 28), 151.

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Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik

Zusammenfassung Blickt man auf den Gebrauch der Donatio Constantini in der Papstkritik seit dem vierzehnten Jahrhundert, so wird ein auffälliger Wechsel der Argumentationsmuster deutlich: Die noch überwiegend scholastisch geprägten Papstkritiker des 14. Jahrhunderts setzten ihre Faktizität praktisch voraus, selbst wenn sie Distanz hierzu andeuteten. Sie konnten dies auch unproblematisch, weil ihnen nicht die historische Frage das entscheidende Medium der Kritik war, sondern die rechtlichen und theoretischen Fragen, denen sie durch eine Neuinterpretation der Schenkung beikommen konnten. Zur eigentlich historischen Frage kam es erst mit der humanistischen Diskussion des 15. Jahrhunderts, in der Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla die Donatio zu einer Waffe schärften, mit der gegen die Päpste vorgegangen werde konnte. Diese Waffe nahmen dann die humanistischen und reformatorischen Meinungsführer des 16. Jahrhunderts gerne in die Hand, um ihre Anliegen durchzusetzen. Was freilich allen diesen Ansätzen gemeinsam ist: Wenn sie von der Donatio Constantini sprachen, so schauten sie viel weniger auf den Schenkenden als auf den Beschenkten. Es ging ihnen darum, in der Donatio und ihrer fortdauernden Rechtswirkung die eigene Gegenwart zu spiegeln und zu legitimieren beziehungsweise in ihr erhobene Ansprüche zu delegitimieren. Konstantin war im Kampf um seine Folgen bereits zu einer Chiffre geworden, an der sich kritisch das Selbstverständnis der westlichen Christenheit schärfen ließ.

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„Cusa ist hie auch ein Lutheraner“? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues – eine evangelische Annäherung Zum 500. Todestag des Nikolaus von Kues fiel Erwin Iserloh die Ehre zu, die Festrede in Bernkastel-Kues zu halten. Das Thema lautete: „Reform der Kirche bei Nikolaus von Kues“1. Und wie von selbst kam Iserloh, der wenige Jahre zuvor durch seine Bestreitung des Thesenanschlags vom 31. Oktober 15172 die evangelischen Reformationshistoriker aufgeschreckt hatte, in diesem Vortrag auch auf Martin Luther zu sprechen. Dieser habe, so Iserloh, stets Reformer sein wollen und sei doch „faktisch Revolutionär“ geworden3. Und er näherte den Cusaner schließlich so stark an Luther an, dass er die Notwendigkeit sah, zu betonen, dass er ihn gleichwohl nicht als „Reformator vor der Reformation“ verstehen wolle4. Damit verwies er auf den weiteren Kontext, in dem lange Zeit zumal von evangelischer Seite das Verhältnis spätmittelalterlicher Reformer zur Reformation verhandelt wurde5 und in dem sich eine Hochschätzung einzelner mittelalterlicher Theologen und Prediger mit der Ansetzung eines anachronistischen Maßstabes, eben dem der reformatorischen Theologie verbindet.

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ISERLOH, ERWIN, Reform der Kirche bei Nikolaus von Kues, in: DERS., Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge. Bd. 1: Kirchengeschichte als Theologie, Münster 1985 (RGST 3/1), 168–187. 2 S. ISERLOH, ERWIN, Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende?, Wiesbaden 1962; zu dieser nach wie vor offenen Frage s. Joachim Ott / Martin Treu (Hg.), Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008 (SSLG 9). 3 ISERLOH, Kirchenreform (wie Anm. 1), 174. 4 Ebd. 186. 5 S. noch BENRATH, GUSTAV ADOLF, Die sogenannten Vorreformatoren in ihrer Bedeutung für die frühe Reformation, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 157–166.

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1. Das Konzept der „Reformatoren vor der Reformation“ Im Jahr 1841 erschien der erste Band des Buches „Reformatoren vor der Reformation“ aus der Feder des Heidelberger Theologieprofessors Carl Christian Ullmann6. Entsprechend der damals noch relativ offenen Denomination theologischer Professuren an evangelischen Fakultäten hat Ullmann sich im Laufe seines Lebens mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen befasst. Zu seinen bekannteren Werken gehören Abhandlungen über das Wesen des Christentums7 oder auch eine Auseinandersetzung mit dem scharf kritischen Jesus-Bild von David Friedrich Strauß8. Das Thema der „Reformatoren vor der Reformation“ aber hat ihn über Jahrzehnte beschäftigt, ein erster Entwurf lag bereits 1834 unter dem Titel „Johann Wessel, ein Vorgänger Luthers“ vor9. Schon dieser Erstling zeigt die Richtung an, in die Ullmanns Studien gingen: Die Theologen, auf die er in besonderer Weise achtete, waren Kirchenkritiker, in der Regel mit einem Hintergrund in der Devotio moderna, jener auf Innerlichkeit ausgerichteten Frömmigkeitsbewegung der Niederlande10. Entsprechend war der Titel der „Reformatoren der Reformation“ auch spezifiziert: Es ging um Gestalten „vornehmlich in Deutschland und den Niederlanden“. Der Blick also war, so kann man es aus heutiger Sicht sagen, eingeschränkt, und doch zugleich öffnend: Ullmann, der auch sonst, vor allem in innerprotestantischen Auseinandersetzungen zu irenischem Verhalten neigte, machte darauf aufmerksam, dass die Reformation in der Gestalt Luthers nicht einfach unvorbereitet aufgetreten, sondern vielfach vorbereitet, ja, mancher Gedanke schon vorweggenommen worden war. Das späte Mittelalter, dem bis dahin von evangelischer Seite kaum Aufmerksamkeit gegolten hatte, konnte so neu in den Blick geraten und aufgenommen werden, und dies in einer Perspektive, die im spätromantischen Geist durchaus auf viel Resonanz hoffen durfte: in einer Zeit, in der ein Meister Eckhart auch im katholischen Kontext 6 ULLMANN, CARL, Reformatoren vor der Reformation. 2 Bde., Hamburg 1841–1842; zu Ullmann s. PFISTERER, HANS, Carl Ullmann (1796–1865). Sein Weg zur Vermittlungstheologie, Karlsruhe 1977 (VVKGB 29). 7 ULLMANN, CARL, Das Wesen des Christentums mit Beziehung auf neuere Auffassungsweisen. Auch für gebildete Nichttheologen dargestellt, Gotha 41854. 8 Carl Ullmann / Julius Müller, Das Leben Jesu von Dav. Fr. Strauß, o.O. 1836. S. zu David Friedrich Strauß die abgewogene Würdigung von KÖPF, ULRICH, Der kritische evangelische Theologe David Friedrich Strauß (1808–1874), in: ThRv 104 (2008) 443– 454. 9 ULLMANN, CARL, Johann Wessel, ein Vorgänger Luthers. Zur Charakteristik der christlichen Kirche und Theologie in ihrem Uebergang aus dem Mittelalter in die Reformationszeit, Hamburg 1834. 10 S. hierzu jetzt den Überblick von VAN ENGEN, JOHN, Sisters and Brothers of the Common Life. The devotio moderna and the world of the later Middle Ages, Philadelphia 2008.

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neu entdeckt wurden11, konnte man auch auf evangelischer Seite auf dieses Erbe zurückgreifen und es in gewisser Weise mit der eigenen Sache verbinden. Die Leistung, die dies Konzept in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte, anzuerkennen, ist freilich das eine. Der heutige Rückblick wird auch rasch die Grenzen wahrnehmen, die das Konzept besaß und die es geraten scheinen lassen, mit ihm etwas vorsichtiger zu verfahren12: Wer nach „Reformatoren vor der Reformation“ oder nach „Vorgängern“ sucht, arbeitet mit einem festen Fluchtpunkt: Es gibt offenkundig ein Ziel der Entwicklung, eben die Reformation, Martin Luther. Von hier aus wird die Geschichte neu sortiert. Bildlich gesprochen sucht man nach Fäden, die von der normativen Zeit des 16. Jahrhunderts zurück in das 15., zum Teil sogar das 14. Jahrhundert reichen. Wir alle aber wissen, dass ein Gewebe erst dann entsteht, wenn zu den längs gespannten Fäden auch die Querverbindungen hinzukommen. Und eben diese Querverbindungen zur jeweils eigenen Zeit wurden von Ullmann und denen, die im noch bis in das 20. Jahrhundert hinein konzeptionell gefolgt sind, weitgehend bewusst beiseitegeschoben. Es entstand eine eigene Geschichte der Reformatoren vor der Reformation jenseits der realen Geschichte, eine teleologisch orientierte Vorgeschichte der Reformation, die in gewisser Weise die für die Reformation brauchbaren Ansätze von jenen schied, die mittelalterlich und damit schlecht blieben. Denkt man auf dieser kritischen Linie weiter, so wird rasch deutlich, dass das mit Ullmann in die Forschung eingebrachte Konzept der „Vorreformatoren“ gar nicht so neu war, sondern denkerisch an ein altes polemisches Geschichtsbild anknüpfte, das schon in der Reformationszeit der eiserne Kämpfer für das Luthertum Matthias Flacius13 grundgelegt hatte, als er eine Reihe von testes veritatis sammelte, die noch vor der Reformation und entgegen der als antichristlich wahrgenommenen Papstkirche das Evangelium von Jesus Christus verkündet hatten; vor allem unter Hinweis auf die Concordantia catholica wurde in diese Zeugenliste auch Nikolaus von Kues aufgenommen14. Dies geschah unter ausdrücklicher Berufung auf die Schrift Des

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S. RUH, KURT, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1989, 14. Vgl. kritisch hierzu auch MEUTHEN, ERICH, Nikolaus von Kues und die deutsche Kirche am Vorabend der Reformation, in: Klaus Kremer / Klaus Reinhardt (Hg.), Nikolaus von Kues. Kirche und Respublica christiana. Konkordanz, Repräsentanz und Konsens, Trier 1994 (MFCG 21), 39–77, 41. 13 Zu ihm s. die – freilich in ihrer hagiographischen Struktur nicht unproblematische – Arbeit von OLSON, OLIVER K., Matthias Flacius and the Survival of Luther’s Reform, Wiesbaden 2002 (WARF 20). 14 Catalogus testi-| VM VERITATIS, QUI| ante nostram aetatem recla-| marunt Papae [...] Cum praefatione MATHIAE FLA-| CII Illyrici [...], Basel: Oporinus 1556, 958f; s. zur Aufnahme des Nikolaus von Kues in diesen Katalog s. HARTMANN, MARTINA, Huma12

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Bapsts Hercules wider die Deudschen des hessischen reformatorischen Theologen Johannes Kymeus, in der sich das Zitat aus dem Titel der vorliegenden Studie findet: „Cusa ist hie auch ein Lutheraner“15. Spätestens in der Anwendung und Zuspitzung durch Flacius zeigt sich das Konzept der Suche nach „Reformatoren vor der Reformation“, in dessen Sog so auch Nikolaus von Kues hineingeriet16, als ein kontroverstheologisches Denken, das ahistorisch verfährt, eine Geschichte der Reinen unter der tatsächlichen Geschichte herauslöst. Man wird Ullmann zugutehalten können, dass er diesem Schema nicht einfach folgen wollte, faktisch aber steht er in dieser Tradition, und dies macht forschungsgeschichtlich und methodisch skeptisch gegenüber der Rede von einem Reformator vor der Reformation. Entsprechend hat die neuere Sicht auf das späte Mittelalter auch im Kontext evangelischer Theologie, repräsentiert etwa durch die Arbeiten von Heiko Augustinus Oberman17, Bernd Moeller18 und Berndt Hamm19, andere Verstehensmodelle gesucht20. Zwar bleibt der Blick aus evangelischer Sicht wohl unweigerlich so, dass man in besonderer Weise im späten Mittelalter das entdeckt, was einem besonders vertraut erscheint – oder auch gerade das, was aus der Sicht der eigenen Tranismus und Kirchenkritik: Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001 (BGQMA 19), 179f. 15 KYMEUS, JOHANNES, Des Babsts Hercules wider die Deudschen, Wittenberg 1538, ed. v. Ottokar Menzel, Heidelberg 1941 (CusSt 6) (SHAW.PH 6 [1940/1]), 33,3f (Marg.); vgl. hierzu KANDLER, KARL-HERMANN, Nikolaus von Kues als testis veritatis, in: MFCG 17 (1986) 223–234. 16 Zum Geschichtsbild des Flacius s. SCHEIBLE, HEINZ, Der Plan der Magdeburger Zenturien und ihre ungedruckte Reformationsgeschichte, Diss. Heidelberg 1960. 17 Insbesondere OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation 1. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965; ders. / Charles Trinkaus (Hg.), The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion. Papers from the University of Michigan Conference, Leiden 1974. 18 MOELLER, BERND, Spätmittelalter, Göttingen 1966 (KIG H1). 19 HAMM, BERNDT, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Müller, Gerhard et al. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern. 1. Bd.: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, 159–211; DERS., Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65); ders. / Thomas Lentes (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001 (SuR.NR 15). 20 Zu meinem eigenen Ansatz s. LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz / Heidrun Munzert / Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 299–315; DERS., Theologie im späten Mittelalter, Frömmigkeit im späten Mittelalter, Humanismus, in: Thomas Kaufmann / Raymund Kottje (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte. Bd. 2, Darmstadt 2008, 178–228.

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dition besonders fremd erscheint. Aber die Hauptrichtung ist doch dort, wo man überhaupt nach dem Zusammenhang von spätem Mittelalter von Reformation fragt, davon geprägt, das 16. wie das 15. Jahrhundert gleichermaßen zu kontextualisieren, also, wieder in dem vorhin angedeuteten Bild gesprochen, das Gewebe vollständig aus Längs- und Querfäden zu weben und einem Menschen, einem Theologen und Denker seinen Ort nicht nur im Vorraum für anderes zu platzieren, sondern an seiner je eigenen historischen Stelle. Diesen Versuch will ich im Folgenden auch mit Nikolaus von Kues machen: also die Perspektive des evangelischen Theologen nicht verleugnen und doch den Cusaner weder positiv noch negativ für das Bild von Reformation vereinnahmen, sondern danach zu suchen, was die Faszinationskraft dieses Theologen genau in der Mitte des 15. Jahrhunderts ausmacht.

2. Der Ansatzpunkt Manchmal kann man einen Unterschied, eine kleine Irritation an der Differenz von drei Bibelversen festmachen: Wo Luther in seiner ganzen Theologie von Röm 1,17 aus dachte, machte Nikolaus von Kues das Verständnis seiner Theologie an Röm 1,20 fest. „Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: ‚Der aus Glauben Gerechte wird leben‘“ heißt es nach der Einheitsübersetzung in Vers 17, drei Verse später liest man: „Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit.“ Zwei Verse, zwei Theologien, zwei theologische Biographien machen sich hieran fest. Im Falle Luthers verdanken wir seinem eigenen Erinnerungsbericht die Kenntnis über die Bedeutung des Verses aus dem Römerbrief21. Die Erinnerung ist zwar spät, und wie man zeigen kann, an manchen Punkten zugespitzt, wohl auch geschönt22, aber sie drückt für das Jahr 1545, ein Jahr vor Luthers Tod, aus, was Luther theologisch am tiefsten bewegte: Er habe, so berichtet er in der Vorrede zu seinen lateinischen Werken, seine reformatorischen Entdeckungen beim Nachsinnen über Paulus und den Römerbrief gemacht und es sei eben jener Vers 1,17 gewesen, den er gehasst habe, über den er theolo21

WA 54,185,12–186,20. LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band 261–277; kritisch hierzu: BRECHT, MARTIN, Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: ZThK 101 (2004) 281–291. Zur der langanhaltenden Diskussion um Luthers reformatorische Wende s. die beiden Sammelbände: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart / Wiesbaden 1988 (VIEG 25). 22

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gisch und spirituell nicht hinwegkam. Dann aber, in einer plötzlichen, nicht weiter nachvollziehbaren Eingebung, wurde ihm der Sinn dieses Verses klar: dass Gottes Gerechtigkeit nämlich nicht als der Maßstab zu verstehen sei, nach dem Gott richtet und jedem nach Vermögen seiner Leistung Gewinn oder Verlust zuteilt, sondern dass Gerechtigkeit Gottes das ist, wodurch Gott gerecht macht. Gerechtigkeit nicht als Richtschnur, sondern als unverdientes Geschenk: Das ist im Kern der Rechtfertigungsbotschaft, von der aus sich für Luther das gesamte Evangelium erhellt und erschließt. Einen solchen biographisch-theologischen Zusammenhang beschreibt der Cusaner nicht, aber in seinem Trialog über das Können-Ist, dem Trialogus de possest entfaltet er Problem und Problemlösung anhand des zitierten Verses Röm 1,20. Ein Bernhard, ein Abt Johannes und ein Kardinal unterhalten sich – und die Nennung des Kardinals macht deutlich, dass wir die Namen nicht nur als Fiktionen verstehen sollen: Es handelt sich um Nikolaus selbst, seine Gesprächspartner lasen sich als Bernhard von Kraiburg, Kanzler des Erzbischofs von Salzburg, und Giovanni Andrea di Bussi, Abt von St. Justina in Rom identifizieren23. Was Bernhard vor allem aufstößt ist der Gedanke, dass man nach dem Vers des Paulus das Unsichtbare erblicken können soll24. Und damit sind wir bei dem Punkt, der in aller Spezifik deutlich macht, was der eigentliche Denkansatz des Kusaners ist. Der Gott, von dem er spricht, ist prinzipiell dem menschlichen Denken entzogen25, das eigentlich zu Erklärende ist, dass der Mensch überhaupt die Gabe erhält, von Gott zu sprechen – und dies führt auch unmittelbar in eine Welt von Widersprüchen bzw. Gegensätzen hinein. Man könnte zugespitzter sagen: Wo die Frage der Reformatoren eine soteriologische ist, ist die des Cusaners eine epistemologische. Wo es den Reformatoren um das durch Gott geschenkte Heil geht, geht es dem Theologen und Kardinal des 15. Jahrhunderts um die Erkenntnis Gottes. Paulus wird damit in der Wahrnehmung des Cusaners nicht zum Verkünder des grundlosen Heils Gottes, sondern zum Hermeneuten, der den Menschen an die Hand nimmt und zur Erkenntnis Gottes leitet, zur Erkenntnis eines Gottes, von dem zunächst einmal gilt, dass er so erhaben über alles ist, dass von „nec nomen nec res“, weder Name noch Sache angemessen ausgesagt werden können26. Diese Unerkennbarkeit Gottes hat ihren philosophischen Grund, der auch in anderen Traditionen spätmittelalterlicher Theologie,

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FLASCH, KURT, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung 521. Nicolai de Cusa Opera Omnia. Bd. XI/2, Hamburg 1973, 4,12f. 25 LEINKAUF, THOMAS, Nicolaus Cusanus. Eine Einführung, Münster 2006 (BCG 15), 145. 26 CUSANUS, Opera omnia XI/2 (wie Anm. 24),12,1f. 24

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besonders im Scotismus27, bewusst ist: Zwischen dem unendlichen Gott und dem endlichen Verstand gibt es kein wie immer geartetes proportionales Verhältnis28, und so kann, getreu dem antiken Grundsatz, dass Gleiches durch Gleiches erkannt werde, eine Gotteserkenntnis nicht stattfinden. So kann auch der Weg, den der Cusaner zu dem unerkennbaren Gott von Röm 1,20 aus nimmt, nicht so einfach und glatt sein, wie es aus der sonstigen theologiegeschichtlichen Verwendung der Stelle, etwa in Thomas‘ Summa theologiae (ST I q. 2 a. 2) heraus zu vermuten wäre: Er fordert nicht einfach zum Rückschluss aus den Werken auf, um Gott zu erkennen. Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer, den er mit seinem Bild von Einfaltung und Entfaltung fasst29: In Gott ist alles eingefaltet, was sich in der Schöpfung entfaltet. Diese Bildlichkeit stellt den Kernpunkt dessen dar, was Nikolaus immer wieder als seine Pantheismus oder mindestens Panentheismus diskutiert wurde und der ihm schon von einem Zeitgenossen, dem Heidelberger Theologieprofessor Johannes Wenck von Herrenberg, vorgehalten wurde30. Im Rahmen seiner neuplatonischen Grundorientierung ordnet Nikolaus die Einheit Gott zu, dem jede pluralitas fremd ist31: „Gott ist das absolute Höchtmaß und Einheit, er geht den Unterschiedenen und voneinander Abgesetzten absolut voraus und einigt sie“ 32.

Die Vielfalt der Entitäten, die die Welt ausmachen, ist daran gemessen eine der Einheit Gottes gegenüber ganz und gar defiziente Existenzform, die einerseits unendlich weit entfernt von Gott ist, insofern Gott immer nur einer und einheitlich sein kann, die andererseits aber aufs Engste mit Gott verbunden ist, insofern alles was ist, sein Sein nicht nur von Gott, sondern sogar in Gott hat. Dogmatisch gesprochen wird damit der kreative Akt des Schöpfens zu einem Selbstentfaltungsakt, in dem an die Stelle des Erarbeitens und Bearbeitens von Materie eine Selbstentfaltung tritt. Sachlich wird hierdurch der Mensch als wichtigster und höchster Ort der Schöpfung seinem Wesen nach eng auf den Schöpfer bezogen, doch nicht so nah, dass er tatsächlich auf diesem Wege zu Gott gelangen könnte. Allerdings ermöglicht das Verhältnis des Schöpfers zu seinen Geschöpfen dem glaubenden Menschen eine affirmative 27

S. hierzu BOLLIGER, DANIEL, Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis. Mit ausführlicher Edition bisher unpublizierter Annotationes Zwinglis (SHCT 107), Leiden u.a 2003. 28 Nicolai de Cusa Opera Omnia. Bd. 1, Leipzig 1932,6,1f. 29 CUSANUS, Opera omnia XI/2 (wie Anm. 24), 9,20–22. 30 S. hierzu FLASCH, Geschichte einer Entwicklung (wie Anm. 23), 181–194; vgl. KANDLER, KARL-HERMANN, Nikolaus von Kues. Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit, Göttingen ²1997, 61. 31 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 73,22–27. 32 Ebd. 73,8–10: „Deus est absoluta maximitas atque unitas, absolute differentia atque distantia praeveniens atque uniens“.

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Rede von Gott, wie der Cusaner sie grundsätzlich für alle Geschöpfe für notwendig hält33: Es ist die Beziehung zu den Geschöpfen, aufgrund deren überhaupt von Gott gesprochen werden kann34 – so kehrt sich die ontische Reihenfolge gewissermaßen epistemologisch um: Weil Gott sich in die Geschöpfe hinein entfaltet hat, sind von diesen aus Benennungen Gottes möglich. Diese von der Schöpfung ausgehenden Benennungen betreffen freilich nicht allein die Eigenschaften Gottes, sondern auch die trinitarischen Selbstunterscheidungen – in theologisch heikler Weise führt Nikolaus von Kues auch die Rede von Vater, Sohn und Heiligem Geist auf das Schöpfungsverhältnis zurück35. Heikel ist dies vor allem, weil es hier nicht allein um eine Präferierung der ökonomischen gegenüber der immanenten Trinitätslehre geht, sondern um die generelle Präferenz des Cusaners für die Einheit gegenüber der Unterschiedenheit, wie sie sich selbstverständlich auch in den trinitarischen Selbstunterscheidungen ausdrückt. Diese ontologische Priorisierung der Einheit aber bringt es mit sich, dass selbst noch die trinitarischen Bezeichnungen als im Kern defizient anzusehen sind. Nikolaus von Kues deutet dies nur an, aber er verschweigt es eben auch nicht: Im 26. Kapitel des ersten Buches von De docta ignorantia rechnet er die Rede vom unus ac trinus ganz konsequent unter jene Benennungen, mit denen die menschlichen Religionen Gott aufgrund der Geschöpfe belegen36, um dann zu erklären, dass es erst die Ergänzung solcher affirmativen Theologie durch die negative sei, die es verhindere, dass Gott als Geschöpf angesehen werde37. Markanter ist der prinzipiell unzureichende Charakter dieser von den altkirchlichen Konzilien beschlossenen Rede- und Denkweise wohl kaum auszudrücken – und hier wird deutlich wie an kaum einer anderen Stelle, wie sehr sich das Denken des Cusaners theologisch wie spirituell von dem Luthers unterscheidet: In einer frühen Auslegung des Vaterunsers preist dieser geradezu die Möglichkeit, Gott als Vater anzureden: „Nu ist kein name under allen namen, der mehr geschickt mache uns gegen goth dan ‚vater‘, das ist ein gar fruntlich, susse, tieffe und hertzlich rede. Es wer nit so liblich ader trostlich, wan wir sprechen ‚herr‘ ader ‚goth‘ ader ‚richter‘. Dan der nam ‚Vatter‘ ist von natur eyngeborn und naturlich sussz. Derhalben er auch got am aller besten gefelt und uns tzu horen yn am aller meysten bewegt, desselben gleychen wir uns yn den selben bekennen als kinder gottis. Das durch aber mael wir got gar innerlich bewegen, dan nit lieblicher stym ist, dan des kindts tzum vatter.“ 38

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Ebd. 54,3f. Ebd. 50,12–16. 35 Ebd. 50,26–51,18. 36 Ebd. 54,6. 37 Ebd. 54,14–16. 38 WA 2,83,14–22. 34

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Auch hier geht es ganz offenkundig nicht um die trinitarische Selbstunterscheidung, sondern um die Ermöglichung glaubender Anrede an den Vater. Aber diese ist eben nicht aus den Geschöpfen heraus ermöglicht, sondern aus dem Wort Gottes selbst, das den Menschen im Vaterunser die Möglichkeit eröffnet hat, ihn anzureden. Und sie trägt nicht den Beigeschmack der Defizienz, sondern ist gerade eine besondere Auszeichnung für den Menschen. Die allgemeine Einschätzung, dass für Luther die negative Theologie nur eine geringe Rolle spielt gewinnt hier konkrete Gestalt. Zugleich unterscheidet die Reduktion der Erkenntnis Gottes in den Geschöpfen auf die Ermöglichung affirmativer Rede statt auf Beweisführung den Cusaner allerdings auch von Thomas von Aquin oder überhaupt der aristotelischen Tradition mittelalterlichen Denkens: Für Thomas war der Rückschluss vom Seienden in der Schöpfung auf den Schöpfer im wahrsten Sinne des Wortes zielführend: Man konnte aus der Schöpfung zurückdenken und zu einem unhintergehbaren ersten Punkt, Gott, kommen. In dem markantesten der fünf Wege, die Thomas hierfür lehrte, ging er davon aus, dass wir in unserer Schöpfungswelt Bewegung feststellen: „Es ist nämlich gewiss und steht in der sinnlichen Wahrnehmung fest, dass sich irgendetwas in dieser Welt bewegt“.39 Bewegung aber braucht einen Anstoß, setzt also Vorheriges, Bewegendes voraus. Damit dieses bewegen kann, muss es seinerseits durch ein anderes in Bewegung gesetzt werden kann. Da dieser Rückschluss aber nach Thomas nicht ins Unendliche weitergehen kann, kommt man an einen Punkt, an dem das, was bewegt, selbst unbewegt ist, gelangt also zum unbewegten Beweger, mithin zu Gott. Dessen Existenz würde damit bewiesen und unhinterfragbar. Nicht so für Nikolaus: Gott kann, so schreibt er, „durch keinen noch so hohen Aufstieg von Natur aus anders gesehen werden als im Rätselbild“40. Und das liegt nach seinem Einfaltungs- Entfaltungsmodell, seiner Rede von explicatio und complicatio41, auch nahe: Wenn denn die Schöpfungswelt Entfaltung dessen ist, was in Gott eingefaltet ist, so ist sie auch kategorial anders, und jeder Bezug auf sie bewegt sich in der begrifflichen Welt. Diese aber arbeitet durch Unterscheidungen und Abgrenzungen, die es in Gott gerade nicht gibt: Wo wir, auf den Bahnen der aristotelischen Logik, darauf angewiesen sind, der Sache durch Differenzierungen näher zu kommen und mit Hilfe des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch von dem einen zu bejahen, was

39 „Certum est enim, et sensu constat, aliqua moveri in hoc mundo.“ (Editio Leonina IV,31). 40 CUSANUS, Opera omnia XI/2 (wie Anm. 24), 36,18f: „[…] deus noster nullo quamvis etiam altissimo ascencu naturaliter videri possit aliter quam in aenigmate“. 41 HAUBST, RUDOLF, Streifzüge in die cusanische Theologie, Münster 1991, 196–203; RICCATTI, CARLO, „Processio“ et „explicatio“. La doctrine de la création chez Jean Scot et nicolas de Cues, Neapel 1983; LEINKAUF, Cusanus (wie Anm. 25), 102–110.

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wir vom anderen verneinen, gilt in Gott weder Bejahung noch Verneinung42, von ihm können wir Widersprüchliches aussagen: Er ist „zugleich absolut größte und kleinste Größe“43. Ihm von der Schöpfung aus zu begegnen, kann im Begriff nicht gelingen, sondern ausschließlich in der mystischen44 Schau, die den menschlichen Verstand weit übersteigt45. Spätestens bei diesem Begriff wird deutlich, dass der Cusaner aus ähnlichen Wurzeln schöpft wie rund drei Generationen später: Die mystische Theologie wurde für Martin Luther, wie gerade die jüngere Forschung wieder deutlich hervorhebt46, zu einem ganz entscheidenden Quell seiner eigenen Überlegungen. Es sind sogar ähnliche Zweige innerhalb der mystischen Theologie, die beide beeinflussten: So wie man für den Cusaner einen starken Einfluss Meister Eckharts festhalten kann47, spielt für Luther Johannes Tauler eine große Rolle48, also ein weiterer Vertreter der oberrheinischen Mystik, der zudem in hohem Maße von Meister Eckhart abhängig sind. Und doch sind die Punkte, an denen beide mit ihren Überlegungen ansetzen, offenkundig unterschiedlich: Für Nikolaus mündete der Gedanke der Nichterkennbarkeit Gottes klassischerweise in typische Argumentationsmuster der theologia negativa: Von Gott könne man gleichermaßen aussagen, dass er Licht sei, wie auch, dass er in keiner Weise Licht sei49: Es ist die Bildung von Gegensatzpaaren über das gleiche Subjekt, die die aristotelische Logik herausfordert: Der menschliche Verstand vermag beides nicht zusammenzudenken50. Und doch gewinnt er eben durch diese Gegensatzpaare die

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CUSANUS, Opera omnia XI/2 (wie Anm. 24), 16,9–17,16. Ebd. 11,18f: „Utique non errat dicens deum magnitudinem absolute maximam pariter et minimam.“ 44 Zur Mystik bei Nikolaus von Kues s. HOFF, JOHANNES, Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues, München 2007; HAAS, ALOIS MARIA, „… das Letzte unserer Sehnsüchte erlangen.“ Nikolaus von Kues als Mystiker, Trier 2008 (TCusL 14). 45 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 11,12–18; XI,19,1–4. 46 S. Berndt Hamm / Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (SuR.NR 36). 47 WACKERZAPP, HERBERT, Der Einfluß Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (1440–1450), Münster 1962 (BGPhThMA 39); FROST, STEFANIE, Die Meister-Eckhart-Rezeption des Nikolaus von Kues, in: Harald Schwaetzer (Hg.), Nicolaus Cusanus: Perspektiven seiner Geistphilosophie, Regensburg 2003, 149–162; DIES., Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Rezeption im Spiegel der Marginalien zum Opus tripartitum Meister Eckharts, Münster 2006 (BGPhThMA.NF 69). 48 LEPPIN, Omnem vitam (wie Anm. 22); OTTO, HENRIK, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (QFRG 75). 49 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 11,8f. 50 Ebd. 12. 43

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Möglichkeit, an den Grenzen der innerweltlichen Sprachfähigkeit einen sprachlichen Bezug auf Gott herzustellen. Der für Nikolaus so bedeutsame Gedanke der theologia negativa aber hat für Luther kaum eine Rolle gespielt. Zwar konnte auch er von dem verborgenen Gott sprechen, und damit einen Begriff gebrauchen, dem kein mittelalterliche Theologie so intensiv nachgegangen ist wie Nikolaus von Kues, der bekanntlich sogar eine eigene knappe Schrift unter dem Titel De Deo abscondito verfasst hat. Aber auch hier zeigt sich die spirituelle Differenz zwischen beiden Denkern: Die Verborgenheit Gottes ist für Nikolaus von Kues die verstandesmäßige Nichtbegreifbarkeit Gottes, für Luther, durchaus auf der Linie mystischer Anfechtungserfahrung die Anfechtung, dass Gottes Verheißung und Gottes Handeln für den einzelnen Menschen auseinandertreten51. Anders gesagt: Der Deus absconditus, der verborgene Gott, ist für ihn ohne den Deus revelatus, den offenbaren Gott, gar nicht zu denken52, zwischen beiden besteht von vorneherein eine dialektische Spannung. Er selbst macht dies in einer – vermutlich nicht ganz präzisen – Erinnerung deutlich, nach der die Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus ihm im Beichtrat seines Mentors Johannes von Staupitz nahegebracht worden sei53: Als junger Mönch war er wieder einmal über der Frage der Prädestination verzweifelt, die ihn, geprägt in der augustinischen Tradition, nach seinem eigenen Bekenntnis immer wieder gequält hat. Da habe Staupitz ihn auf den Deus revelatus hingewiesen, auf den Gekreuzigten, an den er sich halten solle. Nun ist offenkundig auch der Prädestinationsgedanke einer, der der Offenbarung in Christus nicht vorausgeht, sondern aus ihr folgt, was Staupitz also riet, war: sich an die Gnadenverheißung in Christus zu halten und nicht über die möglichen Schattenseiten und das nicht erkennbare Wesen Gottes zu grübeln. Man könnte zugespitzt sagen: Die Nichterkennbarkeit Gottes ist für Nikolaus von Kues Ausgangspunkt und zugleich Ergebnis der philosophischen Spekulation 51

S. hierzu ausführlicher mit Belegen LEPPIN, VOLKER, Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“, in diesem Band 443–458. 52 Zur Lehre vom Deus absconditus bei Luther s. BANDT, HELLMUT, Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Eine Untersuchung zu dem offenbarungsgeschichtlichen Ansatz seiner Theologie (ThA 8), Berlin 1958; HERMANN, RUDOLF, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus – nach seiner Verschiedenheit vom Deus absconditus – in „De servo arbitrio“, in: DERS., Gesammelte und nachgelassene Werke. Bd. 2: Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums, ed. v. Horst Beintker, Berlin 1981, 278–289; ADAM, ALFRED, Der Begriff „Deus absconditus“ bei Luther nach Herkunft und Bedeutung, in: LuJ 30 [1963], 97–106; OTTO, WERNER, Verborgene Gerechtigkeit. Luthers Gottesbegriff nach seiner Schrift „De servo arbitrio“ als Antwort auf die Theodizeefrage (RSTh54), Frankfurt/M. 1998. 53 WA.TR 5, Nr. 5658a. Bei diesem „Tischreden“-Stück um eine Mitschrift der Genesis-Vorlesung (s. WA 48,363f); vgl. den parallelen Hinweis auf die Tröstung durch Staupitz in der Prädestinationsanfechtung in der Vorlesung über Gen 26,9: WA 43,461,11–16.

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– für Luther ist sie Grund zur Warnung vor der Spekulation. Wenn Otto Hermann Pesch einmal die Theologien des Thomas und Luthers mit den Begriffen „sapiential“ einerseits und „existentiell“ andererseits gefasst hat, so gilt dies möglicherweise in einem noch höherem Maße für den hier zu fassenden Unterschied von Nikolaus von Kues und Reformator. Und es gilt zugleich, dass die Differenzen einerseits auf den ersten Blick zu spüren sind, wenn man die unterschiedlichen Sprechweisen der beiden Theologen wahrnimmt: Der gediegene, philosophisch-reflektiere Stil des Nikolaus hebt sich deutlich ab von dem kraftvollen, biblisch durchdrungenen, manchmal aber auch derben und nicht immer präzisen Stil Luthers. Andererseits sind die Differenzen nur schwer zu fassen, wenn man sich auf das Detail der Argumentationen einlässt, denn die aus protestantischer Sicht gerne vollzogene Grenzziehung, es fehle den mittelalterlichen Theologen – und mit ichnen dann auch Nikolaus von Kues – an Gnadentheologie und Christologie gilt ohnehin nicht so pauschal für das Mittelalter: Dass ein Gregor von Rimini oder eben auch ein Johann von Staupitz in vielem die augustinische Gnadentheologie und Christologie aufgegriffen hat, hat die Forschung schon lange aufgearbeitet54. Es gilt aber auch für den konkreten Fall des Nikolaus von Kues nur mit gewissen Modifikationen. Denn tatsächlich bietet Nikolaus von Kues als Lösung aus den Schwierigkeiten der begrifflichen Suche nach Gott nicht allein die mystische Schau an, sondern auch Christus selbst: „Gott ist dunkel und verborgen vor den Augen aller Weisen, aber er enthüllt sich den Unverständigen oder Demütigen, welchen er die Gnade gibt. Einer ist der Zeigende, nämlich der Meister Jesus Christus. Dieser zeigt in sich den Vater“55, so heißt es in dem Trialogus, der in gewisser Weise eine Kurzzusammenfassung der Hauptschrift des Cusaners De docta ignorantia darstellt. Die Betonung der Demut im Angesicht Gottes, vor allem aber die Herausstreichung der Gnade, das Angewiesensein auf Christus selbst: Da ist ein Ensemble beisammen, ohne dessen intensives Zusammendenken bei Nikolaus von Kues und anderen reformatorische Theologie wohl schwerlich entstanden wäre. Und was in den theoretischen Schriften

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S. zu Gregor von Rimini: LEFF, GORDON, Gregory of Rimini. Tradition and Innovation in Fourteenth Century Thought, Manchester 1961; Heiko Augustinus Oberman (Hg.), Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, Berlin / New York 1981 (SuR 20). Zu Staupitz: STEINMETZ, DAVID C., Misericordia Dei. The Theology of Johannes von Staupitz in Its Late-Medieval Setting, Leiden 1968 (SMRT 4); WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Wiesbaden 1991 (VIEG 141); HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: ARG 92 (2001) 6–42 55 CUSANUS, Opera omnia XI/2 (wie Anm. 24), 36,9–37,12: „Est enim deus occultus et absconditus ab oculis omnium sapientium, sed revelat se parvulis seu humilibus, quibus dat gratiam. Est unus ostensor, magister scilicet Iesus Christus. Ille in se ostendit patrem“.

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des Cusaners hergeleitet wird, erhält in seinen Predigten56 noch deutlichere Kontur: Dies haben Rudolf Haubst, Klaus Reinhardt und Walter Andreas Euler haben in mehreren Untersuchungen gezeigt57. Kurt Flasch hat dem vehement widersprochen: Es sei zwischen einem „psychologisch-faktisch“ vorausgesetzten christlichen Glauben und einer „von dieser Tatsache unabhängig argumentierenden Philosophie der Trinität und der Inkarnation, die im Prinzip allen Menschen einsichtig sein sollte“, zu unterscheiden58. Damit aber reißt Flasch einen Graben auf, der sich so bei Kues gerade nicht zeigt: der Anspruch, vernünftig einsichtige Lehren zu vertreten, wurzelt in der geglaubten Vernünftigkeit des christlichen Glaubens, das eine ergänzt sich mit dem anderen und ist eben gerade nicht „unabhängig“, sondern dependent aufeinander bezogen. Beides zu trennen ist der letztlich ahistorische Versuch eines in der Regel in glänzender Weise historisierenden Philosophiehistorikers, eine Unabhängigkeit der Philosophie zu konstruieren, wie sie dem Denken der Neuscholastik des 19. Jahrhunderts und der neuzeitlichen Philosophie weit eher entspricht als den Argumentationsgängen des Cusaners. Wie nahe das noch viel stärker christologisch zentrierte reformatorische Denken auch dem mystischen Renaissancedenken des Nikolaus von Kues kommt, zeigt ein Blick in die Heidelberger Disputation, in der Luther seine Theologie im April 1518 vor seinem Orden und der akademischen Öffentlichkeit verteidigte59. Hier begegnet zitathaft eben jener Vers aus dem Römer56 FLASCH, Geschichte einer Entwicklung (wie Anm. 23), 517, hebt zu Recht hervor, dass ein sermo im 15. Jahrhundert etwas anderes war als eine heutige Predigt. Freilich ist dies eine Banalität, die auch nicht zuletzt für den von ihm selbst gern gebrauchten Begriff „Philosophie“ gilt oder – nicht erst nach der Bologna-Reform – für den Begriff „Universität“. Man wird also im Wissen um historische Alterität getrost bei dem eingeführten Begriff bleiben dürfen. 57 EULER, WALTER ANDREAS, Die Christusverkündigung in den Brixener Predigten des Nikolaus von Kues, in: MFCG 27 (2001) 65–80; DERS., Christ and the Knowledge of God, in: Christopher M. Bellitto et al. (Hg.), Introducing Nicholas of Cusa. A Guide to a Renaissance Man, New York / Mahwah 2004, 319–346; DERS., Does Nicholas Cusanus Have a Theology of the Cross?. In: JR 80 (2000), 405–420; vgl. auch HAUBST, RUDOLF, Die Christologie des Nikolaus von Kues, Freiburg 1956; DERS., Streifzüge (wie Anm. 41), 82– 89; REINHARDT, KLAUS, Christus, die „absolute Mitte“ als der Mittler zur Gotteskindschaft, in: MFCG 18 (1989) 196–220; OFFERMANN, ULRICH, Christus – Wahrheit des Denkens. Eine Untersuchung zur Schrift „De docta ignorantia“ des Nikolaus von Kues, Münster 1991 (PGPhThMA.NF 33); Gerald Christianson / Thomas M. Izbicki (Hg.), Nicholas of Cusa on Christ and the Church. Gedenkschrift Chandler McC Brooks, Leiden 1996 (SHCT 71). 58 FLASCH, Geschichte einer Entwicklung (wie Anm. 23), 54; der Sache nach entsprechend auch die Darstellung der „Trinitätsphilosophie“ in dem schmaleren Bändchen: DERS., Nicolaus Cusanus, München 2001, 109–112. 59 Zur Heidelberger Disputation s. ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Die Heidelberger Disputation Martin Luthers vom 26. April 1518. Programm und Wirkung, in: Wilhelm Doerr et al. (Hg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

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brief wieder, der bei Nikolaus von Kues eine solche Bedeutung hatte, Röm 1,20: In These 19 nämlich heißt es bei Luther: „Der wird nicht Theologe genannt, der das unsichtbare an Gott durch das erblickt, was gemacht ist“60. Freilich gilt auch hier wie an manchen anderen Stellen im Werk des Reformators, dass er die von ihm abgelehnte Position mittelalterlicher Theologie einseitig zuspitzt: Was ihm vor Augen steht, ist offenkundig eine Suche nach Gotteserkenntnis, die meint, vom Menschen ausgehend zu Gott gelangen zu können. Auch dort aber, wo der Weg vom Geschaffenen aus eingeschlagen wird, ist für mittelalterliche Theologie deutlich, dass dieser Weg nur unter Führung Gottes gegangen werden kann, wie es Nikolaus von Kues ausdrücklich im zweiten Kapitel von De docta ignorantia erklärt61. Luther kennt also dieselbe Gegenüberstellung wie Nikolaus von Kues, den Versuch, vom Geschaffenen auf Gott zurückzuschließen. Noch mag man an dieser Stelle nur sagen, dass er diese Haltung graduell schärfer ablehnt als der Cusaner: Während Nikolaus von Kues den Weg von der Schöpfung zum Geschöpf gewissermaßen als eine unvollständige Vorstufe deutet, die den wahren Weg zu Gott nicht finden kann, lehnt Luther diesen Weg grundsätzlich als eines Theologen nicht würdig ab. Wie beim Cusaner ist es dann Christus, dem die eigentliche Erschließungsfunktion für die Theologie zukommt. So formuliert es These 20: „Sondern der [wird Theologe genannt], der das Unsichtbare an Gottes und das Folgende durch Leiden und Kreuz erblickt und versteht“62. Für Luther dürfte den primären geistesgeschichtliche Hintergrund für diesen Gedanken, dass der unsichtbare Gott durch Christus sichtbar wird, Bernhard von Clairvaux darstellen63, doch ist die Ähnlichkeit auch zu Nikolaus von Kues unverkennbar. Freilich enthält die Heidelberger These auch einen Ge1386–1986. Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1386–1803, Heidelberg u.a. 1985, 188– 212; BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, 209–211; DIETER, THEODOR, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 2001 (TBT 105); LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 22006, 126–135. 60 LUTHER, MARTIN, Studienausgabe, ed. v. Hans-Ulrich Delius. Bd. 1, Berlin ³1987, 215, 10f: „Non ille theologus dicitur. Qui inuisibilia dei per ea quae facta sunt conspicit“. 61 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 7,14f. 62 LUTHER, Studienausgabe Bd. 1 (wie Anm. 60), 215,12f: „Sed qui inuisibilia dei et posteriora per passionem et crucem conspecta intelligit“. 63 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Humanismus und Mönchtum. Überlegungen zu ihrer Bedeutung für ein Verständnis der Wittenberger Reformation, in: Athina Lexutt (Hg.), Reformation und Mönchtum, Tübingen 2008 (SMHR 43), 79–101, 100; zur Bedeutung Bernhards für Luther s. BELL, THEO, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148); KÖPF, ULRICH, Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, ed. v. Kaspar Elm, Wiesbaden 1994 (WMASt 6), 5–65, 13f; LOHSE, BERNHARD, Luther und Bernhard von Clairvaux, ebd. 271–301.

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danken, der Luther viel stärker mit Bernhard als mit Nikolaus verbindet: die Zentralstellung des Kreuzes. Wenn Nikolaus davon spricht, dass Christus das Wesen Gottes erschließt, so ist dies, im Kirchenjahr gesprochen, eher von Weihnachten als von Karfreitag her gedacht: Im dritten Buch von De docta ignorantia, in dem Nikolaus von Kues die Christologie einführt, tut er dies vor allem über den Gedanken der Verbindung von Eingeschränktem, contractum und absolutum. Es geht ihm um den Gegensatz von Endlichem und Unendlichem, der in Jesus Christus aufgehoben ist64. Erst von hier aus, dem Geheimnis der Inkarnation, kommt er dann auch auf das Geheimnis des Kreuzes zu sprechen, wobei man angesichts der schwebenden Sprache des Cusaners vorsichtig sein muss, ihn einseitig festzulegen. In der Tat finden sich hier Sätze, die das lutherische Herz höher schlagen lassen: „Unsere Rechtfertigung besteht also nicht aus uns, sondern aus Christus…. Da wir ihn in diesem Leben durch einen vollendeten, lebendigen Glauben erreichen, können wir nicht anders als in diesem Glauben gerechtfertigt werden“ 65.

Da ist, auf den ersten Blick jedenfalls, ein Solus Christus wie ein Sole fide ausgesprochen – aber genau hier setzt die eingangs angesprochene Schwierigkeit ein: Sowohl die positive Identifikation in dem Sinne: „Nikolaus von Kues sagt ja, was Luther sagt“ als auch die negative in dem Sinne: „Das ist ja weit weg von Luther (und deswegen falsch, schlecht, unzureichend)“ verfehlt Nikolaus von Kues, so traditionsreich sie ist: Die oben angeführte Aussage des Johannes Kymeus zeigt, wie gerne man die Rechtfertigungslehre des Cusaners schon im 16. Jahrhundert in die Vorgeschichte der reformatorischen Theologie eingeordnet hat, und letztlich ist ihm Iserloh hierin unter Berufung auf weitere ähnliche Zitate aus De pace fidei und der Reformatio generalis bereitwillig gefolgt66. Doch muss man sich hier vor Verkürzungen hüten: So wie von evangelischer Seite oft ignoriert wird, dass solche Sätze wie der eben zitierte innermittelalterlich möglich waren, stellt es auch eine Verdrehung dar, wenn man nun in diesen Sätzen eben jene Theologie gemeint sieht, die 64 S. schon in der Einleitung zu De docta ignorantia: CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 8,5–8: vgl. zu diesem den Aufbau prägenden Grundgedanken FLASCH, Geschichte einer Entwicklung (wie Anm. 23), 116. 65 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 138,17–20: „Non est igitur iustificatio nostra ex nobis, sed ex Christo […] Quem cum in hac vita per fidem formatam attingamus, non aliter quam ipsa fide iustificari poterimus”. 66 ISERLOH, Kirchenreform (wie Anm. 1), 183. Unbefriedigend ist die Gegenüberstellung bei OTTE, KLAUS, Rechtfertigung aus Glauben als Religionsgrenzen übersteigende Kraft. Die Möglichkeit religiöser Toleranz durch das Evangelium von Jesus Christus, in: HAUBST RUDOLF, (Hg.), Der Friede unter den Religionen nach Nikolaus von Kues, Mainz 1984 (MFCG 16), 333–342, 335, in der „der Mönch“ Luther vorwiegend wegen seiner Konzentration auf den einzelnen Menschen dem Kusaner gegenübergestellt wird – dies repetiert nur alte Vorurteile über einen lutherischen Heilsindividualismus.

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Martin Luther vertreten hat. Denn wo Luther von der Alleinigkeit des Glaubens spricht, stellt er dies in Gegensatz zu einer von ihm in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie identifizierten Werkgerechtigkeit. Seine Formel ist nicht allein die, in der er mit Nikolaus von Kues übereinstimmen würde: dass die Rechtfertigung allein auf Christus und dem Glauben beruhe, sondern auch die, dass der Glaube, um den es geht, so sehr er gutes Tun hervorbringt, seinen Stand vor Gott ohne und vor allen Werken hat. Eben hierin geht Nikolaus von Kues nicht mit, der, darin eine von Thomas von Aquin geprägte Denkfigur aufgreifend, in diesem Kontext von einer fides caritate formata spricht67, von einem Glauben, der durch die Liebe zu seiner vollendeten Form gelangt ist. Zugespitzt gesagt: Ob Nikolaus von Kues in dem Moment, in dem Luther diese Formel ablehnte und eine fides lehrte, die ihre Bestimmung und Form nicht der tätigen Nächstenliebe verdankt, sondern allein durch das Vertrauen in Gott bestimmt ist, Luther gefolgt wäre oder seinen altgläubigen Gegnern, wissen wir nicht. Die Frage stellte sich so für ihn nicht. Sie stellte sich auch deswegen nicht, weil die soteriologische Frage nach dem Heil sich auch in seinen christologischen Ausführungen sehr rasch auf die Fragen von Metaphysik und Erkenntnis zuspitzte: Im unmittelbaren Anschluss an die Betonung, dass die Rechtfertigung allein in Christus liegt, führt er noch einmal aus, was das Kreuz Christi bedeutet, und die hier tragenden Verben sind ostendere und manifestare, also Wörter, die in der Bedeutung „zeigen“ übereinkommen68: Das Kreuz ist für ihn in erster Linie der Ort, an dem Jesus Christus die Überlegenheit der geistig-göttlichen Natur über die menschliche zeigt: die Erlösung geschieht zwar auch durch redemptio69, also in einer direkten Übertragung des Geschehens Christi auf den Glaubenden, aber leitend ist doch die Erlösung durch Belehrung. Diesem Grundverständnis entspricht ein vorwiegend kognitiver Glaubensbegriff70: Glaube ist, so Cusanus, „Anfang des Verstandes“, der die Vernunfterkenntnis anleitet und durch sie vermehrt wird71 und zu jenem Christus hinführt, den Nikolaus von Kues zum Abschluss seines Kapitels über den Glauben als den preisen kann, der uns „von der Finsternis solcher Unwissenheit loskaufte“72. An solchen Formulierungen wird deutlich, dass Nikolaus von Kues die soteriologische Frage nach dem Heil des Menschen letztlich in eine epistemische nach dem Wissen des Menschen überführt. Überführen heißt damit: Er gibt sie nicht preis, denn in der Tat ist es für ihn ein Vorgang der Erlösung, dass der 67

CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 138,14. Ebd. 138,23; 139,4. 69 Ebd. 138,22. 70 Vgl. ROTH, ULLI, Suchende Vernunft. Der Glaubensbegriff des Nicolaus Cuanus, Münster 2000 (BGPhThMA. NF 55). 71 CUSANUS, Opera Omnia I (wie Anm. 28), 151,26f. 72 Ebd. 157,7f: „qui […] de tenebris tantae ignorantiae nos redemit”. 68

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Mensch von seinen Grenzen befreit wird und sich dem Unendlichen öffnet, letztlich darin mit Christus gleichförmig wird73. In solchen Überlegungen gipfelt die altkirchliche Tradition der Logos-Christologie und wird zu einem Szenario, in dem philosophische und theologische Erkenntnis zusammenwirken, um den Menschen zu Christus und damit letztlich zu Gott zu führen.

3. Der Weg zur Reform Zu dem Staunenswerten an Nikolaus von Kues gehört auch, dass solche hochabstrakten Überlegungen den Übergang zur Kirchenreform schwer verstehbar machen. Um noch einmal die Brille dessen aufzusetzen, der auf den spätmittelalterlichen Renaissance-Theologen Nikolaus von Kues im Wissen um die spätere reformatorische Entwicklung blickt, sei das Bild, das sich bei Luther ergibt, rasch skizziert: Zwar führt der Weg auch von einer klaren Rechtfertigungslehre – bei der wir ohnehin bis heute nicht genau sagen können, seit wann Luther sie entfaltete74 – nicht unmittelbar zur Veränderung der Kirche, aber in ihr liegt doch der Grund für die weiteren Entwicklungen. Denn es ist die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade und allein durch den Glauben, die Luther zur Kritik an allen Vorstellungen brachte, nach denen die Gabe des Heils notwendigerweise auf institutionelle Vermittlung angewiesen sei. Der Spitzensatz, in dem sich diese Erkenntnis konzentrierte, findet sich 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“: „Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey ... Szo folget ausz dissem, das leye, priester, fursten, bischoff, und wie sie sagen, geistlich und weltlich, keinen andern unterscheyd ym grund warlich haben, den des ampts odder wercks halben, unnd nit des stands halbenn“ 75.

Ganz konzentriert findet sich in diesem Satz die Lehre vom allgemeinen Priestertum – was wir von evangelischer Seite durchaus bewusst von Sprachgebrauch und Konzeption eines „gemeinsamen Priestertums“ unterscheiden. Und von hier aus entwickelte sich, schon in der genannten Schrift selbst, der Aufruf an die adeligen Laien, die Reform notfalls auch gegen die kirchlichen Amtsträger in die Hand zu nehmen.

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Ebd. 156,18f. S. zur allmählichen Entfaltung von Luthers reformatorischer Theologie LEPPIN, VOLKER, Martin Luther (wie Anm. 59), 116f; HAMM, BERNDT, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Berndt Hamm / Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (SuR.NR 36), 111–151. 75 WA 6,408,11f. 26–28. 74

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Der Gedanke eines allgemeinen Priestertums stellt seinerseits durchaus auch eine Transformation spätmittelalterlichen Denkens dar, insofern sich schon bei Johannes Tauler die Vorstellung findet, dass Priestertum nicht allein durch Weihe begründet werde, sondern auch durch die persönliche Andacht: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“76; bei Luther wurde hieraus, verallgemeinernd und damit radikalisierend, die Taufe als Begründung des Priestertums. Auch den Gedanken, dass die Aufgabe der Kirchenreform in die Hand der Laien gehöre, musste er nicht erfinden: Bei einem Wilhelm von Ockham findet man ihn im vierzehnten Jahrhundert durchaus schon, und zwar nicht nur in der Theorie, sondern in der durchaus konkreten Anwendung auf eine Konstellation, in der Ockham in Avignon ein Papsttum am Werke sah, das seine Berechtigung die Kirche zu leiten längst schon verspielt hatte77. Was aber neu bei Luther war, war, dass er einen Gedanken, in dem sich eine ganze Theologie normativ zentrieren ließ, nämlich die Rechtfertigungslehre, unmittelbar nicht nur legitimierend, sondern impulsgebend mit Änderungen in Kirche und Gesellschaft verband. Diese Verbindung scheint mir das Besondere der reformatorischen Theologie gegenüber den Reformansätzen des späten Mittelalters darzustellen – und das gilt dann grosso modo auch für Nikolaus von Kues. Die erwähnte Schwierigkeit, Theorie und kirchenpolitisches Handeln zu verbinden, ist schon ein Indiz dafür, dass genau dieser Vorgang normativer Zentrierung bei ihm nicht zu beobachten ist. Diese Beobachtung heißt nicht, dass Nikolaus von Kues gewissermaßen in zwei Persönlichkeiten zerfiele: den Philosophen und den Kirchenpolitiker. Beide bleiben durchaus konsistent miteinander, und doch sprechen sie mit erkennbar unterschiedlichen Akzentsetzungen. Am Ehesten kann man sich dies an einer Stelle deutlich machen, an der er dieselbe Thematik unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten behandelte. Es handelt sich um eine heute wieder sehr brisante Frage, die der Religion. Um 1453, also just in jenem Jahr, in dem Konstantinopel zum Entsetzen der Christen auch des lateinischen Europa in die Hand der Osmanen fiel, verfasste er seinen berühmtes philosophisches Gespräch De pace fidei78. Siebzehn Weise kamen hier in langen Erörterungen zu dem Schluss, dass Unterschied und Vielfalt der Religionen nur auf der Vielfalt der Riten beruhe, sie alle aber letztlich nur in unterschiedlichen Formen einen Gott verehrten. Man mag der Gesprächsführung anmerken, dass der eine Gott, der da verehrt wird, in auffälliger Weise die Züge des christli76 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 164,34–165,1. 77 LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003, 249–252. 78 S. hierzu DE GANDILLAC, MAURICE, „Una religio in rituum varietate“, in: MFCG 9 (1971) 92–105; HAUBST, Friede (wie Anm. 66).

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chen Gottes trägt79, aber der Tenor des Friedens ist doch unverkennbar80. Denkerisch änderte sich dieses Gefälle kaum, als der Cusaner wenige Jahre später, 1460/1 die Cribratio Alcorani verfasste, eine gründliche Analyse des Koran. Nun aber hatte das Gespräch der Gelehrten eine eindeutige didaktische Wendung erhalten: Nikolaus von Kues wollte den Muslimen aufweisen, dass der Koran nur eine unvollkommene Vorstufe der christlichen Religion repräsentierte. All dies lässt sich konsistent zusammendenken, aber es folgt doch nicht einfach das eine aus dem andren, sondern es scheint, dass Nikolaus seine Theorie jeweils entsprechend unterschiedlichen Anforderungen der politischen und kirchenpolitischen Situation anders akzentuiert hat. Erst recht wird man auch die anderen Reformmaßnahmen, die sich mit seinem Namen verbinden, nicht als Ausfluss seiner Theologie ansprechen dürfen. So hat er sich bei seinem ersten kirchenpolitischen Auftritt von Gewicht eher auf die kirchenrechtliche Tradition als die theologisch-philosophische Theorie gestützt: Als er sich in der Auseinandersetzung um den Trierer Erzbischofsstuhl für Ulrich von Manderscheid gegen Raban von Helmstadt einsetzte, bedeutete dies ein Verfechten der angestammten Rechte der örtlichen Diözese gegen den päpstlichen Eingriff81 – das hatte viel mit dem Kampf um die Restauration päpstlicher Zentralmacht nach dem großen abendländischen Schisma zu tun, aber wenig mit einer hohen Theorie von gelehrter Unwissenheit. Und auch die kirchenpolitische Option des Cusaners war bekanntlich Wandlungen unterworfen. Nachdem er auf dem Konzil von Basel zunächst noch zu den Verfechtern der konziliaren Position gehörte – was durchaus gut zum Einsatz für Ulrich von Manderscheid passte –, hat er sich im Laufe des Konzils auf die päpstliche Seite begeben. Ob dies nun, wie Hans Gerhard Senger es gedeutet hat, mit der (sich für den evangelischen Kirchenhistoriker nicht eben nahe legenden) Einsicht zu tun hatte, dass „die Einheit der Kirche vor allem Einheit mit dem Papst bedeute“82 oder auch damit, dass die Mehr79

Vgl. hierzu HAUBST, Streifzüge (wie Anm. 41), 371–391; EULER, WALTER ANDERDas Religionsverständnis von Cusanus und Ficino, in: Martin Thurner (Hg.), Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Beiträge eines deutsch-italienischen Symposiums in der Villa Vigoni, Berlin 2002 (VGI 48), 511–526, 515f; DERS., Nikolaus von Kues als Wegbereiter des interreligiösen Dialogs und der Theologie der Religionen, in: Nikolaus von Kues 1401. 2001 (MFCG 28), 211–231, 220–224. 80 Auch RIEDENAUER, MARKUS, Geschichtliche und kulturelle Relativierung der Religion bei Nikolaus Cusanus, in: Harald Schwaetzer (Hg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Regensburg 2003, 35–50, 41f, sammelt interessante Beobachtungen zu einer Wandlung in der Religionstheorie des Cusaners und deutet sie als Ausdruck einer Ernüchterung im Zuge kirchenpolitischer Erfahrungen. 81 S. WATANABE, MORIMICHI, The Episcopal Election of 1430 in Trier and Nicholas of Cusa, in: DERS., Concord and Reform. Nicholas of Cusa and Legal and Political Thought in the Fifteenth Century, Aldershot u.a. 2001, 81–101. 82 SENGER, HANS GERHARD, Art. Nikolaus von Kues, in: TRE 24 (1994), 554–564, 556. AS,

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heiten insgesamt ins Wanken und Schwanken gerieten und ein kluger Politiker gut beraten war, das sinkende Schiff des Konzils zu verlassen, mag dahingestellt bleiben. An der Betonung der Einheit der Kirche mag soviel richtig sein, dass dem Humanisten Nikolaus Cusanus gewiss viel an einer Einigung mit den Griechen lag, deren kulturelle Tradition doch für die Wahrung des klassischen Erbes Platos stand. Im Ergebnis aber hatte er die richtige Seite gewählt, und wenn Nikolaus nun als Reformer anzusprechen ist, so ausschließlich im Sinne einer päpstlichen Reform. Dies aber ist ein spezifischer Reformbegriff, der wenig mit der späteren Reformation im Sinne eines Umbaus der Kirche zu tun hat: Es ging um eine Korrektur dessen, was offenkundig schief gelaufen war, um eine Reinigung des Vorhanden. Nicht aller Brauch sollte geändert werden, sondern nur der Missbrauch abgeschafft werden. Wollte man dem gesamten Konzept der Reform bei Nikolaus von Kues nachgehen, so hätte man eine Fülle von Texten zu präsentieren, die in dieser kurzen Darstellung gar nicht erscheinen können. So bin ich wie seinerzeit Erwin Iserloh83 dem Zwang zu einer gewissen Konzentration ausgesetzt: Ich werde weder die frühe Reformschrift Concordantia catholica84 behandeln, noch die von Iserloh in den Mittelpunkt seiner damaligen Ausführungen gestellte Reformatio generalis85, sondern ich stelle einen Vorgang konkreter Reformmaßnahmen in den Mittelpunkt, der deswegen so interessant und signifikant ist, weil er den Cusaner als Kardinal und päpstlichen Gesandten in der Praxis sieht und damit so weit wie nur irgend möglich entfernt von seinen theoretischen Schriften – gelegentlich so weit, dass man den Theoretiker in dem Praktiker kaum mehr wiederzuerkennen meint. Am 31. Dezember 1450 verließ Nikolaus von Kues Rom zu einer Legationsreise, die ihn durch weite Gebiete Norddeutschlands und der heutigen Niederlande beziehungsweise Belgiens führen sollten. Den Auftrag hierzu hatte ihm Papst Nikolaus V. (1477–1455) am 29. Dezember erteilt: Aufgabe war eine reformatio ecclesiarum, monasteriorum et aliorum locorum ecclesiasticorum, wobei sich seine Aufgabe sowohl auf die Austreibung von vermuteten Häresien bezog als auch auf mores und disciplina86. Was der Cusaner auf dieser „Reformreise“ (Erich Meuthen)87 durchzuführen hatte, stand damit

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ISERLOH, Kirchenreform (wie Anm. 1), 169. S. hierzu LÜCKING-MICHEL, CLAUDIA, Konkordanz und Konsens. Zur Gesellschaftstheorie in der Schrift De concordantia catholica des Nicolaus von Cues, Würzburg 1994. 85 Zur späten Wirksamkeit des Cusaners in Rom s. auch MEUTHEN, ERICH, Die letzten Jahre des Nikolaus von Kues. Biographische Untersuchungen nach neuen Quellen, Köln / Opladen 1958 (WAAFLNRW 3). 86 Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, ed. v. Erich Meuthen / Hermann Hallauer. Bd. 1, Lieferung 2, Hamburg 1983, 661,22–41 (Nr. 953). 87 MEUTHEN, ERICH, Nikolaus von Kues 1401–1464. Skizze einer Biographie, Münster 6 1982, 87. S. das Itinerar in KOCH, JOSEF, Nikolaus von Cues und seine Umwelt. Untersu84

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im Horizont der vielfältigen Bemühungen um Verbesserung der Klosterdisziplin und Kirchenreform88. Die mit diesem umfassenden Auftrag begonnene Reise endete im April 1452 in Brixen. Zwischendurch hat er das heutige Österreich, Bayern, den mitteldeutschen Raum, Norddeutschland, den mittlere Rhein und auch die Moselregion bereist. Die erhaltenen Dokumente belegen – neben gelegentlichen Verweisen auf seine Predigten – natürlich vor allem die offiziell vorgenommenen Maßnahmen. Gelegentlich aber blitzt in Berichten auch auf, was diese Reise eines römischen Kardinals durch Deutschland spirituell bedeutete. Die Magdeburger Schöppenchronik erzählt von seiner Teilnahme an der dortigen jährlichen Nikolausprozession am 27. Juni 1451: „Das na des sondages na unseres heren likammes dage gingh de sulve cardenal mit unsem herren van Magdeborch de erlikeb processien, de men alle iare up den dach na wontliker wyse plecht myt dem hilgen sacrament to ghan. Und de cardenal droch dat sacrament sulven, dat to vorn nue gehort was, so dat eyn cardinal can Rom hir sodan processien geghan hedde. Und twe greven van Anehalt leydden den cardinal, unde de pauwelun over dem sacrament wart ghedragen van twen greven du´nd anderen ghuderhande luden; und unse here van Magdeborch droch dat hilghe crutze, und de abbet van Berge und de provest van unser leven vruwen droghen ok hilgedom. Uppe de tyd weren to male vele ludet o Magdeborch, so dat alle straten vol volkes weren. Des namiddages, als men dat hilgedom alle iar plecht to wysen, dar ghingen de cardinal und unse herre van Magdeborch mede up dem ghange und stunden by dem preister, de dat hillichdom vorkundigede. So lange went dat geschen was, do gaff de cardinal over dat volk de benediccien. Also toch mallik synen wech.“ 89

Schon diese Einbindung in die eucharistische Frömmigkeit markiert natürlich deutlich die Differenz, die zwischen der Glaubenswelt des Kusaners und der der Reformatoren besteht. Noch treffender kann man sie an einem Vorgang ablesen, der unmittelbar an die Anfänge der Reformation erinnert. Immer wieder hat Nikolaus von Kues Ablass verkündigt. Wie intensiv er dabei in die Verfahrensweisen der Ablassvergabe des späten Mittelalters eingebunden war, macht ein Bericht in der Chronik des Hartunger Kammermeister deutlich, aus dem hervorgeht, wie Erfurt gewissermaßen einen Ersatz für Rom vor Ort darstellen sollte: „Nu eigentlichen zu vornemen, so gap der cardinal dis nachfolginde applaz allen den ihenen, dy czu Rome in dem vorgangen gulden iar nicht gewest werin addir dohene nicht habin mucht komen, sie werin geistlich adder wertlich, addir welchis wesins das sie werin,

chungen zu Cusanus-Texte. IV. Briefe. Erste Sammlung, Heidelberg 1948, 123f; vgl. Acta Cusana. (wie Anm. 86) Bd. 1, Lieferung 3a, Hamburg 1996, Nr. 964. 88 Zu den einzelnen Reformdekreten s. MEUTHEN, ERICH, Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451/1452, in: Helmut Boockmann u.a. (Hg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie, Göttingen 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Dritte Folge 179), 421–499, 453–487. 89 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 961 (Nr. 1426).

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riech addir arm: also das sie ruwe und leide hettin umbe yre sunde unde die bichten, und das die ihene, die is vormuchten, suldin in eyne kisten, die danne gesatzt wart in des heiligen blutes cappellin in Unsir Liebin Vrouwen kirchen zu Erffurthe, opphern die helfte, als sie gein Rome hettin must vorzcerin, und das ein iglicher sich des uf sin eygene consciencien sulde achte; aber die ihenen, dy wenig addir nicht habin, sullen glichwol des applas und gnadin teilbar sin, so das sie ruwe und leidde sullen habe umbe ire sunde, und das sie die bichten und das, als hiernoch berurt wirt, haldin. Nu vornemit dy busze: Ein iglich mensche sal fasten sobin fritage zu festilspisze, sobin mitwoche nicht vleizch esse, und alle inwoner der stad Erffurthe sullin gehin XXIV tage, wen sie das in dem iare gethun mugen, zu sobin kirchen in der stad, dy denn der cardinal uszsatzte, mit namen dy kirchen zu Unser Liebin Vrouwen, zcu Sente Peter, zcu den Austinern, zcu den Schotten, czu den Regelern und zcu dem groszin spetal vor Kramphin tor unde zu den Nuwen wergke.“ 90

Die Acta Cusana dokumentieren, wie zahlreich die Gelegenheiten waren, zu denen Nikolaus, in möglichst theologisch präzisen Formulierungen, die die Rede von einem Ablass a poena et a culpa ausdrücklich vermieden91, Ablässe verkündete – Bürgermeister und Rat der Stadt Nürnberg konnten gar im Mai 1451, wenige Wochen nach dem Besuch des Cusaners in ihrer Stadt, seine Mission darin zusammenfassen, er verkündige den römischen Ablass und erlasse eine Vorschrift, die den Juden Wucher verbiete und sie zum Tragen eines bestimmten Zeichens verpflichte92. Erich Meuthen hat diese Konstellation vor allem aus Perspektive der Glaubenden treffend zusammengefasst: „Die praktischen Erfahrungen bei der Legationsreise werden dann zeigen, daß das Verlangen nach dem Ablaß sicher das beherrschende Moment für die Gläubigen bildete, wenn sie den Legaten bei sich haben wollten, und daß es nur sehr partiell ihr Wunsch nach Reform war, der meistens nicht von ihnen, sondern vom Legaten ausging“.93

Dennoch stand der so reichlich angebotene Ablass, der gelegentlich zu einer Charakterisierung des Cusaners als „Finanzagenten der römischen Kurie“ geführt hat94, nicht allein im Mittelpunkt der Wirksamkeit des Cusaners. Themen waren vielmehr auch die Untersagung von Geldgeschäften in Zusammenhang mit Pfründen95 oder das angemessene Verhalten während des Gottesdienstes96. Vor allem aber unterstützte er immer wieder monastische Reform90

Ebd. 925 (Nr. 1366). S. seine Erläuterungen zum Ablass auf einer Magdeburger Provinzialsynode 1451, in: Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 971 (Nr. 1435); zu seiner Haltung zum Ablass insgesamt s. PAULUS, NIKOLAUS, Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, Darmstadt ²2000, 40–44. 92 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 880 (Nr. 1293); zu den Judendekreten s. FLASCH, Geschichte einer Entwicklung (wie Anm. 23), 350f. 93 MEUTHEN, Legationsreise (wie Anm. 88), 421–499, 426. 94 Hartmut Boockmann / Heinrich Dormeier, Konzilien, Kirchen- und Reichsreform (1410–1495), Stuttgart 2005, 226. 95 S. z.B. Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87),937f (Nr. 1389). 96 S. z.B. ebd. 947–949 (Nr. 1409). 91

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bemühungen: Johannes Busch97 erwähnt seine Reise in seinem Liber de reformatione monasteriorum und vermerkt, dass Nikolaus von Kues in Erfurt bereits zwei reformierte Klöster – das Benediktinerkloster St. Peter98 und eben jenes Augustinereremitenkloster, in das ein halbes Jahrhundert später Martin Luther eintreten sollte99 – vorgefunden habe. Vier andere Klöster aber hätten noch weiter der Reform bedurft, und für sie setzte Nikolaus entsprechend Reformer ein, unter denen sich der Abt des Petersklosters Christian Kleingarn und der Augustinereremit Heinrich Ludwig befanden100. Busch lässt auch erkennen, wie begrenzt solche Maßnahmen des päpstlichen Legaten letztlich waren. Er vermerkt, dass die eingesetzte Reformkommission zunächst untätig geblieben sei, ehe Johannes Busch selbst einen weiteren Anstoß zur Reform gegeben habe101. Wie viel Aktivitäten Nikolaus von Kues selbst entfaltet hat, lässt sich nicht ganz klären: Eine Urkunde Papst Pauls II. aus dem Jahr 1470 erwähnt, dass Nikolaus im Zisterzienserinnenkloster Sankt Martin unmittelbar auf Einhaltung der kanonischen Regeln gedrängt habe, doch könnte es sich hierbei auch um eine spätere Überinterpretation seiner eher begrenzten Tätigkeit handeln102. Gleichwohl ist deutlich, dass der Anspruch der Aktivitäten jedenfalls nicht regional begrenzt war: Der von Nikolaus selbst eingesetzte103 Abt Christian erhielt auch den Auftrag, sich um das in einem anderen Territorium und einem anderen Bistum liegende Naumburger Benediktinerkloster St. Georg zu kümmern104, hier also im Sinne einer reformorientierten Filiation zu agieren. Und der Rahmen hierfür war auch deutlich erkennbar: Ebenfalls von Erfurt aus hat Nikolaus neben dem Abt von Bursfelde auch dem Erfurter Abt von St. Peter die Bildung der Bursfelder Kongregation bestätigt105 – und damit Beschlüsse des Basler Konzils päpstlicherseits legitimiert106.

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Zu ihm: LESSER, BERTRAM, Johannes Busch. Chronist der Devotio moderna. Werkstruktur, Überlieferung, Rezeption, Frankfurt u.a. 2005. 98 S. FRANK, BARBARA, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union, Göttingen 1973 (VMPIG 34). 99 ANDREAS, LINDNER, Martin Luther im Erfurter Augustinerkloster 1505–1511, in: Lothar Schmelz / Michael Ludscheidt (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005, 59–74. 100 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87),907 (Nr. 1341). 101 Ebd. 907 (Nr. 1341). 102 S. Quelle und Einschätzung in Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 908 (Nr. 1341 Anm. 7). 103 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 916 (Nr. 1356). 104 Ebd. 918 (Nr. 1361). 105 Ebd. 920–924 (Nr. 1364). 106 S. BECKER, PETRUS, Die Benediktinerabtei St. Eucharius-St. Matthias vor Trier, Berlin / New York 1996 (GermSac.NF 34/8), 364

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Ähnlich beauftragte er in Trier den Generalkommissar der Franziskanerobservanten mit der Visitation von Franziskanerinnen im oberdeutschen Raum107 und nahm auch vor Ort konkrete Maßnahmen vor: Am 27. Oktober 1451 restituierte er die Besitzverhältnisses des Klosters St. Matthias vor Trier, für dessen Kirche er zwei Tage zuvor einen hunderttägigen Ablass verkündet hatte108. Der Hintergrund, der aus der Urkunde hervorgeht, war, dass von Abt, Prior und Konvent des Klosters sowie auch von deren Vorgängern Güter an Laien und Kleriker überlassen worden waren109. Es handelte sich also um eine im Einzelnen nicht ganz klare Form des im späten Mittelalter verbreiteten Handels mit Klostergut. Indem Nikolaus auf der wirtschaftlichen Sicherung von St. Matthias beharrte, hatte er zugleich auch die spirituelle Lebendigkeit im Blick, für die eine gewisse Lebensgrundlage unabdingbar war. Die Förderung monastischer Spiritualität freilich ging einher mit Eingriffen in deren Autarkie. Immer wieder nimmt Nikolaus personelle Maßnahmen vor und greift so in das klösterliche Leben ein. Am Deutlichsten zeigt sich der Geist dieser Maßnahmen vielleicht in einem Schreiben an die Zisterzienseräbte vom 27. Februar 1451, in dem er diese unter Berufung auf seine päpstliche Autorisierung auffordert, statt Sendung eigener Visitatoren ihre Klöster durch von ihm beauftragte Visitatoren besuchen zu lassen110: Die apostolica auctoritas wird gegen vestra auctoritas ins Spiel gebracht und als die offenkundig höhere, das tradierte Ordensrecht brechende Autorität wahrgenommen. Nikolaus‘ Blick reichte aber weit über monastische Spiritualität hinaus: Im Juli 1451 ließ er in Hildesheim zur Besserung der Kenntnisse des Kirchenvolkes Tafeln mit dem Text des Vaterunsers, des Ave Maria, des Glaubensbekenntnisses und der der zehn Gebote anbringen111, versuchte also wenigstens elementare Katechismuskenntnisse zu fördern, und ebenfalls in Hildesheim erließ er Vorschriften, durch die Verkauf am Sonntag verboten werden sollte112. Und für das Rheinland zwischen Frankfurt und Köln erließ er eigens Vorschriften gegen den Missbrauch des göttlichen Namens113. Noch wichtiger aber war ihm die Reform des Klerus: Am 6. November aktualisierte er für Trier ein Dekret, das er einen Monat zuvor in Aachen erlassen hatte und das auf strikter Einhaltung der Zölibatspraxis beharrte: unter 107 Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, hg. v. Erich Meuthen u. Hermann Hallauer. Bd. 1, Lieferung 3b, Hamburg 1996, 1237 (Nr. 1927). 108 Ebd. 1236 (Nr. 1924); zur Begegnung mit dem Kloster und seinem Abt Johannes IV. Donre s. BECKER, Benediktinerabtei, 364f. 109 Acta Cusana I/3b (wie Anm. 87), 1238 (Nr. 1929); Koch, Umwelt 138. 110 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 761,3–7. 111 Ebd. 1011 (Nr. 1517). 112 Ebd. 1012 (Nr. 1518): vgl. auch die Bestimmungen vom 4. Dezember 1451 (Acta Cusana I/3b (wie Anm. 87) [Nr. 2078]). 113 Acta Cusana I/3b (wie Anm. 87), 1520–1522 (Nr. 2379).

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Androhung des Verbots, die eigene Kirche zu betreten und deren beneficia, die Pfründen zu genießen, wurden die Kleriker, die mit Frauen zusammenlebten, aufgefordert, ihre Konkubinen a domibus suis et a se zu vertreiben und sie affectualiter fortzuschicken114. Hierzu wurde den betroffenen Klerikern eine Frist von drei Tagen gesetzt. Und der Legat des Papstes war sich auch nicht zu schade, Missstände auf der niedersten Ebene zu korrigieren: Nahe seiner Heimatstadt, in Bernkastel schlichtete er Auseinandersetzungen zwischen dem örtlichen Pfarrer, dem Pleban und den Altaristen der Pfarrkirche115. Mit solchen engen Fristen wie bei der Korrektur des Zölibatsvergehens hantierte der Cusaner gerne, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Wiederum gilt dies ebenso für den klösterlichen Bereich116 wie in der allgemeinen Religiosität und Kirchlichkeit, ebenfalls in Trier lokalisierte, aber nicht hierauf bezogene Maßnahme, an der sich zugleich die Schärfe ablesen lässt, mit der Nikolaus auf der Durchführung seiner Anordnungen beharrte: Im August hatte er Utrecht besucht, und die Anerkennung der vom dortigen Klerus beanspruchten Privilegien, die diesem eine hohe Unabhängigkeit vom Bischof sicherten, verweigert. Hiergegen hatten das das Domkapitel und mehrere andere Kapitel eine Beschwerde vorgelegt117, auf die Cusanus nun am 27. Oktober mit aller Macht antwortete: Wenn er bis zum 14. November nichts von einer Besserung, einer emendatio der Utrechter höre, werde er sie als milites Sathanae ohne weitere Umstände den milites Christi, also der weltlichen Gewalt, übergeben118 – bedenkt man die Anfänge des Cusaners im Kampf für die Rechte des Trierer Kapitels, so weht einem hier deutlich das geänderte Reformkonzept entgegen: Reform heißt nun gerade nicht Stärkung der angestammten lokalen Rechte, sondern Vereinheitlichung zugunsten eines romorientierten Rechtssystems. Die auf dem Konzil vollzogene kirchenpolitische Veränderung machte sich auch in diesen konkreten Maßnahmen bemerkbar – wobei freilich die Papstorientierung durchaus nicht eindeutig, sondern umstritten war: Zwei Tage später appellierte das Utrechter Domkapitel an den besser zu informierenden Papst119. Wie sehr Nikolaus aber als Repräsentant des fernen und an vielen Punkten verhassten Papsttums wahrgenommen werden konnte, zeigt ein Schreiben des Kölner Dominikaners Hermann Talheim an den Mainzer Erzbischof Dietrich: Darin wird der gesamte Reformversuch des Nikolaus gegeißelt, weil er mit den Änderungen an den Gliedern der Kir114

Ebd. 1191,8–1192,17 (Nr. 1845; vgl. für Trier Nr. 1965, ähnlich bereits für Minden: Nr. 1567). 115 Ebd. 1274 (Nr. 1983). 116 S. etwa die Forderung vom 8. November 1451 an die Minoriten, die Reformen bis zum 27. Februar durchzusetzen (Achta Cusana I/3b [wie Anm. 87], Nr. 1972). 117 Acta Cusana I/3b (wie Anm. 87), Nr. 1874. 118 Ebd. 1240,41–43 (Nr. 1930). 119 Ebd. 1245f (Nr. 1940).

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che ansetze statt beim Haupt: Bei diesem, beim verderbten Leben des Papstes und der Kardinäle solle die rechte Reform beginnen, zumal der Papst nur die deutsche Nation aussauge120: Der deutsche Kardinal war aus Sicht der beschwerten deutschen Nation ein Römer, der statt für die Kirche des Landes für den Papst wirkte. Doch wäre es auch verkürzt, Nikolaus einfach im Sinne einer papalistischen Reform zu deuten, die alles auf Rom konzentrieren wollte. Für den Thüringer Raum ist ganz deutlich, dass seine Reformanstrengungen eher den dezentralen Kräften der Kirche entgegenkamen121. Manfred Schulze hat gezeigt, dass hier die Wettiner insbesondere die Augustinereremiten als eine Art Keimzelle intensiver Spiritualität unterstützten und aufbauten. Diese Entwicklung beginnt nach den Darlegungen von Manfred Schulze mit der Landesordnung von 1446 sowie mehreren Klosterordnungen Herzog Wilhelms III.122 Vor diesem Hintergrund kann es nicht erstaunen, dass derselbe Wilhelm III. am 5. September 1451 die Äbte der Regularkanoniker in seinem Herrschaftsgebiet aufforderte, den Anordnungen des Cusaners zu folgen123. Das Wirken des Nikolaus von Kues wirkte hier also deutlich als Verstärkung und Ergänzung jener Reformbestrebungen, die die regionalen Gewalten ohnehin schon angestrengt hatten, band diese freilich stärker an Rom. Man muss aufgrund einzelner Maßnahmen sogar die Frage stellen, in welchem Ausmaß dem Cusaner tatsächlich an den Idealen der von ihm mit Eifer vertretenen Reform der Kirche lag. Gelegentlich konnte er bemerkenswert inkonsequent werden. So hat er schon zu Beginn seiner Legationsreise, am 4. Januar, Nikolaus V. eine Supplik unterbreitet, in der er diesen bat, die Ämterkumulation, die durch von Nikolaus von Kues vorgenommene Amtsübertragungen bei einigen seiner Familiaren entstanden war, nicht aufzuheben – was faktisch hieß, dass er den Papst bat, sein eigenes Reformdekret vom 20. November 1450, mit dem dieser solche Kumulationen für ungültig erklärt hatte, partiell außer Kraft zu setzen124 – für den Einzelfall also funktionierte Nikolaus durchaus innerhalb des Patronagesystems und setzte sich – in diesem Falle übrigens erfolgreich125 – für seine Klientel ein. Nicht nur in diesem Zusammenhang ist das Wirken des Cusaners von ausgeprägten Spannungen, oder, anders gewendet, von großer Breite geprägt. Diese zeigt sich auch an den verschiedentlich erwähnten Ablassgewährungen. 120

Ebd. 1281 (Nr. 1992). S. zu diesem Deutungskonzept: LEPPIN, Von der Polarität zur Vereindeutigung (wie Anm. 20); DERS., Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in diesem Band 31–68. 122 SCHULZE, MANFRED, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991 (SuR.NR 2), 46–64. 123 Acta Cusana I/3b (wie Anm. 87), 1111 (Nr. 1690). 124 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87), 679 (Nr. 978). 125 Ebd. 679,17 (Nr. 978). 121

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Man ginge fehl, wenn man aus reformatorischer Sicht den Ablass als Teil einer reformfeindlichen Welt sähe. Man kann wiederum einen Theologen heranziehen, der in dieser Region beheimatet ist: Johannes von Paltz, der wenige Jahre vor der Reise des Cusaners, um 1445, in Pfalzel bei Trier geboren wurde, war einer der intensivsten Frömmigkeitstheologen des ausgehenden Mittelalters und hat als solcher auch stark auf seinen Ordensbruder Martin Luther gewirkt. Er vertrat gerade im Sinne einer Stärkung der Frömmigkeit, des Glaubens in einen verlässlichen Gott für den Ablass. In diesem Sinne wird man auch die Ablassvergabe durch Nikolaus von Kues als Stärkung des Glaubenslebens sehen dürfen – aber durchaus in eigenartiger Spannung zu manchem, was man von ihm sonst liest, hört oder weiß: Die vorhin erwähnten Anklänge an mystische Sprache und Theologie in seinem Werk stellen ihn mit seinem Œuvre innerhalb der spätmittelalterlichen Welt eher auf die Seite derer, die eine innere Frömmigkeit propagierten und förderten126, während die Beteiligung am Ablasssystem ihn zu einem Vertreter der Formen äußerlicher, quantifizierender Frömmigkeit machen, die ebenso wichtig und zentral zur spätmittelalterlichen Glaubenswelt hinzugehören. Es waren letztlich gerade solche Spannungen, die ihn in seiner praktischen Wirksamkeit zerrieben. Während im Thüringer Raum, bei einem kurzen Besuch als Legat noch das Miteinander von kirchlicher Reformtätigkeit und lokalen Adelsinteressen funktioniert haben mag, scheiterte die Leitung seines Bistums Brixen an den lokalen Widerständen, vor allem am Kampf mit Sigmund von Tirol127. Der Hintergrund dieser Geschehnisse ist dabei wiederum signifikant für die Änderung der kirchenpolitischen und reformbezogenen Haltung des Cusaners: Hatte er sich einst in Sachen Ulrich von Manderscheit gegen den päpstlichen Eingriff für die lokalen Rechte stark gemacht, so war er nun nach Brixen durch eine Maßnahme des Papstes geraten, mit der dieser die Wahl des Kapitels, die auf den Tiroler Lienhart gefallen war, ignoriert hatte128. Dieser Hintergrund mag zu der Schärfe beigetragen haben, in der er sich etwa in der Utrechter Sache verhielt. Er war nun ein Vertreter der zentralen päpstlichen Macht – und dennoch beziehungsweise: in diesem Rahmen ein Vertreter der Reform. Hätte man ihn in Brixen handeln lassen, so hätte er 126

Bei aller Schwierigkeit des Begriffs „monastische Theologie“ (s. LEPPIN, VOLKER, Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007, 56f) stellt TREUSCH, ULRIKE, Nicolaus Cusanus und Aspekte monastischer Theologie, in: Harald Schwaetzer (Hg.), Nicolaus Cusanus. Perspektiven seiner Geistphilosophie, Regensburg 2003, 131–148; einen interessanten Brückenschlag zum spirituellen Kontext solcher Äußerungen des Cusaners dar. 127 S. hierzu MEUTHEN, Die letzten Jahre (wie Anm. 85), 15–17; HALLAUER, HERMANN J., Nikolaus von Kues, Bischof von Brixen 1450–1460. Gesammelte Aufsätze, ed. v. Erich Meuthen, Bozen 2002; vgl einstweilen die Quellensammlung: Nikolaus von Kues, Briefe und Dokumente zum Brixener Streit. 2 Bde., ed. v. Wilhelm Baum und Raimund Senoner, Wien 1998. 2000. 128 Acta Cusana I/3a (wie Anm. 87),781f (Nr. 1103).

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auch hier in hohem Maße für eine Reform, eine Reinigung der vorgegebenen, verdorbenen Kirchlichkeit gewirkt. Uns liegt eine Visitationsordnung wohl aus dem Frühsommer 1455 vor, mit der der Bischof den örtlichen Klerus an seine Pflichten erinnern wollte: Nach ordentlicher Tonsur wurde dort gefragt, nach der dem Kleriker zukommenden Kleidung, natürlich auch nach seinem Lebenswandel, „ob er enthaltsam lebe oder mit einer Konkubine“129. Die Auflistung dieser Fragen, denen eine Fülle weiterer Fragen folgte, macht deutlich: Was den Cusaner interessierte, war ein ordentliches Leben des Klerus nach den römischen canones im Rahmen päpstlicher Macht – das war Reform, Reformation war es nicht und sollte es nicht sein. Der Cusaner war Teil der spätmittelalterlichen Kirchlichkeit und wollte es sein.

4. Nikolaus von Kues: Reformer im 15. Jahrhundert Wer vergleicht, misst auch aneinander, und wenn ein evangelischer Theologe einen spätmittelalterlichen Kardinal mit Luther vergleicht, liegt es nahe, dass er ihn an dem Reformator misst. Dies habe ich getan, aber ich habe es ein wenig contre coeur getan, denn das Ergebnis dieses Denkvorgangs ist die banale Erkenntnis, dass Nikolaus von Kues kein Reformator war. Und ein Lutheraner war er erst recht nicht. Es wäre unbillig, hieraus eine konfessionelle Zuspitzung der Kritik von Karl Jaspers an Nikolaus von Kues zu entwickeln, wonach der Cusaner mit seiner Reform letztlich scheitern musste, weil er zu wenig die innere Umkehr der Menschen in den Blick genommen habe130. Erwin Iserloh hat Jaspers zu Recht vorgehalten, in dieser Kritik unhistorisch spätere Maßstäbe anzulegen131. Diese Vorsicht muss auch gelten, wenn man Nikolaus von Kues in die Perspektive der späteren reformatorischen Entwicklungen einrückt. Sein Ort war ein anderer. Um dies zu unterstreichen, muss ich noch ein paar abschließende Überlegungen vortragen: Wenn ich eben betont habe, dass Nikolaus von Kues Teil der spätmittelalterlichen Kirchlichkeit war und es auch sein wollte, so heißt dies auch: Nikolaus von Kues war in geradezu idealer Weise ein Repräsentant der Weite des späten Mittelalters. Man wird das späte Mittelalter heute nicht mehr eindimensional als Vorgeschichte der Reformation einordnen: Katholische Forschung hat nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geneigt, die Reformation dadurch zu erklären, dass eigentlich das

129 Cusanus-Texte. V. Brixener Dokumente. Erste Sammlung: Akten zur Reform des Bistums Brixen, ed. v. Heinz Hürten, Heidelberg 1960, 24. 130 JASPERS, KARL, Nikolaus Cusanus, München ²1987, 204. 131 ISERLOH, Kirchenreform (wie Anm. 1), 180.

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späte Mittelalter schon zutiefst verrottet und reformbedürftig gewesen sei132. Dem wurde von evangelischer Seite entgegengehalten, nein, das Gegenteil sei der Fall: Das 15. Jahrhundert sei gerade eines der frömmsten Jahrhunderte der Kirchengeschichte gewesen133. Beides aber sind Perspektiven, die gewissermaßen teleologisch von der Reformation her das 15. Jahrhundert sortieren wollen. Versucht man sich dem 15. Jahrhundert, soweit dies geht, in seiner eigenen Verfasstheit zu nähern, so führt es nicht linear auf die Katastrophe oder den Gipfelpunkt zu, sondern es ist durchzogen von Polaritäten134: Neben zutiefst innerlichen Frömmigkeitsformen der Mystik und der Devotio moderna stehen gänzlich veräußerlichte Formen des Ablasses, der Heil für Geld erwerbbar machte. Neben der Konzentrierung auf den Kleriker steht die Partizipation der Laien am Heil. Neben der Zentrierung aller Macht in Rom stehen die dezentralen Kräfte, die Kirche vor Ort, in der Diözese, dem Territorium, der Stadt präsent machen. Manche dieser Polaritäten kann man im Leben des Cusaners selbst nachvollziehen: Wer sich für Ulrich von Manderscheid in Trier einsetzt, unterstützt die dezentralen Kräfte der Kirche – und derselbe Nikolaus von Kues wird bald in Rom als Kardinal für die Zentrale wirken und ihre Ansprüche auf einer Legationsreise durchsetzen. Das Nebeneinander von Verinnerlichung und Veräußerlichung wurde eben schon genannt. Und all dies findet sich bei derselben Person, der es gelingt, durch ihr philosophisch-theologisches Denken in höchstem Maße integrativ zu sein. Man mag heute seiner Lösung der Frage der Religionen nicht mehr unbedingt folgen: Die Leistung, unterschiedliche Religionen zusammenzudenken, war jedenfalls enorm. Und das gesamte denkerische System war in seiner theologia negativa darauf angelegt, die positiven Wahrheitsansprüche so zu relativieren, dass sie nicht mehr konträr einander entgegenstanden, sondern aushaltbar waren. In diesen Überlegungen wird der Denker des 15. Jahrhunderts auch ungeheuer modernefähig. Vor allem aber wird er erkennbar als eine Person, die nach den Maßstäben des 16. Jahrhunderts überhaupt nicht zu messen ist, ja, die wohl im 16. Jahrhundert gar nicht denkbar wäre: Die Reformation, die auf sie folgende katholische Reaktion und schließlich die Ausdifferenzierung in Konfessionen durch Bekenntnisschriften einerseits, das Konzil von Trient andererseits, bedeutete eine bewusste Entscheidung für die Partikularität von Wahrheitsansprüchen. Beide Seiten entschieden sich mehr oder minder aus132

LORTZ, JOSEPH, Die Reformation in Deutschland, Freiburg 1939/40, mit zahlreichen späteren Auflagen; ISERLOH, ERWIN, Martin Luther und der Aufbruch der Reformation (1517–1525), in: Handbuch der Kirchengeschichte 4, Freiburg u.a. 1967, 3–114, 3–10. 133 MOELLER, BERND, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: DERS., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, ed. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, 73–85, besonders 74. 134 Vgl. LEPPIN, Von der Polarität zur Vereindeutigung (wie Anm. 20); HAMM, Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter (wie Anm. 19), 188–190.

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Cusa ist hie auch ein Lutheraner?

drücklich dafür, partikulare Konfessionskirchen zu sein. Auch dort, wo wie im Falle der römisch-katholischen Kirche, der Universalitätsanspruch aufrechterhalten wurde, entsprach ihm keine Realität mehr, denn eine Form der Definition christlicher Wahrheit war nicht mehr integrierbar. Es mag sein, dass die Integration unterschiedlicher Sichten im 15. Jahrhundert durch die erwähnten Polaritäten auch Spannungen und Inkonsistenzen mit sich gebracht hat. In Nikolaus von Kues aber hat sie einen der integrativsten Denker hervorgebracht, den die Geschichte Christenheit kennt. Ihm wären beide Konfessionen zu klein gewesen – das ist seine Größe.

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„Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“ Johannes von Staupitz als geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung Luther war im Juni 1530 gewiss alles andere als gelassen: Zu lange schon saß er, notgedrungen, auf der Veste Coburg, während Melanchthon in Augsburg die Confessio Augustana vorbereite. Und er fühlte sich einsam, allein gelassen1: Bitter klagte er am 7. Juni Melanchthon, von dem er lange nichts gehört hatte: „Ich sehe, dass ihr alle beschlossen habt, uns durch Stillschweigen mürbe zu machen“2, und keine zwei Wochen später, am 19. Juni, seufzte er, er habe nun einen Monat nichts von den Seinen aus Augsburg gehört3. Keine gute Voraussetzung, um Seelsorge an anderen zu treiben – und doch schrieb Luther an eben demselben 19. Juni auch einen intensiven Trostbrief an Hieronymus Weller (1499–1572)4, der in seinem Hause in Wittenberg geblieben war und ihn mit Nachrichten versorgte. Anscheinend hatte er dabei zwar getreu über die Fortschritte von Luthers Ältestem Hans berichtet5, nicht aber über seine eigenen Kümmernisse, die tristitia spiritu – denn hiervon erfuhr Luther durch seinen Gefährten auf der Coburg, Veit Dietrich (1506–1549)6. Er griff aber diese Nachricht sofort auf und versuchte Weller wiederholt geistlich zu trösten, obwohl seine Laune sich durch die Übergabe der Confessio Augustana gewiss nicht besserte, im Gegenteil: Hatte er noch angesichts eines ersten Entwurfes sein berühmtes Kompliment formuliert, er könne „so sanfft und leise nicht tretten“ wie Melanchthon7, so schrieb er am 29. Juni an den Wittenberger Gefährten: „Für meine Person ist in dieser Apologie mehr 1

S. zum Coburg-Aufenthalt jetzt LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 12006, 292– 305. Die Hinweise zur Literatur sind im Folgenden auf das Nötigste beschränkt. 2 WA.B 5,354,1f (Nr. 1586). 3 WA.B 5,382,4 (Nr. 1597). 4 S. zu dieser Briefgruppe MENNECKE-HAUSTEIN, UTE, Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1989 (QFRG 56),182–195. 5 WA.B 5,374,1–4 (Nr. 1593). 6 WA.B 5,374,6f (Nr. 1593); zur Melancholie in der Renaissancezeit s. nach wie vor grundlegend KLIBANSKY, RAYMOND, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/M. ²1990. 7 WA.B 5,319,7 (Nr. 1568).

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„Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“

als genug nachgegeben worden“8. Obwohl er sich nun aber „Tag und Nacht mit dieser Sache“ befasste9, fand er noch im Juli die Ruhe, noch einmal an Weller zu schreiben10. Die Traurigkeit deutete er in diesem Schreiben durchgängig als Anfechtung durch den Teufel11. Und er schlug den Bogen zu seinen eigenen Erfahrungen: Als er selbst von Versuchungen geplagt worden sei, da habe sein Beichtvater Johannes von Staupitz (ca. 1468–1524)12, dass diese Versuchungen notwendig und nützlich seien, ja, er habe sogar, so Luther, prophezeit, dass Gott ihn wohl deswegen diesen Versuchungen aussetze, weil er noch Großes mit ihm vorhabe13. Staupitz, der auch sonst gelegentlich als Prophet in Sachen Luther erscheint, so dass in den Tischreden sogar ein vor Luthers Doktorpromotion datiertes vaticinium Staupicii über die Bedeutung Luthers für Gottes Regiment überliefert wurde14, begegnet hier also als der, der seinen Klostererfahrungen Sinn gegeben hatte – und zugleich ist er Vorbild für Luthers Ratschläge an Weller. Was immer an Brüchen durch die Reformation gekommen sein mag: Das Modell an geistlicher Begleitung, das Luther in Staupitz erfahren und das sein Leben geformt hatte, blieb Modell auch für die reformatorisch gewordene Frömmigkeit.

1. Eine holprige Annäherung Es ist nicht ganz gewiss, wann Luther und Staupitz einander erstmals begegneten. Formal entstand eine Beziehung, als Luther 1505 nach dem Gelübde von Stotternheim15 in das Augustinerkloster zu Erfurt eintrat, das der Reform-

8

WA.B 5,405,19f (Nr. 1609). WA.B 5,405,22–24 (Nr. 1609). 10 WA.B 5,518–520 (Nr. 1670). 11 WA.B 5,518,2. 12 Zur Biographie und Theologie des Staupitz s. HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: ARG 92 (2001) 6–41; DERS., Art. Staupitz, Johannes von, in: TRE 32 (2001), 119–127; zu seiner Theologie s. auch ausführlich STEINMETZ, DAVID C., Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the protestant Reformation, Durham 1980; WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, VIEG 141, Mainz 1991. 13 WA.B 5,519,30–32 (Nr. 1670). 14 WA.TR 4,3924; zur inhaltlichen Überlieferung vgl. WA.TR 2,379,9f (Nr.2255a); vgl. ebenso WA.TR 1,442,9–12 (Nr. 885); WA.TR 5,655,3–8 (Nr. 6422). 15 Zur Problematik, ob sich dieses tatsächlich an Anna gerichtet hat, s. DÖRFLER-DIERKEN, ANGELIKA, Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: LuJ 64 (1997) 19–46. 9

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kongregation der Augustinereremiten angehörte16, die sich von dem Hauptzweig des Ordens, den Konventualen, durch strengere Beachtung – Observanz – der klösterlichen Lebensordnung abhob. Deren Generalvikar war zwei Jahre zuvor in Nachfolge des Andreas Proles (1429–1502) Staupitz geworden. Möglicherweise kam es im Zuge seines Besuches in Erfurt am 3. April 1506 zu einer ersten Begegnung mit Luther. Der Anlass wäre die Gewährung des Einverständnisses zu Luthers Vorbereitung auf das Priesteramt gewesen17. Größere Sicherheit gewinnt man etwas später: 1508 wechselte Luther an die neu gegründete sächsische Landesuniversität in Wittenberg, an der seit 1502 als Gründungsdekan der Theologischen Fakultät Staupitz wirkte18. Offenbar hatte er den Auftrag, dort die artes zu lehren, nachdem der bisher Seitens der Augustiner-Eremiten hierfür zuständige Dozent Wolfgang Ostermairs in die Theologische Fakultät gewechselt war19. Veranlasst wurde dieser Wechsel offenbar durch Staupitz20. Und in der Folgezeit hat Luther sich nicht nur um die artes verdient gemacht, sondern sich auch der Aufgabe gewidmet, eine Theologie zu finden, die, wie er schrieb, den Kern der Nuss erforsche21. Helfen sollten hierzu offenbar die Vorlesungen von Staupitz, an die Luther sich noch Jahre später erinnern sollte22. Zwar hatte Staupitz nicht, wie man gelegentlich liest, eine besondere „Bibelprofessur“ inne, sondern schlicht eine Professur für Theologie, aber wie viele andere mittelalterliche Theologen widmete er sich hierbei ganz der Auslegung der Bibel23. Noch war die Begegnung zwischen Luther und dem Professor und Ordensgeneral wohl eher sporadisch und, wie sich bald zeigen sollte, äußerst gefährdet. Nachdem Luther am 9. März 1509 in Wittenberg seinen ersten theologischen Abschluss, den Baccalaureus biblicus24, erworben hatte, der ihn zum Abhalten eigener Vorlesungen über die biblischen Bücher berechtigte, ging er 16

S. zum Kloster Lothar Schmelz / Michael Ludscheidt (Hg.), Luthers Erfurter Kloster. Das Augustinerkloster im Spannungsfeld von monastischer Tradition und protestantischem Geist, Erfurt 2005. 17 Dies vermutet BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Erster Band: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, 77 18 HAMM, Staupitz (wie Anm. 12), 120. 19 S. WRIEDT, MARKUS, Die Anfänge der Theologischen Fakultät Wittenberg 1502–1518, in: Dingel, Irene / Wartenberg, Günther (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (LSt 5), 11–37, 23. 20 WA.TR 5,75,20 (Nr. 5346) – nach dem Kontext dürfte sich diese aussage auf Luthers ersten Wechsel nach Wittenberg beziehen. 21 WA.B 1,17,43f (Nr. 5). 22 WA.TR 5,99,16f (Nr.5374). 23 S. KÖPF, ULRICH, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Dingel / Wartenberg, Theologische Fakultät (wie Anm. 19), 71–86. 24 FÖRSTEMANN, CARL EDUARD (Hg.), Album Academiae Vitebergensis. Bd. 1, Leipzig 1841, 28.

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zurück nach Erfurt und erwarb hier im Herbst 1509 den Grad eines Baccalaureus sententiarius25, der ihn berechtigte, das grundlegende dogmatische Lehrwerk des Mittelalters, die Sentenzensammlung des Petrus Lombardus aus dem 12. Jahrhundert auszulegen. Nur ein Jahr später aber wurde Luther zu den Protagonisten eines massiven Protestes gegen Staupitz: 1509 wurde er zusätzlich zu seinem Amt als Generalvikar der Reformkongregation auch zum Ordensgeneral der sächsisch-thüringischen Ordensprovinz des Gesamtordens gewählt26, vereinigte also Funktionen innerhalb des konventualen und des observanten Zweiges. Offenkundig wollte er dies nutzen, um den Riss, der durch den Orden ging, wieder zu heilen. Naheliegenderweise fürchteten die Observanten, aufgrund dieser Friedenspolitik ihre eigene Strenge in der Regelbeachtung aufgeben zu müssen. So wandte sich zunächst das observante Kloster Nürnberg gegen Staupitz und seine Pläne. Bald umfasste die Opposition sieben Konvente, unter denen auch der Erfurter war27. Die Sorge der Konvente war, dass eine Vereinigung mit den Konventualen ihre eigene Observanz gefährden und aufweichen könne. Bald kristallisierte sich der Protest um das Erfurter Kloster, namentlich um einen der besonderen Fördere Luthers28, Johannes Natin29. So kam auch Luther in den Oppositionskreis. Natin schickte ihn und einen anderen namentlich nicht genannten Bruder nach Rom30. Neben vielen spirituellen Erfahrungen, die der zum Reformator gewordene Luther später wohl viel kritischer einschätzte als der junge Mönch aus der Provinz, der mit großen Augen durch die Weltstadt lief31, verfolgten er und sein Gefährte natürlich auch ihr Ordensanliegen – allerdings offenbar nicht mit allzu großem Erfolg: Das Register des Ordensgenerals notiert für den Januar 1511 lediglich: „Den Deutschen wird verboten zu appellieren aufgrund der Gesetze“32. Aber trotz dieser Abweisung hat der Ordensgeneral aus der Gesandtschaft erschlossen, dass in Deutschland die Dinge zu regeln seien und wies hier großes Engagement auf: Er sandte sogar am 18. März 1511 ein Schreiben in dieser Sache an den Kaiser33. Vor Ort ließ er seinen persönlichen Gesandten Johannes Germanus Verhandlungen mit Staupitz mit dem 25

S. WA.B 1,25,22–26 (Nr. 8); 30,13f (Nr. 10). KUNZELMANN, ADALBERO, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten. Fünfter Teil: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden, Würzburg 1974, 455. 27 Ebd. 459. 28 Ebd. 462. 29 Ebd. 459. 30 Zur Romreise s. KUNZELMANN, Geschichte (wie Anm. 26), 463f. 31 S. zu dieser Einschätzung LEPPIN, Luther (wie Anm. 1), 57–61. 32 KAWERAU, GUSTAV, Aus den actis generalatus Aegidii Viterbiensis, in: ZKG 32 (1911) 603–606, 604. 33 Ebd. 604. 26

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Ziele einer friedlichen Einigung führen34. Damit hatte die Gesandtschaft immerhin dazu geführt, dass auf anderer Ebene weiter über die Sache verhandelt wurde. Nach vierwöchigem Aufenthalt am Tiber dürften die beiden Brüder im März 1511 wieder in Erfurt eingetroffen sein. Nun aber kommt es zu einer bemerkenswerten Wende im Verhältnis zwischen Luther und Staupitz: Hatte man Luther eben noch auf Seiten seines Konventes gegen Staupitz gesehen, so kehren sich die Verhältnisse bald um. Als Staupitz aufgrund von Verhandlungen in Jena den renitenten Klöstern einen Rezess zur Annahme vorlegte35, weigerte sich die Mehrheit dieser Konvente und auch die Mehrheit innerhalb des Erfurter Konvents. Luther aber stellte sich auf die Seite des Generalvikars – mit dem Ergebnis, dass er seinen Konvent verließ und nach Wittenberg wechselte. Damit beginnt trotz der zahlreichen Reisen des Ordensoberen, vor allem nach München und in Salzburg36, eine Phase intensivierten Zusammenseins. Einzelne Spuren verweisen zwar darauf, dass Luther sich schon in seiner Erfurter Zeit gelegentlich mit Fragen an Staupitz wandte37, die intensivste Entwicklung des Miteinanders aber findet sich in Wittenberg. Luther wurde offenkundig zum besonderen Protegé von Staupitz: Die Nachricht, dass es Staupitz war, der Luther zum theologischen Doktorat – und in der Folge zu seiner Nachfolger auf der Theologie-Professur – drängte, ist – im unterschied zu manch anderer späten Erinnerung Luthers durchaus glaubhaft, denn sie ist – freilich in einem klar apologetischen Kontext – schon früh belegt: Am 21. Dezember 1514 schrieb Luther an den Dekan der Erfurter Theologischen Fakultät und die dortigen Doktoren, um sich gegenüber dem Vorwurf zu verteidigen, er habe durch die Promotion in Wittenberg einen Erfurter Eid verletzt, sein Promotion nur dort zu absolvieren. Zu den Argumenten, die er hier aufführte, gehörte auch, dass er nach der Promotion nicht gestrebt, sondern sich dem Gehorsam gegenüber seinem Ordensoberen Staupitz gefügt habe38. Ein solches Drängen von Staupitz passt dazu, dass er Luther auch in Ordensangelegenheiten offenkundig schätzte und in verantwortungsvolle Position bringen wollte: Im Mai 1515 bestimmte Staupitz ihn zum Provinzialvikar der Reformkongregation in Meißen und Thüringen – als solcher war er nun pikanterweise auch für sein früheres Erfurter Kloster verantwortlich39. Für Staupitz war es nicht ungewöhnlich, begabte junge Leute 34

KUNZELMANN, Geschichte (wie Anm. 26), 464f. Ebd. 465; ECKERMANN, WILLIGIS, Neue Dokumente zur Auseinandersetzung zwischen Johann von Staupitz und der sächsischen Reformkongregation, in: AAug 40 (1977) 279–296, 282–286. 36 HAMM, Staupitz (wie Anm. 12), 14. 37 WA.TR 1,35,14–20 (Nr. 94). 38 WA.B 1,30,26–31 (Nr. 10); vgl. etwa den Rückblick WA.TR 2,379,12–17 (Nr. 2255a). 39 KUNZELMANN, Geschichte (wie Anm. 26), 471; zur genauen Bestimmung des Amtes s. WINTERHAGER, WILHELM-ERNST, Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der 35

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zu fördern, aber es scheint, dass er in Luther einen besonders treuen und gelehrigen Schüler gefunden hat. 1537 erinnert dieser sich jedenfalls an ganz andere Erfahrungen seines Ordensoberen: „Ich denke an meinen Staupitz, wo der einen geschickten jungen Munch hette, macht er jn zu eim doctor, magister, Sed quam referebant gratiam? Dicebat: wenn ich sie embor hab gehoben, haben sie mir ynn die hand geschissen“ 40

2. Der geistliche Vater Noch 1545, ein Jahr vor seinem Tod erinnert Luther sich in einem Schreiben an Kurfürst Johann Friedrich, dass Staupitz „erstlich mein Vater ynn dieser lere gewest ist und ynn Christo geborn hat“41. Wenn er also wiederholt Staupitz in Briefen als „Vater“ anredet42, so entspricht dies natürlich primär der Titulatur, die der Ordensangehörige dem Oberen zuzusprechen hat. Aber über die Lebensspanne Luthers gewinnt diese Anrede doch auch eine biographische Tiefe. Wenn den Staupitz derjenige ist, der Luther in Christus wiedergeboren hat, so ist er tatsächlich als geistlicher Vater im Vollsinne anzureden – als der neue Vater, nachdem das Verhältnis zum leiblichen Vater nie zerbrochen und doch durch den Klostereintritt so schwer beschädigt worden war43. Tatsächlich ist Staupitz der, an den Luther sich immer wieder wendet, und bei dem er auch häufig beichtet44. Doch kann er schwerlich Luthers einziger Beichtvater gewesen sein, denn Luther, der von sich später sagte, er sei allzu oft zur Beichte gerannt45, hätte gar nicht Gelegenheit gehabt, seine Beichte stets vor dem so oft abwesenden Generalvikar abzulegen. Aber er war auch mehr als nur Beichtvater. Das Verhältnis zu ihm gewinnt seine Größe gerade dadurch, dass es über den normalen Vollzug der Beichte mit ihrem sakramentalen Rahmen, aber auch ihrer Formalisierung hinausgeht. Staupitz ist mehr als Beichtvater, er ist der geistliche Berater, oder, in anderer Terminologie, der geistliche Begleiter des jungen Mönches. So wird er geradezu zum Berater in der Frage des Beichtens überhaupt, wenn er Luther in seiner Beichthal-

Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: Felten, Franz J. / Jaspert, Nikolas (Hg.), Vita religiosa im Mittelalter. FS Kaspar Elm, Berlin 1999, 707–738, 707–720. 40 WA 37,148,9–12 (Predigt 1533); vgl. WA.TR 5,417,10–12 (Nr. 5989). 41 WA.B 11,67,7f (Nr. 4088). 42 WA.B 1,160,3 (Nr. 66); WA.B 1,193,1 (Nr. 89) u.ö. 43 S. zu Luthers Vaterbeziehung jetzt LEPPIN, VOLKER, Luther privat, Darmstadt 2006, 9– 12. 44 WA.TR 1,240,12–14 (Nr. 518). 45 WA 15,489,3; WA.TR 1,200,28–201,1 (Nr. 461); 269,19 (Nr. 582); WA 47,441,18– 22. Luther stand mit diesem Problem keineswegs allein; vgl. WA.TR 5,440,1–3 (Nr. 6017).

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tung kritisiert: Er solle nicht mit „Humpelwerk und Puppensünden“46 zur Beichte kommen, und er solle auch das rechte Vertrauen in die Buße haben: Er wolle in die Beichte nur mit scheinbaren Sünden kommen und missachte damit, dass Christus ein wahrer Heiland ist47. Damit war gemeint, dass Luther darunter litt, dass er überhaupt Sünden auf sich lud, die er dann zu beichten hatte – dass er schon vor der Vergebung der Sünden ohne Sünde sein wollte48. Tatsächlich wäre damit der Sinn des Bußinstitutes gänzlich in Frage gestellt, was Staupitz sogleich in charakteristischer Weise als Infragestellung des Erlösungswerkes Christi deutete. Ohnehin war die alltägliche Beichte nicht das, worum es Luther im Kontakt mit Staupitz ging. Ihm habe er nicht Frauengeschichten in der Beichte vorgelegt, sondern „die rechten knotten“49. Die hieraus entstehenden Gespräche waren wohl nicht immer ganz einfach. Denn neben den vielen positiven Erinnerungen an gelingende Kommunikation zwischen ihm und Staupitz steht auch die Erinnerung, dass dieser, als der junge Bruder wieder einmal mit seinen „rechten Knoten“ kam, gesagt habe: „Ich verstehe es nit“, und Luther setzt in der Tischrede aus dem Frühjahr 1533, in der er hiervon berichtet, seufzend hinzu: „Das hieß den recht getrostet“50. Diese Anteile des Unverständnisses wurden nicht bestimmend für beider Verhältnis, aber sie gehören dazu, wenn man sich ein Bild von diesem Modellfall geistlicher Begleitung machen will, der zwar erstaunlich gut dokumentiert ist, dessen Rekonstruktion aber auf vereinzelte, zusammenhanglos überlieferte Erinnerungsstücke Luthers angewiesen ist, die demselben Selektionsprozess unterliegen wie jeder Erinnerungsvorgang. Und diese Selektion in Luthers Erinnerung stellt die gelingende Kommunikation in den Vordergrund. Die rechten Knoten wurden doch noch gehört und wohl auch verstanden. Auch worum es sich dabei handelte, ist im Nachhinein noch erkennbar: Grundthema ist die eingangs schon erwähnte Anfechtung. In Luthers Rückblicken stellen die Anfechtungen geradezu das Generalthema seiner Klosterzeit dar, und entsprechend gehört es zu den Topoi moderner Lutherbilder, sich den Mönch Martin als ständig von Anfechtungen geprägten Menschen vorzustellen. Das ist sicher Ausdruck jener Verschiebung der Erinnerung, wie sie für Konvertitenliteratur typisch ist51: Wer seiner Vergangenheit entsagt und sich ganz auf eine neue Grundlage stellt, neigt dazu, in seiner Vergangenheit diejenigen Aspekte besonders zu erinnern und in seine 46

WA.TR 6, 107,2 (Nr. 6669); vgl. hierzu vgl. WA39/2,227,31f. WA.B 10,639,38–41 (Nr. 4021). 48 WA39/2,227,31f. 49 WA.TR 1,240,12–14 (Nr. 518). 50 WA.TR 1,240,13f (Nr. 518). 51 S. ULMER, BERND, Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattungen. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988) 19–33. 47

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„Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“

erzählte Erinnerung aufzunehmen, die die spätere Konversion erklären und deuten, und in der Regel bedeutet dies, dass die Vergangenheit in besonders dunklen Farben gemalt wird, um als Kontrastfolie für die als positiv gedeutete Gegenwart zu dienen. Wenn also Luthers Rückblicke auf die Klosterzeit immer wieder die Anfechtungen in den Vordergrund stellen, so darf man daraus nicht folgern, er habe seine Zeit hauptsächlich mit diesen Anfechtungen verbracht. Sie waren ein wichtiger und beschwerlicher Teil seines Lebens, aber eben nur ein Teil. Dies macht ein Zeugnis aus der Klosterzeit selbst deutlich, das anschaulich vorstellt, wie Luther sich selbst als Mönch wahrnahm, als er noch im Kloster lebte. Am 26. Oktober 1516 schrieb er an seinen kürzlich von Wittenberg nach Erfurt zurückgekehrten Mitbruder Johannes Lang (ca. 1487–1548): „Ich brauche fast zwei Schreiber oder Kanzler. Ich tue den ganzen Tag beinahe nichts weiter als Briefe schreiben. Deshalb weiß ich nicht, ob ich immer wieder dasselbe schreibe; du wirst es ja sehen. Ich bin Klosterprediger, Prediger bei Tisch, täglich werde ich auch als Pfarrprediger verlangt; ich bin Studien-Rektor, ich bin Vikar, d.h. ich bin elfmal Prior, Fischempfänger in Leitzkau, Rechtsanwalt der Herzberger in Torgau, halte Vorlesungen über Paulus, sammle (Material für) den Psalter, und das, was ich schon gesagt habe: die Arbeit des Briefschreibens nimmt den größten Teil meiner Zeit in Anspruch. Selten habe ich Zeit das Stundengebet ohne Unterbrechung zu vollenden und zu halten. Dazu kommen die eigenen Anfechtungen des Fleisches, der Welt und des Teufels. Siehe, welch ein müßiger Mensch ich bin“ 52

Dieser Brief zeigt den jungen Luther – oder Luder, wie er sich damals noch schrieb und sprach53 – als einen vielbeschäftigten Organisator. Seine beiden Ämter als Professor und als Provinzvikar nahmen ihn bis an den Rand der Erschöpfung in Anspruch. Er nutzte die Entlastungsmöglichkeiten, die ihm der Orden gab: Ein Lector hatte die Konzession, sein Stundengebet auch für sich außerhalb des Chores zu sprechen54, doch selbst das gelang möglicherweise nicht immer. All dies ist die Grundbeschreibung seines Lebens. „Dazu“, 52 WA.B 1,4–13 (Nr. 28): „Opus est mihi prope duobus scribis seu cancellariis, paene nihil per diem ago, quam literas scribo; idcirco nescio, an eadem semper repetens scribam; tu videris. Sum concionator conventualis, ecclesiastes mensae, desideror quotidie et parochialis praedicator, sum regens studii, sum vicarius, id est, undecies prior, sum terminarius piscium in Litzkau, actor causarum Herzbergensium in Torgau, lector Pauli, collector Psalterii, et illud, quod iam dixi maiorem partem occupare remporis mei, epistolarum scribendarum negotium. Raro mihi integrum tempus est horas persolvendi et celebrandi praeter proprias tentationes cum Carmen, mundo et Diabolo. Vide, quam sim otiosus homo“. 53 Zum Namenswechsel im Zusammenhang der Versendung der Ablassthesen s. MOELLER, BERND / STACKMANN, KARL, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen, NAWG 1981,7, Göttingen 1981. 54 Constitutiones OESA pro reformatione Alemanniae, bearb. v. Wolfgang Günter, in: JOHANN VON STAUPITZ, Sämtliche Schriften. Abhandlungen, Predigten, Zeugnisse, ed. v. Lothar Graf zu Dohna / Richard Wetzel. Bd. 5: Gutachten und Satzungen, Berlin u.a. 2001 (SuR 17), 103–360, 263,18–22 (Capitulum 36).

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„praeter“, kommen dann noch seine Anfechtungen. Sie sind Bestandteil dieses Lebens, aber sie sind eben nur ein Teil, ein Teil, der in der Liste der Beschäftigungen steht, als geradezu beiläufige, selbstverständliche Mitteilung, die wohl voraussetzt, dass auch dem angesprochenen Bruder solche Anfechtungen nicht unvertraut waren. Diese Anfechtungen also hatten ihren Ort in einem vollen Zeitplan55 – den spirituellen Ort aber gab ihnen Staupitz. Er sei es gewesen, durch den Gott ihm aus seinen Anfechtungen geholfen habe, schreibt Luther im Jahre 154256. Diese Aussage ist nicht so zu verstehen, als habe durch die Gespräche mit Staupitz jegliche Anfechtung aufgehört: Noch 1528 bekennt Luther, dass die Anfechtungen, die ihn seit seiner Jugendzeit quälten, noch immer anwüchsen57. Es gab also kein plötzliches Ende der Anfechtungen, aber Staupitz gab ihnen Richtung und Sinn. Sie seien notwendig wie Essen und Trinken, erklärte er58. Von ihnen gelöst zu werden, hieß also, sie als von Gott geschickt anzunehmen. In den erwähnten Erzählungen vom vaticinium Staupitii schlägt sich nieder, dass Luther sie später wohl auch notwendige Begleiterscheinung seines Weges zum Verkünder des Evangeliums gesehen hat. Seine eigenen Ratschläge in Anfechtungen wie der eingangs erwähnte Brief an Weller, in dem auch der Verweis auf diese Prophezeiung des Staupitz erscheint, machen deutlich, dass Anfechtungen nicht immer auf Großes vorbereiten müssen. Es geht vor allem darum, durch sie hindurch auf die Gnade und Verheißung Gottes zu blicken, also in ihnen nicht den Teufel über sich Herr werden zu lassen, sondern Gott selbst59. Die Anfechtungen angesichts der eigenen Sündigkeit werden damit zu Wegbereitern, auf den zu blicken, der diese Sünden vergeben kann und vergeben hat. Es ist bemerkenswert, dass sich Luther mit diesem im Vokabular reformatorischer Theologie60 formulierten Trost ausdrücklich in die Tradition seines eigenen Beichtvaters Staupitz stellt. Dieser Trost, die Hinwendung zu Gott, vor allem zu Christus: Genau das war auch die Grundbotschaft von Staupitz gewesen: „Man mus den man ansehen, der da heyst Christus“61, so lautet sein Ratschlag, an den Luther sich in unterschiedlichen Fassungen immer wieder erinnert. Diese Ratschlag stand auch im Mittelpunkt des berühmt gewordenen Ratschlages von Staupitz zu Luthers Prädestinationsanfechtung: 55 Zu dieser zurückhaltenden Deutung der Anfechtungen beim jungen Luther vgl. jetzt auch LEPPIN, Luther (wie Anm. 1), 40–43.72–81 56 WA.B 9,627,23–25 (Nr.3716). 57 WA.B 4,319,6f (Nr. 1197); vgl. auch ebd. 312,4f (Nr. 1191). 58 WA.TR 2,13,25f (Nr. 1263). 59 WA.B 5,374,41–375,44. 60 Zur Bedeutung des Begriffs der Verheißung für Luthers reformatorische Theologie s. nach wie vor grundlegend BAYER, OSWALD, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989. 61 WA.TR 1,245,11f (Nr. 526).

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„Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“

„Ich führte einmal bei meinem Staupitz Klage über die Erhabenheit der Prädestination. Er antwortet mir: In den Wunden Christi versteht und findet man die Prädestination, nirgendwo anders, denn es ist geschrieben: ‚Diesen hört!‘ Der Vater ist zu hoch, aber der Vater hat gesagt: Ich werde euch einen Weg geben, um zu mir zu gelangen, freilich Christus. Geht, glaubt, hängt euch an Christus, so wird es sich wohl finden, wer ich bin, zu seiner Zeit. Das tun wir nicht, daher ist Gott für uns unbegreiflich, undenkbar; er wird nicht begriffen, außerhalb Christi will er nicht erfasst sein.“ 62

Wieder gibt Staupitz eine Richtung vor: von der Spekulation63 zum Glauben an Christus. Und das heißt nach diesem Zusammenhang auch: von einer auf den Vater konzentrierten Frage zu einem auf dem Sohn gründenden Vertrauen. Dabei werden Vater und Sohn nicht zerrissen, sondern die Sendung des Sohnes wird als der weg beschrieben, den der Vater selbst eröffnet hat – und an dem vorbei man entsprechend keine anderen, spekulativen Wege suchen soll. Christus wird als Grund des Glaubens vorgestellt – und als Maßstab des Glaubens: An Fronleichnam 151664 zog Luther in priesterlichem Gewand bei der Prozession mit, die Staupitz, die Hostie tragend, anführte. Angesichts dessen erschrak er über die Gegenwart des Allerheiligsten65. Der theologische Sinn der Fronleichnamsprozession: die öffentliche Zurschaustellung der zum Leib Christi gewandelten Hostie und damit die Präsenz Christi in seiner Gemeinde durch die eucharistischen Elemente wurde ihm in einer Tiefe bewusst, die das Fest zwar mit höchster Intensität bejahte – und seine Feier doch brach, weil er den Menschen als zu unwürdig sah, so mit Gott umzugehen. Staupitz aber erklärte ihm darauf: „Was ihr denkt, ist nicht Christus“66, beziehungsweise in einer anderen, wohl auf dasselbe Ereignis bezogenen Erinnerungsspur: „Es ist nicht Christus, was dich erschreckt hat, weil Christus nicht erschreckt, sondern tröstet“67.

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„Ego semel conquerebar de sublimitate praedestinationis Staupitio meo. Respondit mihi: In vulneribus Christi intelligitur praedestinatio et invenitur, non alibi, quia scriptum est: Hunc audite. Der Vater ist zu hoch, sed dixit Pater: Ego dabo viam veniendi ad me, nempe Christum. Ite, credite, hengt euch an den Christum, so wirts sichs wol finden, quis sim, suo tempore. Das thun wir nicht, ideo Deus est nobis incomprehensibilis, incogitabilis; er wirt nicht begriffen, er will ungefast sein extra Christum“ (WA.TR 2, Nr. 1490 [112,9–16]); vgl. vgl. WA.TR 1,512,18–20 (Nr. 1017); 2,227,20–29 (Nr. 1820); 2,Nr. 2654. 63 Zur Spekulation in diesem Zusammenhang s. WA 43,461,11–13 64 Zur Datierung s. WINTERHAGER, Amt (wie Anm. 39), 736f. 65 WA.TR 1,59,8–12 (Nr. 137): „Wie geschah mir? Ich erschrak ein mal fur dem sacrament, das Doctor Staupiz zu Isleben in der procession trug corporis Christi. Da gieng ich auch mit und hett ein priester kleyd an, beichtets darnach Doctor Staupiz, et dicebat mihi: Vestra cogitatio ist nit Christus.“ 66 WA.TR 1,59,11f (Nr. 137): „Vestra cogitatio ist nit Christus“. 67 WA.TR 2,417,14f (Nr. 2318a): „Non est Christus, quod te terruit, quia Christus non terret, sed consolatur“.

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Bedenkt man diesen Ratschlag, so wird deutlich, warum im Nachhinein die Anfechtungen zum theologisch Entscheidenden in Luthers Biographie werden konnten, waren sie es doch, die Staupitz Anlass zu solchen Äußerungen gaben, hinter denen Luther letztlich Gott selbst hörte68. Gerade die Konfrontation zwischen der großen Heilsungewissheit, wie sie sich vor allem in der Prädestinationsanfechtung, aber auch im Eindruck der Unwürdigkeit angesichts des Sakramentes äußerte, und dem Hinweis auf den Erlöser ließ eine Dynamik entstehen, die es ermöglichte, einen neuen theologischen Grund zu finden. Die geistliche Begleitung durch Staupitz wurde so zum Schlüssel zur Entwicklung einer reformatorischen Theologie.

3. „Staupicius hat die doctrinam angefangen“: Staupitz und Luthers theologische Entwicklung „Staupicius hat die doctrinam angefangen“, erklärt Luther im Frühjahr 153369. Er selbst scheint weniger Wert darauf gelegt zu haben, dass mit ihm ein radikaler Bruch zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit eingetreten sei, als mancher seiner modernen Interpreten70. Und die Rekonstruktion von Luthers reformatorischer Entwicklung, um die die Forschung nahezu ein Jahrhundert

68 So sagt Luther es Staupitz selbst gegenüber explizit über einen Ratschlag, den dieser ihm in Augsburg gegeben hatte (WA.B 2,245–247 [Nr. 366]. Der Sache nach ist es auch in der Aussage erhalten, dass Gott Luther durch Staupitz aus seinen Anfechtungen geholfen habe (WA.B 9,627,23–25 [Nr.3716]). 69 WA.TR 1,245,11f (Nr. 526). 70 Zur kritischen Auseinandersetzung mit solchen Ansätzen s. LEPPIN, VOLKER, Wie reformatorisch war die Reformation?, in diesem Band 1–15. In der jüngeren Forschung gibt es mehrere Versuche, das Verhältnis zwischen spätmittelalterlicher und reformatorischer Frömmigkeit als differenzierten Prozess des Ineinanders von Kontinuität und Diskontinuität zu beschreiben. Maßgeblich sind für die jüngere Diskussion die Forschungen von Berndt Hamm. S. vor allem: DERS., Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84 (1993) 7– 82; DERS., Wie innovativ war die Reformation, in: ZHF 27 (2000) 481–491; DERS., , Die „Nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen / Martin Pickavé (Hg.), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, MM 31, Berlin / New York 2004, 541–557; vgl. auch LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Litz, Gudrun / Munzert, Heidrun / Liebenberg, Roland (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 299–315.

