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German Pages 274 [275] Year 2006
SIMON ERTZ
Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem
Zeitgeschichtliche Forschungen Band 31
Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem Eine Untersuchung der Methoden, Strategien und Ziele ihrer Ausnutzung am Beispiel Norilsk, 1935 -1953
Von Simon Ertz
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagbilder: Oben links: Stützarbeiten in einem Kohlestollen. Oben rechts: Besprechung des Direktors des Kombinates und Lagers von 1941 bis 1948, Aleksandr Panjukov, mit leitenden Mitarbeitern der Kapitalbauverwaltung. Unten: Teilansicht der „Großen Metallurgischen Fabrik" in Norilsk. (Quellen siehe S. 255) Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 3-428-11863-4 978-3-428-11863-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Danksagung Diese Studie ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Magisterarbeit, die ich im Juni 2004 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Während aller Phasen der Forschungen, deren Ergebnis das vorliegende Buch darstellt, erfuhr ich von vielen Seiten großzügige und großherzige Unterstützung. Entscheidende finanzielle Förderung gewährte mir die Studienstiftung des deutschen Volkes. Dabei kam mir zugute, daß ich dort in Professor Bernd Sösemann, meinem Vertrauensdozenten an der FU Berlin, und Astrid Irrgang, meiner Referentin, zwei engagierte Fürsprecher besaß. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst verdanke ich die Finanzierung eines einjährigen Forschungs- und Studienaufenthaltes in Moskau, während die Hoover Institution on War, Revolution, and Peace (Direktor: John Raisian) finanzielle Unterstützung für Forschungsaufenthalte in ihren Archiven gewährte. All diesen Institutionen möchte ich daher ausdrücklich danken. Daneben habe ich vielen Einzelpersonen Dank zu sagen. Zuallererst Prof. Paul R. Gregory (University of Houston / Hoover Institution), dem ich die Anregung zur Auseinandersetzung mit ökonomischen Problemen des stalinistischen Lagersystems verdanke und der meine Arbeit von Beginn an auf vielfältige Weise gefördert und inspiriert hat. Nicht minder verpflichtet bin ich Prof. Leonid I. Borodkin (Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität), der meine Forschungen während meiner Archivrecherchen in Moskau und in der Folgezeit stets mit größtem Interesse und fundierter Kritik begleitet und, wo dies nur möglich war, unterstützt hat. Ohne Paul Gregory und Leonid Borodkin wäre diese Studie mit Sicherheit nicht entstanden. Dank schulde ich auch den Gutachtern meiner Magisterarbeit, Prof. Heinrich Volkmann und Prof. Wolfram Fischer (beide FU Berlin), die reges Interesse an meinem Vorhaben zeigten, seine Fertigstellung mit konstruktiver Kritik begleiteten und wertvolle Anregungen zur Verbesserung lieferten, die in die vorliegende Fassung einflossen. Eine der wenigen angenehmen Erfahrungen, die die Arbeit an einem bedrückenden Thema mit sich brachte, war die stets kompetente und liebenswürdige Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der relevanten Archive. Insbesondere und stellvertretend gilt mein Dank Dina Nochotovic (Staatsarchiv der Russischen Föderation), Dmitrij Lozovan (Archiv des Moskauer Zentrums zur wissenschaftlichen Information und Aufklärung „Memorial") sowie Elena Danielson, Carol Leadenham und Lora Soroka (Hoover Institution Archives). Für ihre freundschaftliche Unterstützung und wichtige Ratschläge und Hinweise bin
6
Danksagung
ich zudem Volodja Birger (f) und Aleksej Babij verbunden (Sibirische Abteilung der Gesellschaft „Memorial", Krasnojarsk). Svetlana Êbedzans (Museum zur Geschichte der Norilsker Industrieregion / Norilsker Gesellschaft „Memorial") danke ich für die Bereitstellung dreier Photographien und die freundliche Genehmigung zu ihrem Abdruck. Wichtige Informationen, Anregungen und Denkanstöße lieferten zu verschiedenen Phasen des Projektes Oleg Chlevnjuk, Robert W. Davies, Mark Edele, Stefanie Ertz, Mark Harrison, Andrej Markevic, Michaela Lantieri, Manuela Putz, Andrej Sokolov, Aleksej Tichonov, Giles Udy und Stephen Wheatcroft sowie die Teilnehmer des Colloquiums zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Freien Universität Berlin. Oleg Chlevnjuk opferte zudem einen Teil seiner kostbaren Zeit, um mir bei der Besorgung der übrigen Photographien, die in diesem Band abgedruckt sind, behilflich zu sein. Einen besonderen Dank schulde ich schließlich meinem Russischdozenten an der Freien Universität Berlin, Edward Klimczak, dessen engagierter und effektiver Sprachunterricht mich überhaupt erst in die Lage versetzt hat, mich mit Problemen der sowjetischen Geschichte zu befassen. Simon Ertz
Inhalt Α. Einführung I. Zur Problematik der Erforschung des stalinistischen Lagersystems II. Entwicklung und Eingrenzung der Fragestellung: Zwangsarbeit in Norilsk
13 13 20
III. Bemerkungen zu den benutzten Quellen
25
IV. Anlage und Aufbau der Untersuchung
31
B. Parameter, Gestalt und Entwicklung des Untersuchungsobjektes I. Lage und Geofaktoren des Standortes: Schwierigkeiten und Hindernisse II. Hintergründe der Übertragung des Projektes an den NKWD
33 33 38
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes
45
IV. Wirtschaftliche Entwicklung des Kombinates 1935-1956
56
V. Bedeutung des Kombinates für die sowjetische Industrie
63
VI. Entwicklung, Ausdehnung und Gestalt des Norilsker Lagers C. Der Arbeitskräftebestand des Norilsker Kombinates: Dynamik, Struktur und Verwendung I. Entwicklung der Anzahl der Häftlinge II. Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit der Häftlinge III. Häftlingssterblichkeit
69
77 77 82 89
1. Methodische Überlegungen
89
2. Zur Quellenlage
90
3. Daten zur Sterblichkeit unter den Häftlingen des Norilsker Lagers IV. Intensität der Arbeitsausnutzung der Gefangenen
101 117
V. Die ,zivilen' Beschäftigten des Kombinates: Charakteristika und Bedeutung .. 122 VI. Verteilung der Arbeitskräfte nach Einsatzbereichen VII. Verteilung der Arbeitskräfte nach Qualifikationsmerkmalen
130 133
8
Inhalt
D. Normative und faktische Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk I. Regelung der Arbeitszeit
143 143
1. Anzahl der Arbeitstage pro Jahr
143
2. Länge des Arbeitstages
152
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
157
1. Normen und Produktivität
158
2. Zwangsmittel und Anreize
160
3. Haftzeitverkürzungen durch Arbeitstaggutschriften
163
4. Monetäre Prämien
171
5. Einführung von Arbeitslöhnen
176
E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge I. Methodische Vorbemerkungen
189 189
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit und materiellen Lebensumständen 194 F. Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse
212
G. Exkurs: Möglichkeiten und Grenzen der Bewertung des Nutzens von Zwangsarbeit in Norilsk 221 H. Anhang I. Produktionsstatistiken des Norilsker Kombinates II. Häftlingsstatistiken der Norilsker Lager
228 228 234
III. Organisationsdiagramme zur administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Bauvorhabens/Kombinates und des Norilsker Lagers 243 IV. Karten zur Dislokation der Norilsker Lager V. Ansichten des Norilsker Bauvorhabens/Kombinates VI. Administratives Schema des Norilsker Lagers zum 01. 10. 1951
247 252 vor 257
Quellen- und Literaturverzeichnis
257
Index
268
Abkürzungsverzeichnis AMCM* CK
Archiv des Moskauer Zentrums zur wissenschaftlichen Information und Aufklärung „Memorial" Zentralkomitee [der Kommunistischen Partei]
Dal'stroj
Bau- und Kolonisationsorganisation
GARF
Staatsarchiv der Russischen Föderation
im Fernen Osten
GKO
Staatliches Verteidigungskomitee der UdSSR (1941 -45)
Glavpromstroj
Hauptverwaltung der Lager für Industriebau [des NKWD/MWD] ( 1941 — ) Hauptverwaltung der Lager und Kolonien [der OGPU/des NKWD/ MWD] (1930/31-60) Hauptverwaltung der Lager der Montan- und Metallurgischen Unternehmen [des NKWD/MWD] (1941-53) Hauptverwaltung der Lager im Eisenbahnbau [des NKWD/MWD] (1940-53) „Besserungsarbeitslager" Ingenieure und Beschäftigte in technisch-organisatorischen Positionen Genossenschaftlich organisierter landwirtschaftlicher Großbetrieb Volkskommissariat/Ministerium des Inneren [der UdSSR] (1934-) Volkskommissariat/Ministerium für Staatssicherheit [der UdSSR] (1941, 1943-53) Norilsker Bauorganisation [auch: Norilsker Bauvorhaben] Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung [unionsweite zentralisierte Geheimpolizei, Vorläufer des NKWD der UdSSR] (1923-34) Politisches Büro [des CK; oberstes Entscheidungsorgan der Kommunistischen Partei] Rubel Russisches Staatliches Archiv für Wirtschaft Russisches Staatliches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Nordöstliches Lager [Lagerkomplex im Fernen Osten] Landwirtschaftlicher Großbetrieb im Staatsbesitz Rat der Volkskommissare/Ministerrat [der UdSSR] Abteilung zur Registrierung und Verteilung der Gefangenen [des GULAG]
GULAG GULGMP GULZDS ITL ITR Kolchoz NKWD/MWD** NKGB/MGB** Noril'stroj OGPU Politbüro Rb RGAÉ RGASPI RSFSR Sevvostlag Sovchoz SNK/SM** URO
* Exakte oder nahezu exakte Übertragungen sind normal gesetzt, freiere Umschreibungen und Erläuterungen dagegen kursiv. ** 1946 wurden die sowjetischen „Volkskommissariate" in „Ministerien" umbenannt.
Bemerkungen zu Übersetzung, Transliteration und Zitierweise Alle Zitate aus russischsprachigen Quellen oder aus entsprechender Sekundärliteratur habe ich selbst ins Deutsche übersetzt. Dabei habe ich größtmöglicher Texttreue Vorrang gegenüber flüssigen Formulierungen in der Zielsprache eingeräumt, was, wie ich hoffe, nicht nur größere semantische Exaktheit gewährleistet, sondern auch sprachliche Auffälligkeiten, die in manchen der Quellen auftreten, bei der Übertragung ansatzweise bewahrt. Meine Anmerkungen oder Ergänzungen sind ebenso wie Auslassungen grundsätzlich durch [eckige Klammern] gekennzeichnet. Bei der Umschrift russischer Personen- und Ortsnamen, (Publikations-)Titel und sonstiger Termini wurde durchgängig die Transliterationstabelle nach DIN 1460 angewandt. Ausgenommen sind im Text (nicht jedoch bei Literaturnachweisen) einzelne russische Begriffe, für die im Deutschen eine abweichende, allgemein gebräuchliche Übertragung oder Schreibweise existiert. Davon betroffen sind Bezeichnungen wie Moskau (statt Moskva ), Norilsk (statt NoriVsk), Wolga (statt Vol'ga), Baikal (statt Bajkal ), Sowjet (statt Sovet), NKWD (statt NKVD) und MWD (statt MVD). Das Adjektiv rossijskij wird mit „russisch" übersetzt - anstelle der akkurateren, jedoch ungebräuchlichen deutschen Bezeichnung „rußländisch". Archivsignaturen werden, um eine schnelle und eindeutige Identifikation jedes einzelnen Dokumentes zu ermöglichen, gemäß folgendem Schema notiert: „GARF. R-9414.1.1140: 38, 130us". Dabei bezeichnet „GARF" das benutzte Archiv (in diesem Falle das Staatsarchiv der Russischen Föderation), „R-9414" die Nummer des Archivbestands (russisch: fond), „1" die Nummer des Verzeichnisses/Findbuches (opis') und „1140" die Nummer der Akte (delo). „38" und „130us" bezeichnen die Nummer einzelner Blätter, wobei „130us" (us = umseitig) für die Rückseite des Blattes Nr. 130 steht. Bei gehäuften Verweisen auf Dokumente aus demselben Archiv wird letzteres nur einmal genannt, während die Nummern von Archivbestand und Verzeichnis für jedes einzelne Dokument separat aufgeführt werden. Ausgenommen von dieser Notierung sind einzelne Kategorien von Gesetzes- und Verwaltungsakten, die statt dessen mit Datum und Nummer identifiziert werden. Hierzu zählen insbesondere Dekrete des Rates der Volkskommissare/des Ministerrates der UdSSR, die sich, sofern nicht anders angegeben, im Russischen Staatsarchiv befinden (Archivbestand R-5446, Verzeichnis 1), sowie Order und Verordnungen des NKWD /MWD, die ebendort im Archivbestand R-9414, Verzeichnis la aufbewahrt werden. Russische Termini für Gesetzes-, Verwaltungs- und sonstige Akte werden wie folgt übersetzt: instrukcija - Instruktion,
Bemerkungen zu Übersetzung, Transliteration und Zitierweise
11
polozenie - Ordnung, postanovlenie - Dekret, prikaz - Order, razporjazenie - Verordnung, ukazanie - Anweisung, ukaz - Erlaß, ustav - Statut. Sämtliche angegebenen URL, die auf Quellen oder sonstiges Material verweisen, das im world wide web verfügbar ist, wurden letztmalig am 21. April 2006 auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft. Die entsprechenden Texte bzw. relevanten Informationen habe ich zudem gespeichert. Sie können bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden.
Α. Einführung Ι. Zur Problematik der Erforschung des stalinistischen Lagersystems Bis zu Beginn der 1990er Jahre verfügte die westliche Forschung, die sich mit dem System der stalinistischen Arbeitslager befaßte 1 , über eine Quellenbasis, die nahezu ausschließlich aus Zeugnissen ehemaliger Lagerinsassen bestand. 2 Die Fülle und Vielfalt, in der derartige Informationen i m Laufe der Jahrzehnte i m Westen zugänglich wurden, ermöglichte es bereits lange vor Ende des Kalten Krieges, ein detailliertes B i l d von den Lebensbedingungen innerhalb dieser Lager zu entwerfen, in denen i m Verlauf des Zeitraums von Ende der 1920er bis Mitte der 1950er Jahre gemeinsam mit einer weitaus höheren Zahl gewöhnlicher' Gefangener deutlich mehr als zwei Millionen politischer' Häftlinge inhaftiert waren. 3 1
Die Rede ist von jenen Lagern, die offiziell als „Besserungsarbeitslager" (ispravitel'notrudovye lagerja) bezeichnet wurden. Im Text werden synonymisch häufig die Begriffe „Lager" und „Arbeitslager" gebraucht. Die Gesamtheit dieser Lager wird entsprechend als „Lagersystem" bezeichnet. Für die den Lagern in verschiedener Hinsicht vergleichbaren „Besserungsarbeitskolonien" (ispravitel'no-trudovye kolonii) wird analog die Bezeichnung „Kolonien" verwendet. 2 Einen Überblick über das zu diesem Zeitpunkt verfügbare Quellenmaterial vermittelt Ralf Stettner: Archipel GULag: Stalins Zwangslager - Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant, Paderborn, 1996. 3 A. /. Kokurin/ Ν. V. Petrov: GULAG (Glavnoe Upravlenie Lagerej): 1918-1960 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva: Izd. Materik, 2000, S. 433 f.; /. V. Bezborodova, Einleitung zu Istorija stalinskogo Gulaga: Konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov, Sobranie dokumentov ν 7-mi tomach (7 Bde.), Moskva: ROSSPÈN, 2004-5, Bd. 4, Naselenie Gulaga: cislennost' i uslovija soderzanija, S. 27-58, hier: S. 35. Die Gesamtzahl aller Häftlinge, die in diesem Zeitraum das System der Lager und Kolonien durchliefen, ist auch auf der Basis von nun zugänglichen Archivdokumenten kaum exakt zu bestimmen. Fundierte Hochrechnungen deuten auf eine Zahl in der Größenordnung von 20 Millionen Menschen hin (ebd., S. 38 f.). Als »politische Häftlinge' werden üblicherweise und auch in dieser Untersuchung all jene Lagerinsassen bezeichnet, die nach dem berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR explizit für „konterrevolutionäre Straftaten" verurteilt worden waren. (Die Strafgesetzbücher der übrigen Unionsrepubliken enthielten analoge Artikel oder Bestimmungen. Detaillierter hierzu: A. A. Gercenzon et al.: Istorija Sovetskogo ugolovnogo prava, Moskva: Jurid. izd. Min. justicii SSSR, 1948, Kap. X I - X I I I . ) Da sowohl den zahlreichen Punkten dieses Artikels als auch ihrer praktischen Anwendung im Stalinismus ein außerordentlich gedehntes Verständnis politischer' Vergehen zugrunde lag und sich zudem die übergroße Mehrzahl derartiger Urteile auf fabriziertes Beweismaterial stützte, lassen sich heutige Definitionen des Begriffs „politische Gefangene" nicht ohne weiteres übertragen {John Keep: Recent Writing on Stalin's Gulag: An Overview, in: Crime, Histoire & Sociétés, 1 (1997), S. 91-112, hier: S. 100 f.; Michael Ellman: Soviet Repression Statistics:
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Α. Einführung
Ungleich schwieriger gestaltete sich dagegen schon das Unterfangen, anhand solcher Quellen eine Vorstellung vom Ausmaß des Lagersystems als Ganzem zu gewinnen 4 , geschweige seine internen Funktionsmechanismen zu untersuchen. Daraus ergab sich eine Situation, in der zwar Kenntnisse über wesentliche Resultate und Folgen eines historischen Phänomens - namentlich und vor allen anderen das Leid von Millionen Menschen - vorlagen, während zugleich seine raison d'être ebenso wie seine innere Logik (sofern eine solche existierte) und damit die Ursachen der Erscheinungsformen, die es angenommen hatte, zu weiten Teilen i m Dunkeln blieben. Ohne deren Bestimmung war jedoch nicht ernsthaft daran zu denken, das Lagersystem innerhalb der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus zu verorten. 5 Some Comments, in: Europe-Asia Studies, 54/7 (Nov. 2002), S. 1151-1172, hier: S. 1156 f.; Ole g V. Khlevniuk : The History of the Gulag: From Collectivization to the Great Terror (Annals of Communism), New Haven/London: Yale University Press, 2004, S. 168, 305 f.). Was die »politischen4 Häftlinge im Stalinismus verband - in den Jahren nach Stalins Tod verminderte sich ihre Zahl bis zur annähernden statistischen Bedeutungslosigkeit - war daher in erster Linie der Umstand, daß sie einer dezidiert politischen Justiz zum Opfer gefallen waren, die als Instrument zur Durchführung gezielter individueller und massenhafter Repressionen diente (V. N. Kudrjavcev/A. /. Trusov: Politiceskaja justicija ν SSSR, Moskva: Nauka, 2000). Somit ließe sich folgern, daß allen übrigen,,gewöhnlichen 4 Gefangenen der Lager und Kolonien gemein war, daß sie aufgrund nicht vorrangig politisch-ideologisch motivierter Bestimmungen der Strafgesetzgebung verurteilt worden waren. Tatsächlich handelte es sich bei einem großen Teil von ihnen um Personen, die auch in liberalen Rechtssystemen als Kriminelle kategorisiert worden wären. Andererseits befanden sich unter ihnen Massen von Opfern außerordentlich harscher Gesetzesakte, deren rigider Auslegung durch die Jurisdiktion - denn auch die ,nichtpolitische4 stalinistische Strafgesetzgebung und -justiz wiesen ausgeprägt repressive Züge auf {Peter H. Solomon Jr.: Soviet Criminal Justice under Stalin (Cambridge Russian, Soviet and Post Soviet Studies; 100), Cambridge: Cambridge University Press, 1996) - sowie einer einseitigen Ermittlungspraxis der Strafverfolgungs- und Justizbehörden. Hinsichtlich eines großen, möglicherweise des überwiegenden Teils der im Stalinismus ergangenen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ist daher die Einschätzung, daß der Staat „seine Feinde im wesentlichen selbst produzierte - um sie dann gnadenlos zu bestrafen", durchaus angemessen (Dietrich Beyrau: GULAG - die Lager und das Sowjetsystem, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, 29/3 (2000), S. 166-177, hier: S. 167. Ähnlich: Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 306). 4
Die Grenzen, an die die Forschung in dieser Phase stieß, traten wohl am deutlichsten in der Kontroverse über die absolute Anzahl der Häftlinge in den stalinistischen Lagern und Kolonien zutage. Für eine Aufzählung breit gestreuter Schätzungen und Mutmaßungen, die über Jahrzehnte hinweg hauptsächlich auf der Basis von aus Berichten ehemaliger Lagerinsassen gewonnenen Informationen angestellt wurden, siehe Stettner, Archipel GULag, S. 376-398. Stettners Kommentare und Anmerkungen waren allerdings bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens überholt, da sie sich ebenfalls noch auf dem Wissensstand vor Öffnung der Archive bewegen. 5
Bekanntermaßen wurden solche Versuche über Jahrzehnte hinweg dennoch unternommen, insbesondere von einer Reihe anglo-amerikanischer Historiker, die entsprechend ihres generellen Zugangs zur sowjetischen Geschichte zumeist einem von zwei Lagern zugerechnet wurden, für die sich die Bezeichnungen „totalitaristisch 44 und „revisionistisch 44 einbürgerten. Auf einen Überblick über Verlauf und wesentliche Streitpunkte der resultierenden, nicht immer fruchtbaren Debatten zu Funktion und Zweck des Lagersystems wird an dieser Stelle
I. Zur Problematik der Erforschung des stalinistischen Lagersystems
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Mit der Öffnung eines Großteils der ehemaligen sowjetischen Staats- und Parteiarchive zu Beginn und im Verlauf der 1990er Jahre hat sich die Ausgangslage für Forschungen auf diesem Gebiet grundlegend gewandelt. Seither ist es möglich, Einblicke in die Arbeit jenes Apparates zu nehmen, der für den Aufbau, die Verwaltung und die Kontrolle sämtlicher Lager zuständig war. Wer nun das prompte Einsetzen gründlicher und ambitionierter Forschungen erwartet hatte, sah sich freilich getäuscht. Vielmehr mußte auch Jahre später noch festgestellt werden, daß Rolle und Funktion des stalinistischen Lagersystems noch immer „diffus und umstritten" blieben.6 Erst in allerjüngster Zeit beginnen Untersuchungen, die intensiveren Gebrauch von den verfügbaren Quellenmaterialien machen und dabei zielgerichtete und differenzierte Fragestellungen anwenden, neue Erkenntnisse zu liefern. Daß sich die Forschung lange Zeit schwertat, die archivalischen Quellen für ihre Zwecke nutzbar zu machen, läßt sich zu Teilen sicherlich mit der Unmenge des Materials und dem daraus resultierenden Arbeitsaufwand erklären. 7 Zudem wiesen frühe Versuche, den wissenschaftlichen Diskurs durch die Publikation von Archivmaterialien voranzubringen, nicht selten schwerwiegende handwerkliche und konzeptuelle Mängel auf. 8 Abgesehen von derartigen Erschwernissen läßt sich jedoch noch ein weiteres Phänomen identifizieren, das der analytischen Erschließung des stalinistischen Lagersystems nicht eben zuträglich war. Es besteht darin, daß sich die jüngere Literatur zu diesem Thema tatsächlich oft auf einen deutlich breiteren Untersuchungsgegenstand bezieht. Symptomatisch und möglicherweise mitverantwortlich hierfür ist eine mittlerweile auch in der wissenschaftlichen Literatur weitverzichtet, da sich derartige Zusammenfassungen an vielen Stellen in der Literatur finden zuletzt etwa in knapper und ausgewogener Form in der Einführung von Nicholas Werth zu Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 1: Massovye repressii ν SSSR, S. 57-89, hier: S. 58 f. 6 Bey rau, GULAG - die Lager und das Sowjetsystem, S. 166. Dort ist auch eine knappe Zusammenfassung von bis dahin formulierten Erklärungsansätzen zu finden. 7 In seiner 1995 veröffentlichten umfangreichen Monographie zum Lagersystem verzichtete etwa Ralf Stettner noch auf die Verwendung jeglicher Archivquellen (,Stettner, Archipel GULag). 8 Die frühesten Quelleneditionen waren oft nicht oder nur sporadisch kommentiert und erweckten zudem den Eindruck einer wenig systematischen Quellenauswahl. Hierzu zählen etwa Α. N. Dugin: Neizvestnyj GULAG: Dokumenty i fakty, Moskva: Nauka, 1999; M. /. Chlusov: Èkonomika GULAGa i ee rol' ν razvitii strany, 1930-e gody: Sbornik dokumentov, Moskva: Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Rossijskoj Istorii, 1998. Kritikwürdig ist auch eine 26-folgige Artikelserie zu „Struktur und Kadern" des GULAG, die über weite Strecken aus Textauszügen aus Archivdokumenten besteht (Aleksandr Kokurin I Nikita Petrov/Jurij Morukov: GULAG: Struktura i kadry, Serie von Artikeln in: Svobodnaja mysl' - XXI, erster Teil: 8 (1999), S. 109-128, letzter Teil: 2 (2002), S. 93-122). Obgleich sie zahlreiche wertvolle Informationen enthält, wird ihr Nutzen dadurch empfindlich geschmälert, daß die Autoren es weder für notwendig befanden, Archivsignaturen mitzuliefern, noch irgendeine Aussage zu ihrem Konzept geschweige denn Erkenntnisinteresse zu treffen. Infolgedessen ist ihre Methode der weitgehend chronologisch gegliederten Präsentation von Quellenauszügen nachgerade geeignet, beim Leser Assoziationen zur Anlage russischer frühneuzeitlicher chronografy zu evozieren.
Α. Einführung
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verbreitete Praxis der Benutzung des Begriffs „ G U L A G " (meist in der Schreibweise: „Gulag"), der ursprünglich als Kürzel für die von 1930 bis 1960 existierende Hauptverwaltung der Lager (Glavnoe upravlenie lagerej) der OGPU bzw. des sowjetischen Volkskommissariats/Ministeriums des Inneren ( N K W D / M W D 9 ) diente. 1 0 Sie besteht in seiner Anwendung auf die Gesamtheit der Lager, Kolonien und oft auch sämtlicher sonstiger Haftverbüßungs- und Verbannungseinrichtungen und -orte zur Zeit des Stalinismus, in deren Verwaltung der G U L A G zu unterschiedlichen Perioden in unterschiedlichem Maße auch tatsächlich involviert war, zwischen denen jedoch erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Insassen, ihrer äußeren und inneren Merkmale, ihrer penitentiären und nicht zuletzt ihrer ökonomischen Funktionen bestanden. 11 Hinzu kommt, daß Untersuchungen zum „Gulag" nicht selten auch die dem Lageraufenthalt von Häftlingen vorausgegangenen Ereignisse von Verhaftung, Verhör und Verurteilung behandeln (wobei allerdings oft ausschließlich Schicksale politischer' Häftlinge beleuchtet werden), obgleich die Verantwortlichkeit hierfür nicht beim G U L A G , sondern bei anderen Strukturen des N K W D / M W D 1 2 , der Staatsanwaltschaften, des Justizministeriums und der Parteigliederungen lag. 1 3
9 Die Abkürzungen NKWD, MWD und N K W D / M W D werden im folgenden je nach dem Zeitraum benutzt, auf den sich eine Aussage bezieht, da die „Volkskommissariate" der UdSSR im Jahre 1946 in „Ministerien" umbenannt wurden. 10 Die im Juni 1923 gegründete, unmittelbar dem Rat der Volkskommissare der UdSSR unterstellte OGPU (Ob"edinennoe gosudarstvennoe politiceskoe upravlenie, wörtlich: Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung) war die Nachfolgeorganisation der bolschewistischen Geheimpolizei CK (Crezvycajnaja komissija) und Vorläuferin des im Jahre 1934 gegründeten sowjetischen NKWD. Strenggenommen wurde der GULAG im Jahre 1930 als gewöhnliche Verwaltung (daher lautete die Abkürzung zunächst „ULAG") gegründet; zu einer Hauptverwaltung wurde er erst im Jahr darauf. Innerhalb der folgenden drei Jahrzehnte veränderte sich die offizielle Bezeichnung dieser Institution nicht weniger als zehnmal. Allerdings waren Umbenennungen nicht immer mit administrativen Umstrukturierungen verbunden. Auch taten sie dem durchgängigen Gebrauch der Abkürzung „GULAG" im behördlichen Schriftverkehr keinen Abbruch. Eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Verbreitung dieses Kürzels in der Literatur spielte zweifellos das einflußreiche Werk Solzenicyns (Aleksandr Solzenicyn: Archipelag GULag: Opyt chudozestvennogo issledovanija, Paris: YMCA-Press, 1973). 11
Zu den genauen Merkmalen von Lagern und Kolonien sowie von weiteren während des Stalinismus existierenden Kategorien von Haftverbüßungs- und Verbannungsorten s. u. S. 43, Fußnote 44. Im Gegensatz zu der geschilderten Praxis wird die Abkürzung GULAG in dieser Arbeit ausschließlich zur Benennung der Hauptverwaltung der Lager und Kolonien im N K W D / M W D benutzt. 12 Bzw., nach dessen Ausgliederung aus dem NKWD von Februar bis Juli 1941 sowie erneut im April 1943, des NKGB/MGB, des Volkskommissariats / Ministeriums für Staatssicherheit. 13 Abgesehen vom Werk Solzenicyns liegt eine solche Anlage auch den Versuchen einer Gesamtdarstellung der Geschichte des sowjetischen Lagersystems von Galina Ivanova und Anne Applebaum zugrunde (Galina M. Ivanova: GULAG ν sisteme totalitarnogo gosudarstva, Moskva: Moskovskij obscestvennyj naucnyj fond, 1997, S. 19; Anne Applebaum: Gulag: A History, New York: Doubleday, 2003; deutsche Ausgabe: Der Gulag, Berlin, 2003). Am Rande
I. Zur Problematik der Erforschung des stalinistischen Lagersystems
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Nun ist die Popularität eines solchen Zugriffs nicht überraschend. Immerhin entspricht er der Erlebnisperspektive von Millionen Menschen, die als Opfer von Terror und Unterdrückung in Lagerhaft gerieten und in deren Augen Untersuchungshaft und Lager zwei Instrumente desselben Repressionsapparates darstellten. Ebenso läßt sich argumentieren, daß willkürlicher Arrest, Folter, zwangsweise Exilierung, Lagerhaft und natürlich auch Hinrichtung allesamt fundamentale Eingriffe in Freiheit, Selbstbestimmungsrecht und körperliche Unversehrtheit der Betroffenen darstellten, die zudem von ein und derselben politischen Führung sanktioniert wurden. Gerade wenn eine Beschreibung der repressiven Elemente der stalinistischen Herrschaft und ihrer Konsequenzen angestrebt wird, ist daher die gleichzeitige Untersuchung all ihrer Unterformen und Auswüchse durchaus angebracht.14 In analytischer Hinsicht ist dieses Vorgehen jedoch nicht frei von Tücken, kann es doch dazu verleiten, die erheblichen Unterschiede zu vernachlässigen, die zwischen den verschiedenen Typen stalinistischer Strafvollzugs-, Internierungs- und Verbannungsinstitutionen bestanden. So sahen sich die Insassen von Lagern und Kolonien permanent einem rigoros durchgesetzten Arbeitszwang gegenüber. Für die Opfer von Verbannung und Deportationen stellte sich die Situation weitaus differenzierter dar. Zum einen unterlagen sie Restriktionen bei der Wahl von Arbeitsplätzen, die ihnen überwiegend zugewiesen wurden. Zum anderen waren die resultierenden Arbeitsverhältnisse in Industrie oder Landwirtschaftsbetrieben über weite Strecken denen angeglichen, die für normale Beschäftigte galten. Dessen ungeachtet stellte eine solche Beschäftigung zumeist schlicht die einzige Möglichkeit dar, den Lebensunterhalt am neuen Aufenthaltsort zu bestreiten. 15 Insassen von sei vermerkt, daß Publikationen, die den offenbar publikumswirksamen Begriff „Gulag" (mitunter bereits mit kleinem Anfangsbuchstaben) im Titel führen, sich mittlerweile auf Internierungs- und Strafanstalten oder auch Repressionsapparate in den unterschiedlichsten geographischen und chronologischen Kontexten beziehen können. Als Beispiele seien genannt: Caroline Elkins: Imperial reckoning: the untold story of Britain's Gulag in Kenya, New York: Henry Holt, 2005; Ν ghia M. Vo: The bamboo gulag: political imprisonment in communist Vietnam, Jefferson (N.C.)/London: McFarland, 2004; Mark Dow: American gulag: inside U.S. immigration prisons, Berkeley: University of California Press, 2004. Inwiefern in diesen und zahlreichen weiteren Fällen Parallelen zwischen dem jeweiligen Gegenstand und den ,ursprünglichen' Institutionen stalinistischer Prägung in einem Maße vorliegen, das eine begriffliche Gleichsetzung rechtfertigen würde, bedarf hier keiner weiteren Erörterung. 14 Ein gelungenes Beispiel hierfür stellt Oleg Chlevnjuks jüngstes Werk dar (Khlevniuk, The History of the Gulag), in welchem dem Kontext des staatlichen Terrors ausführliche Beachtung geschenkt wird. Zwar benutzt auch Chlevnjuk „Gulag" als weitgefaßten Sammelbegriff, verliert jedoch dabei dessen Vielgestaltigkeit zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. Daher laufen in seiner Darstellung die im folgenden angesprochenen Unterschiede zwischen verschiedenen Institutionen sowie die Trenn- und Konfliktlinien zwischen der Politik des Terrors zum einen und der Institution des Lagersystems zum anderen keine Gefahr, verwischt zu werden. 15 Die Charakteristika der Beschäftigungssituation von Verbannungsopfern können hier aus Platzgründen nicht im einzelnen dargelegt werden. Informationen zu Arbeitssituation und -bedingungen der unterschiedlichen Gruppen von Verbannten zu verschiedenen Phasen im Hinblick auf Einschränkungen der Wahl des Arbeitsplatzes, Mobilität, Entlohnung und
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Α. Einführung
Gefängnissen mußten indes in der Regel keinerlei Arbeit verrichten, während die mit empfindlichen Lohnabzügen verbundene „Besserungsarbeit" am Arbeitsplatz, zu der während des Stalinismus Millionen von Beschäftigten verurteilt wurden, für die Betroffenen keine Internierung mit sich brachte. Was das Lagersystem betrifft, besteht zudem eine der wichtigen, aus neu zugänglichen Archivdokumenten gewonnenen Erkenntnisse darin, daß es sich keineswegs nahtlos in einen quasi-monolithischen staatlichen Repressionsapparat einfügte. Aus dem internen Schriftverkehr des G U L A G geht hervor, daß die Anzahl der Verhaftungen aus Sicht der Administratoren des Lagersystems oft unerwartete und bisweilen sogar unerwünschte Entwicklungen nahm. 1 6 A u f die Flut neuer andere Faktoren liefert etwa die Einleitung zu Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 5, Specpereselency ν SSSR, S. 23-94, insbes. S. 34 ff., 38 ff., 41 f., 45 f., 49 f., 57 f., 60 f., 63, 67 f., 70, 72 f. Dort ist auch die einschlägige Literatur zum Thema nachgewiesen. Für die Vorkriegszeit siehe zudem Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 12-18, 20 f., 124 f., 270, 273. 16 Dieser Schluß läßt sich auf der Basis dokumentierter Erörterungen des Arbeitskräftebedarfs in Lagern und Unternehmen des NKWD / MWD vor dem Hintergrund der Zahl der zu erwartenden Zugänge neuer Häftlinge ziehen. Siehe etwa für die späten 1930er Jahre: GARF. R-9414.1.1140: 38 ff., 130, für die späten 1940er Jahre: GARF. R-9414.1.334: 191 ff.; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Èkonomika Gulaga, S. 257 sowie für den Anfang der 1950er Jahre: GARF. R-9414.1.117: 14. Für weitere Belege s. Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 10, 24, 84, 244 sowie Oleg Khlevnyuk: The Economy of the Gulag, in: Paul R. Gregory (Hg.): Behind the Façade of Stalin's Command Economy, Stanford: Hoover Institution Press, 2001, S. 111-129, hier: S. 118. Chlevnjuk hält sogar einen Zusammenhang zwischen den kurzfristigen Kapazitätsgrenzen, an die das Lagersystem in der Phase des Massenterrors stieß, und der hohen Zahl von Exekutionen während der Jahre 1937-38 für plausibel. Von dieser Erkenntnis klar zu trennen ist James Harris' Beobachtung, daß Partei- und Verwaltungsorgane im Ural während des Prozesses der „Entkulakisierung" im Zeitraum 19301931 nachdrücklich mehr Deportationen (nicht: Verhaftungen) unter der Landbevölkerung zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs regionaler Industriezweige forderten {James R. Harris: The Growth of the Gulag: Forced Labor in the Urals Region, 1929-1931, in: Russian Review, 56/2 (Apr. 1997), S. 265-280, hier: S. 273 ff. Für eine Kritik des von Harris insinuierten Einflusses regionaler Initiativen auf die generelle Entwicklung der Ausnutzung von Zwangsarbeit in der UdSSR s. Andrej B. Suslov: Speckontingent i prinuditel'nyj trud ν sovetskich penitenciarnych koncepcijach 1930-ch godov, in: Otecestvennaja istorija, 5 (2004), S. 8196, hier: S. 84 f.). Nun nimmt Harris zwar für sich in Anspruch, über „den Gulag" zu schreiben, und spricht irreführenderweise von „camps", bezieht sich jedoch tatsächlich auf sogenannte „Spezialsiedlungen" für Verbannte, die sich, wie bereits erläutert, von den „Besserungsarbeitslagern" und ,,-kolonien" in vielen Punkten prinzipiell unterschieden (vgl. auch u. S. 43, Fußnote 44). Nichtsdestoweniger schließt er von seinen Ergebnissen in einer unzulässigen Verallgemeinerung auf das gesamte „camp system" {Harris, S. 265 f., 279 f.), womit er ein Beispiel für die Verwirrung liefert, die eine unpräzise Verwendung des Begriffes „Gulag" stiften kann. Gesondert zu betrachten ist schließlich der Umstand, daß manche Verhaftungen von Wissenschaftlern und Ingenieuren den Zweck hatten, die betreffenden Personen gezielt in bestimmten Unternehmen des N K W D / M W D einzusetzen {Applebaum, Gulag, S. 55) oder aber an speziellen, isolierten Orten (sogenannten saraski) unter privilegierten' Bedingungen festzuhalten und mit der Ausarbeitung geheimer technischer Projekte, etwa im Flugzeugbau oder der Atomindustrie, zu betrauen {Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 197 f.; Jacques Rossi : Spravocnik po Gulagu, zweite, erw. Ausgabe, Moskva: Prosvet, 1991, S. 452 f.).