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lang gerungen hat71, wird wohl verstärkt auf die Bedeutung von Staupitz blicken müssen. Lange Zeit stand im Mittelpunkt der Forschung ein sehr später Rückblick Luthers auf seine Entwicklung: 1545 hatte er der Ausgabe seiner lateinischen Werke einen Bericht vorangestellt, in dem er seine ersten Jahre rekapitulierte und darin auch die Entdeckung eines neuen Verständnisses des Begriffes „Gottes Gerechtigkeit“ aus Röm 1,17 beschrieben72. Der Forschung galt dies, bei allen sich ergebenden Problemen, als eine Art Schlüssel zum Verständnis seiner Entwicklung, da sich autobiographische Gründlichkeit und theologisches Gewicht – es geht ja offenkundig um die Rechtfertigungslehre – miteinander verbunden haben. Dabei wurde lange Zeit zu wenig beachtet, dass es ein ganz ähnlich aufgebautes, sehr viel früheres Selbstzeugnis für diese Entwicklung gibt, das ebenfalls einen theologischen Entdeckungsvorgang in den Mittelpunkt stellt, freilich nicht die Entdeckung eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses, sondern die eines neuen Bußverständnisses73. Mit diesem Dokument, Luthers Widmungsschreiben an Staupitz zu den ausführlichen Erläuterungen seiner Ablassthesen von 1518, kommt man zeitlich und wohl auch viel näher an seine frühe Entwicklung, die sich bei einer sorgfältigen Zusammenschau der Quellen wohl als eine allmähliche Entwicklung darstellen lässt, in der das neue Bußverständnis nach und nach in eine Theologie eingeordnet wurde, deren Dreh- und Angelpunkt die Rechtfertigungslehre war. Es stand also nicht die Entdeckung einer neuen Rechtfertigungslehre bei der Paulusexegese am Anfang – sondern am Anfang der doctrina stand wohl tatsächlich Staupitz. Denn an ihn schreibt Luther in dem Widmungsbrief: „Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort ‚Buße‘ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob du vom Himmel herab redetest: dass wahre Buße allein mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr nur deren Anfang. Dieses dein Wort haftete in mir ‚wie der scharfe Pfeil eines Starken‘ (Ps. 120,4), und ich fing an, es der Reihe nach mit Schriftstellen zu vergleichen, welche von der Buße 71

S. Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123); ders. (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart / Wiesbaden 1988 (VIEG 25). 72 S. die zentralen Passagen in WA 54,185,12–186,20. 73 Vgl. meine ausführliche Analyse und die Folgerungen für die Einordnungen des Selbstzeugnisses von 1545 in: LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band 261– 277. Die bislang ausführlichste kritische Reaktion hierauf findet sich bei BRECHT, MARTIN, Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: ZThK 101 (2004) 281–291, der aber meines Erachtens das entscheidende Problem – dass das Selbstzeugnis von 1545 für eine Rekonstruktion von Luthers früher Biographie allenfalls noch sekundäre Bedeutung haben kann – meines Erachtens nicht löst.

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lehren. Und das war eine überaus angenehme Beschäftigung. Denn von allen Seiten kamen Worte auf mich zu, fügten sich ganz dieser Auffassung ein und schlossen sich ihr an. Das Resultat war: wie es früher in der ganzen Schrift nichts Bittereres für mich gab als das Wort ‚Buße‘ (...) kann mir jetzt nichts süßer und angenehmer in die Ohren klingen als das Wort ‚Buße‘. Denn dann werden die Gebote Gottes süß, wenn wir erkennen, dass sie nicht bloß in den Büchern, sondern in den Wunden des geliebten Heilands gelesen werden müssen.“ 74

Inhalt und Kontur des Schreibens machen deutlich, dass Luther sich an eine seelsorgerliche Situation erinnert. Er selbst und offenbar noch andere Brüder75 trugen Staupitz Sorgen um die Buße vor – so wie Luther ja auch in anderen Zusammenhängen berichtet, dass er bei Staupitz nicht nur im Vollzug der Buße gebeichtet hat, sondern auch über das Wesen der Buße belehrt wurde. Und Staupitz reagiert so, wie es auch sonst charakteristisch für seine geistliche Begleitung Luthers war: Er verwies auf Jesus Christus als den Heiland. Nun erst wird aus der Situation geistlicher Begleitung die Forschersituation: Nun wendet Luther sich der Heiligen Schrift zu – und der Beichtrat von Staupitz erhellt die gesamte Schrift, führt zu Christus hin. Die weitere Wissenschaft unterstreicht ihn nur immer neu: Im Folgenden berichtet Luther noch, wie er, offenkundig durch Erasmus, das wirkliche Verständnis von ȝİIJ੺ȞȠȚĮ, Buße, als Sinnesänderung gekommen ist76 – das relativiert aller74 WA 1,525,4–23: „Memini, Reverende pater, inter iucundissimas et salutares fabulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari, incidisse aliquando mentionem huius nominis ‚poenitentia‘, ubi miserti conscientiarum multarum carnificumque illorum, qui praeceptis infinitis eisdemque importabilibus modum docent (ut vocant) confitendi, te velut e caelo sonantem excepimus, quod poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iusticiae et dei incipit, Et hoc esse potius principium poenitentiae, quod illis finis et consummatio censetur. Haesit hoc verbum tuum in me sicut sagitta potentis acuta, coepique deinceps cum scripturis poenitentiam docentibus conferre, Et ecce iucindissimum ludum, verba undique mihi colludebant planeque huic sententiae arridebant et assultabant, ita, ut, czm prius non fuerit ferme in scriptura tota amarius mihi verbum quam ‚poenitentia‘(...), nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet quam ‚poenitentia‘. Ita enim dulcescunt praecepta dei, quando non in libris tantum, sed in vulneribus dulcissimi Salvatoris legenda intelligimus.“ Vgl. zu diesem Text auch ALAND, KURT, Der Weg zur Reformation. Zeitpunkt und Charakter des reformatorischen Erlebnisses Martin Luthers, München 1965 (TEH.NF 123), 63–65; WETZEL, RICHARD, Staupitz und Luther, in: Volker Press / Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986 (SMAFN 16), 75–87; HAMM, BERNDT, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers. Ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: LuJ 65 (1998) 19–52, 35f. 75 Auf den wichtigen Zusammenhang, dass Luther in Wittenberg Teil einer größeren Gruppe war, die gemeinsam Reformen voranbrachte, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es sei hierfür aber verwiesen auf die wichtige Monographie von KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516– 1522, Mainz 2002 (VIEG 187). 76 WA 1,525,24–30; dies betont BRECHT, Luthers neues Verständnis (wie Anm. 73), 284f.

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dings nicht den Ausgangspunkt bei Staupitz. Als wollte er dies kommentieren, sagt Luther später: „Ex Erasmo nihil habeo (Von Erasmus habe ich nichts). Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz; der hat mir occasionem (Gelegenheit) geben“77. Alles von Staupitz, das hieß: der geistliche Kern der Entwicklung kam von Staupitz – wenn man es in den berühmten reformatorischen Ausschließlichkeitsformulierungen sagen will: Das Solus Christus hatte in der Sache seinen Grund in der geistlichen Begleitung durch Staupitz, und dies war der Anfang der reformatorischen Entwicklung, die sich nach und nach konturierte, indem die Betonung der Ausschließlichkeit der Gnade, des Glaubens und der Schrift hinzutraten78– alles Themen, für die Luther in seinen Rückblicken auch Anhalt bei Staupitz fand79, wenngleich sie, im Unterschied zum Bezug auf Christus bei Staupitz noch nicht jene Ausschließlichkeit gewannen, wie sie für reformatorische Theologie entscheidend werden sollte. Vor diesem Hintergrund ist es auch der Sache nach sicher nicht zu viel gesagt, wenn Luther erklärt, Staupitz habe die Lehre angefangen. Dieser Satz stimmt biographisch und er stimmt theologisch.

4. Trennung der Wege Einen Höhepunkt der Gemeinsamkeit zwischen Staupitz und Luther war wohl der Augsburger Reichstag, an dessen Rande Luther im Oktober 1518 vor dem Kardinal Cajetan zum Verhör erscheinen musste – ein Verhör, das Luther geschickt zur theologischen Disputation öffnete80. Die Situation war brenzlig. Immerhin handelte es sich um einen Akt ein einem Prozess, in dem es um die Rechtgläubigkeit Luthers ging. Das Verhör in Augsburg war der von Friedrich aufgrund der Fürsprache von Staupitz81 erwirkte Ersatz für ein Verhör in Rom, zu dem Luther am 7. August 1518 bereits eine Vorladung erhalten hatte82. Den Generalvikar konnte es schon in seiner Ordensfunktion nicht unbe77

WA.TR 1,80,6f (Nr. 173). Zu diesem Modell einer allmählichen Herauskristallisierung dieser Ausschließlichkeitskonzepte im Zuge der reformatorischen Entwicklung Luthers vgl. LEPPIN, Luther (wie Anm. 1). 79 Zur Gnade bei Staupitz s. WA 40/1,131,21–24; zum Glauben: WA.TR 2,227,20–29 (Nr. 1820); zur Bibel: WA.TR 5,99,13f (Nr.5374). Selbst Einzellehren wie der theologische Gebrauch des Gesetzes finden sich nach Luthers Erinnerungen in nuce bei Staupitz (WA.TR 2, 666,8f [Nr. 2797a]). Auch die Lehre vom Deus absconditus verbindet Luther mit Staupitz (s. hierzu LEPPIN, VOLKER, Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“, in diesem Band 443–458). 80 S. zur Einzelinterpretation LEPPIN, Luther (wie Anm. 1), 137–139. 81 WA 51,543,32–544,18. 82 WA 2,25,31. 78

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rührt lassen, dass ein Augustinereremit unter Anklage der Häresie geraten war. Dass es sich zudem um seinen besonderen Schützling handelte, den er in den vergangenen Jahren äußerlich gefördert und geistlich begleitet hatte, versetzte Staupitz offenkundig in ein schwer auszuhaltende Spannung. So hat Staupitz Luther nicht nur zu etwas demütigerem Verhalten aufgefordert83, sondern er ließ sich von Cajetan zu dem Versuch überreden, Luther zum Widerruf zu bewegen – aber als Luther ihm seine Schriftzeugnisse vorlegte, gestand er ein, das übersteige seine, das früheren Theologieprofessors, Kräfte84. Und er hat nicht nur versucht, Luther zu bremsen, sondern hat ihn selbst noch in dieser Situation seelsorgerlich unterstützt, indem er ihn mahnte, er sollte nicht vergessen, dass er all dies im Namen Jesu Christi begonnen habe85. Das war in dem Gesprächskontext beider mehr als eine Formel, die Mut zusprach: Es war die Erinnerung an den Kern der geistlichen Begleitung. Aber das Gesamtverhalten drückte auch aus, dass es nicht mehr der gemeinsame, von Staupitz angeleitete Weg war, sondern dass es Luthers eigener Weg war, in dem die geistliche Begleitung von Staupitz nicht nur erforderte, ihn zu fördern und voranzubringen, sondern auch, ihn auf eben dem Weg, der im Namen Jesu Christi und damit im Sinne des gemeinsamen Anliegens begonnen war, zu bremsen. Dass es eingestand, dabei Luthers Argumenten nicht gewachsen zu sein, also wiederum auf der gemeinsamen Grundlage ihn nicht bremsen zu können, drückt den schweren Zwiespalt aus, in den er geraten war. Er löste ihn, indem er Luther freigab. Mit den Worten: „Ich löse dich von dem mir geschuldeten Gehorsam und empfehle dich Gott“86, löste Staupitz den Bruder, der ihm wohl so nahe stand wie kein anderer, den, der ihm nicht „ynn die hand geschissen“ hatte, nachdem er ihn emporgebracht hatte, aus dem Ordenszusammenhang. Luther wusste wenigstens später, dass dies auch zu seinen Gunsten geschah: So konnte Staupitz, wenn der Papst ihm befehlen würde, Luther gefangen zu setzen oder zum Schweigen zu bringen, sich darauf zurückziehen, dass Luther nicht mehr unter seinem Befehl stand87. Dass dies nicht nur ein Selbstschutz war, sondern auch ein Schutz für Martin Luther, zeigt die dramatische Szene von Luthers Flucht aus Augsburg, an der mehrere zusammenwirkten: Staupitz selbst verschaffte Luther ein Pferd, der Augsburger Rat gab ihm einen Pfadfinder mit, und selbst noch der kaiserliche Rat Christoph Langemantel half mit, indem er ein Pförtchen öffnete, durch das Luther die Stadt verlassen konnte88. In dieser Szene drückt sich beides 83

WA.B 1,220,7–9 (Nr. 103). WA.B 1,241,227–242,231 (Nr. 110). 85 WA.B 2,245,3f (Nr. 366). 86 WA.TR 1,177,36f (Nr. 409): „Absolvo te ab oboedientia mea et commendo te Domino Deo“. 87 WA.TR 1,96,6–8 (Nr. 225). 88 WA 59,737,2–5. 84

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aus: die Fürsorge des Staupitz für Luther, aber auch, dass dieser seinen Weg nun allein gehen musste. Das war nicht nur die Vollendung eines Prozesses geistlicher Begleitung durch die Eigenständigkeit Luthers gegenüber seinem Mentor, sondern es war ein Geschehen von großer Ambivalenz: Hatte die Formel, die Staupitz verwandt hatte, wenn Luther sie richtig wiedergibt, die Empfehlung an Gott enthalten, so fasste er das Geschehen in den dreißiger Jahren ganz knapp so zusammen: „Doktor Staupitz löste mich in Augsburg vom Ordensgehorsam und ließ mich allein zurück“89. Versucht man dieses Geschehen in Augsburg im Sinne der trialogischen Struktur des Prozesses der geistlichen Begleitung zu deuten, die ein Beziehungsgefüge zwischen Begleiter, Begleitetem und Gott bewirkt90, so hätte nach der Lösungsformel des Generalvikars er selbst, Staupitz, sich aus dem Beziehungsdreieck zurückgezogen und den Weg für eine Beziehung zwischen Gott und Luther ohne seine weitere Vermittlung frei gegeben. Luther selbst aber empfand sich offenbar als den Hinausgeworfenen: Indem sein geistlicher Begleiter sich, wenn auch aus Gründen, die in seiner formalen ordensrechtlichen Funktion lagen, von ihm löste, so wurde dies gerade nicht durch die Beziehung zu Gott aufgefangen, sondern er war es, der aus dem Trialog hinaus geworfen und allen gelassen war. Er drückte dies auch fast noch schärfer aus, wenn er Staupitz in eine Reihe mit seinen späteren Feinden rückte: „Ich bin dreimal exkommuniziert worden, das erste Mal von Doktor Staupitz, er hat mich in Augsburg vom Gehorsam gegenüber der Ordensregel entbunden, damit er sich, wenn der Papst ihn bedränge, mich gefangen zu nehmen oder mir Schwiegen zu gebieten, mit dem Verweis entlasten könnte, dass ich nicht unter seinem Gehorsam stünde; das zweite Mal vom Papst selbst, das dritte Mal vom Kaiser selbst.“ 91

Das ist ein für die üblichen Bilder vom Verhältnis zwischen Luther und Staupitz unübliches Bild, aber wahrscheinlich drückt keines schärfer die Schwierigkeiten aus, in die diese geistliche Beziehung nun geriet. Noch im September 1518, also kurz vor dem Verhör in Augsburg hatte Luther an Staupitz geschrieben: „Wenn ich auch von Menschen exkommuniziert werden sollte, fürchte ich allein, dir Anstoß zu geben, auf dessen von Gott gegebenes rech-

89 WA.TR 1,442,1f (Nr. 884): „absolvit me Doctor Stupitius ab oboedientia ordinis et reliquit me solum Augustae“. 90 Ich folge hier SCHAUPP, KLEMENS, Geistliche Begleitung – Abgrenzung und Kooperation mit anderen Begleitungsdiensten, in: „Da kam Jesus hinzu ...“ (Lk 24,15). Handreichung für geistliche Begleitung auf dem Glaubensweg, ed. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2001, 70. 91 WA.TR 1,96,5–9 (Nr. 225): „Ego ter sum excommunicatus, primo a Doctore Staupizio, is Augustae me absolvit ab observantia et regula ordinis, ut, si papa urgeret, ut me caperet aut mihi mandaret silentium, posset se excusare, quod non essem sub sua oboedientia; secundo ab papa ipso, tertio ab ipso caesare“; vgl. ähnlich WA.TR 177,31–35 (Nr. 409).

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tes und glaubensvolles Urteil in den Dingen allein ich traue“92. Nun aber hatte der, durch den er Gott selbst hörte, ihn selbst exkommuniziert. Von diesem Stoß wurde die Beziehung offenbar nicht wieder geheilt, die in den folgenden Jahren den größten Herausforderungen ausgesetzt wurde. Zusehends trennten die Wege sich: Auf der einen Seite steht Staupitz, dem die Dinge soweit über den Kopf wuchsen, dass er kurz nach Erlass der Bannandrohungsbulle gegen Luther am 28. August 1520 sein Amt als Generalvikar niederlegte93. Zwei Jahre später verließ er gar den Orden– freilich nicht, um sich dem reformatorischen Lager anzuschließen, sondern um in den Benediktinerorden zu wechseln und seine beiden letzten Lebensjahre – bis zu seinem Tod am 288. Dezember 1524 als Abt des Petersklosters in Salzburg zu verbringen94. Auf der anderen Seite aber steht Martin Luther, der rasch zu einer Person von öffentlichem Interesse wird, dessen Autorität in Wittenberg bald alles überlagert, was Staupitz dort je an Ansehen genossen hat, und der doch wiederholt und immer wieder auch um seinen geistlichen Vater ringt. Zwar wiederholte Staupitz auch in dieser Situation, was sein beständiger Rat war: Luther bleibe nun, so heißt es in einem Brief aus dem Dezember 1518, nichts als das Kreuz Christi95 – aber der Zuspruch, den er erfährt, reicht dem verunsicherten Luther nicht: Schon zwei Monate später klagt er, dass er zu wenig Briefe von Staupitz empfange96, und im Oktober 1519 schrieb er ihm von einem Traum: Staupitz habe ihn verlassen, er sei weinend und voller Schmerz zurückgeblieben, da habe Staupitz seine Hand bewegt, ihm Ruhe geboten und seine Wiederkehr verheißen97, und in demselben Brief begehrte er auf: „Was willst du von mir? Du lässt mich allzu sehr im Stich. Ich war diesen Tag über dich voller Trauer wie ein abgestilltes Kind über seine Mutter“98. Feminine Bilder für Männer waren für Verhältnisse geistlicher Begleitung im Mittelalter durchaus vertraut: Auch Bernhard von Clairvaux hatte in seiner berühmten Schrift De consideratione. Ad Eugenium Papam sein eigenes Verhältnis zu dem früheren Mitbruder als ein mütterliches beschreiben können99. Bei Luther aber kommt hinzu, dass er auch in anderen Zusammenhängen diese feminine Bildwelt zur Beschreibung höchster emotionaler Erregung gebraucht: So sieht er sich Jahre später durch den Tod der Tochter Elisabeth weich werden 92 WA.B 1,194,9f (Nr. 89): „si excommunicer ab homine, te unum timeo offendere, cui confido iudicium in rebus datum a Deo rectum et fidele“. 93 HAMM, Staupitz – Vater der Reformation (wie Anm. 12), 14. 94 HAMM, Stuapitz – Vater der Reformation (wie Anm. 12), 15. 95 WA.B 1, 267,4f (Nr. 119). 96 WA.B 1, 344,4–7 (Nr. 152). 97 WA.B 1,515,75–77 (Nr. 202). 98 WA.B 1,514,49f (Nr. 202). 99 BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke. Lateinisch / deutsch, ed. v. Gerhard B. Winkler, Bd. 1, Innsbruck 1990, 626,16.

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wie eine Frau100 und jubelt umgekehrt, als wenig später bei Katharina schon wieder eine Schwangerschaft festgestellt wird, er habe ein Töchterlein in utero101. Hier, im Verhältnis zu Staupitz, identifiziert er nicht sich selbst, sondern sein Gegenüber als Frau: den geistlichen Vater als Mutter. Der Schritt der Entwöhnung, der Trennung von der intimen Beziehung zwischen Kind und Mutter, markiert für ihn einen Einschnitt, den er nicht allein rational verarbeiten kann: Aufbegehren und Traum – und, ein wichtiger zusätzlicher Schritt, Mitteilung des Traums – nehmen ihn in einer Zeit, in der er mit einer Fülle äußerer Sorgen befasst ist, gefangen, bringen ihm aber Staupitz nicht zurück. Fünfzehn Monate später muss er sein Ringen intensivieren, der Staupitz, den er kannte, droht ihm zu entgleiten: Er ruft ihm in einem Brief im Januar 1521 in Erinnerung, was Staupitz ihm in Augsburg gesagt hatte: „Sei eingedenk, Bruder, dass du dies im Namen unseres Herrn Jesus Christus begonnen hast“102 und kehrt den Appell um: „Sei auch Du dessen eingedenk, dass Du dieses Wort zu mir gesagt hast“103. Und auch in der Folgezeit sieht er sich immer wieder genötigt, den geistlichen Vater, der ihm zu entgleiten droht, an frühere Gemeinsamkeit zu erinnern: Als Staupitz seine Bereitschaft erklärt, sich dem Urteil des Papstes zu unterwerfen, schärft Luther ihm im Februar 1521, kurz nachdem der Bann über ihn ausgesprochen wurde, ein, dass der Papst mit seiner Bulle auch all das verurteilt hat, „was du bislang gelehrt und gedacht hast“104. Und nun hat sich das Verhältnis der geistlichen Leitung endgültig umgekehrt oder doch mindestens in ein Gleichgewicht verkehrt: „Wie Du mich zu Demut ermahnst, so sehr ermahne ich dich zum Stolz. Du hast zu viel an Demut, so wie ich zu viel an Stolz habe“105. In solchen Sätzen, die der eben Gebannte, kurz vor der Reichsacht Stehende spricht, hört man nicht mehr das eben entwöhnte Kind, sondern es ist eine Ebenengleichheit entstanden. Staupitz hat dies letztlich realisiert und akzeptiert, ja, er selbst hat deutlich gemacht, dass die Verhältnisse sich umgekehrt haben: Nach seinem Übertritt zum Benediktinerorden, den Luther grollend kommentiert hat, ohne Staupitz die Anrede als pater zu entziehen106, versichert Staupitz ihn in seinem Todesjahr am 1. April 1524 noch einmal seiner Liebe, die größer ist als Frauenliebe (vgl. 1 Sam 1,26) und beantwortet Luthers Zuspruch, dass durch 100

WA.B 4,511,3–6; vgl. LEPPIN, Luther privat (wie Anm. 43),56. WA.B 4,541,9f; vgl. LEPPIN, Luther privat (wie Anm. 43), 25. 102 WA.B 2,245,3f (Nr. 366): „Memor esto, frater, te ista in nomine Domini nostri Ihesu Christi incepisse“. 103 WA.B 2,245,7f (Nr. 366): „Memo esto et tu, hoc te verbum ad me dixisse“. 104 WA.B 2,263,18f (Nr. 376) „in ist bulla damnarit omne, quicquid de misericordia Dei hactenus et docuisti et sapuisiti“. 105 WA.B 2, 263,24–26: „quantum tu me ad humilitatem exhortaris, tantum ego te ad superbiam exhortor. Tibi adest nimia humilitas, sicut mihi nimia superbia“. 106 WA.B 2,566–568 (Nr. 512); WA.B 3,155–157 (Nr. 659). 101

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ihn, Staupitz, erstmals das Licht des Evangeliums „in unseren Herzen“ aufgestrahlt sei107, mit dem Bekenntnis: „Viel schulden wir dir, Martin, der du uns von den Schweineschoten zu den Weiden des Lebens geführt hast, zu den Worten des Heils“108. Das schreibt ein Benediktinerabt, der sehr bewusst beim alten Glauben und der Kirche des Papstes geblieben ist. Es schreibt der geistliche Vater an den, der durch ihn wiedergeboren wurde. Der gemeinsame Weg war nicht mit Augsburg zu Ende gegangen, trotz der äußeren Trennung. Doch die Gewichte hatten sich verändert. Nicht mehr Staupitz hatte die führende Rolle inne, sondern Luther.

107

WA.B 3,155,7–156,8 (Nr. 659). WA B 3,264,22–24: „Debemus tibi, martine, multa, qui nos a siliquis porcorum reduxisti ad pascua vitae, ad verba salutis“. Im selben Brief kritisiert Staupitz an Luther vor allem, dass er viele Fragen, über die das Evangelium keine letzte Sicherheit gibt, etwa das Mönchtum, zu einseitig entscheide. Dies muss als letzte Begründung für seine Trennung von Luther stehen bleiben. 108

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„omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“ Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro1 nostro Christianno“.2 Das schrieb Luther am 31. März 1518 seinem Beichtvater Johannes von Staupitz. Ein knappes halbes Jahr nach Abfassung und Versendung der Thesen über den Ablass fühlte er sich genötigt, seinem Mentor zu erläutern, wie er in den ganzen Trubel geraten war, der sich um ihn zu entfalten begann. Deutlich wie selten hat er sich dabei in die Tradition der spätmittelalterlichen Mystik eingeordnet: Das neben dem Mystiker Johannes Tauler3 genannte Büchlein dürfte die Theologia Deutsch sein4, also gleichfalls ein Zeugnis der Mystik des 14. Jahrhunderts.5 Den Grund für diese Einordnung in die mystische Tradition dürfte er weniger in den einzelnen Äußerungen zum Ablasswesen gesucht haben, als in der theologischen Grundlegung seiner Thesen. In der ersten These heißt es: „Do-

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„Aurifaber“ ist trotz der Großschreibung als Berufsbezeichnung von Christian Düring zu verstehen. Christian Düring, der von Beruf Goldschmied war (s. BENZING, JOSEF, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. Aufl., Wiesbaden 1982, 499), war Verleger der vollständigen Ausgabe der Theologia Deutsch, Drucker war Johannes Grunenberg (s. WA.B 1,161). 2 WA.B 1,160,8f.: „Freilich bin ich der Theologie Taulers und jenes Büchleins gefolgt, das du neulich unserem Christian Goldschmied in den Druck gegeben hast“. Auf diese Stelle verweist dezidiert auch MÜLLER, ALPHONS VICTOR, Luther und Tauler auf ihren theologischen Zusammenhang neu untersucht, Bern 1918, 23f., der insgesamt die Bedeutung Taulers für Luther aber drastisch überzieht. 3 Die Tatsache, daß Tauler bei SCHWARZ, REINHARD, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968, im Register nicht erscheint, zeigt, daß dieser Zusammenhang bislang deutlich unterschätzt wurde. 4 Zu dieser Identifizierung s. WA.B 1,61; BoA VI,10. 5 So die Datierung bei HAAS, ALOIS MARIA, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern et el. 1995, 267; ebenso VON HINTEN, WOLFGANG, Art. Der Franckforter (‚Theologia Deutsch‘), in: VerLex 2, Berlin / New York 1979, 802–808, unter Verweis auf sprachliche Gründe und die Überlieferung im Zusammenhang mit Tauler und Eckhart.

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minus et magister noster Iesus Christus dicendo ‚penitentiam agite etc.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“.6 Die zweite zieht die kritischen Konsequenzen daraus: „Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi“.7 Dieses radikale, ganzheitliche Bußverständnis läßt sich in der Tat mit bestimmten Elementen der mystischen Tradition in Verbindung bringen. Um dies zu zeigen, soll im Folgenden zunächst eine frühe Selbstdeutung Luthers behandelt werden, in der er die Entdeckung eines neuen Bußverständnisses beschreibt (I.). Daß und inwiefern dies in Zusammenhang seiner Mystikrezeption stand, wird ein zweiter Abschnitt zeigen (II.). Sodann wird Luthers Ausbau dieses Bußverständnisses jenseits der unmittelbaren Rezeption mystischer Texte und seine frühe Anwendung auf die Ablassthematik dargestellt (III.). Schließlich soll gezeigt werden, welche Folgerungen diese Darlegungen für ein Gesamtverständnis von Luthers reformatorischer Entwicklung haben (IV.).

1. Ein doppelter Durchbruch beim jungen Luther? Die Erforschung des jungen Luther und seiner sogenannten „reformatorischen Wende“ hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder das berühmte Selbstzeugnis Luthers von 1545 in den Mittelpunkt gerückt. Im Vorwort zum ersten Band seiner lateinischen Schriften legt Luther dar, wie sich ihm die Ereignisse zu Beginn der Reformation nach 30 Jahren in der Rückschau darstellten. Der theologische Kern dieser Selbstdarstellung und -auslegung ist die Beschreibung, wie Luther sich von einem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als einem Lohn und Strafe verteilenden Prinzip gelöst hat und die Gerechtigkeit Gottes in dem Sinne zu verstehen lernte, daß Gott durch sie den Menschen im Glauben gerecht mache. Leider ist der Reformator bekanntlich gerade bei der Datierung dieses Durchbruchs nicht ganz klar, und so hat dieses Vorwort soviel philologische Bemühungen hervorgerufen wie kaum ein anderes Dokument aus der Kirchengeschichte.8 6 WA 1,233,10f: „Als unser Herr und Lehrer Jesus Christus sprach: ‚Tut Buße‘, da wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“. 7 WA 1,233,12f: „Dieses Wort ist nicht das, was unter sakramentaler Buße (wie sie im priesterlichen Dienst in Beichte und Genugtuung vollzogen wird) zu verstehen ist“. 8 S. die Forschungsüberblicke von PESCH, OTTO HERMANN, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Cath(M) 20 (1966), 216–243. 264–280; DERS., Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers „Reformatorischer Wende“, Cath(M) 37 (1983), 259–287; Cath(M) 38 (1984), 66–133; ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Die Erforschung des „jungen Luther“ seit 1876, in: LuJ 50 (1983), 48–125.

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Diese Prominenz verdankt das Vorwort von 1545 letztlich dem Lutherbild der Hollschule: Der Konzentration auf das Rechtfertigungsverständnis in der Luther-Renaissance Anfang unseres Jahrhunderts gab die Schilderung eines Durchbruchs anhand des iustitia-Begriffs reiche Nahrung. Leider aber hat dieses theologisch berechtigte Interesse ein anderes Zeugnis weitgehend in den Hintergrund gedrängt, das noch für Reinhold Seeberg das Schlüsseldokument zur Erklärung von Luthers reformatorischer Wende war9: das Widmungsschreiben an Johannes von Staupitz, das Luther am 30. Mai 1518 den Resolutiones, der ausführlicheren Erläuterung seiner Ablassthesen, voranschickte. Auch darin spricht Luther von einem theologischen Durchbruchserlebnis – und dies nicht im Rückblick von dreißig Jahren, sondern noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens. Theologisch geht es dabei um ein neues Bußverständnis: Staupitz hat den in Sorgen um seine Erwählung10 befangenen Luther darauf hingewiesen, daß Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott am Anfang der Buße stehe und nicht ihr Ziel sei.11 Legt man diesen Text neben das berühmte Selbstzeugnis von 1545, so zeigt sich, daß – freilich an jeweils verschiedenen Stellen des Berichts – einige ganz auffällig parallele Elemente auftreten, die deutlich machen, daß Luther hier zweimal Erschließungsvorgänge beschreibt, die der Sache nach verschieden, dem Ablauf nach aber sehr ähnlich sind.12 Zur Verdeutlichung werden sie hier einander systematisch geordnet gegenübergestellt:

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SEEBERG, REINHOLD, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4 / 1, 5. Aufl., Darmstadt 1954, 66f. Ebd. 67 Anm. 2 wendet Seeberg sich ausdrücklich gegen die Beschränkung der Sicht der reformatorischen Entwicklung auf rechtfertigungstheologische Zusammenhänge. Noch 1926 fühlte sich STRACKE, ERNST, Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator, Leipzig 1926, 119f, genötigt, sich mit diesem Text immerhin auseinanderzusetzen. Seitdem spielt es nur noch gelegentlich eine hervorgehobene Rolle, so etwa bei OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“. Luther und die scholastischen Lehren von der Rechtfertigung, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, 413–444, hier: 430, oder – bezeichnend angesichts seiner betont biographischen Methode – bei ALAND, KURT, Der Weg zur Reformation, München 1965, 63. Eine ausführliche Würdigung findet sich freilich bei WETZEL, RICHARD, Staupitz und Luther, in: Volker Press / Dieter Stievermann (Hg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, 75–87. 10 Vgl. hierzu WETZEL, Staupitz und Luther (wie Anm. 9), 75. 11 Zum Hintergrund der Sorgen Luthers in der Auseinandersetzung um Attritionismus und Kontritionismus s. SEEBERG, Lehrbuch (wie Anm. 9), 65; zur konkreten Verwurzelung des Bußrates in Staupitz’ Theologie s. WETZEL, Staupitz und Luther (wie Anm. 9), 79, zu der Schrift „De exsecutione aeternae praedestinationis“ von Staupitz. 12 Hierauf verweist auch dezidiert WETZEL, Staupitz und Luther (wie Anm. 9), 80.

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Erstens: In beiden Fällen spricht Luther davon, daß ihm ein Wort bislang unverständlich beziehungsweise verhaßt gewesen sei und nun besonders angenehm, „süß“, geworden sei: 1518 „... ita, ut, cum prius non fuerit ferme in scriptura tota amarius mihi verbum quam ‚poenitentia‘ (licet sedulo etiam coram deo simularem et fictum coactumque amorem exprimere conarer), nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet quam ‚poenitentia‘.“ (WA 1,525,18–21)

1545 „Iam quanto odio vocabulum ‚iustitia Dei‘ oderam ante, tanto amore dulcissimum mihi vocabulum extollebam ...“ (WA 54,186,14f)

Zweitens: In beiden Fällen macht Luther durch die gewählte Bildlichkeit deutlich, daß die Entdeckung der neuen Wortbedeutung einen Erschließungscharakter im Blick auf das Jenseits hat, der über bloß immanente philologische Entdeckungen hinausgeht: 1518 „... te velut e caelo sonantem excepimus ...“ (525,10f)

1545 „Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse. ..., ita mihi iste locus Pauli fuit vere porta paradisi.“ (186,8f. 15f)

Drittens: In beiden Fällen folgt auf diese Entdeckung einer Überprüfung und Bestätigung des Gefundenen an der gesamten Heiligen Schrift: 1518 „... coepique deinceps cum scripturis poenitentiam docentibus conferre, Et ecce iucundissimum ludum, verba undique mihi colludebant planeque huic sententiae arridebant et assultabant ...“ (525,15–18)

1545 „Discurrebam deinde per scripturas, ut habebat memoria, et colligebam etiam in aliis vocabulis analogiam, ut opus Dei, id est, quod operatur in nobis Deus, virtus Dei, qua nos potentes facit, sapientia Dei, qua nos sapientes facit, fortitudo Dei, salus Dei, gloria Dei.“ (186,10–13)

Bei allen Unterschieden in der theologischen Sache beschreibt Luther also 1518 und 1545 zwei strukturell ganz ähnliche Vorgänge: Jeweils ein Wort aus der Bibel ist für ihn durch die traditionelle Deutung negativ besetzt. Und diese negative Besetzung wird dann durch ein neues Verständnis nicht nur neutralisiert, sondern es geschieht ein völliger Umschlag in eine positive Besetzung. Diese positive Besetzung aber führt in beiden Fällen zu intensiver theologischer Auseinandersetzung mit der neu erfaßten Bedeutung des jeweiligen Begriffs, der Buße einerseits, der Gerechtigkeit andererseits. Diese Duplizierung des Durchbruchserlebnisses wirft unweigerlich die Frage auf, ob Luther ein oder zwei Durchbrüche erlebt hat – oder vielleicht

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gar keinen.13 Es ist hier unter drei Deutungsmöglichkeiten abzuwägen: Die erste wäre, daß beide Berichte Luthers wiedergäben, was tatsächlich passiert ist: Luther hätte dann zunächst ein erstes Durchbruchserlebnis gehabt, 1518 hiervon berichtet und wohl noch im selben Jahr ein ganz ähnliches zweites Durchbruchserlebnis erfahren. Niemand wird diesen Verlauf der Ereignisse ausschließen können, aber wahrscheinlich ist er nicht. Die zweite Möglichkeit wäre: Nur einer der beiden Berichte ist in historischem Sinne korrekt, Luther hatte nur ein Durchbruchserlebnis.14 Die zeitliche Priorität spräche dann dafür, daß allein der Bericht von 1518 ein tatsächliches Ereignis wiedergäbe. Luther hätte dann 1545, als er das Durchbruchserlebnis mit dem Begriff der Gerechtigkeit statt dem der Buße verband, geirrt oder den Ablauf bewußt falsch dargestellt. Diese Deutung würde die Datierungsschwierigkeiten des Selbstzeugnisses von 1545 bestens klären: Bekanntlich weisen die äußerlich verifizierbaren Angaben hier einerseits auf die Zeit der zweiten Psalmenvorlesung, also um 1518/915, andererseits in die Zeit vor der Paulusexegese – das aber ist, wie unten zu zeigen sein wird, die Zeit, in die der frühe Bericht die Entdeckung des neuen Bußverständnisses legt. Das frühere Datum wäre dann Rudiment einer Erinnerung Luthers an das „richtige“ Datum des psychologischen Durchbruchs, das spätere Datum dagegen gäbe die Zeit einigermaßen korrekt an, in der ohne psychologischen Durchbruch die theologische Wende zum iustitia-Begriff erfolgt wäre. Eine solche Deutung liefe aber Gefahr, beide Texte gegeneinander auszuspielen. Am sinnvollsten scheint es daher, den wirklich auto-biographischen Charakter beider Texte herauszustreichen. Beide Texte berichten aus der Rückschau. Für beide berichteten Durchbrüche gibt es keinen brieflichen Beleg unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens, sondern eben nur den Rückblick aus der Distanz. Man kann die Nähe beider Texte sogar noch schärfer hervorheben: In beiden Fällen will Luther gegenüber der Öffentlichkeit – auch das Widmungsschreiben an Staupitz wurde mit den Resolutiones mitgedruckt – seine Entwicklung deuten und, unter je verschiedenen Aspekten, legitimieren: 1518 wollte Luther die Rechtgläubigkeit seiner Ablasskritik herausstreichen; 1545 wollte er sich für frühere allzu altgläubige Aussagen damit entschuldigen, daß er eben erst spät zu seiner Erkenntnis gekommen war. 13

Schon Heinrich Bornkamm hat dafür votiert, die Rede von einem „Turmerlebnis“ oder einem psychologisch beschreibbaren „Durchbruch“ ganz fallen zu lassen (Probleme der Lutherbiographie, in: Vilmos Vajta (Hg.), Lutherforschung heute. Referate und Berichte des 1. Internationalen Lutherforschungskongresses Aarhus 18.-23. August 1956, Berlin 1958, 15– 23, hier: 17). 14 Dies erklärt STRACKE, Luthers großes Selbstzeugnis (wie Anm. 9), 119f – und versucht von hieraus die Historizität des Zeugnisses von 1519 zu bestreiten. 15 Zur Datierung s. die Ausführungen von HAMMER, GERHARD in: Archiv zur Weimarer Ausgabe 1, 108–113.

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Was Bernd Ulmer in einer soziologischen Kommunikationsanalyse für Bekehrungserlebnisse im Allgemeinen aufgewiesen hat16, gilt auch im speziellen für die beiden behandelten Zeugnisse Luthers: Beide sind autobiographische Texte im Sinne einer legitimatorischen Re-konstruktion von Biographie. Luther beschreibt nicht erinnernd einen realen Vorgang, sondern er stilisiert und verdichtet in der Erinnerung theologisch entscheidende Entwicklungen zu psychologischen Durchbruchserfahrungen. Und mit dieser Selbststilisierung ordnet er sich zweimal im Laufe seines Lebens in ein von Oberman aufgezeigtes, vorgegebenes Muster der plötzlichen Bekehrung ein17, das sich schon bei Paulus und bei Augustin findet.18 Tatsächlich hat es einen solchen punktuellen Durchbruch in Luthers Leben wohl nie gegeben, sondern eine kontinuierliche Entwicklung – das gilt für die Entdeckung der Rechtfertigungsbotschaft, aber auch für die Entdeckung des neuen Bußverständnisses. Im Blick auf letzteres ist freilich gerade die Selbstdeutung im Sinne einer bruchartigen Entwicklung besonders bemerkenswert, da es ja um ein „vorreformatorisches“ Geschehen gehen müßte: Die einschneidende Wende im Verständnis der Buße steht ausdrücklich in Kontinuität zu Staupitz. Theologische Kontinuität und Selbstdeutung im Sinne eines biographisch-psychologischen Durchbruchs stehen also nebeneinander. Diese eigenartige Konstellation ermöglicht es, Luthers Entwicklung aus dem späten Mittelalter heraus etwas genauer zu verstehen, als es die Fixierung auf die „reformatorische Wende“ allein erlaubt. Luthers eigene Aussage erweist Martin Brechts Einschätzung, die Theologie des späteren Reformators sei in dieser frühen Zeit „dunkel und schwer“ und lasse „die hellen Töne der christlichen Botschaft ... nicht aufkommen“19, als Mißverständnis. Von Dunkelheit ist in dem Widmungsschreiben an Staupitz aus dem Jahr 1518 keine Rede. Im Gegenteil: In Zusammenhang mit seiner Wende zu einem neuen Bußverständnis spricht Luther freudig von einer Stimme vom Himmel und von dem überaus süßen Heiland.20

2. Luthers Rezeption des mystischen Bußbegriffs Mit der Verwendung der Begriffe „süß“ für den Heiland und „bitter“ für sein früheres Verständnis von Buße, bewegt sich Luther in einem Wortfeld, das 16

ULMER, BERND, Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattungen. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: ZfS 17 (1988), 19–33. 17 OBERMAN, „Iustitia Christi“ und „Iustitia Dei“ (wie Anm. 9), 424. 18 Auf beide verweist in seine sonst auf die Gegenwartsproblematik ausgerichteten Untersuchung ausdrücklich auch ULMER, Konversionserzählungen (wie Anm. 16), 19. 19 BRECHT, MARTIN, Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 31990, 133. 20 WA 1,525,22.

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ganz zu dem eingangs angeführten Hinweis Luthers auf die Mystik paßt. Die Rede von einem süßen Christus21 hängt für Luther offenkundig mit der Mystik zusammen: Am 14. Dezember 1516, kein ganzes Jahr vor der Thesenpublikation, hatte Luther Spalatin die Predigten Johannes Taulers empfohlen und hierzu in fast sakramentalem Sinne geschrieben, er möge hieraus schmecken und sehen, wie süß der Herr ist, nachdem er gesehen habe, wie bitter alles ist, was wir sind.22 Schon dieser sprachliche Zusammenhang zeigt Taulers Bedeutung für Luthers neuen Bußbegriff. Aus seinem Widmungsschreiben an Staupitz geht denn auch in der Tat hervor, daß er von Staupitz zwar – nach der Datierung von Martin Brecht wohl 151523 – den Anstoß zu einem neuen Bußverständnis erfahren hat, daß er darin aber erst nach und nach sicher geworden ist: Zunächst hat er sich den Schriftstellen über die Buße zugewandt, und schon dadurch wurden ihm das Wort Buße und die Vorschriften Gottes süß, ja, er drang gar zum allersüßesten – dulcissimus – Heiland vor. Danach aber stieß er darauf, daß Christi Bußruf im griechischen Original ja „metanoeite“ heißt24: „Ändert euren Sinn!“25 Und in diesem Zusammenhang vermerkt Luther dann ausdrücklich, daß er diese Erkenntnis gelehrten Kennern der alten Sprachen verdanke. Dabei dürfte er an das Neue Testament des Erasmus denken.26 Dann aber muß jener Prozeß, in dem er vom bitteren Wort der Buße zum süßen Christus gelangte, zwischen dem Gespräch mit Staupitz über das Problem der Buße im Frühsommer 1515 und der Begegnung mit dem neuen Testament des Erasmus im Frühjahr 151627 liegen. Damit kommt man recht genau in den Zeitraum, in den – bei allen Schwankungen – die meisten Forscher Lu-

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Zur Begriffsgeschichte des Wortes „süß“ s. OHLY, FRIEDRICH, Geistige Süße bei Otfried, in: DERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, 93– 127. 22 WA.B 1,79,58–64: „Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarus est, quicquid nos sumus“. 23 BRECHT, Luther 1 (wie Anm. 19), 181. 24 Wörtlich spricht er von Studien derer, die Griechisch und Hebräisch können, er dürfte aber wohl das NT des Erasmus meinen, das ja 1516 erschien. 25 WA 1,530,20f. Dieser Prozeß erfolgte wiederum zweistufig: Zunächst deutete Luther metanoia auf „post“ und „mens“, dann auf „trans“ und „mens“: Zunächst also sollte es bedeuten: nach der vollen Erkenntnis. 26 So WETZEL, Staupitz und Luther (wie Anm. 9), 81. ALAND, Weg (wie Anm. 9), 64, denkt allerdings ganz allgemein an Luthers Griechisch-Studien und kommt damit in eine viel frühere Zeit. 27 Der Erasmus-Text erschien am ersten März 1516 in Basel (s. ALAND. BARBA2 RA / ALAND, KURT, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1989, 13). Luther benutzte ihn spätestens seiner Auslegung von Röm 9,19 an (WA 56,400,15).

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thers Tauler-Lektüre datieren.28 Von dieser Lektüre legen die berühmten eigenhändigen Randbemerkungen in der von ihm benutzten Predigtsammlung des Mystikers deutliches Zeugnis ab. Im selben Jahr fielen Luther auch Ausschnitte der eingangs gleichfalls erwähnten Theologia Deutsch in die Hände. Er war so angetan von dieser Schrift – die er für eine Zusammenfassung Taulers hielt29 -, daß er sie am vierten Dezember in den Druck ausgehen ließ.30 Freilich ist diese intensive Mystik-Rezeption inhaltlich nur schwer exakt zu fassen. An vielen Stellen enthalten Luthers Randbemerkungen nur schlichte Gliederungshinweise31 oder Worterklärungen.32 Einen signifikanten Hinweis auf die Art der Rezeption gibt allerdings die Bemerkung: „Hoc nota tibi“. Luther hob damit die Aufforderung zur freudigen Selbstverachtung hervor. Nach dem Aufruf, sich immer wieder zu Gott zu bekehren, hatte Tauler geschrieben: „... so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes“

– an dieser Stelle steht Luthers: „Hoc nota tibi“, und bei Tauler geht es weiter: „in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit“.33 Nach dem Kontext bei Tauler geht es hier um die wahre contritio, die wirkliche Reue über die eigenen Vergehen. Damit ist der bußtheologische Zusammenhang angesprochen. Tauler fordert im Folgenden seine Hörer – beziehungsweise vor allem seine Hörerinnen – auf, mit solcher inneren Zerknirschung nicht sofort zum

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Zu den Datierungsschwierigkeiten s. GRANE, LEIF, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), Leiden 1975, 122, der ebd. 121 von 1515/6 ausgeht; ebenso OZMENT, STEVEN E., Homo spiritualis, Leiden 1969, 185. ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Nos extra nos, Tübingen 1972, 97, geht in die Anfänge der RömVorlesung. Sicher läßt sich sagen, daß Luther schon zu Röm 8 – also vor dem Verweis auf Erasmus – ausdrücklich auf Tauler verweist (s. WA 56,378,13). 29 WA.B 1,79,61. 30 Diese Deutung der „scripturae“ auf Tauler und die Theologia Deutsch gewinnt zusätzliches Gewicht, wenn man bedenkt, daß Luther nur zwei Monate zuvor, am 31. März 1518, ja an Staupitz mit dem eingangs zitierten Brief auf eben diese beiden Schriften rekurriert hatte. 31 WA 9,98,35ff. 32 S. etwa „confiteri“ für „bejehen“ WA 9,100,23. 33 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 355,36–356,2; vgl. TAULER, JOHANNES, Predigten, ed. und übers. von Georg Hofmann, Freiburg 1961, 455: „Beeile dich ... und dringe so ungestüm in Gott, daß dir die Sünden entfallen und du sie nicht mehr weißt, wenn du damit zur Beichte kommst. Dies darf dich nicht erschrecken; denn nicht zu deinem Schaden widerfährt dir das, sondern zur Erkenntnis deines Nichts und zur Verschmähung deines eigenen Selbst in Gelassenheit, nicht in Niedergeschlagenheit“.

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Beichtvater zu laufen. Hier hat Luther an den Rand geschrieben: „utilissimum consilium“.34 Um die volle Bedeutung dieser Bemerkung Luthers einschätzen zu können, muß man sich klarmachen, daß das, was Luther hier so begeistert kommentierte, bei Tauler keineswegs isoliert steht, sondern in gewisser Weise das Zentrum seiner mystischen Theologie ausmacht35: Als Voraussetzung der mystischen Einung mit Gott beschreibt Tauler immer wieder die Notwendigkeit der Selbstzerknirschung: Wahre Selbsterkenntnis führt erst dazu, daß der Mensch ganz sein Eigenes aufgibt. Und erst wenn er sein Eigenes aufgegeben hat, kann Gott den Menschen ganz von innen auffüllen, mystisch gesprochen: Gott kann in der Seele des Menschen aufs Neue geboren werden. Für das Verständnis Taulers wie auch seines begeisterten Lesers, des jungen Mönchs und Professors Martin Luther, ist die Feststellung wichtig, daß Zerknirschung und Demütigung der Menschen nichts Destruktives, Finsteres sind, sondern der wirksamste Weg dazu, Gott Raum zu schaffen36: „in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit“. Vor diesem Hintergrund leuchtet es unmittelbar ein, daß der Gang zum Beichtvater sekundär werden konnte: Die Vermittlungsinstanz des Priesters verlor ihre absolute Notwendigkeit. Damit aber erscheint diese Stelle in Luthers Tauler-Rezeption geradezu wie ein Vorbild seiner ersten und zweiten Ablassthese: Die Vertiefung und Verinnerlichung der Buße führt implizit und explizit zu einer Relativierung der sakramentalen Bußpraxis: Das Bußgeschehen löst sich von der punktuellen Beichtgelegenheit und wird zu einem Zentralvorgang christlichen Lebens.37 Selbst noch die konsequente Folgerung Luthers, daß dann das ganze Leben der Gläubigen Buße sein müsse, dürfte von Tauler inspiriert sein: Eben an jener Stelle, die Luther mit den Randbemerkungen „Hoc nota tibi“ und „utilissimum consilium“ versah, heißt es wenige 34

WA 9,104,11ff. S. zu diesem Tauler-Verständnis, LEPPIN, VOLKER, Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), 745–748; sowie: GNÄDINGER, LOUISE, Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, 121. 36 Vgl. noch in den „Resolutiones“: „Nam per contritionem homo redit in gratiam“ (WA 1,612,30f). Daß hier mystische Übertragungsvorgänge wie in der Freiheitsschrift eine Rolle spielen, zeigt die folgende Anrede Christi an den Zerknirschten: „Omnia mea tua sunt“ und der Verweis auf Röm 8,32: „Der auch seinen eigene Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ Es scheint auch methodisch wenig sinnvoll, einfach zu unterstellen, Luther habe bei Tauler nur gefunden, was er ohnehin gesucht habe, und nicht, was Tauler ihm geben wollte (so sehr dezidiert GRANE, Modus loquendi (wie Anm. 28), 123). Bei aller Berechtigung der Warnung von Grane, nicht ungeschützt Luther mit einem historisch rekonstruierten Bild vorheriger Theologen zu konfrontieren, ist doch auch der einschneidende Charakter der bußtheologischen Wende zu beachten, den Luther selbst hervorhebt. 37 Auf diese markante Ähnlichkeit zwischen Tauler und Luther weist auch MÜLLER, Luther und Tauler (wie Anm. 2), 123, hin. 35

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Zeilen zuvor bei Tauler über die Selbstanklage: „Dis ensol nut sin ines tages und des anderen nut: es sol sin alle tage, ane underlos solt du din selbs war nehmen“.38 Das, was bei Tauler der mystischen Umschreibung der Begegnung mit Gott dient, wird für Luther in dieser Zeit zur entscheidenden Voraussetzung des Glaubensbegriffs. Dies wird aus einer der wenigen längeren Passagen Luthers in seinen Randbemerkungen zu Tauler deutlich: Tauler war im Rahmen seiner Predigt über den großen Fischzug (Lk 5) auf die Gottesgeburt in der Seele zu sprechen gekommen. Und Luther folgerte aus diesen Ausführungen: „Et si sciamus, quod deus non agat in nobis, nisi prius nos et nostra destruat (i.e. per crucem et passiones), tamen adeo stulti sumus, ut eas velimus tantum suscipere passiones quas nos elegimus vel quas in aliis factas vidimus vel legimus“.39

Mit dem Grundgedanken, daß Gott zunächst uns und alles Unsere zerstören müsse, um an uns zu handeln, hat Luther Tauler sehr richtig verstanden, der an einer anderen Stelle Ps 42,8 mit den Worten „abyssus abyssum invocat, das abgrunde das inleitet das abgrunde“40 zitiert. Es ist gleichsam der mystische horror vacui, von dem Tauler und, ihm folgend, Luther in sündentheologischer Zuspitzung sprechen. Konkret aber lautet die Folgerung für Luther hieraus: „Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum.“41 Der von Tauler beschriebene Vorgang innerer Buße wird für Luther also, ineins mit dem Glauben an Gott, zum Zentrum des Heils: tota salus. Die vielfache Rede des jungen Luther von Zerknirschung und Demut ist nicht einfach Ausdruck eines merkwürdig skrupulösen Mönchtums, sie ist vielmehr Hinweis für den einzig möglichen Heilsweg, den Christus eröffnet hat42: Die Bu-

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TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 33), 355,31f; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 33), 455: „Das darf nicht an einem Tag sein und am andern nicht; es soll alle Tage sein; ohne Unterlaß sollst du dich selbst beobachten!“ 39 WA 9,102,10–13: „Und wiewohl wir wissen, daß Gott nur dann an uns handelt, wenn er zuvor uns und das Unsere zerstört hat (nämlich durch Kreuz und Leid), sind wir doch noch so töricht, daß wir nur solche Leiden auf uns nehmen wollen, die wir ausgewählt haben und von denen wir lesen oder sehen, daß sie anderen geschehen sind“. 40 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 33), 176,7; TAULER, Predigten (ed. Hofmann, wie Anm. 33), 315: „Abyssus abyssum invocat – Ein Abgrund ruft den anderen in sich hinein“). 41 WA 9,102,34–36: „Also besteht das ganze Heil in der Aufgabe des Willens, und zwar, wie er hier lehrt, bei allen Dingen, geistlichen wie weltlichen. Und im bloßen Glauben an Gott“. Schon Ende des Jahres formulierte Luther etwas vorsichtiger in einer Predigt am 21.12.: „initium salutis est nosse morbum et principium sapientiae timor Dei“ (WA 1,114,40f). 42 Dieser positive Zusammenhang wird schon allein daraus deutlich, daß Luther ja die Tauler-Predigten ausdrücklich als Darreichung der Süße Christi verstanden wissen wollte.

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ße beginnt ja nach seinem Widmungsschreiben an Staupitz mit der Liebe zu Christus, und sie ist nur von diesem Beginn her zu verstehen. Vor dem Hintergrund eines derartig heilsorientierten, auf die wahre Reue konzentrierten Bußverständnisses, wie es sich zuvor auch in der Mystik findet, gewinnt die vielfach als Demutstheologie beschriebene Theologie des jungen Luther eine positive Note, die der katholische Polemiker Grisar weit schärfer gesehen hat als lange nach ihm Ernst Bizer43: In dem Moment nämlich, da der Mensch sein Eigenes aufgibt, ist er frei für Gott.44 Mit der Ausführung: „als Ro. 1 Paulus sagt, das im evangelio gottis gnaden und tzorn offenbart wird. Wer das heret recht, der wirt demutig und erschrecket... Wann das gescheen ist, ßo ists tzeit und eben, das got kome“45, macht Luther den mystischen Umschlagspunkt deutlich.46 Erst vor dem Hintergrund jener mystischen Konzepte, die er begeistert aufnahm, wird deutlich, warum ihm seine Entdeckung eines neuen Bußverständnisses ein iucundissimus ludus wurde.47 Diese Gedanken waren nach Luthers späterer Selbstdeutung nicht randständig, sondern standen im Zentrum seines theologischen Verständnisses 48: 43 S. HARTMANN GRISAR, Luther, Bd. 1: Luthers Werden. Grundlegung der Spaltung bis 1530, Freiburg 31924, 176: „Luther faßt nun die Verzweiflungsstimmung unter den Namen humilitas (Demutsbekenntnis und Selbstverzicht) wiederholt nicht bloß als Erkennungsmittel der geschehenen Anrechnung Gottes und damit des glücklichen Heilsstandes auf, sondern auch geradezu als Rettungsmittel, das einzig dahin führt. Er preist die humilitas ... in mystischen Tönen als das Ideal der Frommen. Sie steht bei ihm fest an der Stelle des rechtfertigenden Spezialglaubens, zu dessen Entdeckung er erst später kommen wird“. Daß lange vor Bizer schon Grisar die Demutstheologie Luthers entdeckt hat, wird im Allgemeinen viel zu wenig beachtet. 44 Vgl. WA 1,272,33: „Nu kann keiner mehr haben, denn das er sich frey in gott gebe, es gehe wie es wolle und verzweivel an im selber“, und wenig später, nach Anführung einer fiktiven Gegenposition: „Ah du Narr, wenn du das empfindest, das in dir gewirckt ist, so ist die gnade schon da, folge du nur“ (Fastenpredigt von 1518). BIZER, ERNST, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 31966, 44 u. ö., hat diese und vergleichbare Stellen als bloße Annahmeakte voluntativ missverstanden: Es geht um einen mystischen Einungsvorgang – erst von hier aus wird das Positive, weil gleichsam Automatische de Heilszueignung in der Buße verständlich. Wie stark Bizer trotz seiner Hervorhebung der Besonderheit der Phase der Demutstheologie in diese noch rechtfertigungstheologische Zusammenhänge einträgt, zeigt sich ebd. 48, wo er entsprechende mystische Stellen in dem Sinne deutet, die Demut werde „angerechnet“. 45 WA 1,201,14ff (Die sieben Bußpsalmen). 46 Vgl. auch WA 1,85,20f (Predigt vom 21.9.1516): „Igitur veritas et iustitia, i.e. Christus, non venit, nisi ubi non est“, oder ebd. 115,2f, nach Ausführungen zur Erkenntnis der eigenen Sündigkeit, der die Gnade folgt: „Gratia autem infundit amorem“ (Predigt am 21.12.1517). 47 Wenn BRECHT, Luther 1 (wie Anm. 19), 133, bei dem Luther dieser Jahre nur mittelalterliche Düsternis und Schwerere entdeckt, geht dies an Luthers Selbstwahrnehmung völlig vorbei. 48 Demgegenüber ist es ein aufgrund schon vollzogener rechtfertigungstheologischer wende formuliertes Mißverständnis, wenn STRACKE, Selbstzeugnis (wie Anm. 9), 119f, den Wert

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Es ist nicht nur das theologische Teilstück der Buße, was ihm süß wird, sondern das neue Verständnis der Buße führt ihn nirgends anders hin als zum süßen Heiland, zum Inbegriff des Heils. Hier geht es nicht um einen theologischen Topos, hier geht es um das Ganze der Theologie und des Christentums. Das theologische Gewicht der Buße ist für Luther zu dieser Zeit nicht geringer als später das der Rechtfertigungslehre. Und das heißt: Der Luther des Jahres 1516 hat durch die Mystik ein neues Zentrum gewonnen. Den Zusammenhang zwischen Buße und Mystik unterstreicht auch ein Blick auf Luthers Edition der Theologia Deutsch, die er als eine Art Kompendium Taulerscher Lehre ansah. Damit ist seine Rezeption der Theologia Deutsch auch ein wichtiger Hinweis darauf, wie er Tauler insgesamt verstand. Die einzelnen Randbemerkungen geben ja nur jeweils Hinweise auf die eine oder andere Stelle, die Luther auffiel, nicht auf sein Gesamtverständnis. Dies ist aber nun bei der Theologia Deutsch der Fall. Kennzeichnend ist die Konzentration auf den Tod Adams in dem Text, den Luther 1516 auf das Titelblatt setzen ließ: „Ein geistlich, edles Buchlein von rechter underscheid und vorstand, was der alt und neu mensche sei. Was Adams und was Gottes kind sei. Und wie Adam inn uns sterben unnd Christus ersteen soll“.49

Den Tod des alten Adam und die Auferstehung Christi in uns beschreibt der anonyme Autor vor allem – nach heutiger Zählung – im 15. und 16. Kapitel.50 Gemeint ist bei ihm die Abkehr von der Selbstbezüglichkeit; die nämlich ist nach der Theologia Deutsch die Zentralsünde, weil sie die Abkehr vom Schöpfer bedeutet.51 Und die Abkehr von diesem selbstbezüglichen Ungehorsam bedeutet, so sagt der Autor wörtlich im 16. Kapitel, daß sie „gebusset“ werde52: Das Titelblatt des Erstdrucks, das wohl auf Luther selbst zurückgehen dürfte53, zeigt an, daß in der Tat im Zentrum dieses Buches ein Vorgang stand, den der Autor selbst als Buße bezeichnet hatte. Luther hat demnach diese kleine mystische Schrift ganz unter dem Aspekt der in ihr enthaltenen Bußtheologie betrachtet. Und das bedeutete wie bei des poenitentia-Zeugnisses mindern will, indem er behauptet, hier gehe es eben nur um den Teilaspekt der Buße, während es bei der iustitia ums Ganze gehe. 49 WA 1, 153. Vgl. zum Tod des inneren Adam als durch das opus alienum herbeigeführte Verzweiflung in WA 1,112,33ff (Predigt vom 21.12. 1516!). Im folgenden führt Luther aus, daß das Opus alienum des „Poenitentiam agite“ unmittelbar mit der Ankündigung des Gottesreiches als Opus proprium verbunden ist (WA 1,113,28ff, Predigt vom 21.12.1517): Dieses ist das Vokabular, mit dem er sich Staupitz’ bußtheologischen Hinweis erhellen konnte. 50 Beide Kapitel waren in Luthers Erstdruck enthalten, der Kapitel 7–28 umfaßte. 51 Der Franckforter (‚Theologia Deutsch‘), ed. v. Wolfgang von Hinten, München 1982, 91,26. 52 Ebd. 91,28. 32; 92,35. 53 Luther vermerkt in der Vorrede ausdrücklich, daß das Buch „an titell unnd namen“ (WA 1,153).

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Tauler in kritischer Wendung: Es ging ihm um die theologischen Elemente, in denen eine solche Vorstellung von Reue über die Sünden entfaltet wurde, daß das kirchlich verwaltete Bußsakrament obsolet werden konnte.

3. Luthers Entfaltung des mystischen Erbes Es waren wohl nur wenige Monate im Jahr 1516, in denen Luther sich mit äußerster Intensität den mystischen Autoren des 14. Jahrhunderts zugewandt hat. Aber immerhin hat er noch am 4. Juni 1518 eine neue Ausgabe der Theologia Deutsch vorgenommen, und diesmal vollständig. Mystik war ihm aber, das sollte nicht übersehen werden, nur Mittel zu einem anderen Zweck. Sie führte zur Bibel hin und war von Luther von Anfang an nur in dieser Perspektive relevant. Als er seinem Freund Spalatin die Ausgabe der Theologia Deutsch zuschickte, notierte er im Begleitschreiben, ihm sei keine andere Schrift untergekommen, die dem Evangelium mehr entspreche als diese54, und auch sein Widmungsschreiben an Staupitz spricht ja allein von einem tieferen Verständnis des biblischen Bußbegriffs. Gerade aber wenn die Mystik nur Mittel zu einem besseren Verständnis der biblischen Botschaft war, ist zu erwarten, daß Luther jenes Bußverständnis nicht nur im unmittelbaren Kontext seiner Mystik-Lektüre, also als bloßen Reflex auf die Mystiker selbst, artikuliert hat. Wenn die mystische Bußtheologie einen wirklich prägenden Einfluß auf Luther hatte, ist zu erwarten, daß Luther diese Gedanken auch, gelöst von diesem Lektürezusammenhang, eigenständig aufgegriffen und präsentiert hat. Tatsächlich gibt es eine frühe Predigt Luthers, die heute im allgemeinen in die Fastenzeit des Jahres 1517 datiert wird55 und die zeigt, wie diese eigenständige Aufnahme in Luthers Denken erfolgte: Luther nahm hier zunächst zur Erklärung der Buße die Unterscheidung von res und signum des Sakramentes auf.56 Diese Unterscheidung wäre als ein spezifisch augustinisches Element57 gewiß mißverstanden: Der Wittenberger Professor nahm an dieser Stelle theologisches Gemeingut auf, denn die Unterscheidung von res und signum sacramenti findet sich in der Sentenzensammlung des Petrus Lombardus. Dieses Schema aber füllte Luther nun ganz eigentümlich: Der Sachgehalt der Buße58, die res, ist allein die innere Reue des Herzens, die contritio. Sie allein ist es, von der Christus

54

WA.B 1,79,62f. BRECHT, Luther 1 (wie Anm. 19), 183. WA 1,94, Anm. 1, denkt an den 31.10.1516. 56 WA 1,98,24. 57 So BRECHT, Luther 1 (wie Anm. 19), 184. 58 Nach dem Konzil von Ferrara-Florenz war die Materie des Sakramentes eben jener Dreischritt von contritio, confessio, satisfactio (DS 1323). 55

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sagt: „Poenitentiam agite!“59 Das war die gelehrte Umformulierung der Taulerschen Lehre, daß die innere Zerknirschung und das Herzensbekenntnis vor Gott die äußere Beichte obsolet machen könne: Die traditionelle Dreiteilung der Buße in contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis konzentrierte sich ganz auf das innere Geschehen. Confessio und satisfactio waren nur noch äußere Zeichen.60 Und sie waren ausdrücklich nicht das, wovon Christus gesprochen hatte, sondern der zielte auf die innere Reue. Diese Predigt aus dem Frühjahr 1517 macht deutlich, daß Luther in Fragen der Bußlehre nicht nur Tauler und die Theologia Deutsch mit wohlwollenden Bemerkungen bedachte. Vielmehr haben sich die gelegentlichen Randbemerkungen mittlerweile zu einem Bußverständnis verdichtet, das Luther eigenständig in einer Predigt entfaltete. Die interessierte Rezeption wurde hier zur positiven Anwendung. Inhaltlich aber entsprach die nun entfaltete Bußlehre Luthers nach wie vor ganz dem, was als mystische Bußlehre bei Tauler zu finden ist. Und eben in derselben Predigt wendet sich Luther aufgrund dieses Bußbegriffs gegen den Ablass: Wer nämlich auf den Ablass vertraue, der vertraue auf eine äußere Genugtuung, statt auf die Genugtuung des Herzens, die in der Selbstanklage bestehe.61 Schon in dieser Predigt also hatte Luther das Arsenal, das er später in den ersten beiden Thesen gegen den Ablass aufbrachte, in theologisch ausgereifter Form an die Öffentlichkeit gebracht. Bereits im Frühjahr 1517 hatte er die kritischen Konsequenzen für den Ablass gezogen. In beidem aber folgte er einer gewichtigen mittelalterlichen theologischen Tradition. Sowohl der Gedanke der ersten These, daß das ganze Leben eine Buße sein solle, als auch die kritische Folgerung der zweiten These, daß der Bußruf Christi anderes meine als die sakramentale Buße, erweisen sich als konsequenter Ausbau dessen, was Luther aus der mystischen Theologie gelernt hatte: Buße ist ein inneres Geschehen echter Herzensreue, verbunden mit dem Glauben an Christus und nicht punktuell an Sakramentenempfang zu binden. Die erste Ablassthese und, als ihr Pendant, auch die zweite, sind die konsequente Verarbeitung der mystischen Traditionen, die Luther in den vorangegangenen Jahren aufgenommen und aufgesogen hat.

4. Folgerungen für das Verständnis von Luthers theologischer Entwicklung Die schon in den 95 Thesen selbst spürbaren mystischen Elemente hat Luther in seinen Resolutiones noch schärfer herausgearbeitet. Hier erläutert er nun 59

„de qua Christus dicit: poenitentiam agite” (WA 1,98,24f). WA 1,98,27f. 61 WA 1,99,5f. 60

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gar die erste These mit der Bemerkung, Christus sei ein „Magister spiritus ..., non literae“.62 Im Weiteren wertet er in typisch mystischer Begrifflichkeit das äußere gegenüber dem inneren Geschehen ab. So erklärt er, Christi Bußruf sei deswegen nicht auf die sakramentale Buße zu beziehen, weil die sakramentale Buße „externa tantum“, nur äußerlich, sei und die innere voraussetze; daher habe sie ohne sie keinen Bestand. Die innere hingegen habe auch ohne die äußerliche, sakramentale Buße Bestand.63 Das war ganz konsequent gedacht, wenn man die contritio, als entscheidendes Element der Buße ansah, war doch in der Tat die contritio nicht nur Voraussetzung, sondern erster wesentlicher Bestandteil der sakramentalen Buße. Doch läßt sich auch in den Resolutiones über die Ablassthesen bereits beobachten, wie sich neben und über dieses nach wie vor dominante Paradigma des mystisch geprägten Bußverständnisses ein anderes schiebt, das in den Thesen selbst und auch in Luthers vorherigen Äußerungen zum Ablass noch keine herausragende Bedeutung besaß. In der Erläuterung zu einer der Thesen erklärte Luther: „Igitur fide iustificamur, fide et pacificamur, non operibus neque poenitentiis aut confessionibus“64, und wenig später fügte er hinzu: „... non sacramentum sed fides sacramenti iustificat“.65 Die rechtfertigungstheologischen Überlegungen, die Luther aus Röm 1,17 gewann, überlappen sich nun mit den Aussagen, die anhand des Bußverständnisses gewonnen sind. Luther reformuliert seine Einsichten in rechtfertigungstheologischer Perspektive. Er fühlt sich offenkundig genötigt, seine bisherigen Überlegungen auf diejenigen Überzeugungen zu beziehen, in denen er ein neues Zentrum zu gewinnen beginnt: Das alte Paradigma wird nicht schlagartig abgelöst, aber neu gesehen und gedeutet und damit allmählich überformt. 66

62

WA 1,531,4f. WA 1,531,29f. 64 WA 1,544,7f: „Also werden wir durch den Glauben gerechtfertigt, durch den Glauben auch wird uns der Friede geschenkt, nicht durch Werke und nicht durch Buße oder Beichte“. 65 WA 1,544,40f: „Nicht das Sakrament, sondern der Glaube an das Sakrament rechtfertigt.“ 66 Um diese Entwicklung noch schärfer zu profilieren, sei darauf hingewiesen, daß selbstverständlich eine Betonung der iustitia-Thematik schon sehr früh bei Luther begegnet. Besonders eindrücklich hierfür sind – neben der Tatsache, daß ja auch in dem Selbstzeugnis von 1518 der Begriff des „amor iustitiae“ begegnet (WA 1,525,12) – sicherlich die berühmte Auslegung von Ps 71 (WA 3,461–471) in der ersten Ps-Vorlesung, die daher nicht umsonst dazu geführt hat, daß immer wieder diese Stelle als Beleg der vollzogenen reformatorischen Wende herangezogen wurde (s. v.a. nach wie vor: LOHSE, BERNHARD, Luthers Theologie, Göttingen 1995, 107–109), und der berühmte Brief an Spenlein aus dem April 1516 (WA.B 1,35f) zu nennen; gerade im letzteren Fall ist nun freilich bezeichnend, wie stark Luther hier, auf den Bahnen von Staupitz, das mystisch gefärbte Brautbild hervorhebt, das – im Blick auf die Freiheitsschrift – geradezu einen Kontinuitätsfaden in Luthers Übergang von mystischer Theologie zur Rechtfertigungstheologie darstellt. 63

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Die Tatsache aber, daß an dieser Stelle die rechtfertigungstheologische Erkenntnis Luthers deutlich in den Vordergrund drängt, bietet die Möglichkeit, den Weg Luthers zur vollen reformatorischen Erkenntnis präziser nachzuzeichnen: Die rechtfertigungstheologische Erkenntnis war nicht allein negativ durch das Ringen um den iustitia-Begriff vorbereitet, sondern auch positiv durch eine theologische Neubewertung des Bußbegriffs. Der Anstoß zu dieser Wende des jungen Luther zu einem neuen Bußverständnis kam im Frühjahr 1515 nicht aus dem Grübeln über der Bibel. Vielmehr war es Johannes von Staupitz zu verdanken, der Luther, wie es ihm als gutem Beichtvater oblag, aus seinen Nöten half.67 Luther selbst bestätigt das: „Staupicius hat die doctrinam angefangen“.68 So gewann Luther ein theologisches Zentrum, das noch nicht in der Rechtfertigungslehre lag, aber nach seinem eigenen Empfinden neu und befreiend war. Dazu half ihm ganz entscheidend die Lektüre mystischer Schriften. In ihnen lernte er, daß in dem Aufgeben des eigenen Selbst schon das Heil war. Auf den Bahnen mystischer Theologie also lernte er erkennen und nachvollziehen, daß der Sünder nicht verloren, sondern gerade in seiner Sündigkeit angenommen war. Die Bedeutung dieser von mystischer Lehre und Literatur geprägten Entdeckung eines neuen Bußverständnisses für Luthers reformatorische Entwicklung ist weit höher zu veranschlagen, als es die Rede von einer „Bestätigung“ durch die Mystik bei Leif Grane69 und anderen andeutet. Es handelt sich hier nach Luthers eigener Deutung um eine tiefgreifende Wende zu einem positiven Verständnis der Heilszueignung durch Christus. Der auf ihrer Grundlage beschrittene Weg führte Luther in den Konflikt um den Ablass. Dabei stand Luther noch ebensowenig wie fast zwei Jahrhunderte vor ihm Johannes Tauler außerhalb des überkommenen Kirchensystems. Aber er stand auf einer Grenze, von der aus der Weg nach außen kurz war. Diesen Weg aus dem herkömmlichen Kirchensystem hinaus aber beschritt er vollends, als sich sein theologisches Zentrum aufs neue verschob: Daß in den Resolutiones rechtfertigungstheologische Aussagen in den bußtheologischen Kontext einrücken, zeigt, wie sich nun gleichsam zwei theologische Zentrie67 Insofern ist es unzureichend, wenn BIZER, Fides ex auditu (wie Anm. 44), 20 u.ö., eine Entsprechung Luthers zu Staupitz nur in relativierendem Sinne – als gegen die schon eingetretene reformatorische Wende sprechend – anwendet: Psychologisch-biographisch war die Begegnung mit Staupitz für Luther ein Weg zu Neuem. 68 WA.TR 1,245 (Nr. 526, Jahr: 1533). Luther beruft sich hier auf den Bußrat von Staupitz: „Man mus den man ansehen, der da heyst Christus“ – eben hierum geht es gewiß auch in den Resolutiones, die, so gesehen, nichts anderes verhandeln als den Beichtrat. Diese Bemerkung unter die „Kategorie der bei Luther häufig begegnenden Überschätzung und Überbewertung von Weggefährten“ einzuordnen (ALAND, Weg (wie Anm. 9), S. 81), unterschätzt ihr Gewicht. 69 GRANE, Modus loquendi (wie Anm. 28), 125; aufgenommen bei BRECHT, Luther 1 (wie Anm. 19), 137.

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rungen bei Luther zu überlagern beginnen: Das bisherige, in der mystischen Theologie fundierte Zentrum seines theologischen Denkens und Wollens in der ganzheitlich verstandenen Buße reichte ihm offenbar nicht mehr, er suchte ein neues Zentrum. Das gewann er in der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung. Und das Zentrum, das er damit zu gewinnen begann, gab ihm für sein weiteres Leben soviel Halt, daß er in der Rückschau des Jahres 1545 allein die Entdeckung eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses als biographische Wende verstehen konnte. Die Wende zu einem neuen Verständnis der Buße unter dem Einfluß der mystischen Theologie war im Rückblick zur bloßen Etappe geworden. Mit ihr begann der Umbruch in Luthers Denken; der Bruch mit dem Vorgegebenen aber wurde erst aufgrund seiner Entdeckung der paulinischen Botschaft von der Rechtfertigung unausweichlich.

Zusammenfassung In Luthers Begleitschreiben zu seinen Resolutiones über die Ablassthesen an Staupitz (1518) findet sich ein Bericht über die Entdeckung seines neuen Bußverständnisses, der frappierende formale Ähnlichkeiten zu dem „großen Selbstzeugnis“ von 1545 über die Entdeckung des neuen iustitia-Begriffs aufweist. Diese Doppelung der Durchbruchsberichte macht deren Charakter als autobiographische Rekonstruktionen deutlich und sollte zum Verzicht auf die Annahme eines psychologischen Durchbruchs führen. Der Bericht von 1518 weist zeitlich und inhaltlich auf Luthers Tauler-Lektüre, durch die der spätere Reformator seinen neuen ganzheitlichen Bußbegriff gefunden und in das Zentrum seines theologischen Denkens gerückt hat. Schon vor der Publikation der Ablassthesen findet sich die kritische Anwendung des ganzheitlichen Bußverständnisses auf die Ablassthematik in einer Predigt. Die ersten beiden Thesen gegen den Ablass erweisen sich vor diesem Hintergrund als konsequente Fortentwicklung von Luthers Tauler-Rezeption. Erst wenig später hat sich, wiederum nicht bruchartig, sondern allmählich, das Zentrum von Luthers Denken von der Bußthematik auf die Gerechtigkeitsthematik verlagert.

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„Solus Christus“ Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit „Ich klagte einmal meinem Staupitz über die Feinheit der Prädestination. Er antwortet mir: in den Wunden Christi wird die Prädestination verstanden und gefunden, nirgends anders, weil geschrieben steht: Diesen hört! Der Vater ist zu hoch. Aber der Vater hat gesagt: ‚Ich werde einen Weg geben, zu mir zu kommen, nämlich Christus. Geht, glaubt, hengt euch an den Christum, so wirts sichs wol finden, wer ich bin, zu seiner Zeit. Das thun wir nicht, daher ist Gott für uns unverständlich, undenkbar; er wirt nicht begriffen, er will ungefast sein außerhalb von Christus.“1

Der berühmte Beichtrat, den Staupitz Luther wohl 1516 gab2, macht deutlich, wie tief die reformatorische Exklusivpartikel des Solus Christus in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit verwurzelt ist. Insbesondere zeigt er, dass diese Zentralstellung Christi jedenfalls bei Luthers Beichtvater und Ordensoberen3 aufs engste mit Elementen der Passionsfrömmigkeit verbunden war: Es sind die Wunden Christi, in denen der junge Martin Luther das ganze Heil suchen soll. Der Rat, den Staupitz hier gab, steht im Kontext einer in bestimmten Bereichen der innerlich ausgerichteten Frömmigkeit verbreiteten Orientierung an Person und vor allem Leiden Christi zu einem zentralen Thema der Spiri-

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„Ego semel conquerebar de sublimitate praedestinationis Staupitio meo. Respondit mihi: In vulneribus Christi intelligitur praedestinatio et invenitur, non alibi, quia scriptum est: Hunc audite. Der Vater ist zu hoch, sed dixit Pater: Ego dabo viam veniendi ad me, nempe Christum. Ite, credite, hengt euch an den Christum, so wirts sichs wol finden, quis sim, suo tempore. Das thun wir nicht, ideo Deus est nobis incomprehensibilis, incogitabilis; er wirt nicht begriffen, er will ungefast sein extra Christum“ (WA.TR 2, Nr. 1490 [112,9–16]). 2 Diese Datierung gilt jedenfalls dann, wenn man den Prädestinationsratschlag mit dem für Eisleben belegten Erschrecken angesichts der leiblichen Gegenwart Christi gleichsetzen darf. 3 Zu Staupitz s. HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: ARG 92 (2001) 6–41; DERS., Art. Staupitz, Johannes von, in: TRE 32 (2001) 119–127; zu seiner Theologie s. auch ausführlich STEINMETZ, DAVID C., Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the protestant Reformation, Durham 1980.

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tualität und theologischen Reflexion geworden war, insbesondere in jenen Kreisen, die Berndt Hamm als „Frömmigkeitstheologen“ zusammengefasst hat4, jedenfalls dann, wenn man hierzu auch die Devotio moderna rechnet.

1. Soteriologische Christozentrik in der Frömmigkeitstheologie des späten Mittelalters Den wohl deutlichsten Ausdruck gab der Christusfrömmigkeit des späten Mittelalters die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen, die als Grundlagenbuch der Devotio moderna gilt. Die alte Frage, ob Thomas eher der Autor oder der Redaktor dieser Schrift gewesen sei5 kann in der heutigen Forschungssituation, die sich von dem starken Autorenbegriff des 19. Jahrhunderts gelöst hat, hintangestellt werden6. Was feststeht, ist, dass der von Thomas von Kempen zusammengestellte Text 1441 abgeschlossen war7 und zunächst von ihm aufgrund des eröffnenden Bibelzitats Joh 8,128 den Namen „Qui sequitur me“ erhielt9. Nicht nur der Titel wurde später durch De imitatione Christi ersetzt10, sondern auch die Reihenfolge der vier Bücher wurde im überwiegenden Strom der Tradition umgestellt: Das ursprünglich an dritter Stelle stehende dritte Buch über die Eucharistie rückte an die vierte Stelle und bekam somit ein Achtergewicht, das den Eindruck erweckte, das Büchlein gipfele in der eucharistischen Frömmigkeit11. Tatsächlich stand in der ur4

HAMM, BERNDT, Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. Methodisch-historische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation, in: DERS., Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, ed. v. Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (SMHR 54), 85–115; DERS., Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, ebd. 116–153 5 Vgl. DE BRUIN, CEBUS C., Ist Geert Groote der Verfasser des Büchleins „De imitatione Christi“? Kritische Randbemerkungen zu Van Ginnekens Hypothese betreffs der Autorschaft der Imitatio, in: Kurt Ruh (Hg.), Altdeutsche und altniederländische Mystik, Darmstadt 1964, 462–496, 469. 6 Vgl. VAN DIJK, RUDOLF, Spiritualität der „inicheit“. Mystik und Kirchenkritik in der Devotio Moderna, in: Mariano Delgado (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Bd. 2, Stuttgart / Fribourg 2005 (StCRKG 2), 9–38, 26. 7 Zur möglichen Abfassungszeit s. VAN DEN BERG, MARINUS K.A., Thomas van Kempen, in: OGE 77 (2003) 9–29, 25f. 8 THOMAS VON KEMPEN, De imitatione Christi l. I c. 1 (Thomae Hemerken a Kempis Opera Omnia, ed. v. Joseph Pohl, Bd. 2, Freiburg 1904, 5,7f). 9 DIJK, Spiritualität (wie Anm. 6). 10 DIJK, Spiritualität (wie Anm. 6), 27. 11 DIJK, Spiritualität (wie Anm. 6), 2f; vgl. RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik. Vierter Band: Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts, München 1999, 189; in diesem Sinne ist auch die fälschliche Annahme über die Reihenfolge oben

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sprünglichen Fassung der Liber internae consolationis am Ende. Das hat in der Rezeption, wie Rudolf van Dijk festhält, in der Thomas-Forschung „zur Unterbetonung der Mystik geführt“12. So gelesen, gipfelt die Imitatio Christi in eine Versenkung in Gott. Das hiernach letzte Kapitel steht unter der Überschrift: „Quod omnis spes et fiducia in solo Deo est figenda“13. Die auf Gott bezogene Exklusivformel solo Deo zeigt ebenso wie der affektive Glaubensbegriff der fiducia die Grundorientierung dieser Theologie an. Dieser affektive Weg, der in Ausschließlichkeit zu Gott führt, beginnt bei Christus: „Summum igitur studium nostrum sit: in vita Iesu Christi meditari“14. Diese Haltung führt in die Demut15 und schließlich durch die völlige Niederschlagung des eigenen Herzens in eine wahre libertas, welche der Mensch nach Thomas allein in der Furcht Gottes gewinnen kann16, eine Freiheit, die in der Freiheit von allem Geschöpflichen besteht17. Diese aber wiederum gewinnt der Mensch in der doppelten Bewegung18: der Verschmähung seiner selbst und der Liebe zu Jesus, der „vult solus super omnia amari“ 19. Diese Liebe wiederum wird in einer Intensität ausgeführt, die Thomas aus den Stoffen der Mystik gewinnt: „Eia anima fidelis, praepara huic sponso cor tuum: quatenus ad te venire, et in te habitare dignetur. Sic enim dicit: Si quis diligit me, sermonem meum servabit; et ad eum veniemus: et mansionem apud eum faciemus.“ 20

Es ist also die brautliche Begegnung mit Jesus, die auf den Weg zum solus Deus führt. Dieser Weg aber, der nach Joh 14,6 Jesus Christus ist21, ist ein Weg des Kreuzes, auf dem Jesus Christus nicht nur vorangeschritten ist, son-

Kap. 11 Anm. 13, zu korrigieren. 12 DIJK, Spiritualität (wie Anm. 6), 29. 13 THOMAS, De imitatione Christi l. III c. 59 (wie Anm. 8, 261,12f). 14 THOMAS, De imitatione Christi l. I c. 1 (wie Anm. 8, 5,13f). Im Folgenden setzt Thomas diese Haltung auch der spekulativen Reflexion der Trinität entgegen: „Quid protest tibi alta de Trinitate disputare; si careas humilitate, unde displiceas Trinitati?“ (ebd. 6,3f). ein auffälliger Anklang an die spätere kritische Aussage Melanchthons: „Proinde non est, cur multum operae ponamus in locis illis supremis de deo, de unitate, de trinitate dei, dei mysterio creationis, de modo incarnationis“ (Philipp Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch-deutsch, ed. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh ²1997, 20 Nr. 8). 15 THOMAS, De imitatione Christi l. I c. 2 (wie Anm. 8, 7f). 16 THOMAS, De imitatione Christi l. I c. 21 (wie Anm. 8, 39,17–19). 17 THOMAS, De imitatione Christi l. II c. 8 (wie Anm. 8, 73,7–9). 18 THOMAS, De imitatione Christi l. II c. 7 (wie Anm. 8, 71,4–7): „Si quaeris in omnibus Iesum: invenies utique Iesum. Si autem quaeris te ipsum, invenies etiam teipsum: sed ad tuam perniciem.“ 19 THOMAS, De imitatione Christi l. II c. 7 (wie Anm. 8, 70,6f). 20 THOMAS, De imitatione Christi l. II c. 1 (wie Anm. 8 59,21 – 60,5). 21 THOMAS, De imitatione Christi l. III c. 56 (wie Anm. 8, 253,4).

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„Solus Christus“

dern noch voranschreitet22: Der Aufstieg also zu Gott allein kann sich allein durch Leiden verwirklichen, welches seinen Grund in der Meditation Christi hat – so wird die crux zur eigentlichen gloria des Menschen23. Die reiche handschriftliche Verbreitung, die die Imitatio Christi schon bald erlangte, verweist darauf, dass solche Christozentrik einen reichen Nährboden in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit besaß24, auch wenn es neben diesen Formen innerlicher Christusfrömmigkeit auch sehr viel stärker veräußerlichte Vorstellungen vom Weg zu Gott gab, wie sie sich etwa in der ebenfalls sehr verbreiteten Himmelsstraß des Stephan von Landskron zeigen, welche den Weg zum Himmel zunächst durch Lernen und Beherzigen der Glaubensartikel und der Zehn Gebote führen will25. Eben jene Vertiefung und Innerlichkeit aber findet sich in den Schriften Johannes‘ von Paltz, insbesondere der Coelifodina, der um einige Jahre eine sehr deutlich knappere, deutsche Ausgabe der himmlischen Fundgrube vorausgegangen war, welche zwischen 1490 und 1521 in mehr als zwanzig Drucken neu aufgelegt wurde26. Das verbreitete Buch ging auf Predigten zurück, die Paltz vor Friedrich dem Weisen gehalten und auf dessen Wunsch in den Druck gegeben hatte27, und es beginnt mit einem Hinweis, in welchem anklingt, was wenige Jahre nach der 1490 bei Kachelofen in Leipzig erfolgten Erstausgabe Staupitz Luther raten würde und zugleich die Verankerung in der Bernhardinischen Mystik deutlich macht28:

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THOMAS, De imitatione Christi l. III c. 56 (wie Anm. 8, 254,8–25). THOMAS, De imitatione Christi l. III c. 56 (wie Anm. 8, 254,25f). 24 Vgl. hierzu auch die Gesamteinschätzung von ROSIN, ROBERT, Reformation Christology: Some Luther Starting Points, in: CTQ 71 (2007) 147–168, 159, der auf Thomas von Kempen, Tauler und Bernhard sowie die Theologia deutsch verweist. 25 STEPHAN VON LANDSKRON, Die Hymelstrasz. Mit einer Einleitung und vergleichenden Betrachtungen zum Sprachgebrauch in den Frühdrucken (Augsburg 1484, 1501 und 1510 von Gerardus Johannes Jaspers, Amsterdam 1979 (QFEL 13), bes. 3 v. 26 S. JOHANNES VON P ALTZ, Werke. Bd. 3: Opuscula, Berlin / New York 1989, 158; HAMM, BERNDT, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65), 110f; BURGER, CHRISTOPH, Die Passionsharmonie des Augustinereremiten Johannes von Paltz (ca. 1445–1511), in: ders. (Hg.), Evangelienharmonien des Mittelalters, Assen 2004, 123–138, 125–128. 27 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202,1–15; HAMM, Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 26), 111f. 28 Mit einer gewissen Berechtigung, freilich auch der Gefahr der Vereinseitigung spricht POSSET, FRANZ, The Real Luther. A friar at Erfurt & Wittenberg, Saint Louis 2011, 86f, von einer „Bernard Renaissance“, an der Luther teilnahm. PANNENBERG, WOLFHART, „Extra nos“ – Ein Beitrag Luthers zur christlichen Frömmigkeit, in: Albert Raffel (Hg.), Weg und Weite. Offene Wege. FS Karl Lehmann, Freiburg 2001, 197–205, 200f, versucht, eine Differenz zwischen Luther und der spätmittelalterlichen Mystik mit Hilfe einer letzterer zugeschriebenen Demutsmystik einerseits, einer reformatorischen Glaubensmystik andererseits zu konstruieren, was aber die tatsächlichen Entwicklungen erheblich vereinfacht. 23

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„Der heilige, susse lerer sant Bernhart Uber das buch der lobeseng spricht, das kein nutzer oder kreftiger ding sei, zu heilen die wunden der sunde dan die betrachtung der wunden Cristi.“ 29

Eben diese Betrachtung der Leiden Christi wird zugleich unter Berufung auf ein pseudo-albertinisches Zitat30 in Gegensatz zu äußeren Frömmigkeitsformen wie Fasten gestellt31. Den Weg hierzu öffnet Paltz ganz praktisch, indem er zur Meditation eines gemalten Kruzifix rät, an dem der Betrachter die fünf Wunden, insbesondere die Seitenwunde beschauen soll32. Es ist offenkundig, dass hier der Text mit spätmittelalterlichen Bildtraditionen ineinander greift. Entsprechend bietet eine Kölner Handschrift aus dem Jahre 1508, deren Bebilderung dem Meister des Bartholmäusaltars zugewiesen werden, eingangs nach einer Miniatur des Einzugs Christi in Jerusalem eine Darstellung der arma Christi und eben der fünf Wunden Christi33. Der Darstellungstypus der Wunden Christi34 steht im Kontext einer ganzen Anzahl von Leidensbildern im späten Mittelalter, unter den neben den arma Christi35 wohl der Typus des Schmerzensmanns36 der verbreitetste ist, von dem sich entsprechend in der genannten Handschrift gleichfalls eine Abbildung findet37. Der Blick auf diesen Kunsttypus verweist erneut auf den Wittenberger Kontext: Um 1515 hat Lukas Cranach einen Schmerzensmann, der sich auf den Oberkörper des Leidenden konzentriert, also die Wunden an den Füßen nicht zeigt und mit der Geißel auf dem Schoß auch das Motiv der arma Christi andeutet38. Wie im 29 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202,18–20; die Anspielung auf Bernhard von Clairvaux bezieht sich auf Sermo in canticum canticorum 62,7: „Quid enim tam efficax ad curandum conscientiae vulnera, necnon ad purgandam mentis aciem, quam Christi vulneram sedula meditatio?“ (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 6, Innsbruck 1995, 332,24–26). 30 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202f. Das Zitat hat sein Vorbild wohl in Johannes von Dorsten, De celebratione missae, (Erfurt ca. 1488), unfoliiert (f. 15v-16r): „Dicit namque Albertus Simplex memoria passionis christi maioris est meriti. quam si quotidie ieiunares in pane et aqua. aut quotidie psalterium integrum decantares. aut te quotidie usque ad effusionem sanguis disciplinares“; vgl. zur Identifikation PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202f Anm. 8, hier auch Nachweis einer deutschen Fassung in einer Nürnberger Handschrift, die die Aufzählung von drei Nutzen bei Paltz erklärt.. 31 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202,20–203,2. 32 Vgl. zur Seitenwundenfrömmigkeit des späten Mittelalters HAMM, BERNDT, Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: DERS., Religiosität im späten Mittelalter (wie Anm. 4), 544–560, 554f. 33 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 188; die Abbildung der Wunden s. ebd. Abb. 2. 34 SAUSER, S. E., Art. Wunden Christi, in: LCI 4 (1972), 540–542. 35 S. Art. Arma Christi, in: LCI 1 (1968), 183–187. 36 Vgl. zur Geschichte des Motivs O’KANE, MARTIN, Picturing the „Man of Sorrows“: The Passion-filled afterlives of a Biblical icon, in: RelArts 9 (2005) 62–100, bes. 62–84. 37 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 188; s. ebd. Abb. 3. 38 Rainer Stamm (Hg.), Lucas Cranach der Schnellste, Bremen 2009, 83 Nr. 25.

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Text von Paltz gilt die besondere Konzentration dabei, dem Typus des Erbärmdebildes folgend, vor allem der Seitenwunde. Bemerkenswert ist dieses Bild vor allem deswegen, weil es mit nur leichten Modifikationen 1537 erneut, nun als Werk wahrscheinlich des jüngeren Cranach, in Wittenberg realisiert wurde39. Was Bodo Brinkmann und Gabriel Dette diesem in reformatorischem Kontext entstandenen Werk zuschreiben, gilt daher mutatis mutandis bereits für die vermutlich in die Zeit vor Luthers öffentlichem Auftreten fallende frühere Darstellung: „Die Bildformel ist sei dem 14. Jahrhundert sehr populär. Die Leistung der Cranach-Werkstatt bsteht darin, sie bei gleichzeitiger Verknappung durch konsequente Bildlogik geschärft zu haben: Nicht mit assisterenden Engelsfiguren mit Trauergesten oder einer vollständigen Versammlung der ‚Arma Christi‘, der Leidenswerkzeuge, argumentiert Cranachs Redaktion des Themas, sondern mit einer genauen Schilderung des gemarterten Leibes, in der jede Detail gezielt bestimmte Aspekte der Passion in Erinnerung ruft.“40

In der Frömmigkeitsliteratur wie der Kunst zeichnet sich also eine Konzentration auf die Person und das Leiden Jesu ab – hier wird „Cristus an dem kreuz hangende“ zum „buch des lebens“41, und das Bild vom Schmerzensmann zeigt, welch erstaunliche Kontinuität diese Christusfrömmigkeit über den Beginn der reformatorischen Bewegung hinweg aufwies42.

39 S. Bodo Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere, Ostfildern 2007, 240f; STAMM, Cranach (wie Anm. 38), 77 Nr. 23. Zeitgleich entstand auch ein weiteres Schmerzensmannbild desselben Typus von Cranach dem Älteren (ebd. 81 Nr. 24). Das Bildnis des jüngeren Cranach wurde noch in der Frömmigkeitskultur des 17. und 18. Jahrhunderts intensiv verwendet, wovon eine später angebrachte Inschrift zeugt, die ein Zitat Ludemilie Elisabeth Gräfin von Schwarzburg-Rudolstadts auf das Bild aufgetragen hat (STAMM, Cranach (wie Anm. 38) zu Nr. 23; zu der Gräfin vgl. SCHUSTER, SUSANNE, Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt und Ahasver Fritsch. Eine Untersuchung zur Jesusfrömmigkeit im späten 17. Jahrhundert, Leipzig 2006 (AKThG 18), 176–179 u.ö. Von der im Falle des Schmerzensmannmotivs gegebenen offenkundigen Kontinuität unbenommen bleibt der Umstand, dass einzelne Motive – wie die Darstellung der Heiligen Sippe oder der Himmelsleiter des Heiligen Bonaventura – durch die Reformation Änderungen erfuhren (s. WEIMER, CHRISTOPH, Luther und Cranach. Das Rechtfertigungsthema in Wort in Bild, in: Luther 74 [2003] 22–38, 31f; SEEBAß, GOTTFRIED, Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d. Ä. Zur Reformation eines Holzschnitts, Heidelberg 1985). 40 BRINKMANN, Cranach (wie Anm. 39), 240. 41 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 231,10. 42 So spricht auch STAMM, Cranach (wie Anm. 38), 74, von zahlreichen Variationen des Schmerzensmann-Motivs bei Cranach – aber gerade nicht von solchen, die durch die reformatorische Theologie bedingt gewesen wären. Auf den traditionellen Charakter der Bildmotivik in bestimmten Auftragszusammenhängen hat schon lange TACKE, ANDREAS, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d.Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt (1520–1540), Mainz 1992 (BSK 2), hingewiesen. OZMENT, STEVEN, The Serpent and the Lamb. Cranach, Luther and the making of the reformation, New Haven / London 2011,79–88, spricht sowohl im Blick auf Frömmigkeitsdarstellungen als

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Diese christologische Konzentration ist keineswegs auf den Wittenberger Kontext beschränkt. 1514 erschien in Nürnberg eine Beschreibung des Lebens Mariens und Christi mit der Mahnung, der Leser solle Christus bitten, „das er sein gnad mit dir tayl / das du jm mgst nach volgen nach deinem verm(gen / vnn setz dir festigklichen fur / jm nach zu volgen“43. Wer auf die Differenzen zur reformatorischen Lehre achtet, wird hier stärker als in den anderen spätmittelalterlichen Texten den Aspekt des Verdienstes betont finden44. Eben darin aber liegt das Bemerkenswerte an der Kumulation solcher Texte: Was durch die Reformation unterschieden wurde, liegt hier noch in einem breiten Strom der Christusfrömmigkeit ineinander, in dem es hier wie dort um das „mitleyden“ geht45. Dieses Mitleiden aber konzentriert alle Hoffnung auf Jesus Christus, wie ein zehn Jahre zuvor ebenfalls in Nürnberg gedruckter Text über die Betrachtung des Leidens Christi zeigt, in welchem Christus überschwänglich angeredet wird: „O du mein getrewer liebhaber meyn herr / mein helffer / mein zufl)cht / mein trost / mein hoffnung / mein gedingen / mein h(ter / mein erlser / vnn all mein begirde“46

Auch Luthers Ordensoberer Staupitz nahm an dieser Passionsfrömmigkeit Teil. Besonders markant sind hierfür die Predigten, die er 1512 in Salzburg gehalten hat47. In ihnen spitzt sich die in vielen spätmittelalterlichen Kontexten greifbare Konzentration auf Christus merklich zu: „Entpflich deinen geist

auch im Blick auf Kirchenkritik anhand der Darstellung der Tempelreinigung von 1510, von einem Cranach „anticipating Luther”. VILADESAU, RICHARD, The Triumph of the Cross. The Passion of Christ in Theology and the Arts, from the Renaissance to the Counter-Reformation, Oxford 2008, 158, bestimmt aufgrund einer ausführlichen Untersuchung der Kreuzigungsdarstellungen Cranachs reformatorischen Stil vor allem als „didactic“ – auch dies lässt sich allerdings an der Schmerzensmanndarstellung nicht verifizieren. 43 Das leben vnsers erle | digers Jesu Christi / nach lauttung des hey-| ligen Ewangeli / mit vil andechtiger be-| trachtung / Auch mit beylauffung des | lebens der junckfrawen Marie / von | einem Parfuesser der obseruantz | Also zusamen gesetzt / von anfang | der kindthait Cristi / biß auff | sein himelfart / vol suesser | vnd andechtiger leer | vnd betrachtung, Nürnberg: Stuchs 1514. 44 Das Leben unsers Erledigers (wie Anm. 43), 3r: „So du wilt ansehen vnn bedencken verdienlich das leben deines gots vnd erledigers“. 45 Das Leben unsers Erledigers (wie Anm. 43), 3v. 46 Das ist ein schonner | Passion von dem leyden vnsers | lieben herren Jhesu Christi|, Nürnberg: Hieronymus Huber 1504, Y 4v-5r. 47 JOHANN VON STAUPITZ, Salzburger Predigten. Eine textkritische Edition, ed. v. Wolfram Schneider-Lastin, Diss. Phil. Tübingen 1990; vgl. zu diesen Predigten POSSET, FRANZ, Preaching the Passion of Christ on the Eve of the Reformation, in: CTQ 59 (1995) 279–300, 282–295; DERS., The Front-Runner of the Catholic Reformation. The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot 2002, 135–156; WETZEL, RICHARD, Staupitz und Luther. Annäherung an eine Vorläufer-Figur, in: BPfKG 58 (1991) 369–395, 381–383.

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im alain, klag im dein laid alain.“48 Gnadentheologisch kann Staupitz betonen: „Und umbsünst ist er dir geben die genad.“49 Wolfram Schneider-Lastin, dem die Edition dieser Predigten zu verdanken ist, hat zu Recht hervorgehoben, dass diese nur in einer Handschrift erhaltenen Predigten „die empfindliche Quellenlücke zwischen den lateinischen Tübinger Predigten von 1497/98 und der 1515 veröffentlichen Schrift ‚Von der nachfolgung des würdigen Sterbens Christi‘ verkleinern“50. Tatsächlich hat Staupitz in dem letztgenannten Traktat, welcher 1515 in Leipzig erschien51, die Gedanken der Predigt weiter entfaltet. Der Form nach handelt es sich hierbei um eine ars moriendi, allerdings eine solche, die zutiefst christozentrisch gestaltet ist. Zudem ist der Text in mancher Hinsicht mit Luther verbunden – allein schon durch die Widmung, die der Gräfin Agnes von Mansfeld galt. Eben im Mansfeldischen sollte dann auch ein Jahr später bei der Fronleichnamsprozession das Gespräch über das Erschrecken Luthers angesichts der Monstranz mit dem Leichnam Christi erfolgen. Zunächst allerdings hatte der Text mit Luthers nichts zu tun, sondern stellte einen Ratschlag für Agnes und dann durch die Veröffentlichung auch für das weitere Publikum dar. Der leibliche Tod hatte hiernach seinen Schrecken verloren, weil er durch Christus „ein instrumenmt tzum leben worden“52. Eben dies begründete, dass Staupitz den Weg der ars moriendi mit Elementen der Passionsmeditation verband. Die Gleichförmigkeit mit Christus sollte hiernach für den Glaubenden der einzige Weg sein recht zu sterben, und dies im Gegensatz zu Heiligen: „Wer do will der lerne von sant Peter sterben ader von andern heilgen, ader aber sehe, wie die frommen yr leben schliessen, Ich wils von Christo lernen vnd nymandts anders, Er ist mir von got ein vorpildt geben, nach dem sal ich wircken, leyden vnd sterben, Er ist die schlange am holtze, in welcher anblick die gifft des todes stirbt, Er ist allein der, dem alle menschen folgen kunnen, in dem alles guts leben, leiden vnnd sterben allen vnd ytzlichen vorgebildet, also, das nymandt recht thuen, recht leiden, recht sterben kann, es geschehe dann gleichformig dem leben, dem leiden, dem sterben Jesu Christi, in welchs todt aller andere todt verschlunden ist.“53

48

STAUPITZ, Salzburger Predigten (wie Anm. 47), 43,49. STAUPITZ, Salzburger Predigten (wie Anm. 47), 55,195. Angesichts solcher Formulierungen erklärt DOHNA, LOTHAR GRAF ZU, Staupitz und Luther. Kontinuität und Umbruch in den Anfängen der Reformation, in: PTh 74 (1985) 452–465, 460, mit einem gewissen Recht, Staupitz habe in diesen Predigten „die wesentlichen Elemente seiner reformatorischen Theologie“ vorgetragen. 50 STAUPITZ, Salzburger Predigten (wie Anm. 47), V. 51 Johann von Staupitzens sämmtliche Werke / Iohannis Staupitii Opera, quae reperiri potuerant omnia, ed. v. Joachim Carl Friedrich Knaake. Erster Band: Deutsche Schriften, Potsdam 1867, 50–88. 52 STAUPITZ, Werke (wie Anm. 51), 60. 53 STAUPITZ, Werke (wie Anm. 51), 62. 49

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Christus wird hier also als ein wirksames exemplum gezeichnet: die Nachfolge wird erst dadurch möglich, dass der Tod in Christus verschlungen ist – und sie kann allein Christus gelten. Im Unterschied zu Meyer ist in diesem Zusammenhang dann auch alle Tätigkeit des Menschen in Christus und von Christus her aufgehoben: In mystischer Sprache wird die Seele durch Christi Blut zu dessen Braut, aber dies nur in der Weise, „das sie sich (…) vber al nichts wircklich, sunder allein leidentlich halte“54. Schon diese Betonung von Christozentrik und Passivität dessen, der Christus folgt, zeigt die Nähe zu Gedanken an, die gewöhnlich der Reformation zugeordnet werden55. So kann es auch nicht verwundern, dass Luther noch 1519, als er gebeten wurde, eine ars moriendi zu schreiben, zunächst darauf verwies, dass dies nicht nötig sei, da es ja schon die Nachfolgung von Staupitz gab 56, und erst zögerlich an die Abfassung seines Sermons von der Bereitung zum Sterben ging57. Wie Staupitz predigte Luther hier ein Sterben in Christus58 und verwies dabei auch auf das Vorbild der ehernen Schlange59. Das war die zentrale Botschaft, die Luther von seinem Beichtvater übernommen hatte und weitertrug – und die er durchaus noch, an dieser Stelle weniger prononciert als Staupitz selbst, so formulierten konnte, dass Christus mit seinen Heiligen zusammen als Vorbild gepriesen wurde60.

2. Christushermeneutik in den frühen Vorlesungen Luthers Die letztgenannte Bemerkung ist umso auffälliger, als Luther selbst schon 1514 erklärt hatte, er predige immer Christus61. Dies war keine exklusive

54

STAUPITZ, Werke (wie Anm. 51), 78; vgl. hierzu HAMM, BERNDT, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 218–222. 55 In der neueren Diskussion hat insbesondere HOLM, BO KRISTIAN, Justification and recoprocity. „Purified gift-exchange“ in Luther and Milbank, in: ders. / Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being, Tübingen 2009 (RPhTh 37), 87–116, 88–94, darauf aufmerksam gemacht, dass die Gabelehre bei Luther keineswegs so einseitig eine Passivität auf Seiten des Menschen voraussetzt, wie es vor allem die deutschsprachige Lutherforschung häufig voraussetzt (beispielhaft für diese: DALFERTH, INGOLF U., Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, ebd. 43–71). 56 WA.B 1, 381,17f (Nr. 171). 57 Dessen starke Einbindung in die spätmittelalterliche Frömmigkeitsliteratur betont auch HAMM, Der frühe Luther (wie Anm. 55), 121; vgl. aber auch die Hervorhebung der „Unterschiede“ ebd. 123. 58 WA 2,689,14f. 59 WA 2,689,17–19. 60 WA 2, 689,28f; vgl. hierzu LIENHARD, Luthers christologisches Zeugnis (wie Anm. 82), 87f; HAMM, Der frühe Luther (wie Anm. 55), 158–160. 61 WA 1,31,3f.

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Kampfaussage, sondern lediglich eine Grundidee des Predigens aus, mit welcher Luther sich keineswegs scharf von seinen Zeitgenossen unterschied. Im Gegenteil: Er nahm Teil an jener christozentrischen Frömmigkeit und Theologie, wie er sie rundherum erlebte. Dies galt auch für seine wissenschaftliche Arbeit am Bibeltext. Bekanntlich hatte er für seine erste Psalmenvorlesung das Qunicuplex Psalterium des Faber Stapulensis62 im Gebrauch63. Das Werk war mit seiner Kollation von fünf lateinischen Fassungen eine philologische Meisterleistung, zugleich aber auch ein hermeneutisch gewichtiger In Auseinandersetzung vor allem mit der rabbinischen historischen Exegese begründet Faber Stapulensis einen tiefergehenden historischen Sinn, der durch Christus als „clavis Dauid“ erschlossen wird64. Mit ihm vermag er seinem Anspruch nach die eigentliche geistliche Botschaft des Alten Testaments zu erschließen. So lautet es gleich zu Ps 1: „Psalmus de Christo domino. Est enim qui habet clauem Dauid: et qui claudit et nemo aperit / aperit et nemo claudit. Propheta in spiritua loquitur. Beatus vir: describitur Christus.“65

Dieses Verfahren erschloss nun für Luther in dem beschriebenen frömmigkeitstheologischen christozentrischen Horizont den Sinn der Psalmen: Fast wortwörtlich nahm er das angeführte Zitat des französischen Humanisten in seiner „praefatio Ihesu Christi“ auf, die in dem von der Offizin Rhau-Grunenberg erstellten Wittenberger Psalterdruck66, welcher seiner Vorlesung zugrunde lag, einleitend präsentiert wurde: „Sanctus et verus qui habet clauem Dauid / qui aperit et nemo claudit / claudit et nemo aperit.“67

62

Zu ihm s. MASSAUT, JEAN-PIERRE, Lefèvre d’Étaples et l’exégèse au xvi e siècle, in: RHE 78 (1983) 73–78. Eine interessante Studie zum Vergleich Fabers und Luthers bietet, unter besonderer Berücksichtigung des Jakobusbriefes, BEDOUELLE, GUY, Lefèfre d’Étaples et Luther. Une recherche de frontières. 1517–1527, in: RHPhR 63 (1983) 17–31. 63 S. Luthers Notizen hierzu in WA 4,466–526. 64 QVINCVPLEX | Psalterium | G allicum. | R omanum. | H ebraicum.| V etus. | C onciliatum., Paris: Henricus Stephanus 1509, av. 65 Quincuplex Psalterium (wie Anm. 64), b 1r. 66 S. hierzu WA 55/I,L mit Anm. 1; ausführlich zu diesem Druck EBELING, GERHARD, Luthers Psaltertdruck vom Jahre 1513, in: DERS. Lutherstudien. Bd. 1, Tübingen 1971, 69– 131. 67 WA 55/I,6,5–7. Diese wörtliche Anlehnung zeigt, dass Luther sich weit weniger von der Tradition abheben wollte, als dies die zugespitzt mehrfach mit dem konfessionell überformenden Begriff „ausschließlich“ operierende Deutung von E BELING, Psalterdruck (wie Anm. 66), 280f, unterstellt (das Adjektiv „omnis“ in dem Zitat nach WA 55/I,6,25–8,1 [„Omnis prophetia et omnis propheta / de Christo domino debet intelligi / nisi ubi manifestis uerbis appareat de alio loqui“], das Ebeling a.a.O. Anm. 24 zur Begründung einer solchen Ausschließlichkeit anführt, bedeutet zwar Allgemeinheit, aber nicht Ausschließlich-

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Der Anschluss an die Hermeneutik Fabers68 bedeutete für Luther: „omnis propheta / de Christo domino debet intelligi“69, und in diesem Sinne interpretierte er denn auch die einzelnen Psalmen. So wurde ihm Psalm 6 zu einer „oratio Christi pro suis passionibus et peccatis membrorum suorum“70. Im Vergleich mit Faber Stapulensis fällt dabei auf, dass dieser stärker auf das zweite Glied der Aussage, die Mittlerschaft für die Glaubenden, abhebt als auf die Leiden Christi71. Eben dieser hermeneutische Ansatz, dass die gesamte Schrift von Christus her zu verstehen sei, trug Luther dann auch in seiner weiteren Auslegung: In Röm 1,3 sah er im Rahmen seiner Römerbriefvorlesung bestätigt, „quod tota [sc. Sacra Scriptura] de Christo sit intelligenda, maxime Vbi est prophetica. Est autem vbique prophetica, licet non secundum superficialem sensum litere“72.

Diese hermeneutische Grundentscheidung, in der offenkundig noch die Abgrenzung des Faber Stapulensis von einem strengen Literalsinn nachschwingt, bedeutet auch für den Römerbrief eine klar christologische Lesart, die mit mystischen Formen der Deutung zusammenklingt: Der Apostel hat den Brief ausschließlich geschrieben, um unsere Weisheit zu zerstören und aufzuzeigen, dass uns Christus und seine Gerechtigkeit notwendig sind 73. Der keit; vgl den Hineweis von EBELING, Psalterdruck [wie Anm. 66], 117 auf eine „Tendenz“ zum „solus Christus“ in der Praefatio zum Psalter; vgl. aber das Zugeständnis der Zugehörigkeit Luthers zur Tradition in der christologischen Schriftauslegung ebd. 118); diese „Exklusivität“ macht auch BEUTEL, ALBRECHT, Lutherische Theologie in den Unübersichtlichkeiten unserer Zeit. Ein Vorschlag zur Orientierung, in: ZThK 103 (2006) 344–361, 350, zu der entscheidenden Differenz zwischen Luther und der mittelalterlichen Theologie, ohne freilich scharf zu benennen, wodurch exakt dieser Unterschied markiert wird. Zu den weit in die Patristik zurückreichenden Hintergründen dieser christologischen Deutungsweise s. SELGE, KURT-VICTOR, Mittelalterliche Traditionsbezüge in Luthers früher Theologie, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 149–156, 153f; vgl. zu der christologischen Psalmendeutung anhand von Ps 22 auch WOLFF, JENS, Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, Tübingen 2005 (HUTh 47), 61–68. 68 Angesichts des verbalen Anklangs wird man wohl gegenüber EBELING, Psalterdruck (wie Anm. 66), 126, festzuhalten haben, dass doch ein „besonderer Einfluß Fabers zu sehen“ ist. 69 WA 55/I,6,35. 70 WA 55/I,38,3–5. 71 Quincuplex Psalterium (wie Anm. 64), 11r. 72 WA 56,5,10f; vgl. auch ebd. 414,15f: „Scriptura de solo Christo est vbique“. 73 WA 56,3,6–11. Zum mystischen Hintergrund der hier von Luther verwandten destruere-Terminologie s. seine Randbemerkungen zu Tauler: „Et si sciamus, quod deus non agat in nobis, nisi prius nos et nostra destruat (i.e. per crucem et passiones), tamen adeo stulti sumus, ut eas velimus tantum suscipere passiones quas nos elegimus vel quas in aliis factas vidimus vel legimus“ (WA 9.102,10–13). Allerdings hat Luther Tauler wohl erst im Zuge seiner Römerbriefauslegung kennengelernt (s. ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, nos extra nos.

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Bezug von Christus und Gerechtigkeit geht dabei so weit, dass Luther erklären kann, dass solus Christus die Gerechtigkeit Gottes ist74: Die aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur übernommene Zentrierung auf Christus wird hier mit paulinischem Vokabular angereichert und beginnt so die spezifische Form zu gewinnen, durch die sie zu einem reformatorischen Prägemal wurde. Schon innerhalb der Römerauslegung begann Luther diese Christozentrik auch in Gegensatz zu allen menschlichen Werken zu entfalten: „Sic Iob Verebatur omnia opera sua. Et Apostolus non sibi conscius fuit et tamen non in hoc se Iustificatum putat. Ac per hoc Soli Christo Iustitia relinquatur, Soli ipsi opera grati‫ܗ‬ et spiritus. Nos autem semper in operibus legis, semper iniusti, semper peccatores, secundum illud psalmo 31.: ‘pro hac orabit ad te omnis sanctus.’”75

Eben dieser Gedanke von Christus als unserer Gerechtigkeit – freilich auch als Richter – begegnet dann auch 1516 in der disputatio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata76 und wird so zu einer Schlüsselüberzeugung der Wittenberger Theologie am Vorabend ihres Öffentlichwerdens.

3. Christozentrik in der volkssprachlichen Erbauung Die beschriebene hermeneutische Orientierung an Christus erlaubt es Luther dann auch, den erwähnten sechsten Psalm als den ersten Bußpsalm im Frühjahr 1517 in seiner ersten eigenen77 deutschsprachigen Veröffentlichung, den Sieben Bußpsalmen, auf das Individuum ziehen, für das in den Bibelworten Christus selbst spricht78: In einer für Luther charakteristischen Weise fließen hier in der christologischen Zentrierung wissenschaftliche Tätigkeit und erbauliches Schrifttum ineinander – und an keiner Stelle muss Luther, der gleichzeitig in seinem berühmten Brief an Lang schon die Neuheit der eigenen augustinischen Theologie preist79, eine Abweichung von dem Frömmig-

Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (BHTh 46), 97; sehr vorsichtig in der Datierung, aber mit Neigung zum selben Zeitabschnitt s. OTTO, HENRIK, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 [QFRG 75], 183). Daher ist hier zwar von einer sprachlichen und konzeptuellen Nähe zu reden, nicht aber von einer Genese des Gedankens im Zuge der mystischen Lektüre. Sondern vielmehr offenbar umgekehrt eine Einzeichnung des an Paulus Gelernten in die Lektüre Taulers. 74 WA 56,247,1. 75 WA 56,252,29–253,2; zum Verständnis der iustitia in der Römerbriefvorlesung s. ZUR MÜHLEN, nos extra nos (wie Anm. 73), 129–140. 76 WA 1,149,33f. 77 Zuvor hat Luther bereits die Theologia deutsch veröffentlicht; s. WA 1,152f. 78 WA 1,159,33. 79 WA.B 1, 99,8–13 (Nr. 41).

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keitskontext, in dem er dank Staupitz seine Heimat gefunden hat, vermerken. Die Zentralstellung Christi ist Teil eben dieses Milieus und wendet sich nicht dagegen. Man kann zugespitzt sagen: Luther selbst bleibt zunächst einmal – jedenfalls in einem bestimmten Bereich seiner Tätigkeit ein passionstheologisch orientierter Prediger und Schriftsteller, und dies auch nachdem der Ablassstreit schon begonnen hat und einige Kräfte des jungen Gelehrten bindet. Diese passionstheologische Ausrichtung lässt sich an zwei Sermonen ablesen, die Luther wohl am Karfreitag 1518 gehalten hat80. Darin entfaltet er den auf Augustin beruhenden Gedanken81, dass Christus zugleich exemplum wie sacramentum sei82: Wie in Staupitz‘ Büchlein von der Nachfolgung ist Christus also ein Vorbild zu unserer Nachahmung83 und Wirkgrund unseres Heils. Christi Leiden und das Leiden des Glaubenden sollen ineinander gleiten, denn: „Quod Christi passionem nondum intelligit, qui non se ipsum in illa depingi cernit, et vane Christo compatitur, qui sibi ipsi ex illa non discit compati. Stultus enim es, si Christo super te dolente et patiente tu securus de te eas velut compassione tui minus egens. in Christi enim compassione personaliter agas“84

Die Staupitzsche Einfärbung dieser Gedanken ist nicht nur wegen des erwähnten Bezuges auf dessen Büchlein von der Nachfolgung bemerkenswert, sondern auch wegen der tragenden Bedeutung, die die compassio hier erhält, die auch für Staupitz ein zentrales Theologumenon seiner Frömmigkeitstheo80

WA 1,335. Vgl. ISERLOH, ERWIN, Sacramentum et exemplum – ein augustinisches Thema lutherischer Theologie, in: ders. / Konrad Repgen (Hg.), Reformata reformanda. FS Hubert Jedin, Münster 1965, 247–264; in Anknüpfung an Iserloh, aber unter besonderer Bedeutung der Vermittlungsfunktion des Glaubens: KYNDAL, ERIK, Christus, „Sakrament“ und „Gabe“. Eine terminologische Präzisierung von Luthers Christologie 1521, in: Dietz Lange (Hg.), Kirche zwischen Heilsbotschaft und Lebenswirklichkeit. FS Theodor Jørgensen, Frankfurt u.a. 1996, 197–216, bes. 207f. Unangemessen ist es freilich, angesichts dieser Schwierigkeiten unter der Hand Groote als die eigentliche Gestalt hinter der Imitatio Christi einzuführen (so HIMMELMANN, MARKUS, Das Leidensverständnis der „Imitatio Christi“ im Vergleich zu Heinrich Seuses „Büchlein der ewigen Weisheit“, in: EuA 61 [1985] 283–301, 295f) – ebenso wird ein Autorprinzip wieder eingeführt, das die Forschung glücklich hinter sich gelassen hat. Die spezielle Rückführung der theologia crucis auf die imitatio Christi (RIX, H., Luther’s Debt to the Imitatio Christi, in: Augstiniana 28 [1978] 91–107, 95f) geht angesichts der im Spätmittelalter weitverbreiteten Kreuzesfrömmigkeit wohl zu weit, zumal Luther diese Schrift nirgends ausdrücklich zitiert. Auch die – bemerkenswerte – Fülle an Ähnlichkeiten, die Rix aufführt, kann einen solchen Gebrauch der Imitatio Christi bei Luther nicht definitiv belegen. 82 WA 1,337,14; 339,17–21; vgl. zu diesem Begriffspaar bei Luther und seinem augustinischen Hintergrund LIENHARD, MARC, Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1979, 64–66. 83 S. WA 12,338,1 den Begriff imitari. 84 WA 1,338,12–15. 81

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logie war. Das Leiden wird zur zentralen Bezugsgröße, durch die Christus dem Glaubenden zu eigen wird, so dass in ihm das exemplum zum sacramentum wird. Dieser Gedankengang ist zu einem Zeitpunkt, da sich in der Römerbriefvorlesung schon die rechtfertigungstheologische Reformulierung abzeichnet, Luthers Beitrag zu einem durchaus traditionellen Diskurs der christologisch zentrierten Passionsfrömmigkeit85. In diesen Horizont gehört auch die starke Kreuzesfrömmigkeit, die zugleich einen mystischen Austausch bedeutet: „Tu pateris ex merito, Christus propter te et innocenter portans in cruce non sua sed tua peccata“86. Die passionstheologische Christozentrik begleitete Luther schriftstellerisch durch eine Reflexion auf die Herrschaft Christi in seiner Auslegung des 109. (110.) Psalms, die er im Sommer 1518 veröffentlichte. Der Psalm handelt nach dieser Auslegung „von dem künigreich und der priesterschafft unsers herrn Jesu Christi“87, und diese wiederum besteht eigentlich im Wort und Evangelium88. Tatsächlich hatte Luther schon in den Dictata super Psalterium, der erwähnten ersten Psalmenvorlesung, die in V. 2 erwähnte virga als Euangelium gedeutet89, doch fehlte der damaligen Deutung noch jene klare worttheologische Zuspitzung, die sich nun im Text des Jahres 1518 findet. Nun geht es Luther insbesondere darum, deutlich zu machen, dass die Wirkweise dieses Wortes „allain von gott“ her bestimmt ist90, es geht ihm also um ein worttheologisch und christologisch gedeutetes Solus Deus. Blickt man also auf das sich 1518 abzeichnende Programm, so steht eine Heilskonzentration auf Christus im Zentrum der reformatorischen Botschaft, deren Vermittlung passionstheologisch gedacht ist: Die Betonung der Alleinigkeit Gottes im Wirken des Heils steht nicht gegen die Passionsfrömmigkeit, sondern gibt dieser den in Luthers Augen nun einzig angemessenen Rahmen. Dies macht auch der zentrale passionstheologische Text des folgenden Jahres deutlich91: der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi92.

85 Zur Bedeutung dieser spätmittelalterlichen, mystisch gefärbten Frömmigkeit für Luthers Christologie verweist auch bereits LIENHARD, Luthers christologisches Zeugnis (wie Anm. 82), 27–31. 86 WA 1,339,28f. 87 WA 1,690,26. 88 WA 1,693,33f. 89 WA 55,278f; zur Deutung der virga auf das Wort Gottes s. in der Auslegung von 1518 ausdrücklich WA 1,694,26. 90 WA 1,34. 91 Zur grundlegenden Bedeutung dieses Textes als Grundlage für die spätere Christusverkündigung Luthers s. SEITZ, MANFRED, Luthers Christologie in seinen Predigten, in: Friedrich-Otto Scharbau (Hg.), Jesus Christus – Gott für uns, Erlangen 2003, 43–57, 54. 92 Vgl. zu diesem BRECHT, MARTIN, Luthers reformatorische Sermone, in: Christian Peters / Jürgen Kampmann (Hg.), Fides et pietas. FS Martin Brecht, Münster 2003 (HPE 8), 15–32, 23f.

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Die Titelholzschnitte, die diesem Text beigegeben wurden, wechselten in ichrer Motivik: Dominierend war die Darstellung Christi am Kreuz, aber einzelne Drucker verwandten auch das traditionelle Motiv des Schmerzensmanns93, dessen Gestalt sich hinter den Meditationsanweisungen von Johannes von Paltz vermuten ließ: Wenigstens in der Perspektive des Druckmarktes passte sich diese neue Veröffentlichung des zusehendes prominenten Mönchs aus Wittenberg, die mit 22 Druckausgaben bis 1522 und auch einer lateinischen Übersetzung 152194 überaus erfolgreich war, bestens in das Bedürfnis des frommen Publikums nach einer innerlich ausgerichteten Frömmigkeit ein95. Dem entsprach der Inhalt, der gleichwohl eine charakteristische eigene Akzentsetzung aufwies: Wie oben erwähnt, hatte Johannes von Paltz sich für die innerliche Frömmigkeitszuwendung zu Christus auf ein pseudoalbertinisches Zitat berufen, das bei ihm lautete: „Welcher mensch alle tag oben hin, als man erbes oder bonen erliset, uberlauft oder bedencket das leiden Cristi, der erlanget da mit mer nutz, dan das er alle Freitag das ganz jor fastet. Zu dem andern ist es im nutzer, dan das er im selber geb alle wochen ein disciplin, das das blut ernach ging durch das ganz jare. Zu dem dritten male ist es im nutzer, dan das er alle wochen das ghanz jare ein psalter betet.“96

Luther reagiert offenkundig auf diese Tradition, wenn er erklärt: „Darzu geht yrre eyn spruch, S. Albert zu geschrieben, das es besser sey, Christus leyden eyn mal oben hyn uber dacht, dan ob man eyn gantz jar fastet, alle tag eyn Psalter bettet etc.“97 Die kritische Wendung Luthers geht dabei – durchaus in Spannung zu dem ikonischen Appell der Druckausgaben – gegen die Verwendung von Bildern und Kreuzen98, also gegen eine bildlich-medial vermittelte Frömmigkeit. Die Äußerungen verweisen auf die intensive Auseinandersetzung Luthers mit der Bildthematik in einem mystisch geprägten Kontext der Vorstellung vom Entbilden99. Mit hoher Ambiguität formulierte Luther 93 S. WA 2,131f. Timothy Wengert verdanke ich den Hinweis, dass sich eine Schmerzensmanndarstellung mit arma Christi auch noch in einem Druck der Freiheitsschrift von 1522 findet: Von der freyheiut | eynes Christen | menschen. | Martinus Luther, [Coburg:] [Feilenfürst] 1522 (VD 16 L 7204), C 3v. 94 WA 2,131–135. 95 Vgl. zu Luthers Einbindung in einer „interiosierende[n] Bildreligiosität“ anhand des Sermons von der Bereitung zum Sterben auch HAMM, Der frühe Luther (wie Anm. 55), 141. 96 PALTZ, Werke 3 (wie Anm. 26), 202,20–203,5. 97 WA 2,136,12–14. 98 WA 2,136,16f. 99 S. MEISTER ECKHART, Werke, ed. v. Nikolaus Largier. Bd. 2, Frankfurt / M. 1993, 326,23–29: „Nû sprechent die meister, daz, sô man bekennet die crêatûre in bilden etlîcher underscheide; sô man aber die crêatûre in gote bekennet, daz heizet und ist ein morgenbekantnisse, und alsô schouwet man die crêatûre âne alle underscheide und aller bilde entbil-

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noch im selben Jahr in dem oben erwähnten, an Staupitz angelehnten Sermon von der Bereitung zum Sterben: „Alßo mustu die sund nit ansehen yn denn sundern, noch yn deynem gewissen, noch yn denen, die yn sunden endlich bliben und vordampt seyn, du ferest gewißlich hynach und wirst ubirwunden, sondern abkeren deyn gedancken unnd die sund nit dan yn der gnaden bild ansehen, und dasselb bild mit aller crafft yn dich bilden und vor augen haben. Der gnaden bild ist nit anders, dan Christus am Creutz und alle seyne lieben heyligen.“ 100

Für fromme Leser einer solchen Anweisung ist es schwer zu unterscheiden, ob Luther hier von einem ausschließlich geistig-geistlichen inneren Bild spricht oder das „vor augen haben“ nicht doch auch auf ein sichtbares Bild verweist; freilich ist es auffällig, dass die ersten Drucke dieses ebenfalls reichlich verbreiteten Traktates auf einen Titelholzschnitt verzichten101, wie ihn trotz der kritischen Wendung der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi noch aufwies. Hier aber lautete die Anweisung, dass das Leiden Christi dann recht betrachtet werde, wenn man vor dem Zorn Gottes erschrecke102. Die Passionsbetrachtung wird also gewendet zu einer Selbstbetrachtung des Menschen, der sich selbst als die Ursache des Leidens Christi entdeckt103: An und in Christus wird die Sündigkeit des Menschen offenbar. Unzweifelhaft lässt sich hier die reformatorische Grundform des Gegenübers von Gesetz und Evangelium erahnen, freilich in der charakteristischen Gestalt, dass die Erkenntnis des Zornes Gottes eben aus Christus hergeleitet wird, die eigenständige Funktion des Gesetzes also nur christologisch vermittelt erscheinen kann. Vor allem aber bleibt auch an dieser Stelle Luthers Einbindung in traditionelle Spiritualität frappierend: Die Erkenntnis der eigenen Sündigkeit als „selb erkentniß“ entspricht eben jenem mystischen Imperativ: „Nim din selbes war“, den Alois Maria Haas geradezu als Zentralthema der Eckhartischen Mystik identifiziert hat104, und im selben Zusammenhang nimmt Luther den Gedanken, dass der Mensch durch Christus diesem „gleych formig“ gemacht werden müsse, auf105, der oben bei Staupitz begegnete 106. Und eben auf dieser Basis

det und aller glîcheit entglîchet in dem einen, daz got selber ist.“ 100 WA 2,689,24–29. 101 S. WA 2,681. 102 WA 2,137,10–12. 103 WA 2,137,22f. 104 S. HAAS, ALOIS MARIA, Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg / Schweiz 1971. 105 WA 2,138,19; zum Auftreten dieses Gedankens in der Psalmendeutung vgl. SCHNEIDER, FLORIAN, Christus pradicatus et creditus. Die reformatorische Christologie Luthers in den Operationes in Psalmos (1519–1521), dargestellt mit beständigem Bezug zu seiner Frühzeitchristologie, Neukirchen-Vluyn 2004, 211–299.

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kann Luther dann wiederum das pseudoalbertinische Zitat positiv aufgreifen und erklären: „Wer alßo gottis leyden eyn tag, eyn stund, ja eyn viertel stund bedecht, von dem selben wollen wyr frey sagen, das es besßer sey, dan ob er eyn gantz jar fastet, alle tag eynn psalter bettet, ja das er hundert messen horet, dann dißes bedencken wandelt den menschen weßenlich und gar nah wie die tauffe widderumb new gepiret.“107

Die erneute Erwähnung des einjährigen Fastens und täglichen Psalterbetens macht deutlich, dass Luther das Albertus-Zitat erkennbar machen will: Die anfängliche Kritik erweist sich damit nicht als grundsätzliche Abweisung dieses Zugangs, sondern als Hinweis auf eine notwendige spirituelle Korrektur, deren Richtung die Vertiefung der innerlichen Perspektive ist: Pseuo-Albert ist dann noch unzureichend verstanden und umgesetzt, wenn die Abweisung bestimmter äußerlicher Formen in neuer Äußerlichkeiten hineinführt – erst die tiefe innere Erfassung Christi stellt einen angemessen Umgang mit diesem selbst und dem Heil dar. Und sie bewirkt dann – dies ist gegenüber späteren Formen forensischer Deutung der Rechtfertigungslehre markant hervorzuheben – zu einer als „weßentlich“ zu beschreibenden Änderung des Menschen: Es geht hier also keineswegs ausschließlich um eine relationale Neuorientierung des Menschseins108, sondern um eine dessen Substanz betreffende Neuformung. Die an Staupitz angelehnte Rede von der Gleichförmigkeit ist damit durchaus in dem Sinne zu verstehen, dass forma als Wesensgestalt einer Änderung unterliegt. Diese Änderung bildet dann die Grundlage für die neue christliche Lebenswirklichkeit. In bemerkenswerter Akzentverschiebung gegenüber Staupitz nämlich macht Luther allein schon durch die Verteilung im Text deutlich, dass der Vorbildcharakter Christi nur auf der Grundlage seines Heilswirkens angemessen verstanden werden kann: Erst im letzten der fünfzehn Gliederungspunkte der Schrift geht Luther von der Beschreibung Christi als sacramentum, das den Menschen an Leid und Auferstehung teilha-

106

Zur conformitas-Lehre bei Staupitz s. ausführlich WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (VIEG 141), 145–186. 107 WA 2,139,11–15. 108 Zu Recht heben PEURA, SIMON, Die Teilhabe an Christus, in: ders. / Antti Raunio (Hg.), Luther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der abendländischen Theologie, Helsinki / Erlangen 1990,121.-162, 148–160; TOTTEN, MARK, Luther on unio cum Christo. Toward a Model for Integrating Faith and Ethics, in: JRE 31 (2003) 443–462, 447–452, solche effektiven Momente in der Rechtfertigungslehre Luthers hervor; zur kritischen Auseinandersetzung mit den philosophischen Voraussetzungen einer Lutherdeutung, die diese effektiven Elemente in den Hintergrund gedrängt hat, s. SAARINEN, RISTO, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Stuttgart 1989 (VIEG 137).

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ben lässt, über zu der Dimension des exemplum109: eine ethisch realisierte Passionsfrömmigkeit kann nur Folge der meditativ versenkenden Passionsfrömmigkeit sein, wie sie zuvor beschrieben wurde. Hierin klingt die den mittelalterlichen Vorläufern nicht durchweg widersprechende, von Luther aber ganz eigens akzentuierte Betonung der Ausschließlichkeit des Wirkens Gottes und Christi im Heil auch im Blick auf die spirituelle Lebensgestaltung an. Die Schrift ist kein Ratgeber für die alltägliche Lebensgestaltung, sondern verweist auf die Neugestaltung des Grundes jeder christlichen Lebenswirklichkeit. Diese Ausführungen werfen ein deutliches Licht auf das Konglomerat von Überzeugungen, innerhalb dessen die Beziehung auf Christus allein Luthers Rechtfertigungsbotschaft wachsen ließ: In etwa in die Zeit des Sermons von der Betrachtung des Leidens Christi fällt der Sermo de duplici iustitia, der klar benennt: „Prima [iustitia] est aliena et ab extra infusa. Haec est qua Christus iustus est et iustificans per fidem.“110 Der Kontext des Sermons von der Betrachtung des Leidens lässt erkennen, dass die hier angesprochene infusio stark zu gewichten ist: Luther geht es tatsächlich um eine Veränderung des Menschen, die diesen auch wesentlich betrifft. Zugleich sind beide Texte von dem Gedanken der alleinigen Begründung dieses neuen Heils und dieser neuen Gerechtigkeit durchdrungen, formulieren dies aber in je unterschiedlicher Terminologie: der eine in der Sprache spätmittelalterlicher Frömmigkeitsliteratur, der andere mit Hilfe des augustinisch-paulinischen Vokabulars111.

4. Das Solus Christus in Abgrenzung von der alten Kirche Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, wie tief das reformatorische Solus Christus in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur verankert ist: Noch dort, wo sich Andeutungen späterer Besonderheiten abzeichnen, bleibt 109

WA 2,141,8–13. WA 2,145,9f. 111 Die Gedanken führen weiter zu der Vorstellung vom brautlichen Wechsel in der Freiheitsschrift, der bei Luther durch eine lange Entwicklung seit der ersten Psalmenvorlesung vorbereitet ist (s. ALLGAIER, WALTER, Der „fröhliche Wechsel“ bei Martin Luther. Eine Untersuchung zu Christologie und Soteriologie bei Luther unter besonderer Berücksichtigung der Schriften bis 1521, Diss. Erlangen 1966; zur Nähe zu Staupitz ebd. 142– 144); s. hierzu BAYER, OSWALD, Das Wort ward Fleisch. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, in: Friedrich-Otto Scharbau (Hg.), Jesus Christus – Gott für uns, Erlangen 2003, 58–101, 61f; RIEGER, REINHOLD, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana, Tübingen 2007 (KSLuth 1), 180–195. HOLM, Justification (wie Anm. 55), 102–107, macht deutlich, dass es genau dieses in der Mystik verwurzelte Bild von der Ehe ist, das die Gegenseitigkeit der Gabe zwischen Christus und dem sündigen Menschen versinnbildlicht. 110

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der Schriftsteller Martin Luther eingebunden in die Form von Erbauungsliteratur, wie sie in seinem Umfeld, insbesondere bei Staupitz gepflegt wurde. Charakteristisch für die Komplexität dieser Entwicklungen ist nun aber, dass das Solus Christus zu einer Exklusivformel im abgrenzenden Sinn parallel zu dieser positiven Entfaltung wurde, dass sich also die Unterscheidung von der Kirche des Papstes im Signum des Solus Christus bereits vollzog, während Luther an anderer Stelle noch ungebrochen am traditionellen Diskurs teilnahm. Den Hintergrund hierfür bildete der Ablassstreit, wenn auch nicht die Ablassthesen selbst. Diese sind in ihrem spirituellen Kern noch ohne Weiteres als Folge der frömmigkeitstheologischen Neuorientierung, die Martin Luther innerhalb der spätmittelalterlichen Glaubenswelt durch Staupitz und, vermittelt durch diesen, durch Johannes Tauler erfuhr112. Die Berufung auf Christus als den „Dominus et magister noster“113 drückte eben jenen positiven Bezug auf Christus aus, den Martin Luther in den folgenden Monaten und Jahren passionstheologisch entfaltete114. Schon bald aber wurde Luther in den Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern deutlich, dass seine Kritik am Ablass einen soteriologischen Kontext aufwies, welcher die Kraft Christi so stark betonte, dass andere Modelle der Gnadentheologie aus dieser Perspektive als unzureichend erschienen115. So erwiderte Luther in seinen Asterisci auf den Einwand Johannes Ecks, dass Christus das Herz und den Willen anblicke116, in der Seele sei Christus der Herrscher und der Wille ganz dienstbar117. In diesem Zusammenhang spielte auch mehrfach die passio Christi eine argumentative Rolle. So konnte Luther, anders als in den Ablassthesen selbst, nun den Glauben an Christus und die – in seinen erbaulichen Schriften ja entsprechend angeregte – Bereitschaft, dessen exemplum zu folgen, in Gegensatz zu einer auf die Ablässe vertrauenden Frömmigkeit stellen118. Dies gehört noch in die auch sonst zu beobachtende Konfrontation aus innerlicher und äußerlicher Frömmigkeit, doch steigerte sich der Gegensatz innerhalb der Asterisci, angestachelt durch die herausfordernde Argumentation Ecks, zu einer Position, welche sich zunehmend in Gegensatz nicht zu einem beliebigen, sondern 112

Vgl. Kapitel 15 in diesem Band. WA 1,233,10. 114 Zu den impliziten christologischen Hintergründen der Ablassthesen s. ROSIN, Christology (wie Anm. 24), 160. 115 Treffend bemerkt LEXUTT, ATHINA, Christologie als Soteriologie. Ein Blick in die späten Disputationen Martin Luthers, in: dies. / Wolfgang Matz (Hg.), RELATIONEN – Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation. FS Karl-Heinz zur Mühlen, Münster 2000 (AHSysTh 1) 201–216, 202: „Christologie als Soteriologie – dies ist die Kurzform der reformatorischen Erkenntnis“. 116 WA 1,283,3. 117 WA 1,283,19f. 118 WA 1,306,22–25. 113

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zu dem Hauptstrom der mittelalterlichen Kirche stellte: Eck hatte im Blick auf Luthers 34. These, welche erklärte, dass die vom Papst bestätigten Ablässe allein die sakramentale Wiedergutmachung, wie Menschen sie eingesetzt haben, betreffen könne119 auf die Absolutionsformel „Quod minus inuinxi, suppleat amara passio Christi“ verwiesen120, also die unmittelbare liturgische Anwendung passionstheologischer Frömmigkeit in die Debatte eingebracht. Dem hielt Luther nun entgegen, dass eben hierdurch die Passion Christi entwürdigt werde, weil Eck sie so allein auf die Strafen, nicht aber auf die Schuld der Menschen anwende121 – und in Ansätzen erahnte Luther, dass er sich hier, auf der Basis seiner Christusfrömmigkeit in die Gefahr einer Abweichung vom mittelalterlichen Konsens zu bewegen: „Hic forte non fuerit mihi tutum dicere, quod iste usus sacerdotum mihi non placeat, ne iterum dicat, Bohemicum virus me seminare.“122 Es erscheint also eine Ahnung dessen, dass bei gleicher Basis der Betonung der Passion Christi das dieser beigemessene Gewicht zu einem Spalt führen kann, den Luther in seinen Asterisci auch bereits auf unterschiedliche Theologieverständnisse bezog, indem er das dem Denken, welchem er folgte, der scholastischen, an Aristoteles orientierten123 Denkweise Ecks entgegenstellte124 – es zeichnet sich also bereits die Verbindung des Solus Christus mit einem neuen Theologiemodell ab, wie sie sich dann vor allem in der Heidelberger Disputation äußern sollte. Luther ging jetzt sogar schon so weit, den Wahrheitsanspruch der scholastisch argumentierenden Theologie in Frage zu stellen: „Fateor haec omnia esse vera, si scholastica sunt vera. Quod Eckius asserit, ego nego.“125 Diese Gegenüberstellung gipfelte wenig später in der berühmten Konfrontation der 21. These der Heidelberger Disputation zwischen dem theologus gloriae und dem theologus crucis126. Schon die Rede von der crux verweist

119 WA 1,235,3f; zum Bezug von Ecks 16. Obeliscus hierauf s. Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521). 1. Teil: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518), ed. v. Peter Fabisch u. Erwin Iserloh, Münster 1988 (CCath 41), 429 Anm. y. 120 WA 1,301,1; zu dieser Formel vgl. etwa Die Statuten der ältesten bekannten Synode von Brixen im Jahre 1511, ed. v. Ludwig Rapp, in: ZFTV 22 (1878), 1–46, 43. 121 WA 1,301,7–10. 122 WA 1,301,13–15. 123 Zum Gegensatz Christi und Aristoteles’ s. WA 1,304,10f. 124 WA 1,282,12. 125 WA 1,303,19f; vgl. auch ebd. 306,9f: „Sit Christus mecum et verbum suum, et non timebo, quid faciat mihi vel totus mundus.“ 126 WA 1,354,21f; LUTHER, MARTIN , Studienausgabe, ed. v. Hans-Ulrich Delius. Bd. 1, Berlin ³1987, 215,14f. Diese Unterscheidung hat Luther in den Resolutiones zu den Ablassthesen weiter entfaltet: „Theologus vero gloriae (id est qui non cum Apostolo solum crucifixum et absconditum deum novit, sed gloriosum cum gentibus, ex visibilibus invisibilia eius, ubique presentem, omnia potentem vider et loquitur) discit ex Aristotele, quod

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unmittelbar auf den passionschristologischen Hintergrund127, und dies gilt erst recht für die passionstheologisch argumentierende inhaltliche Bestimmung des theologus crucis128 als denjenigen, der die visibilia et posteriora Dei durch das Leiden und das Kreuz anschaut129. In seiner probatio erläuterte er, dass es hier um das Ansichtigwerden der Menschheit Christi gegen alle eigene Weisheit der Menschen gehe 130. Wenigstens der Grundgedanke ent-

obiectum voluntatis sit bonum et bonum amabile, malum vero odibile, ideo deum esse summum bonum et summe amabile. Et inde dissentiens Theologo crucis diffinit, thesaurum Christi esse relaxationes et solutiones poenarum tanquam rerum pessimarum et odibilissimarum, Contra Theologus crucis, thesaurum Christi esse impositiones et alligationes poenarum tanquam rerum optimarum et amabilissimarum“ (WA 1,614,17–25); vgl. hierzu KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187), 133. Die Identifikation einer „geesteshistorische revolutie“ an dieser Stelle der Heidelberger Disputation (so MUIS, JAN, Christologische Perspectieven in Luthers Heidelbergse Disputatie, in: ThRef 43 [2000] 132–145, 135) sagt mehr über protestantische Selbstauslegung als über den tatsächlichen Verlauf der Geistesgeschichte aus. 127 Grundlegend hierzu TOMLIN, GRAHAM S., The Medieval Origins of Luther’s Theology oft he Cross, in: ARG 89 (1998) 22–40; vgl. LIENHARD, Luthers christologisches Zeugnis (wie Anm. 82), 74, der freilich absichernd formuliert, Luther übernehme hier „nicht nur eine bestimmte, in der Kirche überlieferte Frömmigkeit“ – das ist in dieser Weise unbestreitbar richtig, trägt aber zu einer angemessenen Verhältnisbestimmung wenig bei, zumal Luther der Kirche und ihrer Tradition nicht einfach gegenübersteht, sondern als ein Teil von ihr seine Christologie entwirft; vgl. auch BLAUMEISER, HUBERTUS, Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos (1519–1521), Paderborn 1995 (KKTS 60), 485f, der mit einer Frühdatierung der reformatorischen Wende Luthers einen „vorreformatorischen“ Charakter der theologia crucis bestreiten will – und eben dadurch zeigt, wie wenig fruchtbar solche verfestigten Vorstellungen von einer „Wende“ in Luthers Entwicklung sind. 128 Vgl. auch die Hinweise auf die tiefe Verankerung der theologia crucis Luthers in seiner Psalmenauslegung bei KREUZER, MICHAEL, „Und das Wort ist Fleisch geworden“. Zur Bedeutung des Menschseins Jesu bei Johannes Driedo und Martin Luther, Paderborn 1998,212–222. Allerdings ist Kreuzer in seiner Studie in der Gefahr, die Denklogik Luthers umzukehren, insofern er die Christologie von der Zwei-Naturen-Lehre her entfaltet und erst von dieser auf die Soteriologie kommt, während für Luther die Soteriologie Erschließungscharakter für die Inkarnation besitzt; vgl. zu einem angemesseneren Umgang mit Luthers Christusbotschaft LIENHARD, Luthers christologisches Zeugnis (wie Anm. 82), 37: „Wir wollen so die Tatsache zum Ausdruck bringen, daß Luthers Texte keine Abhandlungen über die Christologie bieten. Wie groß auch der Raum sein mag, den Christus in ihnen einnimmt – sie bieten und doch keine ausgearbeitete Christologie.“ Selbstverständlich lassen sich gleichwohl Elemente der altkirchlichen Christologie bei Luther nachzeichnen; vgl. hierzu HAANES, VIDAR L., Christological Themes in Luther’s Theology, in: StTh 61 (2007) 21–46. 129 WA 1,354,19f; LUTHER, Studienausgabe 1 (wie Anm. 126), 215,12f. 130 WA 1,362,4–14; LUTHER, Studienausgabe 1(wie Anm. 126), 208,4–13.

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spricht offenkundig der mystisch geprägten Passionschristologie, wie sie sich bei Bernhard von Clairvaux findet: „Hanc ego arbitror praecipuum invisibili Deo fuisse causam, quod voluit in carne videri et cum hominibus homo conservari, ur carnalium videlicet, qui nisi carnaliter amare non poterat, cunctas primo ad suae carnis salutarem amorem affectiones retraheret, atque ita gradatim ad amorem perduceret spiritualem“131,

Der für das 12. Jahrhundert gelegentlich postulierte132, aber nicht unstrittige133 Gegensatz von monastischer und scholastischer Theologie gewinnt hier also bei Luther eine passionschristologisch zugespitzte Fassung – es ist die eine mittelalterliche Tradition, die der Wittenberger Mönch gegen die andere, scholastische vorbringt. Diese mystische Ausrichtung seiner Argumentation wird noch deutlicher, wenn man den Bericht Bucers einbezieht, der aufgrund seiner eigenen Augenzeugenschaft und eines folgenden Gesprächs mit Luther134 über mehrere Thesen detailliertere Erläuterungen gibt. Charakteristisch ist hier These 1 über das Gesetz Gottes. Die von Luther schriftlich vorbereitete135 probatio thematisiert vornehmlich den Charakter des Gesetzes als tötend anhand biblischer und patristischer Belege136. Nach Bucers Bericht hingegen habe Luther, anknüpfend an Augustins De spiritu et littera auch die positive Bedeutung des lex spiritus entfaltet und davon gesprochen, dass dieses in die Herzen der Menschen gegeben werde und dann nicht diese selbst, sondern, Paulus gemäß (Gal 2,20), Christus in ihnen lebe137. Dies zeigt an, dass für den Luther der Heidelberger Disputation die erkenntnistheoretische Christozentrik wie in anderen Schriften mit einer soteriologischen einherging, nach wel-

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BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke. Lateinisch / deutsch, ed. v. Berhard B. Winkler. Bd. 5, Innsbruck 1994, 118,21–26. Zum Hintergrund von Luthers theologia crucis bei Bernhard s. TOMLIN, Origins (wie Anm. 127), 33–37; KÖPF, ULRICH, Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: Athina Lexutt (Hg.), Reformation und Mönchtum, Tübingen 2008 (SMHR 43), 29–56, 54f; zur Verwendung Bernhards bei Luther in der Zeit der Heidelberger Disputation s. BELL, THEO, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148), 127–133. 132 S. LECLERCQ, JEAN, Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963. 133 KLITZSCH, INGO, Die „Theologien“ des Petrus Abaelardus. Genetisch-kontextuelle Analyse und theologiegeschichtliche Relektüre, Leipzig 2010 (AKThG 29), 589. 134 S. die Hinweise darauf in WA 9,162,6f. 14f.; vgl. KAUFMANN, THOMAS, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012 (SMHR 67), 341. 135 Zum Vorbereitungscharakter der probationes s. Helmar Junghans in LUTHER, Studienausgabe 1 (wie Anm. 126), 188. 136 WA 1,355,32–356,4; LUTHER, Studienausgabe 1 (wie Anm. 126), 200,10–15. 137 WA 9,162,37–43.

Kapitel 16

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cher das Gesetz alles verurteile, was nicht in Christus geschieht138. Luther hat also hier aus der Christozentrik heraus die denkbar stärkste Opposition gegenüber einer als ebenso dominant wie irrig wahrgenommenen Theologie erreicht. Die Ausformung des Solus Christus als Kampfformel gegen die mittelalterliche Kirche ist damit gut ein Jahr früher erreicht als die des Sola scriptura, das in seiner vollen Gestalt erst in der Leipziger Disputation entstand 139. Gleichwohl hat auch diese eine gewichtige Bedeutung für die ekklesiologische Ausrichtung des in Heidelberg ausgesprochenen Gegensatzes erlangt, insofern die Frage, über die Eck und Luther sich maßgeblich stritten, die nach Christus als dem Haupt der Kirche war140: Die Orientierung an Christus war nun endgültig in einen Gegensatz zur Leitung der Kirche durch den Papst getreten, und in dieser Hinsicht war es durchaus konsequent, dass Luther kurz nach der Leipziger Disputation zu der Erkenntnis kam, in der Kirche regiere der Antichrist141. Damit war die Entwicklung des Solus Christus zu einem gewissen Abschluss gelangt. Aus der Rückschau stellt sich diese als ein Weg dar, auf welchem sich Stück für Stück Luthers Überzeugungen von dem seines Umfeldes abhoben, freilich nicht so, dass man hier von einer einfachen Abfolge sprechen könnte. Vielmehr lagen in dieser Transformation spätmittelalterlicher Christus- und Passionsfrömmigkeit Kontinuität und Diskontinuität unlöslich ineinander: Auf der einen Seite bewegte Luther sich lange Zeit als Erbauungsschriftsteller im Rahmen der Erbauungsliteratur, wie sie ihm durch Johann von Staupitz vertraut war, auf der anderen Seite entwickelte er gleichzeitig, vor allem in Auseinandersetzung mit Johannes Eck, eine zunehmend kritische Anwendung des Solus Christus gegen die alte Kirche. Dabei sind einzelne Konzepte und Formulierungen in beiden Kontexten – dem positiverbaulichen ebenso wie dem kritisch gewendeten – anzutreffen und verweisen auf deren enge Verbindung. Das Solus Christus war damit in ihrer Entstehung zugleich eine integrativ fortführende Vorstellung wie eine exklusiv abgrenzende. Sie bleibt mit Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund untrennbar verbunden, gerade auch dort, wo Luther am Ende einen Weg gehen zu müssen meinte, der ihn aus der Kirche des Mittelalters hinausführte.

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WA 1,354,35f; LUTHER, Studienausgabe 1 (wie Anm. 126), 3f. S. den Beitrag 19 in diesem Band. 140 WA 59,437,131–137 u.ö. 141 WA 6,429,33–430,6. 139

Kapitel 17

Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther Man kann Theologiegeschichte unter dem Gesichtspunkt des bleibenden, möglicherweise fortdauernd verbindlichen Bestandes betrachten – aber auch unter dem der Veränderungen, ihrer Beweggründe und Richtungen. Die folgenden Ausführungen stellen als kirchenhistorischer Beitrag Letzteres in den Vordergrund, freilich nicht ausschließlich: Der Leitbegriff der Transformation soll deutlich machen, dass die Veränderung sich an einem gemeinsamen Gegenstand vollzieht, auch über die Schwelle der Reformation hinweg. Deren Bedeutung wird dabei freilich zugleich durch den Begriff der „Radikalisierung“ hervorgehoben: Auch und gerade wo Luthers Theologie als allmähliche Transformation1 bestimmter Stränge spätmittelalterlicher Theologie und Spiritualität verstanden wird, kann sein Denken als Neuansatz verstehbar werden. Im Folgenden wird, um der Veränderlichkeit des theologischen Denkens gerecht zu werden, vorwiegend auf die Anstöße geachtet, die Denkprozesse in Gang gesetzt haben. Die Entwicklung von Thomas bis zur reformatorischen Theologie wird dabei auf drei Deutungsbewegungen reduziert, wie sie im Titel des Beitrags angesprochen sind. So erscheint die Sündenlehre des Thomas von Aquin als eine eminent von der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts geprägte Auseinandersetzung mit klassischen Themen der Theologie – und insofern als deren Aristotelisierung. Wenn dann, sowohl für die Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts als auch für die scholastische Via moderna von „Immediatisierung“ gesprochen wird, so ist dabei an eine Zuspitzung des Gottesverhältnisses auf Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch gedacht. Schließlich erscheint Luthers Sündenverständnis, seine eigene Begrifflichkeit vom peccatum radicale aufgreifend, als eine Radikalisierung des Sündenverständnisses – und zugleich auch der vorauslaufenden theologischen Entwicklungen. 1

Zur allmählichen Entwicklung von Luthers Theologie s. zusammenfassend LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 12006, 116f.

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Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung

1. Thomas von Aquin: Einzeichnung des Sündenverständnisses in den Horizont aristotelischer Anthropologie und Ethik Die thomasische Sündenlehre kann im Folgenden nicht in allen ihren Facetten dargestellt werden, nicht einmal anhand aller in Frage kommenden Quellenstücke. Vielmehr erfolgt die Darstellung anhand des unumstrittenen Hauptwerkes des Thomas, der Summa Theologiae. Hier steht die Sündenlehre in der prima pars secundae partis, und damit in der Lehre von den menschlichen Eigenschaften. Der engere Kontext wird in der Vorbemerkung zu q. 55 angekündigt, wonach die folgenden quaestiones zunächst die guten habitus behandeln sollen, dann aber – und das sind konkret die seit kurzem durch einen solennen Kommentar aus der Feder Otto Hermann Peschs erschlossenen2 quaestiones 71–89 – die Laster, vitia, und Sünden peccata. Der weitere Kontext ergibt sich aus der Stellung der I-II, deren erste quaestio der Frage nach dem finis ultimus des Menschen gewidmet ist und diesen in q. 2 als beatitudo weiter ausführt. Die Sündenlehre wird also nicht von der Schöpfungstheologie aus entfaltet, die ihren Ort im Zusammenhang der Gotteslehre der prima pars hat, sondern von der Bestimmung des Menschen aus und damit im Zusammenhang eines Konzeptes, in dem sich bei Thomas christliche Eschatologie und aristotelische Entelechie gegenseitig ergänzen und umgestalten. In dieser entelechetischen Denkstruktur, die den gesamten Aufbau der Anthropologie und auch der Christologie der Summa prägt, insofern auch die Inkarnation Christi ganz unter dem Gesichtspunkt bedacht wird, dass sie Ermöglichungsgrund für die letztliche Bestimmung des Menschen, eben die beatitutdo ist, erscheint die Sünde als ein Hindernis für die Erfüllung der Bestimmung des Menschen und wird von hier aus thematisiert. Umgekehrt kann man sagen: Die Behandlung der Sünde bedeutet in diesem Zusammenhang eine Art Vorbau zur Christologie, insofern sie erst deutlich macht, inwiefern die Menschheit zur Erreichung ihres Telos auf Christus angewiesen ist. Dabei ist im Folgenden terminologisch zu beachten, dass Thomas als peccatum eigentlich den lasterhaften Akt fasst, der vom vitium als einem habitus des Menschen, also einer – in diesem Falle zur Sünde (I-II q. 71 a.3 r.)3 – disponierenden Eigenschaft unterschieden ist4 (I-II q. 71 a. 3). Die vitia2

THOMAS VON AQUIN, Die Sünde. Kommentiert von Otto Hermann Pesch. I-II 71–89, Wien 2004 (Die deutsche Thomas-Ausgabe 12). 3 Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera Omnia iussu impensaque Leonis XIII P.M. edita. Bd. 7, Rom 1892, 6a: „habitus non dicitur bonus vel malus nisi ex hoc, quod inclinat ad actum bonum vel malum“. 4 THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,5a: „vitium, id est habitus malus (...) peccatum, idest actus malus“. Diese Aussage findet sich in einem Kopfargument, wird aber auch in dessen Widerlegung wie in der gesamten Argumentation des Thomas vorausge-

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Lehre ist aber durch diese Disposition aufs engste auf das peccatum bzw. die peccata bezogen und lässt sich, wie die Ausführungen zur Ursünde zeigen werden, von dem peccatum-Begriff gar nicht ausschließlich aufgrund der Unterscheidung von habitus und actus trennen. Im Detail zeigt sich hier die Verbindung von aristotelischer und tradiert christlich-theologischer Terminologie. Die aristotelische habitus-actus Lehre ermöglicht die Verbindung beider den geistigen Hintergründen nach disparater Konzepte miteinander in einem anthropologischen Gesamtkonzept. Für eine theologiegeschichtliche Behandlung ist diese begriffliche Differenz einerseits zu markieren, andererseits aber der gemeinsame Oberbegriff der Sünde durchaus legitim, insofern vitium bei Thomas eben die eigenschaftsbezogenen Aspekte der Sünde bezeichnet. Dass die vitia-Lehre in den entelechetischen Horizont eingezeichnet wird, lässt den mit ihnen verbundenen Defekt sofort als Defekt der natürlichen Ordnung und Gegebenheiten erscheinen: Ist das Ziel des Menschen eines, das seine Natur prägt, so ist dasjenige, was diesem Ziel entgegensteht, eben das vitium, selbstverständlich etwas, was der Natur entgegensteht, und das bedeutet, da die menschliche Natur durch die Vernunftseele geformt wird, es ist vernunftwidrig: „vitium autem intantum est contra naturam hominis, inquantum est contra ordinem rationis“ (q. 71 a. 2 r.)5. Und so wie das vitium vernunftwidrig ist, ist natürlich auch die Tat, zu der es neigt, das peccatum unter diesem Gesichtspunkt der Vernunftwidrigkeit zu sehen – und entsprechend in einer rational strukturierten Ethik zu behandeln, gerade weil es die Brechung des Weges des Menschen von der Schöpfung zum durch Christus geschenkten Heil darstellt. Diese Rationalität ist aber wiederum nur in bestimmter Hinsicht mit einer philosophisch konstruierten Ethik ineins zu sehen. Nach I-II q. 71 a. 6 r. steht fest, dass eine Sünde nichts anderes ist als ein menschlicher Akt6. Als solcher ist er im Willensvermögen des Menschen zu verorten und näherhin zu definieren als der Mangel an der Entsprechung zur Vernunftregel. Diese aber ist für den menschlichen Willen eine doppelte: „ipsa humana ratio“ und: „lex aeterna, quae est quasi ratio Dei“7. Die bei Thomas immer wiederkehrende Zuordnung von menschlicher Vernunft und göttlicher Ordnung kehrt also auch hier wieder und macht die philosophisch-theologische Konstruierbarkeit der Sündenlehre deutlich. Die Zuordnung der Sündenlehre zum Naturbegriff prägt auch die Erbsündenlehre des Thomas. Die Grundanlage seiner Sündenlehre ist zwar im Blick auf ihre eschatologisch-entelechetisches Ziel heilsgeschichtlich konstruiert, nicht aber im Blick auf ihre Entstehung. Die Frage nach der Erbsünde gesetzt; zu seiner Konzentration auf Sünde als Tatsünde vgl. die Hinweise von Otto Hermann Pesch in: THOMAS, Die Sünde (wie Anm. 2), 661–665. 5 THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,5a. 6 THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,9a: „peccatum nihil aliud est quam actus humanus malus“ 7 THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,9a.

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winnt – naheliegender Weise aufgrund ihrer oben erwähnten Stellung in der Summa –, keine heilsgeschichtliche Kontur, sondern in ihrer Behandlung steht im Vordergrund die gegenwärtige Verfasstheit des Menschen als des von den Folgen der Ursünde geprägten Menschen, und Thomas benennt entsprechend als Alternativbegriff zum peccatum originale auch den Begriff des peccatum naturae (I-II q. 81 a. 1 r.). Mit dieser Formulierung zieht er die Konsequenz aus Überlegungen zur Frage der Übertragung der Erbsünde von den Ureltern auf ihre Nachfahren. Obwohl er die Theorie aufgreift, dass die Ursünde zugleich mit der Natur durch den männlichen Samen als instrumentelle Ursache übertragen wird (I-II q. 83 a. 1 r.), stellt er in I-II q. 81 a. 1 r die gängigen, an die geschlechtliche Zeugung gebundenen Traduktionstheorien als unzureichend dar, da diese zwar den Vorgang einer Defektübertragung erklären können, nach seiner Auffassung aber nicht den einer Schuldübertragung, da Schuld an den Willen gebunden sei. Stattdessen legt er hier ein Modell vor, das auf der platonisierenden Vorstellung einer in Adam wurzelnden Gesamtverfassung der Menschheit beruht und diese organologisch in Analogie zum menschlichen Körper interpretiert8: So wie in diesem nicht der Wille der Hand für eine Tat verantwortlich ist, sondern das Willenszentrum des Gesamtmenschen, so ist auch in der Gesamtmenschheit Adam als eine Art Willenszentrum zu betrachten, „qui movet motione generationis omnes qui ex eius origine derivantur“9. Die individuelle Zurechenbarkeit der Schuld an den einzelnen ist damit einerseits gegeben, aber nur insofern die einzelne Person der Natur Adams entspringt10. In dieser Konstellation aber ist die Ursünde Adams real in jedem Menschen. Sie bleibt dabei mit sich der Art und Verhältnisbestimmung zum Ursprung nach identisch, ist der Zahl nach aber vervielfacht (I-II q. 82 a. 2 r.)11. Der denkerische Horizont dieser Überlegungen, mit denen Thomas das Problem von Individualität und individualitätsübergreifender Schuld in der Erbsünde lösen will, und damit seine schwierige Rezipierbarkeit für spätere Theorien wird deutlich, wenn man auf die Debattenlage blickt, in der Thomas sich bewegte: Sein christlicher Aristotelismus stand in einem ambivalenten Verhältnis zu der bekannt gewordenen arabischen Philosophie. Einerseits hat er sich bekanntlich scharf von insbesondere Averroes abgegrenzt und seine Pariser Gegner als „lateinische Averroisten“ diffamiert. Die Abgrenzung von den Theorien des Averroes war aber gerade in der Seelenlehre äußerst diffizil und mühsam. So zeigt der Tractatus de unitate intellectus das durchgängige 8

S. hierzu PESCH, in: THOMAS, Die Sünde (wie Anm. 2), 915. THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,88a. 10 THOMAS, Opera 7 (ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,88b: „ita peccatum originale non est peccatum huius personae, nisi inquantum haec persona recipit naturam a primo parente“. 11 THOMAS, Opera 7(ed. Leonina, wie Anm. 3) 7,96b: „Et ideo peccatum originale est unum specie. Et in uno homine non potest esse nisi unum numero: in diversis autem hominibus est unum specie et proportione, diversum autem numero“. 9

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Bemühen, die Individualität des Intellekts gegenüber der averroistischen Lehre von der Allseele zu behaupten, doch Thomas macht auch das Zugeständnis, dass es denkbar wäre, nur dem intellectus possibilis vielfältige Individuationen zuzusprechen, den intellectus agens jedoch als Einheit zu verstehen. Er macht sich diese Lehre zwar nicht zu Eigen, zeigt aber in diesem Reflexionsgang, dass er hier die Ablehnung des averroistischen Denkens für weniger zwingend hält als in anderen Zusammenhängen. Dies kann auch deswegen nicht überraschen, weil seine realistische Position in der Universalienlehre jedenfalls einen starken Zug zur Behauptung einer den Individuen vorgegebenen Einheit des Allgemeinen aufweist. Für die Sündenlehre ist ihm dies geradezu der Schlüssel, der ihm die denkerische Zuordnung von individueller Freiheit von böser Tat beim Säugling und willensbedingter Schuld – durch Teilhabe an der gemeinsamen Menschennatur und damit an Adams Willensbewegung – ermöglicht. So wird die Ursünde auf die Menschennatur bezogen, aber nicht auf Naturursachen zurückgeführt, sondern bleibt auf einen voluntativen Vorgang bezogen. Der Bezug auf die Natur wird aber noch weiter ausgeführt, nämlich in der Reflexion auf den habitualen Charakter der Ursünde, die sich in I-II q. 82 findet – eine Fragestellung, die zugleich die Schwierigkeiten aufdeckt, in die Thomas sich allein schon begrifflich durch die Integration von philosophischer Anthropologie und theologischer Sprache hineinbewegt. Bereits die Überlegung selbst zeigt, dass mit peccatum originale nicht einfach eine Unterform dessen gemeint ist, was Thomas in seiner allgemeinen Lehre als peccatum eingeführt hatte, wäre hiernach doch klar, dass peccatum stets ein Akt im Unterschied zum vitium als Habitus ist. Offenbar aber rückt das peccatum originale näher an das vitium heran. Freilich ist für die Einordnung in habitualem Sinne eine privative Bestimmung leitend: peccatum originale ist in formaler Hinsicht der gänzliche Verlust der Urstandsgerechtigkeit (defectus originalis iustitiae; I-II q. 82 a. 3 r.), auf deren Verlust Thomas dann noch einmal in einem anderen Kontext, in ST II-II q. 163–165 zu sprechen kommt, wo er gewissermaßen die heilsgeschichtliche Verankerung der Sündenlehre nachträgt, insbesondere im Blick auf die Frage, ob die Sünde der Ureltern schwerer wiege als die anderer Menschen, was er zwar nicht im Blick auf die Gestalt der Sünde, wohl aber im Blick auf die Sünder, die aus dem Status der Vollkommenheit heraus gesündigt haben, bejaht (II-II q. 163 a. 3). Nach seinen Ausführungen in I-II kann es sich beim peccatum originale nicht um einen habitus in dem Sinne handeln, wie dies der Tugend- und auch der Lasterbestimmung zugrunde liegt, nämlich als Neigung zu einer bestimmten Tätigkeit, sie ist vielmehr wie die Krankheit eine Verkehrung der Natur, genauer: ein languor naturae, eine Ermattung der Natur (I-II q. 82, a. 1 r.). Material ist dieses peccatum die concupiscentia als eine Art von Unordnung der Natur (I-II q. 82 a. 3 r.). Mit dieser Zuspitzung öffnet Thomas den Weg dazu, dass Ursünde allenfalls in materialer Hinsicht als treibende Kraft er-

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Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung

scheinen kann, formal jedoch keinen irgendwie gearteten Machtcharakter besitzt. Diese Beschreibung der Ursünde entspricht ihrer Interpretation als Verlust der Urstandsgerechtigkeit, verweist aber zugleich auf die mögliche Heilbarkeit des Schadens durch Wiederherstellung dieser Gerechtigkeit, das heißt, der Defekt muss – und kann – korrigiert werden. Dies geschieht, indem der Mensch in den theologischen Tugenden eine Gabe erhält, die über seine natürlichen Fähigkeiten hinausgeht (I-II q. 62 a. 1 r.) – eine Qualifikation, die generell gilt, also für den Menschen in seiner Geschöpflichkeit überhaupt, nicht allein in seinem gefallenen Stand. Allein letzterer ist aber wiederum für die eschatologisch-entelechetisch orientierte Argumentation des Thomas leitend. Und hier nun findet sich die Stelle, an der innerhalb der Tugendlehre am Deutlichsten auf genuin theologische Inhalte und Erkenntnisse verwiesen wird: Die durch die theologischen Tugenden gegebene Ausrichtung auf die Seligkeit übersteigt das dem menschlichen Verstehen aus sich heraus Mögliche. Das heißt: „Et quia huiusmodi beatitudo proportionem humanae naturae excedit, principia naturalia hominis, ex quibus procedit ad bene agendum secundum suam proportionem, non sufficiunt ad ordinandum hominem in beatitudinem praedictam. Unde oportet quod superadduntur homini divinitus aliqua principia, per quae ita ordinetur ad beatitudinem supernaturalem, sicut per principia naturalia ordinatur ad finem connaturalem, non tamen absque adiutorio divino. Et huiusmodi principia virtutes dicuntur theologicae; tum quia habent Deum pro obiecto, inquantum per eas recte ordinamur in Deum; tum quia a solo Deo nobis infunduntur; tum quia sola divina revelatione, in sacra Scriptura, huiusmodi virtutes traduntur.“ (I-II q. 62 a. 1 r.)12

Erforderlichkeit im Sinne der Erfüllung des finis des Menschen und Übernatürlichkeit konvergieren hier mit der in der wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Summa ausgedrückten Angewiesenheit des Menschen auf übernatürliche Erkenntnisquellen seiner über seine eigenen Grenzen hinausgehenden Bestimmung zu einem Gesamtmodell, das die Ausrichtung des Menschen auf die Seligkeit zur Grundlage aller weiteren Reflexion, auch der Sündenreflexion macht. Der Eingießung der theologischen Tugenden in der Taufe bewirkt die Ausrichtung des Menschen auf Gott. Sie korrigieren eben jene inordinata dispositio, die die Ursünde als Verlust der Urstandsgerechtigkeit darstellte (I-II q. 82 a. 1 r.), richten den Menschen also neu auf sein Ziel aus. Die Eingießung der theologischen Tugenden als habitus stellt in diesem Sinne eine Korrektur der ursündlichen Verfasstheit des Menschen dar, die le-

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Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera Omnia iussu impensaque Leonis XIII P.M. edita. Bd. 6, Rom 1891, 401b.

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diglich durch den aus dem Lombarden (l. 2 d. 30 c. 8) aufgegriffen13, von Thomas selbst aber wenig erläuterten fomes peccati unter einem gewissen Vorbehalt steht. Dessen präziseste Beschreibung findet sich innerhalb der Summa in christologischem Zusammenhang, wo es in III q. 15 darum geht, die Besonderheit der von Christus angenommenen Menschennatur herauszuarbeiten. Hier definiert Thomas den fomes peccati als inclinatio sensualis appetitus in id quod est contra rationem (III q. 15 a. 3). Vor dem Hintergrund des Dargelegten und der vorausgesetzten trichotomischen Anthropologie des Aristoteles ist das Entscheidende hieran, dass die Zuordnung zum sensus appetitus eine voluntative Zuordnung, damit aber einen tatsächlich sündenhaften Charakter ausschließt – umgekehrt ermöglicht diese Zuordnung einen inhaltlichen Bezug auf die Lehre von der Ursünde, insofern der appetitus sensitivus Sitz der concupiscentia ist (I-II q. 30 a. 1 r.). Von hier erklärt sich freilich auch wiederum der Zusammenhang der oben erwähnten Zuordnung der concupiscentia als materiale Bestimmung der Ursünde (I-II q. 82 a. 3 r.). In dieser Hinsicht ist sie gerade in ihrer wesentlichen, nämlich der formalen Bestimmung nicht mit der concupiscentia und damit der im appetitus sensitivus fundierten fehlerhaften Ausrichtung identisch, sondern diese gewinnt erst durch die formale Bestimmung als defectus originalis iustitiae (I-II q. 82 a. 3r.) den eigentlich sündhaften Charakter. Anders ausgedrückt: Das, was in Gestalt des appetitus sensitivus zwar nicht generell zur menschlichen Verfasstheit gehört, wie sie auch mit Hilfe des Aristoteles beschreibbar ist, aber doch in dieser fundiert ist, gewinnt erst durch den Fall seine theologische Qualifikation als Sünde. Der Fortbestand des sensitiven Strebens im Menschen nach der Eingießung der theologischen Tugenden ist somit im strengen Sinne nicht als Sünde, auch nicht als Fortbestand von Sünde zu verstehen, sondern als Fortbestand der prälapsarischen defektiven Verfassung des Menschen, der als Sinnenwesen nicht vollends an der ratio als seiner eigentlichen Naturbestimmung ausgerichtet ist und damit in sich die Tendenz dazu trägt, einen vernunft- und damit naturwidrigen Akt auszuüben, also, da das vitium durch die Vernunftwidrigkeit gekennzeichnet ist (I-II q. 71 a. 2) und das peccatum ein actus vitiosus ist, eine Sünde, die unter den Bedingungen der in der Taufe wiederhergestellten Gnadensituation des Menschen nichts anderes sein kann als eine Tatsünde. Die wesentliche Frage bleibt dann, ob und inwiefern das peccatum in diesem tatsündlichen Sinne als Folge des vernunftwidrigen fomes peccati die durch die theologischen Tugenden wiederhergestellte Ausrichtung des Menschen auf seine beatitudo verhindert, und dieser Frage geht Thomas entsprechend in dem seine Sündenlehre in der Summa Theologiae eröffnenden Kapitel nach mit einem Ergebnis, das die für die sakramentale Frömmigkeitskultur 13

Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libris distinctae. Bd. 1, Quaracchi ³1971 (SpicBon 4), 500,4.

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der mittelalterlichen Kultur entscheidende Unterscheidung zwischen peccatum veniale und peccatum mortale begründet. An dieser Stelle kann Thomas sich unproblematisch auf die Auffassung des Averroes berufen, nach der ein habitus nicht notwendigerweise, sondern aufgrund des willentlichen Gebrauchs durch den Menschen seine Tätigkeit ausübte. Auf die Sündenlehre angewandt bedeutet dies, dass auch dann wenn der habitus der theologischen Tugenden, deren genetische Wurzel der Glaube, deren Vollkommenheitswurzel aber die Liebe ist (I-II q. 62 a. 4 r.), in den Menschen eingegossen ist, dieser Mensch aufgrund seines Willensvermögens – das sich dann offenbar die Ausrichtung des vorwillentlichen appetitus sensitivus zu eigen macht – einen Akt hervorrufen kann, der in Widerspruch zur Liebe steht, ohne diese zu zerstören. Dies gilt aber nur, solange es sich um eine lässliche Sünde handelt – die Todsünde hingegen zerstört die caritas: „Quodlibet enim peccatum mortale contrariatur caritati, quae est radix omnium virtutum infusarum, inquantum sunt virtutes: et ideo per unum actum peccati mortalis, exclusa caritate, excluduntur per consequens omnes virtutes infusae, quantum ad hoc quod sunt virtutes“ (I-II q. 71 a. 4 r.)14.

Diese Reflexionen begründen letztlich das Bußinstitut als Korrekturvorgang gegenüber diesem neuerlichen Verlust der entelechetischen Ausrichtung der Menschennatur und machen so deutlich, wie eng die thomasische Hamartiologie auf eine Absicherung der sakramentalen Praxis der Kirche seiner Zeit ausgerichtet ist, und wie stark in ihr der Impuls leitend ist, Sünde als ein letztlich dem individuellen Menschen in doppelter Gestalt vorgegebenes Phänomen zu beschreiben: als in der Natur liegender „fomes peccati“ einerseits, als mit der Natur übertragene Folge des Sündenfalls andererseits. In beiden Fällen handelt es sich um Defekte, zu deren Korrektur dem Glaubenden die Begleitung der Kirche angeboten und gegeben ist. Dies bestätigt noch einmal die Reflexionen auf die Stellung der Sündenlehre in der Summa Theologiae des Thomas, deren Programm Thomas bekanntlich einleitend so gefasst hat: „Quia igitur principalis intentio huius sacrae doctrinae est Dei cognitionem tradere, et non solum secundum quod in se est, sed etiam secundum quod est principium rerum et finis earum, et specialiter rationalis creaturae ...; ad huius doctrinae expositionem intendentes, primo tractabimus de Deo; secundo, de motu rationalis creaturae in Deum; tertio de Christo, qui, secundum quod homo, via est nobis tendendi in Deum“ (I q. 2 praef.)15.

Die Sündenlehre hat ihren Platz in der Abhandlung über den motus rationalis creaturae in Deum und gewinnt von hier aus Kontur. Ihre Darlegung reflektiert letztlich die Hilfestellungen, die die Kirche nach Thomas gibt, damit dieser Weg trotz der aufgrund des Sündenfalls gestuften conditio humana, als 14

Thomas, Opera 6 (ed. Leonina, wie Anm. 12) 7,7a. Sancti Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Opera Omnia iussu impensaque Leonis XIII P.M. edita. Bd. 4, Rom, 1888, 5a. 15

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geschöpfliches Mängelwesen einerseits, als gefallenes Mängelwesen andererseits vollzogen werden kann – all dies ist begründet in dem erst im dritten Buch entfalteten Heilsgeschehen in Christus und vermittelt durch die ebenfalls dort verhandelten Sakramente. Die Sündenlehre des Thomas erweist ihre Zeiteingebundenheit somit nicht allein darin, dass er sich der durch die neue Kenntnis des Aristoteles, in diesem Zusammenhang zumal der Nikomachischen Ethik, gestellten denkerischen Aufgabe stellt, sondern auch darin, dass er in einem Jahrhundert, das, umklammert durch die Bestimmung zu Taufe, Buße und Eucharistie auf dem IV. Lateranum und durch die Etablierung der Vollzahl der sieben Sakramente auf dem Konzil von Lyon im Todesjahr des Thomas 1274, in besonderer Weise der Begründung der sakramentalen Heilssicherung diente.

2. Immediatisierung in der Sündentheologie der oberrheinischen Mystik und der Via moderna Im 14. Jahrhundert drang im Kirchenverständnis eine Vorstellung von unmittelbarer Leitung durch den Papst vor, die vor allem von Aegidius Romanus und seinem Konzept einer potestas directa des Papstes geprägt war. Der Papst war nach diesen Vorstellungen in der Lage, überall in der Kirche selbst juristisch einzugreifen. Das entsprach auch anderen Tendenzen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, die Peter Moraw im Konzept der „Verdichtung“ beschrieben hat16. Damit ist der langwierige Prozess gemeint, in dem Herrschaft näher an die Untertanen rückte, für sie unmittelbar erfahrbar wurde. Zu diesen kirchen- und allgemeinpolitischen Vorgängen gab es durchaus Parallelen auf dem Gebiet theologischer Reflexion, insofern der Gedanke einer Unmittelbarkeit nun nicht des Verhältnisses von Herrscher und Beherrschten, sondern von Gott und Mensch zunehmend Raum griff17. Hieraus resultierten zu beiden Akzenten, die Thomas setzte, gegenläufige Tendenzen: das mystische Insistieren auf einer unmittelbaren, gegebenenfalls auch die sakramentale Heilsvermittlung in Frage stellenden Gottesbegegnung mit entsprechenden Folgen für die Sündenlehre einerseits, die Via moderna mit ihrer im Konflikt mit zu umfassender Aristoteleslektüre entwickelten Betonung der Freiheit Gottes und ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Menschen andererseits. a) Oberrheinische Mystik: Die Anknüpfung der oberrheinischen Mystik an die scholastische Theologie wird dabei am ehesten durch das lateinische Werk Meister Eckharts erkennbar, dessen Nähe zu seinen deutschen Predig16 MORAW, PETER, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Frankfurt / Berlin 1989. 17 S. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003, 168–172.

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ten in der heutigen Diskussion zu Recht stark hervorgehoben wird 18. Auch wenn man den Gedanken eines einfachen Gefälles vom lateinischen Traktat zur deutschen Predigt vermeiden muss, hat doch insbesondere eine Beobachtung von Loris Sturlese neuerdings die enge Verzahnung zwischen lateinischen und deutschen Schriften Eckharts plausibel gemacht: Im Gegensatz zu früheren Vorstellungen, nach denen Eckhart in seinen zweimaligen Pariser Magistraten seine lateinischen Schriften ausgearbeitet und zwischen beiden als Ordensprovinzial und – durch den Paradisus anime intelligentis dokumentierter – Prediger eine ganz andere Tätigkeit verfolgt hätte, konnte Sturlese aufweisen, dass die Arbeit an dem gemeinhin der zweiten Pariser Tätigkeit 1311–1313 zugewiesenen Opus tripartitum schon unmittelbar nach Beendigung des ersten Magistrats 1302/3 begonnen hat, also parallel zur deutschsprachige Predigttätigkeit. Gerade das Opus tripartitum macht deutlich, dass Sünde im Horizont des Eckhartschen Denkens nicht anders als privativ gedacht werden kann. Eckhart knüpft an die aristotelisierende thomasische These „Deus est esse“ an, kehrt sie nun aber in einen Satz um, der bald den Vorwurf des Pantheismus mit sich brachte: „Esse est Deus“19. In dieser neuplatonischen Formulierung ist ontologisch für Sünde kein Platz – außer in einer Welt jenseits des eigentlichen Seins. Diese philosophisch-theologische Konzeption trägt letztlich auch die Predigten Eckharts und auch die spätmittelalterlich und frühneuzeitlich viel wirkungsvolleren Predigten Johannes Taulers, deren Hauptinhalt die Abkehr von dem Selbst im Sinne eines dem Göttlichen nicht zugewandten und damit das Sein und letztlich sich selbst verfehlenden Selbst ist. Die berühmten Begriffe der „abegescheidenheit“ und „gelâzenheit“, die Eckhart geprägt hat, drücken aus, dass der Weg hierzu sich negativ auf alle Welt- und Ichzugewandtheit bezieht. Ziel dieses Rückzugs ist das eigene Innere, in dem, im angedeuteten Denkhorizont ganz konsequent, eine Gottesbegegnung stattfindet. Wenn denn das Sein selbst Gott ist, so ist auch das innerste Sein des Menschen, dort wo es vorindividuell strukturiert ist, göttlich und Gott selbst. Bei Eckhart wie bei Tauler finden sich für die Freilegung dieses innersten Kerns zwei unterschiedliche Bilder: Das eine, an spätantike neuplatonische Redeweise anknüpfende Denkmodell spricht von einem Seelenfünklein20, redet also von einer statischen Gegebenheit der Gottespräsenz im Menschen. Die Implikation 18 So die Grundtendenz des beeindruckenden Bandes von Andreas Speer / Lydia Wegener, Lydia (Hg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin / New York 2005 (MM 32). 19 MEISTER ECKHART, Die lateinischen Werke. Bd. 1: Prologi, Expositio libri Genesis, Liber Parabolarum Genesis, Stuttgart 1964 I,38,14 (Nr. 12). 20 MEISTER ECKHART, Die deutschen Werke. Bd. 1: Meister Eckharts Predigen. Erster Band, Stuttgart 1958, 380,18 (Predigt 22) u.ö.; in explizitem Anschluss an Eckhart: Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 347,11; vgl. ebd. 137,1.

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dieses Bildes für die Hamartiologie ist offenkundig und spielte für die schon im reformatorischen Kontext von Luther gegenüber Karlstadt geäußerte Kritik und ihre Fortwirkung in protestantischer Abweisung der Mystik eine zentrale Rolle: Wo die Abkehr vom Äußeren einen bleibenden Kern ungebrochener Gottesebenbildlichkeit freilegt, ist der Brechung des Standes des Menschen vor Gott durch die Erbsünde nicht Rechnung getragen. Daneben gibt es aber noch ein anderes, dynamischeres Bild: den Gedanken einer Gottesgeburt in der Seele21. Dieses Bild schließt die erwähnten Aspekte keineswegs aus, akzentuiert aber anders und gibt einer spezifisch biblischen Bild- und Gedankenwelt in anderer Weise Raum als das neuplatonische Fünkleinbild. So ist es wenig überraschend, dass bei Johannes Tauler, demjenigen Erben Meister Eckharts, der sich vor allem um eine kirchliche Akzeptanz der Grundlehren des 1329 durch die Bulle In agro dominico verurteilten Meisters bemühte, das Bild der Gottesgeburt in eine ganz andere Stellung als bei diesem einrückte und sich dies auch mit einer verstärkten Explikation des sündentheologischen Horizontes verband. Die Predigtsammlung Taulers, die dieser möglicherweise noch selbst vorbereitet hat, beginnt mit einer Predigt über die dreifache Gottesgeburt: vor aller Zeit im dreieinigen Gott, in der Zeit durch die Jungfrau Maria und in der Gegenwart in der Seele eines jeden Gläubigen. Es ist also dieses Bild, in dem Tauler oder seine Erben das Charakteristische seiner Botschaft ausmachten. Neben dieser positiven Botschaft aber ist Taulers Predigt vor allem Bußpredigt: Der Weg in die Abgeschiedenheit, den Eckhart vornehmlich in abstrakten Begriffen umschrieben hat, gewinnt bei Tauler eine Zuspitzung im Sinne der inneren Reue, die er geradezu aus dem sakramentalen Bußkonzept isoliert und als dessen entscheidendes Moment begreift, angesichts dessen dann Beichte und Satisfaktion unnötig werden können: „... so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit“22,

so schreibt Tauler in einer Predigt und hat darin der Immediatisierungstendenz eine sakramententheologische Spitze gegeben: Das Bußsakrament kann durch die direkte Beichte vor Gott geradezu überfflüssig werden, ohne dass dies dem Glaubenden Sorgen machen muss oder sollte. Dabei ist der Vorgang der Buße bei Tauler nicht als ein vom Menschen ausgehender zu betrachten: In einer Predigt zum Fronleichnamstag legt Tauler ausführlich dar, wie Christus durch die Einnahme der Eucharistie aus dem, der gegessen wird, zu dem wird, der den Menschen isst, das heißt, der seine Reue überhaupt erst anstößt 21

ECKHART, Deutsche Werke I (wie Anm. 20), 383,40–44 (Predigt 22) u.ö.; Predigten Taulers (ed. Vetter, wie Anm. 20), 7–12. 22 Predigten Taulers (ed. Vetter, wie Anm. 20), 355,36–356,2.

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und gestaltet. Autor des Beichtvorgangs ist, bei aller Schwierigkeit, dies im einzelnen sauber vom Handeln des Menschen abzuheben, Christus selbst. Der Bezug auf Buße und Beichte bleibt auffällig für das Verständnis der sündentheologischen Reflexionen Taulers: Durch diese Begrifflichkeit wird die Abkehr vom Äußeren spezifiziert als die Abkehr von der von Gott trennenden Sünde, der neuplatonische Horizont wird so hamartiologisch adaptiert. Und die darin gegebene Tendenz, die sicher nicht gegen Eckhart steht, sondern dessen Anliegen aufgreift und zuspitzt, wurde in der nachfolgenden Entwicklung der deutschsprachigen Mystik noch weiter auf die sündentheologische Thematik ausgerichtet. Die Theologia deutsch greift im 15. und 16. Kapitel die paulinische Adam-Christus-Typologie auf. In Adam sei der ganze Gehorsam untergegangen und der Ungehorsam auferstanden, heißt es im 15. Kapitel23, und das 16. Kapitel definiert Sünde als Ungehorsam: „wan wer yn vngehorsam ist, der ist yn sunden, vnde die sunde wirt nymmer gebusset noch gebessert danne mit eyme widerkeren yn den gehorsam. Vnnd alle die wile der mensche yn deme yngehosam ist, ßo wirt die sunde nymmer gebessert, er thu, was er thu. Das merck man, wan der vngehorsam ist selber die sunde.“24

Der unbekannte Autor teilt mit den bisher behandelten Autoren die Perspektive auf eine Überwindung der Sünde, macht dabei aber ganz deutlich eine Unterscheidung zwischen der einen Grundsünde – bei ihm der Ungehorsam – und den vielen Tatsünden. Bedenkt man, dass bei Thomas peccatum im eigentlichen Sinne nur Tat war und das peccatum originale wiederum im eigentlichen Sinne, formal, im Getauften nicht fortwirkte, so wird hier die mit Adam in die Welt gekommene und damit als Ursünde zu qualifizierende Grundsünde als das eigentliche Thema der Sündenlehre benannt. Dabei sind die unterschiedlichen literarischen Genera zu beachten: Der Verfasser der Theologia deutsch schreib keine Summa, auch keinen dogmatischen Traktat, sondern eine Erbauungsschrift. Insofern gibt er auf bestimmte Fragen, die Thomas breit behandelt, keine explizite Antwort. Aber er bewegt sich in einem denkerischen Raum, in dem er um die Probleme der Hamartiologie weiß, wie sie sich insbesondere auch in der Verurteilung Meister Eckharts, und, schon 18 Jahre früher, der Beginen niedergeschlagen haben. So reflektiert er auf die Frage, ob en Mensch ganz sündlos sein könne, und hält diese offen zugunsten einer nun stark den spätmittelalterlichen Gradualismus (Hamm) 25

23 Der Franckforter (‚Theologia Deutsch‘), ed. v. Wolfgang von Hinten, München / Zürich 1982, 89,20–22. 24 Der Franckforter (wie Anm. 23), 91,27–31. 25 HAMM, BERNDT, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: Was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, 69–71,

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aufgreifenden Redeweise von einer Steigerung der Gottesnähe26. Bemerkenswert ist aber im Horizont seiner Argumentation vor allem, dass er sich mit dem Traktat ja an Getaufte wendet, die Taufe selbst aber nicht, wie bei den scholastischen Theologen üblich, als den Akt der wie immer gearteten Befreiung von der Erbsünde fasst, sondern den Kampf gegen den erbsündlichen Ungehorsam als einen Kampf des christlichen Lebens beschreibt, der sich letztlich zum Erfolg der mystischen Struktur des Rückzugs in die Gelassenheit bedienen muss, der zur Vereinigung mit dem göttlichen Willen und damit zu Aufhebung jeden Ungehorsams führt: „Nu warte, was mag dem menschen hir czu gedynen ader gehelffen? Sich, das mag wider wort noch werck ader wiße ader ioch keyner creaturen noch aller creaturen werck, wissen, vormugen, thun ader laßen. Sich, also sal man alle vorlißen vnd laßen, das ist, das man nicht wenen ader gedencken solle, das kein werck, wort ader wiße, kunst ader meisterschafft ader kurtzlich alles, das geschaffen ist, kann hie czu wider gehelffen noch gedienen, sunder man muß diß alles laßen seyn, das eß ist, vnd gehen yn die eynung.“ (c. 27)27

Damit erscheint die durch Adam gebrachte Ursünde als eine nur paradoxal durch den Menschen zu beseitigende Gegebenheit – freilich, wie in der von Eckhart herkommenden Tradition nicht überraschen kann – als eine innerweltlich überwindbare Kondition. Dies wird allerdings nicht in der an habituale Gegebenheiten erinnernden Bildlichkeit eines dem Menschen innewohnenden Lichtfünkleins geschildert, sondern, darin durchaus den Ansätzen in de Via moderna vergleichbar, als Beziehungsmangel beziehungsweise Wiederherstellung: Mystische Einigung ist hier nicht, wie es bei dem denkerischen Hintergrund Eckharts in neuplatonischen Weltvorstellungen nahelag, ontisch gedacht, sondern der Autor der Theologia deutsch knüpft an die Tradition der Verortung von Sünde im Willen des Menschen an und bestimmt Sünde und ihre Überwindung als voluntative Beeinflussung der Relation zu Gott. Er steht damit in einer über Tauler vermittelten Tradition einer stärkeren kirchlichen und biblischen Rückbindung der mystischen Konzeptionen, ohne freilich den Grundansatz einer Überwindbarkeit der sündlichen Verfasstheit für den Getauften aufzugeben, obwohl er andeutet, dass er um dessen Probleme weiß. Zu den Eigenheiten solcher nur begrenzt auf in sich schlüssige dogmatische Konzepte zu bringenden Predigten und Traktate, wie sie aus der mystischen Tradition vorliegen, gehört eine daraus resultierende Rezeptionsoffenheit, wie sie sich weiter unten am Beispiel Martin Luthers zeigen wird, der bekanntlich die Theologia deutsch in zwei Fassungen, zunächst, 1516 unvollständig, dann, zwei Jahre später, vollständig herausgebracht hat. b) Via moderna: So wie die sakramental-kirchliche Heilssicherung durch mystische Frömmigkeit relativiert wurde, geriet auch das Konzept eines 26 27

Der Franckforter (wie Anm. 23), 92,38–49. Der Franckforter (wie Anm. 23), 110,13–19.

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christlichen Aristotelismus in den Strudel von Auseinandersetzungen, die zu starken Transformationen führten. Die Streitigkeiten hatte noch Thomas selbst mit eingeleitet, als er sich gegen die konsequenten Aristoteliker wandte und diese als lateinische Averroisten diffamierte: ein Begriff, der eine lange Nachwirkung in modernen Forschungskonstellationen hatte und auch in der Umschreibung als „heterodoxe Aristoteliker“ in gewisser Weise fortlebt, insofern auch hier das Anliegen dieser Lehrer der artes vornehmlich durch die häresiologische Brille gesehen und bewertet wird28. Deren tatsächliches Anliegen war es, im Rahmen ihrer Aufgaben an der artes-Fakultät Aristoteles so genau wie möglich auszulegen – und das brachte sie unweigerlich und gegen ihre eigene Intention in Konflikte mit Auffassungen der christlichen Lehre, die sie gerne in der Weise formulierten, dass sie eine Lehre als zutreffend im Sinne des Aristoteles bezeichneten, selbst aber für die dem widersprechende christliche Lehre votierten. Diese Doppelbotschaft wurde in der Lehrverurteilung von 1277 durch Bischof Etienne Tempier aufgrund der Vorarbeit der von ihm eingesetzten Theologenkommission als Lehre von einer „doppelten Wahrheit“ angegriffen, und eine Fülle von insgesamt 219 Einzelsätzen wurde verurteilt, wovon zu Teilen auch die Lehre des Thomas selbst betroffen war. Diese Verurteilung stellte gerade in ihrer radikalen und im Umgang mit den konsequenten Aristotelikern grob verkürzenden, zum Teil wohl nur auf Gerüchten aufbauenden29 Zuspitzung und trotz ihrer kirchenrechtlich lokalen Begrenztheit auf das Erzbistum Paris einen Einschnitt in der Geschichte der christlichen Adaption des Aristoteles dar: In mehreren Sätzen waren Folgen des Aristotelismus in der Weise verurteilt, dass der implizite Konflikt zwischen Aristotelismus und biblischer Lehre offen zu Tage lag. Welch mühsamer Prozess es war, die potentiellen Konfliktpunkte überhaupt als solche zu erkennen, zeigt sich in einer Äußerung Bonaventuras: „Audivi, cum fui scholaris, de Aristotele, quod posuit mundum aeternum; et cum audivi rationes et argumenta, quae fiebant ad hoc, incepit concuti cor meum et incepit cogitare, quomodo potest hoc esse? Sed haec modo sunt ita manifesta, ut nullus de hoc possit dubitare“30.

Der hier angesprochene Gedankengang der Ewigkeit der Welt ist nur einer 28

Zur Begrifflichkeit s. LEPPIN, VOLKER, Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007 (KGE I/11), 118–12. 29 S. die sorgfältige Suche nach Belegen für die verurteilten Thesen bei HISSETTE, ROLAND R., Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Löwen / Paris 1977 (PhMed 22) – mit dem Ergebnis, dass die verurteilten Thesen vielfach wohl tatsächlich nicht gelehrt wurden. 30 De decem praeceptis collatio 2; Duns Scoti Opera Omnia, ed. v. P. C. Baliü u. a. Bd. 5, Vatikan 1959, 515: „Audivi, cum fui scholaris, de Aristotele, quod posuit mundum aeternum; et cum audivi rationes et argumenta, quae fiebant ad hoc, incepit concuti cor meum et incepit cogitare, quomodo potest hoc esse? Sed haec modo sunt ita manifesta, ut nullus de hoc possit dubitare“.

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der Konfliktpunkte. Für die Sündenlehre waren von größerer Bedeutung die oben schon angesprochene Allseelenlehre, die aus bestimmten Äußerungen des Aristoteles zu folgen schien und um deren Vermeidung Siger in seinem Kommentar zu De anima rang31, und vor allem der konsequente Nezessitarismus, der die von Gott ausgehenden natürlichen Ursachenketten als so zwingend ansah, dass unter Gegebenheit dieser Ketten ein Freiheitsraum weder für Gott noch für den Menschen gegeben schien – und der darin in stärkster Weise dem Gradualismus in Frömmigkeit und Theologie entsprach, insofern er eine Verbindung zu Gott nur in vermittelter Weise denkbar machte. Die solchermaßen exponierte Konfliktlage brachte den geistesgeschichtlichen Einschnitt, der traditionell als Übergang von der Hoch- zur Spätscholastik beschrieben wird. Mit Heinrich von Gent, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham traten Denker einer Freiheit Gottes auf, deren Lehren auch Folgen für die Konstruktion der Hamartiologie hatten. Diese liegt allerdings nicht unmittelbar in hamartiologischen Aussagen. Hier kann es im Gegenteil zu auffälligen Desideraten kommen. So hat etwa Ockham sich in seinem Sentenzenkommentar kaum zur Frage des peccatum geäußert – im zweiten Buch des Sentenzenkommentars, in das die Hamartiologie systematisch gehört, fehlt diese bei ihm ganz. In anderen Quaestionen lassen sich einige Beobachtungen machen, die zeigen, dass er bestimmte hamartiologische Konzepte voraussetzt32, bis hin zu der klassischen mariologischen Frage nach der Erbsünde in Maria in den Quodlibeta33 (Quodl. III q. 10). Dass diese Zurückhaltung im Blick auf hamartiologische Fragen in Ockhams akademischem Schrifttum keinen generellen Verzicht auf derartige Überlegungen darstellen müssen, zeigen insbesondere Ockhams Traktate aus seiner späteren Phase als Berater Ludwigs des Bayern, in denen er sowohl die Armuts- als auch das Herrschaftsverständnis in geschichtstheologischen Entwürfen refletkiert, für die der Sündenfall eine entscheidende Rolle spielt34. Diese reichen allerdings in einen Diskurs hinein, dessen Wirkungsgeschichte weniger im akademischen Bereich zu suchen ist als in dem Bereich kirchenpolitischer Auseinandersetzungen und damit weniger in seinen hamartiologischen Begründungsstrukturen als in seinen ekklesiologischen Folgerungen. Die Impulse, die von seinem Denken für eine neue Hamartiologie ausgingen, liegen durchaus auch im akademischen Werk. Allerdings muss man, um Neuansätze in der Hamartiologie der Formierungsphase der neuen 31 S. hierzu BAZÀN, BERNARDO CARLOS, La réconciliation de la foi et de la raison étaitelle possible pour les aristotéliciens radicaux?: Dialogue. Canadian philosophical review 19 (1980) 235–254. 32 S. etwa die Reflexion über das Verhältnis von sündigem und verdienstlichem Akt in einer quaestio disputata in OT 8, 313. 33 OT 9, 240,2f. 34 s. hierzu LEPPIN, Ockham (wie Anm. 17), 221–224. 254.259.

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Theologie, die später für die Via moderna von Bedeutung wurde, beschreiben zu können, den Umweg über die Gnadenlehre gehen. Wirkungsgeschichtlich entscheidend ist nämlich die Anwendung der potentia-absoluta-Lehre auf die Gnadenlehre, mit der bei Duns Scotus wie bei Ockham die Notwendigkeit der de potentia ordinata gegebenen Ordnung in Frage gestellt wird. Zwar hatte auch Thomas die Angewiesenheit des Menschen auf göttliche Offenbarung zur Kenntnis und Verwirklichung der in der Taufe zugeeigneten übernatürlichen Tugenden gelehrt. Doch sein Gesamtsystem war auf eine rationale Ableitbarkeit zumindest der Notwendigkeit solcher Gaben hinausgelaufen, insofern der Mensch zur beatitudo einer über seine natürliche Verfasstheit hinausgehenden Ausstattung bedarf. Duns betonte nun, in Reaktion auf die Einschränkung der göttlichen Freiheit, wie sie 1277 verurteilt worden war, eben die Freiheit Gottes, den Menschen ohne vorhergehende supranaturale Ausstattung anzunehmen: „Deus de potentia absoluta bene potuisset acceptare naturam beatificabilem – acceptatione speciali ... – exsistentem in puris naturalibus; et similiter, actum eius ad quem esset inclinatio mere naturalis, potuisset acceptare ut meritorium“35 (Ordinatio I d. 17 q. 2 Nr. 160).

Mit dieser Überlegung, nach der Gott unmittelbar annehmend alle Zwischeninstanzen, auch die selbst in der Eingießung von Gnadenhabitus gewährten Zwischenstufen überspringt, wird ansatzweise Sünde und Sündenfolge differenziert: Es steht bei der Akzeptationslehre des Duns wie derer, die ihm darin folgen, außer Frage, dass die natürliche Verfassung des Menschen eine sündhafte ist und er bestreitet auch nicht die Schuldhaftigkeit der Sünde, wohl aber die Notwendigkeit einer Verurteilung der Sünde durch Gott. Ohne ihre inhaltliche Beschreibung ändern zu müssen, verschieben damit Duns Scotus und Ockham, der diese Überlegung in Quodl. VI q. 1 aufnimmt, den theologischen Status des Sündenkonzeptes: Sünde wird nicht mehr wie bei Thomas als Frage exponiert, auf die Gott in rational nachvollziehbarer Weise reagiert, sondern Sünde ist ein Faktum auf Seiten des Menschen, zu dessen Korrektur Gott gnadenhalber Mittel gegeben hat, das allein aber die Relation zwischen Mensch und Gott nicht bestimmt, weil diese Relation umgekehrt allein durch Gott bestimmt wird: Nicht die habitual verfasste sündige Natur des Menschen bestimmt über dessen Heil, sondern Wille und Handeln Gottes allein. Im Blick auf die Sünde ist dies zunächst ein Phänomen der Relativierung, insofern sie als widergöttliche Macht keine eigene Bedeutung hat, aber der neue Zugang, der das eschatologisch zu beurteilende Gottesverhältnis nicht habitual aus Sicht der Anthropologie in den Blick bestimmt, sondern relational aus Sicht der Anerkennung durch Gott, hat in der spätmittelalterlichen Via moderna Potentiale entwickelt, die auch zu Neuansätzen in der Sündenlehre im engeren Sinne führen konnten. 35

DUNS SCOTUS, Opera Omnia V (wie Anm. 30), 215,10–14.

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Dies ist tatsächlich schon bei Ockham selbst nachzuzeichnen, wenn auch in einem bloßen Nebengedanken der oben angesprochenen quaestio über die Erbsündlichkeit Mariens (Quodl. III q. 10). Hier erklärt Ockham über die Frage, wie das peccatum originale vernichtet werden könne, es werde faktisch allein durch die geschaffene Gnade vernichtet36. Das bedeutet im Blick auf die de potentia ordinata gültige Ordnung ein klares Bekenntnis zu habitualen Vorgängen, denn die gratia creata ist die in der Taufe eingegossene Gnade der theologischen Tugenden. Aber dann fügt Ockham hinzu: „Posset tamen aliter deleri per potentiam divinam absolutam, quia Deus posset ordinare, si sibi placeret, quod homo non obligaretur ad habendum illam iustitiam et quod eius carentia non sibi imputaretur, sine omni infusione gratiae creatae“37.

Schon der Modus der Formulierungen macht deutlich: Hier handelt es sich um eine Erwägung der Möglichkeiten Gottes, die in diesem Falle faktisch nicht Realität werden38. Aber diese Möglichkeit allein schon, die mit der augustinisch-paulinischen Begrifflichkeit der Imputation rechnet, deutet an, dass die potentia-absoluta-Reflexionen in der Sündenlehre einen Weg eröffnen können, ein über habituale Konzepte hinausweisendes Verständnis von peccatum zu entwickeln. Das wird bei Gregor von Rimini voll entfaltet. Er ist, parallel zu Thomas Bradwardine, ein Denker des späten Mittelalters, der nicht nur allgemein Augustin, sondern auch speziell dessen antipelagianischen Schriften aufgenommen und theologisch aufgearbeitet hat. Im Unterschied zu Thomas Bradwardine tat er dies nicht in bloßer Abgrenzung von der Via moderna, sondern in partiellem Anschluss an diese, indem er insbesondere die Unterscheidung von potentia absoluta und potentia ordinata aufgriff, dieser nun aber eine Wendung gab, in der der Akzent auf letzterer und damit letztlich auf der Sicherung der Heilsgewissheit innerhalb des bestehenden Systems sakramentaler Heilsvermittlung lag39. Innerhalb dieses Bemühens benutzt er auch die verbreitete Sprachlichkeit der Sündenlehre, so dass sein Neuansatz unter anderen Aussagen verdeckt ist. So kennt er beispielsweise durchaus die Rede vom fomes peccati40. Aber dieser bedeutet bei ihm etwas deutlich anderes als bei 36

OT 9, 241,36–38. OT 9, 241,38–42. 38 Zur potentia-Lehre Ockhams s. LEPPIN, Ockham (wie Anm. 17), 144–149. 39 S. etwa Sent I d. 42–44 q. 1 a. 2; Gregorii Ariminensis OESA Lectura super primum et secundum Sententiarum, ed. v. Damasus Trapp / Venicio Marcolino. Bd. 3, Berlin 1984 (SuR 8), 368,6–10: „illud dicitur deus ad intellectum recte intelligentium posse de sua potentia ordinata, quod potest stante sua ordinatione et lege aeterna, quae non est aliud quam eius voluntas, qua aeternaliter voluit haec vel illa et taliter vel taliter se facturum, illud autem dicitur posse de potentia absoluta, quod simpliciter et absolute potest.“ 40 S. etwa Sent II d. 30–33 q. 2 a. 3; Gregorii Ariminensis Lectura super primum et secundum Sententiarum, hg. v. Damasus Trapp u. Venicio Marcolino. Bd. 6, Berlin 1980 (SuR 11), 207,17. 37

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Thomas. Während bei diesem der fomes peccati seiner argumentativen Struktur nach nicht von der urstandshaften Defizienz des Menschen aufgrund seiner auch sensitiven Seelenverfasstheit zu unterscheiden ist, bleibt für Gregor die Ursünde im Menschen auch nach der Taufe ihrem Wesen nach erhalten, freilich in einer differenzierten Weise, in der Gregor die denkerisch durch die Akzeptationstheorie bei Duns und Ockham ermöglichte Unterscheidung von Sünde und Sündenfolge ausführt: „Nam tollitur [peccatum originale] quoad reatum, non tollitur autem quoad essentiam, hoc est quod vitium illud sive qualitas illa, quae dicitur concupiscibilitas et est ante baptismum originale peccatum, manet quidem secundum essentiam suam etiam post baptismum, non manet autem ad reatum, id est non per eam est homo post baptismum reus damnationis aeternae, sicut erat ante baptismum“41 (Sent II d. 30–33 q.1 a. 4).

Hier wird die Gleichzeitigkeit einer Realität der Erbsünde in ihrer vollen Wesenhaftigkeit und eines Fehlens der daraus folgenden Anklagesituation vor Gott ausgedrückt. Schärfer als bei Thomas wird damit der erbsündlich reale Charakter der concupiscentia gelehrt, und Gregor beruft sich hierfür naheliegenderweise auf Augustin, insbesondere De gratia Christi et de peccato originali42 und De nuptiis et concupiscentia“ Besonders der Umgang mit dieser letztgenannten Stelle ist bemerkenswert für Gregors Augustin-Rezeption, die sich als eine Einzeichnung intensivierter Lektüre des antipelagianischen Augustin in das Begriffsgerüst scholastischer Theologie fassen lässt. Gregor zitiert aus Augustin: „Dimittitur, inquit, in baptismo concupiscentia, non ut non sit, sed ut in peccatum non imputetur“43 (De nuptiis et concupiscentia l.1 c. 25),

greift also wie schon Ockham im obigen Zitat die paulinisch-augustinische Imputationsterminologie auf, akzentuiert dann aber innerhalb dieses Gedankengangs die Negation der Sünde im Vollsinne: Die Nichtanrechnung als Sünde bedeutet in seiner Aufnahme des augustinischen Denkens auch eine Fortexistenz zwar des Wesens der Sünde, nicht aber dieser selbst, sondern nur eines fomes44, und auch hierfür beruft er sich auf Augustin: „Hoc enim est non habere peccatum non reum esse peccati“ (De nuptiis et concupiscentia l.1

41

Sent. II. d. 30–33q. 1 a. 4; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 194,9–14. 42 Sent. II. d. 30–33q. 1 a. 4; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 194,15f; Vgl. AUGUSTIN, De gratia et peccato originale l.2 c. 39, 44 (CSEL 42, 201,23–202,1). 43 Sent. II. d. 30–33q. 1 a. 4; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 194,23–25; vgl. AUGUSTIN, De nuptiis et concupiscentia l.1 c. 25, 28 (CSEL 42,240,17f [bei Augustin als Accusativus cum infinitivo konstruiert]). 44 Sent. II. d. 30–33q. 1 a. 4; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 194,25f.

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c. 26)45. Gregor, der in ungewöhnlicher Weise über die Sentenzen- und Glossensammmlungen hinweg auf die Schriften Augustins selbst zurückgreift, reflektiert damit jene Schwierigkeit, die Christoph Markschies als das Ineinanderliegen zweier Aussagenreihen bzw. Sprechweisen in Augustins Sündentheologie beschrieben hat46: Er versucht den Gedanken der Fortexistenz der Ursünde nach der Taufe mit ihrer Aufhebung zusammenzudenken, indem er imputativ verstandenen Anklageszustand und essentielle Realität unterscheidet – und er tut dies, indem er den Realitätscharakter des Wesens der Sünde abschwächt, eben durch die Formulierung vom fomes, wie auch, im obigen Zitat durch den ungewöhnlichen Begriff der concupisibilitas. Sprachlich müsste die Formulierung eigentlich eine Passivität ausdrücken, also die Begehrbarkeit. Der Sache nach gemeint ist aber offenbar die Anlage zur Begierde. Der Akzent liegt dabei in der Botschaft der Vergebung durch Jesus Christus nach Röm 8,1, aber auch in der Einschärfung, dass auch nach der Taufe kein Mensch aus eigenen Kräften jegliche Sünde vermeiden kann: „nullus iustus seu habens habitualem gratiam gratum facientem potest sine auxilio dei alio speciali vitare omne peccatum“47 (Sent II d. 26–28 q. 2 a. 2).

Gregor bestreitet also das aus der aristotelisierenden Tradition stammende habituale Gnadenverständnis so wenig wie ein Duns oder Ockham, aber so wie diese durch die Akzeptationslehre das habituale Gnadenverständnis durch die Komponente eines freien Handelns Gottes ergänzt und so die Unmittelbarkeit seiner Wirkungen verstärkt haben, geht auch Gregor den Weg einer immediatisierenden Beschreibung des Gottesverhältnisses. Denn tatsächlich liegt nun der eigene Akzent seiner Aussage darin, dass die habituale Gnade als Hilfe Gottes nicht ausreicht, sondern in Berufung auf Röm 5,5 stets noch die unmittelbar im Menschen wirkende Hilfe Gottes in Gestalt des Heiligen Geistes hinzutreten muss48, damit Sünde vermieden werden kann. Mit diesen Gedanken ist in konsequenter Weise die der Akzeptationstheorie zugrunde liegende Immediatisierung auf die Sündentheologie angewandt, wobei durchaus in gewisser Weise der grundsätzliche Bogen des Denkens von Thomas aufgegriffen und weitergeführt wird: Auch Gregor geht es bei all diesen Überlegungen nicht so sehr um eine Beschreibung des Menschen im Angesichts Gottes, sondern um eine Darlegung, wie er – trotz der in ihrer Schärfe durchaus erfassten – Sündentheologie Augustins auf ein rechtes Leben ausgerichtet werden kann. So kommt er unter Berufung auf Augustin zum Ergebnis, dass die spe45

CSEL 42,241,20f. MARKSCHIES, CHRISTOPH, Taufe und Concupiscentia bei Augustinus, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Freiburg / Göttingen 2001 (DiKi 11), 92–108, 102–104. 47 Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 102,2–5. 48 Sent II d. 26–28 q. 2 a. 2; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 110,2f. 46

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Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung

zielle Hilfe dem durch die habituale Gnade gerechtfertigten Menschen hilft, „ut non peccat et recte vivat“49. Sündentheologie dient auch bei ihm zur Beschreibung des Weges zur Überwindung der Sünde, der freilich zur Gänze ein Weg bleibt, der nicht vom Menschen selbst zu gehen ist, sondern ganz von Gott gelenkt wird. Wie sein Zeitgenosse Bradwardine hat Gregor die augustinische Prädestinationslehre aufgegriffen und in ihrem Rahmen vocatio, iustificatio und glorificatio auf Gottes Prädestination zurückgeführt (Sent I d. 40/41 q. 1 a.1)50. Auch das Wirken des Heiligen Geistes an dem mit der habitualen Gnade ausgestatteten und nun auf den rechten Weg zu lenkenden Glaubenden ist in diesen Zusammenhang eingezeichnet und mithin ganz als Folge der Prädestination durch Gott zu verstehen. Gregors Sündenlehre ist nun für das Verständnis der Vorbedingungen von Luthers Theologie geradezu entscheidend – nicht weil etwa neu von einer bis in die Wittenberger Universitätsstatuten reichenden Via Gregorii zu sprechen wäre, die in Obermans genialer Deutung des Verhältnisses Luthers zur Spätscholastik eine große Rolle gespielt hat51, heute aber im allgemeinen so nicht mehr angenommen wird –, sondern weil Gregor stark auf Gabriel Biel gewirkt hat. Freilich ist vor Gregor für Biel natürlich eine andere Autorität zu nennen: Es ist vor allem Biel zu verdanken, dass Wilhelm von Ockham am Vorabend der Reformation eine entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Die spätmittelalterliche Via moderna war nach heutigem Forschungsstand in mindestens demselben Maße wie von Ockham auch von Johannes Buridan bestimmt 52. Biel aber hat in Tübingen eine Ockham-Renaissance angestoßen, die dann auch auf Erfurt wirkte53. Er selbst erklärt in der Präfatio zu seinem Collectorium: „Ideoque unius doctrinam nobis magis familiarem pro nunc elegimus, eam principalius et ut in pluribus secuturi, aliorum nihilominus sententias, dum opus visum fuerit, adducturi“54. 49 Send II d. 26–28 q. 2 a.2; Gregorii Ariminensis Lectura 6 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 40), 112,17–20.. 50 Gregorii Ariminensis Lectura 3 (ed. Trapp / Marcolino, wie Anm. 39), 321,28. 51 Vgl. Heiko Augustinus Oberman (Hg.), Gregor von Rimini. Werk und Wirkung bis zur Reformation, Berlin / New York 1981 (SuR 20). 52 Vgl. MICHAEL, BERND, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters. 2 Bde., Diss. Berlin 1985. 53 S., ERICH, KLEINEIDAM, Universitas Studii Erfordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil 2: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521, Leipzig ²1992 (EThSt 22), 140; zur Wirkung Biels auf Luther vgl. nach wie vor GRANE, LEIF, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam, Kopenhagen 1962 (AThD 4).; OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation 1. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965.

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Nur: Da Ockham wie oben erwähnt, in seinem Sentenzenkommentar zur Sündenlehre weitgehend schwieg, musste Biel gerade in seiner recht ausführlichen Behandlung des peccatum originale in den Distinktionen 30–32 des zweiten Sentenzenbuches auf andere zurückgreifen, und hier hat Gregor eine wichtige Rolle gespielt. Das macht sich vor allem darin bemerkbar, dass Biel die Unterscheidung zwischen einer infusio gratiae und einer sola non-imputatio aufgreift. Allerdings liegt seine Antwort der Sache nach näher bei Ockham als bei Gregor, insofern er die Möglichkeit einer Vergebung der Sünde durch bloße non-imputatio nur de potentia absoluta gegeben sieht, für die potentia ordinata hingegen die infusio gratiae gegeben sieht55 (Sent II d. 32 q. 1). Diese Reflexion führt ihn aber zu einer Zuspitzung des Sündenbegriff, die non doch auch Gregor gegenüber einen neuen Akzent setzt: Was nach der Taufe bleibt, ist nämlich virium rebellio56. Das beruht auf seinen Reflexionen in Sent II d. 31, in denen er über das Verhältnis von privativem und positivem Begriff der Ursünde reflektiert und damit einen entscheidenden Akzent setzt, der unter der gemeinsamen Stoßrichtung einer Immediatisierung die Entwicklung in der Via moderna deutlich von der Entwicklung mystischer Theologie unterscheidet. Zwar erklärt er, die Ursünde sei keine positive Gegebenheit, sondern eine originalis iustitiae privatio57, aber den auch nach der Taufe verbleibenden fomes deutet er als lex carnis und füllt diese durch ein Zitat von Röm 7,2358. Hierzu führt ihn die Glossa ordinaria, die an dieser Stelle ein Zitat aus Augustins De nuptiis et concupiscentia hat, in dem fomes und die lex nach Röm 7 gleichgesetzt werden59. Genau diese paulinisch fundierten augustinischen Überlegungen, die in Biels Collectorium eingegangen sind, bilden nun ihrerseits den Ausgangspunkt für Luthers hamartiologische Reflexionen.

3. Radikalisierung der Sündentheologie bei Luther Die geschilderte Entwicklung einer sich in unterschiedlichen Gestalten in der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit60 steigernden Vorstellung

54

GABRIELIS BIEL Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Prologus et Liber primus, ed. v. Wilfried Werbeck u. Udo Hofmann, Tübingen 1973, 6,23–25. 55 GABRIELIS BIEL Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Liber secundus, ed. v. Wilfried Werbeck u. Udo Hofmann, Tübingen 1984, 580,4–581,3. 56 BIEL, Collectorium II (ed. Werbeck / Hofmann, wie Anm. 55), 581,11. 57 BIEL, Collectorium II (ed. Werbeck / Hofmann, wie Anm. 55), 570,1f. 58 BIEL, Collectorium II (ed. Werbeck / Hofmann, wie Anm. 55), 570,14–17. 59 BIEL, Collectorium II (ed. Werbeck / Hofmann, wie Anm. 55), 570 Anm. zu 18/20. 60 S. HAMM, BERNDT, Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen / M. Pickavé (Hg.), „Herbst des Mittelal-

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von der Unmittelbarkeit Gottes im Umgang mit dem Menschen setzt Luther voraus, als er sich 1509/10, nach dem ersten Wittenberger Aufenthalt wieder in Erfurt an die Kommentierung der Sentenzen macht. Hier zeigt sich insbesondere der Einfluss der bei Biel zu greifenden Betonung der Sünde als einer widergöttlichen Macht. Berndt Hamm hat kürzlich provozierend die These vorgetragen, Luthers reformatorische Entwicklung habe eigentlich schon 1505 begonnen61. Das entspricht dem Befund, dass eine Rückschau in den frühesten Äußerungen Luthers Spurenelemente dessen entdeckt, was später reformatorische Theologie wurde, auch wenn Luther selbst damit zunächst noch vollständig innerhalb des spätmittelalterlichen Diskurses steht. Gerade dieses Ineinander macht die eigentliche Spannung in der Beschäftigung mit dem jungen Luther und der bei ihm nachvollziehbaren Transformation spätmittelalterlichen Denkens aus. So greift Luther die Bielschen Aspekte einer Intensivierung des Sündenverständnisses auf, wendet sie allerdings schon sehr früh auffällig kritisch. Er folgt der von Gregor und Biel bestimmten Linie, nach der die Sünde vor allem eine Befreiung vom reatus darstellt62. Aber vor allem betont er, dass die von der Ursünde unterschiedene concupiscentia der Ungehorsam des Fleisches gegenüber dem Geist ist63. Wie bei Biel dominiert schon hier gegenüber einer privativen Deutung der Ursünde bzw., wie man zu diesem Zeitpunkt für Luther deutlicher sagen muss: des ursündlichen Bestandes nach der Taufe die paulinische Rede von der Auseinandersetzung zwischen Fleisch und Geist. Und schärfer als Biel erklärt Luther, dass diese Begrifflichkeit besser sei als die des Lombarden64. Bekanntlich hat Luther schon kurz zuvor in Wittenberg seine Unzufriedenheit mit seiner vor allem philosophischen Ausbildung erklärt und sich ausdrücklich nach einer Theologie gesehnt, die den Kern der Nuss erforsche65. Etwas von dieser Diskrepanz erscheint auch in diesen wenig später niedergelegten Randbemerkungen, die mit ihrer paulinischen Begrifflichkeit an Biel anknüpfen, zugleich aber das Grundlehrbuch der Scholastik an dem heiklen Punkt der Begriffsbildung hinterfragen. Es liegt nahe, dass Luther die folgenden Jahre nutzt, um diese beginnende Spannung durch die Suche nach neuer Sprache, und damit verbunden, nach neuen Inhalten zu überwinden. Dies führte ihn in die biblischen Texte und zu einer immer stärkeren Intensivierung der nicht-privativen, aktiven Momente ters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004 (MM 31), 541–557. 61 HAMM, BERNDT, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann et al. (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (SMHR 39), 111–151. 62 WA 9,75,35f. 63 WA 9,75,16f. 64 WA 9,75–26–28. 65 WA.B 1,17,40–44 (Nr. 5).

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des Sündenverständnisses. Hierzu kam es bereits, als Luther 151366 mit seiner ersten Psalmenvorlesung, den Dictata super Psalterium, begann, die allein schon durch die Bußpsalmen eine Fülle von Material boten, das ihm Anlass gab, auf die Sündenthematik einzugehen und diese weiter zu intensivieren. Insbesondere der 51. Psalm (Ps 50 Vg.) bietet ihm in Vers 6 („tibi soli peccavi et malum coram te feci ut iustificeris in sermonibus tuis et vincas cum iudicaris“), die Gelegenheit zu ausführlicher Darlegung seiner Sündenlehre, was auch zu einer ausführlicheren Behandlung der Auslegungsgeschichte dieses Psalms und insbesondere dieses Verses bis hin zu Luther durch Jack E. Brush geführt hat67. Luther betont dabei, dem Psalm folgend, den relationalen Aspekt: Es geht um Sünden an Gott, im Unterschied zum Vergehen gegen das Gesetz, wobei freilich die Beispiele, die Luther aus dem Gesetz nimmt – Totenberührungen und andere Formen der Befleckung – lediglich das Zeremonialgesetz betreffen, also der Gegensatz nicht etwa die moralischen und erst nicht die eigentlich auf Gott bezogenen Gebote des Alten Testamentes betreffen muss. Eben mit dieser mittelalterlich bekannten Unterscheidung argumentiert Luther aber nicht, sondern mit der grundlegenden Beziehung auf Gott, an dem allein der Sünde bekennt sich versündigt zu haben68. Der Alleinigkeit des Vergehens an Gott entspricht auf Seiten des Menschen der Vorgang der Selbstanklage: „Tunc fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus, quia tales coram deo sumus“69. Die Reflexionen auf Sünde gewinnen also, ganz entsprechend dem literarischen Genus des Psalms ihre Spitze durch die Selbstanklage, mit der allein Gott Recht gegeben wird: Sich nicht als Sünder zu erkennen und anzuerkennen, hieße zu leugnen, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist70, bedeutet als Christusleugnung letztlich Gottesleugnung: Selbstbekenntnis als Sünder wird so zur indirekten Anerkennung Gottes und zum eigentlichen Ausdruck der rechten Haltung gegenüber Gott, so dass Luther sogar zugespitzt sagen kann: „Deus in seipso non iustificatur, sed in suis sermonibus et in nobis“71. Sünde ist damit Ausdruck der Relation zwischen Mensch und Gott. Das erinnert durchaus an die relationale Bestimmung von Sünde, wie sie sich in der Via moderna, vor allem aber in der oberrheinischen Mystik findet. Allerdings ist hier – ungeachtet der allgemeinen Einflüsse der monastischen Frömmigkeit, zu der in Luthers Mönchsleben nachweis-

66

WA.TR 4,223,32 (Nr. 4323). BRUSH, JACK E., Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Luthers Verständnis des 51. Psalms, Tübingen 1997 (HUTh 36); vgl. auch die jüngere Detailstudie von BATKA, L’UBOMÍR, Peccatum radicale. Eine Studie zu Luthers Erbsündenverständnis in Psalm 51, Diss. Tübingen 2004. 68 WA 55/2,28. 69 WA 55/2,288. 70 WA 55/2,289. 71 WA 55/2,288. 67

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lich starke mystische Züge gehörten72 – von einer direkten Abhängigkeit nicht auszugehen, da Luther erst später die Schriften Taulers kennenlernte und nur durch diese vermittelt – weil der Tauler-Druck Eckhart-Texte enthielt – auch Eckhart selbst. Tatsächlich lässt sich Luthers Theologie in den Dictata super Psalterium nicht in eine einfache Anknüpfung an die spätmittelalterliche Mystik hinein auflösen. Dabei liegt die entscheidende Differenz nicht so sehr in der Nennung der sermones, die Luther schlicht aus dem Psalmvers übernimmt und nicht worttheologisch auffüllt. Es geht vielmehr um diejenigen sermones, in denen Gott als gerecht erwiesen wird und „quibus nos peccatores declaravit“73. Es geht also um das Wort als ein Tertium, das der Selbsterfahrung des Menschen vorgegeben ist, diese bestätigt und in dieser Bestätigung der Erfahrung des Menschen wiederum die Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit Gottes bestätigt, nicht aber um ein Medium, durch das Gott im Menschen diese Erfahrung bewirkt. Die eigentliche Differenz zu mystischen Konzeptionen liegt in dem über Biel vermittelten paulinischen Konzept von Sünde als nicht nur privative Größe, sondern tatsächliche Gegenkraft, aufgrund dessen Luther die Verbindung zwischen Gott und Sünder in ganz anderer Weise von einem Gegenüber aus beschreibt, als dies in den neuplatonisch fundierten Konzeptionen der Mystik der Fall war. Das Gegenüber wird geradezu als Kampf zwischen Sünder und Gott beschrieben74: „Quare [Deus] a nullo iustificatur, nisi ab eo, qui se accusat et damnat et iudicat. ‚Iustus enim primo est accusator sui‘ [Prov. 18,17 Vg.] et damnator et iudex sui. Et ideo deum iustificat et vincere ac superare facit“75.

Die dialektische Bezogenheit von Sünder und Gott geht in diesem Kampf so weit, dass Luther sogar erklären kann, dass das Gericht, das der Sünder in der Selbstanklage an sich vollzieht, so ist, dass Gott dieses im Menschen vollzogene Gericht innerhalb der vollzogenen Selbstbindung76 notwendigerweise („necesse est“; WA 55/2,291) anerkennen muss. In aller Abweisung eigener Gerechtigkeit wird hier die Selbstabsage des Menschen an sich in einem engen Zusammenhang, der ähnlich auch in dem Konnex zwischen Selbstentleerung und Einfließen Gottes in der oberrheinischen Mystik zu beobachten ist77, als geradezu selbsttätige Grundlage für das Gericht Gottes beschrieben, worin der Luther dieser Vorlesung seine enge Verbindung mit der Frömmigkeits72

S. LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 1), 43. WA 55/2,288. 74 Zum Motiv des Kampfes bei Luther s. RIESKE-BRAUN, UWE, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999 (FKDG 73). 75 WA 55/2,288. 76 S. zur Wirkung der pactum-Vorstellungen auf Luther HAMM, BERNDT, Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977 (BHTh 54), 377–382. 77 TAULER, Predigten (ed. Vetter, wie Anm. 20), 176,7. 73

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welt des späten Mittelalters, die Tun Gottes und Tun des Glaubenden nicht immer klar unterscheidet, zeigt. Gerade an dieser Stelle stellt nun die Römerbriefvorlesung eine deutliche Weiterentwicklung dar. Entscheidend ist in dieser Vorlesung zunächst, dass Luther – wie vor ihm Gregor von Rimini, aber wohl nicht unter seinem Einfluss – Sünde und Sündenfolge im Angesicht Gottes unterscheidet und hieraus nun die ersten Ansätze zu einer Formulierung des simul entwickelt, und zwar im Anschluss an die eben anhand der Psalmenvorlesung ausgeführten Überlegungen: Im Scholion zu Röm 4,7 greift Luther auf Ps 50/1 zurück, differenziert aber nun das dort beschriebene paradoxale Geschehen. Hatte die Psalmenvorlesung gerade den Sünder, weil er seine Sünde bekennt, zu dem gemacht, der Gott die Ehre gibt, so heißt es nun: „Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputanti Iusti; Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti; Ignoranter Iusti et cienter inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe“78.

Die Paradoxie wird also, durchaus konsequent aufgrund der relationalen Ausrichtung von Luthers Denken, aspektiv aufgelöst. Während die das Gerechtsein begründende Relation in Gott fundiert ist, hat die das Sündersein begründende Relation ihren Grund im Menschen, und zwar gerade in dessen radikaler Verweigerung der Relation zu Gott: Die Natur des Menschen ist so in seipsam incurva, dass die ihr eigentlich zuträgliche Relation der fruitio zu Gott unmöglich ist und der Mensch ein Relation des uti zu Gott errichtet, die letztlich als Ziel aller Bewegungen nicht Gott selbst setzt, sondern sich selbst79. Sünde ist also ihrem Wesen nach Gottabkehr, Relationsverweigerung zu Gott und damit als Gebrauch Missbrauch Gottes. Und sie ist in dieser Gestalt peccatum radicale80, also eine Wurzelsünde81, von der sich alle anderen Einzelsünden ableiten: Schon begrifflich zeigt sich hier die „Radikalisierung“, von der Gerhard Ebeling82 und Karl-Heinz zur Mühlen83, aber auch Otto Her78

WA 56,269,27–30. WA 56,304,25–29. 80 WA 56,277,12; zu traditionsgeschichtlichen Hintergründen dieses Begriffs s. EBELING, GERHARD, Der Mensch als Sünder. Die Erbsünde in Luthers Menschenbild, in: DERS., Lutherstudien. Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, 74–107, 78. 81 Diesen besonderen Charakter des peccatum originale kann man auch als „Personalsünde“ fassen (vgl. KLEFFMANN, TOM, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994 [BHTh 86], 109). 82 EBELING, GERHARD, Disputatio de homine. Dritter Teil: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu Thes 20–40,Tübingen 1989 (DERS., Lutherstudien. Bd. 2), 114. 83 ZUR MÜHLEN, K ARL-HEINZ, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (BHTh 46), 117. 79

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mann Pesch84 sprechen. Luther hat sie in der Römerbriefvorlesung unter dem Einfluss der augustinischen Theologie vorgenommen hat und die er nun auch schroff gegen die theologi scolastici85 und „Sawtheologen“86 wendet. Obwohl Luther auch in der Römervorlesung den Begriff des fomes peccati aufgreift87, ist dieses Sündenverständnis doch deutlich zugespitzt auf eine im Menschen bleibende Ursünde, von der alle Einzelsünden nicht nur angestachelt werden, sondern aus der sie tatsächlich herauswachsen, und diese ist eine Gegenkraft zu Gott, bleibende concupiscentia ad malum88. Damit hat Luther endgültig den durchgehenden privativen Zug der Sündentheologie des späten Mittelalters verlassen. Dass Luther mit dieser Radikalisierung in einen Widerspruch gerade zur mystischen Theologie geriet, der er im Blick auf sein Verständnis der Buße in dieser Zeit geradezu entscheidende Impulse verdankte89, scheint ihm nicht deutlich geworden zu sein, ja, diese mystische Theologie war für ihn sogar ganz im Sinne seiner Sündenlehre lesbar. Auf dem Titelblatt der von ihm selbst initiierten Ausgabe der Theologia deutsch wurden gerade die oben angesprochenen sündentheologischen Kapitel mit ihrer Adam-Christus-Typologie in den Vordergrund gestellt, wenn es dort im Zusammenhang mit einer entsprechenden Abbildung heißt: „Ein geistlich, edles Buchlein von rechter underscheid und vorstand, was der alt und neu mensche sei. Was Adams und was Gottes kind sei. Und wie Adam inn uns sterben unnd Christus ersteen soll“.90

84

PESCH, in: THOMAS, Sünde (wie Anm. 2), 962–987. Pesch verweist zugleich mit Recht darauf, dass diese Rede von „Radikalisierung“ in eine Schieflage gerät, wenn man die mittelalterlichen Denker – er blickt hier, im Kontext eines Thomas-Kommentars, nur auf die Scholastiker – einfach an den Fragestellungen Luthers misst (ebd. 963). Recht verstanden, enthält der Begriff der Radikalisierung ja nicht nur das Moment der Abgrenzung, sondern auch das der Kontinuität und ist insofern ein Sonderfall des Vorgangs der Transformation. 85 WA 56,273,4. 86 WA 56,274,14. 87 WA 56,313,4–9; vgl. zum Zurücktreten von allen Momenten eines bloß partiellen oder begrenzten Verständnisses von Sünde bereits in den „Dictata super Psalterium“ BRUSH, Gotteserkenntnis (wie Anm. 67), 91; vgl. zu diesem Begriff EBELING, Mensch als Sünder (wie Anm. 80), 82–85. 88 WA 56,277,12f. 89 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band 261–277; zur fortdauernden theologischen Bedeutung: DERS., Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in diesem Band 399–418. 90 WA 1, 153. Vgl. zum Tod des inneren Adam als durch das opus alienum herbeigeführte Verzweiflung in WA 1,112,33ff (Predigt vom 21.12. 1516!). Im Folgenden führt Luther aus, daß das opus alienum des „Poenitentiam agite“ unmittelbar mit der Ankündigung des Gottesreiches als Opus proprium verbunden ist (WA 1,113,28ff, Predigt vom

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Dass Luther ungeachtet ihres privativen Sündenverständnisses und möglicherweise in dessen Übersehung die mystischen Texte im Sinne seines schon früh zu greifenden aktiven Sündenverständnisses las, könnte unter Umständen sogar die Vermutung erlauben, dass er die mystischen Texte so las, dass sie seine eigene radikalisierende Entwicklung unterstützten, insofern Tauler, dessen Predigten er in dieser Zeit mit Randbemerkungen versah, im Sinne einer radikalen Absage an das eigene Ich zu verstehen war: „deus non agat in nobis, nisi prius nos et nostra destruat“91, heißt es in einer dieser Randbemerkungen. Im Sinne des alttestamentlichen Töpferbildes handelt Gott, indem er „directe agit contra nostrum propositum, spem et intentionem et omne consilium nostrum“92. Dies trifft durchaus den Tenor Taulers und auch Eckharts im Sinne einer Absage an das Ich des Menschen, all sein Wollen und Vorhaben – aber es wendet diese im Horizont der bei Luther von früh an zu beobachtenden aktiven Füllung des Sündenbegriffs von einer Privationsaussage, die durch die Absage an all dieses dem Menschen Eigene zur Vernichtung des Menschen und eben darin zu Gott führt, in ein Kampfmotiv, in dem Gott sich gegen die Sünde durchsetzt. Dass in solchen Überlegungen heterogene Stränge mittelalterlichen Denkens ineinander fließen und gerade hierin eine neue Kontur formen, ist charakteristisch für die Diskussionslage im Wittenberg dieser Jahre, für die Luther ein wichtiger Exponent ist. Tatsächlich ist, wie schon Leif Grane beobachtet und nun Jens-Martin Kruse noch einmal deutlich nachgezeichnet hat93, die theologische Entwicklung dieser Zeit auch als ein Gruppenphänomen zu verstehen, und zwar als ein solches, das entscheidend auf Staupitz bezogen ist. Nicht nur Luther hat später erklärt, Staupitz habe „die doctrinam angefangen“94, sondern auch Karlstadt führt seine eigene theologische Entwicklung in seiner Erinnerung in der Vorrede zu De spiritu et littera ganz entscheidend auf Staupitz zurück95. In dessen eklektischer Frömmigkeitstheologie konnte man ineinander augustinische wie mystische Elemente aufnehmen, die in Luthers Sündentheologie mit großer Konsequenz auf eine augustinische Zuspitzung des Sündenverständnisses angewandt wurden. So ist für Luther nun in der Römerbriefvorlesung die Begrifflichkeit der incurvatio ent-

21.12.1517): Dieses ist das Vokabular, mit dem er sich Staupitz‘ bußtheologischen Hinweis erhellen konnte. 91 WA 9,102,10f. 92 WA 9,102,23f. 93 GRANE, Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie, Leiden 1975 (AThD 12), 113. 115. 94 WA.TR 1,245,12 (Nr. 526). 95 S. KÄHLER, ERNST, Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift De spiritu et littera, Halle 1952, 3–9.

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scheidend96, die als Bezüglichkeit auf das Ich die eigentliche Wurzelsünde darstellt. In den Jahren 1515/6 erscheint damit ein Komplex paulinisch-augustinischer Gedanken, die in der Absage an die sündhafe Struktur der Ichbezogenheit des Menschen zentriert ist und sich gegenseitig stützt und befruchtet. Damit ist die Radikalität der Sünde in aller Schärfe ausgedrückt. Einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr diese Neukonstitution des Sündenverständnisses in der Disputatio de viribus hominis sine gratia disputata, die von Kruse als „erster öffentlicher Vorstoß für Luthers Theologie“ charakterisiert worden ist97. Am 25. September 1516 disputierte Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch unter Luthers Vorsitz über Thesen hielt, die er auf Grundlage von dessen Römerbriefvorlesung zusammengestellt hatte. In Zusammenfassung der Lehren Luthers erscheint der alte Mensch nun ganz als Fleisch 98 und damit als eben das, worin Luther aufgrund von Paulus seit der Sentenzenvorlesung die widergöttliche Macht gesehen hat. Und als Fleisch steht der Mensch, solange er von der Gnade ausgeschlossen ist, notwendigerweise unter der Sünde: „necessario sub peccato manet“99. Wann immer er tut, was in ihm ist, sündigt er100, Freiheit des Willens gibt es für ihn nicht101, weil der Wille ganz von der Sünde bestimmt ist. Er ist also nicht, wie bei Thomas und im Kontext habitualen Sünden- und Gnadenverständnisses Ort der Sünde, sondern ihr Instrument: Die in den Randbemerkungen zum Lombarden sich andeutende Macht der Sünde als Gegenkraft zu Gott und Geist gewinnt damit anthropologisch Kontur. In dieser Disputation trat das Wittenberger Programm prägnant und ungeschmälert vor die universitätsinterne Öffentlichkeit: Sünde ist radikale Gottesgegnerschaft und also solche nicht abstufbar, sondern in ihrer Gänze, wurzelhaft, ein Widerspruch zu Gott. Mit dieser Disputation zeigte sich das Reformprogramm der um Luther gescharten Gruppe in Verbindung aus inhaltlicher gnaden- und sündentheologischer Zuspitzung und Ausrichtung an der Autorität des Kirchenvaters Augustin statt des paganen Philosophen Aristoteles und damit, das war die reformorientierte Zuspitzung, in Abkehr von der herrschenden scholastischen Theologie. Berühmt ist der Brief an Johannes Lang vom 18. Mai 1517, in dem Luther schreibt, „theologia nostra et S. Augustinus“ machten Fortschritte an der Wittenberger Universität und Aristoteles weiche dafür zurück102. Nicht einmal vier Monate später setzt die Disputation gegen die scholastische Theologie vom 4. September 1517 mit 96

Zur Bedeutung dieser Vorstellung für Luthers Sündenverständnis s. BAYER, OSLuthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen ²2004, 164–166. 97 KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187), 79. 98 WA 1,146,14–16. 99 WA 1,147,12. 100 WA 1,148,14f. 101 WA 1,147,38f. 102 WA.B 1,99,8–13 (Nr. 41). WALD, Martin

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einem vehementen Plädoyer für Augustin gegen die scholastische Theologie ein103, und ein wichtiges Thema ist darin die Lehre vom in Sünde verkehrten Willlen. Die Weise der Exposition markiert die in einer weitreichenden innerwittenbergischen Verständigung erreichte Konfrontation. Die bei Luther schon in der Sentenzenvorlesung angelegte Spannung zwischen der an dieser Stelle wohl noch über Biel vermittelten paulinischen Begrifflichkeit und der die scholastische Theologie formenden Begrifflichkeit der Sentenzen hat nun eine ausgebaute Gestalt als auf Augustin fußende Neupositionierung gegenüber der herrschenden akademischen Theologie gefunden – und damit eine Konfrontation expliziert, die jene, deren Reformanliegen er zuspitzend transformierte, vermieden hatten.

103

WA 1,224,7f.

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Sola fide und monastische Existenz Die Amalgamierung von Paulus und Mystik in Luthers Römerbriefauslegung Luther habe die „mittelalterliche[n] Zentralstellung der Liebe durch die Zentralstellung des Glaubens“ ersetzt, so hat Berndt Hamm die Entwicklung des frühen Luther eindrücklich beschrieben1. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umgang Luthers mit der Glaubensvorstelllung und dem Glaubensbegriff in seinen frühen Vorlesungen: Er hat im Rahmen seiner Verpflichtungen auf der Wittenberger Professur2 zunächst die Psalmen ausgelegt. Nach Abschluss der Dictata in Psalterium, in denen er verschiedentlich schon vergleichend Stellen aus dem Römerbrief herangezogen hatte3, wandte er sich diesem selbst zu. Mit der Römerbrief-Vorlesung begann er um die Osterzeit 15154. Johann Oldecop, dem wir diese Nachricht verdanken, informiert auch recht genau über die Vorbereitungen der Vorlesung, mit denen Luther es den Studenten ermöglichte, seinen Vortrag genau zu verfolgen: „De doctor hade dar up bi Johan Grunenberg dem bokdruker bestellet, dat de epistula Pauli, de riege ein wiet von der andern gedrucket wart umme gloserens willen.“5

1

HAMM, BERNDT, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 21; vgl. zur systematisch-theologischen Verhältnisbestimmung beider Größen HÄRLE, WILFRIED, Glaube und Liebe bei Martin Luther, in: Michael Roth / Günter Bader (Hg.), Glauben – Leiben – Hoffen. Theologische Einsichten und Aufgaben. FS Konrad Stock, Münster 2001, 76–94. 2 Dass es sich nicht um eine spezielle Bibelprofessur handelte, hat KÖPF, ULRICH, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel / Günther Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (LSt 5),71–86, nachgewiesen. 3 Nachweise s. in WA 56 XII Anm. 1. 4 Chronik des Johan Oldecop, ed. v. Karl Euling, Tübingen 1891 (BLVS 190), 45,71–2 (Nr. 87): „Im jare 1515 des mandages na dem witten sondage, in Quasimodo geniti, kam ik Johannes Oldecop to Wyttenberge [...]. Und umme de tit hof an doctor Martinus Luther epistolas Pauli ad Romanos to lesende.“ (vgl. WA 56, XII). Der Sonntag Quaismodogeniti fiel 1515 auf den 15. April. 5 OLDECOP, Chronik (wie Anm. 4), 45, 12–15 (Nr. 87).

334

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Das Druckexemplar, das Luther selbst für seine Vorlesung noch gebraucht hat, ist erhalten und liegt der Edition in der Weimarer Ausgabe zugrunde6. Zudem sind studentische Mitschriften erhalten und ebenfalls ediert7, die aufgrund ihrer hohen Ähnlichkeit erkennen lassen, dass sie Luthers Vorlesung recht präzise wiedergeben8. Durch die gründliche Untersuchung von Gabriele Schmidt-Lauber ist nachvollziehbar, dass Luther in seinem mündlichen Vortrag zum Teil von den eigenen Mitschriften abwich9. Beendet hat er seine Vorlesung wohl Anfang September 151610. Mit Luthers eigenem Text und den Mitschriften bietet die Römerbriefvorlesung also eine hervorragende Quelle zur Rekonstruktion von Luthers theologischen Überlegungen mitten in der Zeit, in die seine reformatorische Entwicklung fällt11. Deren Nachzeichnung sollte wohl generell auf das „Wende-Konstrukt“ verzichten12. Leitend für eine Nachzeichnung von Luthers Entwicklung kann nicht die Suche nach einem bestimmten Punkt sein, von dem an sich ihm die Theologie ganz anders darstellte, sondern der Nachvollzug einer allmählichen Entwicklung, an deren Ende eine klare reformatorische Theologie steht, die aber mit durchaus unterschiedlichen Etappen und vor allem Überlagerungen rechnet. Für eine 6

S. zur Handschrift WA 56,XII-XV. WA 57 (I: Röm). 8 SCHMIDT-LAUBER, GABRIELE, Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16. Ein Vergleich zwischen Luthers Manuskript und den studentischen Nachschriften, Köln u.a. 1994 (AWA 6), 10f. 9 SCHMIDT-LAUBER, Vorlesung (wie Anm. 8). 10 In seinem vermutlich auf den 9. September 1516 zu datierenden Schreiben an Spalatin spricht Luther davon, er habe die Vorlesung über Paulus abgeschlossen („nunc autem absoluta professione lectionis Paulinae“; WA.B 1,56 [Nr. 21,8]). Allerdings ist die Datierung unsicher, da Luther selbst lediglich angibt: „altera nativitatis hora duodecima 1516“ (ebd. Z. 16). „Altera“ kann sich dabei auf den auf den dies nativitatis folgenden Tag oder den darauf folgenden Montag beziehen. Der Geburtstag wiederum kann der von Maria oder von Jesus sein. Mithin kommen die Daten 9. oder 15. September (bei Zugrundelegung des Geburtstages Mariens) oder 26. oder 29. Dezember 1516 bzw., rechnet man mit einem Jahresanfang zu Weihnachten: 26. oder 31. Dezember 1516 in Frage (s. die sorgfältige Darlegung von Clement in WA.B 1,53f). Als Ausgangsdatum wird man wohl den bekannten Umstand wählen müssen, dass Luther am 27. Oktober 1516 mit der Galatervorlesung begann (WA.B 1, 73 [Nr. 28,27f]) – das schließt die Datierung in den Dezember 1516 aus, aber doch wohl auch in den Dezember 1515, da dann ein langes Spatium zwischen Römerbrief- und Galatervorlesung anzunehmen wäre. Mithin kommen die Daten des Septembers, am ehesten wohl der 9. September 1516 in Frage. Luther hätte dann kurz vorher die Römervorlesung beendet. 11 Zur Frage des Zusammenhangs von „Durchbruch“ und „Entwicklung“ s. bereits PESCH, OTTO HERMANN, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Cath(M) 20 (1966), 216– 243. 264–280; DERS., Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers „Reformatorischer Wende“, ebd. 37 (1983), 259–287; 38 (1984), 66–133. 12 HAMM, Früher Luther (wie Anm. 1), 27. 7

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heutigen Anforderungen entsprechende Rekonstruktion von Martin Luthers theologischem Werdegang13 gibt es kein abruptes „Vorher“ und „Nachher“. So klar es ist, dass Luther als ein spätmittelalterlicher Theologe begann, der vor allem von Johannes Staupitz14 geprägt war15, und er ab spätestens 1520 eine Theologie vertrat, die in den spätmittelalterlichen Rahmen nicht mehr integrierbar war, so wenig kann man doch für die zwischen diesen Stufen liegende Zeit klare Schnitte benennen. Ein solcher, die kontinuierliche Entwicklung in den Mittelpunkt stellender methodischer Zugriff setzt allerdings auch die erinnerungskritische Einsicht16 voraus, dass das sogenannte „große Selbstzeugnis“17 Martin Luthers über seine reformatorische Entdeckung aus dem Jahre 1545 in seinem Quellenwert außerordentlich begrenzt ist – so bemerkenswert es ist, dass diese um die Deutung von Röm 1,17 kreisende Erinnerung geradewegs auf den Römerbrief und das darin enthaltene Glaubensverständnis hinzuweisen scheint. Diese berühmte, vielfach interpretierte Stelle lässt vor allem Rückschlüsse darauf zu, wie Luther selbst sich zum Zeitpunkt der Niederschrift, also 1545, verstand. Über den tatsächlichen Ablauf der dreißig Jahre zurückliegenden inneren Ent13

Dabei orientiere ich meine Fragestellung im Folgenden an den inhaltlichen Bestimmungen der Rechtfertigungslehre., JEAN-DENIS KRAEGE, Luther lecteur de l’épître aux Romains, in: FV 44 (1995) 99–110, hat, den Spuren Ebelings folgend, die Bedeutung von Luthers Römerbriefvorlesung für die Entwicklung evangelischer Hermeneutik hervorgehoben. 14 S. zu ihm HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: ARG 92 (2001) 6–41. 15 S. Luthers eigenes Bekenntnis: „Staupicius hat die doctrinam angefangen“ (WA.TR 1,245,12 [Nr. 526]). 16 Zur Erinnerungsforschung s. ASSMANN, ALEIDA, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003; FRIED, JOHANNES, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. 17 „Interim eo anno iam redieram ad Psalterium denuo interpretandum, fretus eo, quod exercitatior essem, postquam S. Pauli Epistolas ad Romanos, ad Galatas, et eam, quae est ad Ebraeos, tractassem in scholis. Miro certe ardore captus fueram cognoscendi Pauli in epistola ad Rom., sed obstiterat hactenus non frigidus circum praecordia sanguis, sed unicum vocabulum, quod est Cap. 1: Iustitia Dei revelatur in illo. Oderam enim vocabulum istud ‚Iustitia Dei‘, quod usu et consuetudine omnium doctorum doctus eram philosophice intelligere de iustitia (ut vocant) formali seu activa, qua Deus est iustus, et peccatores iniustosque punit. […] Donec miserente Deo meditabundus dies et noctes connexionem verborum attenderem, nempe: Iustitia Dei revelatur in illo, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit, ibi iustitiam Dei coepi intelligere eam, qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide, et esse hanc sententiam, revelari per euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit. Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse.“ (WA 54,185,12–20; 186,3–9); zum Begriff „großes Selbstzeugnis“ s. STRACKE, ERNST, Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über seine Entwicklung zum Reformator historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926 (SVRG 140).

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wicklung sagt sie wenig. Dagegen spricht neben dem zeitlichen Abstand vor allem die Konkurrenz mit anderen, parallel laufenden, inhaltlich aber anders akzentuierenden Erinnerungen18. Wenn überhaupt, wird man die frühe Phase in Luthers Schaffen nur aus in diese Zeit selbst fallenden Zeugnissen rekonstruieren können. Eben hierzu soll der folgende Blick auf sein Glaubensverständnis, wie es sich in der Römerbriefvorlesung darstellt, dienen.

1. Das augustinisch-paulinische Sola fide Kommentierung heißt zu einem guten Teil auch Nachzeichnung. So kann es nicht überraschen, dass sich in Römerbriefkommentaren immer wieder Wendungen finden, die in der Auslegung von Röm 1,17 die zentrale Bedeutung des Glaubens hervorheben19. Dies gilt neben dem Römerkommentar des Nikolaus von Lyra, den Luther mit Sicherheit kannte, vor allem von dem des Petrus Lombardus20. Luther erwähnt diesen Kommentar zwar nicht ausdrücklich, aber Jun Matsuura hat deutlich gemacht, dass der Verweis von Luther auf eine Glossa zu Röm 1,17 in seinem Sentenzenkommentar sich vermutlich nicht auf die an dieser Stelle recht spärliche Glossa ordinaria richtete21, sondern auf die Auslegung des Petrus Lombardus22. Angesichts des Kontextes legt sich nahe, dass Luther sich in der Tat hierauf bezieht; dann wäre dieser Verweis ein Indiz dafür, dass Luther dessen verbreiteten Römerkommentar kannte. Demnach ist zwar nicht mit letzter Sicherheit, aber doch jedenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Luther jene Formulierungen des Petrus Lombardus kannte, die in frappierender Weise zeigen, dass er sich mit seiner reformatorischen Entdeckung keineswegs vollständig 18

S. LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band 261–277, zu Luthers Widmungsschreiben an Staupitz von 1518, das eine ähnliche hermeneutische Zentralentdeckung beschreibt wie das Selbstzeugnis von 1545, dabei aber nicht iustitia in den Mittelpunkt rückt, sondern poenitentia. 19 Hierauf hat DENIFLE HEINRICH SUSO, in seiner monumentalen Textsammlung: Quellenbelege. Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Röm 1,17) und Justificatio, ed. v. Heinrich Denifle, Mainz 1905 (Ergänzungen zu Denifle’s Luther und Luthertum. Bd. 1), hingewiesen – freilich belastet durch seine polemische Absicht. 20 Bei der Rekonstruktion Luthers wird gern die tiefe Einbettung in die exegetische Tradition des Mittelalters übersehen. So nennt GOUDINEAU, HUBERT, Luther et Calvin commentateurs de l’épître aux Romains: une comparaison, in: positions luthériennes 44 (1996) 16–52, 20f, unter den Hilfsmitteln Luthers nur die Errungenschaften humanistischer Philologie, nicht aber die mittelalterlichen Kommentare, nicht einmal Lyra. 21 S. PL 114,471D. 22 LUTHER, MARTIN, Erfurter Annotationen 1509–1510/11, ed. v. Jun Matsuura, Köln u.a.2009 (AWA 9), 539,19 mit Anm. 3.