I. Zur Problematik der Erforschung des stalinistischen Lagersystems
19
Häftlinge, die der Massenterror der Jahre 1937 und 1938 hervorbrachte, war der GULAG vollkommen unvorbereitet. Ähnliches galt für den Anstieg der Häftlingszahlen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 17 Mehr noch - bei seiner Entscheidung über die Amnestie, die im Sommer 1945 über 600.000 Häftlingen mit kürzeren Haftstrafen die vorzeitige Freilassung und weiteren Hunderttausenden erhebliche Haftzeitverkürzungen bescherte, ließ Stalin die von der Verwaltung des Lagersystems vorgebrachten Einwände angesichts der zu erwartenden ökonomischen Kosten einer solchen Maßnahme nicht gelten.18 Hieraus folgt zum einen, daß die Anzahl der im Lagersystem verfügbaren Häftlinge, insofern sie durch Verhaftungen einerseits und Haftentlassungen andererseits determiniert wurde, nicht etwa eine Funktion eines hypothetischen Bedarfs an Zwangsarbeitern, sondern vielmehr aus Sicht der Administratoren des Lagersystems eine weitgehend exogene, kaum beeinflußbare Größe bildete. Zum anderen wird deutlich, daß die die Verhaftungen und Verurteilungen ausführenden Behörden einerseits und das Lagersystem andererseits funktional separate Institutionen bildeten, die unterschiedliche Aufgaben erfüllten und dabei ihre Handlungen keineswegs perfekt aufeinander abstimmten. Obgleich auf der Hand liegt, daß solche Einsichten Grundlage jeglicher Debatte über Wesen und Funktion des Lagersystems sein sollten, werden ihre Implikationen noch in der jüngsten Forschung nicht immer hinreichend berücksichtigt. Wenn beispielsweise Golfo Alexopoulos feststellt, daß die von der Staatsführung im Jahre 1945 erlassene Amnestie keinen erkennbaren ökonomischen Hintergrund hatte und daraus ableitet, daß der „gulag [ . . . ] , first and foremost," eine Hafteinrichtung darstellte und als solche verstanden und interpretiert werden sollte 19 , vernachlässigt sie den von ihr selbst erkannten Konflikt zwischen Einzelmaßnahmen stalinistischer Justizpolitik einerseits und Interessen und Strategien der mit der Verwaltung des Lagersystems betrauten Institutionen andererseits. 20 Zusammengenommen illustrieren diese Betrachtungen, daß es eine problematische Herangehensweise darstellt, eine Vielzahl von unterschiedlichen Institutionen und mit diesen verbundenen Politiken unter dem Begriff „Gulag" zusammen>7 M. B. Smirnov/S. P. Sigacev/D. V. Skapov: Sistema mest zakljucenija ν SSSR: 19291960 gg., in: Μ. B. Smirnov (Hg.): Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej ν SSSR, 19231960: Spravocnik, Moskva: Zven'ja, 1998 (Volltext verfügbar unter: http://www.memo.ru/ history /NKVD/GULAG/; deutsche Ausgabe: Μ. B. Smirnow (Hg.): Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 -1960: ein Handbuch (Beiträge zur neueren Geschichte Rußlands: 3), Berlin, 2003), S. 25-74, hier: S. 40 ff.; Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 177 ff. Ausführlicher zur Entwicklung der Häftlingszahlen s. Unterkapitel C. I. 18 Golfo Alexopoulos: Amnesty 1945: The Revolving Door of Stalin's Gulag, in: Slavic Review, 64/2 (Summer 2005), S. 274-306, hier: S. 284 ff., 304 f. 19 Ebd., S. 303. Ähnlich auf S. 305: „The 1945 amnesty underscores the gulag's essential character as a penal institution." Alexopoulos bezeichnet das Lagersystem als „gulag", während sie die Hauptverwaltung (den GULAG) als „Gulag" bezeichnet (freilich nicht ganz konsequent, vgl. S. 288). 20 Ebd., S. 284.
2=
20
Α. Einführung
zufassen und auf das resultierende, polymorphe Konstrukt sodann undifferenzierte Fragen, wie etwa jene nach einem zugrundeliegenden (politischen, ökonomischen oder sonstigen) Primat, anzuwenden.21 Dies heißt nicht, daß es innerhalb des stalinistischen Repressionsapparates sowie der Gesamtheit der sowjetischen Strafverbüßungsanstalten keine institutionenübergreifenden Querverbindungen, Trends und Politiken gab. Generalisierende Aussagen sollten jedoch erst dann getroffen werden, wenn ein angemessenes Verständnis der unterschiedlichen Gegenstände besteht, auf die sie sich beziehen. Daher empfiehlt es sich, den Blick zunächst auf die tatsächlich existierenden und handelnden Institutionen zu richten, anstatt a priori einen weitgespannten, doch unscharfen „Gulag"-Begriff einzuführen. Konzentriert man sich etwa, wie es hier geschehen soll, auf das stalinistische Lagersystem und begreift dieses als eine Institution mit spezifischen Aufgaben, die sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und unter Beachtung vorgegebener Regeln und Spielräume zu erfüllen hatte, löst sich mancher scheinbare Widerspruch rasch auf, und neue, präzisere Fragestellungen werden möglich. So läßt sich aus dieser Perspektive leicht konzedieren, daß das Lagersystem selbstverständlich eine Haftverbüßungseinrichtung war, ausgestattet mit den typischen institutionellen Merkmalen einer solchen. Ebenso evident ist die Feststellung, daß es wie jede Haftverbüßungseinrichtung seine Existenz dem Umstand verdankte, daß Haftstrafen verhängt wurden, und sein Wachstum dem nahezu beispiellosen Ausmaß, in dem dies in der Sowjetunion zur Zeit des Stalinismus geschah. Berücksichtigt man diese schlichten, doch grundlegenden Einsichten, sollte eine der zentralen Fragen nunmehr lauten: Nach welchen Regeln funktionierte die Haftinstitution Lagersystem, und wodurch wurden ihre Struktur und ihre Erscheinungsformen geprägt und bestimmt?
II. Entwicklung und Eingrenzung der Fragestellung: Zwangsarbeit in Norilsk Bereits vor Öffnung der relevanten Archive wurde den stalinistischen Lagern, abgesehen von der offensichtlichen Aufgabe der Internierung ihrer Insassen, häufig eine in erster Linie ökonomische Rolle zugewiesen.22 Manche solcher frühen Hypothesen unterstellten eine Abhängigkeit des Wachstums des (damals in seinen Ausmaßen meist überschätzten) Lagersystems von einer umfassenden industriellen Entwicklungsstrategie und basierten damit auf einer Annahme, die sich im Lichte der skizzierten neueren Erkenntnisse zu den Hintergründen der Entwicklung der Häft21
Eine derartige Interpretation liefert auch Steven Barnes: „the Gulag was in fact a penal institution first, and a productive institution second" (Steven A. Barnes: Soviet Society Confined: The Gulag in the Karaganda region of Kazakhstan, 1930s-1950s, Ph.D. dissertation, Stanford University, 2003, S. 49). 22 Edwin Bacon: The Gulag at War, Birmingham: Macmillan, 1994, S. 49. Vgl. auch die dort nachgewiesene ältere Literatur zum Thema.
II. Entwicklung und Eingrenzung der Fragestellung: Zwangsarbeit in Norilsk
21
lingszahlen als irrig erwiesen hat. 2 3 Jüngere Studien tendieren jedoch dazu, die Bedeutung der wirtschaftlichen Dimension auf niedrigerer Ebene zu betonen: Auch wenn Menschen nicht aus ökonomischem Kalkül verhaftet wurden, so die Argumentation, dienten die Lager, in denen sie anschließend inhaftiert waren, in erster Linie wirtschaftlichen Zwecken - wobei es sich zudem in deutlich überproportionalem Maße um die Ausführung von Investitionsvorhaben und Produktionsaufgaben handelte, denen i m Industrialisierungsprozeß eine besondere Rolle zukam. 2 4 Jeglicher wirtschaftliche Zweck, den das Lagersystem erfüllt haben könnte, mußte jedoch auf der Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge beruhen. Aus deren Sicht wiederum war gerade dies das prägendste Merkmal des Lageralltags: der 23 Dies gilt etwa für die seinerzeit einflußreiche Arbeit von Stanislaw Swianiewicz: Forced labour and economic development: An enquiry into the experience of Soviet industrialization, London/New York: Oxford University Press, 1965. 24 Khlevnyuk: The Economy of the Gulag; ders.: The Economy of the OGPU, NKWD and MWD of the USSR, 1930-1953: The Scale, Structure and Trends of Development, in: Paul R. Gregory / Valéry Lazarev (Hg.): The Economics of Forced Labor: The Soviet Gulag, Stanford: Hoover Institution Press, 2003 (Volltext verfügbar unter http://www-hoover.stanford.edu/publications/books/gulag.html), S. 43-66; siehe auch die Beiträge von Nordlander, Ertz, Joyce und Lazarev im selben Band. In der aktuellen Forschung finden sich auch alternative Interpretationen. Hierzu zählt etwa Steven Barnes' ambitionierter Versuch, den „Gulag" primär im Kontext des Projektes der Schaffung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft zu deuten, innerhalb dessen ihm die Rolle eines sozialen Filter- und Auslesemechanismus zugekommen sei {Barnes, Soviet Society Confined, S. IV). Barnes' Kernthese lautet: „Every practice of the Gulag, every institution, was designed to participate in the sorting of prisoners to define the redeemable from the irredeemable, those fit for socialism from those who were not. The line between fit and unfit was one that shifted in response to Soviet and world historical events, and in this perpetual shifting of filters one finds the history of the Gulag" (ebd., S. 38). Einerseits erforscht der Autor damit eine bislang wenig berücksichtigte Perspektive, die durchaus plausible Erklärungen für verschiedene politische und kulturelle Praktiken der Administration sowie für subjektive Erfahrungen von Häftlingen liefert. Andererseits leidet auch seine Arbeit an der bereits erläuterten konzeptionellen Schwäche der Wahl eines unscharfen „Gulag"-Begriffs, unter dem unterschiedliche Typen von Strafverbüßungs- und Verbannungseinrichtungen subsummiert werden (ebd., S. 32), was auch in diesem Falle die Identifizierung von spezifischen institutionellen Akteuren und deren Strategien erschwert. So trifft Barnes beispielsweise die Feststellung: „central and local Gulag authorities perpetually sought to make the most effective economic use of the inmate population" (ebd., S. 38), spielt jedoch deren Bedeutung sogleich mit Verweis auf die politischen Faktoren, von denen das Wachstum des Lagersystems abhing, herunter. Freilich bleibt der Widerspruch zu seiner zitierten General these bestehen: Sollte der „Gulag" tatsächlich in jeder Hinsicht als sozial-hygienische Institution ausgelegt gewesen sein, läßt sich kaum erklären, weshalb das beständige Interesse der „central and local Gulag authorities" ökonomischen Zielen galt. Bezeichnenderweise räumt Barnes wenig später ein, die Lagerleitung in Karaganda habe sich, wie auch der „Gulag" insgesamt, sowohl einer wirtschaftlichen Aufgabe als auch den Anforderungen eines dem Resozialisierungsziel verpflichteten Strafvollzugs gegenübergesehen, was seine Hauptthese erheblich relativiert (ebd., S. 43). Daher vermag die von ihm vorgeschlagene Sichtweise, wenngleich sie durchaus zu einem differenzierteren Bild des Lagersystems als politische, soziale und kulturelle Institution beiträgt, ihrem Anspruch als universelles Schema zur Erklärung seiner Erscheinungsformen und Funktionsweise nicht gerecht zu werden.