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aus dem Denk- und Sprachzusammenhang des Mittelalters löste: „Iusticia dei est qua gratis iustificat impium per fidem sine operibus legis“, heißt es bei dem Lombarden unter Berufung auf Haimo von Auxerre zu Röm 1,1723, und wenig später erklärt er zu Röm 3,22: „dixi iusticiam esse ex deo. Haec autem iustitia dei, id est, haec iustificatio, qua iustificamur, a deo est per fidem Jhesu Christi, id est per fidem, qua creditur in Christum iustificatorem impiorum, que fides impetrat, quod lex imperat24. Sicut autem ista fides Christi dicta est, non qua credit Christus, sic illa iusticia dei, non qua iustus est deus. Vtrunque enim nostrum est, sed ideo dei et Christi dicitur, quia iustum25 eius nobis largitate donatur. Justitia ergo dei sine lege est.“ 26

Für diese Aussage hat der Lombarde auch Augustin, De spiritu et littera herangezogen – um so mehr ist es nachvollziehbar, dass seine Aussagen den Glauben als Geschenk Gottes hervorheben und deutlich machen, dass die iustificatio durch Christus den impii gilt, die an ihn glauben. Diese Wendungen machen auch deutlich, dass Luther, als er sich um ein Verständnis des Römerbriefes bemühte, zwar einerseits völlig selbstverständlich auf Nikolaus von Lyra zurückgriff, andererseits aber unter Umständen an einzelnen Stellen mit größerem Gewinn den Lombarden heranziehen konnte, dessen Ausführungen noch nicht durch die aristotelische Wende des 13. Jahrhunderts geprägt waren. Besonders augenfällig ist dies bei der Auslegung der Wendung „ex fide in fidem“ in Röm 1,17: Luther grenzt sich hier ausdrücklich von Nikolaus von Lyra ab27, der diese Stelle mit einer Unterscheidung von fides informis und fides formata, also in Aufnahme der einschlägigen Lehre des Thomas von Aquin28, gedeutet hatte29. Petrus Lombardus hingegen hatte sie in einer viel stärker für Luthers weitere Entwicklung aufgreifbaren Weise gedeutet, nämlich: „ex fide dei promitentis in fidem hominis qui credit ei“30. Will man 23 PETRUS LOMBARDUS, Glossa in epistolas Pauli, Esslingen vor dem 8.9.1473, zu Röm 1,17; vgl. DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19), 58. 24 Vgl. zu dieser Formulierung Augustin, De spiritu et littera 13,22: „breviter dicam, quod operum lex minando imperat, hoc fidei lex credendo impetrat“ (CSEL 60,175,13f). 25 Fehlt bei DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19). 26 LOMBARDUS, Glossa (wie Anm. 23) zu Röm 3,22; vgl. DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19), 62. 27 S. WA 56,133,13f mit textkritischer Anmerkung zu Z. .13. 28 Grundlegend hierfür Summa theologiae II-II q. 4 a. 3 (Sancti Thomas Aquinatis Opera omnia. Bd. 8, Rom 1895, 46f); vgl. zum Gesamtkonzept ROSE, MIRIAM, Fides caritate formata. Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin, Göttingen 2007. 29 NIKOLAUS VON LYRA, Postilla super totam Bibliam, Nürnberg: Anton Koberger 1481, zu Röm 1,17; vgl. DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19), 190. 30 LOMBARDUS, Glossa (wie Anm. 23) zu Röm 1,17; vgl. DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19), 58. Der Gedanke der promissio war im 12. Jahrhundert alles andere als ungewöhnlich, wie auch ein anonymer Paulinenkommentar zeigt: „ex fide promissionis in fidem redditionis“ (Anonymi auctoris saeculi XII Expositio in epistolas Pauli [Ad Romanos

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die Vorstellung der promissio stark für Luthers reformatorische Entwicklung machen31, so wird man die Bedeutung eben dieser Vorstellung beim Lombarden mit einzubeziehen haben. Um den Denkhorizont zu verstehen, innerhalb dessen Luther sein Glaubensverständnis in der Römerbriefvorlesung entwickelte und entfaltete, darf man also nicht allein seine kritische Erinnerung an iustitia activa / distributiva in seinem Großen Selbstzeugnis heranziehen. Diese Begrifflichkeit entstammt der Nikomachischen Ethik (Eth. Nik. V,5). Erst nach deren Bekanntwerden im Rahmen der allgemeinen Aristotelesrezeption des hohen Mittelalters konnte daher ihre iustitia-Lehre auch in die christliche Theologie aufgenommen werden32. Die Fortführung von Abschriften und Drucken älterer Texte wie eben des Römerbriefkommentars von Petrus Lombardus hatte aber daneben auch zu einer Persistenz des augustinischen Gerechtigkeitsverständnisses bis in das späte Mittelalter geführt. Luthers Paulusdeutung fand in ihren Anfängen hier Rückhalt – und die stark an Paulus und Augustin anklingenden Formulierungen ergeben sich aus einem Zusammenklang zwischen den Texten der Bibel und des Kirchenvaters wie auch Teilen der exegetischen Tradition des Mittelalters. So kam Luther schon in der Römerbriefvorlesung zu Formulierungen, die sehr stark an das anklingen, was er später als seine reformatorische Entdeckung bezeichnete und die mithin auch die Grundlage dafür bieten konnten, dass man diese schon in den Jahren 1513–1515 oder früher meinte identifizieren zu können. Tatsächlich zeigt sich beim Blick auf Luthers Auslegung des Römerbriefes rasch eine Sprache und Theologie, die spätere Konzepte vorwegzunehmen scheint. So hält Luther zu Röm 1,17 ausdrücklich fest „Sed in solo euangelio reuelatur Iustitia Dei […] per solam fidem, qua Dei verbo creditur“33, und grenzt den Glauben an das Evangelium von einer Gerechtigkeit aus den Werken ab34 – eine Opposition, die er offenbar im Diktat seiner Vorlesung noch deutlicher hervorgehoben hat als in seinen eigenen Niederschriften35. Ent– II Ad Corinthios 12], ed. v. Rolf Peppermüller, Münster 2005 [BGPhThMA.NF 68], 38,826). 31 S. BAYER, OSWALD, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971 (FKDG 24); DERS., Art. Promissio, in: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 571. 32 S. THOMAS, Summa Theologiae II-II q. 61 a. 2 (Sancti Thomas Aquinatis Opera omnia. Bd. 9, Rom 1897, 35f). 33 WA 56,171,28–172,1; auf den „auffallend lutherisch[en]“ klang dieser Worte weist auch STAATS, REINHART, Augustins „De spiritue et littera“ in Luthers reformatorischer Erkenntnis, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Wiesbaden / Stuttgart 1988 (VIEG 25), 365–384 374, hin. 34 WA 56,172,5–15. 35 WA 57 (I: Röm),133,6–8. Dies bildet in gewisser Weise einen Gegenakzent zu der richtigen Beobachtung von SCHMIDT-LAUBER, Vorlesung (wie Anm. 8), 62–64, die den

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sprechend kann die benannte Schwierigkeit der Formel „ex fide in fidem“ bei ihm so aufgelöst werden, dass die Gerechtigkeit ganz und gar aus dem Glauben kommt, dieser aber im Fortschreiten immer klarer wird36. Wie ambivalent37 das Auftreten der Formel sola fide an dieser Stelle ist, zeigt allerdings der Umstand, dass Luther sich an anderer Stelle ausdrücklich gegen jene Menschen richtet, die „sola fide, non per Christum“ zu Gott gelangen wollen38. Fortfall der Wendung „per solam fidem“ in dem Sinne deutet, dass „das neue reformatorische Verständnis der Rechtfertigung in so deutlicher Weise“ nicht in das Diktat einging (64). Tatsächlich betont auch sie, „daß Luther […] in seinem Vortrag stärker als in seinen eigenen Vorbereitungen die Ablehnung einer Werkgerechtigkeit hervorhebt“ (ebd. 155). 36 WA 56,173,8f; vgl. BIZER, ERNST, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen-Vluyn 1958, 23; vgl. auch dass., Neukirchen-Vluyn ³1966: Bizer hat das Kapitel zum Römerbrief angesichts der Debatte ab der zweiten Auflage in deutlich veränderter Form dargeboten (s. hierzu KAUFMANN, THOMAS, Die Frage nach dem reformatorischen Durchbruch. Ernst Bizers Lutherbuch und seine Bedeutung, in: Rainer Vinke [Hg.], Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004 [VIEG.B 62], 71–97, 86 Anm. 69). 37 Solche Ambivalenzen sind auch nicht durch ein Entwicklungsschema aufzulösen, das Luther auf dem Weg zu einer „fides sola“ als „neutestamentlichen Heilsglauben“ sieht (KAISER, BERNHARD, Luther und die Auslegung des Römerbriefes. Eine theologisch-geschichtliche Beurteilung, Bonn 1995 [BeSym 9], 168) – solche Argumentationen arbeiten mit einem ahistorischen Exegeseverständnis. 38 WA 56,298,25f; vgl. BIZER, Fides ex auditu (1. Aufl., wie Anm. 36) 27; dass. (3. Aufl., wie Anm. 36) 25–27. Ohnehin wird man das Aufkommen von Sola fide nicht immer sogleich im reformatorischen Sinne zu verstehen haben. Ohnehin begegnet sie mehrfach vorreformatorisch, und dies durchaus in soteriologischer Zuspitzung. So heißt es bei Bernhard: „Quamobrem quisquis pro peccatis compunctus esurit et sitit iustitiam, credat in te qui iustifucas impium, et solam iustificatus per fidem, pacem habebit ad Deum“ (BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, ed. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 5, Innsbruck 1994, 316,15–17; vgl. KÖPF, ULRICH, Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: Athina Lexutt et al. [Hg.], Reformation und Mönchtum, Tübingen 2008 [SMHR 43], 29–56, 51), und sogar, in Ep. 77, im ausdrücklichen Anschluss an Augustin und Ambrosius: „credens et ipse sola fide hominem posse salvari“ (BernHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, ed. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 2, Innsbruck 1992, 620,17f; vgl. hierzu PEDERSEN, ELSE MARIE WIBERG, The Significance of the Sola fide an the Sola gratia in the the Theology of Bernard of Clairvaux [1090–1153] and Martin Luther [1483–1546], in: LuBu 18 [2009] 20–43, 30). Auch bei Thomas Bradwardine begegnet die Formel bereits: THOMAE | BRADWARDINI | ARCHIEPISCOPI OLIM | CANTUARIENSIS | DE CAUSA DEI; | CONTRA PELAGIUM, | ET DE VIRTUTE CAUSARUM, | [...] LIBRI TRES, London: Johannes Billius 1618 (= Frankfurt 1964), 394A-B: „Bene igitur apostolus fidem praedicans gentibus, ut ostenderet non merito bonorum operum perveniri ad fidem, sed fidem sequi bona opera, dicit, hominem iustificari per fidem sine operibus legis; [...] sola fide sine operibus praecedentibus sit homo iustus“ (s. hierzu OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 31989, 84). Allerdings ist ein Sola fide etwas anderes als die verbreitete Auffassung, dass kein Mensch sine fide er-

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Dass seine Einsicht trotz ihrer Einbettung in traditionelle Auslegung keineswegs leicht formulierbar war, zeigt sich in einem Ringen Luthers um das rechte Verständnis von Aussagen aus Augustins De spiritu et littera39 im Zusammenhang seiner Deutung der Abrahamsgestalt in Röm 3: In Kap. 13,22 hatte Augustin bekanntlich zu der steilen Aussage gefunden: „ac per hoc lege operum dicit deus: ‚fac, quod iubeo‘, lege fidei dicitur deo: ‚da quod Iubes‘.“40 Diese Formulierung griff Luther nun mit dem kleinen Zusatz „sc. humili petitione“ nach „Deo“ in seinen Aufzeichnungen auf41. Eben dies machte ihm aber Beschwer, denn Luther fügte Reflektionen darüber hinzu, dass das einfache Gebet „Da quod iubes“ noch keineswegs zum Empfang der Gnade führe, sondern: „Omnes credimus et loquimur, confitemur et operamur, Et tamen non omnes Iustificamur”42. Hier deutet sich also an, dass der Glaube keineswegs, wie es in anderen Äußerungen Luthers der Fall zu sein scheint, fast magisch das Heil bewirkt43. Gerade wenn dem aber nicht so ist, wenn also der Glaube keine fraglos sichere Gewähr für das Heil gibt, dann stellt sich die Gewissheitsfrage mit besonderer Dringlichkeit44. Luther befand sich in den Jahren der Römerbriefvorlesung nach späteren Erinnerungen auch in Anfechtungen hinsichtlich der Frage der Prädestination und brachte diese vor seinen Beichtvater Staupitz45. Tatsächlich durchziehen Hinweise auf die Prädestina-

löst werden kann (dies verwechselt BASEVI, CLAUDIO, La Justificación en los comentarios de Pelagio, Lutero y Santo Tomás al epístola a los Romanos, in: SrTh19 [1987] 113–176, 120f). 39 Vgl. Hierzu auch STAATS, Augustins „De spiritue et littera“ (wie Anm. 33); zu weiterreichendem Augustingebrauch s. PANI, GIANCARLO, L’eredità di Agostino nella ‚Römerbriefvorlesung’ di Martin Lutero: La Expositio quorundam propositionum ex epistola ad Romanos, in: SNSR 61 (1995) 83–97. 40 CSEL 60,175,21–23. 41 WA 56,257,2–4. 42 WA 56,257,17f. 43 S. die Marginalglosse zu Röm 1,16: „I.e. est potentia ad salvandum omnes credentes, siue est verbum potens saluare omnes credentes ipsum. Et hoc per Deum et ex Deo. Sicut si dixeris : Ista gemma habet hanc virtutem ex Deo, Vt qui eam portat, non possit sautiari, Ita Euangelium ex Deo hoc habet, Vt qui ipsum crediderit, saluetur“ (WA 56,10,16–20). 44 Vgl. aber die Hinweise auf eine starke Betonung der Gewissheit in der Römerbriefvorlesung bei GROSSE, SVEN, Heilsgewissheit des Glaubens. Die Entwicklung der Auffassungen des jungen Luther von Gewissheit und Ungewissheit des Heils, in: LuJ 77 (2010) 41–63, 44f. 45 „Ego semel conquerebar de sublimitate praedestinationis Staupitio meo. Respondit mihi: In vulneribus Christi intelligitur praedestinatio et invenitur, non alibi, quia scriptum est: Hunc audite. Der Vater ist zu hoch, sed dixit Pater: Ego dabo viam veniendi ad me, nempe Christum. Ite, credite, hengt euch an den Christum, so wirts sichs wol finden, quis sim, suo tempore. Das thun wir nicht, ideo Deus est nobis incomprehensibilis, incogitabilis; er wirt nicht begriffen, er will ungefast sein extra Christum” (WA.TR 2, Nr. 1490 [112,9–16]).

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tion die Römerbriefvorlesung46. Ausführlicher aber geht Luther auf die damit verbundenen Sorgen in seinem Scholion zu Röm 8,28 ein. Mit diesem Vers beginnt nach Luther die „materia praedestinationis et electionis“47. In ihrer Darlegung hat Luther vor allem vier Anliegen: Zum einen will er deutlich machen, dass die Erwählung nicht necessitate consequentis erfolgt, sondern necessitate consequentiae48, d.h.: Weil Gottes Ratschluss so ist, folgt notwendig, dass die Erwählten das Heil erlangen. Dass sie aber das Heil erlangen, bleibt in sich völlig kontingent, d.h. es gibt nichts am Menschen, worauf er hinsichtlich des Heils pochen könnte, er verdankt es ganz dem Ratschluss Gottes. Zum anderen beschäftigt Luther die Frage, wie mit dem Faktum umzugehen ist, dass einige nicht berufen und mithin auch nicht auserwählt sind49. Drittens weist er den gegen Gott gerichteten Vorwurf ab, dieser sei schuldig am schlechten Ergehen der Nichterwählten50, und schließlich bietet er denen Trost, die an ihrer Erwählung zweifeln, indem er gerade in ihrer Furcht jene Demut sieht, der Gott sein Heil verheißen hat51 – und so erklärt er gerade die Einstimmung in Gottes Willen zum Zeichen der Erwählung52. Charakteristischerweise fehlt aber dieser Abschnitt fast vollständig in den studentischen Mitschriften53, ebenso wie auch die Ausführungen zum „Da quod iubes“ im Zusammenhang von Röm 3 – Schmidt-Laubers Einsicht, dass Luther im Hörsaal problematische Themen mied54, bestätigt sich auch hier55.

46 In Zusammenhang mit Röm 1,4 und 8,29, war es durch den lateinischen Text erzwungen, der aber praedestinatus auf Christus anwendet (WA 56,5,6. 18; 83,11f. 25f). Zu Röm 4,5; 8,28; 9,12 nutzt Luther den ‚Begriff „praedestinatio“ zur Erklärung von propositum (WA 56,41,14; 83,8; 91,3); zu Röm 5,6 zur Erklärung von „secundum tempus“ (WA 56,50,13; 309,17f); zu Röm 9,9 zur Erklärung von promissio (WA 56,90,7); zu Röm 11,25 zur Erklärung von plenitudo gentium (WA 56,113,13f); zu Röm 8,33 nutzt er praedestinati zur Erklärung von electi (WA 56,85,1); zu Röm 11,29 erklärt er „dona et vocatio Dei“ mit praedestinare (WA 56,114,10f). 47 WA 56,381,17. 48 WA 56,382,23f. 30f; vgl. hierzu MCSCORLEY, HARRY, Luthers Lehre vom unfreien Willlen nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition, München 1967 (BÖT 1), 220f. 49 WA 56,383,35. 50 WA 56,383, 27–29; 385,1–386,22. 51 WA 56,387,20–26. 52 WA 56,388,4–28. 53 Das Scholion zu Röm 8,28 ist hier auf einen kurzen Abschnitt reduziert, in dem vom propositum Dei die Rede ist, nicht von der praedestinatio (WA 57 [I: Röm],195,7–16); in den Marginalnotizen findet sich allerdings die Identifikation von propositum und praedestinatio (ebd. 77,7). 54 SCHMIDT-LAUBER, Vorlesung (wie Anm. 8), 156. 55 Allerdings ist es bemerkenswert, dass Luther seine Erwägung, Gott könne seinen Ratschluss ändern, als „trepidatio cordis“ an seine Studenten weitergegeben hat (WA 56,48,18–24; 57,48,21–25).

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All dies sind Begleitgedanken, die vor allem eine Grundthese stützen sollen: dass den Glaubenden die Gnade gratis gegeben ist56, dass sie die Gerechtigkeit ohne Verdienst oder Werke erhalten57. Diese theologische Deutung hat dabei, gerade in der Deutung Abrahams, auch eine klare antijudaistische Spitze: Röm 4,10, die Wendung gegen die Beschneidung, sei, so Luther, ein hervorragendes Argument gegen Iudaeorum insipientia58: Wenn Abraham ohne Beschneidung und Werke gerechtfertigt wurde, so könnten auch sie nicht sagen, dass Beschneidung und Werke nötig seien59. Luther befindet sich also einerseits offenkundig in Auseinandersetzung mit Theologen seiner Zeit, andererseits aber hinsichtlich der religiösen Grundorientierung vor allem mit dem Judentum, wie er es wahrnahm: Dass Abraham „non nisi ex fide Iustificatus fit“, richtet sich vor allem gegen die vermeintliche jüdische Auffassung, dass man durch Werke gerechtfertigt werde60, so wie generell die Annahme einer iustitia operum ohne Gnade und Christus als jüdisch und unzureichend erscheint61. Vor diesem Hintergrund gilt der klare Satz, „Iustificationem ex fide, non autem ex operibus fieri“62. Diese Aussage, und auch ihre Zuspitzung im Begriff der sola credulitas als Grundlage des Heils63, löst sich aber nur scheinbar aus einem im Grundsatz auf ausgleichende Werke ausgerichteten religiösen Zusammenhang. So klar es ist, dass niemandem Gerechtigkeit aufgrund eigener Werke gegeben wird64, so entschieden gilt doch auch, was Luther zu Röm 3,25 erklärt: „Q.d. non sic gratis dat gratiam, vt nullam satisfactionem exegerit, Sed satisfactorem Christum pro nobis dedit, Vt sic satisfacientibus per alium ipsis tamen gratis gratiam daret“ 65.

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WA 56,37,26. WA 56,42,3f; 265,29–31. 58 Insofern gilt die anhand von Röm 9–11 getroffene Einschätzung von LOHSE, EDUARD, Martin Luther und der Römerbrief des Apostels Paulus, in: KuD 52 (2006) 106–125, 117, Luther spreche in der Römerbriefvorlesung „nicht [...] polemisch oder mit schmähenden Worten von den Juden“ nicht für die gesamte Vorlesung. 59 WA 56,42,21–26. 60 WA 56,40,26–28. Vor dem Hintergrund der sogenannten „New perspective“ in der Paulusforschung legt MASCHMEIER, JENS-CHRISTIAN, Glaube und Handeln bei Luther und Paulus. Kritische Anfragen an eine lutherische Paulusperspektive, in: KuD 59 (2013) 21– 44, dar, dass „Paulus und Luther in ihrer Verhältnisbestimmung göttlichen und menschlichen Handelns und somit auch in der zentralen Frage ihres Verständnisses von Rechtfertigung und Werkgerechtigkeit nicht deckungsgleich“ seien (29). 61 WA 56,99,9f. 62 WA 56,41,21. 63 WA 56,100,23. 64 WA 56,37,21f. 65 WA 56,37,26–28. 57

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Laut der Mitschrift hat Luther diesen satisfaktorischen Zusammenhang im mündlichen Vortrag sogar noch verstärkt: „non sic dat graciam gratis, ut nullam satisfactionem exegerit, sed satisfactorem Christum pro nobis dedit et accepit et sic nobis quidem gratis, non autem Christo“ 66.

Luther bewegt sich hier also ganz auf der Linie der Anselmschen Satisfaktionschristologie, mit der er sich in seiner Erfurter Zeit intensiv befasst hat67. Voraussetzung der Gnadenzusage ist, dass Christus die Forderungen Gottes erfüllt hat. Erst auf dieser Grundlage gilt: „fides sufficit sine illis operibus”68. Auch mit der Weise der Zueignung der Gnade durch den Glauben stellt Luther sich in die Reihe scholastischer Überlegungen: Die Begriffe imputare und reputare nämlich, die er bei Paulus vorfand, deutete er mit Hilfe der seit Duns Scotus verbreiteten acceptatio-Lehre69, die ihre Nachwirkungen bis zu Gabriel Biel hatte: In Sent I d. 17 q. 2 legte dieser die Auffassung Ockhams dar, wonach es keinen Widerspruch einschloss, dass Gott einen menschlichen Akt ohne vorhergehende Gnadeneingießung als verdienstlich anerkannte, und begründete dies damit, dass die Verdienstlichkeit „ex sola Dei gratiosa voluntate eum libere ad praemiandum acceptante“ abhänge70. Eben diese Terminologie, die Biel innerhalb eines verdiensttheologischen Zusammenhangs anwandte71, griff Luther nun – wie schon Nikolaus von Lyra72 – auf, um den reputatio-Gedanken des Römerbriefs zu deuten: „Et ita est non operantis, Sed Dei acceptantis fidem ipsius ad Iustitiam“73, heißt es bei ihm zu Röm 4,3. Diese spätmittelalterliche acceptatio-Theorie also bildet den Rahmen für Luthers Paulusverständnis, weswegen er den folgenden Vers zugleich mit der 66

WA 57 (I: Röm),40,17–20. S. LUTHER, Erfurter Annotationen (wie Anm. 22), 12–25. 68 WA 56,100,21. 69 S. DETTLOFF, WERNER, Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther, Münster 1963 (BGPhMA 40,2); diesen Zusammenhang übersieht BIZER, Fides ex auditu (3. Aufl., wie Anm. 36) 46–52. 70 S. BIEL, Collectorium I d. 17 q. 2 (Gabrielis Biel Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Prologus et Liber primus, ed. v. Wilfried Werbeck / Udo Hofmann, Tübingen 1973, 425,8f); vgl. BIEL, Collcetorium II d. 27 q. un. A. 3 dubium 2 : „Nam ratio meriti principlaissime convenit actui ex libera acceptatione divina.“ (Gabrielis Biel Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Liber secundus, ed. v. Wilfried Werbeck / Udo Hofmann, Tübingen 1984, 520,520,25f), mit direktem Verweis auf Duns Scotus ebd. Z. 4f. 71 OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, 167, fasst dies in der griffigen Formel zusammen, bei Biel erfolge Rechtfertigung „zugleich sola gratia und solis operibus“. 72 NIKOLAUS VON LYRA, Postilla (wie Anm. 29) zu Röm 3,21; vgl. DENIFLE, Quellenbelege (wie Anm. 19), 191. 73 WA 56,41,3f; so auch in der Mitschrift: „dei acceptantis et ex gracia reputantis“ (WA 57 [I: Röm], 42,18f). 67

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Formulierung „Iustificationem ex fide, non autem ex operibus fieri“74 wie dem Hinweis: „Quod exprimit solam gratuitam Dei acceptationem et non meritum operantis“75 erklären kann. Die Denkbewegung, die sich hier abzeichnet, ist daher, so sehr in ihr späterer Formulierungen anklingen, noch ganz aus dem mittelalterlichen Horizont heraus zu erklären. Sie gab dann auch Anstoß für solche Überlegungen, die später in hohem Maße als Differenz wahrgenommen wurden: die Vorstellung eines simul von gerecht und Sünder76: Wir sind „simul [...] Iusti et Iniusti“77, und eben diese eigentlich nicht aus uns kommende Gerechtigkeit ereignet sich „ex sola Dei reputatione“78, weil in diesem Leben die Sünde niemals aufhört79. So gilt über die Glaubenden: „Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti; Ignoranter Iusti et Scientes inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe“80. Eben diese Konstitution der Gerechtigkeit aus der Reputation Gottes ist es dann auch, die für den Luther der Römerbriefvorlesung den eigentlichen Unterschied zur Gerechtigkeit der Philosophen ausmacht81. Was also in Luthers spätem Rückblick als ein Gegenüber zu all dem erscheint, was er zuvor ge74

WA 56,41,21. WA 56,41,22. 76 Vgl. zusammenfassend zum „Simul“ in der Römerbriefvorlesung s. PESCH, OTTO HERMANN, Simul iustus et peccator. Sinn und Stellenwert einer Formel Martin Luthers. – Thesen und Kurzkommentare, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Freiburg / Göttingen 2001 (DiKi 11),146–167, 150–152. Der Gedanke war auch innermittelalterlich keineswegs ausgeschlossen (so PANI, GIANCARLO, L’autografo di Lutero sulla lettera ai Romani: un progetto die riforma?, in: Guiseppe Beschin / Fabrizio Cambi / Luca Cristellon [Hg.], Lutero e i linguaggi dell’Occidente. Atti del Convegno tenuto a Trento dal 29 al 31 maggio 2000, Brescia 2002, 73–97, 81, der von einer „definizione ‚inedtia’ nella storia della teologia“ spricht), wie insbesondere Gregor von Rimini zeigt, wenn er in Sent II d. 30–33 q.1 a. 4 erklärt: „Nam tollitur [peccatum originale] quoad reatum, non tollitur autem quoad essentiam, hoc est quod vitium illud sive qualitas illa, quae dicitur concupiscibilitas et est ante baptismum originale peccatum, manet quidem secundum essentiam suam etiam post baptismum, non manet autem ad reatum, id est non per eam est homo post baptismum reus damnationis aeternae, sicut erat ante baptismum“ (Gregorii Ariminensis OESA Lectura super primum et secundum Sententiarum, ed. v. Damasus Trapp / Venicio Marcolino. Bd. 6, Berlin 1980 [SuR 11], 194,9–14); vgl. hierzu LEPPIN, VOLKER, Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther, in diesem Band 303–331. Die exegetische Grundlage ist allerdings nach heutigem Stand problematisch (s. KÜMMEL, WERNER GEORG, Röm 7 und die Bekehrung des Paulus, Leipzig 1929; LOHSE, Römerbrief [wie Anm. 58], 124). 77 WA 56,269,21f – auch in Mitschrift: WA 57 (I: Röm),164,6f. 78 WA 56,269,1–2. 79 WA 56,260,25–27. 80 WA 56,269,29f; vgl. zu diesen Stellen BRAND, GABRIEL, Leben in Differenz. Luthers Verständnis der Sünde im Kontext von Moral und Kultur, Leipzig 2013, 164–179. 81 WA 56,287,16–19. 75

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lernt habe, erweist sich innerhalb des Römerbriefes als Kritik an einer bestimmten scholastischen Position, wie sie etwa Thomas von Aquin vertrat, auf Grundlage einer anderen, stärker an Duns Scotus und der Via moderna geschulten Auffassung.

2. Einbettung in mystische Spiritualität Die Betonung der Reputation durch Gott führt allerdings nicht zu einer dem Menschen ganz äußerlichen Gestalt der Rechtfertigung. Das Gegenüber von imputativer / forensischer Rechtfertigungslehre auf der einen und effektiver auf der anderen Seite lässt sich so für den Luther der Römerbriefvorlesung nicht nachzeichnen82. Gerade der Umstand, dass alles Gut des Glaubenden, nämlich Christus, dem Menschen eigentlich „extrinsecum“ ist83, führt zu Überlegungen, wie es gleichwohl dem Menschen zueigen und sogar „in nobis“ sein kann. Die erste klare Antwort hierzu ist: All dies, Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung sind „in nobis non [...] nisi per fidem et spem in ipsum“84. Diese Aussage gilt nicht allein für jeden Gläubigen, sondern auch für die Heiligen, deren Taten letztlich die Werke „Christi in eis“ sind85. Schon darin deutet sich an, dass trotz der Betonung der Externität der Gnadenzuordnung zwar keine Wesens-, aber doch eine radikale Statusänderung 82

So verengt HAMM, BERNDT, Pure Gabe ohne Gegengabe – die religionsgeschichtliche Revolution der Reformation, in: JBTh 27 (2012) 241–276, 261, das Rechtfertigungsverständnis der Römerbriefvorlesung unangemessen auf den „Freispruch Gottes“ und vereindeutigt hierdurch unangemessen die Gabevorstellung der reformatorischen Theologie; vgl. zu dem Problem allgemeiner: SAARINEN, RISTO, Justifiaction by Faith. The View of the Mannermaa School, in: Robert Kolb / Irene Dingel / Ludomir Batka (Hg.), The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford 2014, 254–263, 255; MATTES, MARK, Luther on Justifiaction as forensic and effective, ebd. 264–273. Angesichts der fortdauernden Aspekte effektiver Rechtfertigung scheint es mir auch fraglich, den imputativen Charakter der Rechtfertigung als eigentliche Entdeckung Luthers zu identifizieren (so SLENCZKA, NOTGER, „Allein durch den Glauben“: Antwort auf die Frage eines mittelalterlichen Mönchs oder Angebot zum Umgang mit einem Problem jedes Menschen?, in: Christoph Bultmann / Volker Leppin / Andreas Lindner [Hg.], Martin Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 [SMHR 39], 291–315, 309). Bemerkenswert ist die Beobachtung von BRECHT, MARTIN, Römerbriefauslegungen Martin Luthers, in: Michael Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi. FS Günter Klein, Tübingen 1998, 207–225, 208, nach der Luther bei seiner Bearbeitung der Bibelübersetzung auf der Veste Coburg 1530 „die wichtige und häufig vorkommende Wortgruppe rechtfertigen, Rechtfertigung durch gerecht machen, Gerechtigkeit ersetzte. [...] Die neue Ausdrucksweise spricht nicht gerade für eine einseitig imputative Rechtfertigungslehre.“ 83 WA 56,279,22f. 84 WA 56,279,24f; vgl. ebd. 280,3f. 85 WA 56,290,16.

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des Glaubenden geschieht: Durch den Glauben erhält er die „virtus Dei“, die ihn über alles erhebt86. Dieser paradoxale Gedanke, dass die Person des Menschen letztlich nur extern konstituiert werden kann, ist in der vorauslaufenden mystischen Frömmigkeitsliteratur durchaus geläufig87, und so überrascht es nicht, dass Luther seine Überlegungen zur Aneignung des Heils vorwiegend in mystischer Terminologie und unter expliziter Heranziehung mystischer Literatur formuliert88. In Auslegung von Röm 8,16 zieht Luther Bernhards Predigt In annunciatione Dominica heran89 und zitiert hieraus eine Stelle, die ihn nach Theo Bell „maßlos gefesselt“ hat90: 86

WA 56,10,15; vgl. ebd. 291,21. S. LEPPIN, VOLKER, Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler, in diesem Band S. 127–136. 88 Auf den mystischen Horizont vieler Aussagen in der Römerbriefvorlesung hat bereits PETERS, ALBRECHT, Luthers Turmerlebnis, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123), 243–288, 271; DERS., Glaube und Werk. Luthers Rechtfertigungslehre im Lichte der Heiligen Schrift, Berlin / Hamburg 1967 (AGTL 8), 34, hingewiesen. Verzerrend ist es allerdings, wenn BASEVI, La Justificación (wie Anm. 38), 119, Luthers Kritik am aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff mit einem „impulso antirracionalista y mistico“ erklärt: Mystische Spiritualität ist nicht ohne weiteres antirationalistisch. 89 BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke lateinisch / deutsch, ed. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 8, Innsbruck 1997, 96–129; vgl. zur „Bernard Renaissance“ des späten Mittelalters POSSET, FRANZ, The Real Luther. A friar at Erfurt & Wittenberg. Exploring Luther’s Life with Melanchthon as guide, Saint Louis 2011, 86–90. Der frühen LutherMemoria war die große Bedeutung bewusst, die diese Predigt für Luther hatte: In seiner wegen des Hinweises auf den „Thesenanschlag“ so berühmten Vorrede auf den zweiten Band der lateinischen Werke Luthers beschreibt Melanchthon eine spirituelle Beratungssituation im Kloster, die zentral auf diese Predigt verweist: „Et senis cuiusdam sermonibus in Augustiniano Collegio Erphordiae saepe se confirmatum esse narrabat,cui cum consternationes suas exponeret, audivit eum de fide multa disserentem, seque deductum aiebat ad symbolum, in quo dicitur: credo remissionem peccatorum. Hunc articulum sic ille interpretatus erat, non solum in genere credendum esse, aliquibus remitti, ut et daemones credunt.Davidi aut Petro remitti, sed mandatum Dei esse, ut singuli homines nobis remitti peccata credamus. Et hanc interpretationem confirmatam dicebat Bernardi dicto, monstratumque locum in concione de Annunciatione, ubi haec sunt verba: sed adde, ut credas et hoc, quod per ipsum peccata TIBI donantur. Hoc est testimonium, quod perhibet Spiritus sanctus in corde tuo, dicens: dimissa sunt tibi peccata tua. Sic enim arbitratur Apostolus, gratis iustificari hominem per fidem“ (CR 6,159); diese Erzählung repetierte auch Johannes Mathesius, freilich ohne ausdrückliche Erwähnung des Titels „de annuntiatione“ in seiner Lutherbiographie: „Weil er aber tag und nacht im Kloster studiret vnd betet / vnd sich darneben mit fasten vnd wachen / kasteyet vnd abmergelt / war er stetig betr(bt vnd trawrig / vnd all sein Meßhalten jm kein trost geben wolte / schickt jm Gott ein alten Bruder zu im Lloster / zum Beichtuatter‚ / der trstet jn hertzlich / vnd weiset jn auff die gnedige vergebung der s(nden im Symbolo Apostolorum, vnnd leret jn auß S. Bernhards Predigt / Er m(ste f(r sich selber auch glauben / das jhm der barmhertzig Gott vnnd Vat87

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„hoc testimonium in tribus consistere puto. Necesse est enim primo omnium credere, quod remissionem peccatorum habere non possis nisi per indulgentiam Dei. Deinde, quod nihil prorsus habere queas boni operis, nisi et hoc dederit ipse. Postremo, quod eternam vitam nullis potest operibus promereri, nisi gratis detur et illa“ 91.

Luther findet also bei dem Zisterzienserabt die Abhängigkeit der Gnade von Gott, die Grundlegung jeden guten Werkes allein durch Gott und den Ausschluss eines eigenen Verdienstes für das ewige Leben, bis hin zu der Formulierung, dass dieses dem Menschen gratis gegeben werde. Anders gesagt: Luther findet offenbar in dem zeitlichen Zusammenhang der Römerbriefvorlesung jene Aussagen zur Rechtfertigung, auf die es ihm ankam, bei Bernhard wieder – und dies im Konsens mit Paulus und Augustin: sie ergänzen sich, stehen einander nicht gegenüber. So gelingt es dem Mönch und Professor Martin Luther, seine exegetischen Einsichten mit den spirituellen Grundlagen monastischer Theologie zu verbinden92. Die Weise der Gegenwart Christi ist in diesem mystisch reflektierenden Kontext im wesentlichen eine pneumatische: „Qui sunt Christi, spiritum Christi habent et agunt recte, etiamsi non intelligunt, quod nos modo dixi-

ter / durch das einige Opffer vnnd blut seines gehorsamen Sones / vergebung aller s(nden erworben / vnd durch den heiligen Geist inn der Apostolischen Kirchen / durchs wort der Absolution verk(ndigen ließ. Diß ist vnserm D. ein lebendiger vnd krefftiger trost in seinem hertzen gewesen.“ (Historien /| Von des Ehrwirdigen | in Gott seligen theuren Manns Got-| tes Doctoris Martini Luthers / anfang /| Lere / leben / vnnd sterben /| Alles ordenlich der Jarzal nach /| wie sich alle sachen zu jeder zeit | haben zugetragen / | Durch den alten M. Johann Mathesium | gestelt / vnd f(r seinem Christlichen ende verfertiget [...], Nürnberg: Johann von Berg Erben 1570, 5r); vgl. hierzu STANGE, CARL, Die Anfänge der Theologie Luthers, Berlin 1957 (SLA.NF 5), 19; BELL, THEO, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148), 91f; GROSSE, Heilsgewissheit (wie Anm. 44), 45; Posset, Real Luther 94–96; DERS., Bernhard von Clairvauxs Meditation zu Psalm 31,2 bei Martin Luther, in: LuJ 69 (2002) 71–78, 75–77. Zur Bernhard-Kenntnis Luthers s. den Überblick von KÖPF, ULRICH, Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Kaspar Elm (Hg.), Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (WMASt 6), 5–65, 13f. 90 BELL, Divus Bernhardus (wie Anm. 89), 98. 91 WA 56,370,1–5; vgl. mit kleinen Abweichungen BERNHARD, Sämtliche Werke 8 (wie Anm. 89), 96,9–13; vgl. zum Gebrauch dieser Stelle bei Luther LOHSE, BERNHARD, Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Kaspar Elm (Hg.), Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (WMASt 6), 271–301, 276f. Einen Überblick zu Luthers Bernhardgebrauch in der Röm-Vorlesung bietet BELL, Divus Bernhardus (wie Anm. 89), 83–99, der aber zugleich mahnend darauf hinweist, „daß Bernhard von Clairvaux in Luthers Werk niemals die Position eingenommen hat, die Augustin innehatte“ (ebd. 84). 92 Diese Kombination findet sich entsprechend auch in den Mitschriften: WA 57 (I: Röm), 189, 22–190,19.

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mus“93. Wer so formuliert schließt jedenfalls eine effektive Dimension aus dem Rechtfertigungsgeschehen nicht aus, im Gegenteil: Er lässt dieses geradezu in eine Willensübereinstimmung mit Gott94 und folgend in rechtes Handeln münden, und dessen Grundlage wiederum ist ein – durch die Relation auf Christus – geändertes Sein: „Qui ergo plena fide credit et confidit se esse filium Dei, Est filius Dei“95 – in den Marginalglossen begründet Luther genau diese Deutung von Röm 8,16 mit Bernhards Predigt In annuntiatione Dominica96. Das neue Sein, das Luther hier paulinisch-bernhardinisch umschreibt, ist, ganz auf den Bahnen mittelalterlicher Mystik, ein reziprokes: Der Glaubende ist in Christus und dieser in ihm97. Die Anthropologie, in die Luther dies einzeichnet, ist nun ihrerseits in höchstem Maße von seiner mystischen Lektüre geprägt: Das Sein secundum spiritum in Röm 8,5 bezieht er auf den interior homo und damit auf eine Vorstellung, die ihn zeitgleich zur Verfertigung der Römerbriefvorlesung vor allem bei der Lektüre der Predigten Johannes Taulers beschäftigte: In dessen 42. Predigt fand er Ausführungen zu der Vorstellung „Wiltu ain inwennig mensch werdenn“98 und notierte hier an den Rand: „fieri hominem interiorem, quomodo oporteat“99. Noch bemerkenswerter ist, dass er die Frage der Innerlichkeit auch in der vorangehenden Predigt thematisiert hatte100 – und hier auch eine weitere bedeutsame Notiz gemacht hatte: In der 41. Predigt unterteilte Tauler, ausgehend von der Suche der Frau nach einem verlorenen Groschen (Lk 15,8–10), es gebe zwei Arten von Suche: „Die ain ist in dem menschen wircklich, die ander leidentlich“101. Eben dies deutete Luther mit den Begriffen Activa (für „wircklich“) und Passiva (für „leidentlich“)102: Diese Terminologie also, mit der Luther im Großen Selbstzeugnis von 1545 unter Verwendung der Begriffe iustitia activa und passiva rückblickend seine Wen93

WA 56,276,17f. WA 56,365,18–20: „Non enim timendo, Sed amando fugitur ira Dei et miseria atque horror Iudicii et per conformitatem voluntatis Die quietatur conscientia“. Auch diese Formulierung bewegt sich deutlich auf der Linie spätmittelalterlicher Frömmigkeitsliteratur: conformitas ist ein zentraler Begriff in der Theologie von Johannes Staupitz (s. WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 [VIEG 141], 146–151). 95 WA 56,79,2f – vgl. auch in den Mitschriften: WA 57 (I: Röm),73,13f. 96 WA 56,79,15–17. 97 WA 56,74,5f. 98 Sermones: des hoch| geleerten in gnaden erleüchten do|ctoris Johannis Thaulerii sannt | dominici ordens die da weißend | auff den nächesten waren weg im | gaist z) wanderen durch überswe| bendenn syn. Von latein in teütsch | gewendt manchem menschenn z( | s liger fruchtbarkaitt, Augsburg: Hans Otmar 1508, f. 102va. 99 WA 9,101,12f. 100 WA 9,101,8f. 101 TAULER, Sermones (wie Anm. 98), 99vb. 102 WA 9,101,6f. 94

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de deutet, sind mystisch eingefärbt103, auch dort, wo sie in der Römerbriefvorlesung selbst erscheinen. Hier nämlich erklärt Luther, dass der Mensch „non ex Viribus suis, Sed per Deum active et in se passiue Liberatur.”104 Bei Tauler steht das „leidentlich“ im Zusammenhang eines Eingehens des Menschen „in seinen aygen grundt“105. Diese ausgeprägt mystische Formulierung findet sich so bei Luther nicht, aber die einzelnen Verweise machen deutlich, dass zu den verschiedenen theologischen Amalgamierungsvorgängen, die sich in der Römerbriefvorlesung finden, auch ein Ineinanderlesen und –denken von Paulus und Tauler gehört, gipfelnd in der Bemerkung zu Tauler: „Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum“106 – wenn man denn von einem „Sola fide“ im zeitlichen Zusammenhang der Römerbriefvorlesung sprechen kann, so ist es ein mystisch eingefärbtes. Hierzu gehört auch der Gedanke, dass das Leben im Geiste die mortificatio des alten Menschen bedeute107 – eben diesen Gedanken setzte Luther auf das Titelblatt der mystischen Theologia deutsch, als er diese – in seiner ersten Publikation – 1516 herausgab108. Die augustinisch-paulinische Theologie der Römerbriefvorlesung ist also zugleich eine zutiefst mystische, die gleichermaßen an Bernhard von Clairvaux wie an Johannes Tauler anknüpft109.

103 Daher können die damit verbundenen Vorstellungen auch nicht als eindeutiges Indiz für eine reformatorische Position genommen werden, wie es HÜBNER, HANS, Rechtfertigung und Heiligung in Luthers Römerbriefvorlesung, Witten 1965 (GlLeh 7), 50f, in Auseinandersetzung mit Bizer tut. 104 WA 56,277,26f. HAACKER, KLAUS, Reformation aus dem Römerbrief – bei Martin Luther und heute, in: ThBeitr 21 (1990) 264–270, 267, weist darauf hin, dass diese Unterscheidung „philologisch [...] nicht das letzte Wort zu dieser Bibelstelle Röm 1,17“ sein könne. 105 TAULER, Sermones (wie Anm. 98), 99vb. 106 WA 9,102,34–36. 107 WA 56,306,14–16; 416,8f; B IZER, Fides ex auditu (3. Aufl., wie Anm. 36) 36. 108 S. WA 1, 153: „Ein geistlich, edles Buchlein von rechter underscheid und vorstand, was der alt und neu mensche sei. Was Adams und was Gottes kind sei. Und wie Adam inn uns sterben unnd Christus ersteen soll“. 109 Ohne diesen sehr konkreten Bezug verliert sich die Deutung der mortificatio in anthropologischen Abstraktionen (so etwa MAURER, ERNSTPETER, Der Mensch im Geist. Untersuchungen zur Anthropologie bei Hefel und Luther, Gütersloh 1996 [BEvTh 116], 114–127).

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3. Die Kontextualisierung in Luthers monastischer Lebenswelt Dieser Kontext macht auch den Sitz im Leben dessen deutlich, was Ernst Bizer als „Demutstheologie“ in den frühen Schriften Luthers identifiziert hat110. Bei ihm hatte die Beschreibung dieses Theologiekonzeptes die Funktion, eine Folie zu schaffen, von der sich leicht die reformatorische Theologie abheben ließ. Ihre Charakterisierung folgte dogmatischen Kategorien: In der humilitas sollte nach ein Stück Eigentätigkeit des Menschen vorausgesetzt sein. Eine genauere Prüfung dieser These selbst hätte sicher das Vorkommen der Begriffe „Demut“, „humilitas“, „humilis“ etc. in den Schriften nach der von Bizer vorausgesetzten reformatorischen Wende mit einzubeziehen. Für den vorliegenden Zusammenhang reicht es, darauf zu verweisen, dass die Rede von humilitas in der Römerbriefvorlesung111 letztlich dazu dient, den paulinischen Text nicht nur konzeptionell, sondern auch existentiell auf eben jene monastische Existenz zu beziehen, die zu diesem Zeitpunkt Martin Luther noch voller Selbstverständlichkeit prägte112. Dass der Glaubende „humilis et vilis sibiipsi“113 ist, erfüllt sich vor allem im Mönchsstand, hier findet Gott in besonderer Weise jene humiliati, denen die Rechtfertigung gilt114. Eine solche Besonderheit des Mönchsstandes im Sinne der via securior115 drückt Luther zwar in der Römerbriefvorlesung nicht programmatisch aus, aber diejenigen Gedankengänge, in denen er von so etwas wie einer Vorbereitung auf die Rechtfertigung spricht, entfalten ein klares monastisches Ethos. Das legt allein schon die Betonung der humilitas nahe. Ihr widmet Jordan von Sachsen in seinen vitasfratrum, einer spirituellen Handreichung für den Orden Lu110

BIZER, Fides ex auditu (wie Anm. 36); vgl. hierzu Volker Leppin, Art. Demutstheologie, in: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 157f; zum theologiegeschichtlichen Kontext der Lutherdeutung Bizers s. KAUFMANN, Durchbruch (wie Anm. 36). 111 ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (BHTh 46), 44f, hat deutlich herausgearbeitet, dass auch die von Bizer vorausgesetzte Entgegensetzung der humilitas zum Glaubensverständnis so die Intention Luthers nicht trifft, da der Mensch in der humilitas „nicht mehr unter dem Vorzeichen eines Aufstiegs, sondern unter dem des Seins unter dem iudicium Dei“ steht (44). 112 Vgl. grundlegend LOHSE, BERNHARD, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963 (FKDG 12) sowie die Darstellungen der Spiritualität dieser Lebenswelt von KÖPF, ULRICH, Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984) 66–84; DERS., Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies / Michael Trowitzsch (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, 17–35, und BURGER, CHRISTOPH, Tradition und Neubeginn. Martin Luther in seinen frühen Jahren, Tübingen 2014 (SMHR 79),45–54. 113 WA 56,264,11. 114 WA 56,36,23 115 S. HAMM, BERNDT, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (BHTh 65), 284–299..

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thers, die Augustinereremiten, ein eigenes Kapitel (II,7)116. In dieselbe Richtung weisen auch andere Bemerkungen Luthers. Wenn er libido, avaritia und gula ablehnt, befindet er sich ebenso in einer guten monastischen Tradition wie mit seiner Kritik an der superbia117, die Jordan wiederum ausführlich behandelt (II,9)118. Natürlich ist auch die von ihm empfohlene castitas119 Gegenstand der Abhandlung des Ordensbruders, der sie so als Mittel sich „a carne“ abzuziehen empfiehlt120, wie Luther seine Reihe von Tugenden zur Entfernung von der Liebe zu den corporalia empfiehlt121. Der Weg, den Luther hier vor Augen hat, ist der einer agricultura suiipsius122, die, wiederum ganz entsprechend dem monastischen Lebensweg, darin besteht „instanter orandum, instanter discendum, instanter operandum, castigandum, donec ista vetustas eradicetur et fiat nouitas in voluntate.“ 123

Doch ist nicht allein die auf asketische Lebensform ausgerichtete Perspektive bemerkenswert, sondern mehr noch der gnadentheologische Kontext: Jene agricultura nämlich hat bei Luther in der Römerbriefvorlesung eine klare dispositionelle Funktion: „Non enim dabitur gratia sine ista agricultura suiipsius.“ 124

Wenn denn ein Sola fide in dem Sinne zu verstehen ist, dass sich der Mensch durch Werke nicht nur das Heil nicht verdient, sondern sich auch in keiner Weise darauf vorbereiten kann, so macht diese Einordnung deutlich, dass der Luther der Römerbriefvorlesung anders verstanden sein will. Weitere Stellen weisen darauf hin, dass er mit einer Vorbereitung auf den Gnadenempfang rechnet, gerade auch dort, wo er ein hochfahrendes Verständnis der guten Werke ablehnt „Immo omnia opera Iusta et in gratia facta sunt praeparatoria ad sequentem profectum Iustificationis“125. Zu diesem ‚Zweck wird sogar Paulus ausdrücklich im Sinne dispositionellen Werkverständnisses interpretiert: „Vnde Quando Apostolus dicit, Quod sine operibus legis iustificamur, Non loquitur de operibus, que pro Iustificatione querenda fiant. Quia hec iam non legis opera sunt, Sed gra-

116

Jordani de Saxonia Liber Vitasfratrum, ed. v. Rudolph Arbesmann / Winfried Hümpfener, New York 1942 (Cass 1), 111–118. 117 WA 56,258,23–25. 118 JORDAN VON SACHSEN, Vitasfratrum (wie Anm. 116), 125–129. 119 WA 56,258,25. 120 JORDAN VON SACHSEN, Vitasfratrum (wie Anm. 116), 266. 121 WA 56,258,24. 122 WA 56,257,31. 123 WA 56,257,29f. 124 WA 56,257,28–31. 125 WA 56,259,14f.

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Sola fide und monastische Existenz

tie et fidei, cum qui hec operatur, non per hec sese Iustificatum confidant, Sed Iustificari cupiat”126.

Eben dieses Begehren der Rechtfertigung aber prägt das ganze Leben der Christen127 „vsque ad mortem“128. Dieser Zusammenhang ist allein schon deswegen konsequent, weil die volle Gerechtigkeit erst mit dem Eintritt des Todes erlangt werden kann129. So gesehen ist dann nicht nichts auf Seiten des Menschen Voraussetzung der Rechtfertigung, sondern die monastische Tugend der humilitas: Gott schaut diejenigen an, die demütig sind, und dies ist identisch damit, dass er ihnen ihr Verlangen nach Rechtfertigung als Gerechtigkeit anrechnet130. Erst diese Aussagen kontextualisieren das oben angeführte Sola fide angemessen: Nur aus der reformatorischen Rückschau, die das sola fide gegen alles, was als Tätigkeit auf Seiten des Menschen angesehen werden könnte, abgrenzt, kann hier ein scheinbarer Widerspruch entstehen. Für Luther ist mit der spätmittelalterlichen Frömmigkeit die Alleinigkeit des Glaubens gerade deswegen entscheidend, weil sie die demütige Annahme des Gerichtes Gottes unter dem Kreuz bedeutet131. In einer paradoxalen Wendung erkennt Gott diejenigen als gerecht an, die sich als Sünder erkennen und verurteilt die, die sich kontrafaktisch und aus eigenem Vermögen für gerecht halten132. Vor diesem Hintergrund verliert dann auch die Zuordnung von Werken und Glauben an Radikalität: Luther bestreitet vor allem, dass Werke ohne den Glauben ausreichend sein könnten133, betont aber zugleich, dass der Glaube das Gesetz erfülle134. So verstanden kann dann das asketische Leben geradezu zum Ausdruck der Rechtfertigung werden, indem es die Folgen des Glaubens demonstriert: „Quia Circumsisio non in Iustificationem, Sed in figuram Iustificationis iam facta data, Sicut et modo per fidem Iustificatis precipitur, Vt operentur bonum et iugiter se circumcidant a prauis concupiscentiis et carnem mortificant cum operibus et concupiscentiiis suis. Quibus Velut signis probant sese habere fidem et Iustificatos esse.“ 135

Die Abtötung des Fleisches also beweist zeichenhaft den Glauben und den Stand des Gerechtfertigten – dies ist vor allem eine Theologie zur Bestäti126

WA 56,264,21–25. WA 56,264,35. 128 WA 56,264, 18. 129 WA 56,258,13f. 130 WA 56,259,19f : „Ideo Nullus sanctorum se Iustum putat aut confitetur, Sed Iustificari semper se petit et expectat, propter quod a Deo Iustus reputatur, quia respicit humiles.“ 131 WA 56,266,11f. 132 WA 56,259,23f; vgl. ebd. 41,11f. 133 WA 56,263,19. 134 WA 56,263,17. 135 WA 56,43,17–21. 127

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gung der monastischen Existenz. Die Verwirklichung des Glaubens und der Rechtfertigung im Handeln ist keine Nebensächlichkeit: Wer es nicht durch die Tat selbst zeigt, glaubt auch nicht an Christus136 – das Tun also ist jedenfalls ein sicheres Indiz für den Glauben und damit auch für die Rechtfertigung. Ein sine operibus kann schlechterdings nicht in dem Sinne gedacht werden, dass dem Glauben tatsächlich keine Werke folgten. Sola fide bezeichnet mithin ein Rechtfertigungsgeschehen, dem eine asketische Disposition des Menschen vorausgeht, ja, das eigentlich die ständige Suche nach der Rechtfertigung voraussetzt – und das sich umgekehrt, sofern diese doch erfolgt ist, in Werken niederschlägt. Vor allem aber ist es ein solches Sola fide, das in den monastischen Lebenskontext Luthers eingezeichnet wird.

4. Ausblick Die Darlegungen zeigen in gewisser Weise, wie fehlgeleitet die Debatten waren, die nach einer klaren Datierung von Luthers reformatorischer Erkenntnis suchten. Macht man diese an einem Sola fide fest, so kann man durchaus sagen, dass sich ein solches in der Römerbriefvorlesung findet. Und doch wird zugleich deutlich, dass es sich ganz im Rahmen einer Frömmigkeit bewegt, die die Notwendigkeit der Satisfaktion zugrunde legt und für den einzelnen Glaubenden eine Disposition auf den Gnadenempfang voraussetzt. Dem steht nicht entgegen, dass die Betonung des Bezugs des Glaubens auf die promissio schon voll ausgebildet ist: „fides et promissio sunt relativa“137. Denn dies erweist sich wiederum als Erbe des Römerbriefkommentars von Petrus Lombardus und nicht als sicheres Kennzeichen des Vollzugs einer reformatorischen Wende. So ist der Römerbrief eine Amalgamierung unterschiedlicher Quellen: Paulus wird selbstverständlich mit Augustin verbunden, aber auch mit dem Lombarden, mit Bernhard von Clairvaux und mit den selbstverständlichen Grundlagen monastischer Existenz. Traditionsgeschichtlich erweist sich dies weitgehend als Rückgriff auf die Quellen christlicher Tradition aus der Zeit vor der großen Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts, die – in Gestalt Taulers – mit denjenigen spirituellen Äußerungen verbunden werden, die ichnen konform gehen. Die Römerbriefvorlesung ist so Konsequenz und in gewisser Weise Summe einer bestimmten Ausrichtung mittelalterlicher Theologie – und gerade darin Wurzel für die sich eigenständig weiterentwickelnde reformatorische Theologie. Insofern findet sich in Luthers Römerbriefvorle-

136 137

WA 56,103,13–15. WA 56,45,15; 46,15f.

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sung schon ein Sola fide – aber ein solches, das sich selbst in Entwicklung befindet138.

138

Insofern erweist sich meine eigene Einteilung der Abfolge der Exklusivpartikel als verkürzend: in LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt ²2010, 116f, habe ich folgende Abfolge vorgeschlagen: „Auf das Solus Christus wurde Luder schon etwa 1513 von Staupitz ausgerichtet, seine zunehmende Augustin-Lektüre lässt in der Zeit um 1516/7 eine klare Betonung des Sola Gratia erkennen. Als wichtige Station zur Entwicklung des SolaFide-Prinzip wird man – auch wenn das Konzept hier noch nicht in ausgereifter Form dasteht – die Heidelberger Disputation 1518 sehen können, während das Sola-scriptura-Prinzip klare Ausformung – und dies zunächst durch Melanchthon – erst 1519 erfährt“, und dies der Sache nach auch in meinem Artikel LEPPIN, VOLKER, Ausschließlichkeitsformeln, in: Volker Leppin / Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 9094, wiederholt. Präziser wäre es, auch den einzelnen Solus-Formeln in sich eine gewisse Entwicklung zuzumessen, mit welcher sich ein immer größerer Grad an Ausschließungspotential verbindet. In diesem Sinne wird man wohl als (vorläufigen Endpunkt der Entwicklung Luthers) jenes Stadium im Herbst 1519 annehmen müssen, in dem er sich aufgrund seiner theologischen Erkenntnisse soweit von der Kirche unter dem Papst löste, dass er diesen als den Antichrist sah (s. hierzu LEPPIN, VOLKER. Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in diesem Band S. 471– 487). In diesem Kontext gewannen die verschiedenen, bis dahin hochgradig fluiden Exklusivpartikel eine neue Stoßkraft und erst hierdurch die im eigentlichen Sinne ausschließende Qualität. Die Folgerungen für eine Neubeschreibung von Luthers reformatorischer Entwicklungen, die sich hieraus gegenüber meinen bisherigen Überlegungen ergeben, können hier nur angedeutet werden und müssen weiteren Studien vorbehalten bleiben.

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Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation Die Leipziger Disputation interessiert zunächst und vor allem wegen der Frage nach der Irrtumsfähigkeit des Konzils. Die kirchenrechtlich hochrelevante Auseinandersetzung hierüber ist freilich nur der extremste Ausdruck eines Gegenübers hermeneutischer Positionen1, die man als ein an den mittelalterlichen Hauptstrom2 anknüpfendes Harmoniemodell3 bei Eck einerseits und ein Differenzmodell bei Luther andererseits beschreiben kann4, welches stärker humanistische Unterscheidungen zwischen originaler Quelle und ihrer Wir-

1 Hierauf hat zu Recht FUCHS, THOMAS, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit, Weimar u.a. (NuS 4), 162, hingewiesen. 2 Sich die mittelalterliche Hermeneutik als ausschließlich von einem Harmoniemodell bestimmt vorzustellen, griffe zu kurz. So weist FELD, HELMUT, Die Anfänge der modernen biblischen Hermeneutik in der spätmittelalterlichen Theologie, Wiesbaden 1977, 28f auf die Abwägung in D. 20, p. 2 (Vorbemerkung) hin, wo Gratian den möglichen Fall einer Differenz zwischen den Ergebnissen der Schriftausleger und den Entscheidungen des Papstes erwägt und hierzu erklärt: „aparet, quod divinarum scripturarum tractatores, etsi scientia Pontificibus premineant, tamen, quia dignitatis eorum apicem non sunt adepti, in sacrarum scripturarum expositinibus éis preponuntur, in causis uero diffiniendis secundum post eos locum merentur.“ (Corpus Iuris Canonici. Bd. 1, ed. v. Emil Friedberg, Leipzig 1879, 65). 3 Man kann dies auch, wie es SELGE, KURT-VICTOR, Normen der Christenheit im Streit um Ablaß und Kirchenautorität 1518 bis 1521. Erster Teil: Das Jahr 1518, Habil.schrift masch. Heidelberg 1968, 91, im Blick auf Cajetan tut, „ein ausbalanciertes System der Autoritäten“ nennen. KLAIBER, WILBIRGIS, Ecclesia militans. Studien zu den Festtagspredigten des Johannes Eck, Münster 1979 (RGST), 25f, weist darauf hin, dass Ecks Zuordnung von Schrift und Tradition ab etwa 1525 noch einmal eine Wandlung erfuhr: Hatte Eck zunächst im hier zu verhandelnden Kontext die Schrift der Tradition vorgeordnet, so kehrte sich das Verhältnis später um. 4 S. LEPPIN, VOLKER, Papst, Konzil und Kirchenväter. Die Autoritätenfrage in der Leipziger Disputation, in: Markus Hein / Armin Kohnle (Hg.), Die Leipziger Disputation 1519. 1. Leipziger Arbeitsgespräch zur Reformation, Leipzig 2011 (HerChr. Sonderbd. 18), 117– 124, 120.

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kung weiterführte5. Wo Eck die Tradition und die Schrift als einander sich gegenseitig bestärkende und erläuternde Autoritäten wahrnahm, trat bei Luther beides auseinander, und es formte sich damit das Gegenüber von Schrift und Tradition, wie es für die reformatorische Theologie grundlegend werden sollte6. Die akademische Debatte zwischen den beiden Kontrahenten setzte damit den vorläufigen Schlusspunkt einer langanhaltenden Entwicklung, an deren Beginn Eck im Frühjahr 1517 noch um die Freundschaft der Wittenberger geworben hatte7. Von nun an standen sie sich unversöhnlich als Feinde gegenüber, jeder davon überzeugt, dass er selbst im Recht, der andere aber auf dem Abweg zum Irrglauben war. Die Auseinandersetzung, die sie seit den Ablassthesen und von diesen ausgehend, miteinander führten, stellte sich nicht nur als das Aufeinanderprallen unterschiedlicher fester Ansichten dar, sondern brachte, vor allem bei Martin Luther denkerische Entwicklungen voran8.

1. Asterisci und Obelisci: Harmonie von Schrift und Tradition Wenn man Ecks eigener Darstellung Glauben schenken kann, so hat er nicht von sich aus aktiv in den Streit eingreifen wollen9. Vielmehr sei er in Angele5 Vgl. zum humanistischen Einfluss auf Luther grundlegend JUNGHANS, HELMAR, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985. 6 Diese Bedeutung des Streits zwischen Luther und Eck hat bereits SELGE, KURT-VICTOR, Das Autoritätengefüge der westlichen Christenheit im Lutherkonflikt 1517 bis 1521, in: HZ 223 (1976) 591–617, 607, erkannt und markiert. 7 WIEDEMANN, THEODOR, Dr. Johann Eck, Professor der Theologie an der Universität Ingolstadt. Eine Monographie, Regensburg 1865, 83 Anm. 23, nimmt aufgrund einer Notiz von Seckendorfs „Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo“ an, dass Eck schon von der Vermittlung durch Scheurl mit Luther korrespondiert habe. Die Bemerkung lautet: „se theses suas anno 1518 edidisset, antequam Lutheri litera d.7. Jan. 1519 accepisset, et quandam cum hoc amicitiam per literas congtraxisse prius, quam eum vidisset ex commendatione Christophori Scheurlii“ (VITI LUDOVICI a SECKENDORF | [...] | COMMENTARIU | HISTORICUS ET APOLOGETICUS | De | LUTHERANISMO,| Sive| DE REFORMATIONE | RELIGIONIS| ductu| D. MARTINI LUTHERI| [...], Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1694, l. 1 S. 31). Bezieht man die Wendung „ex commendatione Christophori Scheurlii“ nicht auf das Sehen, sondern auf den Briefverkehr (so wie ja Scheurl nachweislich brieflichen Kontakt hergestellt hat), bleibt es also beim Beginn der Vermittlung durch Scheurl. 8 Dabei ist an die methodische Mahnung von SELGE, Normen (wie Anm. 3), 33, zu erinnern, den Luther des Jahres 1518 nicht vorschnell von späteren Positionen her zu deuten, sondern ihn „historisch [zu] verstehen“. 9 Zum anfänglichen Freundschaftswerben zwischen Eck und Luther s. WURM, JOHANN PETER, Johannes Eck und die Disputation von Leipzig 1519. Vorgeschichte und unmittelbare Folgen, in: Hein / Kohnle, Leipziger Disputation (wie Anm. 4), 95–106, 96f. Als Grundlage zur Rekonstruktion der Ereignisse in Leipzig und ihrer Vorgeschichte immer

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genheiten der Ingolstädter Universität beim Eichstätter Bischof Gabriel von Eyb 10 gewesen und habe ihm aus diesem Anlass ausführlich über Luthers Ablassthesen vorgetragen. Daraufhin habe der Bischof ihn gebeten, aufzuschreiben, worin er von Luthers Ansichten abweiche11. Hieraus entstanden nach Ecks Angaben 18 Sätze12; Luther, dem sie auf Umwegen zugekommen waren13, zählte allerdings insgesamt 3114. Es war auch Luther, der ihnen, anknüpfend an eine Bemerkung von Eck selbst15, den Namen Obelisci, Spießchen, gab16, auf die er seinerseits mit Asterisci, Sternchen, antwortete17. Ecks noch lesenswert: SEIDEMANN, JOHANN KARL, Die Leipziger Disputation im Jahre 1519. Aus bisher unbenutzten Quellen historisch dargestellt und durch Urkunden erläutert, Dresden und Leipzig 1843. 10 Zu diesem s. NEUHOFER, THEODOR, Art. Gabriel von Eichstätt, in: NDB 6, Berlin 1964, 9f. 11 JOHANNES ECK, Defensio contra amarulentes D. Andreae Bodenstein Carolstatini invectiones (1518), ed. v. Joseph Greving, Münster 1919 (CCath 1), 36,26–37,1. Wann Eck die Ablassthesen erhalten hat, last sich schwer sagen: Die von Christoph Scheurl im Schreiben vom 5. November 1517 erwähnten „Conclusiones“ (Christoph Scheurl’s Briefbuch, ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit, ed. v. Franz von Soden / Joachim Karl Friedrich Knaake. Bd. 2, Potsdam 1872 (= Aalen 1962), 40 [Nr. 155]) dürften kaum die Ablassthesen gewesen sein, da Scheurl selbst sich bei Luther beschwert hatte, dass er diese nicht sofort erhalten hatte (WA.B 1,152,7 [Nr. 62]) und er selbst sich erst am 5. Januar 1518 bei Ulrich von Dinstedt für deren Erhalt bedankte (Scheurl’s Briefbuch. 2. Bd., 42 [Nr. 158]). Eher dürfte der Adressat in Ingolstadt, an den Scheurl die Thesen am 8. Januar weitersandte (ebd. 43 [Nr. 160]) Eck gewesen sein (vgl. HONSELMANN, KLEMENS, Urfassung und Drucke der Ablaßthesen Martin Luthers und ihre Veröffentlichung, Paderborn 1966, 90). 12 ECK, Defensio (wie Anm. 11), 37,2–4. 13 Die Vermittlung lief über Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, einen zeitweilig der Reformation zuneigenden Vetter des Bischofs (zu ihm GEIGER, LUDWIG, Art. Adelmann von Adelmannsfelden, Bernhard, in: ADB Bd. 1, Leipzig 1875, 79), und den Nürnberger Humanistenkreis (WURM, Johannes Eck [wie Anm. 9], 97f; Scheurl’s Briefbuch [wie Anm. 11], 2,47f [Nr. 165]). Die direkte Weiterleitung an Luther erfolgte durch Wenzeslaus Linck (WA.B 1,177,3 [Nr. 76]). 14 WA 1,281–314. 15 WA 1,282,24. 16 WA 1,281,2. 17 WA 1,281,1. Die Bezeichnungen gehen auf das textkritische Vermerksystem des Origenes zurück (s. hierzu WÜRTHWEIN, ERNST, Der Text des Alten Testaments. Eine Einführung in die Biblia Hebraica, Stuttgart 41973, 58f), das zeitgenössisch etwa Petrus Mosellanus erwähnt hat: „Origenes Hebræis literis instructus, siquid in interpretibus ab ipsis scripturæ fontibus uariaret, uel ੑȕİȜȓıțȠȚȢ iugulauit, uel ਕıİȡȓıțȠȚȢ (sic) insignivit.“ (ORATIO | DE VARIARVM LINGVA| RVM COGNITIONE PA| randa. Petro Mosella-|no Protogenese au/| tore. Lipsiæ in ma|gna eruditorum| corona pro/|nunciata., Basel: Johann Froben 1519, 35); vgl. den Hinweis hierauf in WA 1,278 Anm. 1. Auch bei Eramus finden sich in den Adagia I.V.57 Hinweise hierauf (Opera Omnia Deisiderii Erasmi Rotterodami. II,1, Amsterdam u.a. 1993, 532,344–533,354; vgl. Dokumente zur Causa Lutheri 1 [wie Anm. 22],401 Anm. 3).

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Kritik an den Ablassthesen war nicht dazu gedacht, einen öffentlichen Streit zu inszenieren: ausdrücklich hat er sie nur privatim nach Wittenberg gesandt18. Tatsächlich hat auch Luther seine Antwort darauf, eben die Asterisci, nicht in den Druck gegeben19. So war es in Ecks Augen auch nicht Luther, sondern Andreas Karlstadt, der Anlass für den öffentlichen Streit gab, indem er sich in seinen Apologeticae Conclusiones20 gegen die Obelisci wandte21. Zu den Schwierigkeiten der Rekonstruktion der Anfänge des Streites gehört, dass die Obelisci ihrer Machart nach so beschaffen sind, dass sie sich auf einzelne Thesen beziehen, dieser Zusammenhang aber nur indirekt erschlossen werden kann22. Hingegen sind Luthers Asterisci klar auf die einzelnen Obelisci bezogen, so dass sich seine Auffassung leicht nachzeichnen lässt. Dabei geht es im Folgenden nicht um sämtliche Themen der Debatte: Johannes Eck hatte insbesondere den Bußbegriff23, kanonische Strafen24, Purgatorium25, den thesaurus ecclesiae26, päpstliche Vergebungsvollmacht27, ja Gehorsam gegenüber der päpstlichen Obergewalt insgesamt28 und die Erlösungstat Christi29 thematisiert. 18

ECK, Defensio (wie Anm. 11), 37,4: Eck verwendet damit zur ausdrücklichen Betonung, dass er keinen Druck vornahm, denselben Begriff, den auch Luther für die Versendung der Ablassthesen gebraucht (s. WA 1,528,18–26). 19 WA 1,279 verweist zur Betonung, dass ein solcher Druck nicht vorlag, auf WA.B 1,466,39–41: „Und so Doctor Ecken der Kützel so fast rühret, so sein dieselben obelisci noch vorhanden, wollen sie wohl an Tag bringen, die wir bisher, seiner Ehr verschonet, verhalten haben“. Da Luthers Asterisci einen Kommentar zu den Obelisci darstellten und mit diesen verschränkt waren, ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt dieses Briefes – 18. August 1519 – noch kein Druck vorlag. Der erste Druck von Asterisci und Obelisci erfolgte dann, gründlich bearbeitet, in Luthers lateinischen Werken (WA 1,280; zur Bearbeitung s. WA 9,770–780). 20 D. Andree Carolstatini docto-| RIS ET ARCHIDIACONI VVITTEN-| BVRGENSIS: CCCLXX:ET APOLOGE-| ticĊ Conclusiones pro sacris literis & Vuitten-| burgen[sibus] ita editĊ vt & lectoribus | profuturĊ sint., Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1518. 21 ECK, Defensio (wie Anm. 11), 37,4–7; WA.B 1,460,13–15; vgl. OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Wittenbergs Zweifrontenkrieg gegen Prierias und Eck. Hintergrund und Entscheidungen des Jahres 1518, in: DERS., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, 113–143, 125f; SELGE, KURT-VICTOR, Der Weg zur Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck im Jahr 1519, in: Bernd Moeller / Gerd Ruhbach (Hg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, Tübingen 1973, 169–210, 175. 22 Wesentlich hierfür die Neuedition in: Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521). 1. Teil, ed. v. Peter Fabisch / Erwin Iserloh, Münster 1988 (CCath 41), 401–447. 23 WA 1,282,8–10; 283,2–5 o.ö. 24 WA 1, 283,25f; 287,20–25 u.ö. 25 WA 1,293,33–36. 26 WA 1,307,35f; 308,30–34; 309,28–33; 310,18–23 u.ö. 27 WA 1,296,17–20; 312,6–8 u.ö. 28 WA 1,305,18. 29 WA 1,307,7–9 u.ö.

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Der Breite dieser Argumentationen kann hier nicht nachgegangen werden, obwohl sie, auch im Zusammenhang mit der Stellungnahme Karlstadts, einen interessanten Aspekt in der Exposition des Ablassstreits darstellt30. Für den vorliegenden Zusammenhang aber sind die Äußerungen zur Autoritätenfrage entscheidend. Dies betrifft zum einen, naheliegenderweise, den wohl auf die Thesen 48 und 57 bezogenen31 Vorwurf Ecks, Luther lasse es dem Papst gegenüber an schuldiger Ehrerbietung mangeln: „At irreverentia in eis ponderenda est summi Pontificis sanctitati.“32. Luther antwortete hierauf mit dem Hinweis, dass er dem Papst reichlich Ehrerbietung entgegengebracht habe, indem er darauf verwiesen habe, dass ihm das Gebet der Menge nötiger sei als Geldmittel33. Dann aber leitete er zu grundsätzlicheren Überlegungen über und betonte: „Homo est summus Pontifex, falli34 potest, praesertim a tam astutis et speciosis Gnatonibus. Sed veritas est Deus, qui falli non potest“35. Die damit von Luther klar ausgesprochene Irrtumsfähigkeit des Papstes war vor dem spätmittelalterlichen Hintergrund der Frage keineswegs anstößig. Zwar gab es seit Längerem Debatten um die Unfehlbarkeit36, diese war aber nicht nur nicht dogmatisiert37, sondern stand auch keineswegs als Mehrheitsmeinung fest. Insofern war die von Luther eingenommene Haltung des Gehorsams gegenüber dem Papst bei gleichzeitiger Betonung seiner Fehlbarkeit im Rahmen der spätmittelalterlichen Optionen denk- und aussprechbar. Kühn wird die Betonung der Menschlichkeit des Papstes allerdings im Gesamtzusammenhang der Asterisci, da Luther in deren Proömium prononciert Röm 3,4 zitiert: „Omnis (autem) homo mendax.“38 Dies greift er zwar im unmittel30

Eine ausführlichere Würdigung unter diesem Gesichtspunkt, auch im Zusammenhang mit anderen Äußerungen altgläubiger Gegner Luthers wird in dem unter Leitung von Theo Dieter und Wolfgang Thönissen entstehenden ökumenischen Kommentaren zu den Ablassthesen zu finden sein. 31 S. Dokumente zur Causa Lutheri 1 (wie Anm. 22), 202. These 48 lautet: „Docendi sunt christiani, quod Papa sicut magis eget ita magis optat in veniis dandis pro se devotam orationem quam promptam pecuniam.“ (WA 1,235,32f), These 57: „Temporales certe non esse patet, quod non tam facile eos profundunt, sed tantummodo colligunt multi concionatorum.“ (ebd. 236,12f). 32 WA 1,305,18; zu der Papstkritik in den Ablassthesen s. HAMM, BERNDT, Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 91f. 33 WA 1,305,27f; Luther spielt damit auf These 48 an: „Docendi sunt christiani, quod Papa sicut magis eget ita magis optat in veniis dandis pro se devotam orationem quam promptam pecuniam.“ (WA 1,32f). 34 Die erste Hand der Abschrift hat hier: fallere (WA 9,777). 35 WA 1,306,13–15. 36 S. TIERNEY, BRIAN, Origins of Papal Infallibility 1150–1350. A Study on the Concepts of Infallibility, Sovereignity and Tradition on the Middle Ages, Leiden 1972 (SHCT 6). 37 Zur Dogmatisierung in der modernen römisch-katholischen Kirche s. DH 3074. 38 WA 1,281,15f.

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baren Kontext in der demütig verallgemeinernden Ersten Person Plural auf, aber der spätere Bezug auf den Papst als bloßen Menschen gibt der Aussage Tiefe und Schärfe zugleich. Gleichwohl blieb sie in einen kirchenkonformen Duktus eingebettet: Luther betonte zugleich: „Aliud est, Papam narrare, aliud statuere, Imo longe aliud Papam statuere, et Concilium approbare.“39. Gegenüber der deutlich in Zweifel gezogenen päpstlichen Entscheidungsautorität wurde also ebenso deutlich die Approbationsinstanz des Konzils ins Spiel gebracht40, diesem allerdings keine Unfehlbarkeit zugemessen. Für die Entwicklung von Luthers Denken von noch größerem Interesse ist jedoch, welche Autoritäten dieser in Abhebung von der bloßen Menschlichkeit des Papstes als verbindlich anführte, nämlich Bibel und Kirchenlehrer (ecclesiastici Doctores) beziehungsweise Erlasse der Väter (Patrum decreta)41. Die Ablehnung richtet sich dabei nicht ausschließlich und auch nicht primär auf die päpstlichen Bestimmungen, sondern auf die scholastischen Lehrmeinungen, die Luther im Unterschied zu den genannten Grundlagen als bloße opiniones charakterisierte42. Tatsächlich war es exakt diese Frontstellung, die Luthers Wahrnehmung Johannes Ecks bestimmte. Einleitend, bereits in der Stellungnahme zum ersten Obeliscus Ecks, nämlich erklärte er „Nam per totum illud obeliscorum cahos nihil sacrarum literarum, nihil ecclesiasticorum Patrum, nihil Canonum, sed omnia scholasticissima, opinionissima meraque somnia commiscitur“43

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WA 1,308,25f. Dabei hat Luther 1518 offenkundig selbstverständlich an ein Konzil mit dem Papst gedacht (s. SELGE, Normen [wie Anm. 3], 32, unter Verweis auf WA 1,582,21–23). 41 WA 1,306,7. 17. 42 WA 1,306,7. Vor diesem Hintergrund wäre die Deutung der Resolutiones bei SELGE, Normen (wie Anm. 3), 31, wonach hier „kein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Vätern und den Scholastikern“ bestanden habe, noch einmal kritisch zu prüfen. Eher trifft die Einschätzung von KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187), 165, zu, dass die Scholastik „den direkten Gegensatz zum theologischen Ansatz der Wittenberger“ bildete. 43 WA 1,281,28–31. Diese Reihung entspricht der protestatio zu den Resolutiones der Ablassthesen: „Primum protestor, me prorsus nihil dicere aut tenere velle, nisi quod in et ex Sacris literis primo, deinde Ecclesiasticis patribus ab Ecclesia Romana receptis, hucusque servatis et ex Canonibus ac decretalibus Pontificiis habetur et haberi potest. Quod si quid ex iis probari vel improbari non potest, id gratia disputationis duntaxat pro iudicio rationis et experientia tenebo, semper tamen in hiis salvo iudicio omnium superiorum meorum“ (WA 1,529,33–530,3); vgl. hierzu SELGE, Normen (wie Anm. 3), 12. Zu meinen, in den Resolutiones sei „dieses neue Konzept des Kirchenrechts“ im Sinne des Herrschaftsanspruchs Christi zu erkennen (KAUFMANN, THOMAS, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012 [SMHR 67], 35 unter Berufung auf LOHSE, BERNHARD, Luther und Huß, in: DERS., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und 40

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Bemerkenswert ist, dass hier in der Reihe derjenigen Autoritäten, die den scholastischen bloßen Meinungen entgegengehalten werden, auch die canones erscheinen, die bei der späteren Gegenüberstellung der wahren Autoritäten zum Papst naheliegender Weise fehlen, da sie ihre Geltung weitgehend eben der päpstlichen Promulgation verdanken. Diese Spannung wird man freilich nicht einfach zugunsten der Konzentration auf Bibel und Kirchenväter auflösen können, da Luther wenig später noch einmal im selben Sinne über seine Erwartung an Eck erklärt: „Sperabam enim quod ex Bibliis vel eccelsiasticis Patribus aut Canonibus contra me pugnaret“44 und dessen bloße Berufung auf Scotus, Gabriel Biel und andere Scholastiker kritisiert45. Der Schlüssel für das Verständnis von Luthers Position dürfte wohl in der Wendung von den decreta Patrum liegen, die als technischer Terminus auf die kirchenrechtlich relevant gewordenen Väteraussagen verweisen46. So verstanden, kann sowohl die Dreierreihe Biblia, Patres und canones seine Auffassung treffen wie auch die Nennung nur von Scriptura bzw. Biblia und ecclesiastici Doctores bzw. Patrum decreta. In beiden Fällen wären – anders als in der etwas späteren protestatio zu den Resolutiones47 – päpstliche Dekrete noch impliziert. Man kann also als Resümee von Luthers Position in den Asterisci festhalten, dass er ein Gegenüber der Autoritäten von Schrift und Kirchenvätern (gegebenenfalls in ihrer Kirchenrecht gewordenen Gestalt) zur bloßen Scholastik zum Ausgangspunkt seines Denkens über Autoritäten macht. Diese Position, die der Reformator im Frühjahr 1519, jedenfalls vor

der Reformation, Göttingen 1988, 65–79, 71, der sich hierfür wiederum auf Johannes Heckel beruft), lässt nicht nur nach der genauen Verhältnisbestimmung zum mittelalterlichen Kirchenrecht fragen, sondern geht vor allem grundlegend an der Quellensituation vorbei, die einen äußerst vorsichtigen Umgang mit den Gegebenheiten des Kirchenrechts erkennen lässt. Wenn LOHSE, a.a.O. das Neue darin zu erkennen meint, dass „in der Kirche letztlich nur wirkliche ‚Autorität’ gelten“ könne, „und damit ist nichts anderes gemeint als die Bibel“ vereinfacht er – verständlicherweise, da der Aufsatz vor dem Abschluss der Habilitationsschrift von Kurt-Victor Selge entstanden ist – die komplexe Entwicklung der Autoritätendiskussion erheblich. 44 WA 1,282,1f. 45 WA 1,282,3f. Diese Kritik Luthers ist jedenfalls nicht durchgängig berechtigt: WA 1,298,14 beruft sich Eck ausdrücklich auf die Schrift, und zwar auf Hi 19,21, mit einem wörtlichen Zitat: „Miseremini mei, saltem vos amici mei, quia manus Domini tetigit me.“ (WA 1,298,14f; vgl. Hi 19,21 Vg.). Diese Problematik ist auch den Bearbeitern aufgefallen: Eine zweite Hand hat angefügt: „non animarum in Purgatorio sed S. Hiob ad amicos suos haec vox est.“ (WA 9,775), und der Wittenberger Druck in Luthers lateinischen Werken hat diese Bemerkung übernommen (WA 1,298,1). 46 S. die Ausgabe des Decretums unter dem Titel: Decreta patrum siue concor-| dia discordantium canonum| Gratiani auctoris siue com|pilatoris: cum apparatibus| Johannis ac additionibus| Bartholomei brixiensis., Nürnberg : Anton Koberger, 1493. 47 WA 1,529,35–530,1.

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dem 19. Mai48, schriftlich niedergelegt hat, ähnelt damit im Großen und Ganzen der in der Disputatio contra scholasticam theologiam formulierten49, in welcher er auch zunächst einmal Augustin vor seinen Kritikern in Schutz genommen hat50: Das Ineinander von Schrift und Kirchenvätern als Autoritätengrundlage, wie es sich auch in dem Brief an Johannes Lang vom 18. Mai 1517 abzeichnete51, hatte also noch im Frühjahr 1518 Bestand, und Luther hat es hier in einer besonderen Deutlichkeit ausgedrückt: „Longe ergo impudentissima omnium temeritas est, aliquid in Ecclesia asserere et inter Christianos, quod non docuit Christus (…) Ubi hoc Biblia? ubi Patres? ubi Canones? (excipe Magistros nostros) ubi in toto mundo?“52

Bibel, Väter und canones werden hier nicht allein als Autoritäten benannt, sondern ihr autoritativer Charakter wird auch ausdrücklich von der Lehre Christi abgeleitet, welche sich mithin auch in der kirchlichen Tradition findet. Was Luther hier vertritt, ist in sehr klassischer Weise das spätmittelalterliche Modell eines harmonischen Miteinanders der Autoritäten, unter welchen selbstverständlich die Schrift als erste zählt53, die anderen Instanzen aber nicht als Gegensatz zu ihr behandelt werden, sondern mit ihr gemeinsam in den von Christus ausströmenden Fluss evangelischer Lehre eingeordnet und, wie es in den Resolutiones heißt, catholico sensu54 gelesen werden. Die reformatorische Spitze liegt – wie gleichfalls schon im Lang-Brief erkennbar – in der Abgrenzung dieser auf Christus fundierten Autoritäten gegenüber Aristoteles bzw. der von diesem geprägten Scholastik. Die in Christus basierte Harmonie von Schrift und Tradition aber ist für die Wittenberger zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich unhinterfragt55. 48 WA.B 1,178,17–21 (Nr. 77); zu Recht heißt es WA 9,770, dass das misi an dieser Stelle im eigentlichen Sinne („eigentlich perfektisch“) zu verstehen sei, Luther also schon zu einem bestimmten Zeitpunkt zuvor Eck seine Asterisci zugeschickt hat. 49 Vgl. hierzu auch KLITZSCH, INGO, Autoritätenverwendung in der ‚Disputatio contra scholasticam theologiam‘, in: Volker Leppin (Hg.), Reformatorische Theologie und Autoritäten. Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther (SMHR 85), Tübingen 2015, 39–76. 50 WA 1,224,7f. 51 WA.B 1,99,10–13: „Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri.“ 52 WA 1,308,9–14. 53 „Absolut traditionell und unbestreitbar ist es [...], wenn Luther immer wieder die Schrift als oberste, absolut wahrhaftige, göttliche Autorität in Glaubensdingen anführt und mit ihr argumentiert“ (SELGE, Normen [wie Anm. 3], 30); vgl. DERS., Autoritätengefüge (wie Anm. 6), 607. 54 WA 1,625,28; vgl. SELGE, Normen (wie Anm. 3), 30. 55 So bewegt sich auch KARLSTADT, Apologeticae conclusiones (unpag.), Vorwort, auf dieser Linie, wenn er sich dagegen wendet, die Heilige Schrift durch Beimengung von Aristoteles zu deuten. Deutlicher als Luther, aber durchaus innerhalb des spätmittelalterli-

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2. Das Vorfeld der Leipziger Disputation: Abgrenzung päpstlicher Lehre von Schrift und Kirchenvätern In einem Brief an Kardinal Matthäus Lang56 vom 29. Dezember 151857 schilderte Eck ausführlich den Weg zur Leipziger Disputation. Wie erwähnt, sah er vor allem in Andreas Karlstadt den Auslöser des öffentlichen Streites58. Tatsächlich hatte er diesem bereits in seiner Defensio im Sommer 151859 vorgeschlagen, die strittige Sache dem Heiligen Stuhl, „quae in his, quae ad fidem attinent, merito consuli debet“60 oder auch der Sapienza, der Sorbonne oder der Universität Köln vorzulegen61. Dieses letzte Angebot ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ist zunächst Ausdruck der Achtung, die Eck der Kölner Universität entgegenbrachte, welche er an anderer Stelle auch als „nobilissimam Germaniae achademiam“ bezeichnete62, mag aber sodann auch damit zusammenhängen, dass dort er selbst ebenso wie auch Andreas Karlstadt63 studiert hatte64. Vor allem aber wusste Eck, hierauf verweist Heiko

chen Rahmens, sprach er dabei den Vorrang der Heiligen Schrift aus: „i. Textus Bibliae per ecclesiasticum doctorem allegatus / plus valet / ac vehementius vrget / quam dictum allegantis. [...] xij. Textus Biblie non modo vni / pluribusue ecclesie doctoribus / sed etiam tocius ecclesie acutoritati / prefertur“, so dass man durchaus das Urteil von BARGE, HERMANN, Andreas Bodenstein von Karlstadt. Bd. 1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop ²1968, 118f, nachvollziehen kann: „In gleicher Unbedingtheit ist das Schriftprinzip niemals vorher ausgesprochen worden.“ Auch die Invektiven gegen Aristoteles in der Heidelberger Disputation (s. hierzu grundlegend DIETER, THEO, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin 2001 [TBT 105]) liegen noch ganz auf dieser Linie, und die Herausgeber von Luthers lateinischen Werken haben dessen Vorarbeiten für die Heidelberger Disputation zu Recht mit der Überschrift „Contra scholasticam sententiam“ versehen (LUTHER, Studienausgabe 1, 190, 1). 56 S. zu ihm SALLABERGER, JOHANN, Kardinal Matthäus Lang von Wellenburg (1468– 1540). Staatsmann und Kirchenfürst im Zeitalter von Renaissance, Reformation und Bauernkriegen, Salzburg / München 1997. 57 In der Internetedition der Briefe Ecks von Vinzenz Pfnür wird „IIII. Kalendis Ianuarias“ (WA 9,208,28) mit „28. Dezember“ übersetzt, der Brief aber korrekt auf den 29. Dezember datiert (http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/Eckbriefe/N071.html; Zugriff am 29.3.2013). 58 WA 9,207,8–19. 59 Eck unterzeichnete sein Nachwort am 1. August (ECK, Defensio [wie Anm. 11], 82,16f), der Druck erfolgte am 14. August 1518 (ebd. 83,3f); vgl. ebd. 14. 60 ECK, Defensio (wie Anm. 11), 81,12f; vgl. WA 9,207,16–18. 61 ECK, Defensio (wie Anm. 11), 81,12–16; vgkl. WA 9,207,18f. 62 S. GREVING, JOSEPH, Johann Eck als junger Gelehrter. Eine literatur- und dogmengeschichtliche Untersuchung über seinen Chrysopassus praedestinationis aus dem Jahre 1514, Münster 1906 (RGST 1), 36. 63 BARGE, Karlstadt (wie Anm. 55), 1,5f.

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Augustinus Oberman, dass er sich auf die Kölner Universität verlassen konnte, die ihn schon im Zinsstreit Unterstützung signalisiert hatte65. Hingegen überrascht das selbstverständliche Nebeneinander das Apostolischen Stuhls und der universitären Schauplätze. Normenrechtlich hat Eck damit zwei ganz unterschiedliche Ebenen angesprochen: Die Vorlage vor der Kurie hätte das Ansuchen um eine lehramtliche Entscheidung bedeutet, während die Universitäten auf einen akademischen Streit hinwiesen. Dass Letzteres in seiner Einladung an Karlstadt begegnete, weist darauf hin, dass er zumindest nicht an eine sofortige Häretisierung der Wittenberger dachte, auch wenn er bereits in den Obelisci Luther in die Nähe des Hussitismus gerückt66 und so seine Strategie, die Konformität der neuen Lehre mit der verurteilten alten nachzuweisen, eingeleitet hatte. Das Angebot, sich einer Disputation zu stellen, aber habe, so Eck, Karlstadt abgelehnt und stattdessen ein weiteres beleidigendes Buch herausgebracht67. Der Ingolstädter spielte damit auf die Defensio Karlstadts an, mit welcher dieser nicht etwa, wie es Eck insinuierte, einer Disputation ausgewichen war, sondern seine Thesen ausdrücklich nicht allein dem Urteil des Apostolischen Stuhls und der drei genannten Universitäten unterwarf, son-

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ISERLOH, ERWIN, Johannes Eck (1486–1543). Scholastiker, Humanist, Kontroverstheologe, Münster ²1985 (KLK 41), 8. 65 OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen ²1979 (SuR 2), 194. 66 WA 1,302,15f.305,6f. SELGE, Weg (wie Anm. 21), 174 Anm. 16, wertet die Invektiven Ecks noch nicht als direkten Häresievorwurf, doch sei dieser damit angedeutet gewesen und Luther habe „ihn aus den Insinuationen mit Recht“ herausgelesen. Zuvor hatte bereits Johannes Tetzel den Vergleich zu Wyclif und Hus aufgemacht (Dokumente zur Causa Lutheri 1 (wie Anm. 22), 342. 348. 354; vgl. LOHSE, Luther und Huß (wie Anm. 43), 70). Der Vorwurf der Häresie war auch Gegenstand im Streit zwischen Karlstadt und Eck (vgl. KARLSTADT, Conclusiones [unpag., wie Anm. 55] Nr. 148; ECK, Defensio [wie Anm. 11], 54,16–21). Dass Luther die Frage des Hussitismus „keineswegs primär defensiv [...], sondern [...] offensiv“ behandelt habe (so KAUFMANN, Anfang [wie Anm. 43], 37), verkehrt die Verhältnisse (vgl. zu Luthers Notwendigkeit sich zu verteidigen auch KRUSE, Universitätstheologie [wie Anm. 42], 166, unter Verweis auf WA 1,302,18–28). Es wird auch dadurch nicht der Sache nach überzeugender, dass Kaufmann Ecks Angriffe, abweichend von der Chronologie, erst nach der Leipziger Disputation behandelt (KAUFMANN, Anfang [wie Anm. 43], 40–43). Richtiger stellt LOHSE, Luther und Huß (wie Anm. 43), 70, fest: „Der Anstoß zu einer Änderung seines Urteils über Huß und die Hussiten sollte für Luther allerdings von außen kommen“. In diesem Sinne auch die abgewogenen Überblicke von DELIUS, WALTER, Luther und Huß, in: LuJ 38 (1971) 9–25, bes. 12; HENDRIX, SCOTT H., „We Are All Hussites“? Hus and Luther Revisited, in: ARG 65 (1974) 134 -161. Eine genauere Kenntnis der Schriften von Hus selbst hat Luther erst infolge der Leipziger Disputation angestrebt und erworben (vgl. hierzu den Brief von Wenzel von Rozdalowsky om 17. Juli 1519: WA.B 1,419,19–21 [Nr. 186]). 67 WA 9,207,19–208,2.

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dern dem „einzelner und aller“68. Gegenüber der heuristisch und akademisch aufgefächerten Autoritätenbildung bei Eck erschien hier also eine weitere Instanz: das lesende Publikum, welches freilich in der lateinischen Schrift Karlstadts auf die dieser Sprache Kundigen begrenzt war. In den unterschiedlichen Appellationsinstanzen zeigten sich die verschiedenen Bezüge der Wahrheitsfindung und -sicherung: vom binnenkirchlichen Diskurs der Entscheidung zwischen Häresie und rechter Lehre über den akademischen Diskurs mit weiten Horizonten der Abwägung von wahr und falsch bis hin zu der Entscheidung des auf die grundlegenden Instanzen verwiesenen Publikums. Dass Eck Karlstadts Reaktion als Ausweichen interpretierte, ist vor dem Hintergrund dieser Differenz nachvollziehbar und zweifellos Ausdruck echter Irritation, denn er blieb hartnäckig bei dem Plan einer Disputation mit den Wittenbergern und nutzte die Gelegenheit, dass Luther am Rande des Augsburger Reichstages im Süden des Reichs erschien, um in dieser Sache voranzukommen69. Der Wittenberger schlug, so Eck, Leipzig als Disputationsort vor70; nach Luthers Schreiben vom 15. November war auch Erfurt erwogen worden71, aber wohl so, dass Eck, wie er am 4. Dezember 1518 an Herzog Georg schrieb, „wal harin gestelt worden ist“72. Eben dieser Brief dokumentiert auch, dass er sich angesichts dieser Möglichkeiten für die Leipziger Universität entschied. So wandte er sich an Herzog Georg den Bärtigen wie

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DEFENSIO | AndreĊ Carolostadii | aduersus | Eximii. D. Ioannis Eckii theologiĊ | doctoris & ordinatii Ing.| Monomachiam | Patitur Carolostadius non modo Se.| Ap. studiique Ro. In Italia/| Parisien. in Gallia / aut | Coloniensis in Ger-| mania iudicium/| sed etiam sin-| gulorum | & | omnium, Wittenberg: Rhau-Grunenberg 1518. 69 Eck versuchte bei dieser Gelegenheit sechs Mal, zum Kurfürsten vorzudringen (s. WA.B 1,460,51 [Nr. 192 Vorgeschichte]). 70 WA 9,208,7–12. 71 WA.B 1,231,5 (Nr. 109); WA.B 1,314,33f (Nr. 140; Schreiben an Egran vom 2. Februar 1519); 316,6–8 (Nr. 142; Schreiben an Karlstadt vom 4. oder 5. Februar 1519) erwähnt Luther Erfurt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. SCHUBERT, ANSELM, Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, in: ZThK 105 (2008) 411–442, 422, vermutet ohne Quellenbeleg, dass beim Vorschlag von Leipzig und Erfurt „sicherheitspolitische(n) Erwägungen“ eine Rolle gespielt hätten; dies dürfte die Verhältnisse nach Worms auf das Jahr 1519 zurückprojizieren. Quellenmäßig greifbar ist hingegen der von Eck angeführte Grund der Kosten und der Entfernung (WA.B 1,321,48 [Nr. 142 Beilage]). Hierauf verweist auch SELGE, Weg (wie Anm. 21), 178, der zudem „Parteilichkeit“ der beteiligten Universitäten als möglichen Grund erwägt. 72 SEIDEMANN, Leipziger Disputation (wie Anm. 9), 113 (Beilage 6); geringfügig gekürzt in Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, ed. v. Felician Gess. Erster Bd.: 1517–1524, Leipzig 1905, 47–49 (Nr. 62) s. auch die internetbasierte Edition des Eckbriefwechsels von V. Pfnür: http://ivv7srv15.unimuenster.de/mnkg/pfnuer/Eckbriefe/N068.html; Zugriff am 7.4.2013.

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auch an die Leipziger Universität und Fakultät und bat um Gehör, aber auch Beurteilung des Streits73. Zu den Vorbereitungen auf die Disputation gehörte auch das Erstellen von Thesen. Eck legte eine Reihe solcher Thesen vor, womit er die Wittenberger überrumpelte74 – besonders dadurch, dass er in der zwölften These (die später, durch Einschub einer weiteren These, zur dreizehnten wurde) neben Karlstadt, den er bislang aufgrund von dessen conclusiones als Streitgegner in den Blick genommen hatte, auch Luther selbst angriff, und dies an der denkbar heikelsten Stelle. Der Satz lautete: „Romanam ecclesiam non fuisse superiorem aliis ecclesiis ante tempora Sylvestri negamus, sed eum, qui sedem beatissimi Petri habuit et fidem, successorem Petri et vicarium Christi generalem semper agnovimus.“75

Damit war nicht nur personell die Gegnerschaft ausgeweitet, sondern Eck schlug auch inhaltlich ein Problem an, das bislang nicht im Zentrum gestanden hatte, auch wenn der Ingolstädter es, wie oben angesprochen, bereits in den Obelisci berührt hatte: die Frage nach der Oberhoheit des Papstes. Kon73

WA 9,208,13–20. Die Zustimmung der Theologischen Fakultät zu erreichen, war nicht einfach, wie die Notiz über eine geplante Antwort vom 1. Februar 1519 zeigt (SEIDEMANN, Leipziger Disputation (wie Anm. 9), 128 [Beilage 20]; Edition Eck-Briefwechsel Pfnür: http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/Eckbriefe/N077.html; Zugriff am 7.4.2013) und Ecks Schreiben vom 19.2.1519 dokumentieren (SEIDEMANN, Leipziger Disputation [wie Anm. 9], 127 [Beilage 19]; Akten Herzog Georgs 1, 73f [Nr. 97], geringfügig gekürzt; vgl. Eck-Briefwechsel [Ed. Pfnür]: http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/ Eckbriefe/N078.html; Zugriff am 7.4.2013, in welcher zugleich deutlich wird, dass Eck auch die Disputation mit Luther wünschte.) Vgl. zum Zögern der Fakultät KOHNLE, ARMIN, Die Leipziger Disputation und ihre Bedeutung für die Reformation, in: Hein / Kohnle, Leipziger Disputation (wie Anm. 4), 9–24, 13–15. 74 S. Luthers Reaktion WA.B 1,316,6–9 (Nr. 142). 75 WA 9,209,41–210,2. Der Angriff verschärft sich dadurch, dass Eck nach einer Notiz Bernhard Adelmanns von Adelmannsfelden diese Thesen noch vor Judica 1519 (in diesem Jahr der 10. April) nach Rom geschickt hat (DOCVMENTA| LITERARIA| VARII ARGVMENTI| IN LKVCEM PROLATA| CVRA | IOHANNIS HEVMANNI| [...], Altdorf 1758, 174); vgl. WIEDEMANN, Eck (wie Anm. 7), 49; ALBERT, R., Aus welchem Grunde disputirte Johann Eck gegen Martin Luther in Leipzig 1519, in: ZHTh.NF 37 (1873), 382–441, 408). Dieser Vorgang bringt jedenfalls weiteres Licht in die Hintergründe von Ecks Beteiligung an der Verurteilung Martin Luthers (s. hierzu: FABISCH, PETER, Johannes Eck und die Publikationen der Bullen „Exsurge Domine“ und „Decet Romanum Pontificem“, in: Erwin Iserloh [Hg.], Johannes Eck [1486–1543]. Internationales Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum aus Anlaß des 500. Geburtstages des Johannes Eck vom 13. bis 16. November 1986 in Ingolstadt und Eichstätt, Münster / Westf. 1988 [RGST 127], 74–106). Zugleich macht er deutlich, dass Luther gute Gründe hatte, in den Vereinbarungen mit Eck festzuschreiben, „daß die Acta dieser Disputation nicht in päpstischen Hof, aus Ursachen ihne bewegend, darubir zu erkennen, sollen geschickt werden.“ (WA.B 1,429,31–33 [Nr. 187 Beilage]; anfänglich hatte er noch durchaus mit einer solchen Vorlage in Rom gerechnet: WA.B 1,318, 82f [Nr. 142]).

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kreten Anlass hatte ihm hierzu eine Äußerung gegeben, die Luther in den Resolutiones zu seinen Ablassthesen, wie Ernst Schäfer zu Recht sagte, „ganz nebenhin“76, getan hatte „immo finge (ut latius suadeamus), Romanam ecclesiam esse, qualis erat etiam adhuc tempore B. Gregorii, quando non erat super alias ecclesias, saltem Graeciae“77

Hier lag ein Stützargument für die These 22 vor, in welcher Luther versicherte, dass der Papst den Seelen keine Strafen im Fegefeuer erlassen könne 78. Tatsächlich handelte es sich bei dieser von Luther in Augsburg wiederholten Auffassung79 also zunächst um eine jener Thesen, in denen im Horizont der Bußthematik die päpstliche Gewalt direkt angesprochen war, und Eck nutzte diesen Umstand geschickt, um die Debatte auf ekklesiologische Fragen zu lenken. Möglicherweise hatte er dabei auch noch Weiteres im Sinne, denn die Differenz zwischen Luthers Verweis auf die Zeit vor Gregor dem Großen und Ecks Hinweis auf die Zeit vor Silvester hat einen unmittelbar einsichtigen Bezug: Eck spielt so auf die Konstantinische Schenkung an80. Das Thema war im Vorfeld der Leipziger Disputation neu akut geworden: Die Schrift, in welcher Lorenzo Valla die Historizität der Konstantinischen Schenkung widerlegte81, war 1518 und noch einmal 1519 von Ulrich von Hutten neu herausgebracht worden82. Der von Eck aufgemachte Zusammenhang legte einen Bezug hierauf nahe. Allerdings griff Luther diesen Aspekt wohl deswegen nicht auf, weil er die Schrift Vallas erst 1520 erhielt83. Wohl aber war er genötigt, sich nun mit der Papstfrage auseinanderzusetzen. Blickt man auf den Gang 76

SCHÄFER, ERNST, Luther als Kirchenhistoriker. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft, Gütersloh 1897, 46. 77 WA 1,571,16–18. 78 WA 1,234,19f: „Quin nullam remittit animabus iun purgatorio, uqam in hac vita debuissent secundum Canones solvere.“ 79 WA 2,20,6–17. 80 Hierauf verweist SELGE, Weg (wie Anm. 21), 187f; aufgenommen bei GRANE, LEIF, Martinus Noster. Luther in the German reform movement 1518–1521, Mainz 1994 (VIEG 155), 48f. Zum historischen Kontext der Konstantinischen Schenkung s. jetzt, freilich sehr umstritten: FRIED, JOHANNES, „Donation of Constantine” and „Constitutum Constantini“. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution: „The Satraps of Constantine” by Wolfram Brandes. Berlin u.a. 2007; zur Wirkung in Spätmittelalter und Reformation LEPPIN, VOLKER, Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik in Spätmittelalter, Renaissance und Reformation, in diesem Band S. 189–210. 81 LORENZO VALLA, De falso credita et ementita Constantini donatione, ed. v. Wolfram Setz, München 1986 (= Weimar 1976) (MGH.QG 10); vgl. hierzu SETZ, WOLFRAM, Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung. De falso credita et ementita Constantini donatione. Zur Interpretation und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1975. 82 S. hierzu Ulrichi ab Hutten Equitis Germani Opera quae extant omnia, ed. v. Joseph Hermann Münch. 2. Bd., Berlin 1822, 408f; zum Zusammenhang in Huttens Werk s. 117– 129. 83 WA.B 2,48,20–49,28 (Nr. 257).

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der Entwicklung, so war sein Argument ja zunächst ein historisches gewesen84, dessen theologische Brisanz er nicht betont, möglicherweise noch gar nicht unmittelbar gesehen hatte. Er stellte allein die Faktizität fest, dass vor Gregor dem Großen die Kirche von Rom keineswegs Oberhaupt über die griechische und andere Kirchen gewesen war. Die Weise, wie er das Argument einbrachte, zeigt, dass er diese historische Aussage für geradezu selbstverständlich hielt, denn er versuchte ja mir ihrer Hilfe die Begrenzung der päpstlichen Jurisdiktion auf das Diesseits deutlich zu machen, musste also unterstellen, dass potenzielle Vertreter einer weiterreichenden Amtsfülle des Papstes sich von seinem Argument überzeugen ließen, welches er wiederum nicht eigens begründete, sondern schlicht als gegeben einführte. Eck aber hatte, gerade im Blick auf die Autoritätenfrage die theologische Brisanz des historischen Arguments erkannt, indem er seine Gegenthese auf die biblische Begründung des Primates des Papstes, nämlich die Stellung Petri bezog. Die kirchenhistorische Frage wurde so zu einer biblischen, und Luther war genötigt, auf dieser Ebene zu erwidern, also die biblische Begründung des Primates neu zu reflektieren. Das Problem war als solches schon im Zusammenhang des Augsburger Verhörs virulent gewesen, in dessen Verlauf Luther Cajetan bestritt, dass man den Primat des römischen Papstes aus Mt 16,18 begründen könne85. Hier allerdings hatte es neben einem nicht weiter ausgeführten Verweis auf die Verborgenheit des Reiches Gottes nach Lk 17,2086 ausgereicht, die in den Resolutiones vorgebrachte historische Beobachtung, dass es immer wieder und an vielen Orten Kirche ohne römische Oberhoheit gegeben habe und dies vor Gregor dem Großen der Normalfall gewesen sei, zu wiederholen87. Für den weiteren Verlauf wurde bedeutsam, dass Luther in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit eines divinum iudicium verwies88. Der später bestimmende Begriff des ius divinum erscheint dann kurze Zeit darauf in der am 28. November vorgenommen Appellation an ein Konzil, freilich noch unspezifiziert in einer Reihe mit ius naturale und humanum89. Die Verbindung von ius divinum als geforderter Grundlage und Bestreitung eines biblischen Fundaments des Papstprimates (dessen aktuelle Gültigkeit Luther selbstverständlich

84 Vgl. JUNGHANS, HELMAR, Martin Luther und die Leipziger Disputation, in: Hein / Kohnle, Leipziger Disputation (wie Anm. 4), 87–94, 93f. 85 WA 2,19,30–20,6. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Luther an einer anderen Stelle in den Acta Augustana Mt 16,19 allgemein auf die Binde- und Lösegewalt der Priester bezog (WA 2,13,21–14,4). 86 WA 2,20,3f. 87 WA 2,20,4–17. 88 WA 2,18,3. 89 WA 2,36,31f.

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gleichwohl ausdrücklich bejahte90) aber wurde noch nicht in der Weise explizit gemacht, wie dies später in der Leipziger Disputation erfolgte. Hierzu trieb Eck Luther durch die geschickte Exposition der Papstfrage in der 12. – beziehungsweise nach neuer Zählung 13. – These weiter, und eben hierauf musste Luther dann reagieren91. Hierzu veröffentlichte er im Mai 1519 seine Disputatio et excusatio adversus criminationes D. Ioannis Eccii, 13 Gegenthesen gegen Eck mit einem Vorwort, dessen Anliegen es in erster Linie war, den Vorwurf der Häresie zu entkräften. Dies tat Luther auf eine höchst gewitzte Weise92: „Nam ut venenati sui enigmatis scandalo non laedaris, scias, mi lector, inter articulos Ioannis Huss censeri etiam a nonnullis hunc, quod Romani Pontificis papalem excellentiam a Caesare esse dixerit, quod et Platina manifeste scribit. Ego vero non Caesareis, sed pontificiis decretis eandem monarchiam probari posui. Ita sane ipsamet Ecclesia Lateranensis in urbe de frontis suae peripheria cantat, dogmate Papali simul et Imperiali se esse matrem Ecclesiarum &c. noti sunt versiculi Quid igitur? Necesse est, ut ipsa quoque Ecclesia Eccio sit Hussita et igniat cineres. Deinde quia mandato Papae, consensu Cardinalium, totius Romae et universalis Ecclesiae illa sic cantat, nihil mirum, si Eccius fastidiat antiquos cineres et pro officio consecrationis suae consecrare anhelet novum holocaustum sedi Apostolicae, semel Papam, Cardinales ipsamque Ecclesiam Lateranensem in cineres novos redacturus. Deo gratia, quod unus saltem Eccius reliquus est, qui Catholice sapiat, singularissimus ille singularitatis persecutor, caeteris omnibus per virus Boemiae perditis“93

90 WA 2,19,37–20,1 (auch noch nach der Leipziger Disputation: ebd. 397,3f). Entsprechend hatte Luther sich in der Psalmenvorlesung noch deutlich von den Lehren der Hussiten zum Papstprimat (wie auch zur Eucharistie) distanziert (WA 4,345,24f; vgl. LOHSE, Luther und Huß [wie Anm. 43], 68). SELGE, Normen (wie Anm. 3), 27f verweist darauf, dass die Einbeziehung von Röm 13 in die Reflexion auf den Papstprimat (WA 1,618,24– 26; 621,12–18) sogar eine gewisse Aufwertung papaler Autorität mit sich brachte. Das Bedingungsgefüge in Luthers Brief an Spalatin WA.B 1,353,45–354,49 (Nr. 157): „Si ergo posuissem, Quod Rhomana Ecclesia usque in hodiernum diem non omnibus Ecclesiis fuisset superior & quod contra Eccium staret hystoria Ecclesie usque ad nostros dies, vera dixissem, Sed nimis aperte & citra Insidias“ besagt entsprechend auch nicht eine Ablehnung des Primatsanspruchs der römischen Kirche (so SPEHR, CHRISTOPHER, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010 [BHTh 153], 127; ähnlich pauschal FUCHS, Konfession und Gespräch [wie Anm. 1], 158), sondern bewegt sich ganz auf der Ebene der historischen Aussagen, die dessen universelle Geltung faktisch in Frage ziehen. 91 Es war auch eigentlich die 12./13. These, mit der Eck den Kampf gegen Luther eröffnete: Die Thesen haben sich nicht alle „hauptsächlich gegen Luther“ gerichtet (so FUCHS, Konfession und Gespräch [wie Anm, 1] 145). 92 Die Feinsinnigkeit von Luthers Argumentation liegt gerade darin, dass er sich nicht „eindeutig positiv zu einem rite et recte verurteilten Häretiker der römischen Kirche gestellt“ hat, wie es KAUFMANN, Anfang (wie Anm. 43), 38, irrtümlich annimmt. Genau diese klare Stellungnahme vermeidet Luther. 93 WA 2,159,19–31.

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Luther gebrauchte hier verschiedene Strategien, um den Vorwurf des Hussitismus abzuwehren: Einerseits betonte er, dass er selbst anders argumentiere als Hus, andererseits aber erklärte er, dass die Auffassung des Hus auch von anderen geteilt werde. Der Satz, auf den er anspielte, basierte auf Äußerungen von Jan Hus in seinem Hauptwerk De ecclesia94. Der in Konstanz am 6. Juli 141595 verurteilte Satz lautete: „Papalis dignitas a Caesare inolevit, et Papae praefatio et institutio a Caesaris potentia emanavit.“96

Luther hat diesen Satz also unscharf zitiert und mit dem Verweis auf nonnulli sogar bewusst oder unbewusst verschleiert, dass es sich tatsächlich um eine verurteilte Sentenz handelte. Dass er von Ecks These auf diesen Satz kam, spricht aber für eine genaue Erfassung des Zusammenhangs, denn tatsächlich hat Jan Hus die päpstliche Gewalt unter Verweis auf Konstantin, also auf die Zeit Silvesters, vom Kaiser abgeleitet97. Luther aber betonte nun seinerseits, dass er eben diesen häretisierten Begründungszusammenhang nicht teilte, da er selbst ja allein auf die päpstlichen Dekrete als Grundlage der päpstlichen Macht verweise. Entsprechend lautete seine Antwort auf die 13. These: „Romanam Ecclesiam esse omnibus aliis superiorem, probatur ex frigidissimis Romanorum Pontificum decretis intra cccc annos natis, contra quae sunt historiae approbatae MC annorum, textus scripturae divinae et decretum Niceni Concilii omnium sacratissimi.“98

Luther verschob damit seine Argumentationslinie sogar noch etwas: Nun war es nicht mehr Gregor der Große, auf den seine Argumentationslinie zurückging, sondern die Zeit um 1100. In jedem Falle setzte er auch jetzt zeitlich anders ein als Eck (und der verurteilte Satz von Hus), der ja auf Konstantin ver94

HUS, De ecclesia 15D: „Nam cesar Constantinus post trecentos annos papam instituit. Romanus enim pontifex fuit consocius aliis pontificibus usque ad dotacionem cesaris, cuius auctoritate cepit capitaliter dominari” (Magistri Johannis Hus Tractatus de ecclesia, ed. v. S. Harrison Thomson, Cambridge 1956, 122). 95 Die päpstliche Bestätigung erfolgte am 22. Februar 1418. 96 DH 1209. 97 S. o. Anm. 94. 98 WA 2,161,35–37. Zum Hintergrund in der zuvor schon angestiegenen Papstkritik Luthers s. JUNGHANS, Martin Luther und die Leipziger Disputation (wie Anm. 84), 89. Dass Luther sich hiermit auf geführliches Terrain wagte, zeigt die Reaktion auch unmittelbarer Mitstreiter: Andreas Karlstadt schrieb am 24. Februar an Spalatin: „Cæterum Rever. Patri Martino Luthero consuluerim abstinuisse à XII. conclusione, jam vero post editam evidentissimis rationibus loricandum; clam tum, & domi svasi, qvod sciam, Græcos scriptores S. Petro apicem & fastigium apostolatus concessisse.“ (SCRINIUM ANTIQUARIUM | ੁǻǿ੗ȋǼǿȇǹ| ANTIQVITATIS | FRAGMENTA,| SUMMORUM VIDELICET IN | ECCLES. ACAD. ET SCHOL. SUPE-| RIORE ÆVO VIRORUM,| [...] M. JOH. GOTTFRID. OLEARIUS, Halle: Saalfeld 1691, 44; vgl. zu Karlstadts Zurückhaltung gegenüber der Papstfrage auch Luthers Äußerung gegenüber Lang in WA.B 1,368,19–24 [Nr. 167]); vgl. KRUSE, Universitätstheologie (wie Anm. 42), 192f.

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wiesen hatte. Luther machte so deutlich, dass er sich nicht einfach unter das häresiologische Raster Ecks beugen mochte. Zugleich aber begann er, eben dieses zu unterhöhlen, indem er darauf verwies, dass Hus mit seiner Ansicht keineswegs allein stand: Zum einen verwies er auf Bartolomeo Platina und dessen Vita Christi ac omnium pontificum, worin sich in der Lebensbeschreibung Benedikts II. der Verweis auf die Übertragung der päpstlichen Macht auch über die Griechen durch Konstantin IV. fand99. Zum anderen aber erinnerte er an einen Vers auf dem Portikus der Lateranbasilika: „Dogmate papali datur simul imperiali Quod sim cunctarum caput mater ecclesiarum. Hinc Salvatoris celestia regna datoris Nomine sanxerunt, cum cuncta peracta fuerunt Quaesumus ex toto conversi supplice voto Nostra quod hec edes tibi Christe sit inclyta sedes.“100

Luther verwies auf den liturgischen Kontext dieses Spruchs und damit die Bewilligung durch den Papst selbst und unterstrich so, dass der wenigstens zum Teil kaiserliche Ursprung der päpstlichen Oberhoheit, der bei Hus inkriminiert wurde, eine breite kirchliche Basis besaß. Damit war im Vorfeld der Leipziger Disputation eine weitreichende Destruktion des Hussitismusvorwurfs erreicht, freilich ohne dass Luther sich selbst auf die Seite der verurteilten Ketzer gestellt hätte: Ausdrücklich bekannte er sich zum consensus der weltweiten Kirche101. Schon in der Disputatio et excusatio zeigte sich also die Bedeutung der Papstfrage für das Gespräch zwischen Eck und Luther. Dieser brachte noch im Juni eine eigene Resolutio super propositione sua decima tertia de potestate papae heraus, in welcher er das Problem breiter behandelte und damit zugleich zu der allgemeinen Autoritätenfrage zurückkehrte, die er schon in den Asterisci angesprochen hatte. Je nachdem, wie man die oben diskutierte Frage 99 Platynae Historici Liber de vita Christi ac omnium pontificum (AA. 1- 1474), hg. V. Giacinto Gaida, Città di Castello 1932 (Rerum Italicarum Scriptores 3), 114,9–11: „Ad hunc Constantinus imperator hominis sanctitate permotus, sanctionem misit, ut deinceps quem clerus, populus, exercitusque Romanus in pontificum delegisset, eundem statim verum Christi vicarium esse omnes crederent: nulla aut Constantinopolitani principis, aut Italiae hexarchie expectata auctoritate, ut antea fiery consueverat.” 100 So die wohl alte Fassung im catalogo del Signorili aus der Zeit um 1425 (HÜLSEN, CHRISTIAN, Le chiese di Roma nel medio evo. Cataloghi et appunti, Florenz 1927 [= Hildesheim 1975], 43; vgl. auch das etwas abweichende Zitat ohne Quellenangabe in WA 2,159 Anm. 2); zur Anbringung und zum Kontext auf der Lateranfassade s. FRIED, Donation (wie Anm. 80), 23. Die mittelalterliche Inschrift ist heute nur noch in Fragmenten zu sehen, wurde aber durch eine entsprechende barocke Inschrift ersetzt (s. KRÜGER, JÜRGEN / WALLRAFF, M ARTIN, Luthers Rom. Die Ewige Stadt in der Renaissance, Darmstadt 2010, 167 Anm. 121). 101 WA 2,159,8–10.

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nach den canones entscheidet, handelt es sich hier um eine Präzisierung oder eine erste leichte Änderung der Auffassung: Versteht man die canones, auf die Luther in den Asterisci verwies, allgemein als Kirchenrecht und päpstliche Dekretalen, so findet sich nun in der Resolutio deren klare Ablehnung als theologisch zwingende Autorität. Versteht man unter ihnen jedoch die kirchlich approbierten Väter, so präzisiert Luther in der Resolutio nun lediglich in dem Sinne, dass er diese von dem sonstigen – nicht theologisch verbindlichen – Kirchenrecht unterscheidet. Der Leitbegriff, den Luther nun zur Autoritätenbestimmung wählt, ist nämlich der, der schon in seiner Appellation ans Konzil begegnete und der dann in der Leipziger Disputation entscheidend werden sollte: das ius divinum, das er klar von den decreta hominum unterscheidet102. Argumentationsstrategisch steht dieses ius divinum nun an eben der Stelle, an der in den Asterisci die Lehre Christi stand. Der Begriff ius divinum ist allerdings nicht erst in der Auseinandersetzung mit Eck entstanden, sondern begegnet schon in einer jedenfalls vor Anfang 1518 gehaltenen Predigt über die Zachäus-Perikope Lk 19,8ff103, in welcher Luther für sein zu diesem Zeitpunkt schon entwickeltes Verständnis von Buße als einer das ganze Leben umfassenden Haltung des Menschen104 Lk 3,8 anführte und von den 102

WA 2,200,38. Die Datierung dieser Predigt ist nicht gesichert: Löscher hat sie auf 1517 datiert, die WA hingegen geht unter Verweis auf eine Erwähnung in Luthers Auslegung des Vaterunsers von 1517 auf den 31. Oktober 1517 (WA 1,94 Anm. 2). Der Tag ergibt sich dabei aus der Angabe „pridie Dedicationis“ (WA 1,94,6), also am Vortrag des Kirchweihfestes. Allerdings ist die bei Löscher wie in der WA leitende Annahme, dass es sich hierbei um das Kirchweihfest der Schlosskirche handeln müsse, keineswegs zwingend: Denkbar sind auch der 17. Januar für die Allerheiligenkirche oder der 31. Mai für die Stadtkirche (s. FLÖRKEN, NORBERT, Ein Beitrag zur Datierung von Luthers Sermo de indulgentiis pridie Dedicationis, in: ZKG 82 [1971] 344–350, 349; Flörken selbst votiert ebd. im Ergebnis für den 30. Mai 1517), wobei wegen Luthers Predigerstelle an eben dieser Kirche, wohl der letztgenannte Termin der wahrscheinlichste ist. Martin Brecht argumentiert unter Verweis auf die Vaterunserauslegung für einen Termin im März 1517 (BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Bd. 1: sein Weg zur Reformation 1483–1521, 183; ihm folgt VOGEL, LOTHAR, Zwischen Universität und Seelsorge. Martin Luthers Beweggründe im Ablassstreit, in: ZKG 118 [2007] 187–212, 194). Hierfür muss allerdings konjiziert werden, dass sich der Kirchweihtermin auf die Augustinerkirche bezieht und deren unbekannter Kirchweihtermin im Frühjahr lag (so zu erschließen aus BRECHT, a.a.O. 478 Anm. 12). Diese Konstruktion ist jedoch deswegen unnötig, weil sich der Verweis auf die Zachäuspredigt erst in der von Johann Agricola bereiteten Druckausgabe findet, also 1518 (WA 9,133,8) – und übrigens nicht in der von Luther selbst erstellten Druckausgabe 1519 (WA 2,80–130). Damit wäre die von Löscher vorgetragene Datierung auf den 31. Oktober 1517 möglich, wegen des Bezuges auf Luthers Predigerstelle aber wohl eher mit dem 30. Mai desselben Jahres zu rechnen. 104 Zu dieser Entwicklung s. LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261–277. 103

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Iuristae verlangte, ihm ein Zeugnis de iure divino vorzulegen, nach welchem auch Privatbeichte und Satisfaktion vorgeschrieben seien105. Schon zu diesem Zeitpunkt – wohl im Mai 1517 – hätte demnach das ius divinum für Luther die klare Bedeutung als Schriftzeugnis gehabt 106, und tatsächlich stand es hier, im Zusammenhang der Ablassproblematik, auch bereits menschlichen Vorschriften entgegen, die Luther aber als juristische fasste, so dass eine klare Zuordnung zu den theologischen Kriterien Bibel, Kirchenväter und den rechtsrelevanten, aber nicht von den Juristen geschaffenen canones, welche er ein Jahr später in den Asterisci als Ausdruck der Lehre Christi benannte, nicht möglich ist. Als klar unterscheidendes Kriterium aber erscheint das ius divinum nun in der Resolutio wieder. Im Kontext der dargelegten Streitentwicklung ist entscheidend, dass als sein Gegenüber nun nicht mehr einfach die Juristen benannt werden, sondern allgemein decreta hominum. Bereits in den Asterisci hatte Luther ja prononciert die Menschlichkeit des eben aufgrund dieser Kondition irrtumsfähigen Papstes herausgestrichen, und genau dieses Argument hatte er mit derselben biblischen Belegstelle, Röm 3,4 in jener Konzilsappellation vom 28. November 1518 wieder aufgegriffen, in der auch das Wort vom ius divinum wieder erschien107. Der verdichtete Kontext macht deutlich, dass Luther hier nun das ius divinum auch von den päpstlichen Dekreten abgrenzte108, was innerhalb der Debatte jedenfalls einen weiteren Schritt der Klärung und der Präzisierung darstellte, womöglich sogar eine inhaltliche Weiterentwicklung. Wenn nun aber den hominum decreta das ius divinum gegenüberstand, bedeutete dies trotz des Bezuges des letzteren auf die Schrift in der ZachäusPredigt noch keineswegs eine trennscharfe Unterscheidung von Schrift und Tradition beziehungsweise Kirchenvätern. Vielmehr zeigt die Argumentation Luthers zur Papstfrage, dass er die Schrift hermeneutisch ganz im Verbund mit den Väteraussagen deutete. Die theologische Erwägung blieb dabei von einem Seitenstrang der historischen Argumentation begleitet, von der Luthers Einwände ja ausgegangen wären. Auch diesen allerdings formte er nun in bemerkenswerter Weise biblisch aus: Aus Gal 1,17f und 2,1, dem Bericht des Paulus, dass er zunächst drei Jahre in Arabien gewesen sei und dann, wiederum vierzehn Jahre später, nach Jerusalem gezogen sei, um dort Petrus und die anderen Säulen der Gemeinde zu treffen109, folgerte Luther, dass jeden105

WA 1,98,31–36. Vgl. die Parallelformulierung zur Rede vom ius divinum: „De privata nescio ubi Sciptura loquitur“ WA 1,98,31. 107 WA 2,37,12–15. 108 Entsprechend hatte Luther schon am 20. Februar 1519 an Willibald Pirckheimer geschrieben: „Res vergit, ut vides, in sacros canones, it es prophanas sacrarum literarum corruptelas“ (WA.B 1,348,14f [Nr. 154]; vgl. GRANE, Martinus Noster [wie Anm. 80], 50f). 109 Zur Verwendung dieser Angaben für eine Rekonstruktion der Biographie des Paulus und der Schwierigkeit, die Jahresangaben exakt umzurechnen s. BECKER, JÜRGEN, Paulus. 106

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falls im achtzehnten Jahr nach der Auferstehung der Primat noch nicht an Rom gebunden gewesen sein könne110. Dieses Argument kehrte zwar auch in der Leipziger Disputation wieder. Wichtiger wurde aber ein anderer Gedankenstrang, nämlich die gründliche Auslegung der Bibelstellen, die den Primat begründen sollten. Dessen Geltung stellte Luther im Grundsatz nicht in Frage111, ja, er betonte sogar, dass er ihn auf göttlichen Willen zurückführe, auch wenn er für ihn kein Schriftzeugnis anführen könne112. Eben hierin aber liegt nun der entscheidende Punkt der Argumentation. Luther erwägt zwei Bibelstellen für die Begründung des Papsttums113: den bereits im Decretum Gratiani in den Mittelpunkt gestellten locus classicus114 Mt 16,18: „tu es Petrus et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam“115 sowie Joh 21,17: „Pasce oves meas“, eine Bibelstelle, die vor allem durch die Dekretalen Gregors IX. eine zentrale Rolle für die Begründung des Primats eingenommen hatte116 Diese beiden Belege waren nicht nur durch ihre Verwendung im Kirchenrecht, sondern dem folgend, durch die gesamte spätmittelalterliche Diskussion über den Primat die entscheidenden biblischen Referenzen für diese Frage117.

Der Apostel der Völker, Tübingen ³1998, 17–33. In seinem 1519 gedruckten und kurz vor der Leipziger Disputation in der Schriftfassung abgeschlossenen Galaterkommentar betonte Luther angesichts dieser Stellen die Unabhängigkeit des Paulus von Petrus (WA 2,472,21–27) sowie den Umstand, dass die Apostel nicht schon im 13. Jahr nach der Auferstehung zerstreut wurden (WA 2,476,31–37). Die Bedeutung für den Primat Roms aber streicht er hier nicht heraus, obwohl seine Vorreden sich explizit und sehr ausführlich mit dem Status der Romana ecclesia befassen (WA 2,443–450). 110 WA 2,190,29–40. 111 WA 2,185,13–16. 112 WA 2,186,5–12. 113 Zur Argumentation s. auch das Referat bei GRANE, Martinus Noster (wie Anm. 80), 59–62. 114 Zur kirchenrechtlichen Verwendung s. D. 21 c. 2f (Corpus iuris canonici, ed. v. Friedberg, wie Anm. 2, I, 69f). 115 EBELING, GERHARD, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München 1942 (FGLP 10/1), 256, weist auf die „merkwürdige Fügung“ hin, dass Luther ausgerechnet am 29. Juni 1519 in Leipzig über Mt 16,13–19 zu predigen hatte und so „alle materien der gantzen disputation“ (WA 2,246,23) behandeln konnte (die Predigt in: WA 2,246–249). 116 X 1.33.6 (Corpus Iuris Canonici. Bd. 2, ed. v. Emil Friedberg, Leipzig 1881, 198). Zu beiden Bibelstellen s. noch einmal den Hinweis Luthers in den Resolutiones zur Leipziger DisputationWA 2,397,15f. 117 S. KÖLMEL, WILHELM, Wilhelm Ockham und seine kirchenpolitischen Schriften, Wessen 1962, 96f, zu Ockham und Marsilius von Padua; WOELKI, THOMAS, Lodovico Pontano (ca. 1409–1439). Eine Juristenkarriere an Universität, Fürstenhof, Kurie und Konzil, Leiden 2011 (ESMAR 38), 374, zur Debatte im 15. Jahrhundert.

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Zu Mt 16,18 führte Luther an, dass selbst die Juristen nicht mehr der Meinung seien, dass hiermit der Primat des Papstes zu begründen sei118. Diese Deutung stützte er allerdings zunächst unter Verweis auf die Auslegung der Kirchenväter. Deren Gewicht erklärte er als maßgeblich mit der allgemeinen Feststellung: „Secundo, quod idem verbum Christi male decreta aptant soli Petro et Rhomano potifici. Nam apud sanctos patres Christus hoc verbum dixisse ad ecclesiam et omnes Apostolos in persona Petri asseritur“119.

Der Bezug der Bibelstelle auf die Gesamtheit der Apostel erfolgte also mit Hilfe des Väterbeweises, den Luther ohne breitere Ausführungen mit Hieronymus begann120. Hinzu kamen Verweise auf Chrysostomus und Augustin121. Diese Argumentation bewegt sich sehr unproblematisch innerhalb eines Harmoniemodells, in dem die Kirchenväter den hermeneutischen Weg zum Schriftverständnis zeigten. Allerdings ging Luther auch darüber hinaus, denn nach der kurzen Abhandlung zu den Kirchenvätern entfaltete er eine sehr ausführliche Exegese und begründete dies mit dem Satz: „Et cur non nos ipsi potius textum et verba Christi consyderamus, qui nos clarius per seipsum instruet“122.

Auch wenn hier die Schrift noch nicht der Tradition gegenübergestellt wird, man also in diese Aussage noch keineswegs das spätere Differenzmodell hineinprojizieren darf123, ist diese Wendung doch hermeneutisch entscheidend: Die humanistisch inspirierte124 Methode, den Text aus sich selbst auszulegen, 118

WA 2,188,4–6. Insbesondere verweist Luther hier auf die Glosse zu D. 50 c. 53. Hier heißt es: „Preposuit. Hoc verbo pasce oues meas factus est princeps. ex de elec. significasti. non illo: Tu es petra et super etc. quia illud fuit ei dictum ante passionem.“ (Decretum Gratiani| Cum | Glossis domini Johannis theutonici prepositi alberstatensis et annotationibus Bartholomei brixiensis (….), Basel : Johannes Amerbach und Johannes Froben 1512, f. 56r a). Seinen zweiten Beleg bildete ein Verweis auf Panormitanus. In dessen Kommentar zu X 1.6.4 (Significasti) heißt es: „Tercio nota illa verba per que cristus constituit principem et papam beatum Petrum scilicet pasce oues meas etc. non autem per illa tu es petrus et super hanc petram etc. nam per illa verba cristus promisit sibi pontificatum cum fuerit locutus in futurum etc. “ ([NICOLAUS DE TUDESCHIS, Lectura super quinque libros decretalium. I : Super primum decretalium librum], [Basel: Wenssler, Ruppel und Richel 1477], [unpag.; inhttp://dfg-viewer.de/show/?set[image]=188&set[zoom]=default &set[debug]=0&set[double]=0&set[mets]=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-sammlungen. de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00035290_mets.xml; Zugriff am 31.3.2013 gezählt als f. 91v]). 119 WA 2,188,27–30. 120 WA 2,188,31f. 121 WA 2,188,34–189,9. 122 WA 2,189,10f. 123 Insofern ist auch die Rede von einer „alleinigen Geltung der Schrift“ (KRUSE, Universitätstheologie [wie Anm. 42], 195) für diesen Zeitpunkt zu früh. 124 S. JUNGHANS, Martin Luther und die Leipziger Disputation (wie Anm. 84), 91.

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gibt jedenfalls das Potenzial, ihn nicht nur, wie in diesem Falle, parallel zur Kirchenvätertradition zu deuten, sondern auch kontrovers zu ihr. Die exegetische Leitlinie, die Luther mit seiner Deutung verfolgte, war, Mt 16,18 nicht allein auf Petrus, sondern auf die Apostel insgesamt zu beziehen. So verwies er darauf, dass Jesu Frage, wofür ihn die Menschen hielten, sich ebenso wie die Frage nach der Ansicht der Jünger selbst (Mt 16,13–15) an diese insgesamt gerichtet habe125. Folglich sei auch Petri Antwort Mt 16,16 im Namen des Apostelkollegiums erfolgt126, und entsprechend sei auch das Felswort nicht auf Petrus allein gerichtet gewesen, sondern auf alle Jünger127. Als hermeneutisches Leitprinzip hierfür gab er an, dass der Kontext – praecedentia et sequentia – zu beachten sei128. Entsprechend interpretierte Luther auch das Schlüsselwort Mt 16,19 unter Verweis auf die pluralische Parallele Mt 18,18 als Aussage über die gesamte Kirche129: „Credo iam ferme fidem factura, hanc Matthaei autoritatem neque ad Petrum neque ad successorem neque ad unam aliquam ecclesiam, sed ad omnes ecclesias pertinere.“130

Wichtiger war Luther das „pasce oves meas“ aus Joh 21, das sich, wie auch seine Hinweise auf die kirchenrechtliche Diskussion widerspiegeln, im späten Mittelalter teilweise sogar in den Vordergrund der Primatsbegründung geschoben hatte. Bemerkenswerterweise beginnt Luther bei dieser Bibelstelle gleich mit der unmittelbaren Textdeutung, ohne Rekurs auf die Väterauslegung. Vielmehr legte er die einzelnen Begriffe strikt aus. So betonte er, dass der Weideauftrag ja, anders als der Anfang des Taufbefehls Mt 28,19, nicht die Qualifikation „omnes“ enthalte, sich also eine Oberhoheit über die gesamte Kirche hiermit gar nicht begründen lasse131. Hinzu kamen zwei sorgfältige philologische Beobachtungen: Zum einen betonte Luther, dass das Verbum pascere anderes bedeute als Regierung und Lenkung132, zum anderen wies er wiederum auf den Kontext von Joh 21 hin, der das Weiden unter die Bedingung des diligere stellte133. Mit dieser Gedankenführung hatte Luther seine biblische Vorarbeit für die Leipziger Disputation geleistet. Im Vollzug war dabei immer stärker die Argumentation allein aufgrund des Bibeltextes in den Vordergrund getreten, ohne dass Luther hieraus jedoch jene prinzipiellen Folgerungen gezogen hätte, die dann durch die Leipziger Disputation unaus125

WA 2,189,12–35. WA 2,189,36f. 127 WA 2,189,37–39. 128 WA 2,189,39–190,1. 129 WA 2,191,1–20. Luther war jedenfalls ansatzweise bewusst, dass er mit dieser kollegialen Interpretation des Petruswortes Cyprian auf seiner Seite hatte (WA 2,202,7–13). 130 WA 2,191,21–23. 131 WA 2,194,24–28. 132 WA 2,195,16–28. 133 WA 2,195,29–37. 126

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weichlich wurden und zur Formierung des reformatorischen Schriftprinzip führten134.

3. Die Leipziger Disputation: die Schrift allein Die über ein Jahr währenden Streitigkeiten gipfelten schließlich in der Leipziger Disputation, die vom 27. Juni bis 15. Juli 1519 in der Pleißenburg stattfand135. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert dabei vor allem die Konfrontation von Luther und Eck vom 4. bis 13. Juli. Hier musste material die Frage nach dem Papstamt geklärt werden136. Diese war aber aufs engste 134

EBELING, Evangelische Evangelienauslegung (wie Anm. 115), 293 ist ausdrücklich nicht „auf die Entwicklung von Luthers Schriftprinzip bis zur Leipziger Disputation und danach“ eingegangen, sondern hat nur die Notwendigkeit des Zusammenhangs mit der theologia crucis herausgestrichen (ebd. 294f). Solche innersystematischen Ableitungen unterschätzen das kreative Potenzial der geistigen Auseinandersetzung, in der sich Luther bewegte. Später konnte Ebeling sogar zu der erstaunlichen Aussage über Luther kommen: „Von Anfang an praktizierte er mit Selbstverständlichkeit ein unausgesprochenes ‚Schriftprinzip’„ (EBELING, GERHARD, Art. Luther II. Theologie, in: RGG³ 4, 459–520, 503). Diesen Satz wird man nur dann für angemessen halten können, wenn man hier unter „Schriftprinzip“ die im späten Mittelalter selbstverständliche Vorordnung der Schrift vor anderen Autoritäten versteht. 135 S. hierzu NOACK, THOMAS, Der Ort der Disputation – die Pleißenburg, in: Hein / Kohnle, Leipziger Disputation (wie Anm. 4), 45–54. 136 Dass Eck dabei keineswegs als strikter Papalist agierte, hält SELGE, KURT-VICTOR, Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: ZKG 86 (1975) 26–40, 30, zu Recht fest. Allerdings ist die Einordnung Ecks im Sinne eines „Papale[n] Konziliarismus“ oder „Gersonist“ bei OBERMAN, Zweifrontenkrieg (wie Anm. 21), 125. 129, übertrieben. Oberman beruft sich a.a.O. 128f auf zwei Stellen aus dem Chrysopassus von Eck. Die erste stellt eine Abweisung der Auffassung dar, dass der Papst ein Wesen zwischen Gott und Mensch sei (CHRYSOPASSVS| A IOANNE MAIORIS ECKIO PROCANCELLARIO | AVRIPOLI ET CANONICO EISTETEM: LECTA EST | SVBTILIS ILLA PRAEDESTINATIONIS MATERIA | VVILHELMO ILLUSTRIS: PRINCIPE BAIOARIAM | GVBERNANTE. ANNO GRATIAE G. D. XII, Augsburg Johann Miller 1514, C iiiir); zu Belegen für eine solche Auffassung im Mittelalter s. OBERMAN, a.a.O. 128 Anm. 39). An der zweiten verweist Eck positiv auf Johannes Gersons Haltung zur gratia confirmationis die Entscheidungen des Konstanzer Konzils: „assentimur domino cancellario [i.e. Gerson] in illa doctrina quam proclamauit in eo loco (puta in concilio Constantiae) vbi errores & schismata fuerunt extirpata: non seminata contra Caietanum.“ (ECK, Chrysopassus Gr); zu den positiven Bezugnahmen Ecks auf Gerson s. GREVING, Eck (wie Anm. 62), 43. 93; zu Cajetans vernichtenden Urteilen über das Konzil von Konstanz s. B ÄUMER, REMIGIUS, Nachwirkungen des konziliaren Gedankens in der Theologie und Kanonistik des frühen 16. Jahrhunderts, Münster 1971 (RGST 100), 221f. Beides reicht aber nicht aus, um hieraus grundsätzliche Ansichten Ecks über Konziliarismus und Papalismus abzuleiten – nur so viel ist deutlich, dass Eck sich nicht auf die schroff antikonziliaristische Haltung des Prierias und Cajetans einlassen will, „eine Kluft“ (OBERMAN, aaO 129) besteht hier aber nicht

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verwoben mit der generellen Zuordnung der theologischen Autoritäten zueinander. Hinzu kamen zwei Gesichtspunkte, die die Debatte bislang mit unterschiedlichem Gewicht begleitet hatten: zunächst der früh von Eck ins Spiel gebrachte Hussitismusverdacht gegen Luther, an dem, bislang nur angedeutet, die Frage der Verbindlichkeit konziliarer Entscheidungen hing, welche Luther durch das Vorwort seiner Disputatio et excusatio angerissen hatte, zum anderen aber die historische Argumentation zum Primat des Papstamtes, von der Luther ausgegangen war und die in der Leipziger Disputation am Rande weiter verhandelt wurde. Grundlage für die Argumentationsweise und damit auch für den Autoritätengebrauch waren die protestationes, die die Beteiligten formulierten und die signifikante Unterschiede aufwiesen: Andreas Karlstadt erklärte: „Sacris autem scripturis hunc honorem impendimus, quod nihil sine his aut asserere aut praecipere volumus. In caeteris autem, quae non liquide hinc doceri possunt, solis ecclesiasticis primas damus“137

Er bot damit also eine klare Autoritätenabstufung, die freilich etwas gewunden formuliert war. Der erste Satz erklärte eine Ausschließlichkeit der Schrift im Blick auf feste Behauptungen und Vorschriften, also offenbar auf Verbindliches. Der zweite Satz hingegen eröffnete einen weiteren Raum, nämlich für jene Bereiche, in denen ein klares Urteil aufgrund der Schrift nicht möglich sei. Hier sollte den kirchlich approbierten Autoritäten gefolgt werden, offenbar aber nicht im Modus von Behauptung oder Vorschrift. Damit war in die gängige Harmonievorstellung von Schrift und Tradition bereits eine gewisse Differenz eingetragen, so wie ja auch beim Schriftenwechsel im Vorfeld Karlstadt das Gewicht noch deutlicher als Luther auf die Heiligen Schrift gelegt hatte. Demgegenüber war Ecks protestatio eindeutig von einem Harmoniemodell bestimmt: „non est animus mihi quicquam dicere vel asserere, quod vel sacrae scripturae vel sanctae ecclesiae esset adversum“138.

unbedingt; vgl. daher die zu Recht kritischen Äußerungen zu Obermans Deutung bei B ÄUMER, REMIGIUS, Die Ekklesiologie des Johannes Eck, in: Erwin Iserloh (Hg.), Johannes Eck (1486–1543). Internationales Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum aus Anlaß des 500. Geburtstages des Johannes Eck vom 13. bis 16. November 1986 in Ingolstadt und Eichstätt, Münster / Westf. 1988 (RGST 127), 129–154, 148– 150. 153. 137 WA 59, 433,25–27. 138 WA 59,434,34f. Entsprechend hat Eck nach der Disputation, am 22 Juli 1519, dem Kurfürsten eben dies vorgehalten, dass Luther „verleugnet und negiert uber ein Materi die Meinung und Auslegung der heiligen Väter“ und „sich vermißt, aus seiner Verständnuß baß zu wissen den Sinn der heiligen Geschrift, dann die heilig Väter mit einander.“ (WA.B 1,460,21–26 [Nr. 192 Vorgeschichte]).

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Auch das asserere also bezog sich hier auf die Kirchenlehre und selbstverständlich auch auf die Schrift, ohne dass der Gedanke einer eventuellen Differenz auch nur angedeutet wurde. Vor dem Hintergrund dieses etwas unterschiedlichen Zungenschlags der beiden anderen Protagonisten erscheint Luthers protestatio ebenso erstaunlich wie bemerkenswert. Er nämlich erklärte, als gäbe es den Unterschied nicht: „protestationem utriusque egregii domini et Andreae Carolstadii et Ioannis Eccii amplector et sequor.“139. Offenbar wollte er es vermeiden, sich auf das eine oder das andere Modell festzulegen und hielt so die Frage für sich offen, ob er eher dem anfänglich von ihm durchaus gefolgten Harmoniemodell verpflichtet bleiben oder sich an der Schärfung des Differenzmodells beteiligen wollte. Um der Entwicklung auf der Leipziger Disputation gerecht zu werden, sollen im Folgenden zunächst die beiden Nebenstränge, die freilich für die Wirkung der Disputation von sehr unterschiedlichem Gewicht waren, verfolgt werden: die immer mehr an den Rand gedrängte Frage nach dem historischen Befund hinsichtlich der Entstehung des päpstlichen Primats einerseits und die endgültig Luthers Status als Häretiker begründende Frage nach Hussitismus und Konzil andererseits. In einem dritten Schritt wird es dann um die theologische Zuordnung der Autoritäten gehen. 1. Über die historische Genese des Papsttums haben Luther und Eck zwar einige Argumente ausgetauscht, aber nicht mit derselben Hartnäckigkeit wie in den anderen Fragen. Luther brachte die von ihm schon im Vorfeld angesprochenen Argumente noch einmal vor: dass die Griechen den Papst nicht als höchsten Bischof anerkannten140 und auch ihre Weihe nicht von ihm erhalten hatten141, einerseits, und den Hinweis darauf, dass Petrus noch achtzehn Jahre nach der Auferstehung in Jerusalem war, andererseits. Letzteres schließe es aus, die ecclesia Romana als erste und als Haupt der anderen Kirchen anzusehen142. Eck tat diese Argumente leichthin ab. Die achtzehn Jahre, die Petrus noch nicht in Rom war, deutete er in dem Sinne, dass der Primat seinerzeit noch kein römischer, sondern personal auf Petrus bezogen gewesen sei. Dieser habe dann auf Geheiß Christi, also auch nach göttlichem Recht seinen Sitz von Antiochien nach Rom verlegt. Den Beleg hierfür stellte ein Schreiben von Marcellus I.143 dar, das in das Decretum Gratiani eingegangen war (C. 24 q. 1 c. 15)144. Das von Luther mit Hilfe der Schrift vorgebrachte historische Argument wurde nun also seinerseits mit einem Traditionsargu-

139

WA 59,434,40f. WA 59,439,205–210. 141 WA 59,462,929–934, 142 WA 59,462,920–929. 143 Da das kurze Pontifikat Marcellus’ II. erst in das Jahr 1555 fiel, war Marcellus I. für Gratian wie auch für Eck und Luther noch schlicht Marcellus. 144 Corpus iuris canonici (Ed. Friedberg, wie Anm. 2). I, 970; WA 59,485,1623–1636. 140

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ment beantwortet, welches allerdings seinerseits den Anspruch erhob, von einem göttlichen Befehl (iubente Domino) berichten zu können. Noch weniger Beschwer machte Eck der Hinweis auf die Griechen. So gestand er zu, dass die nichtrömischen Bischöfe der Alten Kirche zwar tatsächlich nicht vom Papst geweiht waren, behauptete aber, dieser habe die Oberhoheit über alle Priester besessen145. Generell galt für ihn, dass der Verweis auf die Griechen nichts austrage, da diese vom Papst und überhaupt vom Christentum abgefallen seien146. Wenig ausgeführt, zeichnete sich hierin ein weitreichender ekklesiologischer Gegensatz zwischen ihm und Luther ab: Für diesen bestand der Kirchencharakter der griechischen Kirche selbstverständlich fort. Christus sei auch bei dieser und nicht nur in Rom147. All dies waren aber Nebenstränge der Diskussion, die für Luther vor allem die eine Bedeutung hatten, herauszustreichen, dass der päpstliche Primatsanspruch keine lange Dauer in der Kirche gehabt habe, sondern allein auf den jüngeren Bestimmungen der Päpste beruhe, mithin auf menschlichem, nicht auf göttlichem Recht148. 2. Die rechtlich und politisch eigentlich brisante Frage der Leipziger Disputation war die von Eck seit Beginn forcierte nach dem Hussitismusverdacht149. Im aktuellen Kontext lancierte Eck diesen über die strittige, von ihm durch die 12. / 13. These neuerlich ins Spiel gebrachte Frage nach dem römischen Primat, wobei er, den Vorgängen in Konstanz durchaus angemessen, die Verurteilung von Jan Hus mit der John Wyclifs verband: „Hinc inter damnatos et pestiferos errores Ioannis Vuiclef damnatus est et ille: ‚Non est de necessitate salutis credere Romanam ecclesiam esse supremam inter alias’150. Sic inter pestilentes Ioannis Huss errores ille quoque connumeratur: ‘Petrus non est nec fuit caput ecclesiae sanctae catholicae’151. Et alius: ‚Non est scintilla apparentiae, quod oporteat esse unum caput in spiritualibus regens ecclesiam, quod semper cum militante ecclesia conversetur‘152. Et iste : ‚Papalis dignitas a caesare inolevit, et papae perfectio et institutio a caesare emanavit‘153.”154 145

WA 59,468,1125–1129. WA 59,443,330–333. 147 WA 59,448,497–502. 148 WA 59,468,1100–1105. 149 Allerdings ist Eck nicht ganz auf Hus fixiert, er erwähnt auch die Verurteilungen der Lyoner Häresie durch Bonifatius VIII. in Unam Sanctam (WA 59,461,888–891) und die Verurteilung von Marsilius von Padua durch Johannes XXII. (WA 59,461,891,894). Ersteres mag dazu beigetragen haben, dass Luther die kirchenhistorischen Ereignisse durcheinanderbrachte und die Verurteilung von Wyclif und Hus mit Bonifaz VIII. verband (WA 59,466,1041f). Diese Unsicherheit brachte es mit sich, dass die von Eck offenbar wohlbedachte Spitze, ein Konzil aus der Zeit des Konziliarismus anzuführen, ins Leere lief. 150 Vgl. DH 1191. 151 Vgl. DH 1207. 152 Vgl. DH 1227. 153 Vgl. DH 1209. 146

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Mit dem dritten verurteilten Satz griff Eck unmittelbar Luthers Argumentation in der Resolutio auf, doch auch die beiden anderen zielten auf dieselbe Frage: In ihnen zeichnet sich das Bild einer Kirche ab, die jedenfalls nicht auf einen Nachfolger Petri als irdisches Haupt angewiesen ist. Das trieb die Diskussion weiter, als es sich durch Luthers Position bislang nahegelegt hatte, da dieser zwar das ius divinum, nicht aber gänzlich das Recht der päpstlichen Leitung der Kirche bestritten hatte. Rhetorisch verband Eck die beiden unterschiedlichen Positionen, indem er einerseits die von ihm aufgelisteten Verurteilungen in dem Sinne zusammenfasste, dass seit den Anfängen der ersten Kirche alle Christen davon überzeugt gewesen seien, dass der Primat des Papstes nicht allein iure humano begründet sei155, und andererseits Luther vorwarf, durch seine Bestreitung der Begründung iure divino den Böhmen in die Hände zu spielen156. Luther musste sich gegen diesen Vorwurf verwahren und tat dies mehrfach157, auch mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass ein Schisma der christlichen Liebe widerspreche158. Aber in der Sache verteidigte er doch einige der von Eck vorgebrachten Sätze, und zwar wenigstens die, die die Leitung der Kirche durch den Papst nicht grundsätzlich in Frage zogen, das heißt die Bestreitung der Heilsnotwendigkeit der Oberhoheit der römischen Kirche und die schon in der Resolutio angesprochene Ableitung der päpstlichen Macht aus kaiserlichen Dekreten. Erstes war ihm schon allein durch das angesprochene historische Argument widerlegt, dass es Christen – wie etwa Basilius von Caesarea oder Gregor von Nazianz – gab, die ohne diese Auffassung zu haben, selig geworden seien159. Allerdings verlangte die Rhetorik der Disputation auch ein gewisses Offenhalten und Hin und Her. So war für Luther trotz dieses klaren Gegenarguments ausdrücklich noch nicht entschieden, ob der Satz „Non esse de necessitate salutis Romanam ecclesiam esse superio-

154

WA 59,461,880–888. WA 59,461,894–896. 156 WA 59,461,903–906. 157 WA 59,466,1043f. gelegentlich kam es auch zu einem sehr direkten Schlagabtausch. So führte Eck aus: „Quod reverendus pater, honorem suum excusaturus, negat se Bohemorum patronum, si facta verbis responderent, magnificarent eum, at ultima primis non concordant, cum pestilentissimos Hussitarum errores non christiane dicat christianissimos. At de his posterius.“ (WA 59,468,1107–1110) und setzte hinzu, dass Luther „haereticorum [...] perfidiam“ beschütze (WA 59,468,1115f). Daraufhin unterbrach in Luther mit einer ausdrücklichen protestatio: „Protestor [...] coram vobis omnibus, quod egregius dominus doctor haec impudenter et mendaciter de me loquitur.“ (WA 59,468,1118f). Die Frage der Häresie brachte naheliegender Weise Brisanz und Emotionalität in den Disput – Luther musste bewusst sein, dass eine solche Zuordnung zu einer bekannten Häresie den Bruch mit der Kirche bedeutete. 158 WA 59,462,913–915. 159 WA 59,466,1056–1058. 155

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rem aliis“ wirklich häretisch sei160. Auch gegen den zweiten zählte das historische Argument, das Luther ja schon in der Resolutio vorgebracht hatte, dass nämlich Platina eben dies darlege, dass die päpstliche Macht von der kaiserlichen stamme161. Die Weise aber, in der Luther dies nun vortrug, ging über die vorsichtige Abwägung und die fast spielerischen Wendungen in der Resolutio hinaus. Und Luther steigerte seine Haltung zu Hus gegenüber der Resolutio noch weiter: Hatte er dort sich selbst von einer Auffassung des Hus distanziert, zugleich aber deutlich gemacht, dass diese von vielen Christen geteilt wurde, so erklärte er nun in aller Deutlichkeit „Secundo, et hoc certum est, inter articulos Ioannis Huss vel Bohemorum multos esse plane christianissimos et evangelicos, quos non possit universalis ecclesia damnare, velut est ille et similis, quod tantum est una ecclesia universalis.“162

Diesen Lehrsatz zu verurteilen, bedeute, so Luther, sich gegen das Glaubensbekenntnis zu stellen163. Tatsächlich hatte der verurteilte Satz so plan nicht gelautet, sondern die eine Kirche mit dem numerus praedestinatorum gleichgesetzt164, wie Eck später betonte165. Eben hier aber begann sich schon in großer Schärfe eine ekklesiologische Differenz abzuzeichnen, die ihre Wurzel in unterschiedlichen Lesarten Augustins166 hatte: Luther betonte, dass dieser Satz, angewandt auf den numerus praedestinationis, letztlich nicht hussitisch, sondern augustinisch sei167. Ohne allerdings die naheliegende und ihm später von Eck aufgezwungene Konsequenz zu ziehen, das Konzil zu schelten, gebrauchte er hier dieselbe Argumentationsfigur wie in der Resolutio: Er erbrachte den Nachweis, dass ein verurteilter Satz von Jan Hus tatsächlich von anerkannt Rechtgläubigen, ja, sogar einem Kirchenlehrer vertreten wurde. Eck hingegen konterte mit der ekklesiologischen Vorstellung, dass die Kirche

160

WA 59,479,1459–1461. WA 59,467,1077–1083. 162 WA 59,466,1048–1050. Zur Reaktion Herzog Georgs auf die partielle Anerkennung des Hussitismus s. JADATZ, HEIKO, Herzog Georg von Sachsen und die Leipziger Disputation, in: Hein / Kohnle, Leipziger Disputation (wie Anm. 4), 73–86, 73. 85. Für Eck war diese Aussage einer der Punkte, um derentwillen er beim Kurfürsten Klage über Luther führte (WA.B 1,460,26–29 [Nr. 192 Vorgeschichte]). 163 WA 59,466,1051–1054. 164 DH 1201. 165 WA 59,489,1755–1762. 166 S. die hilfreichen hermeneutischen Erwägungen zur Augustindeutung bei MARKSCHIES, CHRISTOPH, Taufe und Concupisentia bei Augustinus, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Freiburg / Göttingen 2001 (DiKi 11), 92–108, insbesondere 103f. 167 WA 59,478,1423–1426. 161

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auch Sünder enthalte168, was durch den verurteilten Satz ausgeschlossen sei169. Zugespitzt gesagt, standen hier einander das Konzept der verborgenen Kirche auf Seiten von Hus und Luther und die Betonung der sichtbaren Kirche auf Seiten von Johannes Eck gegenüber. Dass es von der Papstfrage auf diese Zuspitzung kam, legt sich durchaus nahe, da ja eben die zu diskutierende Frage, wer das Haupt der Kirche sei, wie der Streit um die Bibeldeutung weiter unten zeigen wird, eben mit dieser Unterscheidung von Verborgenheit und Sichtbarkeit zu tun hatte: Während Luther in Anlehnung an den Ersten Korintherbrief eine ganz auf Christus als das Haupt konzentrierte Ekklesiologie vertrat, hielt Eck dem entgegen, dass dieses Haupt irdisch durch den Papst als seinen Stellvertreter repräsentiert werde. Die Problematik der Konstanzer Verurteilung aber sah Luther nicht allein in den unmittelbar auf die Papstfrage bezogenen Sätzen. Verurteilt worden war auch die Lehre „Duae naturae, divinitas et humanitas, sunt unus Christus“170, zu welcher die Bearbeiter des Enchiridion symbolorum vermerken, dass dieser Satz „ein verstümmelt Artikel“ sei und es nicht mehr klar werde, „was eigentlich beanstandet wurde“171. Dies war auch Luther deutlich, und so vermerkte er zu diesem Artikel schlicht. „Hos articulos, credo, confitetur mecum dominus Ioannes Eccius“172. In der Gewissheit, dass ihm sein Gegner hinsichtlich der Rechtgläubigkeit der christologischen Lehre zustimmen müsse, verband Luther selbst die Frage der Berechtigung der Verurteilung mit dem Status der Konzilsentscheidung, indem er die Vermutung äußerte, dieser Artikel sei sekundär in die Konzilsakten eingetragen worden173. Es ist kaum zu erschließen, ob Luther tatsächlich dieser Meinung war, oder er lediglich auf diese Weise den Versuch machen wollte, die Folgerung zu vermeiden, dass er die Autorität des Konzils angriffe. Jedenfalls aber war so genau die Frage hiernach in aller Deutlichkeit gestellt – und eben das war das Ziel, auf das Eck die Debatte hintrieb. Die inhaltliche Debatte, um die es Luther ging, nahm er nur sehr begrenzt auf, musste dies aus seiner Warte, da es sich ja um verurteilte Sätze handelte, auch nicht: „Nec imponat mihi reverendus pater quos velim de illis articulis iudicare, quia iam iudicati sund.“174. So hat er die schwer nachvollziehbare Verurteilung des Satzes von den zwei Naturen Christi mühsam in dem Sinne interpretiert, es dürfe hier nicht divinitas und 168

Zur Bedeutung dieses Satzes für Eck s. BÄUMER, Ekklesiologie (wie Anm. 136),

140. 169

WA 59,489,1755–1762. DH 1204; s. WA 59,479,1441–1443. 171 Anmerkung zu DH 1204. Die Herausgeber weisen darauf hin, dass die beabsichtigte Spitze der Verurteilung darin lag, dass der Satz mit einem Hinweis auf die Leitung der Kirche der Prädestinierten durch Christus fortgesetzt wurde. 172 WA 59,478,1429–1430. 173 WA 59,479,1445. 174 WA 59,489,1749f. 170

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humanitas stehen, sondern Deus und homo175, was der Pointe schwerlich gerecht wurde. Wichtiger war ihm wohl auch hier, an der Faktizität und damit eo ipso gegebenen Berechtigung der Verurteilung festzuhalten. So verwies er auf den 1500 in Hagenau durch Hieronymus von Croaria176 vorgenommenen Druck der Konzilsakten als Beleg für die Authentizität auch dieser Verurteilung177. Die Bestreitung des Satzes durch Luther konnte also nicht einem Interpolator gelten, sondern traf das Konzil selbst – und eben dies machte Eck zum Thema. Denn, so Ecks Angriff, mit der Bejahung der hussitischen Sätze als gut christlich habe Luther sich gegen das Konzil von Konstanz gestellt178. Nachdem im Vorfeld die Frage des Konzils nur en passant angesprochen worden war, traf Eck Luther hiermit an einem Punkt, an dem diesem – im Unterschied zu der Papstfrage, zu der er sich gründlich biblisch präpariert hatte – noch das Instrumentarium für eine geschlossene Argumentation fehlte. Seine unmittelbare Reaktion auf Ecks Vorwurf war denn auch lediglich eine protestatio: „Protestatus est hoc loco dominus doctor Martinus, non esse verum, quod contra Constantiense concilium dixerit. Eccius contra offert se hoc probaturum ex scriptis et dictis.“179

Dies war nicht das erste Mal, dass Luther seinem Widerpart ins Wort fiel, aber es war eine entscheidende Stelle: Der Einwurf Luthers ist jedenfalls so zu verstehen, dass er der Meinung war, bis zu diesem Zeitpunkt der Debatte die Autorität des Konzils nicht hinterfragt zu haben – obwohl er dessen Verurteilungen der Sache nach bestritten hatte. Es hat den Anschein, dass ihm erst jetzt bewusst wurde, dass beides nicht miteinander vereinbar war, und er bemühte sich, seine eigenen Aussagen konzilshermeneutisch abzusichern, indem er darauf verwies, dass es bei Konzilsverurteilungen Unterschiede des Grades gebe, dass nämlich unterschieden werde zwischen Artikeln, die haeretici, erronei, blasphemi, temerarii, seditiosi und piarum aurium offensivi seien180. Dies konnte zwar den Vorwurf der Häresie abschwächen, allerdings, 175

WA 59,489,1767–1770. Zu ihm s. SOLLEDER, FRIDOLIN, Art. Croaria, Hieronymus von, in: NDB 3, Berlin 1957, 416 f; zur Kenntnis dieser Ausgabe durch Luther s. SCHÄFER, Luther als Kirchenhistoriker (wie Anm. 76), 209. 177 WA 59,489,1737–1740; vgl. Acta Scitu dignissima docte|que concinnata Constantiensis | concilii celebratissimi., Hagenau: Gran 1500. 178 WA 59,472,1230–1236. 179 WA 59,472,1237–1239. 180 WA 59,479,1446–1448; vgl. das Urteil gegen Jan Hus am 6. Juli 1415: „ex eis plures esse erroneos, alios scandalosos, aliquos piarum aurium offensivos, pluresque eorum esse temerarios et seditiosos, et nonnullos eorumdem esse notorie haereticos (Joseph Wohlmuth [Hg.], Dekrete der Ökumensichen Konzilien. Bd. 2: Konzilien des Mittelalters, Paderborn u.a. 2000, 426,34–36): Luther hatte sich offenkundig genau über die Verurteioung kundig gemacht. 176

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wie Eck zu Recht vorbrachte181, kaum die Aussage begründen, dass die verurteilten Artikel christianissimi seien. Damit musste sich zwischen den Disputanten die Frage der Irrtumsfähigkeit eines Konzils stellen, denn, so hielt Eck in aller Deutlichkeit fest: Wenn das Konzil tatsächlich in den von Luther genannten Artikeln geirrt habe, so war seine Autorität grundsätzlich in Frage gestellt182. Dabei hatte Luther schon früh konstatiert, dass ein Konzil irren könne. In Auseinandersetzung mit Silvester Prierias erklärte er bereits 1518: „Nec satis ibi esse credo etiam factura ecclesiae (quanquam hic non sit factum ecclesiae), quia tam Papa quam concilium potest errare, ut habes Panormitanum egregie haec tractantem li. i. de const. c. significasti.“183

Die Stoßrichtung lag dabei auf der Irrtumsfähigkeit des Papstes, was auch daran deutlich wird, dass Luther im selben Zusammenhang das Konzil als maßgebliche Repräsentation der Kirche ins Feld führte184. Aber immerhin war damit auch die Fallibilität des Konzils angesprochen. Freilich war damit noch nicht geklärt, in welchen Fragen ein solcher Irrtum geschehen konnte, denn an der von Luther aus dem Kommentar des Nikolaus von Tudeschis, des ehemalige Erzbischofs von Palermo (daher Panormitanus)185, zum Liber Extra enggeführten Stelle, war das Beispiel für die Irrtumsfähigkeit eines Konzils nicht dogmatischer Art186, sondern betraf das Verbot der Ehe zwischen Vergewaltiger und Vergewaltigungsopfer187. Dieser Horizont ist auch zu beden181

WA 59,489,1750–1763. WA 59,473,1250–1252. 183 WA 1,656,30–33. Darauf, dass diese Bemerkung „bloß nebenbei“ erfolgte und keine grundsätzlichen Zweifel am Konzil schüren sollte, verweist SELGE, Normen (wie Anm. 3), 63. Insofern ist die Meinung von LOHSE, Luther und Huß (wie Anm. 43), 72, Luther habe in Leipzig erstmals die Unfehlbarkeit des Konzils geleugnet, zwar literal nicht ganz richtig, trifft aber doch den argumentativen Duktus und vor allem das Gewicht der Erkenntnis. 184 WA 1,656,36f. 185 KALB, HERBERT, Art. Nicolaus de Tudeschis, in: LThK³ 7 (1998), 869. 186 VOIGT-GOY, CHRISTOPHER, „dictum unius privati“. Zu Luthers Verwendung des Kommentars der Dekretale Significasti von Nicolaus de Tudeschis, in: Patrik Mähling (Hg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS Manfred Schulze,, Bern u.a. 2010 (AHSysTh 13), 93–114,104. 187 NICOLAUS DE TUDESCHIS, Lectura [unpag.; online: http://dfg-viewer.de/show/ ?set[image]=188&set[zoom]=default&set[debug]=0&set[double]=0&set[mets]=http%3A% 2F%2Fdaten.digitale-sammlungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00035290_mets.xml; Zugriff am 31.3.2013 gezählt als f. 92r; vgl. NÖRR, KNUT WOLFGANG, Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), Köln / Graz 1964 (FKRG 4), 104–106] . Den Hintergrund dieser Aussage hat VOIGT-GOY, dictum (wie Anm. 186), 94–98, erhellt: In C. 36 q. 2 c. 10f hat Gratian konziliare Beschlüsse, die eine Ehe zwischen dem Vergewaltiger und seinem Opfer verboten unter Verweis auf Hieronymus korrigiert (Corpus iuris canonici [Ed. Friedberg, wie Anm. 2] I, 1291f), was eine längere kirchenrechtliche Diskussion nach sich zog. Die kirchenrechtliche Diskussion wie der Text bei Nikolaus de Tudeschis 182

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ken, wenn Luther in der Leipziger Disputation auf den Gedanken der Irrtumsfähigkeit des Konzils bei Panormitanus zu sprechen kommt188. Grundsätzlich bewegte er sich damit in einem nach spätmittelalterlichem Recht möglichen Bereich, zumal er auch in Leipzig zunächst hervorhob, dass er die Autorität des Konzils „in his quae sunt fidei“ nicht tangieren wolle189. Neben diese grundsätzlich affirmative Sicht trat aber im Verlauf der Leipziger Disputation zunehmend eine andere: Schon die genannte Bestätigung der Verbindlichkeit des Konzils in Glaubensdingen war mit einer leisen Einschränkung verbunden. Luther fügte nämlich hinzu: „Hoc solum mihi reservo quod et reservandum est, Concilium aliquando errasse et posse errare, praesertim in his quae non sunt fidei”190. Das praesertim eröffnete mithin, über den Beleg bei Panormitanus hinausgehend, durchaus die Möglichkeit eines gelegentlichen Irrtums des Konzils auch in Glaubensdingen und stelle die Kirchenversammlungen mithin grundsätzlich unter die Disposition, dass ihre Entscheidungen der Überprüfung bedurften191. Leitlinie hierfür war die klare Unterscheidung vom ius divinum, das zu begründen ein Konzil nach Luther nicht die Autorität besaß192. Vielmehr sei dieses allein als creatura istius verbi (dei)193 zu verstehen. Die ekklesiologisch entscheidende Wendung aber war die, dass Luther die schon in den Asterisci angewandte Argumentation, dass der Papst irren könne, weil er Mensch sei, nun auf das Konzil ausdehnte194. Damit war ein Punkt erreicht, der durchaus auf der Linie der Vorstellung von der Repräsentation der Kirche durch das Konzil lag, diese aber nun institutionenkritisch anwandte: wenn das Konzil rein menschlicher Art war,

selbst belegen freilich, dass dieser nicht nur die „Möglichkeit“, sondern auch das „Faktum“ eines Konzilsirrtums behauptet hatte („potest errare sicut alias errauit“ [NICOLAUS DE TUDESCHIS,Lectura{unpag.;inhttp://dfg-viewer.de/show/?set[image]=188&set[zoom]= default&set[debug]=0&set[double]=0&set[mets]=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-samm lungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00035290_mets.xml; Zugriff am 31.3.2013 gezählt als f. 92r}], in der Behauptung Letzterem also nicht, wie MOELLER, BERND, Luther und das Papsttum, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen ²2010, 106–115, 112, meint, der entscheidende Unterschied Luthers zu Panormitanus liegt. Vielmehr liegt die Differenz im Gegenstandsberiech, auf den sich der Irrtum bezog. 188 WA 59,480,1466f. Dabei hebt FUCHS, Konfession und Gespräch (wie Anm. 1), 178, zu Recht hervor, dass dieser Rückgriff auf spätmittelalterliches Kirchenrecht letztlich von schrifthermeneutischen Einsichten geleitet und getragen war. 189 WA 59,500,2080f. 190 WA 59,500,2081–2083. Hierüber schreibt Luther am 20. Juli 1519 an Spalatin: „Ego palam fassus sum, Esse aliquot Articulos impie damnatos, ut qui essent Pauli, Augustini, denique ipsius Christi apertis & claris verbis docti.“ (WA.B 1,422,71–73 [Nr. 187]). 191 WA 59,480,1473f. 192 WA 59,500,2083f; 513,2484–2486. 193 WA 59,479,1465. 194 WA 59,480,1473f.

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war die Differenz zum ius divinum der Sache nach deutlich – und eine theologisch legitimierte Autorität letztlich nicht mehr begründbar. Dem musste Eck entgegenhalten, dass bei aller Irrtumsfähigkeit einzelner Menschen das legitim versammelte Konzil „non humano sensu sed spiritu divino“ geleitet werde195. Nach ihm also kam dem Konzil aufgrund seines synodalen Charakters eine eigene Dignität zu, die nicht aus der Beschaffenheit der Teilnehmer resultierte, sondern eben aus dem der Gesamtheit eines Konzils zukommenden Auftrag. Die von Luther vorgebrachte reine Menschlichkeit des Konzils war für Eck untragbar196, da sie das kirchlich approbierte ekklesiale Autoritätensystem des Mittelalters aushebelte197, welches Eck gegenüber Luther noch einmal zusammenfasste: „Unde potius hoc constantissima fide tenere debemus, quicquid concilia legitime congregata in iis quae sunt fidei determinaverint, definiverint, esse certissimumm. Sic enim Christus manet nobiscum usque ad consummationem saeculi; et ‘si duo congregati fuerint in nomine meo etc.’“198

Luther war in seine gegenteilige Position durch die Debatte mit Eck getrieben worden199, zugleich hatte er darin Gedanken zugespitzt, die ihn seit Anfang 1518 beschäftigten. Nun aber wurde ihm der Gedanke von der Irrtumsfähigkeit des Konzils zu einer Gewissheit, und er forderte seinerseits von Eck, ihm nachzuweisen, dass ein Konzil nicht irren könne 200. Angesichts dieses Zweifels aber sah Eck in ihm keinen Christen mehr, sondern einen Heiden201. Die Konzilsfrage markierte die häresiologische Grenze zwischen Luther und Eck, führte letztlich dazu, dass Luther in seiner bisherigen Kirche keine Heimat mehr haben konnte. Der positive theologische Grund aber, der hierzu führte, lag tiefer: in der Bestimmung des ius divinum. Denn nach Luther ließ sich allein nach diesem bemessen, was Häresie sei und was nicht202.

195

WA 59,491,1795. WA 59,490,1785f. Luthers Auffassung ist letztlich Folge einer Entwicklung im Kirchenbegriff, in deren Verlauf Kirche immer mehr als geordnete Gemeinschaft vieler einzelner verstanden wurde. Diese Vorstellungen lassen sich bereits bei Wilhelm von Ockham beobachten (s. MIETHKE, JÜRGEN, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 502– 516), haben dann aber auch in der Kirchenrecht, zumal den von Luther benutzten Panormitanus, Eingang gefunden (s. VOIGT-GOY, dictum (wie Anm. 186), 104). 197 Zu spätmittelalterlichen Ansätzen, die Irrtumsfähigkeit des Konzils zu behaupten s. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt ²2012, 220f. 198 WA 59,490,1788–1792. 199 Vgl. SELGE, Leipziger Disputation (wie Anm. 136), 36. 200 WA 59,508,2307. 201 WA 59,511,2415–2418; vgl. Zur Bedeutung dieser Kontroverse LOHSE, Luther und Huß (wie Anm. 43), 73. 202 WA 59,508,2308–2311. 196

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3. Die Rede vom Ius divinum verknüpfte die Papstfrage mit der Bestimmung der Autoritäten und trug so zur Herausbildung der reformatorischen Schriftlehre bei. Das Problem des Papstamtes nämlich lag nach Luther ausdrücklich nicht in dessen faktischer Geltung: Wenn alle Christen übereinkämen, einen Bischof zu ihrem obersten zu machen, wäre dies unproblematisch, hätte aber eben nur iure humano Geltung203. Grundlage theologisch verbindlicher Aussagen jedoch konnte nur das ius divinum sein, das Luther in der Leipziger Disputation klar mit der göttlichen Schrift identifizierte, wenn er Eck etwa entgegenbrachte: „Satis miror, egregium dominum doctorem instituisse probare ius divinum, et usque hodie ne unam syllabam quidem scripturae inducit, sed tantum dicta et facta patrum eademque sibi ipsis repugnantia“204

Diese Bestimmung macht die Weiterentwicklung in Luthers Denken gegenüber den Asterisci deutlich. Sieht man das ius divinum tatsächlich als eine Entsprechung zur Lehre Christi – und anders wird man beides schwer in ein Verhältnis zueinander setzen können – , so war nun die Bestimmung deutlich enger geworden: Waren unter jenem auch die Lehren der patres und die canones, beides vielleicht zusammengefasst als decreta patrum, begriffen, so standen für Luther nun, ein gutes Jahr später, die Väter mit ihren Lehren und Taten ausdrücklich im Gegensatz zum ius divinum. Dies bedeutet letztlich eine Klärung einer im Mittelalter verbreiteten Unbestimmtheit aufgrund einer Schärfung der Differenzwahrnehmung. Denn die Deutung der Schrift als divina lex205, gerade auch im Unterschied zur Aussage von Konzilien, findet sich durchaus auch im Kirchenrecht, gerade an derjenigen Stelle im Decretum Gratiani, aus welcher Panormitanus die Irrtumsfähigkeit der Konzilien folgerte206: In seiner Bemerkung zu C. 36 q. 2 c. 11 erklärte Gratian über eine Konzilsaussage: „Hec auctoritas non preiudicat auctoritati Ieronimi, maxime cum illa testimonio diuinae legis nitatur.“207 Aber genau hier bestand keine 203 WA 59,439,205–210. Auch in den Schmalkaldischen Artikeln erwägt Luther noch, ob man unter Umständen ein Papstamt iure humano anerkennen könne, kommt aber zu dem Ergebnis: „Summa. Er kans nicht thun“ (WA 50,215,14–216,15); vgl. auch die berühmte Notiz Melanchthons zu seiner Unterschrift unter die Schmalkaldischen Artikel: „Ich philippus Melanthon halt diese obgestalte artikel auch fur recht und Christlich, Vom Babst aber halt ich, so ehr das Euangelium wollte zulassen, das yhm, umb fridens und gemeiner Einikeit willen der Jenigen Christen so auch unter yhm sind und kunfftig sein möchten, sein Superioritet uber die Bischove die ehr hatt Iure humano, auch von uns zu zu lassen sey“ (WA 50,253,11–15). 204 WA 59,463,960–962; vgl. zur klaren Schriftzentrierung auch WA 59,437,146–155. 205 Zur Austauschbarkeit von ius divinum und lex divina s. JEAN GERSON, Oeuvres complètes, ed. v. Palémon Glorieux. Bd. 3, Paris u.a. 1962, 135. 206 Zu diesem Hintergrund s. oben Anm. 186 und den dort genannten Aufsatz von VOIGT-GOY, dictum. 207 Corpus iuris canonici (Ed. Friedberg, wie Anm. 2) I,1292.

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Einigkeit: Panormitanus selbst kannte durchaus den Gedanken, dass der Papst ius divinum schaffe208. Luther hatte mit der Frage nach dem ius divinum eine rechtlich nicht geklärte Stelle getroffen und sich zunächst innerhalb der mittelalterlich vorgegebenen Möglichkeiten von einem sehr breiten Verständnis der Lehre Christi in den Asterisci zu einem immer engeren Begriff von der Zentralität der Schrift in der Leipziger Disputation entwickelt. Hier votierte er mit großer Eindeutigkeit für das im Mittelalter, auch von Panormitanus, nie bezweifelte Übergewicht der Schrift, und dem widersprach auch Eck nicht, sondern im Streit um den Papstprimat gestand er Luther durchaus zu, dass im Unterschied zum Kirchenvater das Bibelzitat selbst als divinum anzusprechen sei209. Zugleich aber konnte der Ingolstädter erklären: „Monarchia et unus principatus in ecclesia dei est de iure divino et a Christo institutus, quare textus sacrae scripturae vel historiae approbatae ei non adversantur“210,

also die Kirchenväter in das ius divinum integrieren211. Da er dies innerhalb eines Harmoniemodells tat, entstand für ihn hieraus kein Widerspruch: Erst dort, wo man, wie Luther eine Differenz zwischen der Lehre von Kirchenvätern und der Schrift feststellte beziehungsweise als hermeneutisch möglich annahm, stellte sich die Frage nach einer auch kritischen Zuordnung der Autoritäten zueinander. Wo also für Luther ein potentielles Gegeneinander und gegebenenfalls ein Ausschluss des einen durch das andere – konkret des Kirchenvaters durch die Bibel – gegeben war, ging Eck auch in Leipzig noch von jenem Harmoniemodell aus, das Luther 1518 geteilt, nun aber schrittweise hinter sich gelassen hatte: Nachdem zunächst im Vorfeld der Leipziger Disputation, die päpstlichen Bestimmungen aus dem harmonische Miteinander der Autoritäten herausgefallen waren, konnten nun auch die Kirchenväter nur noch dann als Autorität gelten, wenn ihre Lehren ihrerseits Ausfluss der Schrift waren. Für diesen Grundsatz berief Luther sich auf die regula Augustini, nach welcher gelte, „quod omnium sciptorum dicta iudicanda sunt per divinam scipturam”212. Akut wurde das Gegenüber von hermeneutischem Differenz- und Harmoniemodell in der Zuordnung von Schrift und Väterauslegung bei der Debatte 208

Kommentar zu Liber Extra, l. 5, tit. 7, c. 7 (Corpus Iuris Canonici [ed. Friedberg, wie Anm. 116] II 779): „Papa potest inducere novum articulum fidei declarando illud ius divinum“ (ABBATIS| PANORMITANI | COMMENTARIA | In Quartum & Quintum Decretalium Libros. | [...], Venedig 1617, 117va; vgl. hierzu NÖRR, Kirche und Konzil [wie Anm. 187], 124f). 209 WA 59,443,338 210 WA 59,435,72f. 211 Vgl. SELGE, Leipziger Disputation (wie Anm. 136), 32. 212 WA 59,509,2351f. Wiederholt verwies Luther auf den Hintergrund dieser regula Augustini in D. 9 c. 5 (Corpus iuris canonici [ed. Friedberg, wie Anm. 2] I, 17, zitiert von Luther in WA 59,466,1066–467,3; vgl. WA.B 1,468,104f (Nr. 192).

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um das Haupt der Kirche. Luther führte dafür, dass Haupt der Kirche Christus sei, 1 Kor 15,24f zusammen mit der Auslegung Augustins213 sowie 1 Kor 3,5 an214. Dem begegnete Eck nicht nur auf systematischer Ebene mit dem gleichfalls einer Harmonievorstellung verpflichteten Gedanken, dass Christus zwar Haupt des mystischen Leibes sei, der Papst als sein Stellvertreter aber die ecclesia militans anführe215, sondern er verwies auch auf Hieronymus, der erklärt habe, der Papst sei eingesetzt worden, um eben solchen Schismen zu wehren, wie sie in 1 Kor 3,5 begegneten. Hierauf nun erfolgte die für das Autoritätengefüge entscheidende Aussage Martin Luthers „Non patior propter minorem auctoritatem inductam me divelli a maiore, nec tantus est Hieronymus ut propter eum Paulum deseramus“216

In diesem Satz liegt die entscheidende Verschiebung vom Harmoniemodell zum Differenzmodell: Paulus und Hieronymus einander als höhere (maior) und niedere (minor) Autorität zuzuordnen, war gänzlich unproblematisch. Entscheidend aber war, dass Luther in der niederen Autorität die Gefahr sah, die höhere außer Kraft zu setzen, dass er also nicht eine Harmonie beider voraussetzte, sondern eine Differenz. Ecks Antwort machte diesen Unterschied der Ansichten noch einmal deutlich: „Et quamquam merito Paulum praeferat Hieornymo, pie tamen credendum est Hieronymum eo loco sententiam Pauli bene intellexisse“217

So sehr der Ingolstädter also bereit war, seinem Wittenberger Kollegen in der Abstufung der Autoritäten zu folgen, so wenig war er doch bereit, diese als neben- oder gegeneinanderstehend zu verstehen, sondern die niedere Autorität diente der Erschließung des Verständnisses der höheren und war grundsätzlich unter der Maßgabe eines weitreichenden Vertrauens zu lesen. Diese Auseinandersetzung um den Status des Hieronymus-Zitates zeigt zwar wohl am markantesten die Differenz der beiden Kombattanten, aber auch in anderen Zusammenhängen stritten sie um die Zuordnung von Schrift und Auslegung, und dies in dem selben Horizont eines Unterschiedes von Differenz- und Harmoniemodell: Eck brachte für sein Verständnis des Papstamtes Joh 5,19 vor: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn“ und deutete dies in dem Sinne, dass die irdische Kirche als Abbild der himmlischen zu gelten habe218. Die dabei offenbar über den Gedanken der Kirche als corpus Christi erfolgende Vermittlung bestritt Luther nun und be213

WA 59,437,131–138. WA 59,437,152–155. 215 WA 59,441,282–442,285. 216 WA 59,445,397f. 217 WA 59,450,566–568. 218 WA 59,435,75–79. 214

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tonte, dass in der Bibelstelle nicht von ecclesia triumphans und ecclesia militans die Rede sei, sondern es ausschließlich um das Verhältnis von Vater und Sohn gehe219. Demgegenüber verwies Eck auf die Deutung der Stelle bei Bernhard von Clairvaux in De consideratione ad Eugenium220, die stark ekklesiologisch ausgerichtet ist und die Bibelstelle zusammen mit anderen zur Einschärfung der kirchlichen Hierarchie benutzt221. In ähnlicher Weise wie Hieronymus las Eck hier also den bekanntlich auch von Luther hochgeschätzten222 Zisterzienserabt als Hilfe, den Sinn der Schrift zu erschließen, und eben diese Rolle bestritt ihm Luther, wenigstens in der von Eck intendierten Ausschließlichkeit: „divum Bernardum veneror et eius sententiam non contemno, sed in contentione accipiendus est sensus genuinus et proprius scripturae“223

Wie im Falle des Korintherbriefes brachte Luther also den genuinen Sinn der Schrift gegen die Väterauslegung ins Spiel: Das in der Resolutio vorgebrachte Argument einer eigenen, unabhängigen Betrachtung der Schrift trat hier also nicht ergänzend zu der Väterexegese hinzu, sondern wandte sich gegen diese. Wie weit sich Luther damit von seinem Gegenüber entfernt hatte, zeigte dessen Reaktion. Zwischen beiden war aber nicht allein die Frage, inwieweit Kirchenväter in die Deutung einzubeziehen waren, strittig, sondern auch die nach den weiteren hermeneutischen Regeln224. So führte Johannes Eck, wiederum zu 1 Kor 3,5 und 1,12f, die Luther gegen den Primat Petri vorgebracht hatte, an, Paulus spreche hier nicht generell vom Primat, sondern von einzelnen Personen. Luther aber erwiderte: „Me plus movet ipse textus Pauli, quam tam violenta et extorta distinctio, quia nulli prorsus innititur auctoritati, cum tamen velit e divino iure arguere“225

219

WA 59,438,155–151. WA 59,441,267–281; vgl. BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke. Lat. / dt. Bd.1, ed. v. Gerhard Bernhard Winkler, Innsbruck 1990, 730,7–18. 221 BERNHARD, Sämtliche Werke (wie Anm. 220) I,18–22. 222 S. BELL, THEO, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148); POSET, FRANZ, The Real Luther. A Friar at Erfurt and Wittenberg. Exploring Luther’s life with Melanchthon as guide, Saint Louis 2011. 223 WA 59,445,411–414. 224 In diesem Zusammenhang ist auch die Disputation zwischen Eck und Karlstadt bemerkenswert. So konstatierte Karlstadt: „Scire sanctam scipturam non est multas auctoritates memoriter recitare, sed spiritum introclusum in literis et dominum nostrum Christum quaerere et gustare, insuper auctoritates ex intentione scribentium proferre“ (Der authentische Text der Leipziger Disputation [1519], ed. v. Otto Seitz, Berlin 1903, 26) – eine wenig beachtete Vorform des Verweises auf das „Christum predigen vnd treyben“ Luthers (WA.DB 7,384,25f). 225 WA 59,455,709–711. 220

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Der Wittenberger Reformator lehnte also gerade das klassische scholastische Mittel der distinctio als Instrument der Exegese ab – gewiss nicht generell, aber doch in diesem Einzelfall. Ihr gegenüber zog er einen einfachen Bezug auf die Autorität vor. Freilich stand er auch hiermit wiederum nicht allein, denn umgekehrt warf Eck ihm an anderer Stelle vor, mit sophisticae cautelae zu argumentieren226. Wenigstens in der Polemik also war man sich einig, den biblischen Text nicht mit scholastischen Interpretationsmethoden überfrachten zu wollen. Die hermeneutischen Grundüberlegungen wurden dann vor allem in der Auseinandersetzung um die von Luther ja schon im Vorfeld herausgestrichenen zentralen Bibelstellen Mt 16,18 und Joh 21,17 spürbar. Für das Matthäuszitat stand aufgrund der von Luther im Vorfeld vorgebrachten Bedenken in Frage, inwieweit es überhaupt herangezogen werden könne, das heißt, inwiefern es im Sinne des zu verhandelnden status quaestionis als ius divinum angesehen werden könne. Als eben solches ius divinum führte Eck die Stelle ein227, und hieraus entspann sich eine charakteristische Diskussion zwischen ihm und Luther über das Verhältnis des ius divinum – hier von beiden als Heilige Schrift verstanden – und Kirchenvätern: Eck belegte den Bezug von Mt 16,18 auf den Papstprimat mit einer Fülle von Kirchenväterzitaten – und zwar eben von den Vätern, auf die Luther sich zuvor bezogen hatte: Hieronymus, Chrysostomus und Augustin – und der Glosse zur Stelle228. Als ihm Luther aber entgegenhielt, dass er nicht mit der Schrift, sondern eben nur mit den Sprüchen und Taten der Väter argumentierte229, erwiderte Eck, dass er das ius divinum nicht aus den Kirchenvätern ableite, sondern dass er mit ihnen zeigen wolle, dass diese der Meinung waren, dass der Primat Petri iure divino bestand230. In aller Deutlichkeit hat er so den Sinn seines Harmoniemodells unterstrichen, die Väterbelege zur Erhebung des wahren Sinns der Schrift zu nutzen. Dem stand in diesem Zusammenhang das klare Differenzmodell Luthers entgegen „Quodsi etiam Augustinus et omnes patres Petrum intellexerint per petram, resistam ego eis unus auctoritate apostoli Pauli, id est divino iure, qui scribit primae ad Corinthios 3.: ‚Fundamentum aliud nemo ponere potest, praeterquam quod positum est, quod est Iesus Christus’, et auctoritate Petri, primae 2., ubi Christum lapidem vivum et angularem appellat, docens, ut superaedificemur in domum spiritualem. Alioquin si Petrus esset fundamentum ecclesiae, lapsa fuisset ecclesia ad unius ancillae ostiariae vocem, quam tamen nec portae inferorum expugnare poterunt. Sequitur ergo, quod sancti patres, quando Petrum

226

WA 59,458,815–817; vgl. ähnliche Vorwürfe ebd. 486,1660–1667. WA 59,459,830–833; vgl. ebd. 494,1874f. 228 WA 59,459,835–460,377. 229 WA 59,463,960–962. 230 WA 59,470,1161–1164. 227

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appellant petram hoc loco, vel humana patiuntur vel aliquem alium sensum habent, de quo non pronuncio. “231

Der hermeneutischen Erschließung der Schrift durch die Väter antwortete Luther also mit der Selbsterschließung der Schrift durch die Konkordanz ihrer unterschiedlichen Aussagen. Er bewegte sich in solchen Argumenten immer stärker auf eine Abgrenzung der Schrift von der Tradition zu, während Eck die Frage aufwarf, mit welcher Autorität die von Luther in der Auslegung unterstellte Klarheit der Schrift behauptet werden könne: Es sei, so Eck, wahrhaft ein böhmischer, also hussitischer Irrtum die Schrift besser verstehen zu wollen als Päpste, Konzilien, Gelehrte und Universitäten232: Gegen Luthers Anspruch, dass nur die scriptura sacra zwingen könne, brachte er vor, dass eine für alle Christinnen und Christen zwingende Deutungsmacht allein durch die Autorität von Konzil oder Papst ausgeübt werden könne233. Gegenüber dem Anspruch auf rechte und klare Erkenntnis der Schrift brachte er also das Übergewicht der Tradition und der institutionellen Absicherung zur Geltung – ein Argument, das zweifellos insofern umso mehr Gewicht hatte, als Luther selbst nicht nur das ius divinum gegen einen Traditionskontext herauszuarbeiten suchte, sondern auch innerhalb des göttlichen Rechts selbst eine Abstufung vornahm: Als Eck ihm vorwarf, die Böhmen zu unterstützen, entgegnete er „inique faciunt Bohemi, quod se auctoritate propria separant a nostra unitate, etiamsi ius divinum pro eis staret, cum supremum ius divinum sit charitas et unitas spiritus.“234

Wenigstens zu dem relativ frühen Zeitpunkt der Disputation, an dem diese Bemerkung fiel, zeigt sich damit eine wenig geklärte Akzentuierung: ius divinum – im Sinne des mangelnden Primats des Papstes – konnte gegen ius divinum – im Sinne der sich in der Kircheneinheit ausdrückenden Liebe – stehen. Die darin liegende Spannung konnte Luther im Verlauf der Disputation nicht gänzlich aufheben. Die sich in der Deutung von Mt 16 zeigende Differenz zwischen Eck und Luther spiegelte sich dann auch bei der Behandlung von Joh 21,17. Wiederum belegte Eck mit Hilfe von Kirchenvätern, dass hierdurch der Primat Petri begründet sei235 und unterstrich, dass es sich bei diesem Beleg um ius divinum handle236, was ihm Luther auch zugestand 237. Strittig blieb aber die Deutung der Stelle. Während Luther proklamierte, den sensus evangelicus erho-

231

WA 59,465,1004–1014. WA 59,470,1176–1181. 233 WA 59,473,1253f. 234 WA 59,462,913–915. 235 WA 59,486,1077–487,1093. 236 WA 59,494,1877f. 237 WA 59,497,1988–1990. 232

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ben zu haben238, warf Eck ihm vor, mit seiner Interpretation Väter, Päpste und Konzilien gegen sich zu haben239. Der Sinn, den Luther in der Stelle fand, lag auf der Linie des zuvor schon in der Resolutio Dargelegten: pascere bedeute nicht Regieren oder Lenken, sondern Lehren, Predigen, Ermahnen, Beten und mit gutem Beispiel Vorangehen240. Hinzu komme die Konditionierung der Aussage durch die Liebe zu Jesus, die bedeute, dass hiermit ein Primat gar nicht fest und dauerhaft begründet sein könne, sondern ständig unter einer bestimmten Bedingung stehe241. Die hermeneutische Diskrepanz wurde vor allem an Ersterem, der Deutung von pascere deutlich: während Luther darauf beharrte, dieses Wort ausschließlich in dem Sinne verstehen zu dürfen, den die Schrift ihr selbst beimesse242, berief Eck sich zum einen auf die Deutung der Väter243, zum anderen aber, vielleicht noch charakteristischer, darauf, dass das von pascere abzuleitende Wort pastor ein Amt bezeichne244. Zwar zeigte auch dieses Argument die Wirkung humanistischer Bildung, mit der trotz einer gewissen Distanz auch Eck vertraut war245, aber die Herangehensweise unterschied sich signifikant von der Luthers: Dieser hatte in seiner humanistischen Ausbildung gelernt, einen Text in seinem historischen Horizont zu verstehen und wandte dies nun konsequent auf den normativen Text des ius divinum an. Eck hingegen argumentierte nicht so sehr von den Hintergründen und Kontexten her, sondern von den formativen Folgen, wie sie sich in der Ausgestaltung des pastor-Amtes zeigten. Auch in diesem Teil der Debatte also zeigte sich eine Auseinanderentwicklung der Standpunkte, die beide auch grundsätzlich formulierten: Eck zog aus dem Streit um den Primat des Papstes als Zwischenfazit: „Unde et ego istam conclusionem volo finire in praesentia, quod reputem sanctum Petrum primatum totius ecclesiae a Christo tenuisse ex promissione ei facta, Matthaei xvi., sicut intelligit Hieronymus, Cyprianus, Augustinus et alii […] Et per alia superius adducta reputo conclusionem illam a tot sanctis patribus et novissime per concilium Constantiense comprobatam, esse veram. Nolo tamen inniti propriae prudentiae, paratus captivare intellectum meum in his et quibuscunque aliis iudicio iudicum ordinandorum, sedis apostolicae et aliorum prudentium et bonorum virorum.“246

238

WA 59,497,1990–498,2002. WA 59,494,1880–1883. 240 WA 59,497,1990–498,2002. 241 WA 59,498,2025f. 242 WA 59,509,2355–2359. 243 WA 59,506,2254–2260. 244 WA 59,512,2441–2444. 245 WURM, Johannes Eck (wie Anm. 9), 95. Zu Ecks Bildungsgang s. WIEDEMANN, Eck (wie Anm. 7), 3–27. Die Biographie von Wiedemann hat bis heute keinen wissenschaftlich adäquaten Ersatz gefunden. 246 WA 59,520,2700–2702. 2713–1718. 239

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Für den Ingolstädter Professor also war es klar, dass der einzelne sich dem Urteil der kirchlichen Tradition, repräsentiert durch die Väter und das Konzil, zu unterwerfen habe. Die Autoritätenfrage war durch ein ekklesiologisch orientiertes Harmoniemodell aufgehoben, das nur eine potenzielle Differenz zugestand: nicht unter den Autoritäten, sondern zwischen den Autoritäten und der Vernunft des Einzelnen, sie sich dementsprechend nötigenfalls in den Gehorsam des Glaubens zu begeben habe247. Demgegenüber formulierte Luther, ebenso unmissverständlich: „Nec est in potestate Romani pontificis aut inquisitoris haereticae pravitatis, novos condere articulos fidei, sed secundum conditos iudicare. Nec potest fidelis christianus cogi ultra sacram scripturam, quae est proprie ius divinum, nisi accesserit nova et probata revelatio. Immo ex iure divino prohibemur credere, nisi quod sit probatum, vel per scripturam divinam vel per manifestam revelationem.”248

Ein reines Schriftprinzip war auch damit noch nicht formuliert, wie der der spätmittelalterlichen Diskussion entstammende249 Hinweis auf eine offenkundige Offenbarung zeigt, der jedenfalls noch Raum für eine Erweiterung des biblischen Befundes bot250. Und Luther hat auch ein solches klares Schriftprinzip keineswegs unmittelbar offensiv vertreten, sondern hat seine Position am 18. August 1519 gegenüber dem Kurfürsten durchaus konform mit der mittelalterlichen Theologie dargestellt: „[…] ich hab wohl etwa einen doctorem neben dem Text der Bibel wider einen andern, den Doctor Eck bloßnackt ohn Bibel einführet, gehalten und will mein Lebtag das zu tun nit abstehn.“251

Allerdings setzte er hernach hinzu: „Wo ich einen klaren Text hätte, wollt ich dabei bleiben, wann schon der Lehrer Auslegung dawider wäre“252,

247

Vgl. zur Geschichte dieser Formel: BIANCHI, LUCA, „Captivare intellectum in obsequium Christi“, in: RCSF 38(1983) 81–87. 248 WA 59,466,1059–1064. Der Hintergrund dieses Gedankens, neue Artikel zu begründen, erhellt aus der oben angeführten Panormitanus-Stelle aus seinem Kommentar zu Liber Extra, l. 5, tit. 7, c. 7: „Papa potest inducere novum articulum fidei declarando illud ius divinum“ (s. Anm. 208). 249 Luther selbst verweist auf Gerson, der im Liber de vita spirituali animae lectio 2 corollarium 5 die lex divina mit der revelatio verbindet (GERSON, Oeuvres 3 [wie Anm. 205], 135); deutlicher findet sich der Hinweis auf eine mögliche Spezialoffenbarung Gottes bei Wilhelm von Ockham (s. LEPPIN, Ockham [wie Anm. 197], 248f). 250 Entsprechend hält auch GRANE, Martinus Noster (wie Anm. 80), 85, für die Leipziger Disputation zu Recht fest: „It would be a misunderstanding to talk about a ‚Scripture principle‘“. Zur Bedeutung von Luthers Äußerung s. gleichwohl SPEHR, Konzil (wie Anm. 90), 149. 251 WA.B 1,467,71–73 (Nr. 192). 252 WA.B 1,468,113f (Nr. 192).

396

Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips

benannte also, unter Berufung auf die Aussage des Nicolaus de Tudeschis, wonach die Meinung eines einzelnen mit einem besseren Argument aus der Schrift gegebenenfalls dem Papst vorzuziehen sei253, für bestimmte Fälle durchaus ein der Tradition gegenüberstehendes Schriftprinzip. Das nicht restlos geklärte Nebeneinander beider Aussagen zeigt einerseits, dass Luther noch nicht prinzipiell ein Sola-scriptura-Prinzip vertrat, darf andererseits aber angesichts des vor allem für den ersten Satz zu veranschlagenden legitimatorischen Kontextes gegenüber dem Kurfürsten, nicht zu sehr gewichtet werden. Grundsätzlich war die Kriteriologie für theologisch legitime Aussagen in Leipzig entschiedener und klarer gewesen, als es diese nachträgliche Deutung vermuten lässt: Zwingend konnten nur solche Argumente sein, die der Schrift selbst entstammten. Kirchenväter und erst recht Konzilien traten demgegenüber in eine dienende und verweisende Funktion ein, nicht aber in eine generell erschließende, wie sie ihnen noch in den Asterisci bei Luther selbst und während der Leipziger Disputation nach Ecks Argumentation zugekommen war. Damit war das Differenzmodell zur Zuordnung von Schrift und Tradition weitgehend begründet.

4. Der Ausklang: Melanchthons Baccalaureatsthesen und das Prinzip Sola scriptura Luther war innerhalb von etwas mehr als einem Jahr in Auseinandersetzung eine weite Strecke gegangen. Er hatte mit einem Harmoniemodell der Autoritäten begonnen, das den Willen Christi gleichermaßen in Schrift, Vätern und canones gegeben sah. Die Frage des Papstprimats und Luthers Zweifel an dessen Alter hatten dann schon im Vorfeld der Leipziger Disputation dazu geführt, die päpstlichen canones aus dem Autoritätengefüge herauszubrechen. Zunehmend hatte der Wittenberger Theologieprofessor auch begonnen, die Schrift aus sich heraus zu interpretieren. Klare Konsequenzen zog er hieraus jedoch erst, gedrängt durch seinen scharfzüngigen Gegner Eck, aber auch in konsequenter Fortentwicklung des zuvor Angebahnten, auf der Leipziger Disputation: Nun wurde die Schrift neben einer möglichen weiteren Offenbarung die alleinige Quelle der kirchlichen Lehre. Dabei war die Bestreitung der 253

„nam in concernentibus fidem etiam dictum vnius priuati esset preferendum dicto pape si ille moueretur melioribus auctoritatibus noui et veteris testamenti quam papa“ ([Nicolaus de Tudeschis, Lectura super quinque libros decretalium. I: Super primum decretalium librum], [Basel: Wenssler, Ruppel und Richel 1477], [unpag.; inhttp://dfgviewer.de/show/?set[image]=188&set[zoom]=default&set[debug]=0&set[double]=0&set[ mets]=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-sammlungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00035290 _mets.xml; Zugriff am 31.3.2013 gezählt als f. 91v]); vgl. hierzu VOIGT-GOY, dictum (wie Anm. 186).

Kapitel 19

397

Verurteilung des Jan Hus in Konstanz zwar mit der Frage nach dem ius divinum aufs Engste verknüpft, stellte aber im strengen Sinne keine aktive Anwendung des Schriftprinzips auf die Kirchenlehre dar. Eher war Luther hier durch seine eigene Argumentation in eine so nicht gewollte Zwangslage gekommen, in welcher er die kirchliche Autorität in eben diesem Einzelfall bestreiten musste, ohne doch die weiteren Folgen in den Blick zu nehmen254. Diese weitere Entwicklung vollzog sich dann in der Wittenberger Arbeitsgemeinschaft durch Philipp Melanchthon. Als dieser am 9. September 1519 zur Erlangung des theologischen Baccalaureats 24 Thesen disputierte255, fand sich darunter auch die konsequente Folgerung aus der Leipziger Disputation: „Catholicum prater articulos, quorum testis est scriptura, non est necesse alios credere.“256, und unmittelbar damit verbunden auch die kritische Anwendung auf gültige Kirchenlehre: Die Bestreitung der 1215 dogmatisierten Transsubstantiationslehre konnte hiernach nicht mehr als häretisch gelten257. Damit war das Schriftprinzip als kritisches Formalprinzip der reformatorischen Bewegung in aller Klarheit herausgebildet258. Seine Entdeckung und Präzisierung war das Ergebnis eines guten Jahres der Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Johannes Eck. Luther ging in diese auf Grundlage eines gemeinspätmittelalterlichen Harmoniemodells der Autoritäten hinein. In einem allmählichen Prozess aber löste er sich hiervon und entwickelte ein Differenzmodell, welches schließlich in die reformatorische Grundüberzeugung des Sola scriptura mündete.

254

Sehr allgemein hält die große Bedeutung der Leipziger Disputation für die weitere Entwicklung auch AMANN, KONRAD, Die Leipziger Disputation von 1519 und die Reformation, in: ders. et al. (Hg.), Bayern und Europa. FS Peter Claus Hartmann, Frankfurt / M. u.a. 2005, 57–73, 71f, fest. 255 Zur Frage der Autorschaft s., freilich mit letztlich nicht zwingender Begründung MAURER, WILHELM, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 2, Göttingen 1969 (= ebd. 1996), 102. 256 MELANCHTHON, StA 1, 24,29f; vgl. Zu dieser Deutung der Baccalaureatsthesen KRUSE, Universitätstheologie (wie Anm. 42), 227. 257 MELANCHTHON, StA 1, 25,1f. 258 Vgl. MAURER, Melanchthon (wie Anm. 255), 102f. Ein anderes Ergebnis der Leipziger Disputation für Luther war die Überzeugung, dass der Papst, zumindest wenn man seine Macht so auslegte, wie Eck dies tat, der Antichrist sei (WA 6,429,33–430,6). Vorher hatte Luther die Vermutung, dass der Antichrist sein Unwesen in Rom treibe, nur vermutungsweise und brieflich geäußert (WA.B 1,270,11–13 [Nr. 121]; 359,28–30 [Nr. 161]). Dass Luther das „Disputationsziel(s)“ gehabt habe, „den Primatsanspruch des römischen Bischofs als Machwerk des Antichristen zu entlarven“ (SCHUBERT, Libertas disputandi [wie Anm. 71], 426), ist mit den Quellen nicht zu vereinbaren.

Kapitel 20

Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther Luther und die Mystik, Mystik bei Luther1: Das ist eine Fragestellung, die lange Zeit mit wenig Popularität in der lutherischen Forschung zumal Deutschlands rechnen konnte. Ulrich Köpf listet in seinem großen Abriss zur Mystik in der RGG die illustre Reihe derer auf, die eine Diastase zwischen Mystik und Protestantismus konstruiert haben: Sie reicht von Albrecht Ritschl über Adolf von Harnack bis hin zur Dialektischen Theologie und ihren Folgen, durch die, so Köpf, „jedes ernsthafte theologische oder gar religiöse Interesse an Mystik in der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Ächtung bedroht“ war2. Und es dürfte nicht die geringste Rolle spielen, dass auch die Inanspruchnahme einer Deutung Luthers vor mystischem Hintergrund durch Theologen wie Erich Seeberg3 und Erich Vogelsang4 im Dritten Reich Versuche, sich einem möglicherweise auch positiven Verhältnis Luthers zur Mystik zu nähern, nachhaltig diskreditiert hat. Zumal im deutschen Sprachraum gab es daher nach 1945 gute Gründe, das Thema nur mit Vorsicht zu behandeln, auch wenn ein in der Zeit des Dritten Reiches der bekennenden Kirche nahestehender5 Kirchenhistoriker wie Wilhelm Maurer keine Schwierigkeiten darin sah, 1949 in seiner Arbeit über die Freiheitsschrift Luther zwar von der mittelalterlichen Mystik zu unterscheiden, aber eine Verbindungslinie zu ihr zu ziehen, indem er als gemeinsame Wurzel Luthers und der Mystik die altkirchliche „Mysterientheologie“ annahm6 – wodurch er zu1

Vgl. zum Forschungsstand auch meine Zusammenfassung in: LEPPIN, VOLKER, B.I.5 Mystik, in: Luther Handbuch, ed. v. Albrecht Beutel, Tübingen 2005, 67–70. 2 KÖPF, ULRICH, Art. Mystik III.3. Christliche Mystik b) Mittelalter und Neuzeit, in: RGG4 5, 1663–1671, 1669. 3 S. KAUFMANN, THOMAS, Anpassung als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches, in: Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, ed. v. Thomas Kaufmann / Harry Oelke, Gütersloh 2002 (VWGTh 21), 122–272 4 LEPPIN, VOLKER, In Rosenbergs Schatten. Zur Lutherdeutung Erich Vogelsangs, in: ThZ 61 (2005), 132–142. 5 S. MÜLLER, GERHARD, In memoriam Wilhelm Maurer, in: LuJ 50 (1983), 16–19, 16; Maurer sah sich durchaus in seiner Lutherdeutung nahe bei Seeberg (ebd. 18). 6 MAURER, WILHELM, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21, Göttingen 1949, 51.

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Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther

gleich die starke Annäherung an die Vergottungslehre des Athanasius vorwegnahm7, die die Arbeiten der finnischen Lutherforschung prägen, um die seit einiger Zeit lebhaft gestritten wird8. Ungeachtet der möglichen Skepsis gegenüber dieser Forschungsrichtung, die vor allem aus dem offenkundig sie steuernden ökumenischen Interesse im Blick auf eine Annäherung von Luthertum und Orthodoxie resultiert9, ist es doch symptomatisch, dass hier die Frage nach mystischen Themen und Wurzeln mit aller Deutlichkeit aus dem außerdeutschen europäischen Luthertum gestellt wurde. Schon auf dem Lutherkongress von 1966 haben sich auffälligerweise mit Heiko Augustinus Oberman, Erwin Iserloh und Bengt Hägglund ein reformierter Lutherforscher aus den Niederlanden und ein Lutheraner aus Schweden sowie ein deutscher Katholik zu Worte meldeten – während die deutsche lutherische Lutherforschung nicht mit einem eigenen großen Referat vertreten war. Auch eines der wichtigsten Bücher, die die Debatte neu angestoßen haben, stammte von einem Niederländer: Theo Bell10. Mittlerweile ist nicht nur die offenkundige Nähe Luthers zu Bernhard ein wichtiger Gesichtspunkt auch in der deutschen Forschung11, sondern der Fragenkreis hat sich erweitert: Staupitz hat zunehmend Aufmerksamkeit nicht nur als Beichtvater, sondern auch

7

Ebd., 36. S. exemplarisch Luther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der abendländischen Theologie, ed. v. Simo Peura und Antti Raunio, Helsinki / Erlangen 1990 (SLAG A 25); PEURA, SIMO, Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Mainz 1994 (VIEG 152); zur finnischen Kritik an der modernen Lutherforschung grundlegend: SAARINEN, RISTO, Gottes Wirken auf uns. Die tanszendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Stuttgart 1989 (VIEG 137). Die Fülle der von Tuomo Mannermaa angestoßenen finnischen Arbeiten stellte jüngst vor: FORSBERG, JOHANUI Die finnische Lutherforschung seit 1979, in: LuJ 72 (2005), 147–182. Eine gediegene kritische Auseinandersetzung hiermit liegt vor bei BEUTEL, A LBRECHT, Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirklichkeit Gottes bei Luther, in: DERS.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 28– 44. 9 Insofern ist es bedeutsam, dass gerade an diesem Punkt der Annäherung die Arbeit von FLOGAUS, REINHARD, Theosis bei Palamas und Luther. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1997 (FSÖTh 78), äußerst kritisch ansetzt und zum Ergebnis einer „fundamentale[n] ontologische[n] Differenz“ zwischen Luther und Palamas kommt (438). 10 BELL, THEO, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux und Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (VIEG 148). 11 S. KÖPF, ULRICH, Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clairvaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, ed. v. Kaspar Elm, Wiesbaden 1994 (WMASt 6), 5–65, 13f; LOHSE, BERNHARD, Luther und Bernhard von Clairvaux, ebd., 271–301. 8

Kapitel 20

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als Ideengeber für Luther gefunden12, in jüngster Zeit ist auch Johannes Tauler13 wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. In diesem Zusammenhang spielt allerdings auch die Überlegung eine Rolle, ob Luther solche mystischen Autoren denn tatsächlich als Mystiker gelesen oder nicht vielmehr in ganz unmystischer Weise rezipiert habe14. Eine solche Klassifizierung in „Mystisches“ und „Nichtmystisches“, die sich zunächst einmal nahezulegen scheint, bringt nun allerdings auf die Schwierigkeit mit sich, dass der Begriff der „Mystik“ alles andere als trennscharf ist. Er ist vielmehr so schillernd und letztlich unbestimmt, dass Kurt Flasch in einem viel zitierten Appell ja sogar im Blick auf Meister Eckhart vor der Klassifizierung als Mystiker gewarnt hat15. Diese Forderung hat für sich, dass sie es ermöglicht, Eckhart unter einer manches eher verdeckenden und verunklarenden Deutungsschicht hervorzuholen – freilich mit dem dann wiederum in sich durchaus prekären Ergebnis, dass der so herauspräparierte Eckhart lediglich als neuplatonischer Philosoph übrig bleibt und seine theologischen Anteile in Flaschs Deutung unterbestimmt bleiben16. Auch ohne diese in Flaschs spezifischem Deutungszugriff liegende Problematik scheint sein Vorschlag wenig geeignet, der angestrebten Klärung des wissenschaftlichen Gespräches zu dienen: Durch Vermeidung des Begriffs „Mystik“ wird man der in seiner Unschärfe liegenden Problematik kaum entgehen. Seine Stärke besteht umgekehrt gerade darin, dass er auf ein vortheoretisches Bewusstsein zurückgreifen kann, das eine Gruppe von Autoren und Schriften durchaus zielsicher, aufgrund ihres Kreisens um das proleptische 12

S. zu Staupitz grundlegend HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: ARG 92 (2001), 6–41; vgl. zum Verhältnis zu Luther STEINMETZ, DAVID C., Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the protestant Reformation, Durham 1980; WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (VIEG 141). 13 LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261–277; OTTO, HENRIK, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (QFRG 75); WRIEDT, MARKUS, Mystik und Protestantismus – ein Widerspruch?, in: Mystik, Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, ed. v. Johannes Schilling, Leipzig 2003, 67–87. 14 BELL, Divus Bernhardus (wie Anm. 10), 367; OTTO, Tauler-Rezeption (wie Anm. 13), 207–211. 15 FLASCH, KURT, Die Intention Meister Eckharts, in: Sprache und Begriff. FS Bruno Liebrucks, ed. v. Heinz Röttges, Meisenheim am Glan 1974, 292–318. 16 Entsprechend steht auch bei dem Eckhart, den Kurt Flasch unter den „Klassikern der Theologie“ präsentiert, die philosophische Vernunft stark im Vordergrund der Beschreibung (FLASCH, KURT, Meister Eckhart, in: Klassiker der Theologie, ed. v. Friedrich Willhelm Graf, Bd. 1: Von Tertullian bis Calvin, München 2005, 145–173, besonders 152– 159).

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Erleben der für das Eschaton verheißenen Einheit mit Gott, als mystisch identifizierbar macht. So besteht jenseits der Radikalposition Kurt Flaschs durchaus ein gewisser Konsens zumindest über einige Schriften, dass sie, in welchem Sinne auch immer, mystisch oder mindestens mystagogisch seien. Das pseudodionysische Corpus ist hier zu nennen oder auch Bernhard von Clairvaux und in der Regel trotz Flaschs Einwänden auch Meister Eckhart. Aus diesem Befund hat der Germanist Kurt Ruh in seiner großen Geschichte der abendländischen Mystik die Folgerung gezogen, Mystik nicht durch eine abstrakte Wesensbestimmung zu definieren, sondern durch einen textlichen Zusammenhang mit jenen unangefochten als mystisch geltenden Schriften17. Diese pragmatische Herangehensweise entlastet zwar nicht völlig von den schwierigen Abgrenzungsfragen – vor allem ist natürlich jeweils zu fragen, ob in einem textlichen Traditionszusammenhang ganze Konzepte oder nur Bruchstücke tradiert werden –, aber sie erleichtert doch den Umgang mit dem Begriff der „Mystik“, indem sie diesen von weltanschaulichen Vorannahmen, gar von Rekursen auf Erlebnisse und dergleichen befreit. Ausschließlich in diesem Sinne ist es also zu verstehen, wenn im Folgenden von „Mystik“ im Zusammenhang mit Luther die Rede ist. Es wird ausschließlich darum gehen, den Traditionszusammenhang mit der spätmittelalterlichen Mystik, wie er bei Luther fassbar ist, nachzuzeichnen. Mystik hatte dabei für den jungen, sich im Kloster zum Reformator entwickelnden Mönch Luther eine doppelte Dimension: eine theologische, in der Lektüre greifbare, und eine Erfahrungsdimension. Letztere spielt in der Lutherforschung in der Regel eine nur sehr geringe Rolle, obwohl Luther sie ausdrücklich benennt. So reportiert Georg Rörer in der Nachschrift von Luthers Predigt zum Pfingstmontag des Jahres 1523 Luthers Aussage: „Multos vidi monachos et clericos, qui incerti sunt, et ego semel raptus fui in 3um celum“18

Die Paulusnachfolge Luthers also bezieht sich keineswegs nur, wie es protestantischen Wahrnehmungsmustern naheliegt, auf die plötzliche Bekehrung, die schon sein Ordensbruder Natin mit dem Erleben des Paulus parallelisiert hatte19, sondern auch auf die auch von Paulus selbst nur beiläufig und im Sinne des betonten Nicht-Rühmens angeführte visionäre Erfahrung im dritten Himmel (2 Kor 12,2), den klassischen mittelalterlichen Beleg für den raptus Pauli, das Dahingerissenwerden des Paulus in die himmlischen Sphären20. So weit man den späteren Rückblicken trauen darf, hat Luther diese Erfahrungen 17 RUH, KURT, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, 13f. 18 WA 11,117,35f. 19 Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), ed. v. Otto Scheel, Tübingen ²1929 (SQS.NF 2), 53 Nr. 136. 20 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (FKDG 63), 125f.

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keineswegs nur in biblischen Vorstellungen gedeutet, sondern wohl von früh an in den Kategorien des Corpus Dionysiacum: In einem sehr späten Rückblick innerhalb seiner Jesaja-Auslegung von 1543/4 erklärt er: „Nam fui et ego in ista schola, ubi putavi me esse inter choros Angelorum, cumtamen inter Diabolos potius sim versatus“ 21

Angesichts dessen, dass er schon sehr früh, in der Zeit seines Sentenzenkommentars Dionysios kannte22, können die Hinweise auf die Chöre der Engel deutlich aus Reflex auf die dionysischen himmlischen Hierarchien aufgeschlüsselt werden: Beide Texte gemeinsam weisen den jungen Luther durch seine spätere – und damit quellenkritisch immer problematische – Erinnerung als einen Mönch aus, der mystische oder visionäre Erfahrungen gemacht und diese offenbar auch mit Hilfe des dionysischen Corpus reflektiert hat. Das verweist auf den monastischen Kontext als Hintergrund einer mystischen Ausrichtung bei Luther, die dann aber noch ein klareres Ziel durch Johannes Staupitz erhielt, dem Luther bei seinem ersten Wittenberger Aufenthalt 1508/923 erstmals begegnete und an dem er sich, seit seine gegen die Pläne des Staupitz gerichtete Mission in Rom auf der Reise ins transalpine Gebiet 1510/1 nicht zum Erfolg gekommen war, immer stärker orientierte, bis hin zu seinem Wechsel nach Wittenberg und die Nachfolge des Staupitz in der Theologischen Professur24. Es ist vielfach betont worden, wie wichtig der Beichtiger Staupitz für Luther wurde – berühmt ist etwa jene Szene in Eisleben, die nach den Forschungen Wilhelm-Ernst Winterhagers wohl auf das Jahr 1516 zu datieren ist25: Luther erschrak im Zuge einer Fronleichnamsprozession in seiner Geburtsstadt Eisleben angesichts des Allerheiligsten26. Und 21

WA 40/3,657,35f. WA 9,63,6f; s. WIENEKE, JOSEF, Luther und Petrus Lombardus. Martin Luthers Notizen anläßlich seiner Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus Erfurt 1509/11, St. Ottilien 1995 (Diss.T 71), 84–88; zum Verhältnis Luthers zu Dionysios s. VOGELSANG, ERICH, Luther und die Mystik, in: LuJ 19 (1937), 32–54, S. 33–37. Dieser gelehrte Aufsatz von Vogelsang bedarf allerdings der sensiblen zeithistorischen Einordnung (s. LEPPIN, Rosenbergs Schatten [wie Anm. 4]). 23 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 22010. 24 Dass hier nicht von einer spezifischen Bibelprofessur gesprochen werden kann und sollte, hat KÖPF, ULRICH, Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, ed. v. Irene Dingel / Günther Wartenberg, Leipzig 2002 (LSt 5), 71–86, 76, eindrücklich gezeigt. 25 WINTERHAGER, WILHELM-ERNST, Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: Vita religiosa im Mittelalter. FS Kaspar Elm, ed. v. Franz J. Felten / Nikolas Jaspert, Berlin 1999, 707–738, 736f. 26 WA.TR 1,59,8–12 (Nr. 137): „Wie geschah mir? Ich erschrak ein mal fur dem sacrament, das Doctor Staupiz zu Isleben in der procession trug corporis Christi. Da gieng ich auch mit und hett ein priester kleyd an, beichtets darnach Doctor Staupiz, et dicebat mihi: Vestra cogitatio ist nit Christus.“ 22

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Staupitz, dem er sich damit zuwandte, tröstete ihn: „Es ist nicht Christus, was dich erschreckt hat, weil Christus nicht erschreckt, sondern tröstet“27. Immer wieder hat Luther betont, wurde ihm im Kloster in solcher Weise durch Staupitz, aber auch durch andere, ein anderer Christus als der, den er wohl als erschreckenden Richter in seinem Elternhaus kennengelernt hatte, vorgestellt. Schon sein Novizenmeister Johann Grevenstein28 – der nach Luther unter der „verdammten Kutte“ ein wahrer Christ gewesen sei29 – hatte ihn nach einer späten Erinnerung in seinen Anfechtungen darauf verwiesen, dass Gott die Christen zur Hoffnung aufgefordert habe30: Der klösterliche Kontext war keineswegs so ganz und gar von der Vorstellung eines richtenden Christus bestimmt, wie es Luthers eigene Pauschalierungen immer wieder suggerieren31. Von der „nahen Gnade“32 konnte Luther durchaus auch im Kloster erfahren33, von Anfang an durch seinen Novizenmeister, später dann vor allem durch den Oberen Staupitz. Und bei diesem gewannen die Hinweise, wie schon der Trost in Eisleben zeigt, eine stark christozentrische Zuspitzung, und zwar auf einen Christus, der in den mildesten, auch mystisch beeinflussten Tönen gezeichnet werden konnte: Nicht zuletzt weil Luther selbst das Bild später in der Freiheitsschrift aufnehmen sollte, kann als besonders kennzeichnend hierfür die Analogie zwischen der Beziehung des Gläubigen zu Christus und der von Bräutigam und Braut gelten, die Staupitz in seinem Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis am Vorabend von Luthers öffentlichem Auftreten verwandte: 27

WA.TR 2,417,14f (Nr. 2318a): „Non est Christus, quod te terruit, quia Christus non terret, sed consolatur“. Luther spricht hier nicht ausdrücklich von der Prozession in Eisleben, aber die Ähnlichkeit der argumentativen Figur zu dem direkt auf die Prozession bezogenen Bericht spricht dafür, dass es sich hier um dasselbe Ereignis handelt. 28 S. zu ihm KUNZELMANN, ADALBERO, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten. Fünfter Teil: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reformkongregation bis zum Untergang der beiden, Würzburg 1974, 461. 29 WA 30/3,530,25f; vgl. auch WA.B 9,133,40f: „Mein Praeceptor Im Closter, ein feiner alter Man“. 30 WA 40/2,411,14–412,1; vgl., offenbar auf dasselbe Ereignis bezogen, WA.TR 5,439,35 (Nr. 6017). 31 WA 10/3,357,25f; vgl. WA 41,197,5–201,19; WA 47,99,34–39; 109,42–110,2; 590,1–6. 32 S. HAMM, BERNDT, Die „Nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, ed. v. Jan A. Aertsen / Martin Pickavé, Berlin / New York 2004 (MM 31), 541–557. 33 Zur prägenden Wirkung von Luthers Klosterzeit vgl. KÖPF, ULRICH, Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984), 66–84; DERS., Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Markschies, Christoph / Michael Trowitzsch (Hg.), Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, 17–35.

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„Die verbindung Christi und der kirchen ist volkumen, dergestalt: ‚Ich nim dich zu der meinen, ich nim dich mir,ich nim dich in mich‘; und herwiderumb spricht die kirche oder die seel zu Christo: ‚Ich nim dich zu dem meinen, ich nim dich mir,ich nim dich in mich‘; domit Christus also sprech: ‚Der christen ist mein, der christen ist mir, der christen ist ich‘; und die braut: ‚Christus ist mein, Chirstus ist mir, Christus ist ich‘.“34

Es liegt auf der Hand, dass hier direkt oder indirekt die Einflüsse Bernhards spürbar sind. Aber die Spur von Staupitz führt nicht unmittelbar und ausschließlich zu Bernhard. Der mystische Autor, den er in Wittenberg möglicherweise eingeführt hat, der jedenfalls in dem ihn umgebenden Kreis mit besonderer Intensität gelesen wurde, war Johannes Tauler35. Und die Erinnerung Luthers scheint dafür zu sprechen, dass es gerade die Christozentrik von Staupitz, der Hinweis auf den gnädig sich zuwendenden Christus war, den seine Anhänger durch ihre Tauler-Lektüre bestätigt sahen. Für Luther ist hier jenes Geleitwort zu den Resolutiones einschlägig, auf dessen auffällige Parallelen zu Luthers „Großem Selbstzeugnis“ ich vor einigen Jahren hingewiesen habe36. Luther erinnert sich hier, wie Staupitz ihn in Fragen der Buße auf die gnädige Zuwendung Gottes verwiesen hat: „Memini, Reverende pater, inter iucundissimas et salutares fabulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari, incidisse aliquando mentionem huius nominis ‚poenitentia‘, ubi miserti conscientiarum multarum carnificumque illorum, qui praeceptis infinitis eisdemque importabilibus modum docent (ut vocant) confitendi, te velut e caelo sonantem excepimus, quod poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iusticiae et dei incipit, Et hoc esse potius principium poenitentiae, quod illis finic et consummatio censetur.“37

Es ist dieser Hinweis des Staupitz, durch den Luther sich auf die Wunden des Heilands verwiesen sieht38 – und er beschreibt das genau in offenbarungsartiger Weise. Hier müssen die einzelnen Argumente nicht wiederholt werden, die den Text als überaus gewichtige Parallele zu dem Großen Selbstzeugnis von 1545 erscheinen lassen: Auch der bislang deutlichste Kritiker meiner Überlegungen, Martin Brecht, stimmt darin überein, dass die Parallelen frappierend sind – sogar so frappierend, dass er meint, beide Texte müssten von demselben Ereignis sprechen39. Sollte dem so sein – dann käme zweifellos dem früheren 34

JOHANN VON STAUPITZ, Sämtliche Schriften, 2. Lateinische Schriften: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, ed. von Lothar Graf zu Dohna / Richard Wetzel, Berlin / New York 1979 (SuR 14), 145–147. 35 S. hierzu OTTO, Tauler-Rezeption (wie Anm. 13). 36 S. LEPPIN, „Omnem vitam“ (wie Anm. 13). 37 WA 1,525,4–14. 38 WA 1,525,21–23. 39 BRECHT, MARTIN, Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: ZThK 101 (2004), 281–291, 290. Allerdings scheint mir hier letztlich das Verhältnis der beiden Erinnerungsberichte Luthers ungeklärt: Wenn sie, wie BRECHT a.a.O. schreibt, „von demselben Ereignis und von derselben Sache“ handeln, müsste doch

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Text die Priorität und damit die Schlüsselrolle zum Verständnis des jungen Luther zu, was ebenfalls gilt, wenn man – wie ich selbst es für wahrscheinlich halte – die These eines psychologischen Durchbruchs beim jungen Luther gänzlich in Frage stellt und die Durchbruchsberichte eher als autobiographische Stilisierungen im Stile von Konversionsberichten40 versteht, in denen Luther langwährende Entwicklungen punktuell verdichtet41. Dann wäre jedenfalls nach seinem Erkenntnisstand im Jahre 1518 das entscheidende Leitwort für ihn die poenitentia gewesen, und der entscheidende Impulsgeber für seine Entwicklung Staupitz. Hat man so in dem Begleitschreiben zu den Resolutiones den eigentlichen Schlüsseltext für die Entwicklung des jungen Luther, wie er selbst sie relativ zeitnah sah, in der Hand, so lassen sich die mystischen Beiklänge schwerlich ignorieren: Am Auffälligsten dürfte sein, dass Luther den durch Staupitz entdeckten Christus mit eben jenem mystischen Epitheton „süß“ bezeichnet42, mit dem er am 14. Dezember 1516 Spalatin die Predigten Johannes Taulers empfohlen hatte43. Das Wortfeld jedenfalls weist auf einen mystischen Kontext hin, der sich bei einem Autor, der seine ersten Sporen als Herausgeber der Theologia deutsch verdient hat44, ja unschwer nahelegt. Folgt man diese Spur, so entsteht allerdings eine interessante Koinzidenz: Die Erinnerungen in den Resolutiones weisen in eine Zeit kurz vor der Kenntnisnahme des Erasmischen Griechischen Neuen Testaments, also in die Frühphase der Römerbriefvorlesung45 – und damit in jene Zeit, in der Luther aller Wahrscheinlichkeit nach mit Tauler konfrontiert wurde. Damit schließt sich wohl dem früheren Bericht die Priorität zukommen. Dann aber wäre das berichtete Ereignis nicht nur früher als bislang von Brecht angenommen, sondern auch zu einem anderen Inhalt, nämlich zur poenitentia statt zur iustitia. 40 S. hierzu ULMER, BERND, Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattungen. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: ZfS 17 (1988), 19–33. 41 S. zu dieser Argumentation LEPPIN, „omnem vitam“ (wie Anm. 13), 8–13. 42 WA 1,522,23. 43 WA.B 1,79,58–64: „Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarus est, quicquid nos sumus“. 44 S. die Vorworte WA 1,153 (1516); 378f (1518); zur theologischen Einordnung der Theologia deutsch s. PETERS, CHRISTIAN, Art. Theologia deutsch, in: TRE 33 (2002), 258– 262, sowie jetzt den Beitrag von Andreas Zecherle (Die ‚Theologie Deutsch‘. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat, in: Berndt Hamm / Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (SuR.NR 36), 1–96). Anhand von Randbemerkungen, die er Luther zuweist, kommt auch BRECHT, MARTIN, Randbemerkungen in Luthers Ausgaben der „Deutsch Theologia“, in: LuJ 47 (1980), 11–32, 32, zu der bemerkenswerten Feststellung, dass Luthers Anthropologie „durch mystische Vorstellungselemente mit geformt worden ist“. 45 Der Erasmus-Text erschien am 1. März 1516 in Basel (s. ALAND, BARBARA / ALAND, KURT, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart ²1989, 13). Luther benutzte ihn spätestens seiner Auslegung von Röm 9,19 an (WA 56,400,15).

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nun der Kreis: Oben wurde bereits angedeutet, dass Staupitz die Wittenberger interessierten Anhänger nicht allein auf seine eigenen Lehren hinführte, sondern auch und gerade als Impuls verstanden wurde, den seit Kurzem in zwei Drucken46 vorliegenden Johannes Tauler zu lesen und sich anzueignen. Wovon Luther also berichtet, ist eine von Staupitz beeinflusste Hinwendung zu Tauler. Wie für das Selbstzeugnis von 1545 ist es wohl auch hier müßig, der von Luther selbst gelegten Spur zu folgen und nach dem Moment zu suchen, an dem der Umschlag von einer vorherigen Zeit zu einer von Staupitz und Tauler beeinflussten Zeit erfolgte47: Dieses Geschehen ist nur in der nachträglichen Stilisierung momenthaft und plötzlich, tatsächlich handelt es sich um einen allmählichen Prozess, innerhalb dessen die Begegnung mit Tauler eine, freilich gewichtige Rolle gespielt hat. Wie gewichtig, das zeigt Luthers Schreiben an Staupitz vom 31. März 1518, in dem er irritiert auf den öffentlichen Sturm um seine Person seit dem Bekanntwerden der Ablassthesen zurückblickt: „Freilich bin ich der Theologie Taulers und jenes Büchleins gefolgt, das du neulich unserem Christian Goldschmied in den Druck gegeben hast“48. Noch in dieser Phase also, in der Luther schon zu einer öffentlichen Person geworden ist, sieht er selbst sich ganz im Strom der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Mystik. Wenn das aber so ist, dann stellt sich in aller Vorsicht die Frage, was denn eigentlich aus diesen mystischen Anfängen bei Luther geworden ist. Und je weniger plausibel das psychologische Muster eines Durchbruchs ist, desto stärker wird man das, was man Pesch als einen „über verschiedene Stufen“ sich vollziehenden Prozess einer „theologischem Umorientierung“ zu beschreiben hat49, auch daraufhin zu befragen haben, wie und inwiefern sich in ihm Trans-Formationen jener anfänglichen Mystik nachzeichnen lassen. Dabei wird man in dieser Transformation, wie es solchen Prozessen eigen ist, die Differenz des Ergebnisses zum Vorgegebenen ebenso zu beschreiben haben, wie die beibehaltende Identität. Eine solche Untersuchung müsste eigentlich das Ganze von Luthers Theologie in den Blick nehmen, was aber beim derzeitigen Forschungsstand noch nicht sinnvoll zu leisten ist. Ein Zugang zu dem Umbau mystischen Denkens 46

S. zur Druckgeschichte der Ausgaben von 1498 und 1508 OTTO, Tauler-Rezeption (wie Anm. 13), 29–41. 47 Zu der langen Forschungsgeschichte, die immer wieder um das Selbstzeugnis von 1545 in den Mittelpunkt stellte vgl. die instruktiven Sammelbände: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, ed. v. Bernhard Lohse, Darmstadt 1968 (WdF 123); Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart / Wiesbaden 1988 (VIEG 25), ed. v. dems. 48 WA.B 1,160,8f. 49 PESCH, OTTO HERMANN, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, in: Durchbruch (wie Anm. 47), 445–505, 500

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bei Luther kann derzeit nur exemplarisch erfolgen. Genau hierzu soll aber die hier vorliegende Skizze einen Beitrag leisten: Damit die exemplarische Arbeit beanspruchen kann, einigermaßen repräsentativ zu sein, werden für die Untersuchung solche theologischen Themen herausgegriffen, deren genuin reformatorischer Charakter zunächst einmal außer Frage stehen dürfte: die Polarität von Gesetz und Evangelium, die Rechtfertigungslehre und die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Dass die Kombination allein schon dieser drei Überzeugungen wichtige Elemente des Sets reformatorischer Theologie ausmachen, dürfte unmittelbar einleuchten: 1. Gesetz und Evangelium: Die Dialektik von Gesetz und Evangelium, ist bekanntlich ein Angelpunkt von Luthers Denken50. In ihrer vollen Gestalt ist sie in den Antinomerdisputationen zu greifen, aber die Entwicklung setzt schon in der Zeit der frühen Vorlesungen ein, auch wenn hier noch nicht die volle Begriffsschärfe wie später zu beobachten ist51. In den Texten der zwanziger Jahre, in denen man Luthers Theologie wohl unstrittig als reformatorisch ansprechen kann52, finden sich zwei wichtige Gesichtspunkte, an denen Luther theologisch arbeitet: Der eine geht aus von der hamartiologischen Einordnung der Wirkung des Gesetzes, wie sie sich im Römerbrief (Röm 5,20; Röm 7,7ff) findet, mit jenen harten Aussagen, nach denen das Gesetz geradezu als die Sünde mehrend vorzustellen ist. In der klaren Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die er in seiner lateinischen Epistel- und Evangelienpostille von 1521 vornahm, bearbeitet Luther ausführlich und in immer neuen Anläufen immer wieder diesen Gedankengang53. Wird durch diese Ausführungen der Gegensatz zum Evangelium besonders betont, so gibt es daneben, und der Sache nach untrennbar damit verbunden54, auch das Bemühen, die Zuordnung von Gesetz und Evangelium auszudrücken, das ja bei Augustin in De spiritu et littera ausgedrückt war: „Lex ergo data est, ut gratia quaereretur,

50

S. WA 7,502,34f; 36,9,224–31; 39/I,361,1–6; 40/I,207,3–5. Entsprechendes Gewicht erhält diese Unterscheidung in den modernen Darstellungen der Theologie Luthers: ALT7 HAUS, PAUL, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1994, 218–238; LOHSE, BERNHARD, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 283–294; BAYER, OSWALD, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 53–70; BEUTEL, ALBRECHT, C.III.2 Theologie als Unterscheidungslehre, in: Luther Handbuch, ed. v. Albrecht Beutel, Tübingen 2005, 450– 454, S. 451–453. 51 S. hierzu LOHSE, Luthers Theologie (wie Anm. 50), 284–287. 52 Zur Frage der allmählichen Entwicklung Luthers s. LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 23). 53 WA 7,503,4–504,5. 54 S. die explizite Zusammenführung von beidem in der Obrigkeitsschrift: WA 11,250,29–31: „Datzu gibt S. Paulus dem gesetz noch eyn ampt Ro: .7. unnd Gal: .2. das es die sund erkennen leret, damit es den menschen demütigt zur gnad unnd zum glawben Christi.“

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gratia data est, ut lex inpleretur“55. Charakteristisch für eine solche Zuordnung der beiden Weisen, in denen Gottes Wort ergeht, ist eine Aussage in der Kirchenpostille von 1522, die das Gesetz als eine Art Hinführung auf Jesus Christus beschreibt: „Das ander, das der mensch sich alßo durchs gesetz erkenne, wie falsch und unrecht seyn hertz sey, wie fern er noch von gott sey, wie gar die natur nichts sey, das er seyn erber leben vorachte und erkenne, wie es nichts sey gegen dem, das tzu des gesetzes erfullunge gehoret. Und alßo gedemuettigt werde, tzum creutz krieche, Christum erfeufftze und sich nach syner gnaden sehne, an yhm selbs gar vortzage, alle seynen trost auff Christum setze.“56

Über den augustinischen Hintergrund hinaus, verdichtet sich hier noch viel mehr: die Vorstellung des Demütigens greift offenbar ebenso selbstverständlich auf die Demutstheologie der frühen Vorlesungen zurück57, wie der Hinweis auf Christus als den alleinigen Trost einen Reflex auf jene Tröstungen darzustellen scheint, die Luther bei Staupitz erfahren hatte, wenn dieser ihm gesagt hatte, es sei nicht Christus, der erschrecke, sondern Christus sei es, der tröste (s.o.). Der Satz aus der reformatorischen Kirchenpostille verweist also sprachlich auf die Gärungsphase von Luthers Theologie. Und in dieser Perspektive ist es bemerkenswert, in welchem Maße die Nichtigkeit des Tuns des Menschen ausgesprochen wird58: Die Nichtigkeit des Eigenen, die Erkenntnis der eigenen totalen Unzulänglichkeit im Angesicht Gottes ist Ziel der Gesetzesbotschaft –in den Antinomerdisputationen wird Luther dies mit einem weiteren Begriff zusammenfassen, der auch in seinem klösterlichen Kontext immer wieder erscheint: desperatio59, die auch bereits in den Operationes in psalmos als Voraussetzung für das Aufscheinen der Gerechtigkeit begegnet60: Was in der begrifflichen Schärfung der Lehre von Gesetz und Evangelium in der Antinomerdisputation leitend wird, hat seinerzeit, in der Psalmenvorlesung seinen Ort in der Demutstheologie: Luther kann denselben Gedankengang, den er mit der desperatio als Gerechtigkeitsvoraussetzung ausdrückt,

55

AUGUSTIN, De spiritu et littera 19,34 (CSEL 60,187,22f). WA 10/1/1,455,5–11. 57 S. zu diesem Konzept nach wie vor BIZER, ERNST, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 31966. 58 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Nichtigkeit und Sündenerkenntnis, vornehmlich in den Operationes in Psalmos, aber auch insgesamt im Zeitraum von 1518 bis 1523 JUNTUNEN, SAMMELI, Der Begriff des nichts bei Luther in den Jahren 1510 bis 1523, Helsinki 1996, 371–378. 59 WA 39/I,50,36f; 40/I,368,12.32f; vgl. zur Verzweiflung im monastischen Kontext WA 4,665,21f; 56,266,25–28. 60 AWA 2,182,4–8; vgl. hierzu BLAUMEISER, HUBERTUS, Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in psalmos (1519–1521), Paderborn 1995 (KKTS 60), 154. 56

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auch mit dem Gedankengang ausdrücken: „deus humiles solum respiciat“61. Grundstruktur und spirituell entscheidende Vokabeln bleiben gleich, während der Rahmen sich immer mehr zu einem worttheologischen Kontext hin verschoben hat. Eben jene desperatio, die in frühen wie späten Texten als Umschlagpunkt zwischen Erniedrigung des Menschlich-Eigenen und Hinwendung zum Heil begegnet in der Heidelberger Disputation als opus alienum Gottes62. Und in unmittelbarer Nähe hierzu konnte Luther 1518, in den Resolutiones zu den Ablassthesen, als opus alienum auch die wahre contritio cordis bezeichnen – eine Zerknirschung, die nicht im Rahmen der bußtheologischen Trias zu stehen kommt, sondern allein für sich, parallelisiert mit der Demütigung63. Und damit verdichtet sich der Eindruck, dass jene gesetzestheologischen Aussagen über ihren paulinischen und augustinischen Hintergrund hinaus auch einen haben, der in der monastischen, näherhin in der mystischen Tradition verwurzelt ist: Als erste Stufe der Selbsterkenntnis bedarf auch und gerade der Mystiker der Reinigung, und diese wird gerade in jenen Kontexten, die Luther bekannt waren, also in der deutschsprachigen Mystik eines Johannes Tauler immer wieder in Bußterminologie ausgedrückt 64. Exemplarisch möge hierfür eine Stelle aus Taulers Predigt über Joh 5,1ff stehen: „Die dirte porte von disen daz ist ein war wesenlicher ruwe der súnden. Welicher ist daz? Das ist ein gantz war abeker von allem dem daz nút luter Got enist oder des Got nút ein ware sache enist, und ein war gantz zuoker zuo Gotte mit allem dem daz man ist“65

Luther hatte diese Betonung der wahren inneren Reue schon früh, das heißt: während der Zeit seiner eigenen intensiven Taulerlektüre wahrgenommen: Eine knappe Notiz, „Hoc nota tibi“, findet sich gerade an einer Tauler-Stelle, an der dieser die Anerkenntnis der eigenen Nichtigkeit des Menschen als wichtiger gegenüber dem ritualisierten äußeren Beichtakt charakterisiert und damit durch den Verweis auf die wahre innere Zerknirschung die sakramentale Buße jedenfalls relativiert: „... so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit“66.

61

AWA 2,197,25. WA 1,357,6–8. 63 WA 1,540,23–25. 64 S. etwa Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 65,22–27. 65 Ebd., 36,10–14. 66 Ebd., 355,36–356,2; vgl. Luthers Randbemerkungen hierzu in WA 9,104,11–14; vgl. zur Argumentation LEPPIN, Omnem vitam (wie Anm. 13), 15–17. 62

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Die Aussage ist noch radikaler als die oben zitierte Luthers zur Wirkung des Gesetzes, und gerade darin lässt sich nun auch der transformierende Weg bei Luther nachzeichnen. Schon von früh an ist bei Luther eine Hochschätzung der Reue innerhalb der mittelalterlichen Elemente der Buße zu beobachten. Dies erklärt sich nicht allein, wie es spätere Rückblicke Luthers andeuten, aus der Diskussion um Attritionismus und Kontritionismus67, sondern sie ist zu guten Teilen auch mystisches Erbe, eben solcher Aussagen wie der eben zitierten Taulers. Diese wohl durch mystische Lektüre mit bewirkte Erkenntnis Luthers wird aber mit fortschreitender Entwicklung worttheologisch gebrochen, ohne dass die Struktur des mystischen Weges gänzlich beseitigt würde: Der mystische Weg führte von einer Destruktion, einer immer wieder verbal anklingenden Ver- bzw. Zernichtung des Seins hin zu einer Offenheit für das Hineinkommen Gottes in die so entstehende Leere68. Das oben angeführte Tauler-Zitat aus der Predigt über Joh 5,1ff geht entsprechend weiter: „und daz ist alleine der kerne und daz marg des ruwen; und dan mit einer versaster getrúwunge versinken in das minnenkliche luter guot das Got ist, und an ime und in ime iemer zuo blibende und anzuohangende mit minnen und mit luterre meinunge in eime vollen bereiten willen, den liebsten willen Gottes zuo tuonde also verre also er mag“ 69

Diese Bewegung spiegelt sich in der soteriologischen Zuordnung von Gesetz und Evangelium bei Luther durchaus wieder, insofern auch hier die in Verzweiflung führende Vernichtung dessen, was der Mensch an Werken einzubringen hat, dem Verheißungswort70 und seiner Wirkung am Menschen nicht nur vorausläuft, sondern geradezu auf es zuläuft und ihm den Weg bereitet: Der Mensch erfährt durch das Gesetz, so heißt es später in der zweiten Antinomerdisputation, dass ihm „die weite welt zu enge“ wird, und eben dadurch ist er auf Christus angewiesen71. Darin haben Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium und die mystische Beschreibung des Heilsweges eine Parallele: Dem Gnadenhandeln Gottes – und als solches ist natürlich auch die mystische Einung zu verstehen, läuft eine im Blick auf das menschliche Selbstverständnis notwendigerweise destruktive Vorbereitung voraus. Und dass die Parallele mehr ist als ein Zufall macht die Überschneidung der Wortfelder aus den frühen Vorlesungen und ihrer Demutstheologie mit den ersten ausführlichen Darlegungen zur Gesetzeslehre bei Luther deutlich: Hier fand ein allmählicher Umbau statt, der freilich in der Tat als Umbau zu verstehen ist, als eine Transformation hin zu einer neuen Konstitution der theologischen Grundkoordinaten: Jener negative, vorauslaufende Aspekt der Destruktion des allein 67

WA 40/2,411,39–412,20. S. Predigten Taulers (wie Anm. 64), 305,23–306,4. 69 Ebd., 36,14–18. 70 Zum promissionalen Charakter s. nach wie vor BAYER, OSWALD , Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989. 71 WA 39/1,456,7f. 68

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Menschlichen wird bei Luther eindeutiger als bei den Mystikern auf Gott zurückgeführt. Zwar ist es auch für die Mystiker des späten Mittelalters selbstverständliche Voraussetzung, dass Gott der Handelnde im gesamten Heilsprozess ist72, aber bei Luther wird dieser Aspekt entschieden stärker – vermutlich ist genau dies die Stelle, an der das denken der Via moderna mit ihrem starken Gottesbild73 prägend für sein Gottesbild und damit auch für die entsprechende Transformation der Mystik wird. Die zweite, wichtige Differenz ist aber natürlich die Einzeichnung des strukturellen Schemas der Mystiker in einen worttheologischen Zusammenhang. Gerade gegenüber vorgegebenen mystischen Denkweisen – und im weitesten Sinne gehört natürlich auch das, was Bizer als Demutstheologie identifiziert hat, hierzu – ist ein solcher worttheologischer Kontext ein ganz entscheidender Gewinn, insofern er das Woher, anders ausgedrückt das Extra nos74 jener Vorgänge eindeutiger bestimmen lässt, als es in der Regel in den mystischen Texten des späten Mittelalters der Fall ist, die zwar in einer biblischen Bildwelt leben und auch von der festen Überzeugung äußerer Bewirkung ausgehen, diese aber nicht kriterienhaft benennen. Eben hier liegt dann auch die Stärke der Lutherschen Transformation im Blick auf die später notwendig werdenden Grenzziehungen. 2. Rechtfertigungslehre: Es kann schwerlich darum gehen, die Rechtfertigungslehre schlicht als aus dem Geist spätmittelalterlicher Mystik geboren darzustellen. Die klassische Annahme einer Verwurzelung von Luthers Rechtfertigungslehre im Denken des Paulus und Augustins ist selbstverständlich die nächstliegende und unzweifelhaft zutreffende Erklärung dafür, dass Luther sich zunehmend theologisch im Horizont der Rchtfertigungslehre bewegte und diese zum Schlüssel seines Verständnisses der Situation des Menschen vor Gott machte. Gleichwohl gibt es auch strukturelle Analogien zu bestimmten Aspekten mystischen Denkens, die einen mystisch beeinflussten Denker wie Luther besonders empfänglich für die Botschaft von der unverdienten Gnade machten, und das gehört nun in der Tat in diesen Kontext. 72

Predigten Taulers (wie Anm. 64), 305,16–19: „Die nechste und die aller höchste bereitunge in ze enphahende die muos er selber bereiten und wúrken in den menschen. Er muos die stat selber bereiten zuo im selber und muos sich selber och enphahen in dem menschen“. 73 Vgl. hierzu COURTENAY, WILLIAM J., Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990 (Quodlibeta 8); LEPPIN, VOLKER, Does Ockham's Concept of Divine Power Threaten Man’s Certainty in His Knowledge of the World?, in: FrS 55 (1998), 169–180; SCHRÖCKER, HUBERT, Das Verhältnis der Allmacht Gottes zum Kontradiktionsprinzip nach Wilhelm von Ockham, Berlin 2003 (VGI 49). 74 Vgl. zur Brechung dieser mystischen Formel bei Luther ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Nos Extra Nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (BHTh 46).

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Mystische Theologen wie Johannes Tauler oder auch der Autor der Theologie Deutsch gehörten zu jenen Frömmigkeitsströmungen des späten Mittelalters, die Berndt Hamm kürzlich mit dem Begriff der „nahen Gnade“75 charakterisiert hat: Gott, in der Regel: Christus wird bei ihnen auf eine Weise nahe, die die üblichen gradualistischen Formen76 der sakramentalen Heilsvermittlung im späten Mittelalter zwar nicht obsolet macht, aber doch relativiert77. Von besonderer Bedeutung und Brisanz ist hierbei, dass das Heilsgeschehen aufgrund der hier erfolgenden Immediatisierung78 des Gottesverhältnisses nicht mehr zwingend auf externe gestufte Vermittlungsinstanzen des Klerus angewiesen ist. Zumindest auf dieser Ebene also wird Christus und Gott insofern als „nahe Gnade“ präsent, als er der – auf prinzipieller Ebene in kirchenfrommen Kreisen der Mystiker niemals bestrittenen79 – sakramentalen Heilsvermittlung einen Weg direkter Heilsvermittlung gegenüberstellt. Und diese geschieht nach Tauler gar „niemer von menschlichen werken noch von verdiende, sunder von luttere genaden und von dem verdiende unsers herren Jhesu Christi“80. Damit ist in der Formulierung Taulers eine Annäherung an augustinische Terminologie erreicht, die deutlich macht, dass die Betonung der unmittelbaren Gnade jedenfalls eine Empfänglichkeit für augustinische Rechtfertigungslehre besaß. Vermutlich hat sich diese Empfänglichkeit bei Luther besonders stark ausgewirkt, weil bei ihm verschiedene Stränge spätmittelalterlicher Immediatisierungstheologie zusammenkamen: Es gehört zu den Eigenartigkeiten der spätmittelalterlichen Entwicklung, dass man Anfang des 14. Jahrhunderts auf engstem Raum drei unabhängig voneinander entstandene und sogar in offenem Konflikt miteinander entstehende Formen von Immediatisierung beobachten kann: Der Papalismus Johannes‘ XXII., die mystische Theologie Eckharts und die potentia-Theologie eines Wilhelm von Ockham waren gleichzeitig in Avignon präsent – die beiden Letztgenannten, um sich vor dem Ersten wegen Häresie zu verantworten81. Bei Luther nun schießen zwei dieser Stränge zusammen: Neben die mystische Beeinflussung zugunsten einer Immediatisierung des Gottesverhältnisses tritt auch die Tradition der Via 75

HAMM, „Die nahe Gnade“ (wie Anm. 32). S. zum Gradualismus HAMM, BERNDT, Einheit und Vielheit der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. / Bernd Moeller / Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, 69f. 77 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in diesem Band S. 171–187. 78 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter – Streiter – Bettelmönch, Darmstadt 2003, 169f. 79 Vgl. LEPPIN, Mystische Frömmigkeit (wie Anm. 77). 80 Taulers Predigten (wie Anm. 64), 123,7f. 81 LEPPIN, Wilhelm von Ockham (wie Anm. 78), 56–172. 76

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moderna, die ihm in Erfurt in ihrer seinerzeit überraschenden und neuen Zuspitzung auf Wilhelm von Ockham begegnet war: Es war keineswegs selbstverständlich, dass Wilhelm von Ockham sowohl in Tübingen bei Biel als auch bei Luthers Lehrern in Erfurt als großer Lehrmeister angesehen wurde82, aber genau in dieser Betonung hörte Luther von ihm und ordnete sich später der „Sekte“ Ockhams zu83. Was er nun bei Ockham wie bei dessen Adepten Biel wie auch bei seinen Erfurter Lehrern lernen konnte, war, dass Gott unmittelbar in das menschliche Geschehen eingreifen konnte und dies tatsächlich auch tat, zumal in Heilszusammenhängen: Der Fall, an dem Ockham in den Quodlibeta die potentia Dei ausführte, war Paulus gewesen, der völlig unerwartet und ohne jede Disposition von Gott erwählt worden war 84 – und Ockham stand damit selbst in einem breiteren Strom von Theologie, den Werner Dettloff, zugespitzt auf die franziskanische Lehrbildung85, in ihrer Betonung der acceptatio divina als eines direkten Aktes Gottes zum Heile des Menschen dargestellt hat. Tatsächlich gibt es innerhalb der starken Betonung der potentia Dei in der Via moderna zwei mögliche Schlussfolgerungen: Wenn Ockham in der zweiten Quaestio der 17. Distinktion des ersten Buches seines Sentenzenkommentars in Auseinandersetzung mit Thomas erklärt: „Istud reputo simpliciter falsum, quia bonum motum voluntatis ex puris naturalibus elicitum potest Deus acceptare de gratia sua, et per consequens talis actus ex gratuita Dei acceptatione erit meritorius”86,

so kann man dies schlicht wegen der anstößigen Formulierung „ex puris naturalibus“ als Ausdruck eines Pelagianismus werten, der alle Hoffnung auf die Kräfte des Menschen setzt – und so haben es viele Ockham-Deuter, angefangen mit seinen Anklägern in Avignon87 getan. Es ist aber, legt man den Akzent auf das göttliche Vermögen zur acceptatio, auch eine starke Betonung des göttlichen Willens in diesen Sätzen, die Gott allein den Vorrang gegenüber allen Vermittlungswegen, auch den von ihm selbst gestifteten und an die Sakramente gebundenen gibt. Auch wenn Luther die Heilslehre der Via moderna als pelagianisch begegnet, so hat er doch in seinen frühen Studien den diesem Pelagianismus entgegenlaufenden starken Gottesbegriff der Via moderna kennengelernt und damit 82

S. hierzu KLEINEIDAM, ERICH, Universitas Studii Erfordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil 2: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461–1521, Leipzig ²1992 (EThSt 22), 140. 83 WA.TR 5,653,1f (Nr. 6419); 2,516,6 (Nr. 2544a). 84 OT 9, 1980, 587,53–58 (Quodlibet VI q. 1). 85 Die Zuordnung bestimmter Positionen zu speziellen Ordenstraditionen verdankt sich auch der ordensspezifischen Forschungsstrategie der Scholastikforschung der letzten Jahre. 86 OT 3, 469,10–13. 87 S. KOCH, JOSEF, Neue Aktenstücke zu dem gegen Wilhelm Ockham in Avignon geführten Prozeß, in: RThAM 7 (1935), 353–380; 8(1936), 79–93. 168–197, hier: 8, 82,21– 24.

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auch Potenziale, die in eine Immediatisierungstendenz hineinlaufen konnten. Sowohl aus der Mystik als auch aus der Via moderna also war ihm die Vorstellung von einer Überbrückung der Differenz zwischen Gott und Glaubendem vertraut, als er Augustin begegnete und damit einer Lehre, die der Unmittelbarkeit des göttlichen Rechtfertigungshandelns Gestalt gab und damit nach den exegetischen Einsichten des jungen Professors die paulinische Theologie in höchst angemessener Weise zum Ausdruck brachte. Insofern wird man zwar schwerlich die Rechtfertigungslehre als unmittelbare Transformation mystischen Denkens beschreiben können, wie dies bei der Lehre von Gesetz und Evangelium der Fall ist, aber die Mystik bereitete doch den Boden für die Aufnahme der augustinischen Theologie und ging damit wenigstens mittelbar auch in den mit der Aufnahme der antipelagianischen Theologie bei Luther verbundenen umfassenden Transformationsprozess ein. Hierzu gehört dann auch, dass Luther Formulierungen für das Nahewerden der Gerechtigkeit Gottes finden kann, die an mystische Identitätsaussagen grenzen. So heißt es in den Operationes in Psalmos: „Vocatur autem iustitia dei et nostra, quod illius gratia nobis donata sit, sicut opus dei, quod in nobis operatur, sicut verbum dei, quod in nobis loquitur, sicut virtutes dei, quas in nobis operatur, et multa alia [...] ut eadem iustitia deus et nos iusti simus, sicut eodem verbo deus facit et nos sumus, quod ipse est, ut in ipso simus et suum esse nostrum esse sit“88

Den Gipfelpunkt solcher Formulierungen, die die Nähe zwischen mystischem Denken und der Rechtfertigungslehre unterstreichen, ist aber die Freiheitsschrift, die eben jenes oben zitierte Bild von Braut und Bräutigam aufnimmt und ausgestaltet89, das sich bei Staupitz und lange vor ihm schon bei Bernhard findet: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam”90

Man mag eine solche Redeweise auch als mystische Einkleidung von Rechtfertigungslehre verstehen. Es dürfte aber außer Zweifel stehen: Wer so formuliert, weiß von den neuprotestantisch konstruierten Gegensätzen zwischen reformatorischem Rechtfertigungsglauben und Mystik nichts. Wovon er freilich weiß, ist von den Unterschieden, das ist auch in der kurzen zitierten Passage zu sehen, in der nicht zufällig der Glaube die Zentralfunktion hat und nicht etwa eine affektive Liebesfunktion die Einheit zwischen Braut und 88

AWA 2 259,1–3. 12–14. Es fällt bestätigend für die vorgetragene Interpretation auf, dass BAYER, Luthers Theologie (wie Anm. 50), 206, gerade diese Vorstellung mit der Lehre von Gesetz und Evangelium interpretiert, also zwei der oben dargestellte Komplexe an dieser überdeutlich von mystischen Vorstellungen geprägten Stelle in Beziehung miteinander setzt. 90 WA 7,25,26–28. 89

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Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther

Bräutigam stiftet91. Auch hier also gilt: Luther setzt nicht einfach ungebrochen fort, was er an mystischen Konzepten fand – so wie auch die mystischen Theologen des Mittelalters ja im Allgemeinen nicht einfach Vorfindliches weitertradierten, sondern selbst produktiv weiterdachten und -entwickelten. Luther bricht mystisches Denken, transformiert es, bleibt ihm aber doch in wesentlichen Grundanliegen verbunden. 3. Die vorgetragenen Überlegungen verweisen implizit schon auf den dritten Gesichtspunkt der Transformation: die Lehre vom allgemeinen Priestertum: Zu jenen Instanzen, die durch die nahe Gnade überbrückt wurden, gehört in sozialer Perspektive zunächst der Priester als die zentrale heilsvermittelnde Figur. Und es überrascht von der Sache her kaum, dass man auch bei Tauler eine Formulierung findet, in der allgemeines Priestertum zwar nicht als Heilstatsache für alle Getauften, wohl aber als Möglichkeit für mystisch lebende Menschen anklingt: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“92 – eine Aussage, die übrigens ausdrücklich auch für Frauen gilt93. Mit der gemachten Einschränkung ist schon deutlich, wo hier die Transformation Luthers einsetzt, wiederum an jeder Vereindeutigung der Voraussetzungslosigkeit dieses Geschehens: Indem bei ihm jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, zum Priester oder Bischof geweiht ist, wird vereindeutigt, dass die bei Tauler auf prinzipieller Ebene gewollte Alleinigkeit der Gnade Gottes auch für den Ablauf der Heilsvermittlung gilt, also keine Voraussetzung auf Seiten des Menschen erfordert wird. Die Wirkung dieser theologischen Änderung ist aber eine ungeheure: Bei Tauler ist noch schlicht der Bezug auf eine soziale Sonderexistenz für mystische Frömmigkeit vorauszusetzen – die Predigten Taulers, die erhalten sind, sind in der Regel an geistliche Frauen, ehemalige Beginen gerichtet; seine Volkspredigten sind leider verlorengegangen, weswegen wir auch keine Rückschlüsse auf deren möglichen Inhalt ziehen können94. Eben dieser Bezug auf eine soziale Sonderexistenz aber fällt fort, wenn die Apostrophierung als Priester nun tatsächlich zu einer allgemeinen wird, das heißt: zu einer allgemein alle Getauften betreffenden – und dies wiederum aufgrund der angesprochenen Bedeutung der Souveränität Gottes im Heilsgeschehen, die eine Voraussetzung auf Seiten des Menschen im Sinne eines sich selbst in die Abgeschiedenheit Hineinbringens nicht dulden kann. Im Mittelalter besteht allein eine mögliche Differenz darüber, nach welchen Kriterien ein Priesterstand aus der Gemein91

S. zur Verschiebung von der Liebe zum Glauben HAMM, BERNDT, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers. Ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: LuJ 65 (1998), 19–52. 92 Taulers Predigten (wie Anm. 64), 164,34–165,1. 93 Ebd., 165,15–17; vgl. GANDLAU, THOMAS, Trinität u. Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg im Breisgau 1993 (FThSt 155), 146f, mit der Unterscheidung von sakramentalem und geistlichem Priestertum. 94 S. LEPPIN, VOLKER, Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), 745–748, 745.

Kapitel 20

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schaft der Christenheit auszusondern ist: durch Weihekriterien oder spirituelle Begabungskriterien. Zur mystischen Priesterkritik hatte, in latenter Spannung zur Lehre vom character indelebilis, auch die Kritik an der mangelnden Würde der Priester gehört, wenn etwa Tauler dazu mahnt, nicht einfach zu allen Messen zu gehen, sondern bevorzugt zu „den heiligen priestern [...] von den dis opher Gotte als geneme ist“95. Damit war eine das Weihesakrament überbietende Kriteriologie geschaffen, das System der Auslese unter den Menschen aber keineswegs abgeschafft, sondern im Gegenteil auch noch an Qualitäten des Menschen gebunden worden. Durch Luthers reformatorische Theologie hingegen entsteht aus der theologischen Grundlegung tatsächlich ein, auch die Sozialgestalt des Christentums betreffender Systemumbruch, um noch einmal Berndt Hamm zu zitieren – ein Systemumbruch, zu dem selbstverständlich der in anderen Zusammenhängen gerne herangezogene Antiklerikalismus mit beigetragen hat; so wenig man ihn als alleinige Ursache für die reformatorische Priesterkritik heranziehen kann, so sehr hat er natürlich vor dem Hintergrund der entscheidenden theologischen Auseinandersetzung zu einer auch das mittelalterliche Ständesystem überholenden Neuformation der Frömmigkeit beigetragen. Man könnte an dieser Stelle weiter interpretieren und die Bedeutung jenes inwendigen Menschen, den Tauler benannt hat, mit dem inneren Menschen bei Luther vergleichen: Wiederum dürfte, auch aufgrund der entsprechenden Nachweise bei zur Mühlen96, kein Zweifel bestehen, dass Luther dieses Begriffspaar aus der spätmittelalterlichen Mystik übernommen – und es doch zugleich grundlegend transformiert hat. Der Durchgang dürfte deutlich gemacht haben, dass der Bezug Luthers auf mystische Ursprünge keineswegs als einliniger zu denken ist. Es geht nicht um die Frage, ob etwas schon da gewesen ist oder eben nicht, sondern es geht um die Frage, welche heterogenen Traditionsströme wie miteinander verbunden sind. Die Mystik scheint dabei, dies meine ich behaupten zu können, einen stärkeren Anteil an Luthers Entwicklung gehabt zu haben, als gemeinhin angenommen. Sie ist weder einfache Bestätigung von zuvor schon bei Luther Gedachtem noch bloße Einkleidung seines Denkens, sondern sie bildete einen wichtigen Impuls für die Entwicklung seines Denkens, der freilich, vielfach gebrochen, am Ende keineswegs mehr rein erkennbar, ja in äußerer Hinsicht geradezu vehement bestritten wurde. Aber den Verdikten über die Mystik einfach zu folgen, hieße die fundamentale Einbindung Luthers in den mystischen Tradition des späten Mittelalters nicht nur zu unterschätzen, sondern schlankweg zu ignorieren. Seine Theologie ist bis in ihre Kerninhalte hinein gar nicht anders zu verstehen als vor dem Hintergrund ihrer mystischen Wurzeln. Von ihnen ging er aus, sie hat weitergedacht und sie hat er in transformierter Gestalt an das Luthertum weitergereicht.  95 96

Taulers Predigten (wie Anm. 64), 319,5–7. ZUR MÜHLEN, Nos extra nos (wie Anm. 74), 155–161.

Kapitel 21

Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation Zur Transformation eines akademischen Mediums

„Als dann ietz ein guotte zytt har vil tzwittracht unnd tzweyung sich erhept tzwüschent denen, so an der kantzel das gotswortt dem gemeinen mentschen verkundent, ettlich vermeinend, das euangelium trüwlich unnd gantz gepredigett haben, andre scheltens, als ob sy nit geschickt unnd formlich handlent unnd dargegen ouch die andern widerumb die als irseyer, ferfuorer unnd ettwan ketzer nennent, die aber alweg mit göttlicher geschrifft einem ieden des begerenden rechnung unnd bescheid zuo geben sich erpiettend, harumb im aller besten unnd voruß umb gottes eer, fryden unnd einickeit willen, so ist unnser befellich, will unnd meinung, das ir pfarrer, seelsorger, predicanten gemeinlich unnd ieder insonders, oder ob sust sonderig priester hierzuo ze reden willens werent, inn unnser statt Zürich oder usserthalb in unsern gepietten (…) verpfruondt, so dann vermeintend, den andern teil zuo schelten oder anders zuo unnderrichten, uff den nechsten tag nach keyser Karlus tag, daß ist der nün und tzwentzgist tag deß manotz jenner, zuo fruoger radtszytt in unnser statt Zürich unnd daselbs in unserm rathuß vor unns erschinent unnd das, so ir widerfechtend, mit warhaffter göttlicher geschrifft in thütscher zungen und sprach anzögend. Da wir mit allem fliß mit ettlichen gelertten – ob es unns bedunckt – uffmerken, unnd nachdem mit gottlicher geschrifft unnd warheitt sich erfindt, werden wir ein ieden heimschicken mit bevelch fürzefaren oder abzeston, dadurch nit für unnd für ein ieder alles, das in guot bedunckt, on grund der rechten göttlichen gschrifft an der kantzel predige.“1

Mit diesem Ausschreiben lud der Zürcher Rat zur Zürcher Disputation ein, die bis heute zu Recht als das Datum der Durchsetzung der Reformation in Zürich gilt.2 Nicht nur die Pfarrer von Stadt und Landschaft waren hierzu eingeladen, sondern auch der eigentlich kirchenrechtlich für die Aufsicht über die Predigt zuständige Bischof von Konstanz, dem sogleich zugestanden wurde, dass er auch einen Vertreter senden dürfe. Dieser kam in Gestalt seines Generalvikars Johannes Fabri, dessen einzige Aufgabe es allerdings war, die Legitimität der Veranstaltung zu bestreiten. So hatte Zwingli zu den 67 Konklusionen, die er vorlegte, keinen angemessenen Gegner, und binnen kurzer 1

CR 88, 466,15–467,16. LOCHER, GOTTFRIED W., Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen / Zürich 1979, 110–115. 2

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Zeit konnte der Rat zu dem Ergebnis kommen, Zwingli sei nicht widerlegt worden und dürfe weiter predigen. So könnte man also sagen: Die Disputation fand nicht statt – und doch war sie ein Ereignis von herausragender Bedeutung für die Reformationsgeschichte und fand in den folgenden Jahren der Städtereformation vielfache Nachahmung. Sie selbst soll, so ist es gelegentlich zu lesen, eine „Erfindung“ Zwinglis gewesen sein.3 Eine solche Einschätzung passt zu der Emphase, mit der Reformationshistoriker gelegentlich die Neuheit und Andersartigkeit ihres Gegenstandes gegenüber dem Mittelalter herauszustreichen suchen. Tatsächlich kann man die Zürcher Disputation als Flucht- und Gipfelpunkt einer Entwicklung sehen, in deren Verlauf die Form der Disputation immer mehr aus dem akademischen in einen öffentlichen Kontext getragen wurde – nicht die Tatsache einer solchen Öffentlichkeitswirksamkeit der Disputation als solche ist dabei bemerkenswert, denn dergleichen gab es auch im Mittelalter immer wieder, sondern die Dynamik des Verlaufs, die der Reformation eine enorme Schlagkraft verlieh. Dass ein akademisches Genre eine solche Wirkung entfalten konnte, hat natürlich zunächst und vor allem damit zu tun, dass die Anfänge der Reformation, vor allem in ihrer Wittenberger Ausrichtung, die Gestalt einer Theologiereform besaßen: Martin Luther und seine Gefährten wollten zunächst nicht mehr, freilich auch nicht weniger, als eine Änderung des Theologiestudiums in einem Sinn, den Martin Luther am 18. Mai 1517 seinem Ordensbruder Johannes Lang eröffnete: „Unter Gottes Beistand machen unsere Theologie und Sankt Augustin gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität. Aristoteles steigt nach und nach herab und neigt sich zum nahe gerückten ewigen Untergang. Auf erstaunliche Weise werden die Vorlesungen über die Sentenzen verschmäht, so dass niemand auf Hörer hoffen kann, der nicht über diese Theologie, d.h. über die Bibel, über Sankt Augustin oder über einen anderen Lehrer von kirchlicher Autorität lesen will.“4

Diese methodisch-inhaltliche Reform, der Verzicht auf Aristoteles zugunsten von Bibel und Kirchenvätern, bediente sich von Anfang an jenes Mediums, das sich im Mittelalter im 12. Jahrhundert etabliert hatte, um die bis dahin vorwiegend auf kontinuierliche Autoritätenexegese ausgerichtete Lehrweise zu ändern und stärker auf systematische Fragestellungen auszurichten. Als paradigmatisch für diese innermittelalterliche Innovation kann man das Gegenüber von Anselm von Laon und seinem zeitweiligen enttäuschten Hörer 3

MOELLER, BERND, Zwinglis Disputationen. Studien zu den Anfängen der Kirchenbildung und des Synodalwesens im Protestantismus, in: ZSRG.K 87/1970, 275–324; 91/1974, 213–364 4 WA.B 1,99,8–13 (Nr. 41): „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae auctoritatis doctorem velit profiteri“.