22
Α. Einführung
Zwang zu äußerst harter, in aller Regel körperlicher Arbeit. „Work was the central function of most Soviet camps. It was the main occupation of prisoners, and the main preoccupation of their administration", stellt Anne Applebaum fest, während Steven Barnes vermerkt: „Labor was the defining feature of the Soviet Gulag". 25 Es mag daher verwunderlich erscheinen, wie wenig die seit Öffnung der Archive bestehenden Möglichkeiten, sich gezielt mit Zwangsarbeit als dem zentralen Problem des Lagersystems zu befassen, bisher genutzt worden sind. 26 Die vorliegende Untersuchung stellt einen der ersten Versuche dar, diesem Defizit zu begegnen.27 Indem sie nach den Mitteln und Methoden fragt, mit denen dort Zwangsarbeit organisiert, verwaltet und ,gemanagt4 wurde, spürt sie den internen Funktionsmechanismen des stalinistischen Lagersystems hinsichtlich der Erfüllung seiner zentralen Aufgabe nach. Der oben erläuterten Einsicht in den Nutzen eines solchen Zuganges Rechnung tragend, wird dabei den administrativen Akteuren, wobei es sich insbesondere um Strukturen des GULAG, des N K W D / M W D und weiterer staatlicher Institutionen handelt, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre Handlungen und Entscheidungen - allgemeiner: ihr beobachtbares Verhalten - sollen auf zugrundeliegende Strategien und damit letztlich auf die Intentionen und Ziele überprüft werden, die hinter der im Lagersystem praktizierten massenhaften Ausnutzung von Häftlingsarbeit standen. Die Form dieser Untersuchung wird durch Gegenstand und Forschungslage nahezu diktiert. Zum sowjetischen Lagersystem zählten im Zeitraum zwischen 1923 und 1960 nicht weniger als 476 verschiedene „Besserungsarbeitslager". 28 25
Applebaum, Gulag, S. 217; Barnes, Soviet Society Confined, S. 44. 6 Khlevnyuk: The Economy of the GULAG, S. 129. Barnes diskutiert in seiner Untersuchung zwar verschiedene Aspekte der Zwangsarbeit im Karagandaer Lager, überbetont dabei jedoch, von seiner bereits zitierten Prämisse zur Rolle des „Gulag" ausgehend, deren Funktion als Umerziehungsmethode {Barnes, Soviet Society Confined). Applebaums Werk ist dagegen generell eher deskriptiven denn analytischen Charakters {Applebaum, Gulag). Noch immer hilfreich für eine Annäherung an einige der zentralen Forschungsfragen ist Elena A. Tjurina: Die Rolle der Zwangsarbeit in der Wirtschaft der UdSSR: Eine Quellenanalyse, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hg.): Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation: Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte - NF: 10), Essen, 1999, S. 267-278. 2
27 Unter den Arbeiten, die sich bislang unter Heranziehung von Archivmaterialien mit Aspekten der Organisation von Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem befaßt haben, sind zu nennen: Leonid Borodkin/Simon Ertz: Coercion versus Motivation: Forced Labor in Norilsk, in: Gregory / Lazarev, The Economics of Forced Labor, S. 75 -104; dies.: Struktura i stimulirovanie prinuditel'nogo truda ν GULAGe: Noril'lag, konec 1930-ch - nacalo 1950-ch gg., in: Èkonomiceskaja Istorija: Ezegodnik 2003, Moskva: ROSSPEN, 2004, S. 177-233; dies.: Forced Labour and the Need for Motivation: Wages and Bonuses in the Stalinist Camp System, in: Comparative Economic Studies, 47/2 (Juni 2005), S. 418 - 436; Simon Ertz: Trading Effort For Freedom: Workday Credits in the Stalinist Camp System, ebd., S. 476-491. 28 Diese Anzahl von Lagerverwaltungen ist aufgelistet in Smirnov, Sistema ispravitel'notrudovych lagerej. Zu beachten ist allerdings, daß für eine gewisse Zahl von Lagern und Lagerkomplexen mehrere Einträge existieren, die durch Umstrukturierungen (etwa Zusammenlegungen oder Aufspaltungen) zu erklären sind. Zeitgleich existierten, grob gesprochen,
II. Entwicklung und Eingrenzung der Fragestellung: Zwangsarbeit in Norilsk
23
Die weitaus meisten existierten während der Periode der unangefochtenen Herrschaft Stalins (Ende der 1920er Jahre bis 1953). Manche dieser Lager bestanden nur wenige Monate, andere länger als zwei Jahrzehnte. Während die kleinsten unter ihnen nur einige hundert Häftlinge umfaßten, stellten einige gewaltige Komplexe mit Hunderten von Lagerabteilungen und bis zu 200.000 Insassen dar. Manche Lager befanden sich i m Umkreis Moskaus, andere wiederum in den entlegensten und lebensfeindlichsten Regionen der Sowjetunion. Zugleich variierten die wirtschaftlichen Branchen, in denen die Häftlinge unterschiedlicher Lager arbeiten mußten, erheblich. Die den Lagern in vielerlei Hinsicht ähnelnden, zu Tausenden zählenden „Besserungsarbeitskolonien" boten zwar hinsichtlich ihrer Größe ein einheitlicheres Bild, doch waren auch sie über weite Teile des besiedelten Territoriums der UdSSR verstreut. 29 Zwar liegen mittlerweile verschiedene Untersuchungen zu einzelnen Lagern und Lagerkomplexen vor. Allerdings finden sich darunter kaum Beiträge, die i m Hinblick auf die gewählte Fragestellung wesentliche Vorarbeiten geleistet hätten. 3 0 Da das Lagersystem als Ganzes aufgrund seiner Größe und Vielgestaltigkeit somit als potentielles Untersuchungsobjekt ausscheidet, verbleibt vorerst als einzige sinnvolle und realisierbare Möglichkeit ihrer Anwendung eine Fallstudie. 3 1 zwischen etwa einem Dutzend (frühe 1930er Jahre), wenigen Dutzend (späte 1930er- zweite Hälfte 1940er Jahre) und deutlich mehr als hundert (späte 1940er - frühe 1950er Jahre) verschiedene Lagerverwaltungen. 29
Nähere Ausführungen zu den Charakteristika von Lagern und Kolonien s. u. S. 43, Fußnote 44. Ausführlicher zu dieser Frage: Simon Ertz: Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg.: èvoljucija struktury i principov upravlenija, in: Leonid Borodkin / Paul Gregory/Oleg Chlevnjuk (Hg.): GULAG: Èkonomika prinuditel'nogo truda, Moskva: ROSSPÈN, 2005, S. 90-128. Für eine ausführlichere Rohfassung dieses Artikels siehe Simon Ertz: Tracking Down the ,Real' GULAG: Explorations into the Administration of the Stalinist Forced Labour Camp System, PERSA Working Papers no. 33, University of Warwick, Department of Economics (Text in Russisch), verfügbar unter http: // www.warwick.ac.uk/go/persa. 30 Hierunter fallen unter anderem: Christopher Joyce: The Gulag in Karelia: 1929 to 1941, in: Gregory / Lazarev, The Economics of Forced Labor, S. 163-187; Mikhail Morukov: The White Sea-Baltic Canal, ebd., S. 151-162; David J. Nordlander: Magadan and the Economic History of Dalstroi in the 1930s, ebd., S. 105 -125; ders.: Origins of a GULAG Capital: Magadan and Stalinist Control in the Early 1930s, in: Slavic Review, 57/4 (Winter 1998), S. 791-812. Unsystematisch: Viktor A. Berdinskich: Istorija odnogo lagerja (Vjatlag), Moskva: Agraf, 2001. Frühere Arbeiten zum Norilsker Lagerkomplex: Simon Ertz: Building Norilsk, in: Gregory /Lazarev, The Economics of Forced Labor, S. 127-150; ders.: Stroitel'stvo Noril'skogo gorno-metallurgiceskogo kombinata (1935-1938 gg.): stanovlenie krupnogo ob"ekta èkonomiceskoj sistemy GULAGa, in: Ékonomiceskaja Istorija: Ezegodnik 2003, S. 140-176; Borodkin/Ertz, Coercion versus Motivation. 31
Tjurina, Die Rolle der Zwangsarbeit in der Wirtschaft der UdSSR, S. 274. Auch Viktor Funk et al. kommen zu dieser Einsicht: „Eine genaue Abwägung zwischen den Zielen des Systems ist ohne mehr Einzelstudien nicht möglich." (Viktor Funk et al.: Zwangsarbeit im Gulag, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 3 / 2 (Herbst 2002), S. 31-46, hier: S. 33). Freilich erscheinen vor diesem Hintergrund die Schlüsse, zu denen letztgenannte Autoren fast ausschließlich auf der Basis von entweder aggregierten oder pauschalierten Informationen gelangen, hinsichtlich ihrer geringen Ausdifferenzierung und ihres ausgreifenden Geltungsanspruches anfechtbar (ebd., S. 46).
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Α. Einführung
Zum Gegenstand hierfür wurde das Norilsker Kombinat sowie das mit diesem eng verbundene, von 1935 bis 1956 bestehende „Norilsker Besserungsarbeitslager" (.Noril'skij ispravitel'no-trudovoj lager 7Kurzform: Noril'lag) ausgewählt.32 In der entlegenen Norilsker Region mußten Häftlinge gewaltige Vorkommen von Nickel, Kupfer und anderen Nichteisenmetallen erschließen und ausbeuten. Die Parameter des Vorhabens ließen es von Beginn an nachgerade als Idealfall für die Anwendung des im Frühstalinismus entwickelten Modells der massenhaften Ausnutzung von Zwangsarbeit in gewaltigen Arbeitslagern erscheinen.33 Ein besonderes Interesse für das Norilsker Lager begründen jedoch auch die lange Dauer seines Bestehens und der gewaltige Umfang, den es erreichte: Etwa 275.000 Häftlinge durchliefen diesen Lagerkomplex während seiner über zwanzigjährigen Existenz34 - eine Größenordnung, die schon für sich genommen die Beschäftigung mit ihm rechtfertigen würde. Bei der Durchführung einer Fallstudie, die zugleich dazu dienen soll, Rückschlüsse auf eine größere Gesamtheit zu ermöglichen, muß freilich deren Gegenstand mit letzterer in Beziehung gesetzt werden, um ihn auf Übereinstimmungen und Abweichungen zu überprüfen. Nur wenn die Charakteristika des konkreten Untersuchungsobjektes in vollem Maße berücksichtigt werden, ist es möglich, an ihm gewonnene Erkenntnisse auch auf größere Zusammenhänge zu übertragen. Angestrebt wird daher nicht eine isolierte, sondern eine erweiterte Fallstudie, die ihr Untersuchungsobjekt in seiner Eingebundenheit in das Gesamtsystem betrachtet. Zu diesem Zweck werden im weiteren Vorgehen, wo immer dies möglich ist, Vergleiche angestellt, wozu zumeist aggregierte Daten für das gesamte Lagersystem herangezogen werden. Damit wird gewährleistet, daß etwaige Besonderheiten, die das Norilsker Lager und die Methoden und Strategien, denen die dortige Ausnutzung von Zwangsarbeit folgte, von anderen sowjetischen Lagern unterschieden, erkennbar werden. Die Wahl des gesamten Lagersystems als Vergleichsobjekt wird ebenso wie die Untersuchung von Praktiken und Regeln, die sowohl in Norilsk als auch in allen anderen Lagern galten, den Nebeneffekt haben, daß manche Informationen, die das Lagersystem als Ganzes betreffen und in der bisherigen Forschung noch nicht oder nicht eingehend berücksichtigt wurden, zutage gefördert werden. Solche Erkenntnisse werden durchweg in die Argumentation einbezogen. Die chronologische Eingrenzung ist zunächst durch den Zeitabschnitt von 1935 bis 1956 vorgegeben, während dessen das Norilsker Lager bestand. Da die Periode 32
Die genaue Abgrenzung zwischen Lager und Kombinat ist Gegenstand des Unterkapitels B. III. Neben dem Norilsker Lager bestand in Norilsk von 1948 bis 1954 noch ein weiterer Lagerkomplex, das „Speziallager Nr. 2", das, wie in Teil Β. V I erläutert wird, mit dem Norilsker Lager und der Produktionstätigkeit des Norilsker Kombinates eng verwoben war. Obgleich die Quellenbasis zu diesem Lagerkomplex wesentlich dünner ist, wird daher nach Möglichkeit auch auf die Arbeit der Häftlinge des Speziallagers eingegangen. 33 34
Vgl. hierzu insbesondere Unterkapitel Β. II. Viktor Zberovskij: Ljudi Noril'laga, in: Krasnojarskaja pjatnica, 16 (09. 06. 2000).
III. Bemerkungen zu den benutzten Quellen
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des Stalinismus im Zentrum des Interesses steht, wird jedoch von der näheren Untersuchung der letzten drei Jahre der Existenz des Lagers, in denen seine rasche und kontinuierliche Verkleinerung und schließlich seine Auflösung stattfand, weitgehend abgesehen. Innerhalb der Periode von 1935 bis 1953 erlegt die unterschiedliche Verfügbarkeit und Dichte des Quellenmaterials weitere Restriktionen auf. Infolgedessen werden manche der einzelnen untersuchten Punkte nur in bezug auf die 1940er Jahre (1940/41 -1948/49) behandelt werden können. Selbst in solchen Fällen liegen damit jedoch noch immer Daten für Zeiträume vor, die die Vorkriegssituation, die Kriegsjahre und die Nachkriegsperiode (welcher in der bisherigen Forschung am wenigsten Beachtung geschenkt wurde) einschließen.
III. Bemerkungen zu den benutzten Quellen Die Grundlage dieser Untersuchung bilden in der Hauptsache Quellen. An erster Stelle sind die Aktenbestände zu nennen, welche die in die Verwaltung des Lagersystems involvierten Behörden und Institutionen hinterlassen haben und die seit der Öffnung der Mehrzahl der zentralen Archive ehemaliger sowjetischer Staatsund Parteiorgane in großem Umfang zugänglich geworden sind. 35 Nahezu sämtliche dieser Materialien unterlagen zur Zeit ihrer Entstehung und bis in die jüngste Vergangenheit hinein strenger und strengster Geheimhaltung. Sie waren ausschließlich befugten Mitarbeitern der betroffenen Institutionen sowie einer geringen Anzahl höchstrangiger Repräsentanten des Staates und der Partei zugänglich. Tatsächlich galten nahezu alle relevanten Informationen, die die Arbeit des GULAG und seiner nachgeordneten Behörden betrafen, offiziell als Staatsgeheimnis. 36 Der Wert dieser Quellen gerade im Hinblick auf die gewählte Fragestellung 35 Zu allgemeinen Problemen und Perspektiven der Benutzung der ehemals sowjetischen Staats- und Parteiarchive siehe die Sonderausgabe von Cahiers du monde russe, 4 0 / 1 - 2 (Jan.-Juni 1999), darin insbes. die Beiträge von Andrea Graziosi und Oleg Chlevnjuk. Für stimulierende Problemaufrisse s. auch Klaus Gestwa: Reflektierte Archivarbeit - der „Königsweg" osteuropäischer Zeitgeschichte: Die übersichtliche Welt der „Modelle" und die „konstitutive Widersprüchlichkeit" des Sowjetsystems, in: Osteuropa, 50/5 (2000), S. 549561 sowie die themenbezogene Diskussion in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (N.F.), 51/1 (2003) mit Beiträgen von Jörg Baberowski, Jan Plamper, Laura Engelstein, Peter Holquist und Igal Halfin. Einen umfassenden und detaillierten Überblick über die Bedeutung von bislang aus Archivdokumenten gewonnenen Erkenntnissen für die Analyse der Politökonomie des Stalinismus, versehen mit einer umfangreichen Bibliographie, bieten Paul Gregory/ Mark Harrison : Allocation under Dictatorship: Research in Stalin's Archives, in: Journal of Economic Literature, 43/3 (Sep. 2005), S. 721 -761. 36 Mark Harrison: Secrecy, in: ders.: Guns and Rubles: The Defence Industry in the Stalinist State (in Vorbereitung). Der Schleier der Geheimhaltung wurde in der Sowjetunion keineswegs ausschließlich über solche empfindlichen Felder wie das Lagersystem, die Arbeit der Sicherheitsorgane oder das Militär gebreitet. Geheimhaltung von Aktivitäten und Entscheidungen der höchsten Staatsorgane war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. So wurde zwischen 1930 und 1941 nur jedes zehnte von 32.500 Dekreten der sowjetischen Staatsregierung, des Rates der Volkskommissare, veröffentlicht {Robert W. Davies: Making
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Α. Einführung