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Abaelard benennen: Bei Anselm5 war noch die fortlaufende Interpretation vor allem des Bibeltextes das entscheidende didaktische Medium gewesen, bei Abaelard6 stand die quaestio im Mittelpunkt, die Sachfrage, der Autoritäten zuzuordnen waren. Diese Methode der quaestio7 entwickelte sich im Zuge der Entstehung der europäischen Universität zu rituell festgelegten Verfahren einer Debattenkultur mit dem Gegenüber von opponens und respondens, die die Breite der argumentativen Möglichkeiten aufrissen, und mit einem vorsitzenden magister, der die Frage einer Entscheidung zuführte. Die sich hierbei abspielenden Debatten hat William J. Courtenay einmal mit dem mittelalterlichen Turnierbetrieb verglichen8 – und damit jedenfalls so viel getroffen, dass man nicht ohne Weiteres aus dieser oder jener Aussage in einer Disputation auf die Auffassungen dessen zurückschließen kann, der sie vertreten hat. Doch konnte sich die Turniersituation gelegentlich auch, um im Bild zu bleiben, zur echten Schlacht wandeln, das heißt zu einer intellektuellen Auseinandersetzung, deren Ziel es nicht allein war, zu zeigen, wer über bessere Argumentationstechniken verfügte, sondern auch festzustellen, wo die Wahrheit lag – oder die zuvor geglaubte Wahrheit zu erweisen: So erging es bei der Verwendung der (gegebenenfalls modifizierten) Disputationsform für Gespräche mit Juden. Die Disputation wurde dabei freilich vielfach gerade ihres eigentlich offenen Gesprächscharakters beraubt und den beteiligten Juden kaum eine angemessene Möglichkeit zur Verteidigung gegeben.9 Dennoch konnte die Argumentation von jüdischer Seite in Einzelfällen Christen nachhaltig irritieren – das berühmteste Beispiel ist der Dialog Gilbert Crispins mit einem Juden, der den Abt von Westminster so verunsichert hat, dass er seine gewiss gefärbte Niederschrift Anselm von Canterbury zur Würdigung vorleg-

5

Zu ihm: GIRAUD, CÉDRIC, Per verba magistri. Anselme de Laon, son école et le mouvement théologique du XIIe s., Diss. masch. Paris 2006. 6 Zu ihm: CLANCHY, MICHAEL T., Abaelard. Ein mittelalterliches Leben, Darmstadt 2000; ERNST, STEPHAN, Petrus Abaelardus (ZDM 2), Münster 2003; KLITZSCH, INGO, Die „Theologien” des Petrus Abaelardus. Genetisch-kontextuelle Analyse und theologiegeschichtliche Relektüre (AKThG 29), Leipzig 2010. 7 BAZAN, BERNARDO C., La quaestio disputata, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, Louvain-la-Neuve 1982, 31–49; LAWN, BRIAN, The Rise and Decline of the Scholastic „quaestio disputata“, with Special Emphasis on its use in the Teaching of Medicine and Sciences (ESMAR 2), Leiden u. a. 1993. 8 COURTENAY, WILLIAM J., Schools and Scholars in Fourteenth-Century England, Princeton 1987, 30. 9 MAIER, JOHANN, Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19. / 20. Jahrhundert, Berlin / New York 1972, 398.

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te10 – was diesen wiederum zur produktiven Weiterführung darin enthaltener Anstöße in seiner Schrift Cur Deus homo veranlasste.11 Es war eben der Aspekt möglicher ernsthafter Verwendung, der zunehmend Bedeutung für die reformatorische Bewegung gewann. Diesen Prozess kann man in vier Stufen des Umgangs mit Disputationen nachzeichnen, die sich freilich nicht einfach nach und nach entwickeln, sondern sich phasenweise zeitlich überlappen: 1. Affirmative Lehrmitteilung: Die Disputationen scheinen in Wittenberg von früh an als ein Genre der affirmativen Mitteilung der neuen Lehre verwendet worden zu sein. Dies gilt bereits für die erste umfassend bekannte Disputation aus dem Bereich von Luthers Lehrbetrieb, die Quaestio de viribus hominis sine gratia disputata.12 In ihr stellte Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch im September 1516 Thesen zusammen, die er aus der Römerbriefvorlesung Luthers gewonnen hatte. Damit stand die augustinische Gnadenlehre, wie sie Luther zu diesem Zeitpunkt vor allem in der Perspektive eines Gegensatzes von menschlichen Kräften und göttlichem Wirken verstand und entfaltete, im Mittelpunkt, eben jene Theologie also, deren Durchsetzung an der Universität Wittenberg Luther seinem Ordensbruder Lang so stolz mitteilte. Eine ähnliche, freilich schon viel offensivere Funktion besaß die später als Disputatio contra scholasticam theologiam titulierte Thesenreihe, die am 4. September 1517 Franz Günther aus Nordhausen zu debattieren hatte.13 Sie bot eine Mischung aus Offenlegung der neuen Weise, Theologie zu treiben, und materialen Aussagen, vor allem aus dem Bereich der Gnadenlehre. Im Vergleich mit den gleichzeitigen Vorlesungen Luthers lässt sich begründen, dass es sich hierbei tatsächlich auch um eine affirmative Darlegung der eigenen Theologie handelte, die im Blick auf das Genre der Disputation eine gewisse Zwischenstellung einnahm. Der Ort für die Diskussion und Etablierung neuer Thesen war traditionell eher die Quodlibet-Diskussion, in der ein Magister in großer Freiheit seine eigenen neuen Erkenntnisse zur Diskussion stellen konnte. Die Disputatio contra scholasticam theologiam aber diente nicht dieser freien Entfaltung, sondern stand, wie es bei den meisten Disputationen der Fall war, im Rahmen eines Prüfungsverfahrens, was deutlich machte, dass die hier artikulierten Thesen bzw. die mit ihnen verbundenen Argumentations-

10 CRISPIN, GILBERT, Disputatio iudaei et christiani. Disputatio christiani cum gentili de fide Christi. Lat.-dt. (HBibPhMA 1), ed. v. Karl-Werner Wilhelm / Gerhard Wilhelmi, Freiburg u. a. 2005. 11 SOUTHERN, RICHARD W., Saint Anselm. A Portrait in a Landscape, Cambridge 1990, 198–202. 12 WA 1,145–151. 13 WA 1,224–228; zu ihr s. v. a. GRANE, LEIF, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam (AThD 4), Kopenhagen 1962.

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muster jedenfalls im Wittenberger Kontext der Sache nach durchaus nicht als gänzlich offen galten, sondern einem Prüfling abverlangt werden konnten. 2. Entscheidung über fragliche Wahrheit: Wenige Wochen nach der Disputatio contra scholasticam theologiam folgte eine Ausdehnung der Möglichkeiten der Disputation durch die Ablassthesen, mit der Luther wohl Anregungen aufnahm und weiterführte, die zuvor schon Karlstadt entwickelt hatte.14 Bis heute besteht nur eine relativ hohe Sicherheit, dass eine Disputation über sie nicht wirklich stattgefunden hat – ob Luther dies gleichwohl beabsichtigt hatte, ist unklar. Keineswegs dürfte er eine Disputation im normalen Rahmen angestrebt haben. Dies machte schon seine Einladung deutlich: „Amore et studio elucidande veritatis hec subscripta disputabuntur Wittenberge, Presidente R. P. Martino Lutther, Artium et S. Theologie Magistro eiusdemque ibidem lectore Ordinario. Quare petit, ut qui non possunt verbis presentes nobiscum disceptare agant id literis absentes. In nomine domini nostri Hiesu Christi. Amen“15

Dieser Text weist mehrere signifikante Abweichungen von der sonst von Luther bevorzugten Form der Einladung auf. Das gilt zum einen schon für die religiöse Einkleidung der intitulatio, die nicht nur mit dem Appell an amor et studium veritatis begann, sondern, ganz ungewöhnlich für solche Einladungen, mit einem Amen schloss. Noch bemerkenswerter ist, dass Luther nicht nur Anwesende, sondern auch Abwesende einlud – das war für die normale universitäre Disputation unnötig und gehört zu den vielen Punkten, die es fraglich machen, ob Luther zu dieser Disputation überhaupt vermittels eines Anschlags an die Wittenberger Kirchentüren einlud oder nicht vielmehr auf brieflichem Weg, von dem wir wiederum durch ein Schreiben Luthers an Johannes Lang wissen, dem er am 11. November die Thesen mit Bitte um Stellungnahme zusandte. Ganz gleich wie man diese Einzelheiten einschätzt: Erkennbar ist, dass Luther mehr anstrebte als die universitätsübliche Disputation – und dies, weil das Thema, um das es ihm ging, von besonderem Gewicht war. Das äußert sich auch darin, dass er die Ablassthesen an die Bischöfe von Mainz und Brandenburg versandte.16 Damit wurde der für die offene Disputation bestimmte akademische Freiraum überschritten und die kirchliche Hierarchie eingebunden, der es oblag, über Missstände in der kirchlichen Praxis, aber auch über die Frage von Wahrheit oder Häresie zu entscheiden. Die durch die Ablassthesen angesprochene Frage wurde damit in Gestalt der Disputationsform in einen weiterreichenden Diskurs eingegeben – dies ist der für die weitere Entwicklung maßgebliche Vorgang, der freilich nicht ganz vorbildlos ist.

14 S. hierzu MOELLER, BERND, Thesenanschläge in: Joachim Ott / Martin Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008, 9–31. 15 WA 1,233,1–9. 16 WA.B 1,110–112.

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Herbert Grundmann berichtet davon, dass in Köln im 12. Jahrhundert Vertreter der vita-apostolica-Bewegung anboten, ihre Auffassungen in einer Disputation zu vertreten.17 Ähnliches hat mit Petrus Abaelard auch einer der Meister des Disputationswesens versucht bzw. erhofft. Als er 1140, fast zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Verurteilung in Soissons18, auf Betreiben Bernhards von Clairvaux erneut, nun nach Sens, vorgeladen wurde, erwartete er bei dieser Gelegenheit offenbar eine disputationsartige Auseinandersetzung, der freilich Bernhard ein juristisch hoch fragwürdiges Häretisierungsverfahren entgegensetzte.19 Auch in anderen Häresieverfahren sind solche Zwischenstufen bekannt. So wurden Wilhelm von Ockham von seinem Orden, als sich der Prozess gegen ihn anbahnte, jedenfalls Thesen vorgelegt, die auf einem Ordenskapitel in England verhandelt werden sollten, wobei freilich nicht bekannt ist, ob hier die Form der Disputation gewählt wurde.20 Im folgenden Jahrzehnt griffen in Oxford dann akademische Disputation und die Anfänge der Reformansätze Wyclifs ineinander.21 Dass die akademische Disputationsform auch im kirchlichen Kontext zur Wahrheitsfindung gebraucht wurde, war also durchaus schon verschiedentlich vorgekommen – Luther nutzte diese in der Form liegende Möglichkeit nun besonders offensiv. Was dann freilich noch die Brisanz seines Agierens erhöhte, war der sich steigernde Öffentlichkeitscharakter, der durch die Möglichkeiten des Drucks eine entscheidende Veränderung gegenüber jenen hoch- und spätmittelalterlichen Beispielen mit sich brachte. Binnen weniger Monate lagen von den ursprünglich wohl nur handschriftlich versandten und weiterverbreiteten Ablassthesen drei Drucke vor, und Luther selbst war über die enorme Aufregung, die er mit ihnen auslöste, überrascht. Vor diesem Hintergrund wurden die folgenden Disputationen, die Etappen der reformatorischen Entwicklung markieren, schon in sich öffentliche Ereignisse. Dies trifft auf die eigentliche Disputation zu, die im Wittenberger Raum tatsächlich der Suche nach der Wahrheit zwischen Vertretern des alten und des neuen Glaubens galt: die Leipziger Disputation im Jahre 1519.22 Sie 17

GRUNDMANN, HERBERT, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik, Darmstadt ³1978, 19. 18 S. zu dieser eine markante Neubewertung bei KLITZSCH, Die „Theologien“ des Petrus Abaelardus (wie Anm. 6), 165–239. 19 CLANCHY, Abaelard, 365–411. 20 ETZKORN, GERALD, Ockham at a Provincial Chapter: 1323. A Prelude to Avignon, in: AFH 83 / 1990, 557–567; vgl. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003, 111–114. 21 COWDREY, HERBERT E. J., Art. Oxford, in: TRE 25 (1995), 568–575, 569. 22 SEITZ, OTTO (Hg.), Der authentische Text der Leipziger Disputation (1519). Aus bisher unbenutzten Quellen, Berlin 1903; vgl. SELGE, KURT-VICTOR, Der Weg zur Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: Bernd Moeller / Gerhard Ruhbach (Hg.), Blei-

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fand nicht nur vor universitärem Publikum statt, sondern auch in Gegenwart des Herzogs und vor Vertretern des Hofs, überschritt also deutlich den begrenzten Rahmen bloß universitärer Öffentlichkeit. In ihr disputierte der Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck mit Andreas Karlstadt und mit Luther selbst – und er nutzte diese Möglichkeit, um als geschickter Disputator Luther zu Aussagen zu nötigen, die in der Konsequenz seiner bisherigen Lehre lagen, ohne dass er sie offensiv hätte vertreten wollen. Die gut dokumentierte Disputation lässt die Dynamik des argumentativen Geschehens erahnen, das nun keineswegs turnierhaft innerhalb eines definierten Rahmens erfolgte, sondern sich auch als Gespräch über die Grundlagen von Theologie überhaupt entwickelte. Eck begegnete Luther über die von diesem wenig forcierte Frage nach dem Kirchenverständnis und dem Primat des Papstes. Auf die biblische Aussage Luthers, dass Christus das Haupt der Kirche sei, antwortete er mit der Lehre, dass Petrus und mit ihm sein Nachfolger Haupt der irdischen Kirche sei. Als Luther dies folgerichtig bestritt, konfrontierte er Luther damit, dass zu den verurteilten Sätzen des Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz auch die Bestreitung eben dieser Auffassung von Petrus als dem Haupt der Kirche gehörte – erst nach und nach begriff Luther, dass er aufgrund dieser Sachlage zu der Konsequenz gelangen musste, dass Konzilien irren konnten: „Also gibt man uns ins Maul, daß wir, wir wollen oder wollen nit, sagen müssen: Das Concilium hat geirret“,23 hat Luther dies später seinem Kurfürsten gegenüber begründet. Inhaltlich aber bedeutete gerade diese Disputation, in der Eck den notorisch häretischen Charakter von Luthers Häresie erweisen wollte, für die reformatorische Seite einen entscheidenden Entwicklungsschritt hin zum Prinzip der Schrift allein als Grundlage heilsverbindlicher Lehre. Die Leipziger Disputation ist auch für den eingangs angesprochenen Zürcher Kontext von Bedeutung, denn mit ihr verbindet sich erstmals, dass Zwingli Luther zur Kenntnis nimmt, und dies gleich in einer äußerst hervorgehobenen Weise: Er pries den Wittenberger Reformator als den wiedergekommenen Elia.24 Will man denn die Zürcher Disputation als „Erfindung“ Zwinglis apostrophieren, wird man dies schwerlich in der Perspektive tun dürfen, die diese Erfindung als eine Neuschöpfung versteht. Was Zwingli in Zürich erbrachte, lässt sich eher als eine sachte weitere Transformation verstehen. Die Leipziger Disputation knüpfte noch an den akademischen Rahmen des Genres an, erweiterte ihn aber schon allein durch den öffentlichen Charakter und die Tatbendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, Tübingen 1973, 169–210; DERS., Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck, in: ZKG 86 / 1975, 26–40; BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, 285–307; LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 12006, 144–151. 23 WA.B 1,471,218f. (Nr. 192). 24 CR 94,114,7.

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sache, dass die Universität Leipzig lediglich den Rahmen dafür gab, dass drei Personen, die ihrem Lehrköper nicht angehörten, über die Wahrheit disputierten. Insbesondere der öffentliche Charakter wurde nach Zürich übertragen, und auch dies nicht allein: Als der Chorherr Hofmann wohl Ende 1521 oder Anfang 152225 eine Klagschrift gegen ihn einreichte, endete diese mit dem von altgläubiger Seite kommenden Angebot, seine Gründe in Auseinandersetzung mit den Gegnern darzulegen: „so will ich umb gottes willenn und eines gemeinen nutzens willen / grosße widerwerttigkeit und ergerniss in christenlicher lere zefürkomen oder zewenden / die arbeit uff mich nehmen / das ich nach minem vermögen / will fürgeben und erscheinen ursachen meiner yetzgemeltten articklen und meinungen (so vil not wirt sein /) vor minen heren Bropst und Capitel und vor allen gelertten hie zürich / und vor einem gantzen Rat die dar by wellent sin in einer offenlichen statt, die dar zuo geschickt und tuglich ist / uff einen gestimptten tag / der minem her lütpriester einen Monat dar vor verkünt sye und mir ouch / in gegenwirttigkeit eines offnen Notari / dar zuo verordnet / in sömlichen geding und fuog / das min her lütpriester Meister uorich zwingli und sine anhenger / und ander die siner meinung sind / ouch fürgebent und erscheinent ursachen / iren articklen und meinungen / die wider mine artickel und meinungen syent / / unnd wenn dann sömlichs beschächen ist / und also bede teil verhört sind / das dann mine herren Bropst und Capitel / Burgermeister und Rat / die sach trülich ze handen nemendt / und unßerem gnedigen heren von Costents fürbringent / darinn ze handlen wie ziemlich / billich und fruchtbatr sind mag / nach gelegenheit der sach.“ 26

Das Szenario erinnert auffällig an das, was im Ausschreiben des Rates stand und dann tatsächlich in Zürich stattfand – freilich mit der markanten Abweichung, dass es zum einen Zwingli war, der nun seine Thesen darlegte, und zum anderen, ungleich wichtiger: dass die Entscheidung nicht beim Rat, sondern beim Bischof liegen sollte. Dennoch macht dieses Anerbieten Hofmanns deutlich: An der vermeintlichen „Erfindung“ Zwinglis hatte sein ärgster Feind mindestens einen gewissen Anteil.27 Wie nahe ein solches Vorgehen lag, zeigt auch die Tatsache, dass die Zürcher Disputation, die gemeinhin als die erste gezählt wird, tatsächlich nicht die erste in Zürich war. Heiko Augustin Oberman hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sie bereits im Jahr 1522 ein Vorbild hatte. Anlass war eine ge25

Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519–1533, ed. v. Emil Egli, Zürich 1879 (= Aalen, Nieuwkoop 1973), 65, gibt Ende 1521 an. Etwas weiter der Zeitraum bei SCHINDLER, ALFRED, Das Anliegen des Chorherrn Hofmann, in: Zwing. 23 / 1996, 63–82, 69. 26 Die Klagschrift des Chorherrn Hofmann gegen Zwingli, ed. v. Alfred Schindler, in: Zwing. 19/1 / 1991–1992, 325–359, 352,13–353,1. 27 Dieser Umstand war auch schon lange vor der Edition der Klagschrift durch Alfred Schindler bekannt: Schon Egli verwies darauf (Actensammlung zur Geschichte der Züricher Reformation (wie Anm. 25), 65), und auch OBERMANN, HEIKO AUGUSTINUS, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen ²1979, 286 Anm. 69, hat darauf aufmerksam gemacht.

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zielte Provokation Zwinglis selbst: Als der Franziskaner Franz Lambert von Avignon im Zürcher Fraumünster über die Fürbitte Mariens und der Heiligen predigte, unterbrach Zwingli ihn lauthals: „bruoder, da irrest du!“28 Das sah Lambert selbst anders – und der Rat zog die Entscheidung an sich. Mit Hilfe einer Debatte zwischen Zwingli und den Lesemeistern der Bettelorden in Zürich wollte der Rat eine Entscheidung in der strittigen Angelegenheit finden und erkannte am Ende ebenso wie einige Monate später bei der großen Disputation darauf, dass Zwingli weiter predigen dürfe wie bisher. Gerade der defensive Charakter, in dem er sich bei diesem ersten Disputationsereignis befand, zeigt, dass das Verfahren der Disputation im öffentlichen Raum schwerlich als seine Erfindung angesehen werden kann – die sich hier vollziehende Transformation eines Genres hatte viele Autoren. 3. Die Propagierung: Noch während die Disputation der Klärung der offenen Wahrheitsfrage diente, hatte sich die Funktion dieses Mediums bereits weiter gewandelt. Sie war zum Mittel demonstrativer Durchsetzung der eigenen Überzeugungen geworden. Den Übergang hierzu kann man 1518, im Jahr vor der Leipziger Disputation, mit der Heidelberger Disputation verbinden.29 Sie liegt in gewisser Weise noch auf der Linie der Disputationen zur Wahrheitsfindung, insofern sich in ihr der Orden der Augustinereremiten, ähnlich wie die Franziskaner im Falle Wilhelms von Ockham zweihundert Jahre zuvor, bemühte, dem prominenten Angehörigen ein Forum für die Darlegung seiner Auffassungen zu geben. Da die Disputation im April 1518 aber in den Räumlichkeiten der Artistenfakultät stattfand30, war jedenfalls der inneruniversitäre Zulauf groß, und der einzige Augenzeugenbericht von Martin Bucer lässt erkennen, wie sehr sich diese Veranstaltung zu einer Präsentation vor allem Luthers entwickelte, in der gegnerische Argumente nicht der Rede wert waren. Bucer lobte die mira in respondendo suavitas, in audiendo incomparabilis longanimitas des Wittenberger Professors31 und gab dann vor allem dessen Argumente wieder. Der Erfolg war entsprechend überwältigend: Die Disputation stellte den Funkenschlag in den Südwesten dar, durch den Luther in weiten humanistischen Kreisen rezipiert wurde.32 Sehr konsequent hat dann 1521/2 Andreas Karlstadt Disputationen in Wittenberg durchgeführt, um anstehende Fragen des reformatorischen Prozesses zu klären und seine 28

Die Chronik des Bernhard Wyss 1519–1530, ed. v. Georg Finsler, Basel 1901, 16. ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Die Heidelberger Disputation Martin Luthers vom 26. April 1518. Programm und Wirkung, in: Wilhelm Doerr et al. (Hg.), Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386.1986. Bd. 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit 1386–1803, Heidelberg u. a. 1985, 188–212. 30 SCHEIBLE, HEINZ, DIE Universität Heidelberg und Luthers Disputation, in: DERS., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, ed. v. May, Rudolf / Decot, Rolf, Mainz 1996 (VIEG.B 41), S. 371–391. 31 WA 9, 162, 2f. 32 S. hierzu LEPPIN, Martin Luther (wie Anm. 22) , 126–135. 29

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Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform

Ergebnisse hierzu, insbesondere zur Frage des Zölibats, aber auch der Abendmahlspraxis, zu propagieren.33 Eine eigene Brisanz gewann dies dadurch, dass es im Rahmen einer Bewegung stattfand, deren häretischer Charakter eben offiziell durch den Papst festgestellt worden war. 4. Demonstrative Durchsetzungsstrategie: Von hier aus war es ein kleiner, freilich wichtiger Schritt zur Zürcher Disputation. Mit ihr – nicht der singulären Erfindung eines einzelnen Mannes, sondern dem konsequenten Ergebnis einer Transformation und zuspitzenden Aneignung möglicher mittelalterlicher Entwicklungen – hatte die Reformation ein Medium gefunden, das, entstanden im Milieu der mittelalterlichen Universität, den städtischen Veränderungen Schub und Legitimation verlieh.

33

BARGE, HERMANN, Andreas Bodenstein von Karlstadt. Bd. 1: Karlstadt und die Anfänge der Reformation, Nieuwkoop ²1968, 289f. 316f.

Kapitel 22

Luthers Vaterunserauslegung von 1519 Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu reformatorischer Luther war nicht nur ein erfolgreicher kämpferischer Flugschriftenautor – er war auch und vor allem ein überaus wirkungsvoller Erbauungsschriftsteller1. Mystisch geprägte Sprache und reformatorische Theologie knüpften dabei vielfach unmittelbar an die Erwartung jenes lesenden Publikums an, dessen Frömmigkeit innerhalb der spätmittelalterlichen Polarität von veräußerlichter und innerlicher Frömmigkeit2 eher der letzteren Richtung zuneigte. Wie intensiv Luther an dieser Frömmigkeitswelt partizipierte und sie zugleich in eine neue Gestalt transformierte3, hat jüngst Christoph Burger in seinem grundlegenden Kommentar zur Magnificat-Auslegung Luthers noch einmal eindrücklich vor Augen gestellt4. Mit ihr hat Luther im Jahre 1521 an jene Schriften anknüpfen können, mit denen er seit der Veröffentlichung der Auslegung der Sieben Bußpsalmen im Jahre 1518 die biblisch grundierte Frömmigkeitspraxis der Bevölkerung beeinflusst hatte. Starken Einfluss übte unter den Erbauungsschriften auch seine Vaterunserauslegung, genauer: seine Vaterunserauslegungen aus dem Jahre 1519 aus. Es handelt sich dabei zunächst und vor allem um die Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien, die am 5. April 1519 gedruckt vorlag5. Diese ausführliche Vaterunser1 S. hierzu MOELLER, BERND, Art. Flugschriften der Reformationszeit, in: TRE 11 (1983), 240–246, 241; vgl. SCHILLING, JOHANNES, C.I.4 Erbauungsschriften, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 295–305, 295. 2 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz / Heidrun Munzert / Roland Liebenberg (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. FS Berndt Hamm, Leiden / Boston 2005 (SHCT 124), 299–315. 3 Zum Begriff der „Transformation“ als Leitbegriff für das Verständnis des reformatorischen Wandlungsprozesses s. LEPPIN, VOLKER, Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in diesem Band S. 31–68. 4 BURGER, CHRISTOPH, Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1,46b-55) aus den Jahren 1520/21, Tübingen 2007 (SuR.NR 34). 5 WA 2,74f.

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Luthers Vaterunserauslegung von 1519

auslegung bildet wohl die Grundlage für die sehr viel knappere kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten, die ebenfalls 1519 erstmals gedruckt wurde6. Wohl aus demselben Jahr stammt dann auch ein ebenfalls recht knapper Text: Eine kurze und gute Auslegung des Vaterunsers vor sich und hinter sich. Diese wenigen Zeilen waren der ausführlichen Auslegung in einem Augsburger Druck des Jahres 1520 beigebunden7. In drei unterschiedlichen, inhaltlich allerdings hochgradig konvergenten Anläufen also hat Luther sich – zu Teilen Überlegungen aus seinen 1518 gedruckten Predigten über die zehn Gebote aus dem Zeitraum Juni 1516 bis Fastnacht 15178 aufgreifend, die 1518 Johann Agricola in deutscher Sprache veröffentlicht hatte9 – 1519 dem Vaterunsertext zugewandt und damit in einer Zeit, die, geprägt durch die Disputationen in Heidelberg und Leipzig, zunehmend die Erkenntnis brachte, dass er mit der Papstkirche brechen müsse10, den zentralen Gebetstext der Christenheit den Laien erläutert. Es ist auch, und das macht den Text für die Fragestellung nach theologischen Transformationen so interessant11, die Zeit, in der selbst diejenigen Forscher, die mit einem eher späten Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis rechnen, Luther bereits als reformatorisch ansprechen: Bekanntlich sah Ernst Bizer den reformatorischen Durchbruch in der Hebräervorlesung und den Resolutiones zu den Ablassthesen angebahnt und in den Acta Augustana in einer Radikalität vollendet, „daß man hier so etwas wie ein ‚Turmerlebnis‘, d.h. eine gründliche exegetische Neubesinnung postulieren müßte, wenn Luther selbst nicht davon erzählen würde.“12 Und Oswald Bayer kann aufgrund seiner Konzentration auf den promissionalen Charakter des Wortes den entscheidenden Durchbruch an der Thesenreihe „pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones“ festmachen, die zwar nicht ganz exakt zu datieren ist, aber zeitlich in das Umfeld der Heidelberger Disputation gehört13.

6

WA 6,11f. WA 6,20. 8 WA 1,398–521. 9 WA 9,124–159. 10 S. zur Entstehung der Antichristidentifikation des Papsttums in der Zeit nach der Leipziger Disputation LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt 12006, 147–150. 11 Es sei hier auch auf eine weitere wichtige Quellengruppe hingewiesen, auf deren Bedeutung für ein Verständnis der reformatorischen Entwicklung Martin Brecht aufmerksam gemacht hat: die Sermone der Jahre 1517 bis 1519 (s. BRECHT, MARTIN, Luthers reformatorische Sermone, in: Christian Peters / Jürgen Kampmann [Hg.], Fides et pietas. FS Martin Brecht, Münster 2003 [HPE 8], 15–32). 12 BIZER, ERNST, Fides ex auditu. Eine untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 1958, 104. 13 BAYER, OSWALD, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt ²1989, 182–202. 7

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Dass diese Spätdatierung wie auch eine Frühdatierung14 in sich Probleme haben, habe ich verschiedentlich dargelegt, und dabei dafür votiert, nicht nur, wie Otto Hermann Pesch es vorgeschlagen hatte, zwischen „Turmerlebnis“ als einem „auch psychologischen“ Durchbruchserlebnis und reformatorischer Wende im Sinne des Beginnes einer lang anhaltenden Umorientierung zu unterscheiden15, sondern sich ganz von der Vorstellung des einmaligen Durchbruchs zu lösen. Dies kann man auf unterschiedliche Weise tun: Berndt Hamm hat dem von ihm diagnostizierten „Wende-Konstrukt“16 die Vorstellung einer ganzen Anzahl kleinerer Wenden oder Durchbrüche entgegengestellt und so auf die heroische Einmaligkeit des Durchbruchserlebnisses verzichtet. Ich selbst habe vorgeschlagen, die Entwicklung Luthers eher als allmähliche Entwicklung zu verstehen, in der sich nach und nach die Ausschließlichkeitskonzepte der reformatorischen Theologie entwickelt haben 17: Ausgangspunkt der Entwicklung scheint schon um 1513 die Vermittlung einer christologischen Konzentration durch Staupitz gewesen zu sein. Diese vertiefte Luther in den folgenden Jahren vor allem durch die Lektüre Augustins zu einem Sola gratia, das sich um 1516/7 recht klar bei ihm abzeichnet. Die Heidelberger Disputation hat dann 1518 einen wichtigen Impuls für die Ausformung der Sola fide-Prinzips gegeben. Eine klar konturierte Sola-scriptura-Vorstellung im Sinne der Entgegensetzung der Schrift zur Tradition hingegen findet sich erst nach der Leipziger Disputation, und zwar zunächst bei Melanchthon18. Es ist offenkundig, dass der Vorteil eines solchen Modells nicht nur darin liegt, dass es dem völligen Fehlen des Niederschlags einer psychologischen Durchbruchserfahrung in Luthers Schriften der fraglichen Zeit Rechnung trägt19, sondern auch geeignet ist zu erklären, warum aufgrund je unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtungen das Aufkommen der reforma14

S. etwa LOHSE, BERNHARD, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 107–109. 15 PESCH, OTTO HERMANN, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (WdF 123), 445–505, 498–500. 16 HAMM, BERNDT, Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann / Volker Leppin / Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (SMHR 39), 111–151, 112–117. 17 LEPPIN, Luther (wie Anm. 10), 116f; in dieser Biographie auch ausführlichere Begründungen zu den einzelnen Etappen der Entwicklung. 18 Zu dieser Deutung der Baccalaureatsthesen Melanchthons s. KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, Mainz 2002 (VIEG 187), 227. 19 Vgl. die Durchsicht der Briefe bei ALAND, KURT, Der Weg zur Reformation. Zeitpunkt und Charakter des reformatorischen Erlebnisses Martin Luthers, München 1965 (TEH 123), 10–39.

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Luthers Vaterunserauslegung von 1519

torischen Theologie eher früher oder eher später festgemacht werden kann. Nicht die theologische Identifikation dieses oder jenes Punktes als solche ist das Problem, sondern der Luthers Selbststilisierung insbesondere in der Vorrede zu den lateinischen Werken folgende Gedanke eines plötzlichen Umschlags von einer Theologieform in die andere, der weniger geeignet scheint, Luthers tatsächliche Entwicklung zu greifen als der Gedanke kontinuierlicher Transformation. Denkt man Luthers Entwicklung freilich erst einmal in dieser Weise, so bedeutet dies, dass jeder einzelne Text der Zeit neu betrachtet werden muss: Erst die Schriften des Jahres 1520 wird man in vollem Sinne als reformatorisch ansprechen können – und selbst hier noch zu bedenken haben, dass nicht nur die Freiheitsschrift, sondern, wie Christoph Burger gezeigt hat, auch die Magnifikat-Auslegung noch in hohem Maße Kontinuität zu spätmittelalterlicher mystischer Literatur spüren lässt. Um so mehr gilt für alle Schriften vorher, dass man sie auf die eine oder andere Weise als Schriften auf dem Wege zu betrachten hat, in denen nicht einfach die alte oder die neue Theologie zu identifizieren ist, sondern die Zeugnisse jenes Transformationsprozesses darstellen. Hierzu gehören dann auch die genannten Vaterunserauslegungen. Als Produkte des Jahres 1519 stehen sie am Ende der reformatorischen Entwicklung Luthers, setzen sie aber noch nicht als abgeschlossen voraus: Als die Auslegung deutsch im Druck erschien, lagen Melanchthons Baccalaureatsthesen vom 9. September 1518 noch nicht vor20, in denen sich die erwähnte Zuspitzung des reformatorischen Anliegens auf ein Sola scriptura findet – und Luther hatte auch noch nicht unter dem Signum des „Antichrist“ den definitiven Bruch mit der Papstkirche vollzogen, auch wenn er schon länger über die Möglichkeit, dass der Antichrist in der Kurie sein Unwesen treibe, nachgesonnen hatte21. Es gehört zu den Auffälligkeiten in Luthers Entwicklung und zu den Elementen, die die Plausibilität des von mir vorgeschlagenen Modells unterstreichen, dass diese negative Abwendung von der Kirche seines Herkommens sich zeitlich parallel zu dem positiven Abschluss der reformatorischen Ausschließlichkeits-Normierungen vollzog, hatte freilich auch seinen guten Sinn: Für Luther war es gerade der Anspruch, der Papst sitze über der Schrift, der dessen Antichristlichkeit unterstrich22. Die Vaterunserauslegungen des Jahres repräsentieren also eine Übergangsphase in Luthers Theologie, je nach Akzentsetzung: kurz vor der Vollendung der reformatorischen Basisannahmen oder kurz vor dem definitiven Bruch 20

Zu den Thesen und ihrer Entstehung: MAURER, WILHELM, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 2, Göttingen 1969 (= ebd. 1996), 101–103. 21 WA.B 1,270,11–14. 22 WA 2,429,33–430,6; vgl. PREUß, HANS, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Leipzig 1906, 107

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mit Rom. Sie sind aber nicht nur in dieser Hinsicht Zeugnisse von Luthers Entwicklung, sondern weisen auch auf den späteren Gang seiner Überlegungen hinaus: Albrecht Peters hat in seinem Kommentar auf sie als eine wichtige Vorstufe der späteren Katechismen zurückgegriffen und dabei auch die in ichnen erfolgende Aufnahme mystischer Frömmigkeit deutlich gemacht23. Wenn dem so ist, könnte es sein, dass die Texte selbst ein wichtiges Scharnier darstellen, in dem sich in Luthers Entwicklung und Theologie der Übergang vom späten Mittelalter bis weit in die ausgebildete Theologie zeigt. Es wird zu oft übersehen, dass Luther noch als fast Fünfzigjähriger vermerkt hat, er habe auch als Gelehrter seine Kinderlehre noch nicht ausgeschöpft und lerne sie noch gemeinsam mit seinem Hans und seiner Magdalene24. Ganz en passant lässt er so erkennen, dass er sich in diesen Grundüberzeugungen des Glaubens bei allen Änderungen, die ihre Deutung durch die reformatorische Theologie erfahren hat, mit seinem spätmittelalterlichen Erbe verbunden weiß. Solche Bekenntnisse mögen auch moderne Lutherdeuter von der Vorstellung entlasten, das Reformatorische könne sich nur im Bruch mit dem Mittelalter zeigen. Der Luther, der in den Vaterunserauslegungen von 1519 begegnet, ist ein Theologe des Übergangs, der Transformation – und ein auffällig unsystematischer Theologe. Die Texte entziehen sich aufgrund dieser Situation und dieses Charakters der einfachen Zuordnung „spätmittelalterlich“ oder „reformatorisch“ beziehungsweise zeigen exemplarisch, wie sich aus der spätmittelalterlichen Theologie die reformatorische allmählich herausschält. Unverkennbar ist dabei die Augustinlektüre Luthers. Bekanntlich hat Luther selbst die von ihm mit angestoßene Reform der Theologie Wittenberger Gepräges vor allem mit Augustin identifiziert – etwa wenn er in seinem berühmten Brief an Johannes Lang vom 18. Mai 1517 erklärt: „Unter Gottes Beistand machen unsere Theologie und Sankt Augustin gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität“25 oder wenn er seine Disputation gegen die scholastische Theologie vor allem als Verteidigung Augustins gegen unberechtigte Angriffe inszeniert26. Inhaltlich war diese Wendung seiner Theologie, die nur dann verständlich ist, wenn man sich klar macht, dass in dieser Zeit für Luther Kirchenväter und Bibel noch durchaus in einem reziproken hermeneutischen Erschließungsprozess aufeinander bezogen und nicht als Schrift und Tradition

23

PETERS, ALBRECHT, Kommentar zu Luthers Katechismen, ed. v. Gottfried Seebaß. Bd. 3: Das Vaterunser, Göttingen 1992, 47. 24 WA.TR 1, 30,26–31,2 (Nr. 81). 25 WA.B 1, 99,8f (Nr. 41): „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante.“ 26 WA 1,146,224,7f: „Dicere, quod Augustinus contra haereticos excessive loquatur, Est dicere, Augustinum fere ubique mentitum esse“ („Zu sagen, dass Augustin gegen die Häretiker überzogen spreche, heißt zu sagen, dass Augustin fast überall gelogen habe“).

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Luthers Vaterunserauslegung von 1519

einander entgegengestellt waren27, am Stärksten und Deutlichsten in der Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata zu greifen, die am 25. September 1516 Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirch im Rahmen seiner Promotion zu absolvieren hatte und die Jens-Martin Kruse zu Recht als ersten (universitäts)öffentlichen „Vorstoß von Luthers Theologie“ charakterisiert hat28. Freilich war hier noch die leitende Gegenüberstellung die von Gnade und Tun des Menschen – die Zentralstellung des Glaubens hat sich zwar parallel herausgebildet (etwa wenn Luther in seinen Randbemerkungen zu Tauler feststellt, es bleibe dem Menschen nur noch „nuda fides in deum“29), die programmatische Betonung der soteriologischen Zentralstellung des Glaubens aber wird man erst in die Zeit der Heidelberger Disputation setzen können: Sie findet sich vor allem in den Erläuterungen zu These 25 und 2630. Im Frühjahr 1518 also scheint jene Gegenüberstellung von Glauben und Werken, wie sie für reformatorische Theologie leitend ist, ausgereift gewesen zu sein. Angesichts dieses Standes der Entwicklung überrascht es nicht, dass sich eben diese Gegenüberstellung auch in Luthers fast genau ein Jahr später gedruckter Vaterunserauslegung findet: „Also leret der Apostel, das eyn gerechter mensch nyndert von anderen, dan von seinem glauben und vortrawen in got, besten muge und also nit seyne werck, sundern die blosze barmhetzikeit gottis sein trost und tzuvorsicht ist.“31

Eben hier zeigt sich nun aber, dass die in der älteren Forschung dominierende teleologische Zugangsweise, die nach bestimmten reformatorischen Formulierungen suchte und bei deren Auftreten dann auch das Vorhandensein der reformatorischen Theologie diagnostizierte, nur schwer mit der Komplexität der vorhandenen Quellen in Übereinstimmung zu bringen ist. Denn neben dieser reformatorischen Gegenüberstellung der Alleinigkeit von Glauben und Vertrauen in Gott gegen die eigenen Werke gibt es Deutungen der Gerechtigkeit, die mit dem, was Luther später, in seinem vielfach traktierten Rückblick aus der Vorrede zu den lateinischen Werken kaum in Einklang zu bringen sind. Am Deutlichsten ist dies wohl in der erwähnten knappen Schrift „Eine kurze Form, das Paternoster zu verstehen und zu beten“, in der Luther erklärt, Gott könnte „nach aller gerechtigkeyt ein gestrenger Richter sein“32, also 27

Zu Luthers Traditionsverständnis s. LEPPIN, VOLKER, Tradition und Traditionskritik bei Luther, in: Peter Gemeinhardt / Bernd Oberdorfer (Hg.), Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum, Gütersloh 2008 (LKGG 25), 15–30; zu spätmittelalterlichen Möglichkeiten, Schrift und Väter in inkludierendem, noch nicht exkludierendem Sinn aufeinander zu beziehen: LEPPIN, VOLKER, Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (FKDG 63), 299. 28 KRUSE, Universitätstheologie (wie Anm. 18), 79. 29 WA 9,102, 36. 30 WA 1,364,1–26. 31 WA 2,100,18–21. 32 WA 6,11,23.

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eben jenen Begriff der iustitia distributiva voraussetzt, dessen Überwindung Luther selbst 1545 als entscheidend für seine reformatorische Entwicklung bezeichnete: Gerechtigkeit ist hier ganz offenkundig nicht die von Gott dem Menschen ohne dessen Verdienst geschenkte Gabe, sondern die den Richter leitende Weise der Beurteilung des Menschen. Dass die Begriffe, mit denen Luther 1545 im Rückblick seine frühe Entwicklung beschrieb, mit den Texten der fraglichen Zeit nur schwer zu verbinden sind, hat bekanntlich schon Emanuel Hirsch gezeigt33. Luthers Verständnis von Gerechtigkeit in der Vaterunserauslegung ist aber nicht nur bemerkenswert, weil sie sich der klaren Identifikation mit jenem Rückblick Luthers entzieht, sondern vor allem weil sie überhaupt jede scheineindeutige schematische Festlegung des frühen Luther konterkariert. Die zitierte Stelle ist nicht die einzige, an der Luther von Gerechtigkeit spricht, und die Erwähnungen in der ausführlicheren Auslegung setzen durchaus andere Akzente, am Deutlichsten, wenn Luther sagt: „Die gerechtikeyt ist nith anders, dan wan ein mensch sich selbst also erkenth, gnade und hulffe vonn got bittet und suchet, durch welche er dan vor got erhaben wirth.“34

Hier verschiebt sich die Akzentsetzung von einer Betonung der Gerechtigkeit als einer Gott leitenden kriterienhaften Urteilseigenschaft hin zu einer existenziellen Anwendung. Gerechtigkeit fällt mit dem Vorgang der Erniedrigung des Menschen zusammen, ja, Luther kann das Gericht Gottes auch ausdrücklich mit „demutigkeyt unnd seins selbst ernyderung“35 gleichsetzen. Folgt man der von Bizer eingeführten Deutung der frühen Theologie Luthers als einer monastisch gefärbten Demutstheologie, so wird deutlich, dass diese in diesem Text des Jahres 1519 noch keineswegs ihre Bedeutung verloren hat, sondern leitend für das Verständnis des theologischen Zentralbegriffs der Gerechtigkeit bleibt36 – anders gesagt: Die oben angeführte Ausformulierung einer augustinisch gestalteten Rechtfertigungslehre steht nicht an Stelle einer vorherigen, abgelösten Demutstheologie, sondern beide theologischen Paradigmen stehen nebeneinander, beziehungsweise liegen ineinander. Beide konvergieren in einer starken Betonung der Sündenbefangenheit des Menschen, die die Vaterunserauslegung ebenso durchzieht wie auch andere frühe Texte Luthers, etwa die Auslegung der sieben Bußpsalmen. Grundsätzlich ist von der Sünde niemand ausgenommen. Wenn Luther im Blick auf die Sündigkeit des Menschen von „tzweyerley volck“ spricht, so sieht er dies vielmehr darin begründet, dass nur der eine Teil der Menschheit seine Sünden 33 HIRSCH, EMANUEL, Initium theologiae Lutheri, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968, 64–95, 75. 34 WA 2,99,20–22. 35 WA 2,99,19. 36 BIZER, Fides ex auditu (wie Anm. 12), 123, selbst führt die Deutung der Vaterunserauslegung systematisch eng, wenn er hierin ohne weitere Differenzierung die Auffassung findet: „der Glaube ist die Gerechtigkeit des Menschen“.

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Luthers Vaterunserauslegung von 1519

tatsächlich er- und bekenne, die anderen Menschen sich aber der Radikalität dieser Erkenntnis als Heuchler entziehen37 – auch an dieser Stelle ist ein bemerkenswerter Unterschied zur späteren Einteilung der Menschen in der Obrigkeitsschrift zu beobachten, dem hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann. Der Kampf gegen die Sünde ist nach der Vaterunserauslegung nicht ein Kampf, den der Mensch allein aus eigenen Kräften führen könnte, sondern in Ausdeutung von Röm 7 beschreibt Luther, wie die Gnade im Sünder den Kampf gegen den alten Adam beginnt38. Offenkundig reflektiert Luther hier jene Simul-Struktur, mit deren Entwicklung er wenige Jahre zuvor in der Römerbriefvorlesung begonnen hat39. Maßgeblich für diesen Kampf ist aber eben jene Erkenntnis der Sünde im Glaubenden, die durch Gott selbst bewirkt wird. Nachdem Luther breit ausgeführt hat, dass die Bitte um die Heiligung des Namens ja voraussetze, dass der Bittende selbst den Namen Gottes noch nicht genug heilige, erklärt er summierend: „Sich, also lerent dich das Vater unser tzum erstenn erkennen dein gros elendt und vorterben, das du ein gots lesterer bist (…).“40

Mit der späteren theologischen Begrifflichkeit gesprochen, dient also das Vaterunser gewissermaßen im Sinne des theologischen Gebrauchs des Gesetzes zum Sündenaufweis des Menschen41 – und tatsächlich korrespondiert dem auch eine der Aufrichtung durch das Evangelium entsprechende Funktion: „Syhe nun, wan du also ernstlich yn dich geschlagen und yn deins elends erkentenis gedemutiget bist, Dan tzum andern kumpt die trostlich lere und recket dich widder auff, das ist, das gebet leret dich, das du nit vortzweiffelen solt, sundern gottis gnaden und hulff begeren.“42

Der Grundvorgang der Verzweiflung, die in die Bitte um die Gnade Gottes und damit letztlich zur Aufrichtung des Elenden führt, ist der lutherischen Lehre gut vertraut – und doch ist die Formulierung, die Luther hier verwen37

WA 2,93,6–19. WA 2,105,32–36. 39 WA 56,269,27–30: „Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputanti Iusti; Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti; Ignoranter Iusti et cienter inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe“; vgl. Zu den spätmittelalterlichen Hintergründen der Simul-Vorstellung inbesondere bei Gregor von Rimini LEPPIN, VOLKER, Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther, in diesem Band S. 303–331; zur weiteren Entwicklung PESCH, OTTO HERMANN, Simul iustus et peccator. Sinn und Stellenwert einer Formel Martin Luthers, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen, Freiburg i. Br. / Göttingen 2001 (DiKi 11), 146–167. 40 WA 2,93,20f. 41 S. PETERS, Kommentar (wie Anm. 23), 17f. 42 WA 2,93,29–32. 38

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det, in mehrfacher Hinsicht auffällig: sowohl im Blick auf das, was er sagt – als auch im Blick auf das, was er nicht sagt. Für den ersten Gesichtspunkt sei auch hier noch einmal darauf verwiesen, dass Luther offenbar (wie übrigens auch noch in der Kirchenpostille von 152243) nicht die geringste Schwierigkeit hat, weiter in den Begriffen der Demutstheologie zu denken und zu schreiben – wenn sich also an der Zentralstellung der humilitas der mittelalterlich-monastische Charakter seiner frühen Theologie zeigt, wie Bizer dies dargelegt hat, so ist dies genau hier zu greifen. Indem es aber in einer Struktur erscheint, die die Dialektik von Gesetz und Evangelium präformiert, wird zugleich deutlich, dass eben der harte Schnitt zwischen der spätmittelalterlichen und der reformatorischen Erbauung so schroff nicht zu setzen ist44. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass die beschriebene Struktur von Erniedrigung des Sünders und Erhöhung durch die Gnade tief in der spätmittelalterlichen Theologie vor allem mystischen Gepräges verwurzelt ist45. In einer Predigt über Joh 5,1ff beschreibt Johannes Tauler den dialektischen Prozess der – ja auch bei Luther in der Vaterunserauslegung im Vordergrund stehenden – Erkenntnis der Sünde und der eben darin wurzelnden Hinwendung zu Gott: „Die dirte porte von disen daz ist ein war wesenlicher ruwe der súnden. Welicher ist daz? Das ist ein gantz war abeker von allem dem daz nút luter Got enist oder des Got nút ein ware sache enist, und ein war gantz zuoker zuo Gotte mit allem dem daz man ist; und daz ist alleine der kerne und daz marg des ruwen; und dan mit einer versaster getrúwunge versinken in das minnenkliche luter guot das Got ist, und an ime und in ime iemer zuo blibende und anzuohangende mit minnen und mit luterre meinunge in eime vollen bereiten willen, den liebsten willen Gottes zuo tuonde also verre also er mag.“46

Die entscheidende Transformation, die sich an diesem theologischen Punkt bei Luther vollzieht, ist die worttheologische Zuspitzung47, die in der Vaterunserauslegung von 1519, wie Bizer gezeigt hat, auch gegenüber dem vorhergehenden Predigtzyklus über das Vaterunser und seiner deutschen Übersetzung neu ist48. Wieder zeigt sich an diesem Text geradezu exemplarisch, wie wenig man einem Verständnis dieser Entwicklung durch das Bild eines har43

WA 10/1/1,455,5–11. Zur Präsenz des humilitas-Gedankens auch noch in späteren Schriften, etwa der Magnificat-Auslegung s. BURGER, Marias Lied (wie Anm. 4), 65–68, einschließlich der wichtigen Hinweise auf den nichtverdienstlichen Charakter der Demut ebd. 68f. 45 Die starke Prägung der Vaterunserauslegung durch Mystik gesteht auch BIZER, Fides ex auditu (wie Anm. 12), 113, zu. 46 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, ed. v. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, 36,10–18. 47 S. LEPPIN, VOLKER, Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in diesem Band S. 399–418; vgl. zur Bedeutung gerade dieses Transformationsprozesses auch meine Auseinandersetzung mit Dietrich Korsch, in: Luther 79 (2008), 45–55. 48 BIZER, Fides ex auditu (wie Anm. 12), 124. 44

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schen Bruchs nahekommt. Tatsächlich finden sich klare worttheologische Anklänge in dieser Schrift, etwa die Darlegung, es habe „ein itzlich worth gottis die art, das es erschreckt und trostet, schlegt und heylet, tzubricht und bawet, reysset aus unnd pflantzet wydder, demutiget und erhebet“49

oder auch eine Aussage, die iustita-Lehre und Worttheologie in einer ganz auf den reformatorischen Duktus ausgerichteten Weise verbindet: „dan die tzwey stuck Judicium et iusticiam, gericht und gerechtikeit, wircket das wort gottis alletzeyt“50.

Doch ist eben mit diesen einzelnen Zitaten die Komplexität von Luthers früher Theologie noch keineswegs erfasst, denn die extra-nos-Dimension des Wortes ist in diesem Zusammenhang, lange vor der Auseinandersetzung mit spiritualistischen Strömungen, noch keineswegs in voller Schärfe formuliert, vielmehr hält Luther Möglichkeiten einer innerlichen Wirkung des Wortes Gottes offen. Dies komme nämlich auf zwei Weisen, zum einen durch einen Prediger, „Czum andern durch sich selbst, als wen got eynem leydenden menschen sein wort eingeust, da mit er starck wirt alles tzu tragen, dan gottis wort ist almechtich.“51

Dass die Quelle des Wortes Gott selbst ist und der Mensch allein auf göttliche Offenbarung angewiesen ist, bleibt dabei völlig unhinterfragt52, aber Gott wirkt eben nicht nur durch Priester und Lehrer, sondern auch „Innerlich durch gottis selbst leren“53. Wie diese unmittelbare Belehrung stattfinden soll, wird durch die Ausführungen nicht deutlich, doch erinnert die Rede vom Eingießen des Wortes Gottes nicht allein an die apokalyptischen Verheißungen in Joel 3,1, sondern auch an die scholastische Terminologie von der infusio gratiae, der Luther gar zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so fern steht, wie es aufgrund späterer Aussagen zu vermuten wäre: Wenige Zeilen von der oben angeführten Verwendung von Röm 7 entfernt, kann er auch erklären, Gott „geust sein gnad in uns“54. Dieser Beleg reicht nicht, um anzunehmen, dass Luther sich die Eingießung des Wortes im Horizont dieser eng mit der aristotelischen Habitus-Lehre verbundenen infusio-Lehre vorstellt, doch weisen solche Belege darauf hin, dass viele weltbildhafte Elemente seiner Aussagen 1519 eng auf den Bahnen seiner bisherigen Ausbildung zu verstehen sind.

49

WA 2,95,16–18. WA 2,99,14–16. 51 WA 2,108,18–20. 52 WA 2,112,1. 53 WA 2,112,35. 54 WA 2,105,33. 50

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Sicherer als die Weise der Eingießung des Wortes ist allerdings, dass Luther nicht so weit geht, eine innere Belehrung durch Gott anzunehmen, die völlig losgelöst vom äußeren Geschehen wäre. Beides geht vielmehr parallel: „Er ist da bey und lereth innerlich selbst, das er gibt eusserlich durch den priester“ 55

Aber Parallelität ist eben doch mehr als die scheinbare Eindeutigkeit, die der berühmte Buchtitel Ernst Bizers in Aufnahme von Röm 10,17 zur Zusammenfassung des entscheidenden Punktes von Luthers reformatorischer Entdeckung gewählt hat: „Fides ex auditu“ – es ist 1519 noch nicht allein das Hören, das den Glauben weckt, sondern auch und damit verbunden ein unmittelbares innerliches Wirken Gottes, das bei Luther ausdrücklich als zweite Weise des Wirkens Gottes verstanden und über die Parallelität hinaus nicht in einen Gesamtvorgang der Glaubensweckung eingebunden wird. Eine rasche systematische Vereinheitlichung würde der Brisanz dieser Zwischenstufe in Luthers Denken nicht gerecht werden und die allmähliche Entwicklung seiner Überzeugungen unterschätzen. Mit der Betonung der innerlichen Wirkung Gottes folgt Luther den Spuren jener mystischen und frömmigkeitstheologischen Theologen, denen er einen Großteil seiner eigenen Entwicklung verdankt56. Deren Nachwirkung zeigt sich auch in jenen Teilen der Vaterunserauslegung, in denen er grundsätzlich über das Gebet reflektiert. Hiernach gibt es zwei Arten von Gebet, einerseits „das eusserliche mummelen und plepperen mit dem munde“, andererseits aber, als das eigentlich von Christus gewollte, das innere Gebet, „das innerliche begirde, seufftzen unnd vorlangen aus hertzen grund“57. Luther beruft sich für diese Unterscheidung auf Joh 4,2458. Denkfigur und biblischer Zusammenhang aber sind durchaus traditionell: Exakt die Verbindung zwischen einer Unterscheidung von innerem und äußerem Gebet mit Joh 4,24 findet sich auch bei Tauler59, und wie Luther wendet sich auch Tauler gegen das bloß äußere Gebet, das er als bloßes „klaffen“60 bezeichnen kann. Doch nicht nur die Grundlegung der Gebetshaltung entstammt der Mystik, sondern auch an gewichtigen inhaltlichen Stellen bietet Luther eine Deutung des biblischen Textes in geradezu frappierend mystischem Sinne, wenn er die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes ganz

55

WA 2,112,38f. Zum mystischen Hintergrund s. Berndt Hamm / Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther. Gottfried Seebaß zum 70. Geburtstag, Tübingen 2007 (SuR.NF 36). 57 WA 2,81,22–26. 58 WA 2,81,17–19. 59 Predigten Taulers (ed. Vetter. wie Anm. 46), 101,12. 60 Predigten Taulers (ed. Vetter. wie Anm. 46), 370,18. 56

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Luthers Vaterunserauslegung von 1519

verinnerlichend fasst. Die Auffassung, dass hier das Himmelreich gemeint sei, sei falsch61, vielmehr gelte: „Also ist gotis reich nit anders dan frid, tzucht, demutigkeit, keuscheit, liebe und allerley tugenth“62.

Diese Existentialisierung der Eschatologie ist um so erstaunlicher, als Luther sich ja in eben jenem Jahre 1519 zu der Erkenntnis durchrang, dass der Papst der Antichrist sei, die für ihn zum Ausgangspunkt seiner apokalyptischen Vorstellungen von der Nähe des Endes wurden. So sehr er in der Entwicklung der Apokalyptik Anleihen an spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Theologie macht, so sehr ist doch gerade diese Lehre eine, die sich fundamental der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Kirche verdankt. Wenige Monate zuvor konnte er noch so gänzlich unapokalyptisch sprechen, wie es hier in der Vaterunserauslegung erscheint, die wie dargelegt zu guten Teilen mystische Vorstellungen tradiert und behutsam transformiert. Dabei kommen auch andere Quellen als die großen Mystiker in Frage: Einige wichtige Überlegungen scheint Luther auch von Gabriel Biel übernommen zu haben, dessen Bedeutung für ihn an dieser Stelle freilich weniger mit seinem sonst so vielfach benannten akademischen Werk zu tun hat als mit seiner Messerklärung – die Fixierung auf den Ockham-Adepten Biel63 übersieht ja allzu leicht, dass Biel auch ein Vertreter der Brüder vom gemeinsamen Leben64 war und auf dieser Linie durchaus als Frömmigkeitstheologe anzusprechen ist65. Und als solcher gewinnt er für Luther Bedeutung. Naheliegender Weise musste er im Rahmen der Messerklärung auch auf das Vaterunser kommen und stellt hier fest: „Est enim pater nomen amoris et pietatis, quod natura ipsa docet in patre naturali”66.

Es ist der Blick auf diese Deutung, der Luthers eigene Auslegung verständlicher macht, nach der der Name Vater „von natur eyngeborn und naturlich

61

WA 2,98,29–38. WA 2,97,29f. 63 GRANE, LEIF, Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam, Kopenhagen 1962 (AThD 4); OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965 (SuR 1). 64 Ulrich Köpf / Sönke Lorenz (Hg.), Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Beiträge aus Anlaß des 500. Todestages des Tübinger Theologen (Contubernium 47), Stuttgart 1998; FAIX, GERHARD, Gabriel Biel und die Brüder vom Gemeinsamen Leben. Quellen und Untersuchungen zu Verfassung und Selbstverständnis des Oberdeutschen Generalkapitels (SuR.NR 11), Tübingen 1999. 65 Vgl. METZ, DETLEF, Gabriel Biel und die Mystik, Stuttgart 2001 (Contubernium 55), 428. 66 Gabrielis Biel Canonis Misse Expositio, ed. v. Heiko Augustinus Oberman / William J. Courtenay. Bd. 3, Wiesbaden 1966 (VIEG 33), 60. 62

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suss“67 sei. Dass dieser Rekurs auf die natürliche Grundlegung des Vaternamens auf Bielschem Boden gewachsen ist, macht nicht nur Luthers allgemeine Vertrautheit mit der Messerklärung wahrscheinlich, sondern auch die Tatsache, dass sich auch andere Anklänge an Biel bei ihm finden: Seine Erläuterung zum pluralischen Personalpronomen im „Vater unser“: „Das gebet ist ein geistlich gemein gut” 68 wird verständlich, wenn man als Hintergrund die Deutung Biels zum „noster“ liest, dieses nämlich zeige die „generalitatem sive universalitatem“ der Anrede an69. Diese letzten Überlegungen zur Wirkung Biels auf Luthers Vaterunserauslegung, die im Einzelnen noch zu ergänzen und zu unterfüttern wären, unterstreichen noch einmal, wie wenig man dem Text gerecht wird, wenn man ihn in geschlossene systematische Zusammenhänge pressen will. Dem Text eignet bis zu einem gewissen Grade auch ein eklektischer Charakter: Luther bedient sich aus der Tradition, mit der er sich befasst hat, nimmt einzelne Gedanken auf, formt andere um, setzt neue Überlegungen hinein: Seine Vaterunserauslegung von 1519 zeigt Martin Luther mitten im Prozess der Transformation mittelalterlicher Theologie zur reformatorischen. Kontinuität und Neuansatz liegen dabei nicht nur neben- sondern auch ineinander. Die Zeitgenossen, die diesen erbaulichen Autor begeistert gelesen haben, legen Zeugnis davon ab, wie wirkungsvoll eine solche Theologie war, die in aller Neuigkeit auch manches aus der tradierten Frömmigkeit bewahrte.



67

WA 2,83,17f. WA 2,86,10. 69 BIEL, Kanonis misse Expositio 3 (wie Anm. 66), 64f. 68

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Deus absconditus und Deus revelatus Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“ Kaum ein Gedanke Luthers wurde unter seinen Erben bekanntlich so kontrovers diskutiert wie der des Deus absconditus1 – zumal in der Fassung, die er dieser Lehre in De servo arbitrio gab. Dabei spielt auch immer wieder, oft in exkulpierendem Sinne, die Frage nach der mittelalterlichen Verankerung dieses Gedankens eine Rolle. Bekanntlich geht die Formulierung auf eine Wendung in der Vulgatafassung von Jes 45,15 zurück2. Doch wird eine historische Nachfrage neben diesen ferneren Ursprüngen auch die näheren und nächsten des späten Mittelalters zu beachten haben. Hierfür sind im Wesentlichen drei zu benennen: Erstens scheint der scholastische Kontext der Via moderna mit seiner Unterscheidung von potentia absoluta und revelata es zu ermöglichen, die Dialektik, die Luther in Gott selbst hineinversetzt, nachzuvollziehen. Zweitens gibt es keinen zwieten spätmittelalterlichen Denker, der so programmatisch von der Denkfigur des Deus absconditus Gebrauch macht wie Nikolaus von Kues. Und drittens lässt die Betonung des Deus revelatus an Luthers Beichtvater Johann von Staupitz und seinen Hinweis auf den gekreuzigten Christus denken. Ehe diesen drei Spuren nachgegangen wird, soll aber der gedankliche Kontext der Erwähnung bei Luther aus seinem argumentativen Zusammenhang heraus in Erinnerung gerufen werden.

1

Zur Diskussion im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. s. nach wie vor instruktiv BANDT, HELMUT, Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Eine Untersuchung zu dem offenbarungsgeschichtlichen Ansatz seiner Theologie (ThA 8), Berlin 1958, 9–18 2 „Vere tu es Deus absconditus Deus Israhel salvator.“ Dass Luther diese Stelle nicht ausdrücklich als Beleg heranzieht (ADAM, ALFRED, Der Begriff „Deus absconditus“ bei Luther nach Herkunft und Bedeutung, in: LuJ 30 [1963], 97–106, 100), ist angesichts der durchweg biblisch geprägten Sprache Luthers kein Beleg dagegen, dass der Begriff von hier stammt.

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Deus absconditus und Deus relevatus

1. Der Dialog mit Erasmus Luther ist in De servo arbitrio in erster Linie Antwortender: Der gesamte Aufbau seiner Schrift steht in Abhängigkeit von dem Aufbau von De libero arbitrio, jener Schrift des Rotterdamers, auf die er reagieren will. Und die Argumentation, auf die er im für die Rede vom Deus absconditus entscheidenden Kontext eingeht, ist die Auslegung verschiedener Stellen aus Ez, vornehmlich dem achtzehnten Kapitel bei Erasmus. Zunächst geht es dabei um die Auslegung von Ez 18,23; 33,11, jener Aussage des Propheten, nach der Gott keinen Gefallen am Tod des Gottlosen hat, sondern daran, dass er sich umkehre und lebe. Erasmus insistiert rhetorisch auf der darin implizierten Möglichkeit des Handelns des Menschen3. Hierauf reagiert Luther mit der ersten Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium: Die Implikation des Satzes ist nicht, wie Erasmus meint, eine implizite Handlungsvorschrift, die den Sünder zum Abstehen von seinem Tun auffordert, sondern die Pointe liegt in Gottes Verheißung, dass er den Tod des Sünders nicht will – obwohl er Sünder ist und bleibt4. Luther bewegt sich also in einem ersten Argumentationsgang auf einer schrifthermeneutischen Ebene und im Rahmen einer geradezu klassischen und für seine gesamte Theologie konstitutiven Unterscheidung, der zwischen Gesetz und Evangelium. Den Auslöser für seine weiter gehende Argumentation gibt die rhetorische Frage des Erasmus: „Deplorat pius dominus mortem populi sui, quam ipse operatur in illis?“ („Beklagt der treue Herr den Tod seines Volkes, den er selbst in jenen bewirkt hat?“)5. Es ist also Erasmus, der die Frage nach der inneren Konsistenz Gottes stellt, und zwar ausschließlich auf der Handlungsebene: In einer rhetorischen, selbstverständlich zu verneinenden Frage stellt er den Kummer Gottes und dessen diesem Kummer zugeordnete pietas in einen potenziellen Gegensatz zu seinem eigenen strafenden Wirken. Während Luther bei der vorangehenden Argumentation seine eigene hermeneutische Differenz mit einer gewissen Spitzfindigkeit in den Bibeltext eintragen musste, geht es hier, will er dem Argument des Erasmus begegnen, gerade darum, Auseinandergerissenes zusammenzufügen. Eine Deutung Luthers, die diesen Argumentationsanlass nicht in Rechnung stellte, würde ihr Ziel verfehlen. Es ist wenigstens zu erwägen, ob die immer wieder im Gegenüber von Deus revelatus und Deus absconditus gesehene Diastase, die das einheitliche Gottesbild zu zerreißen droht, nicht eigentlich auf die Vorgabe des Erasmus zurückgeht und die argumentative Spitze Luthers gerade in die

3 ERASMUS VON ROTTERDAM, Ausgewählte Schriften, ed. v. Werner Welzig, Bd. IV, Darmstadt 1969, 64. 4 LUTHER, StA 3, 252,7–15. 5 ERASMUS, Schriften (wie Anm. 3), 4, 64.

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gegenteilige Richtung geht: Die Unterscheidung von Deus revelatus und Deus absconditus als Modell zur Wahrung der Einheit in Gott. Diese Wahrung der Einheit Gottes geschieht nun ihrerseits – auch dies muss für ein Verständnis Luthers präzise nachgezeichnet werden – durch die bekannte Unterscheidung zwischen dem Deus praedicatus und dem Deus absconditus6, aber genau diese scharfe Formulierung, die zweimal von einem Gott redet und damit den Anschein erweckt, es gehe um zwei Götter, wird auf mehrfache Weise umschrieben: Einmal lautet das Gegensatzpaar voluntas Dei praedicata, revelata, oblata, culta auf der einen Seite, Deus non praedicatus, non revelatus, non oblatus, non cultus auf der anderen Seite7. Und ein andermal lautet das Gegensatzpaar schlicht verbum Dei – Deus ipse8. Auch diese Gegensatzpaar machen deutlich, dass im Vordergrund der Argumentation Luthers die Einheit Gottes steht. Deus absconditus und Deus revelatus stehen auf unterschiedlichen Seins- beziehungsweise Erkenntnisebenen: Während der eine Gottes Sein „in sua natura et maiestate“9 bezeichnet, bezeichnet der andere die Mitteilungsform, die Gott selbst für die Menschen gewählt hat. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass die erste Unterscheidung mit reinen Negativpartikeln vorgeht: Es geht um den nicht gepredigten, nicht offenbarten, nicht dargereichten, nicht verehrten Gott, und es ist eben diese Verneinung, die Gott selbst will und bestimmt. Die Einführung des Verbums abscondere erfolgt im Zusammenhang einer Willensaussage Gottes: „Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos“10 – ein Satz, der gleich schon die gelehrte Anspielung auf das folgende antike Zitat enthält: „Quae supra nos, nihil ad nos“11. Die Unterscheidung zwischen Deus absconditus und Deus revelatus hat also eine erkennbare Ursache und eine erkennbare Ausrichtung: Ursache ist die Willensentscheidung Gottes und ausgerichtet ist sie auf die Verstehensfähigkeit des Menschen. Als solche Unterscheidung stellt sie nicht eine ontologische Unterscheidung dar, sondern eine relationa6

LUTHER, StA 3, 253, 35f. LUTHER, StA 3, 253,14–16. 8 LUTHER, StA 3, 253,36. Diese Zuordnung des „deus ipse“ zum Deus absconditus bezeichnet JÜNGEL, EBERHARD, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluß an Luther interpretiert, in: EvTh 32 (1972), 197– 240, 214, zu Recht als „beschwerlich“ – in systematischer Perspektive holt er sie durch eine Interpretation von den frühen Lutherschriften her ein, wenn es in deutlichem Unterschied zur Aussage von „De servo arbitrio“ heißt: „Wer Gott selbst ist – das ist also erkennbar in dieser Geschichte“ (DERS., Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes. Ein Beitrag zum evangelischen Verständnis der Verborgenheit des göttlichen Wirkens, in: DERS., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erläuterungen III [BEvTh 107], München 1990, 163–182, 170). 9 LUTHER, StA 3, 253,23. 10 LUTHER, StA 3, 253,16f. 11 LUTHER, StA 3, 253,17; zu dieser Formel bei Luther s. JÜNGEL, Quae supra nos (wie Anm. 8). 7

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Deus absconditus und Deus relevatus

le, die die positiv gegebene Relation des Deus revelatus von der Nichtgegebenheit der Relation im Deus absconditus unterscheidet12. Noch etwas komplizierter wird Luthers Sprachgebrauch allerdings durch die zweite Unterscheidung, die mit einem „hoc est“ als Entsprechung zur Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus eingeführt wird: Wort Gottes und Gott selbst – denn wenig zuvor hat Luther das Wort noch als Mittel eingeführt, das der offenbare Gott sendet13. Wie so oft, geht Luthers Begrifflichkeit in einer streng logischen Analyse nicht ganz auf – und ist doch in der Aussageintention deutlich: Der Deus revelatus ist auf das Wort zugespitzt, das nun aber nicht nur als kognitiver Offenbarungsträger verstanden wird, sondern als dasjenige, durch das der offenbare Gott den Menschen zum Heil führt14. Es ist also allein der offenbare Gott, der eine Heilsrelation zum Menschen aufbaut. Diese Ausrichtung der Unterscheidung wird noch durch zwei weitere Gedankengänge Luthers deutlich. Das Fehlen einer Relation zum Menschen wird noch präzisiert durch Luthers direkte Folgerung, die er aus dieser Unterscheidung für das von Erasmus vorgebrachte biblische Problem zieht, ob denn der fromme Gott den Tod seines Volkes, den er selbst verursacht hat, beweine, auf das er ja eigentlich antworten will: Der fromme Gott, das ist der offenbare Gott: Er beweint nicht den Tod, den er verursacht, sondern den, den er vorfindet15. Der verborgene Gott hingegen verursacht Tod – und Leben – und beweint den Tod nicht16. Die Relation des Sich-um-den-Menschen-Sorgens wird also so wie die Offenbarungsrelation gänzlich auf den offenbaren Gott bezogen, der verborgene Gott hingegen steht, so wird hieraus deutlich, durchaus auch in einer Relation zum Menschen, die aber nicht personalaffektiver, sondern schlicht kausativer Art ist: Der Deus absconditus ist – darauf hat Thomas Reinhuber zu Recht verwiesen – nicht nur Verursacher des Todes, sondern zunächst und vor allem Verursacher des Lebens17, und insofern steht er über allem18, ist ihm die Qualität der Allmacht zuzusprechen19. 12

Ähnlich OTTO, WERNER, Verborgene Gerechtigkeit. Luthers Gottesbegriff nach seiner Schrift „De servo arbitrio“ als Antwort auf die Theodizeefrage (RSTh 54), Frankfurt/M. 1998, 222. 13 LUTHER, StA 3, 253,30f. 14 LUTHER, StA 3, 253,30f. 15 LUTHER, StA 3, 253,28–30. Trotz dieser Aussage bleibt der Hinweis von BEINER, MELANIE, Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ für die theologische Anthropologie (MThS 66), Marburg 2000, 146 bedeutsam, dass der Wille des deus absconditus keineswegs mit dem in der Prädestinationslehre gelehrten verwerfenden Willen Gottes gleichzusetzen ist: Der Wille des Deus absconditus bleibt dem menschlichen Erkenntnisvermögen gänzlich entzogen (so auch bereits zu Recht JÜNGEL, Offenbarung [wie Anm. 8], 176). 16 LUTHER, StA 3, 253,31f. 17 REINHUBER, THOMAS, Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio (TBT 104), Berlin u.a. 2000, 132f. 18 LUTHER, StA 3, 253,24.

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Es sind also metaphysische Qualitäten, die diesen Deus absconditus charakterisieren und die ihn im metaphysischen Gesamtzusammenhang durchaus in ein Verhältnis zum Menschen und seiner Existenz setzen, aber nicht in einem Zusammenhang, der einen tatsächlichen personalen Umgang mit dem Menschen darstellte20. Der zweite Gedankengang, der die Aussageintention Luthers unterstreicht, ist die Überlegung, dass der verborgene Gott keineswegs der einzige Modus Gottes ist, der über dem offenbaren Gott steht: Luther verweist auf die zentrale Stelle mittelalterlicher Antichristologie, 2 Thess 2, in der es heißt, dass der als Antichrist verstandene Mensch der Bosheit sich über alles erhebe, was Gott und Gottesdienst heißt (V. 4)21. Eben hieran, so Luthers Argumentation, zeige sich, dass es möglich sei, dass etwas sich über Gott, insofern er gepredigt ist, erhebe22. Das Prädikat, über allem zu sein, gilt also gerade für den offenbaren Gott nicht. Das bedeutet aber auch, dass die Relation zwischen verborgenem und offenbarem Gott nicht einfach binär zu denken ist. Vielmehr geht es hier offenkundig um eine Ebenenunterscheidung, die neben beidem zumindest noch das falsche Gottesbild des Antichrist zulässt, möglicherweise auch andere Formen der Äußerungen widergöttlicher Mächte. Während der verborgene Gott eindeutig unantastbar ist, ist der offenbare Gott durchaus antastbar, ja, wenigstens zwischenzeitlich überwindbar. Doch offenkundig ist diese Überwindbarkeit nicht von Dauer: Sonst könnte der offenbare Gott schwerlich der sein, der dem Menschen das Heil gibt23. Fasst man diese Überlegungen zusammen, so wird deutlich, dass in Luthers Argumentation dem Deus absconditus eine doppelte Stellung zuzuweisen ist: Primär ist er als systemexterne Größe zu verstehen: Der Gott, auf den sich der Mensch richten soll, ist der, der sich in seinem Wort offenbart hat24, der Deus absconditus steht so über uns, dass gilt: nihil ad nos. Ihm eignet kei19

Vgl. REINHUBER, Kämpfender Glaube (wie Anm. 17), 116. LUTHER, StA 3, 253,22. 21 Zu Luthers Antichristverständnis s. LEPPIN, VOLKER, Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen, in: KuD 45 (1999), 48–63. Überzogen ist es allerdings wohl, wenn HERMANN, RUDOLF, Beobachtungen zu Luthers Lehre vom Deus revelatus – nach seiner Verschiedenheit vom Deus absconditus – in „De servo arbitrio“, in DERS., Gesammelte und nachgelassene Werke. Bd. 2: Studien zur Theologie Luthers und des Luthertums, ed. v. Horst Beintker, Berlin 1981, 278–289, 281, aus dieser Anspielung folgern will, dass es die Antichristlichkeit des Papsttums gewesen sei, an der Luther die Problematik von Erwählen und Nichterwählen durch Gott deutlich geworden sei. 22 LUTHER, StA 3, 253,17–22. Angesichts der sehr klaren, auf das Ziel, aliquem posse extolli supra Deum, ist die Aussage von OTTO, Verborgene Gerechtigkeit (wie Anm. 12), 233, die „Annahme, der verborgene Gott stehe über dem offenbaren Gott“ finde „am Text von ‚De servo arbitrio’ keinen Anhalt“, schwerlich zu halten. 23 LUTHER, StA 3, 253,29–31. 24 LUTHER, StA 3, 254,3f. 20

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Deus absconditus und Deus relevatus

ne personale Relation zu uns, mithin ist er nicht zu erforschen und zu befragen. Weitet man jedoch den Blick auf den metaphysischen Gesamtzusammenhang, so kommt ihm durchaus eine systeminterne Stelle zu: als Geber des Lebens und Allmächtiger bindet er wesentliche Aussagen der klassischen Gotteslehre an sich, die so anscheinend von dem offenbaren Gott nicht ohne Weiteres aussagbar sind. Dass Luther auf dieser metaphysischen Ebene nicht weiter konstruiert, ist nur die eine Seite dieses Phänomens – die andere ist die, dass er auch im vorliegenden Zusammenhang durchaus hiervon Gebrauch macht und sie in seiner Argumentation voraussetzt. Aufgrund dieser doppelten Stellung des Deus absconditus stellen sich eine Fülle von Fragen, die in der Antwort auf Erasmus eigentlich beantwortet sein müssten, es aber nicht sind: Die wichtigste Frage ist wohl die, woher der offenbare Gott jene Macht hat, die Menschen zu befreien, da doch auch diese eine Form des Wirkens von Leben ist, das eigentlich dem verborgenen Gott zugewiesen wird. Systematisch möglicherweise noch gravierender ist, dass Luther, wie erwähnt, die Unterscheidung zwischen offenbarem und verborgenem Gott, ja, noch präziser, die Entscheidung für ein bestimmtes Maß an Offenbarungsmitteilung, also die Entscheidung für den offenbaren Gott auf den Willen Gottes zurückführt, gerade den Willen aber dann als das Unerforschliche im Deus absconditus beschreibt25 – eben das, was unerforschlich ist, soll also Ermöglichungsgrund der Zuwendung Gottes in seinem Wort sein26. Es scheint, dass die Kategorie des Willens doch zu einem internen Zwiespalt tendiert, die Luther eigentlich durch seine Argumentation vermeiden wollte. Denn anders als bei früheren Verwendungen der Formulierung vom Deus absconditus – wie in den frühen Vorlesungen oder der Heidelberger Disputation, in der die Verborgenheit eine Verborgenheit in der Offenbarung ist27 – sind in De servo arbitrio Deus absconditus und Deus revelatus hier nicht mehr in ein schlüssiges offenbarungstheologisches Verhältnis zueinander gesetzt28.

25

LUTHER, StA 3, 254,3f. Zur Problematik vgl. DOERNE, MARTIN, Gottes Ehre am gebundenen Willen. Evangelische Grundlagen und theologische Spitzensätze in De servo arbitrio, in: LuJ 20 (1938), 45–92, 77f; BEHNK, WOLFGANG, Contra Liberum Arbitrium Pro Gratia Dei. Willenslehre du Christuszeugnis bei Luther und ihre Interpretation durch die neuere Lutherforschung. Eine systematisch-theologiegeschichtliche Untersuchung (EHS XXIII,188), Frankfurt u.a 1982, 362. 27 LUTHER, StA 1, 208,22f. Die Belege aus den frühen Vorlesungen sind eingehend untersucht bei BANDT, Luthers Lehre (wie Anm. 1), 24–83;vgl. auch BLANKE, FRITZ, Der verborgene Gott bei Luther (SDCS), Berlin 1928, 12. 28 Zu der mit „De servo arbitrio“ vollzogenen Modifikation des Konzeptes vom „Deus absconditus“ s. BANDT, Luthers Lehre (wie Anm. 1), 83f; HERMANN, Beobachtungen (wie Anm. 21), 278. 26

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Doch kann es in den folgenden Zeilen nicht darum gehen, zu fragen, ob und inwieweit Luthers Gedankengang möglicherweise unzureichend ist. Man wird ihn ohnehin nicht systematisch überbelasten dürfen29: Es handelt sich bei De servo arbitrio um einen Gesprächsbeitrag, und es handelt sich an dieser Stelle um die Auseinandersetzung mit einem ganz bestimmten Argument des Erasmus, das mit einer bestimmten Intention, der Wahrung der Einheit in Gott, abgewiesen wird – ohne dass das hierfür verwandte Modell nach all seinen Schwächen und Grenzen ausgelotet würde. Vielmehr wird es darum gehen, der von Luther – möglicherweise unter Inkaufnahme systematischer Inkonsistenzen30 – verfolgten Intention weiter nachzugehen, indem gefragt wird, welche mittelalterlichen Denkmodelle er zu seiner raschen Antwort auf Erasmus aktiviert hat und für welche Aussageintention deren jeweiliger Gebrauch sprechen könnte.

2. Einflüsse der Via moderna Allein schon Luthers Bildungshintergrund legt es stets nahe, die Nachfrage nach mittelalterlichen Wurzeln seines Denkens auch in Richtung der Via moderna zu stellen31. Bekanntlich hat Luther sich selbst in der „Schule Ockhams“ verortet – diese Bezeichnung ist durch die heutige Forschung ganz erheblich problematisiert worden: Von einem „Ockhamismus“ wird man kaum mehr sprechen können – zu vielfältig sind die einzelnen Denkansätze im 14. und 15. Jahrhundert, und prägend für die artes wurde wohl in viel höherem Maße Johannes Buridan, dessen Schüler sich in der großen Universitätsgründungswelle im ausgehenden vierzehnten Jahrhundert über Mitteleuropa ver-

29 Und schon gar nicht wird man dem spannungsvollen Verhältnis von Deus absconditus und Deus revelatus durch didaktisch ansprechende Grafiken gerecht, gleich, ob man sie abweist (OTTO, Verborgene Gerechtigkeit [wie Anm. 12], 232) oder als eigene Position vertritt (ebd. 235). 30 Mit großem Recht weist REINHUBER, Kämpfender Glaube (wie Anm. 17), 105, darauf hin, dass eine Interpretation Luthers auch wenn sie selbst systematische Interessen verfolgt, mit solchen Inkonsistenzen zu rechnen hat; vgl. auch die erfrischenden Überlegungen von BAYER, OSWALD, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, VIIf, zur Frage: „Luther – ein Systematiker?“. 31 S. etwa SEEBERG, REINHOLD, Lehrbuch der Dogmengeschichte. IV/1: Die Entstehung des protestantischen Lehrbegriffs, Leipzig 41933 (= Darmstadt 1974), 182f; RICHTER, JULIUS, Luthers „Deus absconditus“ – Zuflucht oder Ausflucht?, in: ZRGG 7 (1955), 289– 303,293; ADAM, Begriff (wie Anm. 2), 97f; BLANKE, Der verborgene Gott (wie Anm. 27), 60, 7. 10. KATTENBUSCH, FERDINAND, Deus absconditus bei Luther, in: Festgabe für Julius Kaftan, Tübingen 1920, 170–214, 209, hebt weniger auf die Dialektik der potentiae ab als auf die Betonung der Willensdimension – und erklärt Luther zu einem Ockhamisten „besonderer Ordnung“.

450

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teilten32. Vor allem aber wird man zu fragen haben, in welchem Ausmaß Rückschlüsse aus der – philosophischen – Via moderna der artes-Fakultäten auf bestimmte theologische Optionen möglich sind. Diese Problematik kann hier nur angerissen werden, und für Luther ist das Problem in der Tat insofern entschärft, als wir in Gestalt des Collectoriums von Gabriel Biel wohl jenen Text zur Verfügung haben, auf den Luther theologisch rekurrierte, wenn er an so etwas wie eine „Schule Ockhams“ dachte. Im Blick auf eine auf Gott bezogene Unterscheidung wird man in diesem geistigen Kontext in erster Linie an die Unterscheidung von potentia absoluta und ordinata zu denken haben, die Ockham – wohl während seines Avignoneser Exils ab 132433 – in der ersten Frage des sechsten Quodlibets ausgeführt hat34. Bekanntlich war Ockham keineswegs der erste, der Gebrauch von dieser Unterscheidung gemacht hat, und auch Duns Scotus hat sie von den Vorgängern übernommen35. Dennoch sind die beiden Franziskaner aus der Zeit um 1300 wohl diejenigen, deren Denken die folgenden Jahrhunderte im Blick auf die Frage der potentia absoluta und ihrer theologischen Verwendung geprägt haben, das heißt: jene Theologen, die von der Via moderna beeinflusst waren. Während die ältere Forschung die potentia-Lehren der beiden weitgehend ineins gesetzt hat36, wird man heute beide leicht gegeneinander absetzen37: Für Duns Scotus unterscheiden sich potentia absoluta und potentia ordinata als zwei eigene Handlungsstränge voneinander, dergestalt dass die potentia ordinata sich auf all diejenigen Handlungen Gottes bezieht, die dieser nach seinen allgemeinen Gesetzen vollzieht, die potentia absoluta hingegen auf jene Handlungen, die er, normdurchbrechend durchführt, deren Ordnungscharakter lediglich dadurch erhalten bleibt, dass Gott sich für jede dieser Handlungen eine eigene Vorschrift gibt. Für Ockham hingegen gibt es nur einen Handlungsstrang: Alles Handeln Gottes ist Handeln de potentia ordinata, gleich ob es einem allgemeinen Gesetz oder einem speziellen Gesetz Gottes folgt. Die potentia absoluta hat demgegenüber lediglich eine theoretische 32

Nach wie vor grundlegend: MICHAEL, BERND, Johannes Buridan. Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Diss. Berlin 1978. 33 S. LEPPIN, VOLKER, Wilhelm von Ockham. Gelehrter – Streiter – Bettelmönch, Darmstadt 2003, 139–144. 34 OT 9, 585–589 35 Zu Duns Scotus s. COURTENAY, WILLIAM J AMES, Capacity and Volition. A History of the Distinction of absolute and Ordained Power, Bergamo 1990, 100–103; zur Vorgeschichte ebd. 68–79. 36 S. z.B. OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, 37. 37 Zur Begründung des Folgenden s. LEPPIN, VOLKER, Does Ockham’s Concept of Divine Power Threaten Man’s Certainty in His Knowledge of the World?, in: FrS 55 (1998), 169–180

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Funktion, insofern sie den Möglichkeitsraum Gottes beschreibt: was dieser tun könnte, ohne dass es einen Widerspruch in sich schlösse. Diese gegenüber Duns eingezogene Differenzierung gibt den Raum für Spekulationen hinsichtlich der potentia absoluta frei und verstärkt das positivistische Moment innerhalb der Theorie, das darin besteht, dass alles Wirken Gottes konsistent auf dessen Willensentschluss und Anordnung zurückgeführt wird. Angesichts dessen, dass Gabriel Biel nicht mehr will als eine Zusammenfassung Ockhams, verwundert es nicht, dass er sich auch in dieser Frage weitgehend an den Venerabilis Inceptor anschließt. Er zitiert Ockham weitgehend wörtlich: „Ad hoc respondetur secundum Doctorem, Quodlibeto VI q.1, quod quaedam Deus potest facere de potentia ordinata et quaedam de potentia absoluta. Haec distinctio non est sic intelligenda quod in deo realiter sint duae potentiae, quarum una sit ordinata, alia absoluta; quia unica est potentia in Deo ad extra, quae omni modo est ipse Deus. Nec sic est intelligenda quod aliquid potest Deus ordinate facere et alia potest ansolute et inordinate; quia Deus nihil potest facere inordinate. Sed est sic intelligenda, quod ‚posse aliquid‘ aliquando accipitur secundum leges ordinatas et institutas a Deo. Et illa Deus dicitur posse facere de potentia ordinata. Aliter accipitur ‚posse‘ pro posse facere omne illud quod non includit contradictionem fieri, sive Deus ordinavit se hoc facturum sive non; quia Deus multa facere potest quae non vult facere ... Et illa dicitur posse de potentia absoluta.“38

Dies also ist die Gestalt, in der Luther die potentia-Lehre begegnete39. Für das Verständnis von dessen Lehre vom Deus absconditus und Deus revelatus ist von besonderer Bedeutung, dass auch hier die Kategorie des Willens ganz entscheidend eingebracht wird: Gott wählt aus seinen Möglichkeiten willentlich jenes aus, was er tatsächlich machen will. Das entspricht nun in der Tat der Argumentation Luthers, nach der Gott sich willentlich im Deus revelatus bekannt gegeben hat. Diese willentliche Begrenzung hat für Biel wie für die gesamte Theologie auf den Bahnen der Via moderne eine eminente Bedeutung, die Leif Grane, Heiko Augustinus Oberman und Berndt Hamm herausgearbeitet haben40: Durch die Selbstbindung Gottes in der potentia ordinata wird den Menschen ein Gnadenweg eröffnet, der sich aus Gottes Willen, nicht aber aus seinem Wesen herleitet. 38

GABRIEL BIEL, Sentenzen I d. 17 q. 1 a. 3 d. 2 H (Gabrielis Biel Collectorium circa quattuor libros Sententiarum, ed. v. Wilfrid Werbeck / Udo Hofmann Bd 1, Tübingen 1973, 419,4–420,15); der Ockham-Text aus OT 9, 584,14–585,29; zu den minimalen Unterschieden Biels in dieser Lehre zu Ockham s. OBERMAN, Herbst (wie Anm. 36), 38. 39 Die späte Verwendung des Begriffs der potentia absoluta in WA 43,71,7–9 ist deutlich distanzierend („ut Sophistae loquuntur“). 40 GRANE, LEIF, Gabriel Biels Lehre von der Allmacht Gottes, in: ZThK 53 (1956), 53– 75, 58; OBERMAN, a.a.O. (wie Anm. 34), 45; HAMM, BERNDT, Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre (BHTh 54), Tübingen 1977, 355–377; vgl. auch METZ, DETLEF, Gabriel Biel und die Mystik, Stuttgart 2001 (Contubernium 55), 177f.

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Strukturell wird man also Parallelen zwischen diesem Luther bekannten spätmittelalterlichen Denkkonzept und seiner Vorstellung von der Unterscheidung von Deus absconditus und revelatus schwer von der Hand weisen können. Insbesondere die Richtung der Argumentation auf eine starke Selbstbindung Gottes zugunsten des Menschen stellt eine starke Parallele dar – der Unterschied allerdings liegt ebenso auf der Hand: Die potentia-Unterscheidung der Spätscholastik stellt eine Handlungstheorie dar: Es geht darum, Gottes Handeln hinsichtlich seiner Möglichkeiten zu analysieren. Luther geht zwar auch von Wirkungen Gottes, von Handlungen, aus, aber sein Ansatz ist weiter: Die Rede vom Deus ipse im Blick auf den Deus absconditus macht deutlich, dass es ihm in der einen oder anderen Weise um eine Bestimmung Gottes als Ganzen geht. Indirekt sprechen zwar auch die Spätscholastiker vom Wesen Gottes, insofern die potentia mit Gottes Wesen identisch ist, aber gerade aufgrund dieser Identität ist die Schärfe der Diastase nicht wie bei Luther gegeben: die beiden potentiae verhalten sich in einem klar gestuften Verhältnis zueinander, das so zu beschreiben ist, dass die potentia ordinata eine durch den Willen Gottes erfolgte Selektion aus dem Möglichkeitsraum der potentia absoluta darstellt. Genau so friedlich-schiedlich aber sind die Verhältnisse bei Luther nicht, auch und gerade weil er sie wie oben beschrieben nicht vollends geklärt hat. So stellt sich beispielsweise das logische Problem Luthers, wo nun der Wille Gottes zu verorten ist, bei den Scholastikern gerade nicht, weil die potentiae als grundsätzlich miteinander identisch verstanden werden – und gerade die Tatsache, dass Luther sich durch eine Akzentverschiebung offenbar eine logische Imkonsistenz einhandelt, nötigt zu der Nachfrage, ob es weitere Hintergründe für sein eigenes theologisches Konzept gibt.

3. Nikolaus von Kues In diesem Rahmen ist es immerhin bemerkenswert, dass ein mittelalterlicher Autor, Nikolaus von Kues, eine ganze, freilich recht knappe Schrift unter dem Titel De Deo abscondito verfasst hat. Es handelt sich um einen Dialog zwischen einem Heiden und einem Christen, der das Grundthema des Cusaners umkreist: die Unmöglichkeit, Gott mit den Mitteln der natürlichen Vernunft zu begreifen41. Gott ist insofern der Verborgene, als er so erhaben über alles menschliche Verstehen ist, dass er für dieses letztlich nicht mitteilbar ist. Dies gilt auch innerhalb der christlichen Religion: Auf die Frage des Hei41 Zur Interpretation des Traktates s. HAUBST, RUDOLF, Nikolaus von Kues vor dem verborgenen Gott, in: DERS., Streifzüge in die cusanische Theologie (BCG. Sonderbeitrag zur Theologie des Cusanus), Münster / Westf. 1991, 78–95; KANDLER, KARL-HERMANN, Nikolaus von Kues. Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit, Göttingen ²1997, 81f.

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den, wer der Gott sei, den er anbete, antwortet der Christ: „Ignoro“42, das heißt: Selbst der christliche Gott ist dessen Verehrer verborgen, und gerade das Fehlen von Wissen ist ihm Grund für die religiöse Verehrung43. Aber dieser Gott, den er verehrt, ist in keiner Weise begrifflich fassbar44. Erfasst werden kann er nur durch negative Aussagen45 – die klassische theologia negativa. Allerdings ist positiv gleichwohl über ihn auszusagen, dass er die Ursache von allem Sein ist46, und Martin Thurner hat gezeigt, dass dies dem durchaus schlüssigen Grundgedanken entspricht, dass etwas einerseits nicht Teil der geschöpflichen Welt und insofern in ihr verborgen und doch als Ursache mit ihr verbunden sein kann47. Wiederum lassen sich, gerade aufgrund der letztgenannten Hinweise, Parallelen zu Luther finden: Die Nichterkennbarkeit für den Menschen ist auch für ihn beim Deus absconditus leitend, wenn er jenes antike Dictum „Quae supra nos, non ad nos“ aufgreift48, und gleichwohl bleibt, wie oben beschrieben, die Kausalitätsrelation erhalten. Und man kann sogar in seiner frühen Psalmenvorlesung zeigen, dass die Vorstellung des Deus absconditus ursprünglich mit der Tradition der theologia negativa verbunden war: Im Scholion zu Ps 17,12 heißt es: „Ideo b. Dionysios docet ingredi in tenebras anagogicas et per negationes ascendere. Quia sic est deus absconditus et incomprehensibilis“49 – doch ist gerade diese Aussage aus den Dictata super Psalterium, die 1513–1515 zu datieren sind, schwerlich zur Erklärung der einschlägigen Stelle in De servo arbitrio heranzuziehen, denn zwischen beiden liegt die klare Absage an die dionysische Mystik in den Operationes in Psalmos50. So ist denn auch inhaltlich die Differenz zum Cusaner kaum zu übersehen: Für Nikolaus von Kues gibt es zum Deus absconditus gerade keinen innergöttlichen Komplementärbegriff im Sinne des Deus revelatus. Die Verborgenheit Gottes ist die tiefste Wesensaussage über diesen selbst, aber nicht in dem Sin42 Nicolai de Cusa Opera Omnia. Bd. 4: Opuscula 1, ed. v. Paul Wilpert, Hamburg 1959, 3: 1,10. 43 CUSA, Opera Omnia (wie Anm. 42) 3, 1,12. 44 CUSA, Opera Omnia (wie Anm. 42) 6, 6,7–9. 45 CUSA, Opera Omnia (wie Anm. 42) 6f, 8,3f 46 CUSA, Opera Omnia (wie Anm. 42) 7, 9,9–12. 47 THURNER, MARTIN, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues (VGI 45), Berlin 2001, 140f. 48 Diese Betonung der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis steht in einem breiteren Kontext der Kritik an den Grenzen der menschlichen Vernunft, die OTTO, Verborgene Gerechtigkeit (wie Anm. 12), 211–221. konstitutiv für seine Interpretation der Lehre vom verborgenen Gott macht. 49 WA 3,124,32f; zur Verwendung des Begriffs „Deus absconditus“ beim Areopagiten s. ADAM, Begriff (wie Anm. 2), 101f. 50 WA 5,163,24–29; s. hierzu ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ, Mystische Erfahrung und Wort Gottes bei Martin Luther, in: Johannes Schilling (Hg.), Mystik. Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, Leipzig 2003, 45–66, 51.

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ne wie bei Luther, der ja ebenfalls den Deus absconditus mit dem Deus ipse gleichsetzt, aber nur, um auf den Deus revelatus hinzulenken, sondern es ist gerade Ausdruck der Weisheit des Menschen und zumal des Christen, dass er um diese Verborgenheit Gottes in jener docta ignorantia weiß, die den Titel der Hauptschrift des Cusaners ausmacht. Das heißt nicht, dass die Offenbarung in Christus für sein Denken keine Rolle spielte: Rudolf Haubst hat deutlich machen können, dass die Schrift De Deo abscondito letztlich Teil einer Trilogie aus den Jahren 1444/5 ist, die neben der genannten Schrift noch De quaerendo Deum und De filiatione Dei umfasst51; zumal die letztgenannte Schrift verweist schon allein durch ihren Titel darauf, dass Nikolaus von Kues selbstverständlich auch den Gedanken kennt und vertritt, dass Gott sich seinem Wesen nach in eminenter Weise in Christus offenbart und zugänglich gemacht hat52. Die Verborgenheit Gottes also wird durch seine Selbstoffenbarung überbrückt, die philosophisch angenommene Nicht-Mitteilbarkeit ist theologisch nicht leitend, sondern wird durch die faktische Selbstmitteilung aufgehoben. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine wirkliche Komplementärkonstruktion: Die Offenbarung in Jesus Christus hat keineswegs definitiven Charakter: Sie bedeutet eine weitere Anregung zur Gottsuche53, das heißt, sie stellt eher einen Gipfelpunkt innerhalb des allgmeinen menschlichen Bemühens dar, als die unableitbare Darreichung einer Rettung, als die sie bei Luther erscheint54. Und in der Tat ist sie eingebettet in eine Fülle von Wegen des Menschen zu Gott, die in sich das alttestamentliche wie das pagan-antike Suchen nach Gott aufnehmen und aufheben kann. Und die weiter bestehende Diastase zum verborgenen Gott bleibt eine rein noetische: Die Erkenntnis in Christus ist defizitär, insofern menschliche Erkenntnis unzureichend ist. Sie zeigt aber nicht, wie bei Luther, einen Gott als sich selbst gegenüber anderen, einen offenbaren Gott, der uns Seiten an sich erkennen lässt, die in seiner Majestät und Natur nicht gegeben zu sein scheinen. Letztlich ist also der Deus absconditus, wie er bei Nikolaus von Kues erscheint, ein in sich subsistenter Begriff, der durch die Offenbarung ergänzt werden kann, aber nicht durch sie korrigiert werden muss, wie bei Luther. Bedenkt man zudem, dass Luther den Cusaner wohl nur ganz peripher zur Kenntnis genommen hat 55, eine Kenntnis der Schrift De Deo abscondito nicht 51 HAUBST, Nikolaus von Kues (wie Anm. 38), 89–95; zum Zusammenhang in der äußeren und inneren Biographie des Cusaners s. FLASCH, KURT, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt / M. 1998, 165–180. 52 HAUBST, Nikolaus von Kues (wie Anm. 38), 82–89. 53 HAUBST, Nikolaus von Kues (wie Anm. 38), 87. 54 Vgl. THURNER, Gott als das offenbare Geheimnis (wie Anm. 44), 23f. 55 Zur Cusanus-Kenntnis Luthers s. WEIER, REINHOLD, Das Thema vom verborgenen Gott von Nikolaus von Kues zu Martin Luther (BCG 2), Münster / Westf. 1967, 60–66.

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nachweisbar56 und auch die mögliche Vermittlung über Faber Stapulensis im Einzelnen schwer fassbar ist57, so scheint es, dass die Spur, die zu Nikolaus von Kues zurückführt, noch weniger erfolgversprechend ist als der Blick auf die spätscholastische Theologie der Via moderna: Weder sind historische Verbindungslinien nachzuweisen, noch entspricht die systematische Grundstuktur des Gedankens zwischen Nikolaus und Luther einander in der Weise, dass von einer irgendwie gearteten Abhängigkeit auszugehen ist58.

4. Der Staupitzsche Beichtrat Über der Suche nach weiterreichenden theologiegeschichtlichen Bezügen tritt meist eine nahe liegende Spur in den Hintergrund, die Luther selbst gelegt hat: Am 18. Februar 1542 reflektierte er über Prädestination und Prädestinationsanfechtung und kam in diesem Zusammenhang auch auf jenen berühmten Beichtrat zu sprechen, den ihm Johann von Staupitz zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt59 gegeben hatte60, als er in Prädestinationsanfechtungen an seinem eigenen Heil zweifelte61. Den Rat referiert Luther in dieser Tischrede als Hinweis auf die Wunden Christi und sein Leiden für unsere Sünden, jegliches weitere Nachdenken darüber hinaus sei unnötig: „Was willtu mit dein gedancken umbgeen?“62 Für den vorliegenden Zusammenhang aber ist entscheidend, dass Luther diesen Beichtrat in derselben Tischrede und in unmittelbarem Zusammenhang eines Verweises auf Staupitz mit der Unterscheidung von Deus revelatus und divina voluntas non revelata füllt63 – und letztere wiederum füllt er im Folgenden, offenkundig als eigene, nicht unmittelbar Staupitz wiedergebende Ausführung durch den Begriff des Deus absconditus64. Vor der Auswertung dieser Hinweise ist zweierlei zu bedenken:

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KANDLER, Nikolaus von Kues (wie Anm. 38), 124. Dies muss auch WEIER, Das Thema vom verborgenen Gott (wie Anm. 52), 209, trotz sonst großem Optimismus im Blick auf eine Beeinflussung Luthers durch Kues über Faber Stapulensis, zugestehen. 58 Im Ergebnis ähnlich ADAM, Begriff (wie Anm. 2), 98. 59 SCHWARZ, REINHARD, Luther, Göttingen 1986 (KIG 3I), 20f. 60 Zum biographischen Kontext s. BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart ³1990, 87. 61 Diesem Hintergrund der Genese der Vorstellung vom Deus absconditus entspricht es, wenn BAYER, Luthers Theologie (Anm. 30), 10f, als „Sitz im Leben“ für die Rede vom Deus absconditus die Klage bestimmt. 62 WA.TR 5,295,16f (Nr. 5658a). 63 WA.TR 5,293,20–32 (Nr. 5658a). 64 WA.TR 5,294,10.34 (Nr. 5658a). 57

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1. Das Verhältnis zwischen Deus revelatus und Deus absconditus ist an dieser Stelle deutlicher ausgeführt als an der klassischen Belegstelle aus De servo arbitrio: Gott der Vater ist der, der verborgen sein will65, und Christus führt zu ihm hin66: Was also in De servo arbitrio als Gottes Sein und Gottes Selbstmitteilung aufgeschlüsselt war, wird hier gewissermaßen trinitarisch aufgelöst – und dadurch theologisch gewiss problematischer. Dies mag als Hinweis genügen, dass es „die“ Lehre Luthers vom Deus absconditus wohl nicht gibt, die man in Versuchen, Luther systematisch zu rekonstruieren, sucht: der Deus absconditus bleibt eine Chiffre, die für verschiedene, durchaus miteinander verwandte, aber eben nicht identische theologische Problemfälle brauchbar ist. 2. Es handelt sich um eine autobiographische Notiz, und solche autobiographische Notizen sind generell, und so auch bei Luther mit Vorsicht zu behandeln: Nicht nur das Große Selbstzeugnis67, sondern auch beispielsweise das Bekenntnis von Stotternheim68 sind in der jüngeren Forschung eher als Re-konstruktionen denn als echte Erinnerungen Luthers eingestuft worden: Luther hat seine eigene Biographie in theologischen Kategorien gedeutet und so unter Umständen auch Ereignisse seiner Biographie dem theologisch Sinnvollen angepasst. Diese Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit muss auch für die vorliegende Erinnerung gelten, die im Jahre 1542 von einem beinahe drei Jahrzehnte zurückliegenden Ereignis berichten will. Vor diesem Hintergrund ist deutlich: Man wird keineswegs die Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus einlinig auf Staupitz zurückführen können69. Aber genauso deutlich wird: Dieses Begriffspaar ist für Luther geeignet, das zu interpretieren, was ihm Staupitz nahegebracht hat. Das heißt: Es passt für Luther bestens zu der Aufforderung, sich ganz auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu konzentrieren. Der Beichtrat des Staupitz, der ihn auf den offenbaren Christus hinwies, kann mit Hilfe der Vorstellungen von Deus absconditus und Deus revelatus interpretiert werden. 65

WA.TR 5,294,6–10 (Nr. 5658a). WA.TR 5,294,34 (Nr. 5658a). 67 LEPPIN, VOLKER, „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in diesem Band S. 261–277; die in diesem Aufsatz formulierte These, dass das Selbstzeugnis von 1518 schwerlich eben die reformatorische Entdeckung schildern könne, von der das Große Selbstzeugnis von 1545 spricht, ist neuerdings von BRECHT, MARTIN, Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: ZThK 101 (2004), 281–291, mit gewichtigen Gründen in Zweifel gezogen worden; Einigkeit besteht in jedem Falle darin, dass diesem frühen Zeugnis künftig wohl mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als es in der bisherigen Diskussion der Fall war. 68 DÖRFLER-DIERKEN, ANGELIKA, Luther und die heilige Anna. Zum Gelübde von Stotternheim, in: LuJ 64 (1997), 19–46. 69 Zur Gotteslehre von Staupitz s. WRIEDT, MARKUS, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther (VIEG 141), Mainz 1991, 32–39. 66

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Wenn also Luther zwischen beiden ein Adäquanzverhältnis sah, bedeutet dies, dass es möglich sein sollte, nicht nur mit Luther den Beichtrat durch das Begriffspaar Deus absconditus und revelatus zu interpretieren, sondern umgekehrt, den Beichtrat auch zum Verständnis dessen heranzuziehen, was Luther mit diesem Begriffspaar ausgedrückt wehen wollte. Damit ist gewiss nicht der gesamte metaphysische und dogmatische Sinn dieser Unterscheidung zu erfassen, aber möglicherweise seine Intention, die dann darin läge, die Bedeutung Christi hervorzuheben und das Grübeln über den nicht vollends ergründbaren Willen Gottes demgegenüber hintanzustellen. Nach dem oben zu De servo arbitrio Dargelegten scheint es durchaus angemessen, diesen Satz als gemeinsame Beschreibung der Beichtrat-Erfahrung und der Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus gelten zu lassen und letztere damit in den Gesamtduktus von Luthers Theologie einzuzeichnen. Zusammen mit der Beobachtung, dass der Deus absconditus eine wandelbare Chiffre ist, legt dies nahe, innerhalb der Unterscheidung von verborgenem und offenbarem Gott alles Gewicht auf den offenbaren Gott zu legen: Sowohl hinsichtlich der biographischen Verankerung in der Re-lecture des Staupitzschen Rates und der inhaltlichen Variabilität des Konzeptes vom verborgenen Gott, die sich an dieser Stelle zeigt, als auch hinsichtlich der deutlichen Systemexternalität des Deus absconditus am locus classicus in De servo arbitrio scheint es angemessen, diese Unterscheidung als eine solche zu verstehen, die nicht die Lehre vom verborgenen Gott entfalten, sondern die Bedeutung des offenbaren Gottes unterstreichen will.

5. Fazit Der Durchgang durch spätmittelalterliche Wurzeln der Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus hat ein differenziertes Bild ergeben, das einlinigen Zuweisungen widerrät, gleichwohl zeigt, wie Luther seine eigene Lehre durchaus organisch aus dem mittelalterlich vorgeprägten Material entwickelt und zusammengestellt hat: Wohl am Entschiedensten kann eine negative Aussage im Blick auf Nikolaus von Kues getroffen werden – seine Gedanken haben auf Luther an dieser Stelle – und wohl auch sonst – keine Wirkung entfaltet. Einen wichtigen Hinweis geben die Erinnerungen an Staupitz. Auch wenn sie nicht einfach als biographischer Bericht zu werten sind, machen sie durch deutlich, dass Luther den Impetus der Betonung des Deus revelatus nach seinen Erinnerungen als ein mit dem Staupitzschen Ratschlag konvergentes Element seiner Theologie ansah: Die Ausrichtung auf die Offenbarungswirklichkeit, die Luther dann mit dem aus Jes 45 entwickelten Begriffsinstrumentarium interpretierte, wurzelt in diesem Ratschlag des spätmit-

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telalterlichen Frömmigkeitstheologen70. Zur theologischen Ausgestaltung als Dialektik hat dann möglicherweise Luthers Schulung an Gabriel Biel beigetragen, insbesondere die Konzentration auf den Willensaspekt und Gottes freiwillige Selbstbindung. Aktualisiert hat er diesen gedanklichen Komplex schließlich aufgrund einer konkreten Herausforderung durch Erasmus von Rotterdam. So bleibt als Fazit, dass man die Unterscheidung von Deus absconditus und Deus revelatus weder in der Kritik noch im systematischen Weiterdenken überstrapazieren sollte71: Sie hat ihren Ort in einer konkreten Auseinandersetzung, und sie zeigt die Richtung von Luthers Denken auf den Bahnen spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie an. Ihre Zielrichtung ist, ganz auf der Linie des Staupitzschen Beichtrates, eine poimenische72: Der Glaubende soll sich auf den in Christus greifbaren Erlöser ausrichten, nicht auf die Spekulation über die Untiefen Gottes. Diesem Ratschlag zu folgen, mag auch ein halbes Jahrtausend nach Luther nicht das Schlechteste sein, was ein Theologe tun kann.

70 Zu dieser Einordnung als Frömmigkeitstheologe s. HAMM, BERNDT, Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater’ der Reformation, in: ARG 92 (2001), 6–42, 16; zum Begriff „Frömmigkeitstheologie“ DERS., Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. Bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden / Marcel Nieden (Hg.) Praxis pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit (FS W. Sommer), Stuttgart u.a. 1999, 9–45. 71 In diesem Sinne interpretiert auch BEHNK, Contra Liberum Arbitrium (wie Anm. 26), 357–368, im Anschluss an DOERNE, Gottes Ehre (wie Anm. 26), die Rede vom Deus absconditus als einen „Spitzensatz“. 72 Vgl. BANDT, Luthers Lehre (wie Anm. 1), 95, der in Aufnahme einer Unterscheidung aus WA 57b,94,4–10 von einer praktischen Erkenntnis in Unterschied zu einer spekulativen spricht.

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Humanistische Gelehrsamkeit und Zukunftsansage Philipp Melanchthon und das „Chronicon Carionis“ Das berühmte Luther-Zitat von dem Apfelbäumchen, das er heute noch pflanzen wolle, wenn morgen die Welt unterging, ist zwar bekanntlich eine Erfindung aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg1. Doch die Erfindung ist ohne Zweifel treffend: Dass Luthers Denken ein starker apokalyptischer Zug eignete, dürfte heute kaum mehr einem Zweifel unterliegen2. Weit weniger bekannt ist dies im Falle seines Wittenberger Weggefährten Philipp Melanchthon. Der feinsinnige Humanist an der Seite des eher grobschlächtigen gewesenen Mönchs – das gehört zu den Archetypen der Reformationsdeutung, bis hin zu ihrer bildlichen Darstellung, wie sie etwa auf dem Wittenberger Marktplatz zu sehen ist. Zu diesem Bild passt es insbesondere in der deutschen Forschung wenig, dass Melanchthon wohl nicht minder von der Nähe des Endes überzeugt war, als der große Kollege an der Theologischen Fakultät. Erst die große, wenn auch an manchen Stellen durchaus fragwürdige3 Studie von Robin Barnes über „Prophecy and Gnosis“4 hat den Zusammenhang von humanistischem Geschichtsdenken und Eschatologie, wie er sich bei Melanchthon vorfindet, neu ins Licht gerückt. Diesem Zusammenhang will ich im Folgenden anhand des wichtigsten historischen Werkes Philipp Melanchthons, des Chronicon Carionis, nachgehen. Ehe ich auf dieses Werk eingehe, werde ich jedoch kurz einen allgemeinen Ausblick auf Melanchthons Interesse an der Geschichte versuchen, dann das Chronicon selbst vorstellen, 1 SCHLOEMANN, MARTIN, Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1994. 2 S. OBERMAN, HEIKO AUGUSTINUS, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982 (vgl. hierzu HAMM, BERNDT, An Opponent of the Devil and the Modern Age: Heiko Oberman’s View of Luther, in: The Work of Heiko A. Oberman, Leiden / Boston 2003, 31–49); SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Antichrist IV. Reformations- und Neuzeit, in: TRE 3 (1978), 28–43. 3 Zur Kritik s. LEPPIN, VOLKER, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999 (QFRG 69), 279–282. 4 BARNES, ROBIN BRUCE, Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford 1988.

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um schließlich Melanchthons theologische Bearbeitung dieser universalhistorischen Chronik zu interpretieren.

1. Melanchthons Interesse an Geschichte „Necessaria est omnino ad hanc rem historia, cui ci ausim, me hercle non invitus uni contulero, quidquid emeretur laudum universus artium orbis“5 – diese Worte aus der berühmten Wittenberger Antrittsvorlesung Melanchthons vom 28. August 1518 zeigen, welche Bedeutung die Historiographie für den jungen – eben einundzwanzigjährigen – Professor der griechischen Sprache besaß. Die gesamte Antrittsrede stellt ohne Zweifel den ehrgeizigen Versuch dar, die noch in ihrer Aufbauphase befindliche Wittenberger Universität in humanistischem Geiste zu prägen – trotz der erkennbaren Besonderheiten von Luthers Theologie, wird man ein Dreivierteljahr nach der Versendung der Thesen zum Ablass und nur wenige Monate nach der Heidelberger Disputation Wittenberg zu diesem Zeitpunkt wohl noch eher als reformorientiert, denn im strengen Sinne reformatorisch ansprechen dürfen – und eben in diese Reformstimmung sprach Melanchthon hinein, wenn er die Beschäftigung mit der Geschichte an der artes-Fakultät forderte. Diese sollte letztlich auf drei Säulen aufbauen: Naturwissenschaft, Ethik und exempla, womit im Kontext eben die Beispiele aus der Geschichte gemeint sind6 – diese wurde also keineswegs unter die Ethik subsumiert, sondern als eigenständiger Erkenntniszweig aufgefasst, der am historischen Exempel lehren sollte, „quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non“7. Diese Anregungen passten sicher gut in die Wittenberger Atmosphäre, wo man schon seit 1508 in den Statuten vorgeschrieben hatte, dass beim Essen in den Bursen aus einem Redner oder einem Historiographen vorzulesen sei8. Doch schon allein der – im heutigen Universitätsgetriebe ja undenkbar – frühe Zeitpunkt der Antrittsvorlesung – Melanchthon war erst wenige Tage zuvor in Wittenberg eingetroffen – macht deutlich, dass Melanchthon dieses Programm nicht erst an der Elbe entworfen hatte, sondern wohl noch am Neckar, während seiner Tübinger Studienzeit, zu guten Teilen wohl unter dem Einfluss Reuchlins, bei dessen Schwester er einst in Pforzheim gewohnt hatte9. 5

CR 11, 22. CR 11,23. 7 CR 11,22f. 8 SCHEIBLE, HEINZ, Gründung und Ausbau der Wittenberger Universität, in: DERS., Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, Mainz 1996 (VIEG.B 41), 131– 147. 9 SCHEIBLE, HEINZ, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997, 15. Dass Reuchlin nicht direkter Großonkel Melanchthons war, hat SCHEIBLE, HEINZ, Melanchthons Pforz6

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Und damit wird der Kontext für Melanchthon erkennbar, der es erlaubt, ihn in den für die theologische Forschung eher ungewöhnlichen Zusammenhang der Renaissance zu stellen: In seinem Opus magnum über den jungen Melanchthon hat Wilhelm Maurer in einer Analyse von Melanchthons Rede de artibus liberalibus von 1517 herausgearbeitet, wie das darin entwickelte Geschichtsbild auf dem Reuchlins, letztlich aber Picos und Ficinos aufbaut 10: Melanchthons Rede ist von dem Gedanken geprägt, dass die eine Wahrheit zu Anbeginn der Welt schon in der intelligiblen Welt unvergänglich gegenwärtig war und durch den Lauf der Geschichte an uns weitergereicht wurde. Plato ist dabei natürlich die zentrale Gestalt für die Tradierung der Wahrheit – aber Tradierung heißt hier in der Tat nicht nur Weitergabe an die Späteren, sondern auch Aufnahme des Vorherigen, insbesondere der vorsokratischen Weisheit11. In diesen – anfängerhaften und auch der Sache nach rudimentären Äußerungen spiegelt sich nach Maurers Analyse ein Phänomen wider, das sich auch außerhalb des unmittelbaren Geschichtsdenkens bei Melanchthon wiederfindet, dass er nämlich mit Reuchlin dessen pythagoreisches Denken teilte – freilich wohl nicht dessen in diesem Zusammenhang entfaltetes ausgeprägtes Interesse am Judentum und der Kabbalistik. Der gedankliche Strang aber lässt sich dann über Reuchlin weiterverfolgen zu jenen schon genannten italienischen Renaissancehumanisten, die mit Reuchlin das Interesse an einer universalhistorischen Geschichtssicht teilten12. Philipp Melanchthon hätte damit also in seiner Antrittsrede nach Wittenberg einen Hauch jener italienischen Renaissance gebracht, als er vehement für das Geschichtsstudium focht. Nun ist Wittenberg nicht Florenz – und die Umsetzung der Pläne war entsprechend kläglich: Zwar sind die Änderungen der Wittenberger Universität an kaum einer Fakultät so zu fassen wie an der artistischen13 – aber ausgerechnet für die Geschichte gab es im gesamten 16. Jahrhundert keinen eigenen Lehrstuhl14 – möglicherweise gerade, weil sie sich als Wurzel aller artes schlecht als Einzeldisziplin darstellen ließ. Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts oblag mithin vor allem den Professoren für Latein und Griechisch –

heimer Schulzeit, in: DERS., Melanchthon und die Reformation (wie Anm. 8), 29–70, 42– 47, eindringlich gezeigt. 10 MAURER, WILHELM, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 1: Der Humanist, Göttingen 1967, 99–104. 11 MELANCHTHON, StA 3, 17–28. 12 Zu den Hintergründen solcher universaler Geschichtsschau s. WALLRAFF, MARTIN, Protologie und Echatologie als Horizonte der Kirchengeschichte? Das Erbe christlicher Universalgeschichte, in: Wolfram Kinzig / Volker Leppin / Günther Wartenberg (Hg.), Historiographie und Theologie, Leipzig 2004 (AKThG 15), 153–168. 13 SCHEIBLE, Gründung und Ausbau (wie Anm. 8), 366. 14 SCHEIBLE, Gründung und Ausbau (wie Anm. 8), 367.

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beide Professuren hatte man ja schon im Frühjahr 1518 vorgesehen15, und gerade die Schaffung der Griechischprofessur hatte ja überhaupt erst das Kommen Melanchthons nach Wittenberg ermöglicht. So war es hauptsächlich Melanchthon, der in der Folgezeit faktisch den Geschichtsunterricht übernahm – durch Vorlesungen über die griechischen Historiker16, zum Teil auch über die Kirchenväter, womit lange vor der Etablierung eines entsprechenden Faches die ersten Ansätze zu kirchenhistorischem Arbeiten ausgerechnet in dem auf das Schriftprinzip verpflichteten Wittenberg auszumachen sind 17 – seine konkrete Arbeit ist dabei durchaus unspektakulär, ja wenn man an das im italienischen Humanismus Erreichte denkt, geradezu konventionell: Historische Kritik, wie sie sich etwa – durchaus im Sinne der reformatorischen Kritik am Papsttum – bei Valla gezeigt hatte, ist bei Melanchthon allenfalls in Ansätzen zu beobachten18: Hauptsächlich zeichnet er, seiner eigentlich philologischen Aufgabe gemäß, nach, was die von ihm untersuchten Autoren ihm bieten. Erst in seinen letzten Lebensjahren, wohl ab 1555 hat er zu einem großen eigenen Entwurf in universalhistorischer Absicht ausgeholt, also zu eben dem, worauf ihn das von Reuchlin ererbte Programm eigentlich orientierte. Dieses Alterswerk hat er in der Publikation als Chronicon Carionis bezeichnet, um damit deutlich zu machen, dass er wenigstens wichtige Anstöße einem Werk verdankte, das er Jahre zuvor von Johannes Carion, dem brandenburgischen Hofastronom erhalten und seinerzeit schon einmal bearbeitet, nun aber grundlegend umgestaltet hatte.

2. Die prognostische Bearbeitung des Chronicon Carionis Am 12. Juni 1531 berichtete Melanchthon, dass ihm Johannes Carion mit der Bitte um Verbesserungsvorschläge eine Chronik zugeschickt habe19. Der Absender war kein Unbekannter – weder persönlich für Melanchthon, noch allgemein für die interessierte Öffentlichkeit20: der 1499 im württembergischen 15 MAURER, WILHELM, Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 1: Der Theologe, Göttingen 1969, 16. 16 MAURER, Der junge Melanchthon I (wie Anm. 15), 115f. 17 MAURER, Der junge Melanchthon I (wie Anm. 15), 117. 18 MAURER, Der junge Melanchthon I (wie Anm. 15), 116. 19 MÜNCH, GOTTHARD, Das Chronicon Carionis Philippicum. Ein Beitrag zur Würdigung Melanchthons als Historiker, in: Sachsen und Anhalt 1(1925), 212. 20 Zu den Informationen zur Person s. SCHULTZE, JOHANNES, Art. Carion, Johannes, in: NDB 3, Berlin 1957, 138f; KUHLOW, HERMAN F. W., Johannes Carion (1499–1537). Ein Wittenberger am Hofe Joachims I., in: JBBKG 54 (1983) 53–66; Dietmar Fürst / Jürgen Hamel (Hg.), Johann Carion (1499–1537). Der erste Berliner Astronom. Mit einem Reprint der Schrift Carions „Bedeutnuss und Offenbarung“ (1527) nach dem Exemplar des märki-

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Bietigheim geborene Johannes Carion kannte Melanchthon wohl aus der gemeinsamen Tübinger Studienzeit: Beide hatten Vorlesungen bei dem berühmten Mathematiker Johannes Stöffler gehört – Melanchthon erfuhr hier gewissermaßen mathematische Bestätigung seiner pythagoreischen Anschauungen, während Carion sich tatsächlich ganz auf einen mathematischen Werdegang, insbesondere im Bereich der Astronomie konzentrierte. Schon 1522 kam er als Hofastronom nach Berlin, wo er zum engen Berater des Kurfürsten Joachim I. avancierte – der bekanntlich zeit seines Lebens beim alten Glauben blieb und entschieden gegen die Reformation vorging – die Korrespondenz und produktive Zusammenarbeit zwischen Carion und Melanchthon ist mithin auch ein Beleg dafür, dass die Gelehrtenrepublik des 16. Jahrhunderts sich durch die beginnenden konfessionellen Grenzen noch keineswegs trennen ließ. Carion erlangte eine gewisse Berühmtheit durch seine Sintflutprognose für das Jahr 152421. Ab den frühen dreißiger Jahren betätigte er sich wie viele andere auch als Autor von Prognostiken, Jahresweissagungen, die – wohl insbesondere für die Bevölkerung auf dem Lande – das Wetter und die Himmelserscheinungen für ein ganzes Jahr voraussagen sollten. All dies waren eher kleinformatige Werke. Von diesen stach seine Chronik schon allein durch ihren Umfang, aber auch durch ihre betonte wissenschaftliche Seriosität deutlich ab. Gleichwohl haftet Carion bis heute der schwer widerlegliche Ruf an, letztlich nur Material aufgeschichtet zu haben – erst Melanchthon hat diesem dann den Glanz einer überzeugenden Darstellung gegeben. Wie dieser Prozess abgelaufen ist, lässt sich freilich nicht mehr exakt rekonstruieren: Alle bisherigen versuche, die beiden Autoren des dabei herausgekommenen Chronicons – das nur unter dem Namen des Chronicon umlief – zu scheiden, sind letztlich gescheitert und mussten dies wohl auch, da eben nicht nur die Vorlage Carions selbst nicht erhalten ist, sondern die von Melanchthon mitgeteilten Details der Bearbeitung eher spärlich sind. So wird man für Details nur zufälligerweise Melanchthons Einwirkung herausheben können, vor allem bei seinem wiederholten Interesse am generischen Zusammenhang zwi-

schen Museums Berlin, Berlin-Treptow 1988 (ASBT.VS Nr. 67); BENNING, STEFAN, Johannes Carion aus Biethigheim. Eine biographische Skizze, in: Himmelszeichen und Erdenwege. Johannes Carion (1499–1537) und Sebastian Hornmold (1500–1581) in ihrer Zeit, Ubstadt-Weiher 1999, 193–202. 21 S. hierzu TALKENBERGER, HEIKE, Die Sintflutprognose 1524. Prophetie und Zeitgeschehen in astrologischen Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, in: Himmelszeichen und Erdenwege. Johannes Carion (1499–1537) und Sebastian Hornmold (1500–1581) in ihrer Zeit, Ubstadt-Weiher 1999, 247–276; FRICKE-HILGERS, ALMUT, Die Sintflutprognose des Johannes Carion für 1524 mit einer Vorhersage für das Jahr 1789, ebd. 277–302. Einen umfassenden Einblick in Carions Tätigkeit als Horoskop-Autor bietet REISINGER, REINER, Historische Horoskopie. Das iudicium magnum des Johannes Carion für Albrecht Dürers Patenkind, Wiesbaden 1997 (Gratia 32).

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schen Herkules und Alexander dem Großen22. Ansonsten geht man heute mit einer gewissen Sicherheit davon aus, dass die Einleitung des Chronicons von ihm stammt – und dementsprechend dann auch die Einteilung des Werkes insgesamt, die mit den wichtigsten Passagen dieser Einleitung konform geht23. Das Ergebnis der Arbeit beider ist jedenfalls ein beachtliches Werk, das den Versuch macht, die Universalgeschichte mathematisch zu rekonstruieren, also unterschiedliche Chroniken so aufeinander zu beziehen, dass ein alle Facetten der Weltgeschichte in ein chronologisches Maß gezwungen werden – dies ist in den einzelnen Passagen unterschiedlich gut gelungen24 – doch in jedem Falle handelt es sich um eine beeindruckende Schau der Universalgeschichte, die durchaus dem mitgebrachten Interesse Melanchthons an solcher Universalgeschichte entspricht. Doch dessen eigene Akzentuierung lag noch in einem ganz anderen Bereich – und damit komme ich zu dem eigentlich prognostischen Charakter des Werkes: Der Kernpunkt von Melanchthons Einleitung ist nämlich die Voranstellung der Elia-Weissagung: „Sechs tausent jar ist die welt, und darnach wird sie zubrechen. Zwei tausent oed. Zwei tausent das gesetz. Zwei tausent die zeit Christi, Und so die zeit nicht gantz erfüllet wird, wird es feilen umb unser sunde willen, wilche gros sind.“25

Diese Weissagung dürfte Melanchthon wohl auch durch Reuchlin kennengelernt haben: Zwar wusste Melanchthon durchaus, dass die Weissagung bei Paul von Burgos überliefert war26, aber seine Quelle kann dies schon allein deswegen schwerlich sein, weil in der Fassung Pauls von Burgos gänzlich der Verweis auf die Kürzung der Jahre um der Sünden der Menschen willen fehlt27. So dürfte er seine Kenntnis aus dem Talmud selbst28 und damit durch

22

MÜNCH, Chronicon (wie Anm. 19), 213. Zu Melanchthons Bearbeitung s. BAUER, BARBARA, Die Chronica Carionis von 1532, in: Himmelszeichen und Erdenwege. Johannes Carion (1499–1537) und Sebastian Hornmold (1500–1581) in ihrer Zeit, Ubstadt-Weiher 1999, 203–246, 204f. 211–222. 24 Zur Kritik s. MÜNCH, Chronicon (wie Anm. 19), 199–283. 25 Heinz Scheible (Hg.), Die Anfänge der reformatorischen Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, Flacius und die Magdeburger Zenturien, Gütersloh 1966 (TKTG 2), 17 26 Zit. nach WARBURG, ABY, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen. ed. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden ²1980 (SaeSp 1), 199–304 (SHAW.PH Jg. 1919, Nr. 26, Heidelberg 1920, 72f. 27 LEPPIN, Antichrist (wie Anm. 3), 132. 28 So im Ergebnis auch BARNES, Prophecy (wie Anm. 4), 107; zu Melanchthons Kenntnis der Elia-Weissagung vgl. auch CR 8,663. 23

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seinen in diesen Schriften bestens bewanderten Verwandten Reuchlin erhalten haben. Mit diesem Vorspruch nun wurde die ganze Chronik in den Dienst einer Weissagung genommen. Entsprechend dürfte auch die Struktur, die die dann vollendete Fassung aufwies, auf Melanchthon zurückgehen, denn das gesamte Werk ist nach einem Dreierschema strukturiert, das wiederum eine Binnengliederung durch das bekannte Vierreicheschema nach Daniel erfährt29. Mithin war die apokalyptische Botschaft geradezu gedoppelt: So wie die EliaWeissagung das Ende noch vor dem Jahr 6000 ankündigte, wies auch das Vier-Reiche-Schema daraufhin, dass man in jenem Reich, das das römische Reich fortsetzte, noch das Ende der Welt erfahren würde, dass ein weiteres Reich nicht mehr innerweltlich zu erwarten sei. Das beeindruckende an der Deutung, die Melanchthon damit dem Chronicon unterlegte war, dass die zeitlichen Berechnungen, die Carion und ihm folgend dann wohl auch Melanchthon angestellt hatten, in hervorragender Weise zu dem Schema der Elia-Weissagung passte: der Auszug aus Ägypten war hiernach ungefähr zweitausend Jahre – exakt 2453 Jahre – nach der Schöpfung der Welt erfolgt30, und nach beinahe viertausend – exakt: 3963 – Jahren war Jesus Christus geboren: „In dicto Eliae etiam tempora mundi sic distributa sunt, ut singificetur, Messiam se ostensurum esse mundo post quatuor millenarios. Natus est Christus ex virgine anno mundi ter millesimo, nongentesimo, sexagesimo tertio. Ita apparet, fere completos esse quatuor milenarios“31.