ist offensichtlich. Aus internen Dokumenten, die während der alltäglichen Verwaltungspraxis entstanden, können zuverlässige Erkenntnisse über den inneren Aufbau und die Funktionsweise des Lagersystems gewonnen werden. Zugleich dienten sie als zentrales Instrument der Ausübung von Macht und Kontrolle (oder zumindest des Versuchs hierzu) innerhalb des über das ganze Land verstreuten Netzes der Lager und Kolonien. Sie verkörpern somit die papiergewordene Politik der administrativen Akteure, deren Handlungen sich an ihnen unmittelbar verfolgen lassen. Freilich sind die Archivbestände nicht lückenlos. Nicht jedes Dokument, das i m N K W D / M W D und seinen Hauptverwaltungen entstand, wurde archiviert, und nicht jedes archivierte Dokument wurde über Jahrzehnte hinweg aufbewahrt. Zudem wurde während der Evakuierung der allermeisten zentralen Partei- und Staatsorganisationen aus Moskau i m Sommer 1941 der größte, für weniger wichtig erachtete Teil der bis dahin akkumulierten Aktenbestände des G U L A G vernichtet, was die Erforschung bestimmter Problemfelder für frühere Zeiträume erschwert. 37 Andere Archivbestände sind zwar erhalten geblieben, doch ist Forschern der Zugang zu ihnen nach wie vor verwehrt. 3 8 Für das hier gewählte Thema steht jedoch allein in den hauptsächlich benutzten Zentralarchiven eine Fülle relevanter Informationen sowohl qualitativer als auch quantitativer Art zur Verfügung. 3 9 QualitaEconomic Policy, in: Gregory, Behind the Façade, S. 61-80, hier: S. 63). Daher läßt sich ohne Umschweife sagen: „The Soviet State [ . . . ] was among the most secretive states that ever existed" {Harrison, Secrecy). Gerade deswegen bedeutete die in den 1990er Jahren zwar nicht vollständig, doch immerhin in weiten Bereichen erfolgte Öffnung der vormals geheimen sowjetischen Archive eine Zeitenwende hinsichtlich der Erforschung des sowjetischen Staatsapparates. 37 Khlevniuk, History of the GULAG, S. 3 ff. Von einer nahezu kompletten Aktenlücke für die 1930er Jahre {Dina Nochotovic: Materialien des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation zur Geschichte der politischen Repressionen: Eine Quellenanalyse, in: Dahlmann/Hirschfeld, Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation, S. 279-289, hier: S. 284, 288) kann jedoch nicht gesprochen werden - wie allein aus den Daten hervorgeht, die aus Dokumenten aus dieser Periode für die vorliegende Untersuchung gewonnen wurden. 38 Was das Lagersystem betrifft, entziehen sich etwa die Personalakten der Mitarbeiter des NKWD/MWD, Dokumente zu bestimmten Wirtschaftsprojekten (insbesondere in der Atomindustrie) und Informationen zu geheimpolizeilicher („operativer") Tätigkeit innerhalb der Lager weitgehend dem Zugriff außenstehender, nicht mit den Nachfolgeorganisationen von OGPU / N K W D / N K G B / M W D / M G B - sprich: dem russischen Innenministerium (MWD) sowie dem Inlandsgeheimdienst und der Geheimpolizei (FSB) - affiliierter Forscher. 39 Neben den Zentralarchiven existieren zahlreiche regionale und lokale Archive, in denen Dokumente zu einzelnen Lagern aufbewahrt werden. Der erhaltene Teil des Archivs des Norilsker Lagers befindet sich im Informationszentrum des UMWD des Krasnojarsker Gebiets in Krasnojarsk. Bei einem Besuch in diesem Archiv im Januar 2002 wurde mir mitgeteilt, daß die betreffenden Archivbestände nicht systematisch erschlossen seien, so daß selbst die Archivmitarbeiter keinen vollständigen Überblick über die vorhandenen Materialien hätten. Eine effektive Benutzung war daher zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Seither hatte ich nicht mehr die Gelegenheit, dieses Archiv aufzusuchen. Volodja Birger (f), Mitglied der Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial", verdanke ich allerdings eine kleine Sammlung von Kopien administrativer Dokumente aus diesem Archiv aus den frühen 1940er Jahren. Was
III. Bemerkungen zu den benutzten Quellen
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tive Daten sind etwa in innerbehördlichen Korrespondenzen, in den Jahresbilanzen des Norilsker Kombinates, in Revisionsakten des Norilsker Lagers, in Ordern, Erlassen und anderen Verwaltungsakten von G U L A G und N K W D / M W D sowie in Dekreten und sonstigen Gesetzesakten der sowjetischen Staats- und Parteiführung (Zentralkomitee (CK) bzw. Politbüro der Kommunistischen Partei, Rat der Volkskommissare/Ministerrat ( S N K / S M ) 4 0 , Präsidium des Obersten Sowjet) enthalten, ferner in Berichten, Aktennotizen, Memoranden und ähnlichen Dokumenten, die - in der Regel von Mitarbeitern des G U L A G - sowohl für den internen Gebrauch als auch für höhere Instanzen angefertigt wurden. Zu den quantitativen Daten ist zu bemerken, daß der G U L A G zwar zu keinem Zeitpunkt eine eigene statistische Abteilung unterhielt. 4 1 Dennoch waren einige seiner Abteilungen i m Zuge ihrer alltäglichen Arbeit mit der kontinuierlichen
die Abfassung der vorliegenden Studie dennoch ermöglichte, waren die Unmengen von Dokumenten, die sich allein in den Zentralarchiven befinden und aus denen detaillierte Informationen nicht nur zur Entwicklung und zu den Merkmalen des stalinistischen Lagersystems insgesamt, sondern auch zum Fallbeispiel Norilsk gewonnen werden können. Von herausragender Bedeutung ist der im Staatsarchiv der Russischen Föderation aufbewahrte Bestand des GULAG (GARF. R-9414), der alleine nahezu 10.000 Akten umfaßt. Der größte Teil dieses Archivbestandes wurde seit Ende der 1990er Jahre in einem von der Hoover Institution initiierten und finanzierten Projekt mikroverfilmt und steht seither vollständig oder teilweise in einigen nordamerikanischen und europäischen Forschungsbibliotheken Benutzern zur Verfügung, unter anderem in Stanford (Hoover Institution Archives), Cambridge / Massachusetts (Harvard University Libraries), Chicago (Regenstein Library, University of Chicago), London (British Library) und München (Bayerische Staatsbibliothek). Zur Entstehung und Struktur dieses Archivbestands s. Nochotovic, Materialien. Ebenfalls relevant für die Untersuchung des Lagersystems sind der Aktenbestand des N K W D / M W D (GARF. R-9401) sowie die Bestände einer Anzahl von weiteren Hauptverwaltungen innerhalb des NKWD/MWD, die zeitweise die Verantwortung für die Mehrzahl der wirtschaftlichen Unternehmungen des Ministeriums trugen. Im Hinblick auf das Norilsker Lager sind insbesondere die Dokumente der „Hauptverwaltung der Lager der Montanund metallurgischen Unternehmen" (GULGMP) des N K W D / M W D von Bedeutung (GARF. R-8361). Zentrale Gesetzesakte enthält der Archivbestand des Rates der Volkskommissare/ des Ministerrates der UdSSR (GARF. R-5446). Auch eine Reihe von anspruchsvollen Quelleneditionen zum Lagersystem, die hauptsächlich Dokumente aus den genannten Archivbeständen, vereinzelt jedoch auch aus weiteren ehemaligen Staats- und Parteiarchiven enthalten, liegt mittlerweile vor. Die jüngste und zugleich umfangreichste und systematischste unter ihnen ist: Istorija stalinskogo Gulaga. Ebenfalls sehr materialreich: Kokurin/ Ρetrov, GULAG: 1918-1960. 40 Trotz der institutionellen Trennung von Staatsregierung (SNK / SM) und Parteiführung (CK) war die politische Entscheidungsgewalt im Stalinismus faktisch im von Stalin kontrollierten Politbüro des CK konzentriert. Alle wichtigen Dekrete des SNK/SM und sämtliche gemeinsamen Dekrete des CK und des SNK/SM waren daher de facto Beschlüsse des Politbüro (Oleg V. Chlevnjuk: Politbjuro: Mechanizmy politiceskoj vlasti ν 1930-e gody, Moskva: ROSSPÈN, 1996, S. 3, 12; deutsche Ausgabe: Oleg W. Chlewnjuk: Das Politbüro: Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg, 1998). 41
Darstellungen des Aufbaus des Verwaltungsapparates des GULAG finden sich etwa in: GARF: R-9414.1.374: 6 - 2 5 ; R-9414.1.77: 71-86. Vgl. auch Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg.
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Α. Einführung
Sammlung gewaltiger Datenmengen befaßt. Hierzu zählte etwa die „Abteilung für die Registrierung und Verteilung [der Häftlinge]" (Ucëtno-raspredeliteVnyj otdel, im folgenden: URO), die für die Führung der Häftlingsstatistiken verantwortlich war. Ihre Mitarbeiter erstellten im Monats-, phasenweise auch im Zehntagesrhythmus verschiedenartige detaillierte Bilanzen, in denen nicht nur die Häftlinge aller Lager und Kolonien nach unterschiedlichen Kriterien (Nationalität, Urteil und Strafmaß, soziale und politische Klassifizierung, Altersgruppen, Geschlecht etc.) aufgeschlüsselt waren, sondern auch die Bewegungen und Veränderungen der Häftlingspopulation kontrolliert wurden. 42 Ausführliche Statistiken, die auch Daten zur Häftlingssterblichkeit enthalten, führte daneben die Sanitäre Abteilung des GULAG. Neben diesen zentral erstellten Statistiken (die sich freilich aus dezentral erhobenen Daten zusammensetzten) können den für die Zeiträume von 1936 bis 1938 und von 1941 bis 1949 vorliegenden Jahresbilanzen des Norilsker Kombinates weitere quantitative Daten entnommen werden, etwa zu Produktions- und Investitionsziffern sowie zur Arbeitsausnutzung der Häftlinge des Norilsker Lagers. Für die Verläßlichkeit der quantitativen Daten und insbesondere der Häftlingsstatistiken spricht nicht nur die völlige Geheimhaltung, der auch sie unterlagen. Die Diversifikation und die relative Lückenlosigkeit des für den Betrachtungszeitraum in den Archiven des GULAG vorliegenden statistischen Materials erlauben es auch, unterschiedliche Prüfungen seiner Konsistenz vorzunehmen. Angesichts der ungeheuren Datenmenge war ein Abgleich aller benutzten Zahlenwerte mit anderen, sachlich zusammenhängenden, parallel geführten Statistiken zwar undenkbar. Stichproben ergaben jedoch immer wieder eine generelle interne Konsistenz verschiedener Daten unter- und miteinander. Gelegentlich festgestellte geringfügige Abweichungen konnten häufig entweder auf Rechenfehler oder aber (bei aggregierten Statistiken) auf das Fehlen von Daten aus dem ein oder anderen Lager zum fraglichen Zeitpunkt zurückgeführt werden. Das Auftreten kleinerer Unstimmigkeiten beim Sammeln und Kompilieren derartiger Mengen statistischen Materials überrascht freilich nicht sonderlich und spricht eher für denn gegen dessen grundsätzliche Authentizität. Angesichts dieses Befundes wäre die Annahme, der GULAG habe seine eigenen detaillierten, für den internen Gebrauch bestimmten Statistiken gefälscht und sich mithin selbst betrogen, schlichtweg widersinnig. Plausibler noch erscheint auf den ersten Blick die verschiedentlich geäußerte Vermutung, lokale Lagerwaltungen hätten Daten, die sie an das Zentrum berichten mußten, willentlich verfälscht. Der bloßen Postulierung generalisierender Hypothesen43 ist allerdings eine eingehende, problembezogene Prüfung des Quellenmaterials vorzuziehen. Die Verläßlichkeit 42 John Keeps Aussage: „Curiously, there was no central agency to co-ordinate statistics on the number of prisoners reported by subordinates" ist somit unzutreffend (Keep, Recent Writing on Stalin's Gulag, S. 97). 43 Funk et αι., Zwangsarbeit im Gulag, S. 25. An der Literaturstelle, auf die zur Begründung der dort formulierten These verwiesen wird, finden sich lediglich pauschalisierende, ihrerseits unbelegte Ausführungen zur allgemeinen (Un-)Verläßlichkeit sowjetischer Statistiken.
III. Bemerkungen zu den benutzten Quellen
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von Daten zur Häftlingssterblichkeit wird an gegebener Stelle noch ausführlich diskutiert werden 44, weshalb hier zunächst nur einige Überlegungen zu den Häftlingszahlen angebracht werden sollen. In der Literatur wurde lokalen Lageradministrationen üblicherweise die Untertreibung von Häftlingszahlen einerseits und Mortalitätswerten andererseits unterstellt. 45 Hieraus ergibt sich freilich ein logisches Problem. Da jedes Lager maximal über genau so viele Häftlinge verfügen konnte, wie es von der URO zugeteilt bekam, war eine Untertreibung der tatsächlich vorliegenden Häftlingszahlen entweder über die illegale Verlängerung der Haftzeiten (d. h. ohne entsprechende Sanktion und Kenntnis einer Justizbehörde) zu erreichen oder über die Dokumentation einer künstlich erhöhten Zahl von Sterbefällen oder geglückten Fluchtversuchen. Nun tauchen zwar in der internen Dokumentation des N K W D / M W D unter den zahllosen aufgedeckten und dokumentierten Regelverstößen mitunter Fälle verspäteter (freilich auch verfrühter) Entlassungen einzelner Häftlinge auf, doch sind bislang keine Informationen bekannt, die belegen könnten, daß solche Ereignisse jemals einen massenhaften, systematischen Charakter angenommen hätten, der Voraussetzung eines spürbaren statistischen Effektes gewesen wäre 4 6 Der Argumentationspfad, lokale Lagerdirektoren könnten die ausgewiesenen Häftlingszahlen erniedrigt haben, indem sie deutlich erhöhte Sterbe- oder Fluchtziffern an das Zentrum berichteten, ist dagegen all jenen, die eine künstliche Verminderung auch dieser Daten vermuten, versperrt. Womöglich noch schwerer als die Frage der Praktikabilität erheblicher Untertreibungen von Häftlingszahlen wiegt zudem die Überlegung, daß ein solches Vorgehen durchaus ambivalente Konsequenzen gezeitigt hätte. Örtliche Lageradministrationen hätten damit zwar über zusätzliche Arbeitskräfte verfügt, die sie jedoch andererseits mit Ressourcen (Lebensmittel, Infrastruktur, Wach- und Aufsichtspersonal) hätten versorgen müssen, welche für eine niedrigere Häftlingszahl bemessen gewesen wären. In einem solchen Falle wären jedoch mit großer Sicherheit Krankenstand und Sterberate, die im stalinistischen Lagersystem durchweg eng 44 s. Unterkapitel C. III. 45 Vgl. etwa Keep, Recent Writing on Stalin's Gulag, S. 97. 46 Wenngleich selbstverständlich anzunehmen ist, daß nur ein Bruchteil solcher Vorkommnisse zur Kenntnis der Moskauer Zentrale gelangten, ist doch hervorzuheben, daß die erhaltenen Akten eine erhebliche Vielzahl und Bandbreite von verschiedensten Regelverstößen dokumentieren - was auch nicht verwunderlich ist: Immerhin fanden trotz und zugleich wegen der Entlegenheit vieler Haftanstalten sowohl turnusmäßig als auch zur Überprüfung akut auftretender Fragen und Probleme Inspektionen statt, bei denen Angehörige des GULAG oder Beauftragte der Gebietsverwaltungen des N K W D / M W D Lager und Kolonien besuchten und dort mehrere Tage oder sogar Wochen verbrachten. Die Federführung hierzu lag bei der Kontroll- und Inspektionsgruppe (seit den frühen 1940er Jahren: -abteilung) des GULAG, die dem Direktor des GULAG unmittelbar unterstellt war (vgl. zu ihren Aufgaben: GARF. R-9414.1.54: 3 - 7 ; 9414.1.364: 20; 9414.1.202: 55 f.). Daraus folgt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß Einzelfälle von Fehlverhalten unentdeckt blieben, zwar beträchtlich sein konnte, wohingegen die Wahrscheinlichkeit, daß verbreitete Verhaltensmuster dem Zentrum völlig verborgen blieben, weitaus geringer angesetzt werden muß.
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Α. Einführung
mit dem Umfang der verfügbaren Ressourcen korreliert waren 47 , angestiegen was wiederum Versuche der langfristigen Erhöhung der tatsächlichen Anzahl von Arbeitskräften in einzelnen Lagern auf dem skizziertem Wege zunichte gemacht hätte. Ob sich für Lagerverwaltungen per saldo überhaupt dauerhafte Vorteile in Form einer leichteren Erfüllbarkeit der an sie gestellten Aufgaben ergeben hätten, muß daher als höchst zweifelhaft gelten, zumal das Risiko von Bestrafungen im Falle der Aufdeckung erheblicher und vorsätzlicher Täuschungen des Zentrums verblieben wäre. Der Vorbehalt, Häftlingszahlen seien Gegenstand großangelegter Verfälschungen gewesen, läßt sich somit kaum aufrechterhalten. Was verbleibende Fehler und Unstimmigkeiten betrifft, die bei der Zusammentragung der Statistiken unterliefen, ist schließlich als ein gerade für die hier verfolgte Argumentation wesentlicher Punkt zu beachten, daß die von unterschiedlichen Abteilungen des GULAG erstellten Statistiken vom Führungspersonal des GULAG, des NKWD / MWD und auch des Staates und der Partei als Informationsquelle und als Planungs- und Entscheidungsgrundlage herangezogen wurden. Mögen sich daher in diesen Zahlen auch einzelne Ungenauigkeiten verbergen, die teilweise nachträglich nicht mehr zu beseitigen sind, ändert dies doch nichts daran, daß es sich um diejenigen Informationen handelt, mit denen die Spitzenorgane des Lagersystems arbeiteten und auf deren Basis sie ihre Beschlüsse fällten. Die zweite zentrale Quellengruppe, auf der diese Studie aufbaut, stellen Erinnerungen und ähnliche persönliche Zeugnisse ehemaliger Häftlinge der Norilsker Lager dar. 48 Diese Quellen erlauben es, die Handlungen der administrativen Akteure aus der Perspektive der Zwangsarbeiter zu beleuchten und zu bewerten. Sie bieten die Gelegenheit, zu überprüfen, ob und in welcher Weise behördlich beschlossene Maßnahmen realisiert wurden und welche Wirkung sie entfalteten. Zwar wirft auch die Arbeit mit dieser Quellengattung methodologische Probleme auf 49 , doch wird sich zeigen, daß die in ansehnlicher Zahl verfügbaren und oft bemerkenswert präzisen Darstellungen der Zustände in den Norilsker Lagern, im Bauvorhaben und im Kombinat aus der Häftlingsperspektive es nicht selten erlauben, aus offiziellen Dokumenten gewonnene Angaben zu ergänzen, zu modifizieren, zu bestätigen oder in Zweifel zu ziehen.
47
/. V. Bezborodova, Einleitung zu Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 4, Naselenie Gulaga. Neben publizierten Quellen, von denen viele mittlerweile in eine umfangreiche, frei zugängliche Datenbank des Moskauer Sacharov-Zentrums aufgenommen worden sind (http: // www.sakharov-center.ru/asfcd/auth/default.htm ), wurden unveröffentlichte Erinnerungen benutzt, die im Archiv der Moskauer Gesellschaft „Memorial" aufbewahrt werden. Eine beträchtliche Zahl von Erinnerungen ehemaliger Häftlinge der Norilsker Lager hat die Krasnojarsker Abteilung der Gesellschaft „Memorial" zusammengetragen und auf ihrer Internetseite zugänglich gemacht (http: //www.memorial.krsk.ru/ ). 49 Bemerkungen hierzu finden sich in Unterkapitel E. I. 48
IV. Anlage und Aufbau der Untersuchung
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IV. Anlage und Aufbau der Untersuchung Konzeptionell gliedert sich die vorliegende Studie in drei Teile. Der erste (Kapitel B) handelt mit dem Ziel einer hinreichend exakten Erfassung des Untersuchungsgegenstandes und seiner Eigenheiten die wesentlichen Parameter und Merkmale der Norilsker Lager und des Kombinates ab. Nach einer knappen Würdigung der Geofaktoren der Norilsker Region (Unterkapitel I) werden zunächst die Hintergründe der von der sowjetischen Staats- und Parteiführung getroffenen Entscheidung, Häftlinge zum Bau des Norilsker Kombinates einzusetzen, beleuchtet (II). Die Führungsstrukturen, denen Kombinat und Lager für die Dauer der folgenden zwei Jahrzehnte unterstanden, werden unter besonderer Berücksichtigung ihrer Verantwortlichkeiten und Abhängigkeiten in Unterkapitel III betrachtet. Im Anschluß an eine knappe Diskussion der wirtschaftlichen Entwicklung des Norilsker Kombinates (IV) und seiner Bedeutung für die sowjetische Industrie (V) werden schließlich Struktur und Ausdehnung des Lagerkomplexes veranschaulicht (VI). Im Zentrum der Kapitel C und D, des eigentlichen Hauptteils der Untersuchung, stehen die Zwangsarbeit der Häftlinge der Norilsker Lager und die Methoden ihrer Ausnutzung. Der zu ihrer Analyse gewählten Fragestellung wird nachgegangen, indem zunächst untersucht wird, in welchem Umfang und nach welchen Kriterien dem Norilsker Kombinat Zwangsarbeiter zur Verfügung gestellt wurden (Unterkapitel C. I—II). Sodann wird gefragt, wie dort mit diesen Arbeitskräften umgegangen wurde. Hierzu werden zweierlei Zugänge benutzt. Zum einen wird die Häftlingssterblichkeit im Norilsker Lager als zentraler Indikator der Behandlung, welche die Lagerverwaltung den Zwangsarbeitern zuteil werden ließ, einer eingehenden Analyse unterzogen (C. III). Zum anderen werden Statistiken ausgewertet, aus denen hervorgeht, in welchem Umfang, in welchen Bereichen und in welchen Positionen Häftlinge im Produktionsprozeß eingesetzt wurden. Parallel dazu werden die ,zivilen' Beschäftigten des Kombinates näher betrachtet, die sich nicht nur als Vergleichsgruppe für die Häftlingsarbeiter anbieten, sondern auch aus anderen Gründen bei der Bearbeitung der Themenstellung nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (C. I V - V I I ) . In einem weiteren Schwerpunkt der Untersuchung werden anschließend konkrete Regulative und Instrumente betrachtet, mit denen der Arbeitseinsatz der Häftlinge organisiert wurde. Die Bearbeitung dieser Problematik wird aufgeteilt in die Diskussion der Arbeitszeitregelungen, mit denen die Intensität des Arbeitseinsatzes gesteuert wurde (D. I), und von Maßnahmen zur Regulierung der zweiten zentralen Variable im Produktionsprozeß - der Arbeitsproduktivität. Hier werden insbesondere Zwangsmittel und Anreize untersucht, welche die Arbeitsleistung der Häftlinge beeinflussen sollten (D. II). Eine von den vorhergehenden Ausführungen sehr verschiedene Perspektive auf die Ausnutzung von Zwangsarbeit in Norilsk eröffnet Kapitel E. Indem es den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge entnommene Aussagen zu individuellen Arbeitsverhältnissen und materiellen Lebensbedingungen vorstellt, dient es der Illustration, Erweiterung und Komplettierung des Bildes, das von der Ausnutzung von
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Α. Einführung
Zwangsarbeit in Norilsk gezeichnet wird. Dies ermöglicht, die zuvor erzielten Ergebnisse im Schlußkapitel F in einen breiteren Bewertungsrahmen zu rücken. In einem Exkurs (Kapitel G) wird schließlich das Problem der Meßbarkeit und der Bewertung eines etwaigen ökonomischen Nutzens erörtert, der aus der Ausbeutung von Zwangsarbeit in Norilsk gezogen wurde.
Β. Parameter, Gestalt und Entwicklung des Untersuchungsobjektes I. Lage und Geofaktoren des Standortes: Schwierigkeiten und Hindernisse So ungewöhnlich reich die Rohstoffvorkommen der Norilsker Region sind, so erheblich erschweren die ungünstigen Geofaktoren noch heute ihre Ausbeutung. Um so mehr galt dies für die Frühphase der Entwicklung des Kombinates und der Stadt, als grundlegende Infrastrukturen, die diese Einflüsse wenigstens partiell hätten kompensieren können, noch nicht oder kaum entwickelt waren. Daher sollen im folgenden einige der zentralen Geofaktoren benannt und ihre konkreten Auswirkungen auf die Bau- und Produktionstätigkeit in Norilsk verdeutlicht werden. In administrativ-geographischer Hinsicht befindet sich die Norilsker Region im Süden des die gesamte Tajmyr-Halbinsel umfassenden Autonomen Bezirks Tajmyr (während des Stalinismus: Tajmyrer Nationaler Kreis der Dolghano-Nenzen), welcher seinerseits den nördlichsten Teil des ostsibirischen Krasnojarsker Gebietes bildet.1 Die Stadt Norilsk selbst liegt am Rande einer weiten Niederung, die sich nach Norden bis zur Mündung des Enisej in die Karasee erstreckt und von unmittelbar südlich sowie in einiger Entfernung östlich der Stadt aufsteigenden, mehrere hundert Meter hohen Ausläufern des Mittelsibirischen Berglandes begrenzt wird. Auf 69°37' nördlicher Breite und 88° östlicher Länge2 (und somit etwa 300 km nördlich des Polarkreises) liegt Norilsk am südlichen Rand der Tundrenzone, einer naturräumlichen Landschaftsform, die insbesondere durch den Dauerfrostboden geprägt wird. Hierbei handelt es sich um eine permanent gefrorene, in Norilsk etwa 200 - 250 m mächtige Schicht des Unterbodens, die den Wasserabfluß in den Sommermonaten stark einschränkt, was in dieser Jahreszeit zur Bildung von Sümpfen und flachen Gewässern führt. Derselbe Effekt gewährleistet die Wasserversorgung der flachwurzelnden, vorherrschend niedrigwachsenden und strauchartigen Vegetation.3 1
Zur geographischen Lage von Norilsk vgl. Anhang H. IV, Abb. X und XI. Die Zurechnung Krasnojarsks zu Ostsibirien entspricht der Unterteilung der östlich des Uralgebirges gelegenen Landmasse in der sowjetischen administrativen Terminologie von West nach Ost in Westsibirien, Ostsibirien und Ferner Osten. 2 GARF. R-9414.1.2947: 60. 3
Vladimir P. Dunaev: Samyj severnyj: geograficeskij ocerk ο zapoljarnom gorode Noril'ske, Moskva: gos. izd. geograficeskoj literatury, 1960, S. 32; Hans-Joachim Franz: Phy3 Ertz
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
Abgesehen von der geringen Niederschlagsmenge, die in Norilsk in den 1940er Jahren im Mittel 328 mm jährlich betrug 4, ist das Tundrenklima vom nahezu übergangslosen Wechsel langer, extrem kalter Winter und kurzer, kühler Sommer gekennzeichnet. Für die Zeit der Existenz des Norilsker Lagers liegen verschiedene klimatologische Daten aus den 1940er und 1950er Jahren vor: 1940 wurde die Jahresdurchschnittstemperatur im Mittel mit -10,5°C angegeben, 1946 mit -8,5°C. Für den kältesten Monat des Jahres, Januar, wurden Durchschnittstemperaturen von -30,6°C bzw. -25,0°C genannt, für den wärmsten Monat, Juli, +10,5°C bzw. +13,6°C. Beobachtet wurden darüber hinaus starke Temperaturschwankungen während der Sommermonate (mit einer Amplitude von 29,5°C im Juli) sowie extreme in den Wintermonaten (mit einer Amplitude von bis zu 50,4 °C im Januar; Daten von 1946). Die niedrige Durchschnittstemperatur schlug sich nicht nur in einer hohen Zahl von Frosttagen (durchschnittlich 253 im Jahr) nieder, sondern auch im häufigen Auftreten extremer Tiefstwerte. Im 100 km westlich von Norilsk gelegenen Dudinka, wo sich die 4. Lagerabteilung des Norilsker Lagers befand, lagen die Monatsdurchschnittstemperaturen im Zeitraum 1951-60 jeweils von November bis März deutlich unter -20°C. 5 In Norilsk selbst wurden in den 1940er Jahren im Jahresmittel 61 Tage mit Temperaturen von unter -30°C registriert, unter -40 °C sank die Temperatur an 17 Tagen im Jahr.6 Extremwerte konnten noch deutlich niedriger liegen, etwa bei -60°C, die am 8. Februar 1948 gemessen wurden. 7 Obschon alleine die angeführten Temperaturwerte einen Begriff von der Härte des Klimas in Norilsk vermitteln, muß zusätzlich die Windgeschwindigkeit berücksichtigt werden: Da Gegenstände oder Personen bei höheren Windgeschwindigkeiten einem schnelleren Wärmeverlust durch Konvektion ausgesetzt sind, werden niedrige Temperaturen bei starkem Wind nicht nur als deutlich kälter empfunden, sondern führen auch tatsächlich wesentlich schneller zu Erfrierungen als bei Windstille. In Norilsk betrug bereits die mittlere permanente Windgeschwindigkeit im Winter 6,1 m/s 8 , was nach Beaufort Windstärke 4 entspricht. sische Geographie der Sowjetunion, Gotha & Leipzig: VEB Hermann Haack, 1973, S. 265 f., 270. 4 A. A. Baev/Z. L Rozenbljum: Ο medicinskom otbore kadrov dlja raboty na severe ν svjazi s klimaticeskim faktorom [wissenschaftliche Arbeit des Krankenhauses des Norilsker Kombinates], Noril'sk, 1946, aufbewahrt in GARF. R-9414.2.175, hier: 20. 5 Daten nach World Weather Reports, New York, 1964, zitiert nach Franz, Physische Geographie der Sowjetunion, S. 497. Im einzelnen betrugen die monatlichen Mittelwerte in Dudinka in der genannten Periode: Jan. -26,9°C, Feb. -29,7°, Mär. -24,4°, Apr. -15,6°, Mai -5,8°, Jun. 6,3°, Jul. 14,6° Aug. 10,1°, Sep. 3,7°, Okt. -8,7°, Nov. -22,6° Dez. -26,0°. Aufgrund der geringen geographischen Entfernung und da die für Dudinka angegebene Jahresdurchschnittstemperatur von -13,4°C den für Norilsk berichteten Werten vergleichbar ist, dürften sich die dortigen Monatsdurchschnittswerte auf ähnlichem Niveau bewegt haben. 6 GARF. R-9414.1.29: 54; Baev/Rozenbljum, Ο medicinskom otbore, R-9414.2.175: 18 f. 7 Evfrosinija Kersnovskaja: Skol'ko stoit celovek, Bd. V, Moskva: Fond Kersnovskoj, 2001 (Volltext verfügbar unter: http://www.women-gulag.ru/), S. 74. » Baev/Rozenbljum, Ο medicinskom otbore, GARF. R-9414.2.175: 19.
I. Lage und Geofaktoren des Standortes
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Oft wurde dieser Wert jedoch weit überschritten: Häufige, nicht selten langanhaltende, heftige Schneestürme9 konnten Geschwindigkeiten von über 30 m/s erreichen. Selbst bei Temperaturen von -40 °C und darunter waren Werte von 10-15 m/s keine Seltenheit. Um die Härte der Wetterbedingungen adäquat zu erfassen, wurden daher im Norilsker Kombinat besondere Meßskalen benutzt, auf denen Windgeschwindigkeit (in m/s) und Temperatur (in °C) addiert wurden, wobei 1 m / s Windgeschwindigkeit ein bis zwei °C Temperaturunterschied entsprach. Mehrjährigen meteorologischen Messungen zufolge wurden in Norilsk nach dieser Skala über die Hälfte der Periode von Oktober bis Mai Werte von über 30 Punkten verzeichnet, an insgesamt 14 % der Tage in diesem Zeitraum sogar von 45 Punkten und darüber. 10 Es liegt auf der Hand, daß die Gründung eines Industriestandortes unter derart widrigen klimatischen Bedingungen mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden sein mußte, da mit erheblichen Auswirkungen des Klimas auf die Gesundheit der dabei eingesetzten Menschen zu rechnen war - insbesondere dann, wenn es sich bei ihnen nicht um Angehörige der indigenen Bevölkerung handelte11, sondern um Personen, die aus deutlich gemäßigteren Klimazonen stammten. Im Winterhalbjahr bedeuteten der Mangel und während der alljährlichen Polarnacht von etwa eineinhalbmonatiger Dauer das völlige Ausbleiben von Sonnenlicht und ultravioletter Strahlung eine zusätzliche gesundheitliche Belastung.12 Dementsprechend kam eine von Ärzten des Norilsker Krankenhauses im Jahre 1946 angefertigte Studie zu dem Schluß: „Die klimatischen und allgemeinen Besonderheiten des [Hohen] Nordens stellen erhöhte Anforderungen an den Organismus und können unter bekannten Bedingungen pathologische Folgen hervorrufen." 13 Zwar wurde an gleicher Stelle betont, daß „gesunde, physisch normal entwickelte Personen und insbesondere trainierte und abgehärtete [Menschen] einen längeren Aufenthalt im Norden durchaus zufriedenstellend überstehen." Vorraussetzung sei jedoch eine Reihe von Faktoren, die die ungünstigen Einflüsse des polaren Klimas ausglichen, namentlich: ,,a) ausreichende und qualitativ vollwertige Ernährung, b) angemessenes Training des Organismus (Abhärtung, Sport), c) hygienische Kleidung, d) die Anpassung aller Kleinigkeiten des Alltags, des Arbeitsregimes und der Arbeits9 Für einen Schneesturm kennt das Russische je nach dessen Heftigkeit verschiedene Bezeichnungen. In bezug auf das Norilsker Klima taucht in offiziellen und inoffiziellen Quellen anstelle des gewöhnlichen Begriffes metel' wesentlich häufiger der stärkere Begriff purga (mitunter auch cërnaja purga) auf. Gelegentlich ist dort auch von uragany (Orkanen) die Rede. 10 Baev/Rozenbljum, Ο medicinskom otbore, GARF. R-9414.2.175: 19 f.; Dunaev, Samyj severnyj, S. 30. 11 Die indigenen Bewohner der Norilsker Region sind nomadisierende Nganansano- und Dolghano-Nenzen. In den 1930er Jahren lebten allerdings höchstens einige tausend Angehörige dieser Volksgruppen im gesamten Tajmyrer Kreis, der in seiner Ausdehnung größer war als die heutige Bundesrepublik Deutschland. 12 Dunaev, Samyj severnyj, S. 29, 38. 13 Baev/Rozenbljum, Ο medicinskom otbore, GARF. R-9414.2.175: 22. 3=
Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
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bedingungen an die Umweltverhältnisse.' 4 Menschen von eingeschränkter gesundheitlicher Belastbarkeit würden hingegen unter solchen klimatischen Bedingungen häufig erkranken und seien daher „zum Arbeitseinsatz wenig geeignet". 1 4 Obgleich die Studie von 1946 den Wert prophylaktischer Maßnahmen hervorhebt, ist allerdings i m Lichte jüngerer Untersuchungen anzunehmen, daß sich die in Norilsk vorliegenden klimatisch-geographischen Faktoren auch ceteris paribus negativ auf den Gesundheitszustand der dort lebenden Menschen auswirkten und auswirken. 1 5 Neben den Konsequenzen, welche die polare Lage von Norilsk für die Gesundheit der dort lebenden Menschen hatte, erschwerte sie den Bau und den Betrieb von Industrieanlagen auch in anderer Hinsicht. So verlangten die Umweltbedingungen - insbesondere der Permafrostboden - die aufwendige Ausarbeitung neuer Konstruktions- und Bautechniken. Zu diesem Zweck wurde in Norilsk 1938 eine eigene Projektabteilung gegründet, nachdem sich die aus Leningrad gelieferten Konstruktionspläne unter den örtlichen Bedingungen größtenteils als untauglich erwiesen hatten. 1 6 Die regelmäßigen Schneestürme führten in Verbindung mit dem flachen Geländeprofil immer wieder zu meterhohen Schneeverwehungen, die i m Winter nicht nur die Ausführung von Bauarbeiten wesentlich erschwerten, sondern auch den Eisenbahnverkehr häufig zum Erliegen brachten. Hinsichtlich des Bahn14 Ebd., 23. 15
Vergleichende Studien, die während der zurückliegenden Jahrzehnte angestellt wurden, beobachteten, daß die mittlere Lebenserwartung von etwa 70 % der Personen, die in jungem Lebensalter dauerhaft nach Norilsk und in andere sowjetische bzw. russische Industrieregionen im Hohen Norden übergesiedelt waren, um 10 bis 15 Jahre sank, was überwiegend auf das vermehrte Auftreten verschiedener chronischer Erkrankungen zurückgeführt werden konnte. Allerdings wurde zugleich darauf verwiesen, daß für dieses Phänomen neben den klimatisch-geographischen auch antropogene Einflußfaktoren, sprich: die erhebliche Verschmutzung der natürlichen Lebensgrundlagen in diesen Regionen durch menschliche Einwirkungen verantwortlich gemacht werden müssen (V. /. Chaspulin: Vozmoznosti razvitija mediko-ékologiceskogo monitoringa na severe, in: Rossijskaja Akademija Mediko-techniceskich Nauk, Sibirskij naucno-issledovatel'skij institut mediko-ékologiceskich technologii: Publikacii k rassylke „Medicinskie technologii èkstremal'noj ékologii", 8/23, abrufbar unter: http://www.sirena.siberia.net/pub.php?page=2). Die negativen ökologischen Folgen der Nickelproduktion waren freilich schon in den 1950er Jahren unübersehbar, als sich die nähere Umgebung von Norilsk bereits in eine „tote Zone" verwandelt hatte (Aleksandr A. Gaevskij: Erinnerungen (ohne Titel und Jahr), veröffentlicht unter http://www.memorial.krsk.ru/memuar / mgaew.htm). •6 GARF. R-9414.Id. 1118: 6. Dabei waren die Leningrader Pläne bereits von einer speziell für die Projektierung des Norilsker Kombinates gegründeten Arbeitsgruppe innerhalb des Kontors Sojuznikel'olovoproekt, die „mit den besten Kadern" besetzt werden sollte, erstellt worden. Das Kontor war seinerseits im Jahre 1935 zu dem Zweck eingerichtet worden, die Fabriken der künftigen sowjetischen Nickelindustrie zu projektieren (GARF. R-5446.1.481 : 194-199; A. A. Mironov: 25 let nikelevoj i kobal'tnoj promyslennosti Sovetskogo Sojuza i perspektivy ee razvitija, in: Naucno-techniceskoe Obscestvo Cvetnoj Metallurgii: Dvadcat' pjat' let nikelevoj promyslennosti SSSR, Moskva, 1959, S. 5 - 1 4 ; vgl. auch Unterkapitel Β. V). Für einen knappen Überblick über die in Norilsk gesammelten Erfahrungen zu Konstruktions· und Bautechniken unter den Bedingungen des Permafrostbodens aus dem Jahre 1952 s. GARF. R-8361.1.328: 205-207.