Die bisherigen Ankündigungen also hatten sich bewährt – dass auch die letzte Ankündigung sich noch bewähren würde, war zu erwarten. Das Ende also musste, da ja die sechstausend Jahre nicht voll werden sollten, nahe sein, und zwar sehr nahe. Melanchthon gehörte zu jenen, die kolportierten, Johannes Hilten32, der Franziskanermönch, dem man bis in die Apologie der Confessio Augustana hinein zuschrieb, das Auftreten Luthers prognostiziert zu haben33, habe einen Türkensturm für die Zeit um 1600 angekündigt34 – wohl nach Auslegung der Gog-und-Magog-Weissagung in Ez 38f35 das letzte Anrennen der Feinde vor dem Weltuntergang. Das Beeindruckende aber war für Melanchthon eben, dass er für diese Weissagung nun zwei unabhängig voneinander entstandene Quellen hatte: Carions humanistische Berechnungen und die rabbinische Elia-Weissagung. 29

MÜNCH, Chronicon (wie Anm. 19), 218. CR 12, 750. 31 CR 12, 904. 32 Zu ihm s. LEPPIN, VOLKER, Art. Hilten, Johannes, in: RGG4 3, Tübingen 2000, 1738 33 ApolCA 27 (BSLK 378). 34 S: hierzu LEPPIN, Antichrist (wie Anm. 3), 146 Anm. 100. 35 S: hierzu LEPPIN, Antichrist (wie Anm. 3), 99. 30

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3. Der theologische Sinn von Melanchthons Eschatologisierung des Chronicons Melanchthon nimmt mit der beschriebenen Eschatologisierung des Chronicons teil an jener Bestimmung der Endzeit, wie sie bei vielen Zeitgenossen im Luthertum, insbesondere auch bei Luther präsent war. Charakteristisch aber ist die Weise, in der er für die Nähe des Endes argumentiert bzw. diese seinen Lesern plausibel zu machen sucht. Das primäre Angebot für die Identifikation der Gegenwart als Zeit des Endes fand sich nämlich an einer ganz anderen Stelle: in der Offenbarung des Antichrist: Sie haben Luther und andere als das Datum identifiziert, aufgrund dessen Gewissheit darüber herrschen konnte, dass das Ende nahe sei. Die Betonung lag dabei auf der Offenbarung des Antichrist, nicht auf seinem Auftreten, denn da Luther ja überzeugt war, dass der Antichrist nicht eine einzelne Person im Sinne der mittelalterlichen Legende war, sondern die ganze Institution des Papsttums, spätestens seit Gregor dem Großen, war der Antichrist schon längst verborgen in der Welt präsent und nun, so das reformatorische Selbstverständnis Luthers, erst durch dessen Freisetzung der Botschaft des Evangeliums in seinem antichristlichen Charakter offenbart. Diese bei Luther selbst und vielen anderen Autoren der nachkommenden Generation verbreitete Auffassung setzte einen Geschichtsablauf mit Höhen und Tiefen, mit Brüchen und plötzlichen Wendungen voraus: Dem Höhepunkt des Auftretens Jesu Christi folgte eine Zeit der Dekadenz, bis hin zu den schlimmsten Auswüchsen, die man im Papsttum des Mittelalters identifizierte – und dann ein plötzliches, unvorhergesehenes Eingreifen letztlich Gottes selbst, der mit dem Schwert seines Mundes, nämlich mit dem Evangelium, den Antichrist zu Fall brachte. Vor diesem Hintergrund wird die Spezifik von Melanchthons Geschichtssicht und Enderwartung deutlich: Gegenüber der bruchartigen Sicht, wie sie sich beim Aufgehen von der Offenbarung des Antichrist einstellt, bietet die Elia-Weissagung eine zwar durch die Zweitausendjahreseinheiten epochalisierte und dynamisierte Geschichtssicht, die aber letztlich nicht mit einem Reagieren Gottes auf innerweltliches Geschehen rechnet: Wo Gott bei der Betonung der Offenbarung des Antichrist sein Evangelium zur Rettung vor der Drohung eben dieses Antichrist schickt, erscheint in der Elia-Weissagung ein seit jeher bestimmter Geschichtsablauf, der fast an deterministische Vorstellungen grenzt: Selbst der große Einschnitt, die Offenbarung in Jesus Christus ist schon lange, im Sinne der Prädestinationslehre gesprochen, supralapsarisch vorgeprägt: Die Elia-Weissagung macht den Anschein, als habe Gott eben diesen Heilsplan entworfen, noch ehe es den Menschen gab, vor allem auch ehe es den Sündenfall und die Notwendigkeit, auf diesen zu reagieren gab. Die Geschichte wird anhand der bestimmenden Determinanten geschildert – und ihr Ende wird in keiner Weise in Abhängigkeit von der Offen-

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barung des Antichrist oder der Wiederbringung des Evangeliums her bestimmt. Anders ausgedrückt: Im Unterschied zu anderen, schon sehr frühen Äußerungen im reformatorischen Lager – etwa auch der Identifikation Luthers als wiedergekommener Elia bei Huldrych Zwingli – besitzt die Reformation in diesem Schema keinerlei heilsgeschichtliche Bedeutung36 – und gewinnt auch keine historische Kontur, obwohl der Erzählzusammenhang des Chronicons bis 1532 reicht37. Geschichte findet so, wie sie stattfindet, statt – etsi reformatio non daretur. Und die Dinge werden noch heikler, wenn man sieht, dass auch der autoritative Hintergrund, vor dem Melanchthon seine Geschichtssicht entfaltet, aus reformatorischer Perspektive und unter Berücksichtigung des reformatorischen Sola-scriptura-Prinzips höchst fragwürdig erscheinen muss: Melanchthon wusste selbst ganz genau: Dictum Heliae extat non in Bibliis, sed apud Rabinos38. Melanchthon gewann also wissentlich eine heilsgeschichtlich entscheidende Aussage aus dem nicht- bzw. sogar: nachbiblischen Schrifttum. So wie auch der erwähnte Johannes Hilten ja keineswegs biblisch legitimiert war, wurde auch hier die materiale Basis der theologischen Aussagen durchaus mit einer gewissen Freimütigkeit erweitert. Gerade vor diesem Hintergrund ist es dann um so erstaunlicher, dass die Elia-Weissagung sogar von Luther selbst verwendet wurde, übrigens in einem Kontext, der durchaus mit dem Chronicon Carionis zusammenhängt: 1541 entwarf Luther eine eigene Supputatio annorum, die Carions und Melanchthons Berechnungen noch einmal korrigieren sollte – und dieser Berechnung stellte nun auch Luther die Elia-Weissagung voran. Geschichts- und Endzeitberechnung auf Grundlage dieses zunächst einmal mit reformatorischen Anschauungen und sonstiger reformatorischer Selbstdeutung nicht unbedingt affinen Schemas, konnte also eine Plausibilität weit über speziell melanchthonisch geprägte Kreise hinaus gewinnen. Der Hintergrund hierfür ist wohl, dass die Elia-Weissagung in, freilich vergröbernder Weise, einer Grundunterscheidung des reformatorischen Denkens Ausdruck gibt: zweitausend Jahre unter dem Gesetz, zweitausend Jahre die Zeit Christi – das spiegelt offenkundig die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wider, insofern die Zeit Christi natürlich als Zeit des Evangeliums zu identifizieren ist. Freilich zeigt sich gerade hierin auch die Problematik einer Historisierung theologischer Aussagen: Luther hatte immer wieder betont, dass der Zusammenhang zwischen Gesetz und Evangelium gerade nicht so zu verstehen sei, als enthielte das Alte Testament nur Gesetz und das Neue nur Evangelium. Das Wort Gottes spricht als Gesetz und Evangelium, und es tut dies im Alten wie im Neuen Testament. Gleichwohl ändert sich gewissermaßen die Ge36

So auch BAUER, Chronica Carionis (wie Anm. 23), 207. MÜNCH, Chronicon (wie Anm. 19), 228. 38 WARBURG, Weissagung (wie Anm. 26), 72. 37

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wichtung mit dem Auftreten Christi: Ist zuvor das Gesetz die bestimmende Lebensgröße, so wird es von nun an das Evangelium. In diesem Sinne kann dann auch die Kurzformel der Elia-Weissagung einen theologisch akzeptablen Sinn erhalten.

Fazit In Melanchthons Bearbeitung des Chronicon Carionis läuft das humanistische Interesse des Mannes neben Luther unmittelbar mit seiner sich zunehmend entwickelnden reformatorischen Theologie zusammen. Die frappierende Konvergenz zwischen Elia-Weissagung und den Berechnungen Carions macht ihm das Ende in ganz anderer Weise gewiss, als es Berechnungen aufgrund biblischer vaticinia vermöchten: Es ist die humanistische Geschichtsbetrachtung selbst, die Quelle aller artes, wie er in der Wittenberger Antrittsrede erklärte, die eine Prophetie aus ganz anderen Quellen bestätigt und damit hochgradig aktualisiert. Die apokalyptische Zeitansage wird aus der humanistischen Geschichtsbetrachtung generiert – ein Zusammenhang, der zeigt, wie tief apokalyptisches Denken im 16. Jahrhundert in andere Kontexte eindringen konnte. Die Kombination aus Geschichtsbetrachtung und Ansage des Weltendes, die Melanchthon mit dem Chronicon Carionis vorgenommen hatte, erwies sich dabei als ungeheuer schlagkräftig: Es waren in der zweiten Hälfte nicht nur die Gnesiolutheraner, die mit ihrem ständigen Beharren auf der Antichristlichkeit des Papstes und dem mit seiner Offenbarung verbundenen nahen Ende, publizistischen Erfolg hatten, sondern das Chronicon Carionis wurde geradezu zu einem Erfolgsbuch – freilich erst in der Fassung von 1558, auf die hier nicht weiter einzugehen ist. Doch sind die Indizien für seine allgemeine Akzeptanz auffällig: Immer wieder bieten in der Folgezeit Autoren astrologischer Praktiken neben der Datierung von Christi Geburt an eine Carion folgende Datierung ab Erschaffung der Welt39. Und 1586 stellte ein Autor lapidar fest, die meisten Autoren seien sich einig, daß die Dauer der Welt 6000 Jahre betrage40 – auch dies wohl die Fernwirkung der Elia-Weissagung, die durch das Chronicon weithin bekannt geworden war. Diese Popularität eines Werkes des seitdem im Luthertum leider immer wieder überaus unpopulären Melanchthon bedeutet auch eine gewichtige Transformationsleistung: Die Entwicklung von der von Reuchlin übernommenen, letztlich auf dem 39

Belege s. LEPPIN, Antichrist (wie Anm. 3), 133 Anm. 23. Etliche nützliche und glaubwirdige Coniecturen, Vermutungen, das der liebe Jüngstetag, das letzte Gericht der Welt, nahe ist. Sampt einer getreuen und nötigen Warnung, dabey die einschleichenden Calvinisten zu erkennen seind [...], zusammen getragen und an tag gegeben Durch M. Albinum Mollerum [...], Dresden: Matthes Stöckel 1586, 8r. 40

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italienischen Renaissancehumanismus beruhenden Geschichtssicht Melanchthons hin zu seiner Bearbeitung des Chronicons ist so bruchlos wie die darin ausgedrückte Geschichtssicht. Eher statt von Brüchen ist wohl von einer Anreicherung durch reformatorisches Denken zu sprechen. Das Chronicon Carionis belegt damit auch, wie nahe sich Renaissance und Reformation kommen konnten.

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Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen Für das heutige, allem Anschein nach ohnehin im Stocken begriffene ökumenische Gespräch bedeutet es – um es vorsichtig auszudrücken – keine Erleichterung, daß Luther im Papsttum den Antichrist zu erkennen glaubte und dies vielfältig wiederholt und eingeschärft hat – bis hin zu seiner mit Grobianismen gespickten Polemik Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestift, in der er an seinem Lebensende noch einmal sammelte, was er gegen Rom zu bieten hatte. Dem theologischen Anliegen Luthers aber wird man schwerlich gerecht, wenn man sich auf diese im Antichristbegriff zweifellos enthaltenen polemischen Aspekte kapriziert1. Vielmehr sollte vor aller Stellungnahme zu ihr die von Luther intendierte theologische Sachaussage als solche in all ihren Aspekten ernstgenommen werden2. Gegenstand des ökumenischen Gesprächs ist in diesem Zusammenhang nun auch die theologiehistorische Frage geworden, ob die Verwendung der Antichrist-Begrifflichkeit durch Luther und andere Reformatoren „aus spätmittelalterlichen Traditionen der Kirchenkritik [...] erklärbar“ sei3 oder nicht4.

1

Daß auch die Darlegungen in Karl Lehmann / Wolfhart Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. 1: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg im Breisgau u. Göttingen 1986 (DiKi 4), den Antichristbegriff keineswegs ausschließlich als „Verunglimpfung“ abtun, hat PANNENBERG, WOLFHART, Müssen sich die Kirchen immer noch gegenseitig verurteilen?, in: KuD 38 (1992) 311–330, 328f, zu Recht hervorgehoben. Gleichwohl wird man nicht umhinkönnen, festzustellen, daß es die unverkennbar relativierende Herausstreichung des polemischen Charakters des Begriffs gegenüber der implizierten Sachaussage in eben jenem Dokument zu den Lehrverurteilungen war, die die von Pannenberg kritisierten Mißverständnisse provoziert hat. 2 Dies hat in intellektueller Klarheit und positioneller Schärfe Dietz Lange (Hg.), Überholte Verurteilungen? Die Gegensätze in der Lehre von der Rechtfertigung, Abendmahl und Amt zwischen dem Konzil von Trient und der Reformation – damals und heute, Göttingen 1991, 125–127, herausgestellt. 3 So Lehmann / Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen (wie Anm. 1), 168,9f. 4 So LANGE, Überholte Verurteilungen (wie Anm. 2), 125 Anm. 20.

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Luthers Antichristverständnis

Anliegen der folgenden Untersuchungen ist es, dieses Problem aufzugreifen und neu zu beleuchten. Die gängige historiographische communis opinio ist dabei nach wie vor von den grundlegenden Forschungen von Hans Preuß zu Luthers Antichristbegriff aus dem Jahre 1906 bestimmt5. Seine Studien, getragen von dem Interesse, Luthers Bedeutung vor allem durch Absetzung von seinen mittelalterlichen Vorgängern herauszustreichen, hatten ihr Zentrum in der Erkenntnis, daß die Originalität von Luthers Antichristbegriff vor allem in zwei Punkten liege: Zum einen sei für ihn, anders als für „das“ Mittelalter, der Antichrist nicht ein einzelner Mensch, sondern eine Institution, eben das Papsttum6, zum anderen aber habe er, anders als die „Opponenten des Mittelalters“ die Antichristlichkeit des Papsttums an der Lehre, nicht am Leben festgemacht7. In dem Maße, in dem die neuere Forschung das Bild vom Mittelalter insgesamt und insbesondere von der mittelalterlichen Antichristologie differenziert hat, muß auch die These von Preuß einer Revision unterzogen werden – zumal Luther selbst sein Verhältnis zur mittelalterlichen Antichristologie durchaus nicht ausschließlich nach dem Schema radikaler Entgegensetzung gedeutet hat: 1528 gab er einen Apokalypse-Kommentar des Wyclifiten Johannes Purvey heraus, um zu zeigen, daß er nicht der erste war, der den Papst als Antichrist deutete8: Zumindest in der Tradition mittelalterlicher Papstkritik anhand des Antichristbegriffs also konnte er sich trotz allen selbstverständlichen Neuansatzes verstehen.

5

PREUß, HANS, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit, Leipzig 1906; die Überlegungen von Preuß prägen noch das Bild des Verhältnisses von Luthers Antichristologie zur mittelalterlichen bei RUSSELL, WILLIAM R., Martin Luther’s Understanding of the Pope as Antichrist, in: ARG 85 (1994) 32–44. Eine merkwürdige Ausnahme von der Mehrheitsmeinung bildet allerdings SCHILLING, HEINZ, Job Fincel und die Zeichen der Endzeit, in: Wolfgang Brückner, (Hg.), Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Berlin 1974, 326–393, 362, der geradezu in völliger Umkehr Luther als Erneuerer einer personifizierten Antichristdeutung darstellt. Das geht nun einfach an der nicht personen- sondern institutionenorientierten Antichristauffassung Luthers vorbei. 6 PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 176; aufgenommen bei SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Antichrist IV. Reformations- und Neuzeit, in: TRE 3 (1978), 28–43, 28f. Letztlich entstammt diese Gegenüberstellung einer geistlich-institutionellen Auslegung des Antichristbegriffs zu einer mittelalterlich-katholischen personalen Deutung der flacianischen Geschichtssicht (s. PEUCKERT, WILL-ERICH, Art. Antichrist, in: HWDA 1, Berlin / Leipzig 1927 [= Berlin 1987], 479–502, 488). 7 Generell gesteht PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 62f. 177, diesen Opponenten eine größere Nähe zu Luther zu. 8 WA 26,124,1–3.

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Luthers Antichristverständnis9 entwickelte sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Papsttum. Dabei hat er die brisante Identifikation des Papsttums mit dem Antichrist zunächst nur konditional vorgebracht. Erstmals geschah dies in seinen Resolutiones super propositionibus suis Lipsiae disputatis (1519), nachdem er schon zuvor in einem Schreiben an Spalatin zweifelnd gefragt hatte, ob nicht womöglich der Papst der Antichrist sein könne10. In seiner nachträglichen Reflexion auf die Leipziger Disputation nun legte Luther dar, daß Eck dem Papst – in Auslegung Augustins11 – eine solche Autorität zur Schriftauslegung zumesse, daß der Kirche letztlich ein größerer Glaube entgegengebracht werden müsse als dem Evangelium selbst. So aber finde 2Thess 2,4 seine Erfüllung, der Papst sei dann eben jener Mensch, der sich über alles erhebe12, da er sich so ja über das Wort Gottes selbst erhöbe: Diese nicht auf die Realität des Papsttums, sondern auf dessen Deutung durch seine Anhänger abhebende Identifikation des Papstes als Antichrist ist, das zeigt dieser Entdeckungshorizont, zunächst die negative Kehrseite des reformatorischen Schriftprinzips. Und gerade der konditionale Charakter dieser Formulierung macht deutlich, daß Luther die Identifikation des Papstes als Antichrist keineswegs einfach ungeprüft und unüberprüfbar behaupten wollte, sondern aufgrund seiner theologischen Grunderkenntnisse Kriterien aufstellt, anhand deren die Widerchristlichkeit des Papstes erkennbar ist. Aufgrund dieser Kriterien kam Luther aber schon bald zu dem Ergebnis, daß in der Tat nicht nur bedingungs- und vermutungsweise, sondern auch affirmativ formulierbar sei, daß das Papsttum der Antichrist sei: In der Adelsschrift schließt er seine Ausführungen zur Dispensationsbefugnis und -praxis der Päpste mit der Feststellung: „Wen kein ander boszer tuck were, der do beweret, das der Bapst der recht Endchrist sey, szo were eben diszes stuck gnugsam, das zu beweren“ 13.

Grammatikalisch noch als Bedingungsgefüge formuliert, ist der Sinn des gesamten Satzgefüges doch eindeutig, daß der Papst, und darunter versteht Luther in dieser allgemeinen Formulierung zweifellos die Gesamtheit der Päpste 9

S. hierzu zusammenfassend SEEBAß, Antichrist (wie Anm. 6), 28–31. WA.B 1,359,29–31 (13.3.1519); vgl. den Brief an denselben vom 24.2.1520 (WA.B 2,48,26–49,29); vgl. auch das Schreiben an Linck vom 18.12.1518 (ebd. 270,11–14), wo Luther noch allgemein vom Regiment des Antichrist in der Kurie gesprochen hatte; vgl. hierzu PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 105; BÄUMER, REMIGIUS, Martin Luther und der Papst, Münster 51987 (KLK 30), 54; zu Luthers exegetischer Arbeit am Antichristbegriff in der Psalmenvorlesung BIZER, ERNST, Luther und der Papst, München 1958 (TEH.NF 69), 11–15. 11 Es geht um das bekannte Wort, nach dem Augustin dem Evangelium nicht glauben würde, brächte ihn nicht die Autorität der Kirche dazu (PL 42,176). 12 WA 2,429,33–430,6; vgl. PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 107. 13 WA 6,453,10f; vgl. hierzu PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 116f). 10

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Luthers Antichristverständnis

bzw. die Institution des Papsttums14, als Antichrist zu sehen sei, und wenige Zeilen später seufzt und fleht er folgerichtig den Jüngsten Tag herbei15. Spätestens 1520 also gelangte Luther, indem er seine Antichristvorstellung an bestimmten Kriterien festmachte, zur gewissen Identifikation einer nichtpersonalen, institutionellen innerweltlichen Größe als Antichrist, und diese Gewissheit, daß ihm im Papsttum der Antichrist selbst begegnete, sollte er in Zukunft nicht mehr verlieren. Immer wieder erscheinen in der Folgezeit Nachweise aus seiner Hand, daß auf den Papst die biblischen Kriterien für den Antichrist zutreffen. Gelegentlich hat Luther allerdings auch das osmanische Reich als Antichrist angesprochen16, jedoch mit der Betonung, daß es sich hier um unpräzisen Sprachgebrauch handelt17. Gerade dies bestätigt die Orientierung an biblisch vorgegebenen Kriterien, denn entscheidend für die Auffassung, daß das türkische Reich nicht der eigentliche Antichrist sein könne, ist der locus classicus mittelalterlicher Antichristologie, 2Thess 2: Hier heißt es in Vers 4, daß der Antichrist im Tempel Gottes sitze. Dies konnte nach Luther, da der Tempel Gottes nach paulinischem Sprachgebrauch (1Kor 3,16f; 6,19 2Kor 6,16) nicht in wörtlichem, sondern einzig in übertragenem Sinne zu verstehen sei, nämlich als Kirche, nicht von den Türken, sondern ausschließlich vom Papst gelten18. Dieses Kriterium diente nicht nur der Unterscheidung des Papstes als des eigentlichen Antichrist von dem türkischen Antichrist, sondern es rückte auch unabhängig davon immer mehr in den Mittelpunkt von Luthers antichristologischer Kriterienbildung19. Neben diesem Kriterium blieb das von Anfang an anzutreffende Argument, daß der Papst sich in Anmaßung alleiniger Auslegungskompetenz über die Bibel setze20, ja ihre Autorität von der seinen ableiten wolle21, aber präsent. Diese Anmaßung des Papstes machte Luther nun in besonderer Weise an dem „Abgott“ des Antichristen fest, dem geistlichen

14

Entsprechend erscheint in De captivitate Babylonica der korrekte Begriff papatus (WA 6,537,24f; vgl. ebd. 498,4–6). 15 WA 6,453,22f. 16 Z.B. WA 42,389,42f. 17 WA 30/II,162,1–14; 50,217,31–35; so auch das Fazit in dieser Frage bei PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 174f. 18 WA 30/II,126,27–127,2. 19 S. WA 38,220,28–31; 251,27–36; 40/I,619,18–31. 20 So schon in der Interpretation der Leipziger Disputation WA 2,429,35–37: „Et quod haec eorum sit sententia, ex eo patet, quod Papae hinc tribuunt autoritatem interpretandae scripturae, soli etiam“. In De captivitate Babylonica listet Luther als Verfehlungen der tyrannis papalis, die zur Antichristidentifikation führen, auf: „[...] fidem extinxit, sacramenta obscuravit, Evangelium oppressit“ (WA 6,537,29). 21 WA 30/II,682,37–683,2.

Kapitel 25

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Recht22: Seine in der Verbrennung des Corpus iuris canonici23 sich manifestierende Distanz vom kodifizierten Kirchenrecht floß hier unmittelbar in seinen theologisch fundamentalen Angriff auf das Papsttum ein. Und hier wird auch deutlich, wie eng dieser Angriff auf den Kern seiner reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft bezogen ist: Der entscheidende Grund zur Ablehnung des Kirchenrechts ist eben der, daß es, indem seine Gesetze die Menschen binden24, Werkgerechtigkeit vermittelt25: Die Gefährdung von sola gratia und sola fide ist es, die seinen antichristlichen Charakter ausmacht. Solche Verbindungen der Antichristologie mit der Mitte der reformatorischen Botschaft zeigen, daß es sich bei der Identifikation des Papstes als Antichrist keineswegs um eine billige Polemik handelte, sondern um eine ganz konsequente, wohl durchdachte, an Kriterien festgemachte Folgerung aus den theologischen Grunderkenntnissen des Reformators. Die Antichristlehre ist in dieser Form nicht weniger als die negative Kehrseite der reformatorischen Lehren, die aus deren Anwendung auf die Luther umgebende kirchliche Realität entsprang. Eben dieser theologischen Zentralstellung der Antichristlehre ist es auch zu verdanken, daß Luthers Kriterienbildung nicht etwa starr blieb, sondern mit neuen gesamttheologischen Akzentsetzungen in seiner Lehre auch ihrerseits eine gewisse Akzentverschiebung erfuhr. So war es später immer stärker auch der Gedanke, daß der Papst die drei Stände, durch die Gott die Welt erhalten will, zerstöre, den Luther als geradezu durchschlagendes Argument für die Widerchristlichkeit dieser Institution anführen zu können meinte: Die Obrigkeit hatte der Papst-Antichrist zerstört, indem er Herrscher in tyrannischer Willkür absetzte oder die Untertanen von ihrer Gehorsamspflicht entband, die Kirche war mit der Zerstörung von Wort und Sakrament natürlich gleich ihrerseits mitzerstört. „UND auff das er nichts unverwüstet lasse“, hat der Antichrist schließlich noch durch Zölibat und Mißachtung des göttlichen Segens, unter dem die Ehe steht, auch diesen Stand zerstört26. Dieser argumentative Ausbau ist nicht etwa Folge einer willkürlichen Suche nach weiteren Verdachtsmomenten, sondern Folge der theologischen Auffassung vom ganz grundsätzlich widerchristlichen Charakter des Papsttums. 22

WA 10/II,122,19–22; vgl. 7,714,1f; 39/I,19,18–20,8. Auf die Zentralstellung des Rechts in Luthers Antichristologie verweist auch KOHLMEYER, ERNST, Zu Luthers Anschauungen vom Antichrist und von weltlicher Obrigkeit, in: ARG 23 (1926) 142–150, 146, während PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 152f, dazu neigt, sie zu unterschätzen. 23 S. hierzu BRECHT, MARTIN, Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483– 1521, Stuttgart 1981, 403f. 24 WA 40/I,619,18–31. 25 WA 10/II,122,24f. 26 Zum Ganzen WA.DB 11/II 65–69; s. hierzu grundlegend MAURER, WILHELM, Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, München 1970 (SBAW.PPH Jg. 1970, H. 4), 39f.

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Luthers Antichristverständnis

Die Antichristlehre stellt also eine vom theologischen Zentrum her zu verstehende Lehre Luthers dar, insofern Luther von diesem Zentrum aus Kriterien entwickelt hat, aufgrund deren ihm die Identifikation des Papsttums in der Gestalt, wie es ihm begegnete, als antichristlich unausweichlich schien. Sie ist keine zufällige Polemik, sondern theologisches Lehrstück und wurde in der lutherischen Bekenntnisbildung ja dann auch als solches behandelt27.

Blickt man von diesem Lutherschen Antichristkonzept aus auf das Mittelalter zurück, so ist zunächst vor allem soviel deutlich, daß Luther hier nicht einfach mittelalterliche Vorlagen auf seine Gegenwart adaptiert hat. Zu fragen bleibt aber, ob es in der mittelalterlichen Lehr- und Frömmigkeitsentwicklung möglicherweise doch Anknüpfungspunkte gab, an die Luther mit seinen Überlegungen anknüpfen konnte. Das ist sicher nicht der Fall, wenn man sich hier ausschließlich auf die an einem personalen Individuum orientierte Antichristlegende fixiert, so gewiß sie das Bild vom Antichrist in der allgemeinen Frömmigkeit des späten Mittelalters28 geprägt haben dürfte, wie geistliche Spiele29 und die Verbreitung in frühen Drucken zeigen30. Sie geht weitgehend auf Hippolyts strenge Entgegensetzung des Lebens des Antichrist zur Vita Christi31 zurück und fand ihre maßgebliche Ausprägung durch Adso, den Abt von Montier-en-Der, dessen Name wie so manches aus dem Mittelalter durch Umberto Ecos „Der Name der Rose“ an Bekanntheit gewonnen hat: Es ist hier der Ich-Erzähler, der – in Ecos Vexierspiel mit dem Doyleschen Dr. Watson assoziiert – den „großen und schönen Namen“ Adso trägt32. 27

BSLK 430,10f; 484f u.ö.; zum Fortleben dieses Gedankens vom Papst als Antichrist s. jetzt LEPPIN, VOLKER, Zwischen der Offenbarung des Antichrist und dem Jüngsten Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, als Habilitationsschrift vorgelegt, masch. Heidelberg 1997, zur Bedeutung der Antichristprädikation darin Kapitel 7 (S. 198–235). 28 REUSCHEL, KARL, Untersuchungen zu den deutschen Weltgerichtsdichtungen des XI. bis XV. Jahrhunderts. 1. Teil: Gedichte des XI. bis XIII. Jahrhunderts, Chemnitz 1895, 36f, verweist darauf, daß nach dem Ludus aus der Stauferzeit erst im 14. Jahrhundert wieder die Produktion von Antichristspielen einsetzte. 29 Z.B. Der Antichrist. Der staufische Ludus de Antichristo. Kommentiert von Gerhard Günther, Hamburg 1970; eine Aufzählung der mittelalterlichen Antichristspiele bietet AICHELE, K LAUS, Das Antichristdrama des Mittelalters, der Reformation und der Gegenreformation, Den Haag 1974, 27–50; vgl. die Kritik Luthers an diesen Spielen in WA.TR 4,108,34–37. 30 Antichrist (wie Anm. 29). 31 GCS I,1,7f (Kap. 6); vgl. BOUSSET, WILHELM, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des neuen Testaments und der alten Kirche, Göttingen 1895, 15. 32 S. den Dialog zwischen dem greisen Jorge und Adso bei Umberto Eco, Der Name der Rose. Übers. v. Burkhart Kroeber, München 1986, 111: „‚Du trägst einen großen und schö-

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Im Auftrag Gerbergas33, einer mit dem westfränkischen König Ludwig IV. verheirateten gebürtigen Ottonin34, verfaßte der reale Adso um 949–95435 die Schrift De ortu et tempore Antichristi. In ihr goß er die vielfältigen altkirchlichen Materialien36 zum Antichrist in eine biographische Form, die den später37 von ihm verfaßten Heiligenviten gleichsam antithetisch präludierte. Vor allem aber war hier eine Antithese zum Leben Christi entstanden: Auf der Folie vor allem der biblischen Weissagungen in Dan, 2Thess und Apk entwarf Adso das Bild einer streng Christi Leben entgegengesetzten Vita, die das Grundgerüst der biographischen Antichristologie der folgenden Jahrhunderte gab und nur an einigen Stellen noch weiter ausgeschmückt wurde: Der Antichrist ist nach dieser Biographie Abkömmling des Stammes Dan38. Hintergrund hierfür war nicht allein die von Adso selbst angeführte Stelle Gen 49,1739, sondern auch, im Anschluß an Irenäus, der zusätzlich auf Jer 8,16 verwies, das Fehlen des Stammes Dan bei der Aufzählung der Versiegelten in Apk 7,4–840. Die Zeugung selbst wurde bei Adso noch ohne Anrüchigkeit geschildert, lediglich durch den Verweis darauf, daß der Antichrist

nen Namen’, sagte er. ‚Weißt du, wer Adson von Montier-en-Der war?’ Ich gestand, daß ich es nicht wußte. Woraufhin Jorge erklärte: ‚Er war der Autor eines großen und schönen Buches, des Libellus de Antichristo, in welchem er Dinge sah, die eines Tages geschehen werden. Doch er fand kaum Gehör...’„; vgl. zu den literarischen Bezügen des Namens „Adso“ HAUSMANN, FRIEDERIKE, Umberto Ecos „Il nome della rosa“ – ein mittelalterlicher Kriminalroman?, in: Max Kerner (Hg.), „... Eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman „Der Name der Rose“, Darmstadt 1987, 21–52. 33 S. ADSO DERVENSIS, De ortu et tempore Antichristi necnon et tractatus qui ab eo dependunt. ed. v. Daniel Verhelst, Turnholti 1976 (CChr.CM 45), 20f. 34 Zur Schwierigkeit, die Loyalität Gerbergas dem West- oder Ostreich zuzuordnen s. SCHNEIDMÜLLER, BERND, Adso von Montier-en-Der und die Frankenkönige, in: TrZ 40/41 (1977/8) 189–199, 191. 35 KONRAD, ROBERT, De ortu et tempore Antichristi, Kallmünz 1964 (MHG.MA 1), 26. 36 Zu den verarbeiteten Traditionen s. VERHELST, DANIEL, La préhistoire des conceptions d’Adson concernant l’Antichrist, in: RThAM 40(1973) 52–103; RAUH, HORST DIETER, Das Bild des Antichrist im Mittelalter. Von Tyconius zum deutschen Symbolismus, Münster 1973, 153–164. 37 KONRAD, De ortu et tempore (wie Anm. 35), 23f; SCHNEIDMÜLLER, BERND, Karolingische Tradition und frühes franziskanisches Königtum, Wiesbaden 1979 (FHA 22), 63. Aus diesem schlichten chronologischen Grund läßt sich natürlich die biographische Formen von „De ortu et tempore Antichristi“ gg. RAUH, Antichrist (wie Anm. 36), 163, nicht aus den Heiligenviten ableiten. 38 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 23,20f 39 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 23,21f. 40 PG 7,2,1205; vgl. JOHANNES VON PALTZ, Quaestio determinata contra triplicem errorem. ed. v. Albert Czogalla, in: Johannes von Paltz, Werke. Bd. 3: Opuscula. ed. u. bearb. v. Christoph Burger et al., Berlin / New York 1989 (SuR 4), 37–138, 50,7f.

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Luthers Antichristverständnis

aus Mann und Frau geboren sei, von der Jungfrauengeburt unterschieden41. Spätere Tradenten wußten jedoch von einer inzestuösen Verbindung der Eltern42 oder auch von einer Prostituieren als Mutter zu berichten43. Denselben Assoziationsraum hat nach Apk 17 natürlich bereits der Geburtsort Babylon eröffnet44. Eigentlicher Ort der Endereignisse ist allerdings Jerusalem: Hierhin zieht der Antichrist, wenn seine Zeit gekommen ist. Der Tempel wird wiedererrichtet, und hier beschneidet sich der Antichrist45. An solchen Elementen wird der antijudaistische Grundtenor der Vita deutlich46, der sich in besonderer Schärfe zeigt, wenn Petrus Damiani ihn als „rejectae filius Synagogae“ bezeichnet47. Für die Endereignisse entscheidend aber ist, daß der Antichrist nun, getreu einer im Gegensatz zu Luther wörtlichen Auslegung von 2Thess 2,4, im Tempel residiert48 und hier ein pseudomessianisches Reich begründet: Er proklamiert sich zum Messias49 und Sohn Gottes50, tut nach 2Thess 2,9 Zeichen und Wunder51 und predigt neue Lehre und neues Gesetz52. Diese Herrschaft, der auch die nach Apk 11,3ff wiedergekehrten Entrückten, Henoch und Elia53, zum Opfer fallen54, währt dreieinhalb Jahre55, also 41

ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 23,24–26. Der Antichrist. Faksimile der ersten typographischen Ausgabe. Inkunabel der Stadtund Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Inc. fol. 116, Hamburg 1979, 2f; zu den möglichen Varianten des Inzestmotivs s. AICHELE Antichristdrama (wie Anm. 29), 114. 43 PALTZ, Quaestio (wie Anm. 40), 50,15f. 44 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 23,41–24,46; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 4; PALTZ, Quaestio (wie Anm. 40), 50,4. 45 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 24,59; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 5. 46 Vgl. BURGER, CHRISTOPH, Endzeiterwartung im späten Mittelalter. Der Bildertext zum Antichrist und den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht in der frühesten Druckausgabe, in: BOVELAND, KARIN, et al., Der Antichrist und Die Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Kommentarband zum Faksimile der ersten typographischen Ausgabe eines unbekannten Straßburger Druckers, um 1480, Hamburg 1979, 18–78, 46f; RAUH, Antichrist (wie Anm. 36), 161f. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, daß der Antichrist seine Anhänger vor allem unter den Juden gefunden habe, bei HAIMO VON AUXERRE (PL 117,1073). 47 PL 145,392. 48 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 24,55–60; PALTZ, Quaestio (wie Anm. 40), 50,13f. 49 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 27,143f; PL 117,1096 (HAIMO VON AUXERRE; zur Identifikation des Autors s. GANSWEIDT, BIRGIT, Art. Haimo v. Auxerre, in: LMA IV (1989), 1864; DIES., Art. Haimo v. Halberstadt, ebd.). 50 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 24,59f; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 11; HAIMO VON AUXERRE (PL 117,1096). 51 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 24,67; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 9f. 52 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 24,64–67; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 9. 53 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,152–157; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 7f. 42

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eben jene Frist, die in Apk 11,2f mit der Zahl von 42 Monaten oder 1260 Tagen in Ausdeutung von Dan 7,25; 12,7 („eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“) zur endzeitlichen Entscheidungszeit erhoben worden ist. Der Antichrist gelangt in dieser Zeit zur Weltherrschaft über alle Völker und Herrscher56, doch endlich stirbt er57. Die darauf folgenden Ereignisse wurden vor und nach Adso noch weiter in Antiparallele zu Christus konstruiert: Nach drei Tagen scheinbaren Todes geschieht ein Pseudo-Ostern58, und selbst Pfingsten kann der Antichrist nachahmen59. Dann aber wird er – getreu 2Thess 2,8 – durch den Geist des göttlichen Mundes besiegt60 und statt einer Himmelfahrt folgt der Höllensturz61.

Im Blick auf diese Tradition ist unzweifelhaft von einer stark personalisierten und, wie geschildert, geradezu biographischen Auffassung des Antichrist im Mittelalter zu sprechen, von der sich dann in der Tat Luther ohne weiteres abheben läßt. Die mediävistische Forschung hat aber zu Recht darauf hingewiesen, daß das mittelalterliche Antichristverständnis sich von Anfang an darin nicht erschöpft. Gerade wenn man den Glauben an einen einzigen endzeitlichen Antichrist mit biographischen Zügen nicht aufgeben wollte, mußte ja 1Joh 2,18 ein schwieriges exegetisches Problem darstellen, insofern hier, an einer der wenigen, bekanntlich ausschließlich in den Johannesbriefen anzutreffenden neutestamentlichen Belegstellen für den Begriff Antichrist62, neben dem einen Antichrist auch die vielen Antichristen genannt werden. Dieses Problem erkannte in aller Schärfe Augustin und löste es durch den Gedanken, daß die Häretiker schon Antichristen zu nennen seien, gemeinsam aber den Leib des

54 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,165; Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 20. Diese Tötung erfolgt, nachdem beide dreieinhalb Jahre gepredigt haben, ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,162f. 55 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,174f; Haimo von Auxerre (PL 117,1074); PALTZ, Quaestio (wie Anm. 40), 71,31f. 56 Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 14; ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 26,117– 123. 57 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,178–29,186. 58 Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 21f; PL 117,1099 (HAIMO VON AUXERRE). 59 Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 22. 60 Dies betont auch ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 28,179f, in bezug auf das Ende des Antichrist. 61 Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 23–25. 62 S. ThWNT 9,567f; zur Auslegung vgl. THYEN, HARTWIG, Art. Johannesbriefe, in: TRE 17 (1988), 186–200, 192–195.

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Luthers Antichristverständnis

endzeitlichen Antichrist bilden63. Die mittelalterliche Tradition nahm nun nicht nur dieses korporative Antichristverständnis auf64, sondern eine besondere, in der Lutherdeutung zu wenig beachtete Bedeutung gewann auch eben jener Bezug der Antichristprädikation auf den Häretiker. Eben dies aufnehmende Gedanken finden sich selbst bei Adso65, und Franz Brunhölzl hat wahrscheinlich machen können, daß es Adso sogar eben hierauf ankam, während er die Orientierung an einer Biographie bzw. Anti-Hagiographie, für die sein Werk berühmt geworden ist, vornehmlich wählte, um seine Auftraggeberin Gerberga zufriedenzustellen66. Geradezu gegenläufig zu dieser ausschließlichen Personalisierung und Individualisierung nämlich findet sich schon zu Beginn seines Werkes die universale Definition: „Quicumque enim, sive laicus, sive canonicus, sive etiam monachus, contra iustitiam vivit et ordinis sui regulam impugnat et quod bonum est blasphemat, Antichristus est, minister satanae“67.

Wenn denn aber jedweder, der unter diese Definition fällt, als Antichrist zu gelten hat, ist der Begriff des Antichrist keine ausschließlich endzeitliche Kategorie mehr, sondern der Antichrist befindet sich – unbeschadet seines eminenten Auftretens als endzeitliche individuelle Gestalt – in verschiedenen Manifestationen immer schon in der Welt – und kann denn hier auch kritisch und polemisch identifiziert werden68. Diese Identifikation aber – und das erinnert natürlich deutlich an die dargestellte Konzeption Luthers – konnte dann, so wie Adsos Definition lautet, auch an bestimmten, wenn auch in der zitierten Fassung recht vagen, Kriterien festgemacht werden.

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AUGUSTIN, De civitate Dei XX,19 (CSEL 40/II,473,29–474,2); vgl. hierzu EMMERRICHARD K., Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art and Literature, Manchester 1981, 65f. 64 z.B. HAIMO VON AUXERRE (PL 117,1093); PALTZ, Quaestio (wie Anm. 40), 49,1– 50,2; 135,17–26. Der Versuch von KLAASSEN, WALTER, Living at the End of the Ages, Lanham u.a. 1992, 54, Luthers Antichristverständnis von diesem korporativen Antichristbegriff her zu verstehen, ist allerdings etwas unscharf, insofern er bei einem Nebengedanken mittelalterlicher wie reformatorischer Antichristologie einsetzt statt beim jeweiligen Zentrum. 65 S. hierzu HEIMANN, HEINZ-DIETER, Antichristvorstellungen im Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft. Zum Umgang mit einer Angst- und Hoffnungssignatur zwischen theologischer Formalisierung und beginnender politischer Propaganda, in: ZRGG 47(1995) 99–113, 104. 66 BRUNHÖLZL, FRANZ, Adsonis Columbinus oder Von der Wahrheit, vom Schwindel und von der Literatur, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.-19. September 1986. Teil 1, Hannover 1988 (MGH.SRI 33,1), 153–163, 153f. 67 ADSO, Antichrist (wie Anm. 33), 22,13–16. 68 S. z.B. die Ausführungen von RAUH, Antichrist (wie Anm. 36), 438, sowie HEIMANN, Antichristvorstellungen (wie Anm. 65), 106f, zu Gerhoch von Reichersberg. SON,

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Erst mit diesem kriterienhaft bestimmten, nicht eigentlich eschatologisch akzentuierten Antichristverständnis ist demnach die mittelalterliche Vorstellung vom Antichrist voll erfaßt69, eine Fixierung auf den personal-biographischen Antichrist stellt demgegenüber eine Verkürzung dar. Und erst von hier aus ist die in Luthers Antichristologie auch gegebene Kontinuität zum mittelalterlichen Antichristbegriff zu verstehen. Besonders interessant ist es dabei, daß bei Wyclif eben dieser kriterienhaft bestimmte Antichristbegriff durchaus zur Kritik am Papsttum als Institution verwendet werden konnte. Diese Anwendung auf die Gesamtheit der Päpste geschieht in dem relativ späten Traktat De Christo et suo Adversario Antichristo70, mit dem Wyclif seine antipäpstliche Haltung grundlegend deutlich machte. In dieser Schrift nimmt Wyclif offenkundig die Tradition einer kriterienhaften Definition dessen, was der Antichrist sei, auf: „[...] ille, qui est Christo contrarius in vita et doctrina, est ut sic antichristus“71. Und er schließt an, daß dann ja wohl der Papst, wenn der Inhalt dieser Definition auf ihn zutreffe, als praecipuus antichristus zu gelten habe72 – die ganze Schrift dient dann dem Nachweis, daß dem in der Tat so sei. Daß „der“ Papst im Singular nun aber nicht nur den je einzelnen Amtsinhaber, sondern auch das Kollektiv aller Amtsinhaber oder die Institution in ihrer Gesamtheit bedeuten kann, wurde schon an den Darlegungen zu Luther deutlich. Daß Wyclif in der Tat nicht nur den einen oder anderen Papst als Antichrist sehen wollte, zeigt eine Äußerung im Opus Evangelicum: „Ex isto supposito cum fide conversationis Christi et conversatione papae videtur fidelibus cognoscentibus antecedens, quod papa sit patulus Antichristus, et non solum illa simplex persona, quae plus stabilit plures leges contrarios legi Christi, sed multitudo paparum a

69

Solche Unterscheidungen zweier Antichristvorstellungen haben, freilich mit jeweils etwas anderer Akzentsetzung, schon WADSTEIN, ERNST, Die eschatologische Ideengruppe: Antichrist – Weltsabbat – Weltende und Weltgericht in den Hauptmomenten ihrer christlich-mittelalterlichen Gesamtentwicklung, in: ZWTh 38(1895) 538–616; 39 (1896) 79– 157, hier: [1896] 126f, und EMMERSON, Antichrist (wie Anm. 64), 63, vorgenommen. 70 Diese Schrift sieht auch GUSTAV KAWERAU, in: WA 9,677, als entscheidend für die zu Luther führende Entwicklung an. 71 JOHANNES WYCLIF, De Christo et suo Adversario Antichristo, in: John Wiclif’s Polemical Works in Latin. ed. v. Rudolf Buddensieg. Bd. 2, London 1883 (= New York u.a. 1966), 633–692, 680,2f. 72 WYCLIF, De Antichristo (wie Anm. 71), 680,4f; vgl. zu der herausgehobenen Stellung des Papstes in Wyclifs Antichristologie WADSTEIN, Ideengruppe [1896, wie Anm. 69], 112–116.

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Luthers Antichristverständnis

tempore dotationis ecclesiae, cardinalium, episcoporum et suorum complicium aliorum. Illa enim est Antichristi persona composita monstruosa.“73

Demnach ist der Antichrist eine korporative, zusammengesetzte Person, nicht einfach eine Einzelperson. Diese Stelle könnte man nun allerdings noch in dem Sinne verstehen, daß Wyclif additiv an die Summe vieler einzelner, individuell antichristlicher Personen dächte, die eben unglücklicherweise ihr antichristliches Leben stets auf dem Papststuhl austobten. Wyclif aber will mit diesen Äußerungen mehr sagen: Es ist eben nicht nur zufällig durch die Geschichte hindurch immer weder der je einzelne Amtsinhaber, dem das Prädikat der Antichristlichkeit zuzurechnen ist, sondern dieser antichristliche Charakter ist vorpersonal begründet, seine Ursache liegt in den Konstitutionsbedingungen des Papsttums, und zwar von Anfang an, nämlich seit Petrus und den denkwürdigen Ereignissen, die Paulus in Gal 2 berichtet. Das wird aus einer Stelle deutlich, die sich wiederum in De Christo et Antichristo findet: „Si igitur Petrus peccavit contra libertatem evangelii in hoc, quod ab esu cum gentibus se subtraxit, quanto magis antichristive peccat, qui cupit super omnem habitabilem praesidere et non servato officio, quod Christus limitat, impedit alios, ut volentes evangelicare et alia opera apostolica exercere, per suam fictam et infundabilem iurisdictionem, etiam infundabilem potestatem regis superbiae, ne currat libere sermo dei.“74

Wyclif geht also auf die Anfänge des Papstamtes zurück, um das Ergehen der von seiner, Wyclifs, Botschaft inspirierten Prediger zu deuten. Indem er aber die Hinderung ihrer Evangeliumspredigt pauschal an der erfundenen und unbegründbaren Jurisdiktionsgewalt der Päpste festmacht, steigert sich seine Kritik an bestimmten, historisch konkret identifizierbaren Verhaltensweisen zu einer Kritik an der institutionellen Ausstattung des Papsttums insgesamt, die er mit dem Wortfeld des Antichristlichen belegt. Schon innermittelalterlich rückte also eine Identifikation des Papsttums als Institution mit dem Antichrist auf Grundlage der kriterienhaft bestimmten Begriffsfassung in den Bereich des Denkbaren. Dieser kleine Exkurs über eine Ähnlichkeit zwischen dem Denken Wyclifs und dem Luthers ist nun aber gerade nicht im Sinne des längst veralteten Konzeptes von Wyclif als „Vorreformator“ zu verstehen75. Wyclif gewinnt seine Dignität und seine historische Rolle ebenso wenig wie die anderen mit diesem Etikett versehenen Theologen des späten Mittelalters im nachhinein von der Reformation her, sondern aus seiner eigenen Gegenwart, das heißt: 73 Iohannis Wyclif Operis Evangelici Liber Tertius et quartus sive De Antichristo liber primus et secundus. ed. v. Johann Losserth. Bd. 3 und 4, London 1896 (= New York / London / Frankfurt 1966), 107,23–30. 74 WYCLIF, De Antichristo (wie Anm. 73), 670,21–671,3. 75 Dieses Konzept steht hinter den Ausführungen von Preuß, wenn er „das Mittelalter“ von „den Opponenten des Mittelalters“ unterscheidet (Hervorhebungen von mir; V.L.), als seien letztere nicht mehr dem Mittelalter zuzurechnen.

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aus den Erfordernissen des 14. Jahrhunderts, die freilich hier nicht breiter zu behandeln sind. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang allein, daß Wyclifs Denken die Bedeutung des kriterienhaft bestimmten, mehr der Lehre von der Häresie als der von den letzten Dingen zuzuordnenden Antichristbegriffs im Mittelalter zu illustrieren vermag. Ein solches Antichristverständnis aber ist, wie gezeigt wurde, keineswegs nur bestimmten spätmittelalterlichen Theologen eigen, sondern es ist von Anfang an grundlegender Bestandteil der mittelalterlichen Antichristologie überhaupt.

Ebenso wenig wie durch das geschichtstheologische Konstrukt „vorreformatorischer“ Theologie kann durch Nachweise geistiger Abhängigkeit eine Brücke zwischen Wyclifs Antichristkonzept und dem Luthers geschlagen werden. Eine solche Abhängigkeit76 Luthers von Wyclif ist – gerade auch was die Schrift De Christo et Antichristo angeht77 – weder direkt78 noch indirekt79 nachweisbar. Überdies war Luther selbst geradezu der Meinung, daß ausgerechnet seine Antichristdeutung sich von der Wyclifs deutlich unterscheide, insofern dieser den gegen Christus gerichteten Charakter der päpstlichen Dekretalen ebensowenig erkannt habe80 wie die nicht nur ethische, sondern doktrinale Entgegensetzung des Papstes zu Christus 81. Als weiterer Unterschied wäre hinzuzufügen, daß Wyclif aus seiner Anwendung des kriterienhaft bestimmten Antichristbegriffs auf das Papsttum keineswegs wie später Luther die Folgerung zog, daß damit jenes personale Konzept, das die Volksfrömmigkeit bestimmte, obsolet geworden sei. Das aber, was Luther mit Wyclif und insgesamt mit einem tief in der mittelalterlichen Tradition verankerten Antichristkonzept verband, war die Verwendung eines kriterienhaft bestimmten Antichristkonzeptes, das wie schon 76 Eine solche sieht EMMERSON, Antichrist (wie Anm. 64), 71f. Sehr weit geht hinsichtlich der Entsprechungen zwischen Wyclif und Luther im Blick auf die Antichristprädikation auch SCHMIDT, MARTIN, John Wyclifs Kirchenbegriff – Der Christus humilis Augustins bei Wyclif. Zugleich ein Beitrag zur Frage: Wyclif und Luther, in: Friedrich Hübner (Hg.), Beiträge zur historischen und systematischen Theologie. Gedenkschrift für Werner Elert, Berlin 1955, 72–108, 96f, ohne allerdings eine Abhängigkeit zu behaupten. 77 KAWERAU, in: WA 9,678. 78 JUNGHANS, HELMAR, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, 131f. 79 Die Verbindungen zu hussitischen Traditionen ist nur sehr vage zu schlagen: Als hussitische Tradenten einer literarischen Traditionen von papstkritischen Gegenüberstellungen Christi und Antichristi nennt Kawerau in der Einleitung zum Passional Christi und Antichristi in WA 9 den Hus-Vorläufer Matthias von Janov (zu ihm W ADSTEIN, Ideengruppe [1896, wie Anm. 69] 107–109) und einige anonyme Texte. AaO, 682f zitiert Kawerau ein Gutachten Nikolaus Weigels († 1444), aus dem hervorgeht, daß hussitische Papstpolemiken im 15. Jahrhundert auch in Sachsen nicht gänzlich unbekannt waren. 80 WA 7,136,9–11. 81 WA.TR 1,439,23–26 (Nr. 880, erste Hälfte der dreißiger Jahre).

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Luthers Antichristverständnis

im Mittelalter, so nun auch bei Luther die Verwandtschaft mit dem Häresiebegriff nicht verleugnen konnte82. Dieses Verständnis des Antichristbegriffs gab Luther wie vor ihm Wyclif die Möglichkeit, nicht eine einzelne Person als Antichrist zu identifizieren, sondern eine ganze Institution, das Papsttum. Die inhaltliche Ausgestaltung der Kriterien von Antichristlichkeit aber, aufgrund deren diese Identifikation erfolgte, gewann Luther wie dargelegt immer wieder neu aus dem Zentrum seiner Theologie. Daher liegt natürlich schon in dieser inhaltlichen Ausgestaltung eine Besonderheit Luthers gegenüber Theologen des Mittelalters, insofern seine reformatorische Theologie etwas Neues darstellt. Daß diese Neuheit mit der von Preuß in den Vordergrund gestellten Entgegensetzung von Lehre und Leben schwerlich zu erfassen ist, zeigt in aller Deutlichkeit schon das oben angeführte Wyclif-Zitat, nach dem derjenige Antichrist ist, der in vita et doctrina Christus entgegen steht: Daß der Kampf Wyclifs gegen die Päpste stark von moralischen Argumentation geprägt war, darf – aus historischen wie theologischen Gründen – nicht im Sinne einer grundsätzlichen Entgegensetzung moralischer und lehrhafter Kriterienbildung überspitzt werden. Vor allem darf darüber eine viel wichtigere Entwicklung bei Luther nicht übersehen werden: Entscheidend für das Verständnis der eigenen Akzentuierung von Luthers Antichristologie ist nämlich, daß seine kritierienhafte Fassung des Antichristbegriffs ihrerseits prononciert eschatologisch zu verstehen ist: Hatte sich die kriterienhaft bestimmte Fassung des Antichristbegriffs bei Adso gerade durch ihre ja auch die zeitliche Dimension umfassende Allgemeinheit ausgezeichnet und dadurch an eschatologischer Prägnanz verloren, stellte Luther wiederum einen überaus engen Zusammenhang zwischen dem solchermaßen bestimmten Papst-Antichrist und der Endzeit her. Das ist zunächst nicht ohne weiteres einsichtig, wenn man bedenkt, daß die Antichristlichkeit des Papsttums schon vor mehr als neunhundert Jahren – nämlich mit dem Tod des letzten eigentlichen Bischofs von Rom, Gregors des Großen – eingesetzt hatte83. Warum diese lange Zeitspanne aber kein Problem für eine apokalyptische Einordnung der aufgrund von Kriterien erfolgten Identifizierung des Anti82

S. die Disputation „De potestate concilii“ vom Oktober 1538, wo Luther einfach „Haeretici [...] vel Antichristi“ nebeneinanderstellt (WA 39/I,185,23–27); vgl. BARTH, HANS-MARTIN, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen 1967 (FKDG 19), 106. 83 WA 54,229,28f; vgl. SCHÄFER, ERNST, Luther als Kirchenhistoriker. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft, Gütersloh 1897, 327–329; PREUß, Vorstellungen (wie Anm. 5), 159. In der „Supputatio annorum mundi“ allerdings sieht Luther die Ausprägung des Antichrist erstmals bei Gregor VII. (WA 53,154 Anm. I,2), was hier jedoch durch die der Supputatio eigene Tendenz zum Systemzwang erklärbar ist: Es galt, die tausend Jahre aus Apk 20 unterzubringen (s. HOFMANN, HANS-ULRICH, Luther und die Johannes-Apokalypse, Tübingen 1982 [BGBE 24], 451).

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christ darstellte, macht eine Bemerkung aus Luthers Vorrede zum Danielbuch deutlich: „UND hie sehen wir, das nach dieser zeit, so der Bapst offenbart, nichts zu hoffen noch zu gewarten ist, denn der Welt ende und aufferstehung der Todten“84.

Offenbarung und Auftreten des Antichrist treten also auseinander. Eschatologisch relevant ist nicht das Auftreten, sondern die Offenbarung des vorlängst aufgetretenen, seitdem aber verborgenen Antichrist. Ist diese Deutung richtig, so tut sich nun bei aller nachgewiesenen Traditionsanknüpfung doch auch ein ganz erheblicher Unterschied von Luthers Antichristverständnis zu dem mittelalterlichen auf. Hier war, wenn man denn die Verwendung des Antichristbegriffs überhaupt apokalyptisch zuspitzen wollte, das entscheidende Datum das Auftreten des Antichrist, das ja in der Legende schon selbst in unmittelbarer, durch die Dreieinhalbjahresfrist auch genau quantifizierbarer zeitlicher Nähe zum Weltende lag. Die Offenbarung des Antichrist war demgegenüber kein Datum des Endzeitszenarios von eigenständiger Bedeutung, ja, der Begriff der „Offenbarung“ konnte geradezu für das öffentliche Auftreten des Antichrist verwendet werden, wenn etwa die Inkunabel vom Antichrist, die um 1480 in Straßburg gedruckt wurde, davon spricht, daß „zwischen des Enndkrist heimlicher zuokunft Und siner offenlichen offenbarung“ Elias und Henoch aufträten85. Wenn Luther nun demgegenüber einen prononcierten Offenbarungsbegriff in die Antichristologie einführte, so eschatologisierte er nicht nur aufs neue das kriterienhaft bestimmte Antichristverständnis, sondern er bot vermittels des Antichristbegriffs auch eine heilsgeschichtliche Verortung der Reformation: Daß mit der Offenbarung des Antichrist keine innergeschichtliche Entwicklung mehr möglich war und der schlechthinnige Feind nun durch den Hauch des Mundes Christi, das Evangelium, niedergestreckt wurde, bedeutete, daß es eben der Wiederentdeckung des Evangeliums durch die Reformation zufiel, die Endereignisse einzuläuten. In diesem Bewußtsein konnte Luther wie auch seine Erben in den folgenden Generationen getrost das baldige Kommen Christi erwarten86.

84

WA.DB 11/II,113,11f. Antichrist-Faksimile (wie Anm. 42), 7; den Bezug des Offenbarungsbegriffs auf das Auftreten des Antichrist an dieser Stelle zeigt BURGER, Endzeiterwartungen (wie Anm. 46), 36f, anhand der lateinischen Vorlage dieser Stelle, dem „Compendium theologicae veritatis“ des Hugo Ripelin aus dem 13. Jahrhundert; ganz in diesem Sinne hat auch NICOLAUS DE LYRA, Postilla super totam Bibliam, Straßburg 1492 (= Frankfurt 1971), den Vers IIThess 2,3, in dem ja von Offenbarung die Rede ist, nicht auf die Offenbarung eines längst schon vorhandenen Antichrist, sondern auf den adventus antichristi bezogen. 86 S. hierzu LEPPIN, Offenbarung des Antichrist (wie Anm. 27). 85

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Luthers Antichristverständnis

Was also Luthers Antichristverständnis eine eigene Bedeutung in der Geschichte der Begriffsentwicklung gibt, ist nicht der Gedanke eines überpersonalen, institutionellen Antichrist als solcher. Was seinen Antichristbegriff auszeichnet, ist vielmehr, daß er einerseits an die Tradition eines kriterienhaft bestimmten Antichristbegriffs anknüpfte, andererseits aber dem solchermaßen – anhand reformatorischer Kriterien – gebildeten Antichristkonzept durch die Unterscheidung von Auftreten und Offenbarung des Antichrist die eschatologische Spitze wiedergeben konnte, die sich im Mittelalter weniger mit diesem als mit dem personalen Antichristbegriff verbunden hatte. Eine Reflexion evangelischer Theologie und Kirche auf den Antichristbegriff Luthers wird sich daher dessen bewußt sein müssen, daß hiermit auch eine Aussage über die Identität der reformatorischen Kirchen getroffen ist, insofern er eng mit der Deutung der reformatorischen Evangeliumsverkündigung als einem entscheidenden Wendepunkt der Heilsgeschichte verbunden ist87. Der Umgang mit diesem Begriff beziehungsweise seinem sachlichen Gehalt berührt also das Zentrum kirchlichen und theologischen Selbstverständnisses. Weit davon entfernt, bloße Polemik zu sein, erinnert er daran, daß die Erkenntnis der christlichen Wahrheit für Luther ohne die Erkenntnis und Benennung dessen, was unwahr ist und der Wahrheit entgegensteht, nicht zu haben war. Auch der heute zu Recht weitgehend geübte Verzicht auf den polemischen Gebrauch des Begriffs88 enthebt daher nicht der Sorge um den Erhalt der christlichen Wahrheit, die sich in der Frage verdichten kann, ob es Personen, Institutionen oder Lehren gibt, die dem Evangelium in einer auch nach Maßgabe des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens eindeutig benennbaren Weise entgegen stehen. Luthers Insistieren darauf, daß der eigentliche Antichrist nirgends anders auftritt als in der Kirche Gottes, mag aber daran erinnern, daß die durch diese Frage geleitete Prüfung zunächst und vor allem eine Selbstprüfung sein sollte. Von ihr sagt das Dokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend“ zu Recht: „Alle Christen und Kirchen haben Anlaß, das Inerscheinungtreten des Antichristen bei sich selbst zu fürchten und um Bewahrung davor zu beten“89.

87

S. hierzu SEEBAß, GOTTFRIED, Art. Reformation, in: TRE 28 (1997), 386–404. Hierin sind sich LANGE, Überholte Verurteilungen (wie Anm. 2), 125, und PANNENBERG, Müssen sich die Kirchen verurteilen? (wie Anm. 1), 328, ungeachtet aller sonstigen Differenzen völlig einig. 89 Lehmann / Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen (wie Anm. 1), 168,23–25. In der Auseinandersetzung mit dieser – nicht bestrittenen, aber doch entscheiden relativierten – Aussage begeben die Verfasser von LANGE, Überholte Verurteilungen (wie Anm. 2), 126, sich in die Gefahr einer wenig förderlichen Fixierung auf das Papsttum. 88

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Kirchenraum und Gemeinde Zur Änderung einer semiotischen Beziehung im Zuge der Wittenberger Reformation∗ Eine Theorie oder Theologie des Kirchenraums war nicht das primäre Interesse der Wittenberger Reformatoren.1 Sie reflektierten über das Heil, Glaube, Gnade und Werke – und sie taten all dies wenigstens auch im Kirchenraum. Aber sie sprachen nur selten und zurückhaltend über den Kirchenraum. Dieser kam in den Blick als Folge liturgischer Änderungen, die ihrerseits Folge der Änderung der Abendmahlstheologie waren. Die am stärksten programmatisch ausgerichteten Aussagen zum Kirchenraum finden sich daher erst relativ spät, in Luthers Predigt zur Übergabe der Torgauer Schloßkapelle an ihre Bestimmung von 1544. Hier, als ein neuer Raum entstanden war, wurde der Raum thematisch, hier auch wurde über eine reformatorische Gestaltung des Kirchenraumes nachgedacht. Zu diesem Zeitpunkt aber waren die entscheidenden Entwicklungen schon erfolgt. Die Entwicklung des Kirchenraumverständnisses in der Wittenberger Reformation hängt nämlich entscheidend am Verständnis von Gottesdienst und Predigt, wie sie sich im Zuge der zwanziger Jahre herausbildeten. Die programmatischen Äußerungen von Torgau waren entsprechend schon länger vorbereitet. Luther war nicht der erste gewesen, der in Wittenberg Veränderungen des Kirchenraums vornahm – Karlstadt und Gabriel Zwilling waren ihm in den sogenannten Wittenberger Unruhen vorausgegangen. Aber diese nahmen Ausgang von den theologischen Reflexionen, die Luther schon früh im Blick auf das Abendmahlssakrament vorgenommen hatte.



Die folgenden Ausführungen stellen die stark überarbeitete Fassung meines in Emden gehaltenen Vortrages dar. Ich danke den kritischen Diskutanten für Denkanstöße, dem Kollegen Andreas Müller (Minden) für eine nochmalige kritische und ebenfalls anregend weiterführende Durchsicht. 1 Vgl. KOCH, TRAUGOTT, Der lutherische Kirchenbau in der Zeit des Barocks und seine theologischen Voraussetzungen, in: KuD 27 (1981), 111–130, hier 113.

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Kirchenraum und Gemeinde

1. Luthers Umbau der Abendmahlstheologie und die Folgen für die Privatmessen Daß überhaupt der Kirchenraum in den Blick des reformatorischen Geschehens geriet, lag an den liturgischen Folgen der reformatorischen Theologien, die ihrerseits unmittelbare Folgen für die Gestaltung und Konzeption des Kirchenraumes hatten. Deren Wurzel wiederum war die neue Abendmahlstheologie, die sich, in vielfachen Wandlungen seit 1519 bei Luther abzeichnete Den ersten architektonisch markanten Anstoß für reformatorische Umgestaltung gab dabei ein Element des spätmittelalterlichen Kirchenbaus, der diesen bis heute erkennbar kennzeichnet: den Seitenaltären. Die Fülle der Seitenaltäre und –kapellen in spätmittelalterlichen Kirchen war ihrerseits architektonisch greifbare Folge des spätmittelalterlichen Meßverständnisses. Sie war aus einem reziproken Meßkonzept heraus entstanden, in dem die Messe unter dem Gesichtspunkt doppelter Stellvertretung interpretiert werden konnte: Der Priester konnte stellvertretend für die Kirche das eucharistische Opfer vollziehen und zugleich in Stellvertretung Christi das mit diesem Opfer verbundene Heil der Kirche zueignen. Er stand so im Mittelpunkt eines semiotischen Geflechts, das ihn zeichenhaft mit Gott wie mit den Glaubenden der Kirche verband.2 Die Gemeinde trat aufgrund dieser Stellvertretung als Handlungssubjekt nicht notwendigerweise auf, was aber nur aus der reformatorischen und auch der tridentinisch geprägten römisch-katholischen Rückschau tatsächlich als Partizipationsdefizit erscheint. Versucht man jedoch das semiotische Beziehungsgeflecht zu analysieren, in dessen Verbindungslinien der Kirchenraum stand, so ergibt sich, daß gerade die Seitenaltäre auch Ort vielfacher Partizipationsmöglichkeiten der Christen waren. Durch die Stiftung eines Altars und der daran in der Regel ohne unmittelbaren Gemeindebezug3 vollzogenen Messen eine besondere Zueignung des Heils an einzelne Personen oder in der Regel Gruppen möglich wurde. Das Instrument der Bruderschaften, die sich um einzelne Altäre zu deren Finanzierung lagerte, bedeutete eine ganz eigene, aus neuzeitlicher Perspektive oft unterschätzte Form der Partizipation am kirchlichen Raum: Wer durch eine Bruderschaft mit einem Altar verbunden war, stand auch außerhalb des Kirchenraumes in einer ständigen semiotischen Verbindung mit diesem, ja hatte eine gewisse Form der Präsenz im Kirchen2 S. hierzu LEPPIN, VOLKER, Das Abendmahl. Evangelische Kontroversen, evangelische Einheit. In: Die Kirche – erfahrbar und sichtbar in Amt und Eucharistie. Zur Problematik der Stellung von Amt und Abendmahl im ökumenischen Gespräch, ed. v. Joachim G. Piepke, Nettetal 2006 (VMStA 55), 53–74, hier 56–58. 3 S. zu diesen Messfeiern ohne Volk METZGER, MARCEL, Geschichte der Liturgie. Paderborn u.a. 1998, 130–133. – KUNZLER, MICHAEL, Die Liturgie der Kirche. Paderborn 1995 (AMATECAAmA 10), 284f.

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raum vermittels der hinterlegten und ständig in Gebrauch genommenen Stiftung, die, gebunden an den Ort der Kirche, im Opfer eine Beziehung zu Gott herstellte und zugleich zu den Menschen, die das Opfer gestiftet hatten und nun von ihm profitierten. Die erste klar konturierte Reformforderung Luthers im Zusammenhang des Abendmahls4 bezieht sich auf eben diese Institution der Bruderschaften. 1519 verfasste er seinen Sermon von dem Hochwürdigen Sakrament des Heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften. Dem Titel entsprechend zerfiel dieser Traktat in zwei Teile, deren erster die Grundlagen der neuen Abendmahlstheologie entwarf, während der zweite sich aufgrund der hier entwickelten Kriterien scharf gegen Auswüchse der Bruderschaften wandte.5 Die rasch von der Öffentlichkeit wahrgenommene Spitze des ersten Teils ist die nach der Gabe des Sakramentes unter beiderlei Gestalt6, die er allerdings nicht als spontane Maßnahme forderte, sondern als Beschluß eines Konzils:7 Für die Zeit bis dahin hielt er ausdrücklich auch den Sakramentenempfang unter einer Gestalt für legitim.8 Diese vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Wyclif und Hus im 14. und 15. Jahrhundert provozierenden Äußerungen waren freilich nur Teil einer Neuausrichtung des Abendmahls auf seine geistliche Verpflichtung. Angelpunkt seines Traktates war, daß die selbstverständlich vorausgesetzte Realpräsenz Christi9 bewirkte, daß die Glaubenden in den Leib Christi hineingenommen wurden.10 In der mittelalterlichen theologischen Sprache gesprochen: Das Corpus Christi reale band in das Corpus Christi mysticum, den geistlichen Leib Christi, als der die Kirche nach 1 Kor 11 zu sehen war, ein. Allerdings lag die Pointe auf Luthers Betonung, daß der geistliche Leib wichtiger als der reale sei:11 Die Verpflichtung, die aus dem Empfang Christi für den Nächsten entsprang, stand im Vor4 Zu den Wandlungen in Luthers Abendmahlsverständnis s. nach wie vor sehr instruktiv STAEDTKE, JOACHIM, Art. Abendmahl III/3. Reformationszeit. In: TRE 1(1977), 106–122, hier 110–113; vgl. auch KAUFMANN, THOMAS, Art. Abendmahl. 3. Reformation, in: RGG 4 1 (1998), 24–28. 5 Vgl. hierzu SIMON, WOLFGANG, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption. Tübingen 2003 (SuR.NR 22), 243–254. 6 Zur sekundären Bedeutung, die dies für Luther selbst hatte, s. VAJTA, WILMOS, Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther. Göttingen ²1954 (FKDG 1), 93. 7 WA 2, 742, 24–26. 8 WA 2, 742, 18–23. 9 WA 2, 749, 7–10. Auf das Vorhandensein der Realpräsenzlehre bei geringer Betonung verweist zu Recht auch ALTHAUS, PAUL, Die Theologie Martin Luthers. Gütersloh 71994, 318. 320. – GRASS, HANS, Die Abendmahlslehre bei Luther und Calvin. Eine kritische Untersuchung. Gütersloh 1954 (BFChTh, 2. Reihe, Bd. 47), 19, spricht von der „Realpräsenz am Rande der Abendmahlslehre“. 10 WA 2, 743, 20–22. 11 WA 2, 751, 13–17.

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Kirchenraum und Gemeinde

dergrund und war der Hebel für die Kritik an den Bruderschaften, die den zweiten Teil bestimmte. Allerdings hat die soziale Repräsentationsfunktion der Bruderschaften sich gelegentlich stark in den Vordergrund gestellt. Luther appellierte in seinem Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Brüderschaften Ende 1519 an eine andere soziale Funktion: die Verpflichtung zur Nächstenliebe. Und er hat deutlich ausgedrückt, was er unter dieser Perspektive von den Bruderschaften hielt, wenn er diesen Vereinigungen vorwarf, sich hauptsächlich um die Abhaltung von Freß- und Saufgelagen zu kümmern: „Was soll unßer lieben Frawen, Sanct Annen, sanct Bastian odder ander heyligen namen bey deyner bruderschafft thun, da nit mehr dann fressen, sauffen, unnutz gelt vorthun, plerren, schreyen, schwetzen, tantzen und zeyt vorlyren ist?“12

Die scharfe Kritik hält einer Überprüfung an der Realität durchaus stand: Die Abrechnung der von Luther erwähnten Liebfrauenbruderschaft aus dem Jahre 1513/4 weist eine Fülle von Posten auf, die mit Essen und Trinken zu tun haben.13 Gleichwohl sind darin auch selbstverständlich die Ausgaben für das liturgische Personal und die liturgischen Vollzüge enthalten. Der Verband erschöpfte sich nicht, wie es Luthers Kritik suggeriert, in der sozialen Repräsentation, sondern blieb zurückbezogen auf das Geschehen am Altar, in dem der „gemeinschaftsstiftende Faktor“ für sie liegt.14 Die durch Mitgliedschaft in einer Bruderschaft begründete semiotische Form der Partizipation konnte dann auch konkretisiert werden, und dies nun unabhängig vom jeweiligen Stiftungsvorgang: Die Fülle von in einer städtischen Kirche zelebrierten Messen ermöglichte es, den kirchlichen Raum zu betreten und nun zwar nicht zwingend – und in der Regel überhaupt nicht – durch Kommunion am eucharistischen Geschehen zu partizipieren, aber durch dessen Anschauung: Der Blick auf die konsekrierte Hostie in ihrer Elevation war eine jedem Bürger und jeder Bürgerin mögliche Form der Partizipation, die angesichts der Fülle der Messen zu ganz unterschiedlichen Tageszeiten realisierbar war und damit die Gelegenheit gab, den individuellen Alltagszyklus für das Geschehen am Altar zu öffnen. Aber diese semiotische Beziehung hatte für Luther ihre eigentliche Mitte verloren: Sie hatte ihren Drehund Angelpunkt nicht mehr im Übergang zwischen dem sich selbst gebenden 12

WA 2, 754, 34–36. Abgedruckt bei: Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt. Briefe, Akten u. dgl. und Personalien. ed. v. Nikolaus Müller, Leipzig 1911, 7–9. 14 Dies betont auch in seiner sozialhistorisch ausgerichteten Studie REMLING, LUDWIG, Sozialgeschichtliche Aspekte des spätmittelalterlichen Bruderschaftswesens in Franken. In: Einungen und Bruderschaften in der spätmittelalterlichen Stadt, ed. v. Peter Johanek, Köln u.a. 1993 (Städteforschung 32), 149–169, hier 169. 13

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Corpus reale und der Auswirkung auf das Corpus mysticum, sondern sie stellte ein gesellschaftliches Repräsentationsverhalten in den Mittelpunkt, das sich seinerseits auf ein von der Gemeindewirklichkeit gelöstes priesterliches Agieren bezog. Erst nach und nach gewann Luther in aller Schärfe die Instrumente, um auch die diesem Agieren zugrunde liegende Theologie deutlicher anzugreifen. Auf Grundlage der voll ausgereiften Rechtfertigungslehre15 konnte er im Rahmen eines Kondeszendenzmodells, das in den Mittelpunkt der Abendmahlsverständnisses die Gabe Christi an die Glaubenden stellte,16 in aller Schärfe auch den Opfercharakter der Messe kritisieren:17 Nach dem Sermon von dem neuen Testament von 1520 „wirt sichs nut fugen, das wir ein gutt werck odder vordienst drauß machen, den ein testament ist nit beneficium acceptum, sed datum“,18 und die Deutung der Messe als Opfer galt ihm in aller Schärfe als „der ergist mißprauch“. 19 Wenn aber die Deutung als Opfer ein Missbrauch war, so konnte der Sache nach der bisherige rege Betrieb an den Seitenaltären der großen Kirchen nicht mehr aufrechterhalten werden. Abendmahl als eine Handlung Gottes, die durch die Gabe des realen Leibes Christi den Glaubenden für den geistlichen Leib Christi öffnete, war kaum anders vorstellbar denn als Geschehen in und mit der Gemeinde. Eine Privatmesse war theologisch so nicht mehr begründbar.20 Dennoch finden sich noch 1520 in Luthers grundlegender Sakramentenschrift De captivitate Babylonica zwar lange Passagen, in denen er gegen den erst jetzt von ihm kritisierten21 Opfercharakter der Messe kämpft, aber keine Forderung nach Abschaffung der Privatmessen. Allerdings liegt eine solche, ähnlich wie schon im Sermon vom Neuen Testament im Fluchtpunkt seiner Gedanken, und dies drückt er in De captivitate Babylonica in einer fiktiven Frage eines Gegners auch durchaus aus:

15

S. zu deren allmählichen Entwicklung LEPPIN, VOLKER, Martin Luther. Darmstadt 2006, 116f. 16 S. hierzu LEPPIN, Abendmahl (wie Anm. 2), 58–62. 17 Zur soteriologischen Grundlegung des Sermons vom neuen Testament s. SIMON, Messopfertheologie (wie Anm. 5), 272. Die Neuakzentuierung in der Abendmahlstheologie des Sermons betonen auch MANN, FRIDO, Das Abendmahl beim jungen Luther. München 1971 (BÖT 5), 47f. – BAYER, Oswald: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. Tübingen 2003, 246. 18 WA 6, 364, 18–20 19 WA 6, 365,25; vgl. hierzu SIMON, Messopfertheologie (wie Anm. 5), 284–302; knapp LOHSE, BERNHARD, Luthers Theologie. Göttingen 1995, 151. 20 Vgl. VAJTA, Theologie des Gottesdienstes (wie Anm. 6), 94. 21 S. WISLØFF, CARL F., Abendmahl und Messe. Die Kritik Luthers am Messopfer. Berlin-Hamburg 1969 (AGTL 22), 20f. 1

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„Quid? Nunquid subvertes omnium Ecclesiarum et Monasteriorum usum et sensum, quibus per tot saecula invaluerunt, fundatis super Missam anniversariis, suffragiis, applicationibus, communicatiobinus etc. hoc est, pinguissimis redditibus?“22

Das bezieht sich klar auf gestiftete Messen, doch hat Luther noch in derselben Schriften nicht die Abschaffung der Votiv- bzw. Privatmessen gefordert, sondern ihre Reform im Sinne einer Konzentration auf die Fürbitte.23 Eine Änderung des liturgischen Verhaltens und damit auch der Funktion des kirchlichen Raumes stand also nicht unmittelbar zur Debatte: Mit De captivitate Babylonica befinden wir uns ja noch in einer Zeit des Programms nicht der unmittelbaren reformatorischen Umsetzung͘

2. Privatmessen im Fokus der Wittenberger Unruhen Für diese war ein wichtiger Antrieb, eine Art Katalysator die Phase der sogenannten Wittenberger Unruhen während Luthers Wartburg-Aufenthalt nach dem Wormser Reichstag, also ab Mai 1521,24 als in Wittenberg durch den Fortfall der charismatischen Führungsgestalt ein Autoritätsvakuum entstanden war, das mit unterschiedlicher Dynamik vor allem Gabriel Zwilling – den manche darum schon einen „alter Martinus“ nannten 25 – und Andreas Karlstadt zu füllen suchten. Für den vorliegenden Zusammenhang ist sicherlich entscheidend, daß am 8. Oktober Gabriel Zwilling die Einstellung der Messen ankündigte,26 was sich vor allem auf die Privatmessen bezog.27 Für die Entwicklung in Wittenberg ist kennzeichnend, daß Zwilling zu diesem Zeitpunkt noch wegen des Vorwurfs, er habe auch die Anbetung des Sakramentes nach vollzogener Messe kritisiert,28 von einer Kommission verhört wurde, der neben Melanchthon auch Karlstadt und andere angehörten29 und hier nach deren Auskunft erklärt hat, „das Christus vnter dem sacrament gegenwertig anzube-

22

WA 6,521,34–37: „Was? Willst du denn aller Kirchen und Klöster Brauch und Ansicht umkehren, bei denen sie so viele Jahrhunderte in Geltung stand, sind auf die Messen doch die Jahresgedächtnisse, Fürbitten, die Zuwendungen, die Mitteilungen usw., d.h. die allerergiebigsten Renten und Einkünfte gegründet“. 23 WA 6,525,13–18. 24 S. zu den Ereignissen LEPPIN, Luther (wie Anm. 15), 193–204. 25 Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 16. 26 Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 20; vgl. JUNGHANS, HELMAR, Martin Luther und Wittenberg. München-Berlin 1996, 92 27 S. hierzu das Gutachten von Jonas, Karlstadt, Melanchthon und anderen vom 20. Oktober (Wittenberger Bewegung [wie Anm. 13], 35–42, besonders 36. 38). 28 S. das Schreibens des Kanzlers Brück an Kurfürst Friedrich den Weisen vom 11. Oktober (Wittenberger Bewegung [wie Anm. 13], 28). 29 Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 29.

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ten vnd zueren sei.“30 Noch war also die dauerhafte Präsenz Christi in den Elementen und damit die Grundvoraussetzung, die den Kirchenraum zu einem geheiligten Ort der Präsenz Christi machte, in Wittenberg unstrittig. Strittig waren die liturgischen Vollzüge – dies allerdings in hohem Maße: Am 3. Dezember kam es in der Stadtkirche zu Gewaltakten gegen die Priester, die dort Privatmessen lasen,31 von denen der Rat der Stadt in einem Schreiben an den Kurfürsten anschaulich berichtet: „E. Cf. G. bitten wir wissen, Das etliche von der hochen Schulen beyn vns vnd auch etliche layn von denn mitburgern such auff heuthe dinstagk fruhe vnderstanden, den pristern in der pfarren kirchen das ampt der messen jn mossen, wie zcuuorn der brauch gewest, nicht gestaten zuhalten. Besondern die der vniuersitet vorwant haben, wie wir glaubwirdigk bericht, blosße messer untter jren rocken gehat, Szo die prister ubir den altar getrethen, die messebucher hynweck getragen vnd die prister von den altarien triben. Gantz fruhe jm fynstern haben etliche zu den priestern, die die gezceythen vnser liben frauhen jn gemelter pfarrenkirchen syngen, mit steynen geworffen, die dan vnser liben frauhen mesße auch haben fallen lossen.”32

Damit war in einem symbolischen Akt die Privatmesse angegriffen, und es waren nicht nur die Personen nicht geschont worden, sondern, wie die Erwähnung der Meßbücher zeigt, galt der Angriff auch den liturgischen Büchern. Noch mehr Aufmerksamkeit fand, daß Karlstadt den Weihnachtsgottesdienst 1521 unter beiderlei Gestalt und unter Verzicht auf alle liturgische Pracht in Kleidung und Gesang hielt.33 Wiederum ist Gabriel Zwilling, Luthers Ordensbruder, in seinen Handlungen schärfer und radikaler als Karlstadt: Er entfernte im Januar 1522 kurzerhand Altäre, Kruzifixe, Bilder und Heiligenfiguren aus der Kapelle im Kloster der Wittenberger Augustiner-Eremiten.34 Damit war ein Kirchenraum nun tatsächlich in radikaler Weise entschlackt und verlor wesentliche Teile dessen, was ihn im Mittelalter ausgezeichnet hatte. In dieser Situation schaltete sich der Wittenberger Rat unter Hinzuziehung namhafter Theologen in das Geschehen ein und erließ eine Ordnung für Wittenberg, die, unter faktischer Beanspruchung bischöflicher Rechte, auch liturgische Vorschriften für die Stadt Wittenberg erließ. Für den vorliegenden Zu30

Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 40. Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 73f; vgl. OEHMIG, STEFAN, Die Wittenberger Bewegung 1521/22 und ihre Folgen im Lichte alter und neuer Fragestellungen. Ein Beitrag zum Thema (Territorial-)Stadt und Reformation. In: 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation. ed. v. dems., Weimar 1995, 97–130, hier 104f. – J UNGHANS, Luther und Wittenberg (wie Anm. 26), 93. 32 Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 73. 33 Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 170; vgl. BARGE, HERMANN: Andreas Bodenstein von Karlstadt. I. Teil: Karlstadt und die Anfänge der Reformation. Leipzig 1905, 358–361. 34 S. OEHMIG, Wittenberger Bewegung (wie Anm. 31), 122f. – JUNGHANS, Luther und Wittenberg (wie Anm. 26), 94. 31

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sammenhang aber ist weniger die sehr abgespeckte Liturgie entscheidend, die man hier beschloß, als ein Passus, der die Verquältheit der Situation deutlich erkennen läßt. Es hieß in der Ordnung: „Item die bild und altarien in der kirchen soellen auch abgethon werden, damit abgoetterey zu vermeyden, dann drei altaria on bild genug seind.“35 Es wurden also zwar die Bilder, nicht aber die Altäre abgeschafft, und offenkundig auch keineswegs die Privatmessen, denn in den Bestimmungen zur Liturgie wurde zwischen solchen Messen unterschieden, bei denen Kommunikanten anwesend seien, und solchen ohne Kommunikanten, und für den letzteren Fall wurde ausdrücklich angeordnet: „seind sy nit da, so consecriert er [der Priester; V.L.] und summiert es, hat er anders andacht dartzu“.36 Das war nichts anderes als das Zugeständnis einer Privatmesse – für den Fall, daß der Priester eine solche beabsichtigte. Die Wittenberger Ordnung von 1522 hat also keineswegs eine komplette liturgische Neustrukturierung angestrebt oder gar erreicht: Das eigentliche theologische Problem: die ohne den Opfergedanken schwer erklärbare Privatmesse blieb erhalten – und doch hat sich der Kirchenraum jedenfalls schrittweise umstrukturiert und zentriert: Die Reduktion auf drei Altäre begreift man erst richtig, wenn man bedenkt, daß in einer nicht vollständigen Überlieferung für das späte Mittelalter in der Stadtkirche mindestens 13 Seitenaltäre zu veranschlagen sind.37 Die Beseitigung der Bilder bedeutete zudem die Entfernung der Repräsentanzfunktion, die diese Altäre im Blick auf ihre Stifter besaßen. Die Wittenberger Ordnung stellte also einen gewaltigen Schritt im Blick auf eine Konzentration des Raumes dar.

3. Neue Gottesdienstordnung und Theologie des Gemeinderaumes bei Luther Freilich war sie nicht lange wirksam. In einem bemerkenswerten Konflikt mit seinem Landesherren, dessen Gebot, auf der Wartburg zu bleiben, er schlicht ignorierte, kam Luther zurück auf die Wartburg und hielt die berühmten Invokavitpredigten. Sie hatten für die reformatorischen Umgestaltungen in Wittenberg zum einen eine theologisch ordnende, zum anderen, äußerlich gesprochen, eine retardierende Wirkung: Luther unterschied klar zwischen dem, was sein müsse – und das war vor allem die Aufgabe eines Verständnisses der Messe als Opfer38 und den Dingen, die frei seien, das waren unter anderem die Bilder. Diese ordnende Funktion hatte eine weitgehende Zurücknahme 35

LUTHER, StA 2, 527, 20f. Ebd. 2, 528, 1f. 37 JUNGHANS, Luther und Wittenberg (wie Anm. 26), 34. 38 WA 10/III, 14, 8–12. 36

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der getroffenen Maßnahmen zur Folge und eine Verlangsamung des Reformprozesses. Luther betonte dabei immer wieder den Unterschied zwischen sachlicher Übereinstimmung in der Kritik an altgläubigen Riten und der Frage ihrer Durchsetzung, indem er auf die paulinischen Anweisungen zur Schonung der Schwachen verwies – ein Argument, das noch im Oktober 1521 in einem Gutachten zu Zwillings Neuerungen verwandt worden war, das Karlstadt selbst mit unterzeichnet hatte:39 Nun hatte sich der Frontverlauf verschoben. Zu diesen Übereinstimmungen in der Sache gehörte auch, daß er bereits in seiner Schrift De abroganda missa privata aus der Zeit des Wartburgaufenthaltes40 ausdrücklich die Konsequenzen Zwillings geteilt hatte, daß die Privatmessen abzuschaffen seien. Diese Position war nun rechtlich etwas in der Schwebe, aber die Einführung der Formula missae Ende des Jahres 1523,41 mit der Luther dann nach nicht ganz zwei Jahren seinerseits eine neue Messordnung formulierte, machte klar, es sei „perversissimum“, wenn Priester ohne Kommunikanten die Messe feierten.42 Damit war deutlich, daß Sinn in einer Kirche eigentlich nur der gemeindebezogene Altar haben konnte – und die Funktion der zahlreichen gestifteten Messen, die das Kircheninnere und den Kirchenbau des späten Mittelalters zunehmende geprägt hatten, für Wittenberg und die von hier aus reformatorisch beeinflußten Gebiete beseitigt wurden. Kirche war nicht mehr Ort der vielfachen Opfervollzüge, sondern Ort der Gemeindeversammlung um Altar und Kanzel. Dabei war der Altar für Luther zeitweise alles andere als selbstverständlich, so wie überhaupt auch die Notwendigkeit von Kirchen in Frage gestellt wurde: Noch auf der Wartburg hatte er für die 1522 gedruckte Kirchenpostille geschrieben: „Sihe, das ist der rechte gottis dienst, datzu man keyner glocken, keyner kirchen, keyneß gefeß noch tzyerd, leyner lichte noch kertzen, keyner orgelln noch gesang, keyniß gemelds noch bildnyßl keyner taffelnn noch altar, keyner blatten noch kappen, keyniß reuchernn noch bsprengen, keyner proceß noch creutzgangß, keiniß ablaß noch brieffs bedarff.“43

Und grundsätzlich blieb die damit angedeutete Möglichkeit eines Gottesdienstes ohne Kirchenraum auch erhalten, als Luther 1526 die Liturgie zur Deutschen Messe vorlegte: In einer berühmten Passage unterscheidet Luther 39

Wittenberger Bewegung (wie Anm. 13), 38. WA 8,411–476. 41 Vgl. insgesamt zu Luthers Messreform VATJA, Theologie des Gottesdienstes (wie Anm. 6). –MEYER, HANS BERNHARD, Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Messwesen des späten Mittelalters. Paderborn 1965. – MESSNER, REINHARD, Die Messreform Martin Luthers und die Eucharistie in der Alten Kirche. Ein Beitrag zu einer systematischen Liturgiewissenschaft. Innsbruck-Wien 1989 (IThS 25), 189–206. –WENDEBOURG, DOROTHEA, Luthers Reform der Messe – Bruch oder Kontinuität?. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. ed. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1998 (SVRG 199), 289–306. 42 WA 12,215,13f. 43 WA 10/1/1,39,10–14. 40

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hier unterschiedliche Gottesdienstformen: die lateinische Meßform nach seiner eigenen Formula missae, die ebenso wie die deutsche Messe für den öffentlichen Gebrauch bestimmt sein sollte44 – und daneben in einer im Pietismus ausgeschlachteten Passage eine Gottesdienstform, die „nicht so offentlich auff dem platz geschehen“ soll „unter allerley volck“,45 sondern in der sich die zusammenfinden sollen, „so mit ernst Christen wollen seyn“. 46 An dieser Stelle kann die Frage unberücksichtigt bleiben, ob damit tatsächlich eine Art pietistischer Hausgemeinschaft angedeutet ist oder nicht doch eher eine denkerische Möglichkeit im Rahmen eschatologischer Hoffnung. Wichtiger ist, daß hier ein Konzept in das Denken des Reformators eintritt, das sich Gottesdienst ohne kirchlichen Raum vorstellen kann. Die Desakralisierung des kirchlichen Raums durch die Beseitigung der Orte von Heiligkeit, die Altäre bislang waren, führt dazu, daß letztlich auch der Gottesdienst selbst nicht mehr einer besonderen sakralen Räumlichkeit bedarf, sondern grundsätzlich in jeder häuslichen Gemeinschaft durchgeführt werden kann: Der Kirchenraum wird im Rahmen der Wittenberger Reformation als Raum sui generis zur Disposition gestellt. Allerdings wird man diese Überlegung nicht zu stark gewichten dürfen beziehungsweise sehen müssen, daß sie nicht dauerhaft Bestand hatte: 1530 äußerte Luther sich in der Auslegung des 111. Psalmes sehr positiv zur Notwendigkeit eines besonderen Kirchenraumes: „Droben ist gesagt, das solcher Rat und gemeinde sey eine offentliche, redliche versamlung an sonderlichem ort, da nicht jderman sein mus, wie auff der gassen odder marckt, Auch etwas sonderliches darselbs gehandelt wird, da bey auch nicht jderman sein sol, als bey uns die Kirchen sind und sonderlich der kor, welcher von alters her dazu sonderlich ist gebawet und abgesondert, das man daselbst hat das Sacrament gehandelt und Christus gedechtnis gehalten, wie auch noch geschicht ynn offentlichen Messen.“47

Damit steht um 1530 für Wittenberg in etwa eine Bejahung des Kirchenraums und auch eine gewisse Definition fest. Kirche ist der öffentliche Raum für das öffentliche Geschehen von etwas Besonderem, nämlich der Feier der Messe, die ihrerseits, so hat es Luther in der Formula missae und der Deutschen Messe gefasst, wesentlich Verkündigungsgeschehen, also Wortgeschehen ist. Gewichtigster Ausdruck hierfür ist eine Anweisung aus der Deutschen Messe: „Da lassen wyr die Messgewand, altar, liechter noch bleyben, bis sie alle werden odder uns gefellet zu endern; wer aber hier anders will baren, lassen wyr geschehen. Aber ynn der rechten Messe unter eyttel Christen muste der altar nicht so bleyben und der priester sich

44

WA 19,74,23–25. WA 19,75,4. 46 WA 19,75,5. 47 WA 31/1,406,19–25. 45

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ymer zum volck keren, wie on zweyffel Christus im abendmal gethan hat. Nu, das enharre seyner zeyt.“48

In Entsprechung zu jener Versammlung derer, die mit Ernst Christen sein wollen, wird auch hier unter Vorbehalt gesprochen: Es wäre wünschenswert, ist aber noch nicht realisierbar, daß der Pfarrer sich voll seiner Gemeinde zuwendet – und dies hätte auch Änderungen für den Altar zur Folge, wie Luther sie schon früher mit der Forderung nach der Abschaffung von Retabeln formuliert hatte.49 Doch blieb dies nicht das letzte Wort. Sinnfälligster Ausdruck hierfür ist das berühmte Altargemälde Cranachs in der Wittenberger Stadtkirche aus den späten dreißiger Jahren, das der Form nach eine Stellung des Zelebranten hinter dem Altar im Gegenüber zur Gemeinde unmöglich machte. Allerdings machte es zugleich noch anderes deutlich: Vielfach wurde darauf hingewiesen, daß auf diesem Altargemälde die Portraits der zum Zeitpunkt der Darstellung noch lebenden Wittenberger Reformatoren Luther, Melanchthon und Bugenhagen, wohl auch ein Selbstportrait Cranachs und Darstellungen von Wittenberger Bürgern zu erkennen sind.50 Der Stadtpfarrer Bugenhagen zelebrierte also vor seinem eigenen Portrait. Diese eigenartige Wendung ist aber von großer theologischer Tiefe, zeigt sich doch so, daß es nicht um Verehrung jenseitiger Heiliger geht, sondern um ein Präsentmachen der Gemeinde in ihrer Versammlung vor Gott. Die ausschließliche Funktion des Altars als Ort der Abendmahlsfeier statt als Ort dauerhafter Präsenz von Heiligkeit war so sinnenfällig geworden. Das gilt erst recht für den zentralen Ort der Präsenz Christi in der Kirche, das Tabernakel. Seine Funktion fällt fort mit der Konzentration des Abendmahlsverständnisses auf ein Wortgeschehen, wie es sich in besonderer Weise in Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis von 1528 und auch schon im vorangehenden Streit mit Zwingli abzeichnet: Das Abendmahl wird verstanden von der Einsetzung her, von der Verheißung Christi, die der Glaube aufgreift. Auf diesen Akt der Selbsthingabe Christi kommt es an, nicht auf die Anbetung des Sakramentes. Eine solche Anbetung hatte Luther in Reaktion auf Lehren unter den böhmischen Brüdern ausdrücklich als ein Adiaphoron erklärt, über das es keine definitiven Bestimmungen gebe: „Alßo solls auch hier ym sacrament fry seyn und ynn allen glewbigen hertzen, das wyr gewiß seyen, er hab kein gebott davon gegeben, ym sacrament odder ynn gleubigen hertzen, yhn anzubeten. Er ist auch nicht drumb da. Doch soll man yhm auch solch anbeten und ehrbietung nicht versagen, sondern frey brauchen, wenn es die tzeyt und gelegenheyt gibt, odder nochlassen.”51

48

WA 19,80,26–30. WA 10/2,33,20f. 50 JUNGHANS, Luther und Wittenberg (wie Anm. 26), 118–120. 51 WA 11,448,32–449,2; vgl. im selben Sinne auch den Brief an Leonhard Puchler vom 12.12.1522 (WA.B 2,628f; Nr. 555). 49

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Doch ist schon in dieser Schrift das Anbeten sehr deutlich auf den entgegengebrachten innerlichen Glauben bezogen und von äußerlichen Verhaltensweisen gelöst. Dem entsprechen auch andere Aussagen über die Anbetung des Sakramentes: „Cum quidam interrogaret Martinum Lutherum, an esset adorandum sacramentum? Respondebat: Man sol keinen cultum mit dem sacrament anrichten. Ich knie wol nider, sed propter reverentiam. Cum autem decumbo in lecto, so nimb ichs ungekniet. Est enim res libera, sicut liberum est osculari bibliam vel non osculari. Das heist auch angebett. Si non facio, non peccavi. Sed si quis vellet cogere tanquam necessarium ad salutem, ibi non vellem facere, sed retinere meam libertatem.”52

Nicht nur die ungleich schärferen Absagen an die Elevation,53 sondern auch die Aussage selbst macht deutlich, daß das Anbeten stark restringiert wird. Ein Kult des Sakramentes wird ausdrücklich abgelehnt, und so kann Luther später, im Zusammenhang der Regensburger Religionsgespräche auch ausdrücklich erklären, er denke über die Aufbewahrung der Elemente in Ziborien ebenso wie über die Transsubstanziation. Das hieß: Er lehnte sie nicht strikt ab, aber hielt es für falsch, daraus einen Glaubensartikel zu machen, denn die eigentliche Anbetung geschehe im Essen und Trinken.54 Diese Aussagen sind alle auf den Sakramentsvollzug bezogen. In der Frage der dauerhaften Präsenz Christi im Abendmahl hat Luther sich nicht so einhellig geäußert, wie es der späteren klaren protestantischen Position entspräche.55 Die hierfür auffälligste Aussage findet sich wiederum in einer Tischrede, die aus dem Jahr 1540 berichtet wird. Hiernach soll folgendes Gespräch stattgefunden haben: „Doctor interrogatus, an sacramentum possit deferri ad aegrotos, respondit: Wir haltens nicht also. Wolan, man muß ein weill geschehen lassen. Es wirdt wol fallen, weil sie nur kein ciborium haben. Wie soll man im thun? Bey unß in der kirchen disptuiren sie auch, ob man das sacrament solle auff ein andern altar tragen consecrirt(en). Ich laß mir also gefallen umb etzlicher ketzer willen, den man muß begegnen, denn es sindt ettliche, die lassen

52 WA.TR 1, 139, 14–20 (Nr. 344, Sommer / Herbst 1532); vgl. WA.TR 2, 201, 4–14 (Nr. 1745), wo das Knien ausdrücklich auf die Situation in der Kommunikation bezogen wird. 53 WA.TR 5, Nr. 5589, 6360; vgl. aber Luthers Legitimation der Beibehaltung der Elevation in Wittenberg WA 54, 162–165. 54 WA.B 9, 419, 20–420, 22 (Nr. 3622, an Georg von Anhalt, 25.5.1541); vgl. WA 54, 426, 13. 55 S. etwa Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche. Vorgelegt vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2003, 51, wo deutlich formuliert wird, daß eine Gemeinschaft Christi mit den Elementen nur „in usu“, also während des gottesdienstlichen Gebrauchs bestehe.

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es nur ein sacramentt sein, weils in usu ist; was uber ist und bleibt, werffen sie wegk. Das sit nicht recht. Wir lassen einen sumieren.“56

Die Lehre, daß die Elemente nur in usu Sakrament sei, wird hier in auffälliger Weise als Ketzerei abgetan. Freilich wird man, wie in vielen Fällen bei Luther die Aussage von ihrem argumentativen Ergebnis her zu interpretieren haben: Der Text zielt darauf, daß die Elemente im Vollzug des Abendmahls konsumiert werden. Eine Aufbewahrung also scheidet aus – und damit, worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, die architektonische Notwendigkeit eines Tabernakels und die spirituelle Vorstellung einer fortdauernden Präsenz Christi im Kirchenraum. Dem entspricht, daß Luther sich tatsächlich, gerade in einem Zusammenhang, in dem er einen Pfarrer – Simon Wolferinus in seiner Geburtsstadt Eisleben – kritisiert, weil er übrig gebliebene konsekrierte Hostien und Abendmahlswein einfach zu ungeweihten Elementen zurückgetan hat,57 zu der Auffassung Melanchthons, daß es außerhalb der sakramentalen Handlung kein Sakrament gebe,58 und er definiert in diesem Zusammenhang die sakramentale Handlung als den gesamten liturgischen Vorgang vom Vaterunser bis zum Abschluß der Kommunikation und der Entlassung der Gemeinde vom Altar.59 In diesem Zusammenhang empfiehlt – und das deckt sich ganz mit der Vorstellung der eben angeführten Stelle aus den Tischreden, daß ein Pfarrer oder andere Kommunikanten die Überreste der Sakramente zu sich nehme.60 Der – in Sorge vor heiklen Disputationen formulierte61– Ratschlag zielt also ausdrücklich nicht auf Erhalt der Hostien in einem besonderen Gehäuse, schon gar nicht auf dessen kultische Verehrung, sondern schlicht auf die vollständige Kommunikation.62 Diese scheinbare Detailfrage aber bedeutet nun tatsächlich, daß der Kirchenraum, der der Wittenberger Theologie entspricht, außerhalb dieses Kommunikationsgeschehens nicht mehr den realpräsenten Christus in seinem Innersten birgt. Er ist tatsächlich in jeder Hinsicht zu einem Gebäude geworden, das der gemeindlichen gottesdienstlichen Aktion dient, die sich in Predigt und Abendmahl vollzieht. Architektonisch bedeutet dies, daß, nachdem Seitenaltäre wegen des Fortfalls der Privatmessen und das Tabernakel wegen der 56

WA.TR 5, 55, 13–21 (Nr. 5314). S. den scharfen Angriff auf Wolferinus WA.B 10, Nr. 3888; zu den Ereignissen vgl. KAWERAU, GUSTAV, Der Streit um die Reliquiae Sacramenti in Eisleben 1543. In: ZKG 33 (1912), 286–308. 58 WA.B 10, 348, 13f (Nr. 3894). 59 WA.B 10, 348, 27–30 (Nr. 3894). 60 WA.B 10, 348, 34–349, 2 (Nr. 3894). 61 WA.B 10, 340, 20–22 (Nr. 3888). 62 Vgl. zum raschen Ende kultischer Verehrung der Hostie im Luthertum C. KARANTNUNN, SUSAN, „Gedanken, Herz und Sinn“. Die Unterdrückung der religiösen Emotionen. In: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, ed. v. Bernhard Jussen / Craig Koslofsky, Göttingen 1999 (VMPIG 145), 69–95, hier 85. 57

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Vorstellung einer ausschließlich aktualen Präsenz Christi überflüssig geworden sind, der Kirchenbau theologisch auf einen Gemeindealter und eine Kanzel konzentriert sein sollte. Und eben dies wird umgesetzt, als es erstmals zur Errichtung eines neuen Kirchenbaus im von der Wittenberger Theologie geprägten Sachsen kommt.

4. Kirche als Raum für Predigt und Gemeinde: die Torgauer Predigt Die bisherigen Ausführungen beziehen sich vor allem auf die theologischen Umbaumaßnahmen, die Luther gegenüber dem tradierten Gottesdienst und damit mittelbar auch am kirchlichen Raum vornahm. Im nun folgenden Abschnitt soll anhand von Luthers Predigt zur Eröffnung der ersten in Sachsen als lutherisch entworfenen Kirche überhaupt,63 der Torgauer Schloßkapelle, die tatsächliche Umgestaltung des Kirchenraumes in den Blick genommen werden. Daß dieser Bau programmatisch gemeint war, geht aus einer Aktennotiz über ihre Übergabe an ihre Bestimmung hervor: „Dieses Haus Ist Gott dem almechtigen Zuo lobe vnnd das man vf diesem Churfurstlichem Hauße vnd schlos ein bequeme vnnd gelegene stad habenn mag, darinnen Gotes wortt gelerett vnd gepredigett werden, aufgerichtett worden, Vnd vbertrifft vhast alle Kirchenn, so Itziger Zeitt in der weld sein, aus deme das die andern alle Zu des Bapstis vnd Bahlaaams Gottes dinst gestifft vnnd Rechte abgettische Kirchen gewesen, darin durch die messe, das ain opffer hat sein sollenn, vor lebendige vnd Todte vnnd der hailigen dinst, die man gleich, wie Gott angeruoffenn, Wie In andern heidnischenn Tempeln, den abgotten gedienett ist worden. Vnd obgleich dieselbigen numer vernewett, vnd aus ainer Abgottishen Kirchen, ain Christliche gemachtt, dieweil Gottes wortt drinn gepredigett Unnd die hochwürdigisten Sacrament darin gereichtt worden: So sein sie doch Zuvornn, Bebstliche vnd Balaams vnd nichtt Christi Kirchen gewesen. darumb diesze Kirche, die gantz Rein vnd Newe, vnnd nicht kein falschen Gottesdinst oder solche lher ist gelerett vnd getribenn wordenn, vil hoher vnd besser dan die andernn sein.“64

Die Kapelle ist vom Innenhof aus nicht besonders gekennzeichnet,65 und sie ist auch in ihrer Orientierung ganz an die Vorgaben des Schloßbaus angepaßt, daher nord-südlich ausgerichtet.66 Es ist nicht Folge der reformatorischen Änderungen, sondern greift auf vorherige Entwicklungen zurück, daß der chorlose Bau ringsum von Emporen umgeben ist, 67 so wie generell die Ausrichtung eines Kirchenbaus auf die Predigt im Mittelalter ihr Vorbild in den „Pre63

Zur ersten protestantischen Kirche in Joachimsthal in Böhmen aus den dreißiger Jahren s. LEWY, MAX, Schloss Hartenfels bei Torgau. Berlin 1908, 84. 64 ThHSTAW Reg. S f. 290a, Nr. 1 z e; f- 7r-v. 65 Ebd. 59. 66 Ebd. 85. 67 Zu den Vorbildern im Erzgebirge, in Wittenberg und in der Moritzburg s. ebd. 84.

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digtscheunen“ der Bettelorden besitzt.68 In der Torgauer Schloßkirche waren, wie auch andernorts, die Emporen sozial zugewiesen: Die Südseite war für die Angehörigen der Fürstenfamilie bestimmt, die eine Längsseiten für Hofdamen und junge Herren,69 der Saal für den Rest der Hofhaltung. 70 An einer der Längsseiten befand sich eine Kanzel, deren Programm bewußt biblisch ist: Dargestellt werden Jesus und die Ehebrecherin71 – also der Hinweis auf die aufdeckende Funktion des Gesetzes als einem wichtigen Bestandteil des Lutherschen Schriftverständnisses, der Zwölfjährige im Tempel und schließlich die Tempelreinigung72. Mit diesem letzten Relief ist wohl die theologische Aussage der Kanzel erreicht, gipfelt der biblische Text doch in der Aussage: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen“ (Mt 21,13, in Aufnahme von Jes 56,7) und damit in einer klaren nichtrituellen Funktionsbestimmung des Gotteshauses für das Wortgeschehen.73 Dieser theologischen Ausrichtung entspricht auch die auffällige Gestalt des Altars, der die Form eines Tisches, einer von vier Säulen getragenen Platte, hatte.74 Gegenüber früheren Deutungen75 ist wohl davon auszugehen, daß er von Anfang an einen hölzernen Aufbau besaß, auf dessen Flügeln das Abendmahl Christi, die Fußwaschung und der „Ölberg Christi“ dargestellt waren,76 also wiederum eine Betonung der Wort- und Dienstfunktionen. Unmittelbar sichtbar war durch die Kombination aus Säulen und Platten, daß dieser Tisch kein Unterbau zur Aufnahme von Reliquien besaß und ganz dem Zwecke der Abendmahlsfeier, nicht aber der fortdauernden Präsenz von Heiligkeit zugeführt war. Das sakramentale Geschehen, nicht aber die sakramentale Gegenwart war hier das Entscheidende. Die so auf Predigt und sakramentales Geschehen ausgerichtete Kapelle wurde durch die erste Predigt Martin Luthers in ihr am 17. Sonntag nach Trinitatis, dem 5. Oktober 1544, ihrem gottesdienstlichen Gebrauch überge68

S. hierzu BINDING, GÜNTHER / UNTERMANN, MATTHIAS, Kleine Kunstgeschichte der mittelalterlichen Ordensbaukunst in Deutschland. Darmstadt 1985, 341–343. 69 LEWY, Schloss Hartenfels (wie Anm. 63), 87; vgl. PETER FINDEISEN / HEINRICH MAGIRIUS (Bearb.), Die Denkmale der Stadt Torgau. Leipzig 1976, 190, die außerdem die Verwendung einer der Emporen für den Chor erwähnen. 70 Ebd. 190. 71 So die zutreffende Identifikation bei ebd. 192 (s. Abb. 179 ebd.), gegenüber LEWY, Schloss Hartenfels (wie Anm. 63), 88, der an die Darbringung Jesu im Tempel denkt. 72 Ebd., 88. 73 Sollte die traditionelle, aber nicht mehr ganz gesicherte Annahme stimmen, daß Cranachs Darstellung der Opferprobe Elias in Auseinandersetzung mit den Baalspriestern für die Schlosskapelle bestimmt war, würde dies das Programm noch unterstreichen (s. hierzu MARX, HARALD, Geschichte im Spiegel der Kunst. Ein Blick auf die 2. Sächsische Landesausstellung und darüber hinaus. In: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Katalog., ed. v. Dems. / Eckhard Kluth, Dresden 2004, 21–35, hier 27–32). 74 LEWY. Schloss Hartenfels (wie Anm. 63), 88. 75 Ebd. 88. 76 FINDEISEN / MAGIRIUS, Denkmale (wie Anm. 69), 191.

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ben. Und diese Predigt stellt in gewisser Weise auch eine Deutung des Kirchenraums dar, wenn Luther einleitend erklärt: „Wir sollen jtzt dis newe Haus einsegnen und weihen unserm HERrn Jhesu CHRisto, (...) auff das dis newe Haus dahin gerichtet werde, das nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang.“77

Kirche wird hier gedeutet als Haus für ein doppeltes Wortgeschehen – was jedenfalls bedeutet, daß das partizipative Element der Gemeinde doch auch seinen eigenen Status bekommt, wenn auch das Prä ganz deutlich beim Hören auf das Wort, auf der Entgegennahme der Heilszusage, liegt. Luther integrierte dabei die kirchenbaurelativierende Perspektive der frühen Jahre mit seiner kirchbaubejahenden Perspektive: Aufgrund des allgemeinen Priestertums stellte er nicht nur die Notwendigkeit eines besonderen Priesterstandes in Frage, sondern er behielt auch seine Anfrage an die Notwendigkeit eines besonderen Kirchenraums aufrecht, weil „wir alle zu aller zeit und an allerley orten Gottes wort und wrck veründigen sollen.“78 Die Kirche hat hiernach ihre Funktion vor allem dadurch, daß um der Ordnung Willen aus allen Priestern einer ausersehen ist, allen das Evangelium zu verkündigen und die Gemeinde einen gewissen Ort haben muß, an dem sie gewisse sein kann, ihren Prediger anzutreffen.79 Der Öffentlichkeitscharakter ist und bleibt also das maßgebliche Kriterium für die Sinnhaftigkeit eines Kirchenbaus, der damit rein funktional auf den Vollzug der öffentlichen Wortverkündigung ausgerichtet ist.80 Von einer Notwendigkeit eines solchen Kirchenbaus zu sprechen, wäre schon übertrieben: „Fiele aber die not fur, das man nicht volte oder kündte hierin zusamen komen, so möchte man wol draussen beim Brunnen oder anders wo predigen.“81 An der Stelle also, an der evangelische Kirchenbau begründet wird, bleibt entscheidend die funktionale Ausrichtung des Baus auf das Wort hin: Kirchenbau ist nach lutherischem Verständnis nicht etwas für sich Bedeutsames, sondern seine Ästhetik gewinnt er aus seiner Funktion dem Wort Raum zu schaffen. Der Raum, der hier bestimmt wird, soll vor allem dem Hören Raum geben und istvon hier aus definiert.

77

WA 49, 588, 12–18. WA 49, 590, 36–591, 9. 79 WA 49, 591, 27–592, 10. 80 Vgl. KOCH, Kirchenbau (wie Anm. 1), 116. 81 WA 49, 592, 33–35. 78

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5. Die Änderung des semiotischen Beziehungsgeflechts für reformatorische Frömmigkeit Die ausgeführten Entwicklungen bedeuteten eine gewaltige Konzentration des Kirchenraums, kenntlich vor allem an der Beseitigung der Seitenaltäre. Auch und gerade die Predigtscheunen waren von solchen Seitenaltären alles andere als frei gewesen – in vielen Kirchen galt es als besonders zukunftsträchtig, seinen Altar bei einem der frommen Bettelorden zu haben, so daß auch in diesen Kirchen das Geschehen keineswegs nur um die eine Hauptachse des Mittelschiffs konzentriert gewesen war, sondern sich in eine Fülle von Seitenräumen verteilt hatte. All dies mußte nun – in zeitlich unterschiedlichen Schüben – fortfallen, weil es jeder sinnvollen Grundlage entbehrte. Wenn man Berndt Hamms Konzept von der Reformation als einer „normativen Zentrierung“ sinnenfällig machen will,82 so braucht man nur auf diese Reduktion der Altäre auf letztlich einen einzigen zu verweisen. Dieser äußere Vorgang, der sich auch architekturgeschichtlich und kunstgeschichtlich beschreiben ließe, wäre als Gewinn von Konzentration freilich nur unzureichend benannt, und man muß, wenn man verstehen will, was tatsächlich mit dem Kirchenraum passierte, über die rein liturgischen Aspekte hinausgehen und über die Abschaffung der Privatmessen und der mit ihnen verbundenen Seitenaltäre hinausgehen. Schon dies bedeutete, wie oben angedeutet, einen Verlust einer bestimmten Form von semiotisch vermittelter Partizipation der glaubenden Laien am Kirchenraum. Dieser verlor aber aufgrund der theologischen Überlegungen der Reformatoren weitere wichtige Aspekte. Wiederum kann man einen besonders sinnenfälligen herausgreifen: Das späte Mittelalter hatte besonderen Wert auf die Ausgestaltung der Sakramentshäuser gelegt – berühmt ist das Beispiel aus St. Lorenz in Nürnberg, wo das Tabernakel zu einem eigenen architektonischen Element geworden war, das den Ort der Präsenz des realen Leibes Christi in der Kirche sichtbar für die Gemeinde als den mystischen Leib Christi machte. Die Beseitigung eines Ortes für die Präsenz Christi im Kirchenraum außerhalb des Abendmahlsvollzuges durch die vollständige Konsumtion der Abendmahlselemente in eben diesem Vollzug ist eine vehemente Aktualisierung der Präsenz Christi, die im Ergebnis dazu führte, daß kein architektonisches Element mehr nötig war, um den realen Leib Christi zu beherbergen. Das bedeutete aber nun tatsächlich, daß die Kirche insgesamt nicht mehr außerhalb des Gottesdienstes Gehäuse für Christus selbst war und daß sie einen Kristallisationspunkt materialer Heiligkeit verlor.83 Dies verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, daß mit der Bestreitung der Verehrung von Heiligen die alte Tradition der Verehrung von 82

HAMM, BERNDT, Reformation als normative Zentrierung von Religion in Gesellschaft. In: JBTh 7 (1992), 241–279. 83 Vgl. KOCH, Kirchenbau (wie Anm. 1), 117.

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Kirchenraum und Gemeinde

Reliquien im Altar obsolet wurde. Der Altar war nicht mehr Bedeckung und Gehäuse für die Reliquien, die ihn hierdurch heiligen, sondern er war dazu da, im Vollzug des Abendmahls genutzt zu werden – anhand des Torgauer Altars wurde oben ausgeführt, welche Folgen dies hatte. Diese Entwicklung läßt sich zumal vor neuprotestantischem Hintergrund leicht als Desakralisierung beschreiben und ist dies unzweifelhaft auch bis zu einem gewissen Grade: Der Raum verliert an Heiligkeit, an Durchscheinen für die jenseitige Wirklichkeit Gottes und Jesu Christi. Aber blickt man auf die sich vollziehende Wandlung der für die Frömmigkeit konstitutiven semiotischen Beziehungsgeflechte, so ist in sozialer Hinsicht keineswegs nur von einer Deskralisierung zu sprechen, sondern es gibt durchaus auch den gegenläufigen Effekt einer Heraushebung des Raumes aus der Alltagsgestaltung der Menschen. Betrachtet man deren Umgang mit dem Kirchenraum, so wird durch die reformatorischen Umstrukturierungen in vielfacher Weise ein Anlaß genommen, sich von den Alltagsvollzügen aus auf den Kirchenraum zu beziehen: Es fällt nicht nur durch die gestifteten Seitenaltäre der Bezug auf die Lebenswirklichkeit im Alltag der Handwerker einer Stadt fort, der sich in Gestalt semiotischer Repräsentation ja zuvor durchaus ergeben hatte. Es fällt durch die Reduktion der Zeiten von Messen wie durch die Beseitigung von Orten der Heiligkeit jeglicher Anlaß fort, Kirche und Kirchenraum individuell zu betreten, um in ihm entweder die Präsenz Gottes zu erfahren oder sich in der Andacht Gott zuzuwenden. Indem Kirche um alle Nebenfunktionen entschlackt wird, erfolgt eine Konzentration, aber auch Reduktion auf die gewissermaßen offiziellen gottesdienstlichen Anlässe. Als frommer Christ betritt man die Kirche, um den Gottesdienst zu besuchen, der zwar keineswegs nur Sonntagvormittag stattfindet, sondern auch am Nachmittag und unter der Woche, der aber eben doch stets eine Versammlung der Gemeinde zum vorgegebenen Termin und unter Anleitung des Pfarrers darstellt. Außerhalb dieser Anlässe – und das heißt, im Kontext der außergottesdienstlichen Alltagswirklichkeit der Menschen – werden die semiotischen Beziehungen des Kirchenraums auf die Glaubenden drastisch reduziert. Auch dort, so etwa Epitaphien eine fortdauernde Repräsentanz der verstorbenen Glaubenden und der mit ihnen verbundenen Nachfahren ermöglichen, fällt die semiotisch formulierte Rückwirkung auf den außerhalb des Kirchenraumes fort: Die Familien der mit dem Epitaph gewürdigten sind durch dieses Epitaph nicht in ein ihnen zugeeignetes Geschehen eingebunden, sondern die Funktion des Epitaphs erschöpft sich in der Darstellung vor der sich zum offiziellen Anlaß versammelnden Gemeinde Kirche und Kirchenraum werden in viel stärkerem Maße zu einem Sonderobjekt der Lebenswirklichkeit, als dies in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur der Fall gewesen wäre. Dies ist kein Phänomen, was mit dem Begriff der Sakralisierung zu beschreiben wäre, aber insofern Sakralität auch als Unterscheidung von Profanität beschreibbar ist, wird hier doch in sozialer

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Hinsicht etwas in Gang gesetzt, das der Bewegung der Desakralisierung zwar nicht schlechterdings entgegengesetzt ist, ihr aber doch einen eigenen Akzent entgegenstellt. Der besondere Kirchenraum, von dem Luther spricht, bleibt dem reformatorischen Christentum erhalten – er wird zum Teil sakralisiert, aber auch ent-alltäglicht. Zu einer neuen Präsenz von Heiligkeit kommt es nicht, wohl aber zu einer Absenz der alltäglichen Lebenswelt.

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Luthers Mönchtum in altgläubiger Polemik Angesichts der Bedeutung, die Luthers Stellung zum Mönchtum in der modernen, von Denifle und Grisar ausgehenden katholischen Polemik spielt, bietet ein Blick in die Debatten des 16. Jahrhunderts zunächst einmal eine Überraschung: Die Quellenlage ist äußerst dürftig – jedenfalls dann, wenn man die Themenstellung präzise in dem Sinne versteht, dass es um eine Polemik gegen Luthers Zeit als Mönch geht. Hierzu gibt es in den Quellen nur ganz wenige Aussagen, am Umfangreichsten in den Commentaria des Cochlaeus1. Indirekt allerdings wirft der geschilderte Befund noch eine ganz andere Frage auf: wie nämlich der Unterschied in der Bedeutung des Mönchtums in der modernen katholischen Polemik einerseits, der frühneuzeitlichen altgläubigen Polemik andererseits zu verstehen ist.

1. Der Hintergrund der Frage in der römisch-katholischen Lutherdeutung um 1900 Die Frage nach Luthers Mönchtum ist für die moderne polemische Auseinandersetzung um Luther ein ganz zentrales Thema und führt zugleich in die Entdeckung der Frage eines „jungen Luther“ überhaupt. Zwar ist die Gegenüberstellung von jungem und altem Luther in der vorherigen Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte nicht gänzlich unvertraut. Bekanntlich aber haben die Entdeckungen der frühen Vorlesungen an der Wende zum 20. Jahrhundert überhaupt erst die Möglichkeit ergeben, vom jungen, vorreformatorischen Luther ein einigermaßen präzises Bild zu erhalten. Freilich ist dies für die monastische Existenz Luthers nur von sehr begrenzter Aussagekraft; hierfür bleiben die Briefe aus der Klosterzeit und natürlich die Rückblicke in den Tischreden und andernorts leitend. Von diesen gingen Denifle und Grisar2 in der Tat auch bei ihrer Rekonstruktion von Lu1

Vgl. zur weitreichenden Wirkung des Cochlaeus umfassend: ADOLF HERTE, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochlaeus. 3 Bde., Münster 1943. 2 DENIFLE, HEINRICH SUSO, Luther und das Luthertum in der ersten Entwicklung, Mainz ²1904–1906; GRISAR, HARTMANN, Martin Luthers Leben und sein Werk, Freiburg i. Br. ²1927; vgl. zu beiden BRECHT, MARTIN, Die Erforschung des jungen Luther. Katholischer Anstoß und evangelische Erwiderung, in: Lutherforschung im 20.

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thers Zeit als Mönch aus und benutzten sie im historischen Sinne ganz unkritisch, im konfessionellen Sinne hingegen äußerst kritisch. Die Beschreibungen, die Luther gab, seine Leiden darunter, dass er nicht genug gebeichtet habe, seine Klage über entfallene Stundengebete, die er nur mit größer Mühe oder gar nicht nachholen konnte, die Sorge um die Prädestination erschien den nachtridentinischen Autoren als Ausdruck eines überstarken Strebens nach Heiligkeit, wie es von einem Mönch gar nicht gefordert wurde. Betrachtet man diese Deutungen näher, so zeigt sich, dass das leichte Abtun als „Polemik“ der Raffinnesse, mit der hier vorgegangen wird, kaum gerecht wird: Denifle und in dieser Sache vor allem Grisar konnten sich ja durchaus auf Luthers eigene Aussagen berufen. Wenn er etwa in einer immer wieder gerne zitierten Äußerungen erklärte, wenn irgendjemand durch Möncherei in den Himmel gekommen wäre, so er, dann konnten solche hyperbolischen Formulierungen in den Augen seiner Kritiker n zeigen, dass die Weise, wie er das Mönchtum lebte, über das geforderte Maß hinausging. Insbesondere Denifle gehört bis heute in der Erforschung der spätmittelalterlichen Mystik, Scholastik und Kirchenpolitik zu den großen, nach wie vor zitierten Gestalten. Er verfügte über genug Kenntnisse, um deutlich zu machen, dass solche scrupulositas nicht allein im nachtridentinischen Mönchtum ein Gegenstand innerklösterlicher Seelsorge war, sondern auch bereits im mittelalterlichen Kloster, ja, die Berichte Luthers selbst geben ja auch hierauf wieder entsprechende Hinweise, wenn er etwa davon berichtet, wie Staupitz ihn gerügt habe, er solle bei seinen Beichtanliegen nicht mit „solchem Humpelwerk und Puppensünden umgehen und aus einem jglichen Bombart eine Sünde machen!“3 Kurzum: Der Gedanke einer besonderen scrupulositas Luthers ist nicht ohne Anhalt in seinen autobiographischen Äußerungen – und je weniger man geneigt ist, sie im Sinne von Konvertitenliteratur als pointierte Selbstdeutungen zu lesen, das heißt, je stärker man sie als unstilisierte Berichte über Jugendereignisse liest, desto näher ist man an dem Deutungshorizont Denifles und Grisars. Freilich ist nicht nur die historisch-kritische Analyse ein Medium der Distanz zu diesen Deutungsmustern, sondern es ist mehr noch das theologische Ziel, das so offenkundig erreicht werden sollte: Die Möncherei, die Luther so perfekt gehandhabt hatte, wurde in Luthers späterer Deutung geradezu auch zum Paradefall der Werkgerechtigkeit. Dies diente in einem zweistufigen Schluss als theologischer Schlüssel zur rabiaten Relativierung von Luthers theologischen Einsichten. Der erste Schritt war, Luthers Theologie letztlich aus einer existenziellen Situation heraus zu erklären. Die Breite, in der Luther Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, ed. v. Rainer Vinke, Mainz 2004, 1–17, 1–7. Brecht weist insbesondere a.a.O., 2 darauf hin, dass für Denifle geradezu Ausgangspunkt der Polemik „De votis monasticis“ war. 3 WA.TR 6,107,1–3 (Nr. 6669).

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in theologischen Zusammenhängen selbst auf sein eigenes Leben zu sprechen kommt, mag dieses Verständnis gefördert haben, das nun freilich aus einem theologischen und spirituellen Entdeckungs- einen psychologischen Entwicklungsvorgang, um nicht zu sagen -komplex machte. Der zweite Schritt war dann relativ einfach: Wenn denn dieser psychologische Entwicklungsvorgang dadurch angestoßen war, dass Luther auf die ihn umgebenden spirituellen Angebote nicht einzugehen vermochte, so lag das Problem nicht im System, sondern in ihm: Der Gedanke, dass Luther ein Mittelalter niedergerungen habe, das eigentlich schon nicht mehr katholisch war, den Erwin Iserloh eine Generation später formulieren sollte, war seinerseits durchaus nicht ohne Anhalt in den Polemiken Denifles und Grisars, auch wenn es bei Iserloh im Vorfeld des Zweiten Vatikanums der ökumenischen Verständigung dienen und Luther vom ahistorischen Maßstab eines tridentinischen römischen Katholizismus befreien sollte. Was Iserloh nicht mitvollzog, was aber für Denifle und Grisar konstitutiv war, war nun, dass eine aus einer speziellen psychischen Disposition und einem strukturellen Missverständnis geborener Theologie in sich verquer sein musste. Die biographische Konstruktion diente also der Dekonstruktion von Luthers Theologie. Es scheint mir, um an dieser Stelle den forschungsgeschichtlichen Exkurs abzubrechen und zur Fragestellung des Vortrags zurückzukehren, genau diese höchst zentrale Bedeutung der Mönchsthematik in der modernen Forschung zu sein, der die Frage aufwirft, ob ihr ihre Stellung im 16. Jahrhundert entsprach. Die Antwort ist, wie bereits angedeutet: Nein, wenn auch mit ein paar kleineren Differenzierungen.

2. Der Befund im 16. Jahrhundert Der Befund in den einschlägigen Quellen – sei des den von Laube gesammelten Flugschriften gegen die Reformation, sei es in den Harmsschen Einblattdrucken – ist marginal, und auch sozusagen der Urtypus biographiebezogener Lutherpolemik, die Commentaria des Cochlaeus, ist an diesem Punkt nicht sehr aussagefreudig, wenngleich er wenigstens ein Bisschen über die üblichen Topoi hinausgeht. Selbst die wiederum von Cochlaeus herausgegebene berühmte Darstellung vom Septiceps Lutherus, an die nicht nur ich, sondern auch andere, mit denen ich über das Problem sprach, sofort dachten, weist den Typus des tonsurierten Mönchs nicht auf, muss dies freilich auch von der ganzen Anlage her nicht: Nach der Überschrift des Einblattdruckes geht es hier darum, Luther als den zu erweisen, der suis scripturis contrarius ist. Es geht also um den aktuell begegnenden Luther. Dabei können durchaus Motive altkirchlicher Symbolik auf ihn appliziert werden, wie etwa eine Kopfbedeutung, die von Wolfgang Harms als freilich sehr vereinfachende Nachahmung einer Mitra gedeutet wird und den Visitator kennzeichnet, der für Cochlaeus

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in besonderem Gegensatz zum Schwärmer steht – einem polemischen Begriff, den bekanntlich Luther für die innerprotestantische Auseinandersetzung geprägt hatte und der ihm nun von außen entgegenschlug. Was das Bild ausdrücken will, ist viel weniger die biographische Vielfalt Luthers – zu diesem Zeitpunkt wäre auch der Ehemann sonst ein durchaus mögliches Objekt – als die vermeinte Widersprüchlichkeit seiner reformatorischen Maßnahmen. Der Mönch hatte darin nichts zu suchen. Und auch wo er vorkam, blieb er vergleichsweise blass. 2.1 Die Deutungskategorien Ungehorsam und Unzucht Im Wesentlichen konzentrieren sich die Äußerungen zu Luthers Mönchtum auf die Vorstellung vom entlaufenen Mönch. Vielfach wird dieses Verdikt einfach hingeworfen, unter der Voraussetzung, dass seine bloße Nennung die Verwerflichkeit der dahinter stehenden Charakters zeige. Sie verweist damit, wo sie erscheint, auf ein in sich intaktes altgläubiges Normgefüge, gehört nicht in einen Bereich, der auf Überzeugungsarbeit im gegnerischen Lager gezielt hätte, sondern diente bereits der eigenen Vergewisserung über die Fehlerhaftigkeit Luthers. Was hiermit biographisch konterkariert wurde, war ein Doppeltes: zum einen sehr konkret Luthers Kritik am Mönchtum, die nun, ungeachtet der bereits vorher in De votis monasticis erfolgten Entwicklung bei ihm selbst, im Nachhinein biographisch als Muster der Selbstlegitimation entlarvt wurde. Gewissermaßen die Steigerungsform des entlaufenen Mönchs ist der von vorneherein falsche Mönch: Cochlaeus greift Luthers Widmungsschreiben zu De votis monasticis an den Vater auf, in dem Luther seinen Weg ins Mönchtum ausführlich darlegt, und spitzt auf die Aussage zu, Luther sei nicht freiwillig ins Kloster gegangen, sondern „terrore de coelo et agone mortis subitae circumuallatu[s]“ ins Kloster eingetreten4. Mit dieser Konzeption ist nun ein grundlegend anderer Ansatz gewählt als bei den Autoren des frühen 20. Jahrhunderts: Sahen diese Luthers Fehler in einer Überspitzung des Mönchsideals, so war für Chochlaeus Luther nie, auch nicht einmal im Modus des Missverstehens, ein wirklich innerlich bewegter Mönch gewesen, lediglich die formalen Eintrittsbedingungen waren korrekt – Cochlaeus hält sehr wohl ausdrücklich fest, dass die Profess ordentlich erfolgt ist5. Eben dies braucht er für das, was das Thema von Luthers Mönchtum eigentlich für die altgläubige Polemik spannend und interessant macht: das Verlassen des Klosters, das nicht als ordentlicher Austritt, sondern als Flucht zu werten ist. Das eigentlich Pikante dabei ist, dass sich hier mit dem Motiv mangelnden Gehorsams das der Unkeuschheit verband. Natürlich bewegen 4

COMMENTARIA | IOANNIS COCHLAEI DE ACTIS | ET SCRIPTIS MARTINI LVTHERI SAXONIS, St. Viktor bei Mainz: Behem 1549, 44. 5 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 1.

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sich beide Vorwürfe auf der Ebene der evangelischen Räte, doch hat der Vorwurf der Unzucht noch eine weitere, leicht nachvollziehbare Dimension: Hierin hatte die altgläubige Polemik nun ein Thema, das unmittelbar auf öffentliche Aufmerksamkeit rechnen durfte. Während das Ungehorsamsthema nur innerhalb eines monastischen Tugendkanons so recht funktionieren mochte, konnte man hiermit auf die Aufmerksamkeit wohl auch einer evangelischen Bevölkerung rechnen. So wenig anstößig unter theologischen Gesichtspunkten die Eheschließung war, so irritierend blieb sie doch, vier Jahre nachdem Kleriker und Mönche erst angefangen hatten, die Ehe zu schließen: Nun war es der prominenteste Reformator, der die Ehe als entlaufener Mönch mit einer entlaufenen Nonne einging. Luther selbst hat den positiven Kern dieser Botschaft sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, als er sich und Katharina in einem Doppelportrait darstellen ließ6. Die Wertveränderung wurde damit im repräsentativen Genus des Portraits geradezu demonstrativ unterstrichen und ausdrücklich bejaht. Das konnte aber nicht hindern, dass von altgläubiger Seite die Eheschließung als gefundenes Fressen aufgegriffen wurde. Siegfried Bräuer hat kürzlich einen kundigen Überblick über die Auseinandersetzungen um die Eheschließung dargestellt7, so dass ich ihm hier weitgehend folgen kann. Was dabei auffällt, ist ein Doppeltes: Erstens hat zwar die Erregung über die Eheschließung weite Kreise gezogen. So wird schon 1528 von einer Komödie berichtet, die Heinrich VIII. in Auftrag gegeben habe und die die Wittenberger Eheschließung behandle8. Doch schon früh wurde das albertinische Sachsen zu einem Zentrum der Polemiken gegen die Eheschließung. Offenbar hat man gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft ein besonderes Interesse an diesem Ereignis gehabt und gehofft, es publizistisch auch in der entstandenen Konkurrenzlage unterschiedlicher Haltungen zur Reformation nutzen zu können. Zweitens aber, und noch bemerkenswerter: Eigentliche Zielscheibe der Kritik war nur bedingt Luther, hauptsächlich war es Katharina von Bora. Diese Schieflage ist unter Gesichtspunkten der gender-Wahrnehmung nicht weiter erstaunlich: Die Unzucht der Frau erweckte literarisch immer wieder ein viel höheres auch voyeuristisches Interesse als die des Mannes, und dass es nicht nur um theologische Auseinandersetzungen ging, zeigt die Derbheit der Auseinandersetzungen: 1526 verfasste der Leipziger Dominikaner Petrus Sylvius ein Spottgedicht auf Luther, in dessen Verlauf der Höllenchor einen Lobpreis auf Luzifer anstimmte. Der höllische Gesang charakterisiert Luther als den, der von seinem Orden abtrünnig geworden ist und auch andere ab6

S. BRÄUER, SIEGFRIED, Katharina, die Lutherin – im Urteil der Zeit, in: Mönchshure und Morgenstern. Katharina von Bora, die Lutherin. Eine Frau weiß, was sie will, ed. v. Peter Freybe, Wittenberg 1999, 9- 35, 14. 7 Ebd. 8 BRÄUER, Katharina- die Lutherin (wie Anm. 6), 18.

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trünnig macht, der zum Mord an Pfaffen und Mönchen aufruft und dazu, Nonnen ins Bordell zu bringen. Luthers eigene Ehe wird in aller Obszönität behandelt: „Der Luther ist sein bruder. Das ri rum ritz Er spilt in seynem luder. Das ri rum ritz.“9

Solche Geschmacklosigkeiten waren freilich nicht das einzige, was die Gegner aufzubieten hatten: Wiederholt kam auch die Mahnung an Katharina auf, sich wieder ins Kloster zu begeben10. So wurde sie einerseits als das bloße Objekt von Luthers Lüsternheit und Hurerei wahrgenommen, andererseits auch als aktive Teilnehmerin an dieser Verderbnis. In einem Drama Johann Hasenbergs aus dem Jahre 1528 wird die Mahnung gar auf der Bühne durchgeführt: Hier ist es ganz Luther, der handelt: Er fordert Katharina auf, ihm zu folgen, doch sie berichtet von einem Traum, in dem der virginalis chorus der Cäcilia, Thekla, Agatha, Agnes und Eustochium sie ermahnt und ihr abgeraten haben11. Gelehrt argumentiert sie gegen ihren Ehemann, hält ihm vor, dass das monastische Leben als Knechtschaft Christi die eigentliche evangelische Freiheit sei und die Bibel zum Halten der Gebote mahne12 Daraufhin wehrt sie Luther ab, wirft ihm vor: „Durch diesen (Luther) bin ich aus einer Braut Christi zu deiner Kloake gemacht worden“13 und kehrt in das Kloster zurück: So krass wie selten wird hier die gender-Typik des verführenden Mannes und der sich dann doch noch entziehenden Frau dargestellt, was wiederum heißt: Die Aufgabe des Mönchsstandes durch Luther selbst war in viel geringerem Maße Gegenstand der Polemik als die durch Katharina. Dies zeigt sich auch in den wenigen weiteren Zusammenhängen, in denen in der Polemik zur Eheschließung konkreter auf die Thematik des monastischen Lebens eingegangen, wenn etwa Hieronymus Emser ein Hochzeitsgedicht auf das Paar verfasste, in dem vom Zerreißen des Schamgürtels die Rede war und vom Bruch der Gelübde14; wiederum wird die gemeinsame Versündigung durch eine spezifisch weibliche Symbolik verdichtet. Wohl am Deutlichsten werden die Motive gebrochener Gelübde in einem Spottdrama zusammengeführt, das wiederum Chochlaeus unter dem Pseudo9 Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), ed. v. Adolf Laube, Berlin 2000, 217,2f. 10 Siehe die beiden 1528 gemeinsam gedruckten Schreiben von Johann Hasenberg und Joachim von der Heyden (WA.B 4,517–531 [Nr. 1305]); zum gemeinsamen Druck der beiden Schreiben im Jahre 1528 s. WA 26,535. 11 LVDVS LVUDENTEM LVDERUM LV=| dens, quo Ioannes Hasenbergius Bohemus in Bacchanalib. | Lypsiae, omnes ludificantem Ludionem, omnibus | ludendum exhibuit. Anno M. D. XXX., o.O. o.J., f. A ivv. 12 Ebd. f. B iv. 13 Ebd. f. B iiv: „hinc ego ex sponsa Christi facta sum tua cloaca“. 14 Das Gedicht ist zu Teilen bei COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 118, abgedruckt: „Rumpe pudicitiae zoonam uotumque fidemque“.

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nym Johannes Vogelsang 1538 veröffentlicht hat: Ein heimlich Gespräch von der Tragedia Johannes Hussen. Anlass von Drama und Titel ist die Erzählung, Johann Agricola habe den Unwillen Luthers erregt, weil er ein Drama über Johannes Hus verfasst habe, ohne mit dem Reformator die evangelischen Inhalte abzuklären. Diese Episode, die entsprechend dem altgläubigen Topos, dass sich in den Unterschieden der Reformatoren die Weissagung widerspiegele, dass das Haus des Satans unter sich uneins sei vorgeht, ist für den vorliegenden Zusammenhang nicht von Belang, wohl aber das Auftreten der verschiedenen Reformatorengattinnen, vor allem die Frau Melanchthons, die hier nicht Katharina heißt, sondern den Namen Prisca trägt. Sie erklärt im Zusammenhang einer Auseinandersetzung: „O der omechtigen pälge, der stinckenden Münch vnd Pfaffen huorn, wie halten sie so hoch vnnd vil von ynen selbst, Ich allein hab mit Got vnd mit ehren eynen rechten Eheman, vnder ihnen allen.“15

Allein in der Ehe der Melanchthons hatte niemand durch die Eheschließung ein Zölibatsgelübde gebrochen: Wieder also wird der Topos des Entlaufens und damit der Illegitimität des nachklösterlichen Lebens in den Mittelpunkt gerückt. Und auch hier liegt das Zotige nicht fern: In demselben Stück kommt es auch zu einem Gespräch zwischen Luther und Katharina, in dem diese umschmeichelnd versucht, Luther für eine mildere Haltung gegenüber Agricola zu gewinnen – dem schmeichelnde Werben seiner Frau entgegnet Luther: „jch besorge du habst mehr dann einen Schuolmeyster gehabt“, worauf Katharina erwidert, er sei „doch auch nit in Jungfrawschaft“ in die Ehe mit ihr gegangen16. Was dem Publikum hier – will man nicht annehmen, die Aussagen bezögen sich auf die vorklösterliche Zeit Luthers, derb vor Augen gestellt wird, ist wiederum der auch sonst bei Cochlaeus begegnende Gedanke, dass Luther eigentlich kein rechter Mönch gewesen sei. Der entlaufene Mönch hatte das andere Gelübde, das der Keuschheit, schon im Mönchsstande verloren. Eben dieses Motiv hat Cochlaeus dann in einem weiteren Schritt noch vertieft. Wie populär diese Art von Polemik war, zeigt dann auch, dass sich Simon Lemnius in seinem Konflikt mit Luther ebenfalls das Thema der angeblichen sexuellen Libertinage der entlaufenen Mönche zu eigen machte: Seine Monachopornomachia ist voll von entsprechender Polemik17.

15

VOGELSANG, JOHANN (COCHLAEUS), Ein heimlich Gespräch von der Tragedia Johannis Hussen. 1538, ed. v. Hugo Holstein, Halle 1900, 35. 16 Ebd. 32. 17 Simon Lemnii Latratus Poetici Monachopornomachia. Threni Joannis Eckii, Brüssel 1866.

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2.2 Spirituelle Deutung Der Gedanke von Luther als dem von Anfang an falschen Mönch erscheint unter ganz anderen Vorzeichen und charakteristisch für die Mischung aus Sachkenntnis und Verdrehung in der Polemik bei Cochlaeus, der ja anfänglich mit Luther sympathisiert und einzelne Etappen der reformatorischen Entwicklungen, wie etwa den Wormser Reichstag, auch als Augenzeuge miterlebt hatte. Seine Commentaria, die erstmals kurz nach Luthers Tod, 1549 erschienen, lesen sich tatsächlich wie ein polemischer Kommentar zu Luthers Schriften. Dabei spielt die Frage nach dem Mönchtum immer wieder allgemein eine Rolle, wenn Cochlaeus etwa Luther vorwirft, er habe alle Zucht des Mönchsstandes vernichtet, die Gelübde ruiniert, „kurz: gleichermaßen Christus und alle Frömmigkeit und religiöse Haltung aus den Herzen der Menschen gerissen“18. So wird Luthers Umgang geradezu zum paradigmatischen Fall seines Umgangs mit christlicher Devotion überhaupt, und sogar beim Bauernkrieg stellt Cochlaeus nicht so sehr den allgemeinen Aufruhr in den Vordergrund, sondern wirft Luther vor, Anstifter dessen gewesen zu sein, dass die Bauern sich vornehmlich gegen Mönche und Nonnen vergangen hätten19. Trotz dieser herausragenden Bedeutung, die die Frage nach dem monastischen Leben in der Deutung von Luthers Position durch Cochlaeus erfährt, ist der biographische Abschnitt zu Luthers Mönchtum selbst außerordentlich knapp. Im Zentrum steht nun eine raffinierte Umdeutung von Luthers eigenen Aussagen: Dieser selbst habe immer wieder von seinem Kontakt mit dem Teufel gesprochen20. Cochlaeus verweist in diesem Zusammenhang besonders auf die Schrift Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe aus dem Jahre 1533, in der sich ein langer Bericht Luthers über eine „Disputation“ mit dem Teufel findet21. Diesen Bericht aber deutet Cochlaeus nicht im Sinne des von Luther immer wieder betonten Kampfes mit dem Teufel22, sondern er spricht von einem commercium23, das Luther vom Beginn seiner Klosterzeit an „cum Daemonio“ gehabt habe: Die Beschreibung spiritueller Anfechtungen durch Luther wird zur Deutung eines Miteinanders mit der teuflischen Sphäre: Mancher hätte, so Cochlaeus, gar gesehen, wie Luther leiblich Umgang mit dem Teufel gehabt habe24, und es gebe zudem einen Bericht, dass Luther unter der 18 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 75: „Breviter Christum de cordibus hominum cum omni pietate et religione pariter eiectum“. 19 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), C iiv. 20 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 2. 21 WA 38,197,18–204,13. 22 Vgl. zu dieser Thematik RIESKE-BRAUN, UWE, Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999. 23 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 1f. 24 COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 2.

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Messe aufgefallen sei, als gerade eine Perikope von einer Dämonenaustreibung gelesen worden sei: Da sei Luther zusammengebrochen und habe gerufen: „Non sum! Non sum!“25 Die Dimension, die Cochlaeus damit anschlägt, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Luthers gesamter Klosteraufenthalt trotz seiner formalen Regelmäßigkeit von Anfang an unter dem Einfluss des Teufels gestanden habe. Cochlaeus kennt also in dem Reformator nicht eine Entwicklung, sondern eine Statik der Dämonenbesessenheit, die das ganze Leben bis in den Kampf mit dem Papst hinein prägt, auch wenn in den späteren Passagen die Dämonenfrage zugunsten der gezielten theologischen Auseinandersetzung zurücktritt. Bemerkenswert sind die Muster spiritueller Psychologie, die diese Art von Darstellung prägen. Luther wird nicht im Sinne einer Entwicklung vom guten Katholiken und Mönch zum Reformator dargestellt, sondern er ist von vorneherein fremd in seiner äußerlich religiosen Existenz. Über dieses statische Bild mag man angesichts dessen besonders staunen, dass es ja aus der Feder eines Autors stammt, der seinerseits durchaus Entwicklungen durchlebt hat. Über seine Selbstsicht, die Interpretation seiner eigenen reformationsaffinen Phase lässt Cochlaeus in den Commentaria nichts erkennen: Sie gelten Luther, nicht ihm, und der Autor tritt als subjektiv Beteiligter gänzlich hinter dem kritischen Interpreten und vor allem häresiologischen Richter zurück. Man kann nur vermuten, dass ein Selbstverständnis des Cochlaeus wiederum nicht im Sinne einer Entwicklung, sondern im Rahmen eines binären Schemas von Wahrheitserkenntnis und (zeitweisem) Abfall interpretiert.

3. Zusammenschau Die zuletzt vorgetragenen Überlegungen sind ein gewisser Beitrag zu der eingangs angesprochenen Frage, der eigentlichen Problematik meines Vortrags: der kontraintuitiven Diskrepanz zwischen den Erklärungsmustern moderner Polemiker und denen des 16. Jahrhunderts. Eine große Einhelligkeit kann man selbstverständlich in dem Interesse an der vermeintlichen moralischen Verderbtheit Martin Luthers sehen: Dieser Topos ist auch heute nicht verschwunden, und selbst das jüngste Luther-Musical, das in diesem Jahr in Erfurt uraufgeführt wurde, mochte sich einen Martin Luther nicht ohne Liebschaft vor dem Klostereintritt vorstellen, auch wenn diese eher als Romanze inszeniert war, denn als moralischer Fehltritt. Doch über diese Gemeinsamkeit hinaus sind die Muster der Deutung offenkundig unterschiedlich: Für die Polemiker des 16. Jahrhunderts ist der Rahmen zu einer Deutung Luthers durch das Gegenüber von Gottes- und Dä25

COCHLAEUS, Commentaria (wie Anm. 4), 2.

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monenwelt aufgespannt. Luther erscheint damit, jenseits der moralischen Disqualifizierung, nur begrenzt als ein selbstbestimmt handelnder Akteur: Er ist Geführter und Verführter – man mag darin auch durchaus Analogien zu Luthers eigener Deutung der Geschichte und des göttlichen Handelns in ihr sehen. Auch wenn der Dömonologie des Cochlaeus an dieser Stelle die heilsgeschichtliche Wucht von Luthers Gegenüberstellung von Gott und Teufel fehlt – wohl weil dieses in seinen Augen Luther zu groß und bedeutend machen würde –, partizipieren beide an einer theologischen Deutung des Geschehens der Reformationszeit, die in diesem Gottes Kampf gegen widergöttliche Mächte erkennt. Wo aber bei Luther Gott seinen Sieg durch das Evangelium und seine neue Offenbarung in der reformatorischen Botschaft erringt, ist es bei Cochlaeus das feste Normsystem der Kirche, das einen Halt gegen die dämonische Herausforderung bietet, und die Widergöttlichkeit Luthers zeigt sich gerade in der permanenten Verweigerung dieses Normsystems. Der poimenisch gewendete Gedanke eines Scheiterns an den Normen erscheint dabei nicht: Das Faktum von Luthers Vergehen wird einfach festgehalten bzw. an den zitierten Stellen geradezu als laszive Missachtung und Selbstherrlichkeit ausgemalt. Indem der entlaufene Mönch nie wirklich innerlich Mönch war, und indem der verheiratete Mönch als längst schon sexuellen Begierden nacheifernder erscheint, wird er aus dem Entwicklungszusammenhang der alten Kirche herausgenommen. Der theologischen Zuordnung zur Dämonenwelt entspricht die Einordnung in den Topos des verderbten Mönchs, der spätestens seit Boccaccios Decamerone fester Bestandteil der europäischen Literatur ist, und dessen Festigkeit sich etwa auch in der Rede von den „stinckenden Münch vnd Pfaffen huorn“ im Munde der von Cochlaeus auf die Bühne gestellten Frau Melanchthons zeigt: Hier wird nicht ein neues reformatorisches Phänomen, die Aufhebung von Kleriker- und Mönchstand benannt, sondern ein altbekanntes disziplinäres Problem: der Verfall der disziplinären Lebensweise. Entstanden in der Anfangsphase des Konzils von Trient, drücken die Commentaria des Cochlaeus damit jenen Teil kirchenreformerischer Bestrebungen polemisch aus, der die Herausforderung der Reformation vor allem als Mahnung an eine moralische und disziplinäre Reorganisation der römisch-katholischen Kirche versteht. Zugleich machen Cochlaeus und die anderen Polemiker aber, liest man sie vor dem Hintergrund der modernen polemischen Auseinandersetzungen, deutlich, worin deren moderner Ansatz liegt. Dass Denifle und Grisar an den Mitteln moderner Wissenschaft partizipieren, wird man schwerlich bestreiten können oder wollen: Die enorme Textkenntnis, insbesondere bei Denifle das weit über die Lutherforschung hinausgehende Feld der Arbeiten, erweisen sie als Forscher, die in gewisser Weise das Erbe der Leistungen römisch-katholischer Kirchengeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert antreten: Ignaz von

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Döllinger26 hat sie auf ein Niveau gebracht, das mit der protestanischen Forschung mithalten konnte– im Unterschied etwa zu der Exegese des 19. Jahrhunderts, die gegenüber den Leistungen protestantischer Theologie weit im Hintertreffen blieb, bis ihr im Vorfeld des Zweiten Vatikanums den Zugang zur historisch-kritischen Methode eröffnet wurde. Auch wenn Döllinger selbst aufgrund der Auseinandersetzungen um die Unfehlbarkeit des Papstes, wiederum aufgrund eigener historischer Studien, die römisch-katholische Kirche verließ, konnte im Schatten der Auseinandersetzungen um den Modernismus die Kirchengeschichte zu einem Feld intensiver wissenschaftlicher Betätigung werden. Und sie konnte dies umso mehr, wenn sie nicht wie bei Dollinger selbstkritisch angewandt wurde, sondern gerade der konfessionalistischen Abgrenzung vom Protestantismus diente. Historische Kritik wurde so nicht zu einer Gefahr für römisch-katholisches Selbstverständnis, sondern zu seiner aktiven Speerspitze. Doch liegt die Modernität von Denifle und Grisar nicht allein in diesem methodischen Bereich, sondern offenbar auch in der psychologischen Neubestimmung einer Entwicklungsdimension des Menschen, genauer: einer spirituellen Entwicklungsdimension. Der Gedanke als solcher ist natürlich nicht neu: Luther selbst beschreibt ja seinen Weg im Sinne einer geistlichen Entwicklung, deren Plötzlichkeit er freilich besonders hervorhebt. Und die Confessiones Augustins sind hierfür ebenso ein Muster wie die Vita des Heinrich Seuse, deren Entwicklungsgedanke nicht von der Frage abhängt, ob es sich hier, wie die neuere germanistische Forschung diskutiert, um eine reale Biographie handelt oder nicht. Solche spirituellen Entwicklungen hatten aber einen implizit didaktischen Duktus, zeigten den Weg zu Gott auf – einen Weg vom Bemühen um Gott fort zur Häresie und Gotteswidrigkeit zu zeigen, war hingegen etwas anderes. Hier legten sich jene binären Schemata nahe, von denen Cochlaeus Gebrauch machte – auch deswegen, weil ein solcher Fall seinerseits in didaktischer Hinsicht allenfalls zur Demonstration der Verderblichkeit des Gegners taugte. Eben dies hat sich bei Denifle und Grisar geändert: Bei aller Polemik sind ihre Arbeiten auch ein Versuch, mit den historisch einordnenden Möglichkeiten ihrer Zeit einen Weg verstehend darzustellen, der für sie nichts anderes sein konnte als der Weg eines Verworfenen. Das Material wie auch grundsätzlich die Bereitschaft, Luthers Weg – wie gesagt: in seinem Sinne – als fortlaufende Entwicklung zu beschreiben, verbindet sie durchaus mit der folgenden evangelischen Lutherforschung – ebenso wie die starke Orientierung an den Selbstdeutungen Luthers. 26 Zu ihm: BISCHOF, FRANZ XAVER, Theologie und Geschichte. Ignaz von Döllinger (1799–1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens. Ein Beitrag zu seiner Biographie, Stuttgart u.a. 1997; FUHRMANN, HORST, Ignaz von Döllinger. Ein exkommunizierter Theologe als Akademiepräsident und Historiker, Stuttgart u.a. 1999.

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So mag dieser Vortrag einem Thema, für das das material erstaunlich – und ich setze für den, der dies vorbereiten musste hinzu: erschreckend – spärlich war, doch noch einmal die Facette abringen, dass die polemischen Muster des 16. Jahrhunderts auch dazu helfen, die Struktur moderner Polemik neu zu verstehen und sich damit möglicherweise auch in eine neue kritische Auseinandersetzung mit ihr zu begeben.

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Von charismatischer Leitung zur Institutionalisierung1 Die Bedeutung der Monumentalisierung Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation Die Autorität Luthers hat zahlreiche Wandlungen durchgemacht: Sie erlebte den rasanten Aufstieg eines Professors aus dem Wittenberger Kreis zur klaren Führungsfigur ebenso wie eine neue Einrahmung durch die faktischen Entwicklungen seit der Mitte der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts, die eine Fülle von Akteuren neu in Schlüsselpositionen der reformatorischen Gestaltung brachten2. Dies relativierte die scheinbare Omnipräsenz des Wittenberger Reformators – aber es stellte seine Autorität nicht grundsätzlich in Frage. So kam es geradezu zu einer gegenläufigen Tendenz zunehmender Betonung der Bedeutung Luthers durch Formen der kontrafaktischen Verehrung. Der Reformator wurde von manchen in eine nahezu unangreifbare Zentralposition geschoben – ein Prozess, der sich noch zu seinen Lebzeiten beobachten lässt, und für den Eike Wolgast den Begriff der „Monumentalisierung“ geprägt hat3.

1

Die vorliegenden Ausführungen knüpfen an die Überlegungen und Formulierungen an, die ich im Rahmen der Diskussion um den Thesenanschlag entwickelt habe: LEPPIN, VOLKER, Die Monumentalisierung Luthers. Warum vom Thesenanschlag erzählt wurde – und was davon zu erzählen ist. In: Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, ed. v. Joachim Ott / Martin Treu, Leipzig 2008 (SSLG 9), 6 9–92. 2 Vgl. zu dieser Deutung LEPPIN, VOLKER, Von Sturmgewittern, Turmstuben und der Nuss der Theologie. Martin Luther (1483–1546) zwischen Legende und Wirklichkeit. In: Wittenberger Lebensläufe im Umbruch der Reformation. Wittenberger Sonntagsvorlesungen 2005, ed. v. Peter Freybe, Wittenberg 2005, 1 1–27; zu den anschließenden Entwicklungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts s. DINGEL, IRENE, Ablehnung und Aneignung. Die Bewertung der Autorität Martin Luthers in den Auseinandersetzungen um die Konkordienformel. ZKG 105 (1994), 35-57 3 WOLGAST, EIKE, Biographie als Autoritätsstiftung: Die ersten evangelischen Lutherbiographien. In: Biographie zwischen Renaissance und Barock. Zwölf Studien, ed. v. Walter Berschin, Heidelberg 1993, 41-71, 42. 52; WARTENBERG, GÜNTHER, Martin Luthers Kindheit, Jugend und erste Schulzeit in den frühen biographischen Darstellungen des Reformators. In: Martin Luther und Eisleben, Leipzig 2007, ed. v. Rosemarie Knape (SSLG 8), 14 3–162, 145.

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Was sich hier vollzieht, ist ein religionssoziologisch durchaus nachvollziehbar und vielfach beobachtbarer Vorgang, der am besten mit Hilfe der Analysen Max Webers zu begreifen ist. Nach Weber gilt: „Charisma ist typische Anfangserscheinung religiöser (prophetischer) oder politischer (Eroberungs-)Herrschaften, weicht aber den Gewalten des Alltags, sobald die Herrschaft gesichert und, vor allem, sobald sie Massencharakter angenommen hat.“ 4

Selbstverständlich ist „Herrschaft“ für die religiösen Zusammenhänge ein problematischer Begriff, der im vorliegenden Zusammenhang angemessener durch „Führungsanspruch“ oder dergleichen ersetzt werden könnte. Der Sache nach aber lässt sich Webers allgemeine Beschreibung treffend auf den Verlauf der Wittenberger Reformation, zumal in den Jahren 1520 bis 1525, beziehen. Da formierte sich die Wittenberger Bewegung rund um Luther als die charismatische Führungsgestalt5. An der Haltung für oder gegen Luther entschied sich die Zuordnung zur reformatorischen Bewegung – und zwar auf den unterschiedlichen Ebenen. Zur personalen Fokussierung trugen von außen natürlich Bannbulle und Wormser Edikt6 bei – beide galten Luther und mittelbar seinen Anhängern. Damit war Luther kirchen- und reichsrechtlich die Gestalt, über die sich rechtliche Akzeptanz oder Nichtakzeptanz entschied. Dem entsprach aber auch in der Binnenkommunikation der reformatorischen Bewegung eine starke personale Fokussierung auf die charismatische Führungsgestalt. Symptomatisch ist Luthers Eingreifen nach den Wittenberger Unruhen 15227: Es war sein persönliches Auftreten vermittels der Invokavitpredigten, das wieder Ruhe in Wittenberg einkehren ließ, und dies obwohl eigentlich der Kurfürst skeptisch gegenüber seinem persönlichen Erscheinen in Wittenberg als Gebannter gewesen war 8. In den weiteren Auseinandersetzungen mit Andreas Karlstadt übernahm Luther faktisch kirchenleitende Funktionen, indem er in dem Raum, in dem Karlstadt agierte, rund um Jena 4

WEBER, MAX, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 147. 5 Zu den Anfängen der Gruppenbildung s. KRUSE, JENS-MARTIN, Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 151 6–1522, Mainz 2002 (VIEG 187). 6 Zur Deutung des Wormser Edikts grundlegend: KOHNLE, ARMIN, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh 2001 (QFRG72), 9 9–104. 7 Zu diesen: Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt, ed. v. Nikolaus Müller, Leipzig ²1911; B UBENHEIMER, U LRICH, Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 152 0–1522 und die frühreformatorischen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments, in: ZSRG.K 71 (1985) 14 7–214; KAUFMANN, THOMAS „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen 2010 (VTMG 12). 8 Vgl. hierzu LEPPIN, VOLKER, Martin Luther, Darmstadt ²2010, 20 1–204.

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und Orlamünde, visitatorische Aufgaben übernahm9. Das berühmte Gespräch im Schwarzen Bären in Jena am 22. August 1524 gipfelte darin, dass Luther die Entscheidung über eine Zensurierung Karlstadts, die formal durch Landesherr oder Universität zu treffen war, souverän in die eigene Hand nahm10. Diese charismatische Führung in Anspruch und Wirklichkeit hat mit der geographischen Ausweitung und Institutionalisierung der Reformation Einbußen erlitten, auch wenn sie nicht gänzlich verschwand. Das persönliche Charisma der unmittelbaren Begegnung musste hier auf andere Weisen vermittelt werden. So wurde Luthers Charisma in unterschiedlichen Medien präsent: neben dem Brief vor allem im gedruckten Wort, das wiederum auf eigenartige Weise der charismatischen Bedeutung Luthers Ausdruck gab, insofern er zum unübertroffen meistgekauften Autor dieser Jahre in Deutschland wurde11. Die berühmte Allianz von Reformation und Buchdruck fokussierte sich in den ersten Jahren ganz deutlich auf den einen viel gelesenen Autor Martin Luther12. So kann man in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre auch durchaus von einer überregionalen charismatischen Wirkung sprechen. Doch mit der Institutionalisierung der Reformation in Gestalt zunächst der städtischen Reformation, dann der Fürstenreformation entstand eine neue Legitimationsstruktur. Diese zeichnete sich wiederum durch eine doppelte Besonderheit aus: 1. Die Legitimation dieser Struktur wird innerhalb des religiösen Systems formulierbar, ist aber nicht aus ihm entstanden. Mit anderen Worten: Wenn der Rat Beschlüsse fasst oder der Landesherr Visitatoren einsetzt, so geschieht beides in der theologischen Deutung aufgrund ihrer besonderen Stellung innerhalb des großen oder kleinen Corpus christianum13. Diese besonde9

S. LEPPIN, VOLKER, Stadt und Region im mittleren Saaletal. Zu den Einflüssen Karlstadts auf die Jenaer Reformation, in: Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Territorien, ed. v. Irene Dingel / Günther Wartenberg, Leipzig 2009 (LStGRLO 10), 4 1–51 10 WA 15,339,28–340,3. 11 Entsprechend dominiert in mehreren jüngeren Darstellungen der Reformationsgeschichte das vor allem von Bernd Moeller betonte Verständnis der Reformation als Medienereignis; s. v. a. MOELLER, BERND, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozeß, in: DERS., Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, ed. v. Johannes Schilling, Göttingen 2001, 7 3–90; BURKHARDT, JOHANNES, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002; KAUFMANN, THOMAS, Geschichte der Reformation, Frankfurt ²2010. 12 MOELLER, BERND, Das Berühmtwerden Luthers, in: DERS., Luther-Rezeption (wie Anm. 11), 1 5–41. 13 Vgl. anhand der Städte MOELLER , BERND, Reichsstadt und Reformation. Bearbeitete Neuausgabe, Berlin 1987, 15; gegenüber dieser bahnbrechenden Studie ist inzwischen zu Recht wieder auf die Bedeutung der Fürsten für den Gesamtprozess der Reformation verwiesen worden; s. etwa SCHULZE, MANFRED, Fürsten und Reformation. Geistliche Re-

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re Stellung resultiert jedoch aus Bedingungen, die ihrerseits nicht spezifisch religiöser Art sind und auch in anderen Bereichen als den spezifisch religiöskirchlichen gelten. Das ist ein für die Institutionalisierung einer kirchlichen Sozialform jedenfalls nicht selbstverständlicher Vorgang. 2. Diese auf anderer legitimatorischer Grundlage basierenden neuen Instanzen agieren gleichzeitig mit der weiter bestehenden herausragenden charismatischen Führungsgestalt. Hieraus entsteht ein komplexes Gefüge, in dem konkurrenzhafte Elemente miteinander verbunden sind. So zum Beispiel in der Widerstandsdiskussion, in der Luther sich mit seiner theologisch begründeten Skepsis gegenüber einem gegen den Kaiser gerichteten Widerstand nicht gegen die Argumente der Juristen durchsetzen konnte und schließlich diesen folgte14. An anderen Punkten entstanden synergetische Effekte, wie etwa, wenn Johann des Beständige und vor allem nach ihm Johann Friedrich immer wieder Rat bei Luther suchte. Auch können sich schlichte Ablösungen ergeben wie etwa bei Philipp von Hessen, der zwar Luthers Rat, der Reformatio ecclesiarum Hassiae keine Gesetzeskraft zu verleihen, folgte, aber eine Fülle der darin enthaltenen Maßnahmen, ohne neuerlich nach Luthers Rat zu suchen, umsetzte15. Hieraus resultiert insgesamt eine allenfalls noch vermittelte Einwirkungsmöglichkeit der charismatischen Führungsfigur Luther, ohne dass deren geistlicher Führungsanspruch explizit bestritten oder symbolisch in Frage gestellt werden musste. 3. Die Lage wird noch komplexer dadurch, dass Luther seine eigene Rolle durchaus nicht nur charismatisch begründet hat, sondern mit seiner besonde-

formpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991; WOLGAST, EIKE, Die deutschen Territorialfürsten und die frühe Reformation, in: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, ed. v. Bernd Moeller, Gütersloh 1998, 40 7–434; SEEBAß, GOTTFRIED, Die deutschen Fürsten und die Reformation. Kontext und Hintergrund des kirchlichen Wirkens Johann Friedrichs von Sachsen, in: Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006, ed. v. Volker Leppin / Georg Schmidt / Sabine Wefers, 9–27; RUDERSDORF, MANFRED, Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie der deutschen Reformationsfürsten, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 150 0–1650. Bd. 7: Bilanz- Forschungsperspektiven – Register, Münster 1997, 13 7–170. 14 S. WOLGAST, EIKE, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977 (QFRG 47); LOHSE, BERNHARD, Die Bedeutung des Rechts bei der Frage des obrigkeitlichen Widerstandes in der frühen Reformation, in: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. FS Horst Rabe, ed. v. Christine Roll, Frankfurt/M. u.a. ²1997, 21 7–229. 15 S. SCHNEIDER-LUDORFF, GURY, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 (AKThG 20), 5 2–60.

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ren Amtsfunktion als Professor und Prediger der Heiligen Schrift16 – Amt und Charisma sind also auch bei ihm selbst schon miteinander verschränkt. Erst dieses Ineinander von fortbestehender Legitimation und schleichender Delegitimation vermag die Komplexität eines Lutherbildes zu erklären, wie es sich für die Zeitgenossen der vierziger Jahre darstellen musste: Luther war für die negative Wahrnehmung durch seine Gegner ebenso wie für seine Anhänger und Gefährten die zentrale Gestalt für den Durchbruch der Reformation. So sehr es gute Gründe gibt, die Durchsetzungsphase der Reformation mit mehr Namen als dem Luthers zu verbinden, so sehr verdichtete und zentrierte das Wittenberger Gedächtnis der vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts seine Erinnerungsformen: Die Reformation wurde immer mehr mit der einen Personen Martin Luthers verbunden, und die ersten Narrative entstanden, die eben dies legitimieren sollten. Der überragenden Bedeutung, die Luther in der Durchsetzungsphase der Reformation gehabt hatte und die wohl in dieser Erinnerung sogar noch ein wenig erhöht wurde, entsprach freilich seine Bedeutung in den letzten Jahren seines Lebens nur noch begrenzt. Es gibt genug Gründe dafür, daran zu erinnern, dass auch der alte Luther nicht in die Bedeutungslosigkeit abgeglitten war17, aber es gibt ebenso Gründe dafür, daran zu erinnern, dass diese Bedeutung, was das faktische Geschehen anging, nicht nur eine andere, sondern auch eine geringere war als in der Durchsetzungsphase der Reformation. Dies zeigt sich beispielsweise in der Ersatzrolle, die Johann Friedrich in seiner Korrespondenz während des Regensburger Religionsgesprächs offenbar Nikolaus von Amsdorff zuwies18. Will man diese Beobachtung auf den Punkt bringen, so zeigt sich, dass zum einen eine Diskrepanz zwischen faktischer realpolitischer und symbolischer Bedeutung Luthers entstand und zum anderen die fortdauernde theologische Bedeutung Luthers weitgehend unstrittig war. Gerade hier, im Ausbau und der Vertiefung der theologischen Arbeit lag ja auch das wichtigste Betätigungsfeld Luthers in seinen letzten Lebensjahren19. Dass all dies nicht in eins geht, zeigt symptomatisch die schwierige Geschichte der Schmalkaldischen Artikel, deren hohe theologische Bedeutung für Luther außer Frage steht,

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Besonders markant kommt dies zum Ausdruck in der Schrift „Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. Martin Luther verbrannt sind“ von 1520 (WA 7,161,8f; 162, 8f). 17 Dies wurde in den Rezensionen meiner Luther-Biographie wiederholt und für mich durchaus nachvollziehbar gegen meine Lutherdeutung eingewandt. 18 S. LEPPIN, VOLKER, Nikolaus von Amsdorf und Johann Friedrich d. Ä., in: Nikolaus von Amsdorf (148 3–1565) zwischen Reformation und Politik, ed. v. Irene Dingel, Leipzig 2008 (LSt 9), 10 3–115 19 Dies geht eindrucksvoll hervor aus dem Sammelband: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, ed. v. Helmar Junghans. 2 Bde., Göttingen 1983

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ganz gleich, ob man sie nun im strengen Sinne als Testament Luthers 20 liest oder nicht. Ja, man kann partiell auch eine politische Bedeutung sehen, vor allem in der starken Einflussnahme Johann Friedrichs auf ihre Entstehung. Aber durch das Drängen auf einen anderen, von Melanchthon verfassten Text auf dem Schmalkaldischen Bundestag von 1537 und noch mehr durch die Unterzeichnung der Schmalkaldischen Artikel nur durch die Theologen wird deutlich, dass eine Unterscheidung jedenfalls nach politischer und theologischer Bedeutung Luthers und eine im Vergleich geringere Veranschlagung der ersten schlicht eine Nachzeichnung der zeitgenössischen Wahrnehmung und ihrer Probleme mit Luther darstellte. Freilich hatte man nicht nur Probleme mit Luther, sondern man sah ohne Luther erst recht Probleme auf sich zukommen: Das ist / war der Anstoß für die Monumentalisierung Luthers. Es war genau dieses Jahr 1537, in dem Martin Luther ein Adlatus zur Seite gestellt wurde: Georg Rörer. Im Auftrag des Kurfürsten sollte er nun fortsetzen, was er schon seit 1522 sehr konsequent getan hatte: das Sammeln von Materialien über Luthers Wirken. In welchem Umfang er dies getan hat, dokumentiert seine heute in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena aufbewahrte Sammlung, in der sich insbesondere Predigt- und Tischredennachschriften, einzelne Drucke und Protokolle der Wittenberger Übersetzungskommission befinden. Im Zusammenhang mit der Rörerschen Sammlung und mit Rörer selbst sind es letztlich drei Medien, die unter dem Gesichtspunkt der Frage nach der Monumentalisierung Luthers die Aufmerksamkeit auf sich ziehen: die Werkausgabe, die Protokolle der Bibelübersetzerkommission und die Tischreden. Die Werkausgabe21 ist eben das, wofür Eike Wolgast den Begriff der „Monumentalisierung“ geprägt hat. Sie diene, so Wolgast, der „Historisierung und Monumentalisierung“ Luthers22. Luther selbst hat deutlich gemacht, dass gerade dieses Ziel der Werkausgabe keineswegs seiner Anregung oder auch nur seinem Interesse folgte: „Nu ichs aber ia nicht kann wehren und man on meinen danck meine Bücher will durch den druck (mir zu kleinen ehren) itzt samlen, mus ich sie die kost und erbeit lassen dran wogen. Tröste mich des, das mit der zeit doch meinen Bücher werden bleiben im staube vergessen“23,

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S. HAGEN, KENNETH, The Historical Context of the Smalcald Articles, in: CTQ 51 (1987) 24 5–253. 21 S. JAUERNIG, REINHOLD, Zur Jenaer Lutherausgabe, in: ThLZ 77 (1952) 74 7–762; WOLGAST, EIKE / VOLZ, HANS, Geschichte der Luther-Ausgaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. WA 60, 427–637, 495–543; SCHILLING, JOHANNES, Art. Lutherausgaben, in: TRE 21 (1991), 59 4–599, 595f. 22 WOLGAST, Biographie (wie Anm. 3), 42. 23 WA 50, 657,31–658,3.

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schrieb er in der Vorrede zum ersten Band der Werke. Und es hat wohl niemand so präzise wie Luther selbst beschrieben, dass das, was hier geschah, seiner Intention zuwider lief: Nicht seine Person sollte im Mittelpunkt stehen, sondern der, den er bezeugt hatte. Die Personalisierung des Geschehens der Reformation, die Pflege des Gedächtnisses seiner Person, war ein Vorgang, der dem Verweischarakter seines Handelns weit weniger gerecht wurde als der ebenfalls in dieser Zeit entstandene Wittenberger Altar, der auf seiner Predella Luther als den zeigt, der auf Christus verwies. Umgekehrt dürfte sein Umfeld auch ihm deutlich gemacht haben, dass angesichts der erwartbaren Zeit einer Fortdauer der Welt nach seinem Tod das Ziel der Bücher nicht so sehr darin liegen konnte, dem Staub und Vergessen anheim gegeben zu werden, sondern dass erst eine Sammlung dieser Schriften in der Lage sein würde, seine ursprüngliche charismatische Autorität, die mittelbar in ihrer Wirkung auch für die neu konstituierten institutionellen Autoritäten wirksam geblieben war, zu prolongieren. Und dass er selbst, bei aller Distanzierung von dem Unternehmen insgesamt, das Vorwort zu der Wittenberger Ausgabe beisteuerte, ist nicht zuletzt eine Bestätigung des autoritativen Charakters des hier Versammelten. Bei der Erstellung dieser Ausgabe ging es nicht um bloß archivalische Interessen: Was hier geschaffen wurde, diente nicht nur dem Gedächtnis des Luthertums, sondern auch der fortdauernden Identifikation mit der Person Luthers, der Wahrung seiner ipsissima vox. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass gerade auch die Lutherausgabe zum symbolischen Streitgegenstand innerhalb der Konstitution des Luthertums wurde. Als nach dem Passauer Vertrag ernestinisches und albertinisches Sachsen sich in ihrer durch den Augsburger Reichstag von 1547/8 geänderten politischen Gewichtung neu konstituierten und sich zur gegenseitigen Abgrenzung insbesondere der symbolischen konfessionelle Konfrontation bedienten, zählte es zu den größten Erfolgen des ernestinischen Herzogtums, dass es gelang, Rörer nach einem dänischen Zwischenspiel 1553 nach Jena zu holen, wo er ab 1555 an der neuen Jenaer Lutherausgabe mitwirkte und aufgrund für ihn durchaus lukrativer Absprachen dem Fürstenhaus auch seine umfangreiche Sammlung von Lutherana überließ. Die neue Ausgabe, die für sich proklamierte, eine der Wittenberger gegenüber verbesserte Neufassung darzustellen, unterstrich den Anspruch Jenas darauf, das theologisch wahre Wittenberg zu sein. So wie hier die Präzision der Texterfassung mit durchaus humanistisch geprägtem Anspruch zum markanten Merkmal der Selbstdefinition wurde, kann man auch das zweite Medium der Gedächtniswahrung vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Sicherung von Genauigkeit in der Erinnerung betrachten: die Protokolle der Bibelübersetzerkommission. Diese entsprechen wohl auch am ehesten jenem Gedächtnismodus, den Luther in der Werkausgabe vermisste, zeigten sie doch die unmittelbare Arbeit am biblischen Text und bestätigten die Reformatoren als getreue Haushalter dieses Textes. Rörer prägte

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durch ihren Erhalt einen bis heute für den lutherischen Umgang mit der Bibelübersetzung kennzeichnenden Vorgang der kanonisierenden Kontinuitätswahrung und argumentativen Weiterentwicklung: Offenbar sollten die zukünftigen Generationen an den Auseinandersetzungen der ersten Übersetzer mit ihnen unübersehbaren Meinungsunterschieden teilhaben. Das gab ihnen die Möglichkeit, gewissermaßen an dieser Diskussion teilzunehmen. Hier wurde nicht nur konserviert, sondern auch Weiterentwicklung ermöglicht. Freilich müssen die hier leitenden Motive notwendig spekulativ bleiben, da wir im Grunde nur einerseits das Faktum des Erhalts der Protokolle haben und andererseits das Faktum, dass diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern, ab 1555 greifbar, für den Erhalt im Kontext der Jenaer Akademie. Beides also, Werkausgabe wie Erhalt der Protokolle, lassen sich als Teile der Luthermemoria verstehen, bei denen der Bezug auf die Person Luthers in einem unausweichlichen Konnex mit der Sache, für die er stand, gesehen werden kann und muss, im Falle der Bibelübersetzung stärker, im Falle der Sammlung der Werke nach Luthers eigener Auffassung etwas weniger. Ein gänzlich anderes Stück der in Rörers Sammlung versammelten Erinnerung sind die Tischreden. Spätestens hier muss man, wie eigentlich der Sache nach schon bei den Werken, an denen Rörer nur als einer unter anderen beteiligt war, den Blick weit über Rörer hinauswerfen, um sich klar zu machen, was hier erfolgte. Es ist bedauerlich, dass bis heute eine umfassende Untersuchung der Tischreden als literarischer und theologischer Gattung fehlt 24. Ich will zumindest zwei Gesichtspunkte nennen, die möglicherweise bislang einer eigenen Untersuchung dieser in meinen Augen wichtigsten Form der Monumentalisierung Luthers entgegenstanden: 1. Ein ganz nüchterner literarischer Blick auf die Tischreden wird, sucht er nach literarhistorisch vergleichbaren Formen, vor allem auf literarische Produkte der Spätantike kommen, genauer genommen auf Sammlungen wie die Apophthegmata patrum oder, als westliches Pendant, die Collationes patrum. Das würde zumindest die Frage nach Berührungen zwischen der literarischen Gattung der Tischreden und solcher hagiographisch motivierter Literatur aufrufen, die einer sehr differenzierten Beantwortung und damit einer ebenso differenzierten – und gerade darum spannenden Verhältnisbestimmung zwischen Luthermemoria und Hagiographie bedürfte. 2. Die Tischreden werden gerne – auch von mir selbst –, für die Auswertung biographischer Splitter genutzt. Diesem Interesse einer biographischen 24

Vgl. aber JUNGHANS, HELMAR, Die Tischreden Martin Luthers, in: D. Martin Luthers Werke. Sonderedition der kritischen Weimarer Ausgabe. Begleitheft zu den Tischreden, Weimar 2000, 2 5–50; BARTMUß, ALEXANDER, Die Tischreden als Quelle für Luthers Kindheit und Jugend, in: Martin Luther und Eisleben, ed. v. Rosemarie Knape, Leipzig 2007 (SSLG 8), 12 1–142.

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Auswertung aber steht eine eigene Betrachtung hinsichtlich ihrer Genese, literarischen Form und vor allem auch Aussageabsicht entgegen, schärfer gesagt: Die Theologie hat aus der Leben-Jesu-Forschung gelernt, dass eine sensible Betrachtung der literarischen Gestaltung einer Quelle deren quellenhafte Zuverlässigkeit für die Rekonstruktion eines hinter ihr stehenden historischen Sachverhaltes eher in Frage stellen als unterstützen kann. Tatsächlich zeigt sich auch bei einem Blick auf die Tischreden, dass sie weit mehr darstellen als den genauen Bericht von Geschehenem. Sie sind, nach den Sammlerhänden in unterschiedlichem Grad, theologisch stilisiert und zugespitzt. Genaueres wird man hierzu erst sagen können, wenn man eine genaue Synopse der Tischreden erstellt hat, aber bereits ein erster oberflächlicher Blick auf die Sammlungen und ihrer parallelen Inhalte zeigt, dass die Texte Luthers wachsen und dieses Wachstum in manchen Fällen besonders die theologische Pointierung seiner Aussagen betrifft. Nimmt man beide Beobachtungen zusammen, so steht recht deutlich vor Augen, was die Bedeutung dieser Tischreden für die Betrachtung der Monumentalisierung Luthers ausmacht: Sie zeigen, in welchem Ausmaß die nachwachsende Generation Luther als Person interessierte, und wie gewiss man sich war, dass seine Memoria in Zukunft zu pflegen sein würde. Anders ist das Aufzeichnen seiner Äußerungen schwer nachvollziehbar. Zugleich aber zeigt sich, dass hier nicht nur archivalisch konserviert, sondern die Memoria bewusst gestaltet wurde. Schon der Akt des Mitschreibens selbst ist selektiv, die Gestaltung der Äußerungen Luthers aber ist erst recht ein Moment bewusster Gestaltung, einer Konzentration auf jenen Luther, den es zu erinnern galt beziehungsweise eine Festigung seines Bildes. In der inhaltlichen Auswahl aber, in der neben den Sentenzen des Reformators vor allem biographische Erinnerungen aufbewahrt sind, zeichnet sich nun auch ab, dass sich die biographische Frage deutlich mit der Frage nach der normativen Geltung Luthers beziehungsweise der Äußerungen Luthers verband. Es entstand im Horizont der Monumentalisierung ganz selbstverständlich die Frage nach dem Leben. Man befragte ihn nach seinen Erfahrungen, man schrieb auf, was er darüber berichtete, ja, in der berühmten Frage von Luthers Geburtsjahr ist uns sogar bekannt, dass Philipp Melanchthon sich bei Margarethe Luder hiernach erkundigt hatte25. Das biographische Interesse suchte nach Quellen, die es befriedigen konnten, es wollte eine möglichst vollständige Biographie haben26. Luther selbst hatte in gewisser Weise Anteil 25 CR 6, S. 156; vgl. zu der damit verbundenen Diskussion WARBURG, ABY, Heidnischantike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: DERS., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, ed. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden ²1980 (SaeSp 1), 19 9–304 (SHAW.PH Jg. 1919, Nr. 26, Heidelberg 1920); STAATS, REINHART, Ist Zwingli älter als Luther? Zwing. 16 (1985) 47 0–476. 26 Vgl. zu den frühen Biographien WOLGAST, Biographie (wie An. 3), und WARTENBERG, Kindheit (wie Anm. 3).

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daran, als er in der berühmten Vorrede zu den lateinischen Werken sein Leben erzählte, und zwar so, dass er durch Verweis auf seine relativ späte Bekehrung selegierte, was als autoritativ zu gelten habe und was nicht – der Aussageabsicht nach ist dieser Text nach den Untersuchungen Rolf Schäfers27 mindestens ebenso nahe an den Retractationes wie an den Confessiones. Und er musste dies sein, denn Luthers Biographie war nicht mehr nur narratives Gut, sondern es war eingebunden in die Ausgestaltung der maßgeblichen Vita einer Gründungsfigur. Dass man in diesem Kontext auch mit besonderem Interesse auf einen ersten symbolischen Akt der Reformation zu sprechen kam, dass man auch darüber redete, was an jenem Vorabend von Allerheiligen, den Luther selbst als Beginn der Ereignisse gefeiert hat, geschehen ist, sei nur am Rande vermerkt28. Dies ist Teil und Folge der allgemeinen Monumentalisierung Luthers, weder deren Zentrum noch gar ihr Anfang und Grund. Diesen selbst wird man wiederum nur im Rückgriff auf die eingangs angesprochene religionssoziologische Dimension nahe kommen: Als man begann, Luthers Worte in der einen oder anderen Weise zu sammeln: als Werkausgabe, als Protokoll der Übersetzungskommission oder eben als Tischrede, da war dies schon Folge und Ausdruck des Niedergangs seines unmittelbaren Charismas. Das Charisma der ersten Stunde, das religionssoziologisch nachvollziehbar, in institutionelle Erhaltungsformen übergegangen war, wurde nun auch selbst durch Konservierung auf Dauer gestellt. Und es ist offenkundig, dass Charisma und Konserve in Spannung zueinander stehen: Die Unmittelbarkeit des Charismas, das sich wenigstens mittelbar noch über die Flugschriften der frühen Jahre der Reformation verbreiten ließ, ist nur begrenzt in der Gestalt einer Niederschrift einzufangen. Das aufgeschriebene transportiert das Charisma nicht in reiner Form, sondern es stellt einen Erinnerungsmodus dar. Entsprechend wird man gut daran tun, sich in der Kirchengeschichte neben den älteren Modellen Max Webers auch der jüngeren – jetzt schon nicht mehr ganz jungen – Theorien der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung zu bedienen, und dies aus zwei Richtungen: einer konstruktiven und einer skeptischen. Mit der konstruktiven meine ich jene Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, die Jan und Aleida Assmann nachhaltig in die kulturwissenschaftliche Debatte eingebracht haben29. Mit ihr ist gemeint, dass es in kulturellen Formationsprozessen immer wieder zu einem Selektionsprozess kommt, in dem das, was im unmittelbaren Gedächtniszusammen27 S. SCHÄFER, ROLF, Zur Datierung von Luthers reformatorischer Erkenntnis, in: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, ed. v. Bernhard Lohse, Stuttgart 1988 (VIEG.B 25), 13 4–153. 28 S. hierzu jetzt Ott / Treu, Thesenanschlag (wie Anm. 1). 29 ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007; ASSMANN, ALEIDA, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003

Kapitel 28

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hang der Erzähltradition überliefert wurde, in eine Gedächtnisform transformiert werden muss, die aus dem unmittelbaren, individuell getragenen Gedächtnis ein gemeinsames und gemeinsam verbindliches macht. Diese Theorie passt so treffend auf die Vorgänge in Wittenberg in den vierziger und in Jena in den fünfziger Jahren, dass er erstaunt, wie wenig bislang auf sie zurückgegriffen wurde, um die Genese der Luther-Memoria beziehungsweise der Luther-Monumentalisierung zu erklären. Tatsächlich arbeiten Rörer und andere genau an diesem Vorgang: den unmittelbar erinnerten Luther zu einer kulturell erinnerbaren Größe zu formen. Das bedeutet nicht automatisch Verfälschung, aber Selektion und Formung. Und eben deswegen kann man das konstruktive Moment nicht ohne ein skeptisches stehen lassen: Johannes Fried hat in seiner großen Memorik unter dem Titel „Der Schleier der Erinnerung“ nachhaltig darauf aufmerksam gemacht, dass jedem Erinnerungsvorgang ein konstruktives Moment eignet, sowohl der unmittelbaren Erinnerung als auch erst recht jener Stiftung eines kulturellen Gedächtnisses 30. Wer als Historiker mehr will, als das kulturelle Gedächtnis zu stabilisieren, hat damit auch die Aufgabe, eben diese Konstruktionen nachzuzeichnen und in dekonstruktivistischer Perspektive aufzudecken. Erst dann wird aus Erinnerung und Gedächtnis historische Rekonstruktion.

30

FRIED, JOHANNES, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004.

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen 1 Wie reformatorisch war die Reformation? ZThK 99 (2002) 162–176. 2 Religiöse Transformation im alten Europa. Zum historischen Ort der Reformation. Christian Jaser u.a. (Hg.), Alteuropa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800). FS Heinz Schilling, Berlin 2012 (ZHF. Beih. 46) 125–137. 3 Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten. Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, Stuttgart / Leipzig 2008 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch–historische Klasse 140/4). 4 Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie. J. A. Aertsen u. A. Speer (Hg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert, Berlin / New York 2000 (MM 27), 283–294. 5 Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts. Volker Leppin/ Hans–Jochen Schiewer (Hg.), Meister Eckhart aus theologischer Sicht, Stuttgart 2007 (Meister–Eckhart–Jahrbuch. Bd. 1), 97–110. 6 Gotteslehre und Logik bei Wilhelm von Ockham. Dominik Perler u. Ulrich Rudolph (Hg.), Logik und Theologie. Das Organon im arabischen und im lateinischen Mittelalter, Leiden / Boston 2005 (STGMA 84), 429–445. 7 Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation. Mario Fischer / Margarethe Drewsen (Hg.), Die Gegenwart des Gegenwärtigen. FS Gerd Haeffner, Freiburg/ München 2006, 376–391. 8 Externe Personkonstitution bei Johannes Tauler. G. Mensching (Hg.), Selbstbewußtsein und Person im Mittelalter, Würzburg 2005 (Contradictio 6), 55–64. 11 Infragestellung der rituellen Vollzüge der Kirche: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter. ZKG 112 (2001) 189–204.

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Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

12 Die Konstantinische Schenkung als Mittel der Papstkritik in Spätmittelalter, Renaissance und Reformation. Michael Fiedrowicz / Gerhard Krieger/ Winfried Weber (Hg.), Konstantin der Große. Der Kaiser und die Christen – Die Christen und der Kaiser, Trier 2006 (³2007), 237–265. 13 „Cusa ist hie auch ein Lutheraner“? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues. „Cusa ist hie auch ein Lutheraner“? Theologie und Reform bei Nikolaus von Kues – eine evangelische Annäherung, Trier 2009 (Trierer Cusanus Lecture 2009). 14 „Ich hab all mein ding von Doctor Staupitz“. Johannes von Staupitz als Geistlicher Begleiter in Luthers reformatorischer Entwicklung. Dorothea Greiner u.a. (Hg.), Wenn die Seele zu atmen beginnt… Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive, Leipzig 2007, 60–80. 15 „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit”. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese. ARG 93 (2002) 7–25. 16 Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit. erweiterte Fassung von: „Solus Christus“. Von der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit zum reformatorischen Glauben, in: Thomas Fornet-Ponse (Hg.), Jesus Christus. Von alttestamentlichen Messiasvorstellungen bis zur literarischen Figur, Münster 2015 (JThF 25), 91–107. 17 Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther. Wilfried Härle / Reiner Preul (Hg.), Sünde, Leipzig 2008 (MJTh 20), 45–73. 19 Die Genese des reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation. Volker Leppin (Hg.), Reformatorische Theologie und Autoritäten, Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther, Tübingen 2015 (SMHR 85, im Druck). 20 Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther. Berndt Hamm / Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (SuR.NR 36), 165–185. 21 Disputationen als Medium der Theologie- und Kirchenreform in der Reformation. Zur Transformation eines akademischen Mediums. Gerlinde Huber–Rebenich (Hg.), Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation, Tübingen 2012 (SMHR 68), 115–125.

Verzeichnis der Erstveröffentlichungen

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22 Luthers Vaterunserauslegung von 1519. Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu reformatorischer Ulrike Hascher–Burger / August den Hollander / Wim Janse (Hg.), Between Lay Piety and Academic Theologiy. FS Christoph Burger, Leiden / Boston 2010 (Brill's Series in Church History 46), 175–189. 23 Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von „De servo arbitrio“ BThZ 22 (2005) 55–69. 24 Humanistische Gelehrsamkeit und Zukunftsansage – Philipp Melanchthon und das Chronicon Carionis. M. Bergdolt / W. Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, 131–142. 25 Luthers Antichristverständnis vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Konzeptionen. KuD 45 (1999) 48–63. 26 Zur Änderung einer semiotischen Beziehung im Zuge der Wittenberger Reformation. Evelin Wetter (Hg.) Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, Stuttgart 2008, 25–40. 28 Von charismatischer Leitung zur Institutionalisierung. Die Bedeutung der Monumentalisierung Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation. Stefan Michel / Christian Speer (Hg.), Georg Rörer (1492–1557). Der Chronist der Wittenberger Reformation, Leipzig 2012 (Leucorea–Studien 15), 275–285.

Den betreffenden Verlagen wird für ihre freundliche Abdruckgenehmigung recht herzlich gedankt. Die nicht aufgeführten Beiträge sind Erstveröffentlichungen.

Personenregister Dieses Verzeichnis umfasst sämtliche im Fließtext des Bandes genannten Personen; kursiv gesetzt sind die Namen, wenn es sich um im Fließtext erwähnte oder besprochene Verfasser von Sekundärliteratur (auch älterer) handelt. Abaelard, Petrus 421, 424 Abraham 342 Adam (Urvater) 272, 306, 314f, 328 Adam, Bernd 146 Adso von Montier-en-Der 476f, 479, 480, 484 Aegidius Romanus 192, 311 Agatha 512 Agnes 512 Agricola, Johann 430, 513 Albergati, Niccolo, Kardinal 45 Albrecht von Mainz, Erzbischof von Mainz 117 Alexander der Große 464 Alfonso V. von Neapel 203 Amberg, Martin von 154 Amsdorff, Nikolaus von 523 Andrea di Bussi, Giovanni 216 Angenendt, Arnold 113, 116 Anselm von Canterbury (343,) 421 Anselm von Laon 420f Aristoteles 78f, 83, 92, 98, 101, 104, 298, 303, 309, 311, 316, 330, 338, 352, 420 Arius 144 Arminius 206 Arnold, Gottfried 189 Assmann, Aleida 528 Assmann, Jan 528 Athanasius von Alexandrien 11, 400 Augustinus Triumphus 192 Aurelius Augustins 20, 35, 52–54, 129f, 163, 266, 291, 300, 320f, 323, 330f, 337, 340, 347, 351, 362, 375, 382,

383, 390, 392, 408, 412, 415, 420, 433, 473, 479, 517 Aureoli, Petrus 77 Aurifaber, Johannes 261 Averroes / Ibn Rushd 86, 306, 309 Baptist-Hlawatsch, Gabriele 142 Barnes, Robin 459 Basilius von Caesarea 381 Bayer, Oswald 430 Bebenburg, Lupold von 203 Beccarisi, Alessandra 91 Bell, Theo 346, 400 Bellinger, Gerhard 140 Benedikt II. PP 371 Berengar von Tours 162, 164, 166 Bernhard von Clairvaux 10, 37, 173, 178, 224f, 257, 300, 346–349, 352, 391, 400, 402, 405, 416, 424 Bernhardi, Bartholomäus aus Feldkirch 330, 422, 434 Biel, Gabriel 35, 142, 322–324, 326, 343, 361, 414, 440f, 450, 451, 458 Brinkmann, Bodo 284 Bizer, Ernst 271, 350, 412, 430, 435, 437, 439 Blandina 116, 119 Boccaccio, Giovanni 516 Boehner, Philotheus 99 Boethius 129 Bonaventura 316 Bonifaz VIII. PP 192, 194, 200 Bradwadine, Thomas 319, 322 Brady, Thomas 24

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Personenregister

Bräuer, Siegfried 511 Brecht, Martin 266f, 405 Brunhölzl, Franz 480 Brush, Jack E. 325 Bucer, Martin 300, 427 Bugenhagen, Johannes 497 Bünz, Enno 29 Burger, Christoph 141, 147, 429, 432 Burgos, Paulus von 464 Buridan, Johannes 159f, 167–170, 449 Burke, Peter, 36 Burleigh, Walter 99 Busch, Johannes 233 Caecilia 512 Cajetan, Thomas, Kardinal 254f, 368 Carion, Johannes 462f, 465, 467, 468 Cesena, Michael von 199 Chrispin, Gilbert 421 Chrysostomus 375, 392 Cochlaeus, Johannes 209, 507, 509f, 512–517 Colonna, Odo (s. unter Martin V. PP) Courtenay, William J. 421 Cowton, Robert 77, 101 Cranach, Lukas 117, 283, 497 Cranach, Lukas der jüngere 284 Cyprian von Karthago 116 d‘Ailly, Pierre 141 Damerau, Rudolf 160 Damiani, Petrus 478 Dante Alighieri 189, 193–198, 203, 204 Denifle, Heinrich Suso 32, 81, 507–509, 516f Dette, Gabriel 284 Dettloff, Werner 414 Dietrich von Freiberg 87, 89, 93 Dietrich, Veit 137, 241 (Ps.-)Dionysius Areopagita 403 Döllinge, Ignaz von 516 / 517 Duns Scotus 60, 69, 76f, 79, 89, 92–94, 101, 107, 165, 317f, 320f, 343, 345, 361, 450 Ebeling, Gerhard 327 Eber, Paul 24

Eck, Johannes 55, 209, 297f, 301, 355– 361, 363–372, 377–385, 387– 394, 396f, 425, 473 Eco, Umberto 476 Elias 124, 425, 464–468, 478, 485 Elisabeth von Thüringen 20, 119f Eltville, Jakob von 160 Emmerich, Georg 123 Emser, Hieronymus 512 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 253, 267, (406,) 444, 446, 448f, 458 Eugen IV. PP 44, 46 Euler, Walter Andreas 223 Eusebius (von Caesarea) 116 Eustachius 512 Eyb, Gabriel von, Bischof von Eichstätt 357 Faber Stapulensis 288f, 455 Fabri, Johannes 419 Ficino, Marsilio 461 Flacius Illyricus, Matthias 213f Flasch, Kurt 70, 87f, 223, 401f Franz von Assisi 119f, 123 Fried, Johannes 529 Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen 117, 254, 282 Friedrich II., Kaiser 191f Froschauer, Christoph 7, 60 Furhmann, Horst 190 Gelasius I. PP 203 Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen 365 Gerberga von Sachsen 477, 480 Germanus, Johannes 244 Gerson, Johannes / Jean 141f, 147–149, 151, 155–157, 170 Geyer, Bernhard 81f Goldschmied, Christian 407 Gonsalvus 87, 89–93 Grabmann, Martin 81 Grane, Leif 35, 276, 329, 451 Gratianus 203, 205 Gregor I. der Große PP 367f, 370, 466, 484 Gregor IX. PP 374 Gregor von Nazianz 381 Grevenstein, Johann 404

Personenregister Grisar, Hartmann 271, 507–509, 516f Grosse, Sven 147 Grundmann, Herbert 424 Grunenberg, Johan 333 Günther, Franz aus Nordhausen 422 Haas, Alois Maria 294 Hägglund, Bengt 400 Hamm, Berndt 14, 19, 22–25, 33f, 37, 59, 141, 145, 170, 214, 280, 314, 324, 333, 413, 417, 431, 451, 503 Harclay, Heinrich 167 Härle, Wilfried 13 Harms, Wolfgang 509 Harnack, Adolf von 399 Hascher-Burger, Ulrike 38 Hasenberg, Johann 512 Haubst, Rudolf 223, 454 Heinrich VII, Kaiser 194, 197 Heinrich VIII., König von England 511 Heinrich von Gent 73–76, 78f, 317 Helmstadt, Raban von 229 Hendrix, Scott 24 Henoch 478, 485 Herkules 467 Hessen, Heinrich von 160 Hieronymus 375, 390–392 Hieronymus von Croaria 384 Hilten, Johannes 465,467 Hippolyt von Rom 476 Hirsch, Emanuel 435 Hissette, Roland 70 Hofmann, Conrad 426 Holl, Karl 3f, 6, 8f, 18, 52 Hus, Jan / Johannes 50, 162, 370f, 380, 382f, 397, 425, 489, 513 Hutten, Ulrich von 206f, 209, 367 Imhoff, Hans 114 Irenäus von Lyon 477 Iserloh, Erwin 32, 117, 211, 225, 230, 238, 400, 509 Jaspers, Karl 238 Jeanne d‘ Arc / Johanna von Orleans 45 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg 463 Joest, Wilfried 127

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Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen 522 Johann Friedrich, Kurfürst (dann Herzog) von Sachsen 246, 522f Johannes der Seher (Offb 1,9!) 123 Johannes XXII. PP 197– 199, 413 Junghans, Helmar 54, 189 Karl der Große 138, 143, 202 Karl V, Kaiser 65 Karl VII, König von Frankreich 45 Karl von Valois 194 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 312, 329, 358f, 363–365, 378f, 423, 425, 427, 487, 492f, 520f Katharina von Bora (Lutherin) 258, 511–513 Kaufmann, Thomas 2, 19– 21, 280 Kempen, Thomas von 174, 280f Kleingarn, Christian 233 Kolde, Dietrich 154 Konrad IV., Kaiser 191 Konradin, Kaiser 191 Konstantin I. der Große 189–191, 195, 197, 205, 370 Konstantin IV. 371 Köpf, Ulrich, 71, 399 Kraft, Adam 114 Kraiburg, Bernhard von 216 Kreuzer, Heinrich 59 Krieger, Gerhard 167 Kristeller, Paul Oskar 36 Kruse, Jens-Martin 329f, 434 Kymeus, Johannes 214, 225 Lambert, Franz von Avignon 427 Lang, Johannes 248, 290, 330, 362, 420, 422f, 433 Lang, Matthäus Kardinal 363 Langemantel, Christoph 255 Langenstein, Heinrich von 159–166, 168f Langer, Otto 176 Laube, Adolf 509 Lemnius, Simon 513 Lessing, Gotthold Ephraim 1 Libera, Alain de 89 Linneus 1 Longprè, Ephrem 81

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Personenregister

Lortz, Joseph 21f, 32, 117 Luder, Margarethe 527 Ludwig IV. der Bayer, Kaiser 196–199, 317 Ludwig IV. der Überseeische, König von Frankreich 477 Ludwig IV., Landgraf von Thüringen 119 Ludwig IX., König von Frankreich 192 Ludwig, Heinrich 233 Luther, Elisabeth 257 Luther, Hans 241 Luther, Martin 1, 4–14, 19f, 26–29, 32f, 35, 45, 51–65, 109, 115–117, 121, 124, 127f, 137f, 142, 150, 155–157, 206–209, 211–213, 215, 218–222, 224–228, 233, 237f, 241–259, 261– 277, 279, 282, 284– 298, 300f, 303, 312, 315, 322–330, 333–353, 355– 362, 364–386, 378, 388–397, 399– 417, 420, 422–425, 427, 429–441, 443–458, 459f, 465–468, 471–476, 478–486, 487–502, 505, 507–517, 519–529 Lutterell, Johannes 167 Luzifer 511 Maatsura, Jun 336 MacCulloch, Diarmaid 24 Manderscheid, Ulrich von 201, 229, 237f Mansfeld, Agnes Gräfin von 286 Marcellus I. PP 379 Maria Magdalena 120 Maria, Mutter des Herrn 129, 285, 313, 317f, 427 Markschies, Christoph 320 Marsilius von Padua 193, 196–201, 203 Martin V. PP 44 Maurer, Wilhelm 399, 461 Mauritius 117 Mechthild von Magdeburg 114f Meiners, Karen 113 Meister Eckhart 20, 35, 37, 40, 81–87, 90–94, 120, 136, 173, 175–177, 181f, 184, 186, 212, 220, 311–316, 325, 329, 401f, 413

Melanchthon, Philipp 55, 124, 241, 396f, 431f, 459–469, 492, 497, 499, 513, 524, 527 Melber, Johannes 139 Meuthen, Erich 230, 232 Minerva 17 Moeller, Bernd 4f, 18, 28, 33, 49, 61, 117, 214 Mojsisch, Burkhard 87 Moraw, Peter 46f, 192, 311 Moritz, Herzog (später Kurfürst) von Sachsen 66 Mörke, Olaf 21 Mose 124, 146 Natin, Johannes 244, 402 Nikolaus V. PP 230, 236 Nikolaus von Dinkelsbühl 150–153, 155 Nikolaus von Kues / Cusanus / der Cusaner 141, 195, 201–205, 210– 240, 443, 452–455, 457 Nikolaus von Lyra 336f, 343 Norbert von Xanten 117 Nowak, Kurt 189 Oberman, Heiko Augustinus 18f, 127, 214, 266, 363 / 364, 400, 426, 451 Ockham, Wilhelm von / William 40, 76, 78f, 81, 94–108, 123f, 136, 139, 159, 162f, 165–169, 198–200, 203, 228, 317–322, 343, 413f, 424, 427, 440, 449–451 Oldecop, Johann 333 Olivi, Petrus 167 Ortiz de Vilhegas, Diogo 140 Osiander, Andreas 61 Ostermairs, Wolfgang 243 Österreich, Friedrich von 197 Paltz, Johannes von 237, 282–84, 293 Panormitanus / Nikolaus von Tudeschis, Erzbischof von Palermo 385f, 388, 389, 396 Paul II. PP 233 Paulus 3, 52, 54, 163, 215f, 266, 300, 330, 333, 343, 347, 349, 351f, 373, 391, 402, 412, 414 Pesch, Otto Hermann 222, 304, 327, 407, 431

Personenregister Peters, Albrecht 11, 433 Petrus 104, 106, 368, 375f, 379, 381, 391f, 426, 482 Petrus Lombardus 106, 163, 244, 273, 308, 324, 330, 336–338, 352 Philipp IV., König von Frankreich 192 Philipp, Landgraf von Hessen 63, 522 Photius 144 Pico della Mirandola, Giovanni 461 Platina, Bartholomeo 371, 382 Platon 20, 230, 461 Plotin 131 Porete, Margareta 172, 175 Pottenstein, Ulrich von 142 Preuß, Hans 472, 484 Prierias, Silvester Mazzolini 45, 64, 385 Proklos 132 Proles, Andreas 243 Ps.-Albertus 295 Purvey, Johannes 472 Quero-Sanchez, Andrés 87 Quidort, Johannes 193 Reinhardt, Klaus 223 Reinhuber, Thomas 446 Reuchlin, Johannes 460–462, 464 Rimini, Gregor von 222, 319–324, 326 Ritschl, Albrecht, 399 Rörer, Georg 402, 524–526, 529 Rudolf I., Kaiser 191 Rufinus 143 Ruh, Kurt 402 Ruusbroec, Jan 38 Sabellius 144 Sachsen, Jordan von 350 Sachsen, Ludolf von 40 Sandschneider, Eberhard 25 Schäfer, Ernst 367 Schäfer, Rudolf 528 Schenk von Erbach, Dietrich, Erzbischof von Mainz 235 Schilling, Heinz 2, 17, 19, 21, 26, 67 Schmidt-Lauber, Gabriele 334, 341 Schneider-Lastin, Wolfram 286 Schneider-Ludorff, Gury 63 Schulze, Manfred 47, 236 Scribner, Robert W. 41

539

Seebaß, Gottfried 17 Seeberg, Erich 399 Seeberg, Reinhold 263 Senger, Hans Gerhard 229 Serene, Eileen 69 Setz, Wolfram 205 Seuse, Heinrich 174–176, 178, 183, 186, 517 Siger von Brabant 101, 316 Sigismund von Luxemburg, Kaiser 201 Sigmund von Tirol 237 Silvester I. PP 190, 203, 367, 369 Sixtus IV. PP 39 Sokrates 100 Sölle, Dorothee 171 Spalatin, Georg 207, 267, 273, 406, 473 Stagel, Elsbeth 174 Staupitz, Johannes / Johann von 9f, 53f, 221f, 241–247, 249–259, 261, 263, 265–267, 271, 276f, 279, 282, 285– 287, 291, 294f, 297, 300, 329, 335, 340, 400, 403–407, 409, 415, 431, 443, 455–458, 508 Stephan von Landskron 41, 152f, 155, 157, 282 Stöffler, Johannes 463 Strauß, David Friedrich 212 Sturlese, Loris 312 Suchenschatz, Michael 161 Surmann, Ulrike 114 Sylvius, Petrus 511 Tacitus,. Publius Cornelius 206 Talheim, Hermann 235 Tauler, Johannes 28, 37–39, 53, 56f, 64, 120f, 127–136, 155, 157, 173, 176– 184, 186f, 220, 228, 261, 267–270, 272–274, 276f, 297, 312f, 325, 329, 348f, 352, 401, 405–407, 410f, 413, 416f, 437, 439 Tempier, Etienne, Bischof von Paris 70, 73, 92, 316 Thekla 512 Thomas von Aquin 34, 71–75, 77, 82, 93, 111, 142–147, 150–153, 217, 219, 222, 226, 303–311, 314f, 319– 321, 330, 337, 345 Thurner, Martin 453 Torquemada, Juan de 44f

540

Personenregister

Trapp, Damasus 160 Troeltsch, Ernst 3, 171f, 185 Ullmann, Carl Christian 185, 212–214 Ulmer, Bernd 266 Valla, Lorenzo 195, 203–206, 208–210, 367, 462 van Dijk, Rudolf 281 Vignaux, Paul 92 Vilhegas, Diogo Ortiz de (s. unter Ortiz de Vilhegas, Diogo) Vogelsang, Erich 399 Vogelsang, Johannes 513 Volkmar, Christoph 29 Wartenberg, Günter 58, 66 Wéber, Edouard 89 Weber, Max 171, 520, 528 Weidenhiller, Egino 140 Weller, Hieronymus 241f Wenck von Herrenberg, Johannes 217

Wendebourg, Dorothea 14 Wessel, Johann 212 Wiclif / Wyclif, John / Johannes 50, 162f, 380, 424, 481–484, 489 Wilhelm II, Herzog von Sachsen 47 Wilhelm III., Herzog von Sachsen 236 Wilhelm von Ware 76, 77, 79 Winterhager, Wilhelm-Ernst 403 Wolferinus, Simon 499 Wolgast, Eike 519, 524 Zachäus 372f Zink, Jörg 171 Zur Mühlen, Karlheinz 327, 417 Zutphen, Zerbold von 40 Zwilling, Gabriel 487, 492f, 495 Zwingli, Huldrych 5–8, 59, 60–62, 65, 109, 115, 419f, 425–427, 467

Stellenregister Biblische Texte Altes Testament Gen 49,17 Hi 19,21 (Vg.) Ps 1 Ps 6 Ps 17,12 Ps 31 Ps 51 (50) Ps 109 (110) Ps 111 1 Sam 1,26 Jes 9 Jes 45 Jes 45,15 Jes 56,7 Jer 8,16 Ez 18,23 Ez 33,11 Ez 38f Joel 3,1 Dan Dan 7,25 Dan 12,7 Sir 24,14

477 361 288 289, 290 453 290 325, 327 292 496 258 128 457 443 501 477 444 444 465 438 477 479 479 83, 84

Neues Testament Mt 10,9 Mt 16 Mt 16,13 Mt 16,16 Mt 16,18 Mt 16,19 Mt 18,18 Mt 21,13 Mt 28,20 Mt 287,19

195 204, 393 376 376 368, 374, 375, 376, 392 376 376 501 163 376

Lk 3,8 Lk 5 Lk 10,38-42 Lk 15,8-10 Lk 17,20 Lk 19,8ff Joh 1, 1-18 Joh 1,1 Joh 1,3 Joh 4,24 Joh 5,1ff Joh 5,19 Joh 8,12 Joh 14,6 Joh 16,23 Joh 21 Joh 21,17 Röm 1 Röm 1,3 Röm 1,17 Röm 1,20 Röm 3 Röm 3,4 Röm 3,22 Röm 3,25 Röm 4,3 Röm 4,7 Röm 4,10 Röm 5,5 Röm 5,20 Röm 7 Röm 7,7 Röm 7,23 Röm 8,1 Röm 8,5 Röm 8,16 Röm 8,28 Röm 10,17

372 270 120 348 368 372 83 83, 85 84 439 410, 411, 437 390 280 83, 84, 281 150 376 374, 392, 393 271 289 52, 215, 252, 275, 335, 336, 337, 338 215, 216, 217, 224 340, 341 373 337 342 343 327 342 321 408 436, 438 408 323 321 348 346, 348 341 439

542

Stellenregister



1 Kor 1 Kor 1,12f 1 Kor 3,5 1 Kor 3,16f 1 Kor 11 1 Kor 15,24f 2 Kor 6,16 2 Kor 10,5 2 Kor 12,2 Gal 1,17f Gal 2 Gal 2,1 Gal 2,20

383 391 390, 391 474 489 390 474 163 402 373 482 373 300

2 Thess 2 Thess 2,4 2 Thess 2,8 2 Thess 2,9 1 Petr 2,9 1 Petr 3,15 1 Joh 2,18 Apk Apk 8,4-8 Apk 11,2f Apk 11,3ff Apk 17

477 447, 473, 474, 478 479 478 121 164 479 477 477 479 478 478

Luthers Werke WA 1 31 32f 34 85 94 98 99 112 113 114 145–151 146 147 148 149 152f 153 159 201 224 224–228 233 234 235 236 272 278 279 280 281 281–314 282

287 359 292 271 273, 372 273f, 373 274, 290, 362 272, 328 272, 328 270 54, 422 330, 433 330 330 290 290 328, 349, 407 290 271 330, 362 422 262, 297, 423 367 298, 359 359 271 357 358 358 298, 357, 359f 357 297, 357f, 361

283 287 293 296 298 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 312 335 337 338 339 354 355f 357 362 364 378f 379 398–521 522 525f 528 529f

358 358 358 358 361 298 364 298 298 358f, 364 297f , 359, 360 358 358, 360, 362 358 358 358 291 291 291 291f 298f, 301 300 410 299 434 53, 407 208 429 406 53, 153, 253, 264, 266, 275, 405 358 360f

543

Stellenregister

 530 531 540 544 571 582 612 614 618 621 625 656 690 693 694

267 275 410 275 367 360 269 299 369 369 362 385 292 292 292

WA 2 13f 18 19f 20 25 36 37 59 59–65 74f 80–130 81 83 93 95 97 98 99 100 105 108 112 131f 131–135 136 137 138 139 141 145 159 161

368 368 368f 367f 254 368 373 156 156 429 372 439 142, 218 436 438 440 440 435, 438 434 436, 438 438 438f 293 293 293 294 294 295 296 296 369, 371 370

185 186 188 188f 189 189f 190 191 194 195 200 202 246–249 397 429 443–450 429f 476 681 689 742 743 749 751 754

374 374 375 375 375f 376 374 376 376 376 372 376 374 369 474 374 432, 473 374 294 287, 294 489 489 489 489 490

WA 3 124 461–471

453 275

WA 4 345 466–526 665

369 288 409

WA 5 163

453

WA 6 11f. 11 20 419 430 433 408 364 365 418–427

429 434 429 59 58 59 28; 56, 121, 227 491 491 58

544

Stellenregister



433–435 434–435 429–430 453 453 457–462 521 525 537

59 208 301, 397 473 474 58 492 492 474

WA 7 25 136 161 162 204 204–205 204–229 207 212 502 503f 714,1f

145, 415 483 523 523 157 157 138, 156 157 157 408 408 475

WA 8 411–476

495

WA 9 63 75 98 100 101 102 104 124–159 133 162 207 208 207–208 209–210 677 678 770 770–780 775 777

403 324 268 268 348 270, 289, 329, 349, 434 155, 269, 410 429 372 300, 427 363 363, 365f 364 366 481 483 362 358 361 359

WA 10/I-1 39 455

495 409, 437

WA 10/II 33 122

497 475

WA 10/III 14 357

494 404

WA 11 117 250 448f

402 408 497

WA 12 215 338

495 291

WA 15 339f 489

521 246

WA 19 74 75 80

496 138, 496 497

WA 23 393 486

11 138

WA 26 124 535

472 512

WA 30/I 27

137

WA 30/II 126f 162 682f

474 474 474

WA 30/III 530

404

545

Stellenregister

 WA 31/I 406

496

WA 36 9

408

WA 37 148

246

WA 38 197–204 220 251

514 474 474

WA 39/I 19f 50 185 361 456 506

475 409 484 408 410 11

WA 39/II 227

247

WA 40/I 131 207 285 368 619

254 408 11 409 474f

WA 40/II 411f

138

WA 47 99 109f 441 590

404 404 246 404

WA 48 63f

221

WA 49 588 590f 591f

502 502 502

WA 50 66 69–89 88 70 73 215f 217 253 657f

209 208 209 209 209 388 474 388 524

WA 51 543f

254

WA 53 154

484

WA 54 85 162–165 185f 186 229 426

335 498 215, 252 264, 335 484 498

WA 55/I L 6 38 278f

288 288f 286 292

404, 411

WA 40/III 657

403

WA 41 197–201

404

WA 42 389

474

WA 43 71 461

WA 44 712

451 221, 250

546

Stellenregister



WA 55/II 28 288 289 291

325 325, 326 325 326

WA 56 XII XII-XV 3 5 10 36 37 40 41 42 43 45 46 48 50 56 74 79 83 85 90 91 99 100 103 113 114 133 171f 172 173 247 252f 257 258 259 260 263 265 264 266 269

333 334 289 289 340, 346 350 342 342 341f, 343f, 352 342 352 352 352 341 341 341 348 348 341 341 341 341 342 342f 352 341 341 337 338 338 339 290 290 340, 351 351f 351f 344 352 342 350, 352 352, 409 327, 344, 436

273 274 276 277 279 280 287 290 291 298 304 306 309 313 378 365 370 381 382 383 385f 387 388 400 414 416

328 328 348 327f, 349 345 345 344 345 346 339 327 349 341 328 268 348 347 341 341 341 341 341 341 267, 406 289 349

WA 57 40 42 48 73 94 133 164 189f 195

343 343 341 348 458 338 344 347 341

WA 59 433 434 435 437 439 443 437 438 441f. 443

378 378f 389f 301, 388 379, 388 380 390 391 390f 389

547

Stellenregister

 445 448 450 455 458 459 459f 461 462 463 465 466 466f 467 468 470 472 473 478 479 480 485 486 486f 489 490 491 494 497 497f 498 500 506 508 509 511 512 513 520 737

390f 380 390 391 392 392 392 380f 379, 381, 393 388, 392 393 380f, 382, 395 389 382 380f 392f 384 385, 393 382f 382f, 384, 386 386 379 392 393 382–385 387 387 392–394 393 394 394 386 394 387 389, 394 387 394 386 394 255

WA.TR 1 40 (Nr. 104) 30f (Nr. 81) 35 (Nr. 94) 59 (Nr. 137) 80 (Nr. 173) 96 (Nr. 225) 139 (Nr. 344)

155 433 245 250, 403 254 255f 498

177 (Nr. 409) 200f (Nr. 461) 240 (Nr. 518) 245 (Nr. 526) 269 (Nr. 582) 294 (Nr. 623) 439 (Nr. 880) 442 (Nr. 885) 512 (Nr. 1017)

255f 246 246f 249, 251, 276, 329, 335 246 138 483 242, 256 250

WA.TR 2 13 (Nr. 1263) 64f (Nr. 1351) 112 (Nr. 1490) 201 (Nr. 1745) 227 (Nr. 1820) 379 (Nr.2255a) 417 (Nr. 2318a) 516 (Nr. 2544a) 582f (Nr. 2654) 666 (Nr. 2797a)

249 155 250, 279, 340 498 250, 254 242, 245 250, 404 414 250 254

WA.TR 3 564 (Nr. 3722)

142

WA.TR 4 13 (Nr. 3924) 108 223 (Nr. 4323)

242 476 324

WA.TR 5 55 (Nr. 5314) 65 (Nr. 6422) 75 (Nr. 5346) 99 (Nr.5374) 265f (Nr. 5589) 293 (Nr. 5658a) 293–296 (Nr. 5658a) 294 (Nr. 5658a) 295 (Nr. 5658a) 417 (Nr. 5989) 440 (Nr. 6017) 439 (Nr. 6017) 621 (Nr. 6360) 653 (Nr. 6419)

499 242 243 243, 254 498 455 221 455f 455 246 246 404 498 414

548

Stellenregister



WA.TR 6 107 (Nr. 6669)

247, 508

WA.B 1 4–13 (Nr. 28) 17 (Nr. 5) 25 (Nr. 8) 30 (Nr. 10) 35f (Nr. 11) 53f (Nr. 21) 56 (Nr. 21,8) 61 (Nr. 23) 73 (Nr. 28,27f) 79 (Nr. 30) 99 (Nr. 41) 110–112 (Nr. 48) 152 (Nr. 62) 160 (Nr. 66) 161 (Nr. 67) 177 (Nr. 76) 178 (Nr. 77) 193 (Nr. 89) 194 (Nr. 89) 220 (Nr. 103) 231 (Nr. 109) 241f (Nr. 110). 267 (Nr. 119) 270 (Nr. 121) 314 (Nr. 140) 316 (Nr. 142) 318 (Nr. 142) 321 (Nr. 142) 344 (Nr. 152) 348 (Nr. 154) 353f (Nr. 157) 359 (Nr. 161) 368 (Nr. 167) 381 (Nr. 171) 419 (Nr. 186) 422 (Nr. 187) 429 (Nr. 187) 460 (Nr. 192) 460 (Nr. 192) 466 (Nr. 192) 467 (Nr. 192) 468 (Nr. 192) 471 (Nr. 192) 514 (Nr. 202) 515 (Nr. 202)

248 243, 324 244 244f 275 334 334 261 334 406, 267f, 273 330, 420, 433 423 357 246, 261, 407 261 357 362 246 257 255 365 255 257 397, 432 365 366 366 365 257 372 369 397, 473 370 287 364 386 366 358, 365 378, 382 358 395 389, 395 425 257 257

WA.B 2 48f (Nr. 257) 245–247 (Nr. 366) 245 (Nr. 366). 263 (Nr. 376) 566–568 (Nr. 512) 628f (Nr. 555)

207, 367, 473 251 255, 258 258 258 497

WA.B 3 155–157 (Nr. 659) 258f 264 (Nr. 726) 259 WA.B 4 312 (Nr. 1191) 249 319 (Nr. 1197) 249 511 (Nr. 1303) 258 517–531 (Nr. 1305) 512 541 (Nr. 1310) 258 WA.B 5 302 (Nr. 1560) 138 319 (Nr. 1568) 241 354 (Nr. 1586) 241 374 (Nr. 1593) 241, 249 382 (Nr. 1597) 241 405 (Nr. 1609) 242 518 (Nr. 1670) 242 519 (Nr. 1670) 242 518–520 (Nr. 1670) 242 WA.B 9 133 (Nr. 3493) 419f (Nr. 3622) 627 (Nr.3716).

404 498 249, 251

WA.B 10 340 (Nr. 3888) 348f (Nr. 3894) 639 (Nr. 4021)

499 499 247

WA.B 11 67 (Nr. 4088)

246

WA.DB 11/II 65–69 113

475 485

Ortsregister Im Fußnotenapparat sowie als Bestandteil von Personennamen auftauchende Orte sind nicht berücksichtigt. In Klammern stehende Seitenzahlen verweisen auf indirektes Vorkommen des Ortes, bei Leipzig etwa auf die Leipziger Disputation. Achen 234 Alverna 123 Antiochien 379 Arabien 373 Assisi 122 Augsburg (50,) 67, (124,) 241, (254,) 255f, 258, (365,)367f, (368,) (430,) (525) Avignon 43, 46, 198f, 228, 413f, 427

Europa 17, 26, 43, 50

Babylon 478 Basel (44,) (45,) 46, (50,) 204, 229, (233) Bayern 231 Belgien 230 Berlin 463 Bietigheim 463 Brixen 231, 237 Byzanz 190 Bernkastel-Kues 211, 235 Böhmen 45, 50, 124, 161, 393 Bourges 45f Brandenburg, Kurfürstentum 48

Hagenau 384 Halle 117 Hartung (231) Heidelberg 36, (212,) (217,) (213f,) (298,) (300,) 301, (410,) (427,) 430, (431,) (434,) (460) Hessen, Landgrafschaft 47, 63, 65f, 522 Hildesheim 141, 234 Homberg (63)

Cambridge 69 Campaldino 194 (Veste) Coburg 124, 241

Jena 49, 245, 521, 524f, (526) Jerusalem 123, 373, 379, 478

Deutschland 47, 206f, 231 Eichstätt (357) Eisleben 403f, 499 England 99, 199, 424 Erfurt 231, 233, 242f, 245, 248, 323, (343,) 365, 414

Ferrara 46 Florenz 36, 195, 461 Frankreich 45–48, 50, 192f Frankfurt (176,) 198, 234 Gernrode 123 Görlitz 123

Ingolstadt 55, (357,) (364,) (366,) (389f,) (395,) (425) Italien 122, 190, 198, 204

Kassel 48 Köln 234, (235,) 283, 363f, 424 Konstantinopel 228 Konstanz 43, 50, 370, 380, (383), 384, 397, 419, 425 Langenstein 159 Leipzig (55,) (62,) 282, 286, (301,) (355,) (363,) 365f, (367,) (369,)

550

Ortsregister

(372,) (374,) (376–380,) (386,) (388f,) 396, (397,) (424f,) 426, (427,) 430, (431,) (473) Leuenberg (109) London 98, (102) Lyon 116, 311 Magdeburg 117, (231) Mansfeld 51, 286 Manuta 208 Marburg 5, 8, 48, 119, 159 Meißen 48, 66, 245 Merseburg 48 Mitteldeutschland (8,) 231 Montier-en-Der 476 Moselregion 202, 231 Mühldorf 198 München 123, (160,) 197, 199 Naumburg 48, 233 Neapel 203 Neuenburg 119 Niederlande 212, 230 Norddeutschland 230 Nürnberg 49 ,61, 114, 198, 232, 244, 285, 503 Oberrhein 38, 127 Orlamünde 521 Österreich 231 Osteuropa 25 Oxford 95, 98, (102,) 424 Palermo 385 Paris 35, 69, (81–83,) (85–89), 92f, (141,) (147,) 159, (161,) (163,) (170,) 192, (306,) 316, (363) Passau (66,) (525) Patmos 123 Pfalzl 237 Pforzheim 460 Pisa 43, 199 Polen 67 Prag (50) Regensburg (498,) (523) Rheinland 234 Rom 14, 43, 46f, 58f, 63, 190, 206, 208, 216, 230, 231, 239, 244, 254, 368, 374, 379f, (381,) 403, 433, 471, 484

(Heiliges) Römisches Reich (deutscher Nation) 45, 47, 50, 61, 65, 67, 191 Sachsen-Anhalt 18 Sachsen – (ernestinisch, bis 1548 Kurfürstentum) 47f, 61, 63–66, 122, 525 – (albertinisch, bis 1548 Herzogtum) 47f, 66, 511, 525 Salzburg 216, 257, 285 Sens 424 Siebenbürgen 67 Sinai 124 Sizilien 192 Soissons 424 Spanien 24, 64 Speyer 63, (65) Stotternheim 456 Straßburg 176, 485 Sulz 178 Thüringen 171, 236f, 245 Torgau (487,) (500f,) (504) Trient 32, 67, 239, 516 Trier (229,) 234f, 237, 239 Tübingen 286, 322, 414, 460, (463) Venedig 122 Vienne 121 Wartburg 124, 492, 495 Westminster 421 Wien (47,) (149,) (152,) 159–161, (170) Wittenberg 4, 7, 14, 24, 32, (36,) 59, 61, (65,) (109,) (115), 117, (122,) 241, 243, 245, 248, 257, (273,) (283,) 284, (285,) (288,) (290,) 293, (322f,) 329, (333,) (356,) 358, (362,) (364,) (365f,) (390,) (392,) (396f,) 403, 405, (407,) (420,) 422, (423f,) (425,) 427, (433,) (459f,) 461f, (468,) (487,) (492–494,) 495f, (497,) (499f,) (511,) (519f,) (523f,) 525, 529 Worms (62f,) (65,) (492,) (514,) (520) Württemberg 66 Zürich 5, 6, 7, 59–61, 420, (425,) 426– 42

Sachregister Nicht aufgenommen sind Stellen, an denen das betreffende Lemma Teil einer Literaturangabe ist. Bei adjektivischem oder sonst vom Substantiv abweichendem Vorkommen ist die Stelle in Klammern gesetzt. Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf die vorstehenden kursiv gesetzten Lemmata. Abendmahl, Eucharistie 8, 11, 50, 56, 93, 109, 111, 113–115, 125, 153, 161, 162, 163, 165, 169, 175, 177, 178, 180, 182f, (183,) 184, 280, 311, 313, (487, 488) 489, 491, 497–499, 501 – A./E. diskussion, -streit, -frage 62, 105, 161f – A.elemente 104, 112, 115, 120, 166, 168, 250, 503 – A.-feier, -geschehen, -vollzug, -praxis 115f, 163, 166, 169, 179, 428, 490, 497, 499, 501, 503f – A.frömmigkeit ĺ Frömmigkeit – A.lehre, -theologie, -verständnis 5, 11, 104–106, 109f, 162, 163, 166, 174f, 487–489, 491, 497 – A.präsenz 109, 112, 116, 161, 163, 165, 498 Ablass, indulgentia 9, 27, 39, 53f, 117, (118,) 122, (123,) 124, 231f, 234, (236,) 237, 239, 261, (262,) (265,) 274f, 276f, 297f, 347, (373,) 460 – A.streit 291, 297, 359 – A.thesen 27, 248, 252, 261, 263, 275, 277, 297f, 356–359, 367, 407, 410, 423f, 430 Absolution ĺ Buße Adel, Adelige 50, 59, 63, (227,) (237) – An den christlichen Adel deutscher Nation, Adelsschrift 28, 56, 58, 63f, 208, 227, 473 Akademie ĺ Universität Aktualisierung 116, 503

Akzeptanz 48, 313, 468, 520 Ambivalenz 173, 180, 186, 256, 339 Amt 44, 49, (57,) 122, 175, 184, (186, 194,) 195, (199,) (204, 236, 243,) 244, 248, 257, (394, 368, 377, 388, 390,) 394, (482, 523) – A.träger 57, 122, 205, 227, (481f) Andacht 28, (57, 121, 183,) 228, 494, 504 Anthropologie 82, 92, 127f, 131f, 134f, 304, 307, 309, 318, 348 Antike 116, (118, 217, 312, 445, 453f, 526) Antiklerikalismus 14, 42f, 417 Antijudaismus, Judenfeindlichkeit ĺ Juden Apologie 241, 465 Apostolikum ĺ Bekenntnis Arianer ĺ Christologie Aristotelisierung 35, 303 – Aristotelismus 54f, 70, 74, 79, 92, 306, 316 Astronomie 463 Auferstehung Christi ĺ Christus Ausgaben ĺ Druckausgaben Autorität 65, (78,) 85, 105, 151, 162, 164, (203,) 234, 257, 322, 330, 356, (359f,) 360–362, (365, 368, 371,) 372, 376, 378f, 383–390, 392f, 395– 397, 420f, (467,) 473f, (492,) 519, 525, (528) Bann 3, (194,) 258 – Kirchenb. 57, (62, 257, 520)

552

Sachregister

Bauern 38, 514 – B.krieg ĺ Krieg Beichte ĺ Buße Bekehrung, conversio 10, 189, 266, 402, 528, – B.erlebnis 9, 266, Bekenntnis 1, 11, 65, 101, 105, 139, 162–164, 169, 181, (184,) 194, 221, (239,) 259, (274,) 319, (325,) 433, 456, (476,) 497 – Confessio Augustana 65, 241, 465 – Confessio Tetrapolitana, Vierstädtebekenntnis (65) – Glaubensb. ĺ Glaube Berufung 129, 132, 198, 213, 225, 234, 283, 297, 321, 337, 361, 396 Bewegung, reformatorische ĺ Reformation Beten ĺ Gebet Bibel 13, 53, 56, (83, 85,) 114f, 209, (215,) 243, 264, 273, 276, (280, 288, 290,) 338, 360–362, 373, (374–376, 383,) 389, (391f,) 395, 420, (421,) 433, (444,) 474, 512 – B.humanismus ĺ Humanismus – Schriftprinzip, sola scriptura ĺ Exklusivpartikel – B.übersetzung 33,41, 345, (524f) 526 Bilder 2, 4f, 8–11, (14,) 17f, (19,) 21– 24, (26,) 31f, (81, 92–94, 108,) 118, (120,) 121, (122, 130,) 132, 134, 160, 192, 212, (213,) 215, 217, (219,) 227, (242,) 247, 256f, (263f, 269, 283,) 284, (287, 291,) 293f, (295,) 312f, (315, 328,) 381, 404, (412,) 415, 421, (426,) 437, (444, 447,) 457, 459, (461,) 472, 476f, 493–495, (500,) 507, 510, 515, (523,) 527 Biographie 59, 97, 124, 128, 138, (174,) 194, 215, 242, 251, 266, 373, 394, 431, 454, 456, 477, 480, (509,) 517, 523, 527f Bischof 28, (29,) 41, (48f,) 56–59, 61, 117, 121, 138, 227, 235, 238, 357, 379, 380, 388, 416, 419, 423, 426, (493) – Hierarchie 59, 61, 133, 180, 183f, 186, 196, 391, 403, 423

Brief(e) ĺ Korrespondenz Buch 4, (34,) 96, 104f, 114f, (117,) 139, 151, 153, 160f, 170, 171, 174f, 194, 201, 207, 212, 218, 225, 243, 253, 261, 272, (280,) 282–284, 291, 311, 317, 323, (324,) 328, 364, 400, 407, 414, (439, 468, 485, 493, 521, 524f,) – B.druck 521 – Offizin 7, 60, 288 – Widmungsbrief ĺ Korrespondenz – Zensurierung 521 Bund (66,) – B.tag 524 – Schmalkaldischer B. 66, 208 Bürgerkrieg ĺ Krieg Buße, poenitentia 10, 42, 47, 53, 56, 133f, 147, 150–153, 156, 175, 180, 182–184, 187, 247, 252f, 263–267, 269f, 272–275, 277, 311, 313f, 328, 372, 405, 406, 410f, (512) – B.sakrament 133, 155, 181, 186, 273, 313 – Beichte 148f, (151,) 153–156, 175, 180, (181,) 182, 184, 186f, 246f, (253,) 274, 313f, (373, 508) – Beichtvater 9, 53, 153, 173, 181, 186f, 242, 246, 249, 261, 269, 276, 279, 287, 340, 400, 443 – attritio (411) – contritio (cordis), Reue 133, 151, 154, 179, 180, 182, 184, 186f, 268, 271, 273–275, 313, 410, (411) – confessio (oris) 133, 149, (150,) 151, 181f, 262, 274, 275, 327 – absolutio, Absolution 182, (298) – satisfactio (operis) 133, 151, 181f, 262, 274, 342f Confessio Augustana ĺ Bekenntnis Confessio Tetrapolitana ĺ Bekenntnis Christologie 84, 166, 222, 225, 227, (300,) 304, (343) Christus 10f, 43, 54, 60, 85, 110–112, 115f, 119f, 122, 165f, 168, 183, 213, 221f, 224–227, 246f, 249f, 253f, 258, 262, 267, 270–276, 279, 281, 285–298, 300f, 304f, 309, 311, 313f, 321, 325, 328, 337, 342f, 345, 348, 353, 362, 375, 380, 383, 387, 390,

Sachregister

– – – –

392, 404–406, 409, 411, 413, 425, 439, 443, 454, 456, 458, 465f, 479, 482–484, 492, 496f, 499, 503, 514, 525 Auferstehung 272, 295, 374, 379 Gegenwart ĺ Abendmahlsgegenwart Kreuz 112, 116, (119, 221) 224–226, 257, 281, 284, 293, 299, 352 Leiden ĺ Passion

devotio moderna 38, 212, 239, 280 Dialektik 408, 437, 443, 458 Dispens (473) Disputation(en), disputatio 35, 54, 254, 290, 298, 350, 362, 364–366, 371, 378, 393, 408f, 411, 419–424, 427, 433, 499, 514 – Heidelberger D. 223, 300, 354, 410, 427, 430f, 434, 448, 460 – Leipziger D. 55, 62, 355, 363, 367, 369, 371, 372, 374, 376, 377–381, 386, 388f, 396f, 424f, 427, 431, 473 – Zürcher D. 7, 60 / 61, 301, 419f, 425–428 Druckausgaben 293 Ehe 42, 119f, 163, 385, 475, (501,) (510,) 511–513 – Eheschließung 511–513 – verheiratet 477, 516 Ekklesiologie ĺ Kirche Emergenz (22f,) 23, (24f, 27) Epochendenken 21 Erbe 5, 11, 31, 38f, 78, 191, 213, 230, 273, 293, 313, 353, 411, 433, 443, 485, 516 Erbsünde ĺ Sünde Eschatologie 304, 440, 459 Eucharistie ĺ Abendmahl Evangelium (6,) 157, 213, 215f, 249, 259, 273, 292, 294, 338, 408f, 411, 415, 436f, 444, 466–468, 473, (482,) 485f, 502, 516 Exegese (11,) (252, 265,) 288, 375, (391,) 392, (420,) 517 – historisch–kritisch 1, 508, 517 Exklusivpartikel 279, 354

553

– sola fide 54, 333, 336, 339, 349, 351–354, 431, 475 – sola gratia 54, 354, 431, 475 – sola scriptura, Schriftprinzip 54f, 56, 301, 354, 355, 377, 395–397, 396f, 431f, 462, 467, 473 – solus Christus 54, 225, 254, 279, 290, 296–298, 301, 354 Exkommunikation ĺ Bann Fälschung 205f, 208f, (519) Fegefeuer, purgatorium 358, 367 Finsternis 226 Fleisch (112,) 248, 324, 330, 352 – Wurstessen 7, 60 Flucht (34, 213,) 255, (420, 491,) 510 Flugschriften ĺ Schriften Forderung 50, 58f, 66, 72f, (130,) 141, (151, 205,) 208, (229,) 235, (268,) 343, 401, (456, 489,) 491, 497 Frauen 37f, 56, 119, 121, 171, 175, 177, 184, 235, (247,) 258, (313,) 348, 416, (427,) 478, (490, 493,) 511– 513, 516 – Nonnen 49, 135, 173, 176, 178, 511f, 514 Freiheit 6f, 10, 60, (90,) 91–94, 106, 206, 281, 307, 311, 317f, 330, 422, 512 – Von der Freiheit eines Christenmenschen, Freiheitsschrift 10, 399, 404, 415, 432 Frömmigkeit 28, 32–34, 37–39, 51, 55, 109, 111–113, 115, 118, 122–125, 145, 185, 226, 237, 251, 279, 282, 293, 297, 317, 352f, 417, 429, 440f, 476, 504, 514 – Abendmahlsf., eucharistische F. (177,) 178, 186, (231, 280) – Christusf. 280, 282, 284f, (288,) 298, 301 – F., äußerliche 53, 237, 297, 429 – F., innerliche 152, 237, 279, 293, 297, 429 – F., monastische 325 – F., mystische 38f, 64, 120f, 171f, 178, 180, 315, 416, 433 – F., reformatorische 124, 242, 429, 503

554

Sachregister

– F.stheologie, F.theologe 53, 141, 147, 149, 151, 170, 280, 329, 440, 458 – Kreuzesf. 291f – Passionsf. 279, 285, 292, 296, (298,) 301 (Kur-)Fürsten 28f, 49, 56, 59, 62, 63, 66, 124, 198, 227, 395f, 425, 493, 500f, 520f, 524f – Kurfürstentum 47, 64 Gebet, Beten 139f, 143, 145, 150f, 154, 340, 359, 394, 430, 434, 436, 439, 441, 486, 502 Gebot(e) 60, 146, 155, 176, 253, 325, 494, 512 – Zehn Gebote 140, 142, 147–149, 153f, 156, 234, 282, 430 Gehorsam 44, 245, 255f, 314, 358, 395 – Gehorsamspflicht ĺ Obrigkeit Gelehrter 433 Gelübde 51f, 242, 512–514 Gemeinde 113, 134, 250, 373, 487f, 491, 496f, 499f, 502–504 Geographie 123f Gerechtigkeit, iustitia 5, 7, 10, 52, 53, 55, 216, 252, 263, 265, 272, 275, 277, 289f, 296, 308, 326, 335, 338, 342, 344f, 352, 406, 409, 434f – G. Gottes, göttliche G,, iustitia Dei 3, 215f, 262, 264, 290, 335, 337f, 415 – iustitia passiva 52f, 348 – iustitia activa 338, 348 – Werkgerechtigkeit 7, 116, 226, 339, 342, 475, 508 Geschichte 2, 14, 18, 21f, 24, 31f, 51, 192, 202, 206, 213f, 240, 316, 402, 459–461, 466f, 482, 486, 516, 523 – G.schreibung, Historiographie 18, 31f, 460 – Allgemeinhistoriker (1,) 2 – Dogmeng., Theologieg. 79, 144, 303 – Frömmigkeitsg. 507 – Kircheng. 4, 18, 21, 32f, 239, 262, 517, 528 – Kirchenhistoriker 1, 13, 229, 399

Gesetz, lex 6f, 103, 108, 146, 294, 300f, 305, 323, 325, 337, 352, 408f, 411, 415, 437, 444, 450, 464, 467f – Gesetz Gottes ĺ Gott – Zeremonialgesetz, lex ceremonialis 325 Gewissen 133, 149, 252 – Gewissensfreiheit ĺ Freiheit Glaube, fides 3f, (27,) 42, 52, 54f, 57f, (66,) 70f, 73, 75, 78f, 101, 105, 138, 140, 143–145, 146, 169, 172, 215, 223, 225–227, 250, 259, 262, 270, 274, 297, 310, 337–339, 340, 343, 346, 352f, 356, 415f, 434, 439, 463, 473, 479, 487, 497, 498 – Glaubender, Gläubiger 119–121, – fides caritate formata 226 – sola fide ĺ Exklusivpartikel – Irrlehre ĺ Häresie Glaubensbekenntnis 140, 142–144, 147, 150, 153f, 156, 382 Gnade 34, 37, 39, 40, 52, 54f, 84, 112, 121, 135, 175, 222, 227, 249, 254, 271, 319, 321f, 330, 340, 342f, 347, 404, 412f, 416, 434–437, 487 – sola gratia ĺ Exklusivpartikel Gott 6, 8, 11f, 37f, 40, 52, 54, 57, 60f, 63, 72, 77, 82–88, 92, 94, 96f, 101, 103, 105–108, 114, 116, 121, 130– 136, 145f, 148f, 156, 164f, 171f, 175, 177, 179–182, 184, 196, 202, 207, 209, 216–222, 224, 226–228, 237, 242, 249–252, 255–257, 262f, 268–271, 274, 279, 281f, 292, 303, 308, 311–315, 317f, 320, 322, 325– 330, 339, 341, 343, 345, 347, 350, 352, 377, 402, 404, 409, 412–415, 434–439, 443–457, 459, 466, 475, 488f, 497, 500, 504, 516f – Gerechtigkeit ĺ Gerechtigkeit, iustitia Dei – Gesetz G.es, lex divina 300, 388, 395, 450 – G.s Zorn 294 – G.es Regiment 242 – G.sliebe 90 – G. Wort 7, 115, 219, 409, 446, 467, 473, 502

Sachregister Häresie (50, 103,) 172, 230, 255, (364,) 365, 369, 380f, 384, 387, 413, 423– 425, 483, (484,) 517 – Häretisierung 364 Heil 6, (11, 28,) 39, 41, 54, 105f, 122, 143, 172, 194, 216, 226, 239, 276, 279, 295f, 305, 318, 340f, 351, 410, 447, 455, 487f – H.saneignung, -gewinn 36, 41, 60 Heiliger Geist 84, 147, 181, 218, 321f Heiligkeit 110, 113, 114, 116–118, 120, 123–125, 496f, 501, 503–505, 508 Heilige Schrift ĺ Bibel Heiligenverehrung, -kult 161 Herausgeber 406 Herz 225, 297 Hierarchie ĺ Bischof Humanismus, humanistisch 6, 22, 36, 43, 54, 60, 185, 205–208, 375, 462, 525 – Humanisten 230, 288 – sodalitates 36 – studia humanitates 36 Identität 26, 52, 113, 160, 407, (415,) 452, 486 – Identifikation 225, 229, 432, 435, 466f, 473–476, 480, 482, 484, 525 – Identifikationsfigur 206 Immediatisierung 121, 303, 311, (313,) 321, 323, 413 Individualisierung 149, 152, 480 Innovation 12, 420 Inquisitor 186, 395 Institutionalisierung 43, 519, 521f – institutionell 28, 31, 34, 36, 42f, 51, 58f, 64, 68, 227, 393, 474, 482, 486, 525, 528 – Institution 34, 48, 185, 466, 472, 474, 475, 481f, 484, 486, 489 Investiturstreit 191 Irrlehre ĺ Glaube Juden 232, 421 Juristen ĺ Recht Kanonisches Recht ĺ Recht Katechismus 137, 139–143, (144,) 152, 155–157, (234,) 433,

555

– Luthers 137f, – mittelalterliche 137–139, 142, 150, 152, 154, – K.unterricht 137 Ketzer 371, 419, 498f, Kirche 3f, 14, 27–29, 31f, 40, 42, 44, 46, 48–51, 55, 59, 62, 67, 95, 116, 141, 163, 171–173, 175f, 180, 184f, 187, 189f, 195, 197, 201, 208, 211, 227–230, 234–236, 239f, 259, 296– 298, 301, 310f, 354, 361, 368f, 372, 376, 380–383, 385–387, 390, 399, 405, 425, 432, 440, 473–475, 486, 488–490, 495–497, 500, 502–504, 516f – Autorität der K. 473 – Ekklesiologie 383 – K.bann ĺ Bann – K.recht ĺ Recht – K.reform 63, 65, 227f, 419 – K.kritik 177, 196, 285, 471 – K.politik 508 Kirchenväter 52, 202, 330, 338, 361– 363, 373, 375f, 389, 391–393, 396, 420, 433, 462 Kleriker 42f, 45, 47, 49, 57, 60, 141f, 146, 173, 192, 234f, 238f, 516 Kloster 37, 48, 51f, 135, 233f, 244f, 248, 346, 402, 404, 492f, 508, 510, 512 Kommunikation 115, 184, 247, 499 Konfessionalisierung 13, 17, 67f Konflikt 44, 46, 64, 65, 68, 93, 191, 196f, 276, 311, 316, 413, 494, 513 Konstantinische Schenkung, donatio Constantini 189–210, 367 Kontext 11, 22, 23, 41, 59, 64, 73, 89, 93, 96, 103, 120f, 142, 150, 159, 170, 180, 186, 194, 199, 201, 204, 206, 208f, 211f, 214, 226, 237, 243, 245, 268, 273, 276, 279, 283–285, 293, 296f, 304, 307, 313, 328, 330, 347, 350f, 354, 355, 360, 367, 371, 373, 376, 380, 403f, 406, 409f, 412, 420, 423–425, 443f, 450, 453, 460f, 467, 504, 526, 528, – historischer Kontext 22, 367 – Kontextualisierung 350

556

Sachregister

Konzil 32, 43–47, 50, 55, 63, 66f, 121, 198, 200–202, 204, 208f, 218, 229f, 233, 235, 239, 311, 355, 360, 368, 372f, (377,) 379f, 382, 384–387, 393, 395, 425 – von Konstanz 43, 50, 370, 377, 380, 383f, 397, 425 – von Trient 32, 67, 239, 516 – IV. Lateranum 149, 311 Konversion 53, 248 Korrespondenz 463, 523 – Widmungsbriefe 252 – Briefe 52, 141, 224, 248f, 257f, 268, 289f, 330, 362f, 365, 433, 507, 521 Kreuz Christi ĺ Christus Krieg 46, 68 – Bauernkrieg 514 – Schmalkaldischer Krieg 66, Krone 46, 198 Kultur 17, 51, 310 Kunst 113, 284, 315 Kurie 232, 364, 432 Laien 14, 28, 40–43, 50, 56f, 60, 62, (65,) 142, 146f, 184, 227f, 234, 239, 429f, 503 Latein 3, 81–83, 141, 146, 150, 183, 209, 215, 228, 252, 262, 286, 288, 293, 306, 311f, 316, 363, 365, 408, 432, 434, 461, 496, 528 Legitimität ĺ Recht Literatur 40f, 141f, 147, 151f, 154–157, 247, 276, 284, 290, 296f, 301, 346, 432, 508, 516, 526 Liturgie 111, 114, 123, 494f Macht 44, 58, 66, 103, 191, 193, 196– 198, 204, 207, 215, 235, 237–239, 318, 324, 33, 353, 370f, 381f, 448 Magie 110 Medium, Medien 119, 210, 326, 420, 421, 428, 508, 521, 524, 525 Mönchtum 259, 507f, 510, 514, Monumentalisierung 519, 524, 526–529 Musik 72 Mystik 10f, 37f, 53, 57, 127, 136, 171– 177, 179f, 184f, 187, 220, 239, 261, 267f, 271–273, 276, 281f, 294, 296, 303, 311, 313f, 325f, 333, 348, 399,

401f, 407, 410, 412, 415, 417, 437, 439, 453, 508 – oberrheinische M. 37f, 53, 311, 325f – Theologia deutsch 53, 175, 180, 207, 261, 268, 272–274, 290, 314f, 328, 349, 406 Name 65, 216, 218, 440, 476 Naturwissenschaft 23f, 460 Nominalismus, nominalistisch 97, 165 Nation 28, 45, 56, 59, 192, 207f, 227, 236 – Gravamina nationis Germanicae, Gravamina deutscher Nation 47, 58, 207f Oberrhein 38, 127 – oberrheinische Mystik ĺ Mystik Obrigkeit 29, 64, 176, (436,) 475 – Gehorsamspflicht 475 Öffentlichkeit 56, 223, 265, 274, 330, 420, 424f, 462, 489, 502, 526 Offizin ĺ Buch Papst(amt, -tum) 43–46, 48–50, 55, 58f, (64), 95, 121, (189,) 190–194, 196– 202, 204–210, (213,) 228–230, (233f,) 235–238, 255f, 258f, 297f, 301, 311, 354, 355, (358,) 359–361, 363, 366–390, 392–394, 396f, 425, 428, (430,) 432, 440, 462, 466, 468, 471–476, 481–484, 486, 517, Passion, passio 111, 116, 270, 284, (286,) 289, (291f, 294,) 297, (297– 300,) 375 – Leiden Christi 119, 279, 283, 289, 291, 294 Person 4, 11, 51, 84, 92, 128, 135f, 177, 239, 241, 257, 279, 284, 306, 346, 360, 407, 466, 482, 484, 525–527 – Persönlichkeit 228 Philosophie 35, 69, 88, 94, 96, 98, 159, 166, 223, 306 Polarität(en), spätmittelalterliche 27, 29, 31f, 34f, 43, 51, 53f, 57, 64f, 67f, 118, 155f, 239f, 408, 429 Prädestination 104–106, 221, 250, 279, 322, 340, 455, 508 – P.anfechtung 221, 249, 251, 455

Sachregister – P.lehre 104–106, 322, 446, 466 Predigt 7, 35, 60f, 120, 128f, 177, 181, 184, 186, 270, 273f, 277, 286, 312f, 346, 348, 372f, 402, 410f, 419, 437, 478, 487, 499–502, 524 – Prediger 119, 173, 176f, 211, 248, 291, 312, 438, 482, 502, 253 Priester 28, 41f, 56f, 111f, 114, 120– 122, 138, 147, 172f, 175, 178, 181– 184, 227f, 250, 380, 416f, 419, 438f, 488, 493–496 Professor 52, 243, 248, 273, 347, 395, 460, 523 Protest 27, 32, 53, 92, 244 – Protestanten 5, 65, 171 – Protestantismus 171, 399, 517 – protestatio 65, 631, 378f, 384 Protokoll ĺ Schriften Provokation 192, 427 Psalter 52, 248, 283, 288, 292f, 295, 325f, 333, 453 (Universalien-)Realismus 34 Rechtfertigung 3f, 34, 225–227, 277, 339, 342, 343, 345, 347, 350, 352f – R.lehre 3f, 6–8, 10–14, 19, 29, 33, 52, 55, 57f, 60f, 225, 227f, 252, 272, 276, 295, 335, 345, 408, 412f, 415, 435 Recht 40, 65, 102, 325, 356, 381, 386 – Juristen 373, 375, 522 – Kirchenr. 46–49, 57, 60, 162f, 190, 202f, 205, 229, 316, 357, 360f, 372, 374, 376, 385, 387f, 419, 475 – Legitimität (5,) 13, 32, 47, 60, 65, 102, 195, 200, 419, 513, – Reichsr. 65, 198, 520 Rede 11, 25, 73, 86, 108, 128, 133, 151, 159, 178, 185, 193, 214, 218f, 232, 266f, 270, 276, 295, 2298, 319, 324, 328, 350, 373, 388, 391, 402, 427, 438, 444, 452, 455, 461, 485, 512, 516 Reform 28, 32, 59, 211, 227, 230, 232– 238, 242, 420, 433, 492 – Kirchenr. 63, 65, 227f, 231, 420, (516) – R.bewegung 187

557

Reformation – r. Bewegung 14, 62f, 206, 422 – Umbruch 2, 12, 15, 19, 97, 277, 417, – r. Theologie 10, 26, 59, 61, 64, 127, 222, 254, 324, 334, 350, 353, 35, 417, 429, 433f, 484 – Einheit der R. 2–5, 14, 62 – Wittenberger R. 31, 61, 109, 115, 487, 496, 520, Reich 31, 36, 45, 47–50, 61, 64, 65–67, 134, 139, 191–193, 195, 198 204, 365, 368, 399,439, 465, 474, 478, 492 – R.sacht 258 – R.recht ĺ Recht – R.tag 47, 62f, 65, 124, 208, 254, 365, 492, 514, 525 – R.stände 48 Rekonstruktion 10, 13, 31, 127, 159, 166, 247, 251, 277, 334f, 358, 527, 529 – historische R. 529 – theologische R. 2 Religion 67, 196, 228f – Religionsfrieden 50, 67 Renaissance 3 ,12, 52, 189, 193, 227, 263, 322, 461, 469 Reue ĺ Buße, contritio Rhetorik 381 Sakrament 56, 111, 115, (133,) 141, 147, 153, (155,) 157, 159, 169, 172f, 175–187, 251, 273, 311, 414, 417, 475, 487, 489f, (491,) 492, 497–499 – S.frömmigkeit ĺ Frömmigkeit – S.haus 114, 503 – S.lehre, -theologie, -verständnis 160, 162, 182f, 313 Schmalkaldischer Bund ĺ Bund Schmalkaldischer Krieg ĺ Krieg Scholastik 14, 32, 65, 127, 151, 206, 223, 317, 322, 324, 360, 361f, 452, 508, – via antiqua 34 – via moderna 35, 164, 303, 311, 315, 318f, 322f, 325, 345, 412, 414f, 443, 449f, 455 – scholastische Theologie, theologia scholastica 35, 311, 330f, 433, 455,

558

Sachregister

Schriften 3, 10, 13, 53, 56, 60, 63, 176, 201, 205f, 208, 213, 221, 227, 257, 268, 272f, 280, 286, 295, 365, 367, 422, 434, 438, 444, 452, 454, 477, 483, 495, 498, 514 – Flugschriften 4, 209, 429, 509, 528 – Protokoll 524–526, 528 – reformatorische Schriften ĺ Reformation – Stellungnahmen 359f, 369, 423, 471 – Gutachten 64, 495 Schule 87, 137, 149, 159, 170, 209, 449f Seelsorge 241, 508 – Seelsorger 147, 419 – Trost 154, 180, 249, 285, 341, 346f, 404, 409, 434 – T.brief 241 Selbsterkenntnis 179, 184, 269, 410 Selbstreflexion 13, 69 (Großes) Selbstzeugnis 3, 9, 12, 52, 252, 262f, 275, 277, 335f, 338, 348, 405, 407, 456 sola scriptura ĺ Exklusivpartikel Soteriologie 299 Spätmittelalter 11, 17, 22f, 34, 189, 193, 291 Sprache 41, 140f, 146, 150, 157, 165, 168, 207, 225, 237, 265, 287, 296, 307, 324, 338, 365, 429f, 443, 460, 489 – S., griechische (267,) 461 – S., hebräische (267) – S., lateinische ĺ Latein – S.gebrauch 25, 227, 446, 474 – Volkss. 40f Student(en) ĺ Universität Studium ĺ Universität Sünde 7f, 148, 152f, 155f, 186, 232, 247, 268, 283, 304f, 307, 309f, 312–315, 318, 320–331, 344, 408, 410, 435–437, 464, 508 – Erbs., peccatum originale 305f, 307, 313, 314, 315, 317, 319, 320, 323, 327, 344 – S.bekenntnis ĺ Buße, confessio – S.vergebung 247 – Tatsünde, peccatum acutale 305, 309 Schrift ĺ Bibel

Taufe 28, 56–58, 101, 121, 180, 190, 227f, 308f, 311, 315, 318–321, 323f, 416 Text 9, 53, 56, 82f, 112, 115, 119, 129, 145, 147, 151, 157, 162, 170, 178, 181, 190,203, 205, 234, 263, 272, 280, 283–286, 292f, 295, 334, 350, 375, 392, 394f, 405f, 423, 430, 432, 435, 437, 441,450, 499, 501, 524f, 528 Theologie 35, 51f, 54f, 60, 63, 65, 69– 80, 94, 96, 98, 100–103, 107f, 113, 135, 163, 170, 189, 211, 214, 216, 218, 221, 224, 226, 229, 237, 243, 245, 252, 266, 272, 281, 288, 290, 301, 303, 317f, 328, 334f, 338, 347, 349, 352f, 399, 401, 407, 413–415, 419f, 422f, 425, 432f, 435, 437, 440f, 443f, 451, 455, 483, 486, 509, 517, 527 – Theologen 8, 10, 34, 40, 58, 64, 70, 73, 79, 95f, 104, 106f, 110, 127, 159, 163f, 176, 185, 202, 207f, 211f, 214–216, 222, 224, 227, 237f, 243, 269, 315, 335, 342, 399, 413, 416, 433, 439, 450, 458, 482–484, 493, 524 – mystische Th. 64, 175, 220, 269, (271,) 274, 276f, 323, 328, 413 – reformatorische Th. ĺ Reformation – scholastische Th. ĺ Scholastik – Theologie Luthers 3, 9, 11, 61, 64, 127, 303, 322, 326, 330, 407–409, 432–435, 457, 460, 508f – Theologie Zwinglis 6, 60 (,61) – Wittenberger Theologie 290, 499f Theologia deutsch ĺ Mystik Tischreden 221, 242, 499, 507, 524, 526f Toleranz 68 Tradition 6, 27, 47, 63f, 74, 84, 90, 137f, 150, 155f, 166, 214, 219, 221, 227, 229f, 249, 261f, 274, 280, 289, 293, 299f, 315, 321, 336, 338, 351, 353, 355f, 362, 373, 375, 378, 393,

Sachregister 395f, 410, 413, 417, 431, 433, 441, 453, 472, 479–481, 483, 486, 503 Transformation 17, 25–29, 31, 51, 109, 121f, 155, 157, 228, 301, 303, 324, 328, 411f, 415f, 419, 425, 427f, 429, 432f, 437, 441 – Transformationsprozess 26, 55, 415 Trost ĺ Seelsorge Tugend 307, 352 Übersetzung 70, 82, 293, 437 – Bibelübersetzung ĺ Bibel Umbruch ĺ Reformation Unabhängigkeit 223, 235 Universität 14, 50, 69, 98, 141, 145, 159, 223, 330, 357, 363–366, 420– 422, 426, 428, 433, 460f, 521 – Akademie 36, 171, 526 – Fakultäten 34, 75, 102, 159, 212, 243, 245, 316, 366, 450, 459–461 – Studenten 333 – Studium 95, 281, 423 Vater 107, 112, 128f, 194, 218f, 222, 246, 250, 252, 257–259, 279, 360, 362, 372, 388, 390–395, 401, 436, 440f, 456, 510 Vaterunser 138–140, 142f, 146f, 154, 156, 219, 429 / 430, 436f, 440, 499

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– Vaterunserauslegung 142, 145, 429, 434–437, 439–441 Verinnerlichung 39, 177, 180, 187, 239, 269 via antiqua, via moderna ĺ Scholastik Volk 146, 205, 231 – Volkssprache 40 Wahrheit 55, 69, 74, 78, 84, 101, 104, 240, 316, 421, 423f, 426, 461, 486, Werke 3, 7, 52, 99, 131, 147, 154, 160, 182, 193, 228, 252, 342, 345, 351f, 353, 434, 463, 487, 525f – Werkgerechtigkeit ĺ Gerechtigkeit Widerstandsrecht ĺ Obrigkeit, Gehorsamspflicht Widmung 196, 286 – Widmungsbriefe ĺ Korrespondenz Wittenberg ĺ Ortsregister – Wittenberger Theologie ĺ Theologie – Wittenberger Reformation ĺ Reformation Zehn Gebote ĺ Bibel Zentrierung, normative 62f Zeremonialgesetz ĺ Gesetz Zürich ĺ Ortsregister – Zürcher Disputation ĺ Disputation