I. Lage und Geofaktoren des Standortes
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Verkehrs schuf erst die Installation speziell geformter hölzerner Wände, die den Luftstrom des Windes über die Gleise lenkten und diese somit von Schneeverwehungen freihielten - eine Erfindung, die auf den für „konterrevolutionäre Verbrechen4' verurteilten Gefangenen Michail Potapov zurückging - eine gewisse Abhilfe. 17 Dennoch band die Beseitigung von Schneeverwehungen bis in die 1950er Jahre hinein alljährlich viele Arbeitskräfte. 18 Die extremen klimatischen Verhältnisse und die Kargheit der Vegetation schränkten schließlich die Möglichkeiten zur lokalen Nahrungsmittelproduktion drastisch ein. Als besonders problematisch erwies sich die ausreichende Versorgung mit Vitaminen, was unter den Lagerhäftlingen zahlreiche Fälle von Skorbut zur Folge hatte. Zwar wurde in Norilsk in den 1940er Jahren eine landwirtschaftliche Kollektivwirtschaft errichtet, und auch im 400 km südlicher gelegenen Kurejka besaß das Kombinat einen Sovchoz mit Gewächshäusern und angeschlossener Milchwirtschaft. Die dort zu Kosten, die um ein Vielfaches über dem üblichen Preisniveau lagen, erzeugten Nahrungsmittel deckten jedoch zu keinem Zeitpunkt mehr als einen Bruchteil des Bedarfs. 19 Hinsichtlich der Vitaminversorgung wurde eine Notlösung praktiziert, die in der Verabreichung eines Aufgusses aus Fichten- und Lärchennadeln an die Häftlinge bestand - ohne daß damit das Problem vollständig beseitigt werden konnte. 20 Die Schwierigkeiten der Nahrungsmittelversorgung standen in direktem Zusammenhang mit den generellen Transport- und Kommunikationsproblemen, die durch die geographische Lage von Norilsk bedingt waren. Da Norilsk mehr als 2.000 km von Krasnojarsk und damit von der transsibirischen Magistrale entfernt lag, kam für Transporte jeglicher Art (abgesehen von Flugverbindungen - doch auch der erste Flugplatz wurde erst im Jahre 1946 fertiggestellt) nur der Wasserweg über den Enisejhafen in Dudinka in Frage, das etwa 80 km westlich von Norilsk gelegen ist. In den ersten Jahren der Bautätigkeit wurde zwischen Norilsk und Dudinka zunächst eine Trasse angelegt und bald darauf eine Schmalspureisenbahnverbindung hergestellt. 21 Dudinka konnte seinerseits von Krasnojarsk aus erreicht wer17
V. N. Lebedinskij/ P. I. Mel'nikov: Zvezda Zapolar'ja, Moskva 1977, S. 29; Gaevskij, Erinnerungen (ο. T.); Anatolij L. L'vov: Noril'skie sud'by, 1815-1995, Moskva: Agenstvo „PRESTO", 1995, S. 106-109; für eine anschauliche technische Beschreibung s. Andrew R. Bond: Urban Planning and Design in the Soviet North: The Noril'sk Experience, in: Soviet Geography, 25/3 (März 1984), S. 145-165, hier: S. 154 ff. ι» RGAÉ. 9022.1.1703: 115. 19 Pavel V. Ceburkin: Erinnerungen (ohne Titel und Jahr), AMCM. 2.1.125: 22. 20 Diese Methode sollte nach dem Willen des GULAG in allen nördlichen Lagern und Kolonien, in denen die Versorgung mit Gemüse besondere Schwierigkeiten bereitete, zur Anwendung kommen (GARF. R-9414.1.31: 126). Zu Norilsk s. Zachar /. RavdeV: Kaplja okeana, 1960, AMCM. 2.1.100: 111, Aleksandr E. Starovojtov: Èto bylo pravda, 1988, AMCM. 2.1.115: 39. Gaevskij, Erinnerungen (o.T.). 21 Freilich existierten in der Nachkriegszeit vorübergehend Pläne, Norilsk an das Eisenbahnnetz anzuschließen. Dies sollte über die im Zeitraum 1947-53 ebenfalls von Lagerhäftlingen gebaute, doch niemals fertiggestellte Bahnstrecke Cum-Salechard-Igarka geschehen
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
den, allerdings nur während der drei- bis viermonatigen sommerlichen „Navigationsperiode", während derer der Enisej eisfrei und somit schiffbar war. 22 Für den alternativ befahrbaren Nördlichen Seeweg, über den Dudinka für die Seeschiffahrt zugänglich war, schwanken Angaben über die Dauer dieser Phase zwischen eineinhalb und dreieinhalb Monaten.23 Der Transport sämtlicher Versorgungsgüter, die von Lager und Kombinat im Laufe eines Jahres benötigt wurden, sowie der Häftlinge, die dem Lager überstellt werden sollten, mußte folglich während der kurzen Sommerperiode abgewickelt werden. 24 All diese und weitere Schwierigkeiten und Probleme bestanden zu Beginn der Erschließung des Norilsker Industriestandortes, und es war absehbar, daß sie die erforderlichen Arbeiten und die Produktionstätigkeit des künftigen Kombinates auf lange Sicht erschweren und beeinträchtigen würden. Sie machten dieses Vorhaben zu einem der ehrgeizigsten und anspruchsvollsten, das in den 1930er Jahren in der Sowjetunion in Angriff genommen wurde. Daraus ergeben sich die Fragen, welche Motive hinter seiner Planung und Realisierung standen und aufgrund welcher Überlegungen entschieden wurde, es mittels des Einsatzes von Häftlingsarbeit zu verwirklichen.
II. Hintergründe der Übertragung des Projektes an den N K W D 2 5 Die Existenz von Buntmetallerzen in der heutigen Norilsker Region wurde spätestens im 17. Jahrhundert bekannt, als russische und kosakische Jäger, Fallensteller und Entdeckungsreisende nach Nordsibirien vordrangen. Bereits in dieser Phase nachweisbare Abbauaktivitäten waren jedoch nicht von Dauer, und auch einige private Unternehmer, die im späten 19. Jahrhundert begannen, aus Norilsker Erzen Kupfer zu gewinnen, ließen aus wirtschaftlichen Gründen bald wieder davon ab. (Bauprojekte Nr. 501 und 503 des MWD, vgl. A. /. Kokurin /lu. N. Morukov (Hg.): Stalinskie stroiki GULAGa: 1930-1953 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva: Materik, 2005, S. 300-338). Das Norilsker Lager war in diese Bauarbeiten allerdings nicht involviert. Projektarbeiten zu einer möglichen Strecke Igarka-Norilsk wurden Anfang 1952 abgebrochen (GARF. R-8361.1.327: 32). 22 GARF. R-9414.ld.968: 3. 23 RGAÈ. 8704.1.949: 3us; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Ékonomika Gulaga, S. 430. Waren Eisbrecher verfügbar, konnte sich diese Periode verlängern. 24 Zu diesem Zweck wurde in Krasnojarsk im Frühjahr 1941 ein eigener Lagerpunkt des Norilsker Lagers gegründet, der später zu einer Lagerabteilung aufgewertet wurde. Für den Häftlingstransport auf dem Enisej wurden überwiegend umgerüstete Lastkähne eingesetzt, in deren Bunkern die Gefangenen untergebracht wurden. Bis nach Dudinka dauerte die Fahrt in der Regel etwa zehn Tage (Igor' Assanov: Zizn' i sud'ba Mitrofana Petrovica Rubeko (uznika Noril'laga), 1993 [unveröffentlichtes Manuskript], S. 11). 25 Für eine detailliertere Darstellung der Umstände der Gründung des Norilsker Lagers und Kombinates s. Ertz, Stroitel'stvo Noril'skogo kombinata.
II. Hintergründe der Übertragung des Projektes an den NKWD
39
Erst ab 1919 nahmen mehrere Expeditionen unter der Leitung des Geologen Nikolaj Urvancev systematische Erkundungen auf, die nach und nach den beträchtlichen Reichtum der Nickel- und Kupfervorräte erkennen ließen.26 Fügten sich diese Unternehmungen anfangs noch in die vorrevolutionäre Tradition abenteuerlicher Entdeckungs- und Forschungsreisen ein, deren Organisatoren aus eigener Initiative kolonisatorische Ideen und Pläne entwickelten, von deren Zweckmäßigkeit sie die oft widerstrebenden staatlichen Institutionen einzunehmen suchten, begann der Staat gegen Ende der 1920er Jahre, die Entwicklung selbst voranzutreiben. 27 Gemäß dem nunmehr eingeschlagenen radikalen Industrialisierungs- und Binnenkolonialisierungskurs entsandte die Hauptverwaltung für Buntmetalle und Gold des Obersten Volkswirtschaftsrates eine neue Expedition mit 250 Teilnehmern in die Region, die ab 1930 geologische Erkundungsarbeiten zur Vorbereitung einer industriellen Erzförderung durchführte. Von dem hohen Interesse, mit dem das Politbüro den Fortgang dieser Arbeiten verfolgte, zeugt ein Dekret, mit dem es am 10. Juli 1932 deren Forcierung beschloß. Bereits in diesem Dokument wurde die OGPU erwähnt und mit dem Auftrag versehen, die mittlerweile von der Produktionsorganisation Vostokzoloto („Ost-Gold") geleiteten Erkundungsarbeiten mit Arbeitskräften zu versorgen. 28 Da das Arbeitskräftepotential, über das die OGPU verfügen konnte, im wesentlichen aus Strafgefangenen und Verbannten bestand29, läßt sich ein solcher Beschluß nicht anders interpretieren, als daß bereits im Jahre 1932 die Verwendung unfreier Arbeiter in Norilsk vorgesehen war. Die ersten Gefangenen trafen dort jedoch erst zum Beginn der eigentlichen Bauarbeiten drei Jahre später ein, so daß anzunehmen ist, daß die 26 A. C. Il' in: Promyslennoe osvoenie Tajmyra, in: Ol'ga L. Podborskaja (Hg.): Noril'skaja Golgofa, Krasnojarsk: Klaretianum, 2002 (Text verfügbar unter: http://www.memorial. krsk.ru/ Articles /Golgofa/O.htm), S. 8-16. Genauer zur Vorgeschichte und Frühphase der Erschließung der Norilsker Bodenschätze: Nikolaj Urvancev: Otkrytie Noril'ska, Moskva: Nauka, 1981. 27 Wie II'in bemerkt, kann das schlechterdings absurde Schicksal von Nikolaj Urvancev als Versinnbildlichung der Ablösung des vorrevolutionären durch das stalinistische Muster der Kolonisierung entlegener nördlicher und östlicher Landesteile gesehen werden: Ende der 1930er Jahre als „Feind des Volkes" verurteilt, mußte Urvancev über viele Jahre hinweg als politischer' Gefangener (freilich in einer herausgehobenen Position) für das Norilsker Kombinat arbeiten, welches seine Existenz zu einem erheblichen Anteil den Resultaten seiner Forschungen verdankte. Erst nach Stalins Tod wurde Urvancev rehabilitiert, mit staatlichen Ehrungen bedacht und zum Ehrenbürger der Stadt Norilsk ernannt (IVin, Promyslennoe osvoenie Tajmyra, S. 8, 11). 2 » RGASPI. 17.3.891:41-42. 2 9 Die OGPU verfügte seit der ersten Hälfte der 1920er Jahre über ein kontinuierlich erweitertes Netz von Konzentrationslagern. Bis zum Ende des Jahrzehnts entwickelte sie jenen Typ des Zwangsarbeitslagers (seit Juni 1929: „Besserungsarbeitslagers" - Kokurin/ Ρetrov, GULAG: 1918-1960, S. 62), der das stalinistische Strafvollzugssystem bis in die 1950er Jahre hinein prägen sollte. Zudem oblag der OGPU die Organisation der massenhaften Deportation von „Kulaken" zu Beginn der 1930er Jahre. Im Jahre 1934 ging die OGPU einschließlich ihres Lagersystems im neugebildeten sowjetischen Volkskommissariat des Inneren (NKWD) auf.
Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
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örtlichen Verhältnisse den Einsatz von Zwangsarbeit zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht als zweckmäßig erscheinen ließen. Unterdessen lieferte die Tätigkeit der mittlerweile auf etwa 500 Arbeiter angewachsenen Expedition substantielle Ergebnisse.30 Die gesicherten Reserven an Nickel-, Kupfer- und Kobalterzen stiegen drastisch an, zudem wurden reichhaltige Lagerstätten hochwertiger, kalorienreicher Steinkohle entdeckt. Angesichts einer derart günstigen Rohstofflage wurde eine positive Entscheidung über die Aufnahme einer großtechnischen Erzförderung und -Verarbeitung in Norilsk immer wahrscheinlicher. 31 Sie fiel schließlich in der Sitzung des Politbüros am 21. Juni 1935 und führte zwei Tage später zur Ausgabe des Streng Geheimen Dekrets des Rates der Volkskommissare Nr. 1275 — 198ss „Über den Bau des Norilsker Nickelkombinates4', dessen erster und maßgeblicher Punkt lautete: „ [ . . . ] beschließt der Rat der Volkskommissare der UdSSR: 1. Den Bau des Norilsker Nikkeikombinates als Stoßprojekt zu betrachten und ihn der Hauptverwaltung der Lager des Volkskommissariats des Inneren aufzuerlegen, mit der Verpflichtung, zu diesem Zweck ein spezielles Lager einzurichten." 32
Die volle wirtschaftliche und administrative Verantwortung für das ebenso bedeutende wie anspruchsvolle Norilsker Bauvorhaben überging somit an die im Jahre 1930 innerhalb der OGPU gegründete und seit 1934 dem NKWD der UdSSR zugehörige Hauptverwaltung der Lager (GULAG). Zwar hätte es auch nahegelegen, Norilsk dem 1932 gegründeten Volkskommissariat für Schwerindustrie zu übergeben, doch schien dessen Leiter, Sergo Ordjonikidze, von dieser Idee wenig angetan. Mit Verweis auf die besonderen Schwierigkeiten der Errichtung eines Industriestandortes in der entlegenen polaren Region sowie auf die „kolossale Erfahrung der OGPU bei der Realisierung schwierigster Bauvorhaben unter äußerst harten Bedingungen" hatte er Ende 1933 in einem Brief an Stalin nachdrücklich empfohlen, die OGPU (was später bedeuten sollte: den 1934 auf ihrer Basis gegründeten NKWD) in die Pflicht zu nehmen und zu veranlassen, in Norilsk ein „spezielles Lager" zu gründen. 33 Stalin machte sich diese Sichtweise zu eigen und sprach sich in einer Sitzung des Politbüros selbst dafür aus, den NKWD mit der Realisierung des Projektes zu beauftragen. 34 30
Sovetskij Tajmyr, 30. Mai 1933, zitiert nach Anatolij L. L'vov: Noril'sk, Krasnojarsk: Krasnojarskoe kniznoe izdatel'stvo, 1985, S. 28. 31 Lebedinskij/Mel'nikov, Zvezda Zapolar'ja, S. 11. 32 GARF. R-5446.1.481: 194-199. 33
S. /. Kuz'min: Ot GUMZa do GUINa. Sisteme ispolnenija ugolovnych nakazanij MVD Rossii - 75 let, in: Prestuplenie i nakazanie, 5 (1997), S. 8-14, hier: S. 11. Ob sich die OGPU/der NKWD solchen Plänen zu irgendeinem Zeitpunkt widersetzt hat, ist nicht bekannt. Allerdings ist ein anderer Fall aus den 1930er Jahren dokumentiert, in dem der NKWD mit Erfolg versuchte, die Übernahme eines anspruchsvollen Industrieobjektes zu vermeiden, das andere Ministerien an ihn weiterreichen wollten (Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Èkonomika Gulaga, S. 135 f., 535). 34 Soweit die Darstellung des damaligen Leiters der geologischen Erkundungsarbeiten in Norilsk, A. E. Voroncov, wiedergegeben in Lebedinskij/Mel'nikov, Zvezda Zapolar'ja,
II. Hintergründe der Übertragung des Projektes an den NKWD
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Ordzonikidzes Argumentation hätte freilich kaum verfangen können, wenn die OGPU (bzw. der NKWD) nicht schon zuvor unter Beweis gestellt hätte, zur Bewältigung ähnlicher Aufgaben in der Lage zu sein. Daher muß der Entscheidungsprozeß über die Zukunft des Norilsker Bauvorhabens im Kontext der Entwicklung des stalinistischen Lagersystems in der ersten Hälfte der 1930er Jahre betrachtet werden. Bereits die für 1932 dokumentierte Erwägung des Einsatzes von Zwangsarbeit in Norilsk fügte sich nahtlos ein in eine Reihe von Beschlüssen, die in den vorangegangenen und nachfolgenden Monaten über die Realisierung weiterer gewaltiger industrieller Investitionsprojekte getroffen wurden. Hierzu zählten im einzelnen der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, des Moskau-Wolga-Kanals, der Baikal-Amur-Magistrale und weiterer Eisenbahnlinien in Ostsibirien, die Erschließung von Kohle- und Ölvorkommen in der Autonomen Region Komi im Nordosten des europäischen Teils der Sowjetunion sowie die Ausbeutung von Goldvorkommen im Fernen Osten. In all diesen Fällen wurden gewaltige Lagerkomplexe gegründet, die diese Projekte mit (Zwangs-)Arbeitskräften versorgen sollten.35 Mit diesen Maßnahmen verwirklichte die sowjetische Führung eine Strategie, die sie bereits gegen Ende der 1920er Jahre verabschiedet hatte. Am 11. Juli 1929 hatte der Rat der Volkskommissare nach vorherigem Beschluß des Politbüros per Dekret verfügt, daß sämtliche in der UdSSR zu langjährigen (> 3 Jahre) Haftstrafen verurteilten Gefangenen in der Regel in „Besserungsarbeitslagern" zu internieren waren. Dort sollten sie zur Ausführung schwieriger industrieller Aufgaben von volkswirtschaftlicher Bedeutung herangezogen werden, wie etwa der Kolonisation entlegener und kaum besiedelter Regionen und der Erschließung dort vorhandener Bodenschätze.36 Von der neuen Form von Haftanstalten erhoffte sich die politische S. 13 f. Nach Voroncovs Erinnerung fand die fragliche Sitzung im März 1935 statt, doch findet sich in den Sitzungsprotokollen des Politbüros aus diesem Monat kein Vermerk zum Thema Norilsk. Möglicherweise handelte es sich statt dessen um die Sitzung am 13. Mai (RGASPI. 17.3.963: 14). 35 Zur Realisierung der genannten Projekte wurden gegründet: im Juni 1931 das „UchtaPecora-Lager" (Uchtinsko-Pecorskij lager 1! Uchtpeclag), im November desselben Jahres das „Weißmeer-Ostsee-Lager" (Belomoro-Baltijskij lager Ί Belbaltlag), im April 1932 das „Nordöstliche Lager" (•Severo-vostocnyj lager Ί Sevvostlag), im September 1932 das „Dmitrovskij-Lager" (Dmitlag) sowie im November 1932 das „Baikal-Amur-Lager" (BAMlag). In den drei letztgenannten Lagern sollte die Häftlingszahl einige Monate oder einige Jahre nach ihrer Gründung zumindest kurzzeitig Werte von jeweils annähernd zweihunderttausend Menschen erreichen. Im Weißmeer-Ostsee-Lager und im Uchta-Pecora-Lager stieg sie ,nur' bis auf 100.000 bzw. über 50.000 Personen (Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej, S. 153, 162 f., 214, 382 f., 498). 36 Kokurin/Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 62-5. Bei der Entscheidung, welche Häftlinge ihre Haftstrafe in diesen Lagern verbüßen mußten, sollte deren Dauer tatsächlich das einzige verbindliche Kriterium darstellen. Freilich ergab es sich, daß nahezu alle für „konterrevolutionäre Verbrechen" verurteilten Häftlinge in Lager einzuweisen waren, da ihre Haftstrafen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, deutlich höher ausfielen als drei Jahre (ebd., S. 434). Dieser Automatismus wurde auch später bewußt aufrechterhalten, legte doch die „temporäre Instruktion zum Regime und den Haftbedingungen in den Besserungsarbeits-
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
Führung vor allem eines: Kostenneutralität (samookupaemost'). Die im bereits bestehenden Solovecker Lager scheinbar bestätigte Erwartung, daß die Lager neuen Typs dieses seit dem Jahre 1918 für sämtliche Strafanstalten angestrebte Ziel erreichen könnten37, fiel in internen Diskussionen über die Rollenverteilung zwischen anderen Haftverbüßungsorten und den Lagern der OGPU stärker ins Gewicht als jedes andere Argument. 38 Demgegenüber wird die Idee der „Umerziehung" der Häftlinge, wie Smirnov, Sigacev und Skapov feststellen, in keinem einzigen der relevanten Dokumente aus dem fraglichen Zeitraum als Funktion der neuen Lager benannt - trotz deren scheinbar programmatischer Bezeichnung.39 Obwohl die ersten gemäß dieser Zielsetzung aufgebauten Lagerkomplexe in der Frühphase ihres Bestehens oft mit organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten40, schienen sie doch in den Folgemonaten und -jähren erstmals in der Geschichte Rußlands und der Sowjetunion die Realisierbarkeit großer industrieller Projekte mittels des massenhaften Einsatzes von Häftlingsarbeit zu demonstrieren. Und wenngleich neuere Forschungen ein durchaus kritisches Licht auf die dabei tatsächlich erzielten ökonomischen Resultate werfen 41 , dominierten in der Wahrnehmung der politischen Führung zweifellos die Vorteile, die diese neue Form der Ausnutzung von Häftlingsarbeit mit sich zu bringen schien - namentlich die Möglichkeit zur raschen Konzentration von Zwangsarbeitern in großer Zahl selbst an schwierigen Standorten sowie die Minimierung des Kapitaleinsatzes bei großen Investitionsvorhaben. 42 Die prominenteste und mutmaßlich eindrucksvollste lagern" von 1939 fest, daß „Konterrevolutionäre" vorzugsweise in ,,Lager[n], die sich in entlegenen Regionen befinden", unterzubringen seien (Streng Geheimer Order des NKWD Nr. 00889 vom 2. August 1939; vgl. a. Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e- 1950-e gg., S. 94 f.). Zu erwähnen ist ferner, daß das Dekret von Juli 1929 vorsah, Häftlinge nach Verbüßung ihrer Haftstrafe in den betreffenden Regionen zu belassen, um diese mit ihnen zu besiedeln. 37 Kokurin/Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 6, 31. 38 In einem Schreiben des NKWD der RSFSR an den Rat der Volkskommissare der UdSSR vom 4. April 1930 heißt es unmißverständlich: „Das Hauptmotiv bei der prinzipiellen Entscheidung der Frage der Übergabe von zu [Haftstrafen von] 3 Jahren und mehr Verurteilten an die Lager der OGPU war die Kostenneutralität der Lager der OGPU; die Kolonien des NKWD [der RSFSR] waren damals noch nicht ausreichend entwickelt, und es konnte nicht mit einer 100%igen Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge in [diesen] Haftverbüßungsanstalten [ . . . ] gerechnet werden." (GARF. 5446.lla.725: 3, 3us). Zum Ziel der Kostenneutralität vgl. weiterhin GARF. 5446.lla.555: 3, 5, 19, 32, 32us.; S. A. Krasil'nikov (Hg.): Rozdenie GULAGa: Diskussii ν verchnich eselonach vlasti, in: Istoriceskij Archiv, 5 / 4 (1997), S. 142-156, hier: S. 143 ff.; Smirnov/Sigacev/Skapov, Sistema mest zakljucenija ν SSSR, S. 26, 28 sowie Suslov, Speckontingent i prinuditel'nyj trud, S. 81 ff. Anne Applebaums Diskussion der Hintergründe der Entstehung des Typs des „Besserungsarbeitslagers" ist zwar streckenweise, etwa in den Ausführungen zum Solovecker Lager, ebenfalls instruktiv, läßt allerdings wesentliche Archivquellen unberücksichtigt und bleibt daher in entscheidenden Punkten klare Antworten schuldig (Applebaum, Gulag, S. 30 ff.). 39 Smirnov/Sigacev/Skapov, Sistema mest zakljucenija ν SSSR, S. 26 f. 40 Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 31. 41 Khlevnyuk, The Economy of the Gulag, S. 122 ff. 42 Ebd., S. 115; ders., The Economy of the OGPU, NKVD and MVD, S. 46 ff.
II. Hintergründe der Übertragung des Projektes an den NKWD
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Demonstration dieses scheinbaren Nutzens lieferte die Fertigstellung des ausschließlich von Häftlingen gebauten Weißmeer-Ostsee-Kanals binnen einer Frist von weniger als zwei Jahren. 43 Der vermeintliche Erfolg derartiger Großprojekte in der ersten Hälfte der 1930er Jahre determinierte die Form der Ausnutzung von Zwangsarbeit i m Stalinismus. Das in jener Phase etablierte Grundmodell der „Besserungsarbeitslager" bestand die folgenden zwei Jahrzehnte über nahezu unverändert fort. Zwar existierten in der Sowjetunion zeitgleich auch andere Kategorien von Haftverbüßungs- und Verbannungsorten, in denen i m Verlauf der stalinistischen Herrschaft Millionen Menschen festgehalten wurden. 4 4 Bis zu Stalins Tod bildeten jedoch die Lager und 43 Morukov, The White Sea-Baltic Canal, S. 161 f. 44
Zu diesen zählten etwa die „Besserungsarbeitskolonien", in die alle Häftlinge mit Haftstrafen von bis zu drei Jahren Dauer einzuweisen waren. Kolonien unterschieden sich äußerlich und hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen der dort Internierten generell wenig von Lagern (unbeschadet erheblicher Unterschiede zwischen individuellen Lagern und Kolonien). Allerdings bestanden sie, im Gegensatz zu letzteren, in der Regel nur aus einer einzigen Lagerunterabteilung, während sich Lager aus einer Vielzahl ebensolcher zusammensetzen konnten. Kolonien waren daher im Mittel wesentlich kleiner als Lager. Auch mußten ihre Insassen in der Regel in weniger prioritären Branchen, etwa in der Landwirtschaft und der Leichtindustrie, Zwangsarbeit leisten. Ausführlicher zu den strukturellen Unterschieden zwischen Kolonien und Lagern: Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg., S. 92-100. Neben den Kolonien existierten als „Spezialsiedlungen" (specposelenija), vorübergehend auch als „Arbeitssiedlungen" (trudposelenija) bezeichnete Verbannungsorte, die sich größtenteils in entlegenen Regionen befanden und an die zwangsumgesiedelte Menschen entweder für einen mehrjährigen Zeitraum oder auf Lebenszeit verbracht wurden. Ihre Bewohner rekrutierten sich zunächst hauptsächlich aus Opfern der „Entkulakisierung" der frühen 1930er Jahre. Allein in den Jahren 1930 und 1931 wurden nach amtlichen Dokumenten etwa 1,8 Millionen Menschen deportiert. Obgleich im Zeitraum 1932 bis 1940 annähernd zwei Millionen zusätzliche Verbannungsopfer hinzukamen, sank die Gesamtzahl der „Spezialsiedler" unter dem Eindruck massenhafter Fluchtbewegungen sowie besonders in den ersten Jahren äußerst hoher Mortalitätsraten tendenziell ab. So befanden sich Anfang 1932 laut amtlichen Dokumenten in sämtlichen sowjetischen „Spezialsiedlungen" 1.317.022 Insassen. Im Verlauf dieses Jahres flüchteten von ihnen nicht weniger als 207.010 Personen, zugleich kehrten nur 37.980 flüchtige „Spezialsiedler" zurück (vermutlich zumeist unfreiwillig). Im selben Zeitraum trafen 71.236 neue Verbannte ein, während 89.754 Personen starben. Im darauffolgenden Jahr starben 151.601 Personen, 215.856 flüchteten und 54.211 geflüchtete kehrten zurück (Viktor N. Zemskov: Specposelency (po dokumentam NKVD - MVD SSSR), in: Sociologiceskie Issledovanija, 11 (1990), S. 3 - 1 7 , hier: S. 6). Während der ersten Hälfte der 1940er Jahre wurden insgesamt noch zwischen ca. 600.000 und 900.000 „Speziai-" oder „Arbeitssiedler" gezählt. Während bzw. nach Ende des Zweiten Weltkrieges stieg ihre Zahl allerdings infolge der massenhaften Deportationen von Polen, Finnen, Wolgadeutschen, Tschetschenen, Inguschen, Krimtataren, Kalmücken, Balkaren, Karatschai, Mescheten und Angehörigen anderer Ethnien erneut an (bereits zuvor waren im Jahre 1937 mehr als 170.000 Koreaner deportiert worden), um schließlich einen Höchstwert von über 2,5 Millionen zu erreichen. Verbannungsorte verfügten in aller Regel nicht über Sicherungseinrichtungen, die denen von Lagern oder Kolonien vergleichbar gewesen wären; statt dessen sollten ihre Entlegenheit und Meldeauflagen Fluchten verhindern. Im Laufe der 1940er Jahre wurde die Überwachung der „Spezialsiedlungen" und der Gebiete, in denen sie gelegen waren, verschärft, doch waren Fluchtbewegungen auch zu dieser Zeit noch ubiquitär (Einleitung zu
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
Lagerkomplexe, in denen Gefangene mit langen Haftstrafen bedeutende wirtschaftliche Aufgaben - vornehmlich i m industriellen Bausektor und in der Rohstoffgewinnung - erfüllen mußten, das Rückgrat und den Kern der staatlichen Strategie der Nutzbarmachung von Zwangsarbeit für wirtschaftliche Zwecke. 4 5 Damit ist klar, daß zum Zeitpunkt der Übergabe des Norilsker Bauvorhabens an den N K W D i m Jahre 1935 die grundlegende Entscheidung, Zwangsarbeit zur Realisierung derartiger industrieller Vorhaben einzusetzen, bereits gefallen war. Die Erschließung und Förderung der Bodenschätze in der Norilsker Region und der Bau des dazugehörigen Kombinates, mithin die Schaffung eines neuen Industriestandortes in einer entlegenen, schwer zugänglichen Region, stellte nachgerade den Idealtypus der wirtschaftlichen Aufgabe dar, für die diese Option vorgesehen war. Die Übergabe des besonders anspruchsvollen - und daher mit dem Risiko des Scheiterns behafteten - Norilsker Bauvorhabens an den N K W D war schließlich um so wahrscheinlicher, als das alternativ in Frage kommende zivile Ministerium wenig Neigung zeigte, sich eine solche Verantwortung aufzubürden. M i t dem Norilsker Projekt übernahm der N K W D eine Aufgabe, die mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden und zugleich - wie bereits die Klassifizierung als „Stoßprojekt" signalisierte - von besonderer politischer Priorität war. Der unbedingte Wille zu ihrer erfolgreichen Bewältigung spricht aus den Einzelheiten des Streng Geheimen Orders des N K W D Nr. 00239 vom 25. Juni 1935, mit Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 5, Specpereselency ν SSSR, S. 75 ff., 82 ff.; Aleksandr M. Nekrich: The Punished Peoples: The Deportation and fate of Soviet minorities at the end of the Second World War, New York: W. W. Norton & Company, 1978, S. 119). Allgemein zur Verbannung und zu Verbannungsorten im Stalinismus vgl. ferner Zemskov, Specposelency (po dokumentam NKVD - MVD SSSR); ders.: „Kulackaja Ssylka" ν 30-e gody, in: Sociologiceskie Issledovanija, 10 (1991), S. 3 - 2 1 ; ders.: Sud'ba „Kulackoj Ssylki" (1930-1954 gg.), in: Otecestvennaja Istorija, 1 (1994), S. 118-143; ders.: Specposelency ν SSSR, 19301960, Moskva: Nauka, 2003; Lynne Viola: The Other Archipelago: Kulak Deportations to the North in 1930, in: Slavic Review, 60/4 (Winter 2001), S. 730-755; Pavel Poljan : Ne po svoej vole... : Istorija i geografia prinuditel'nych migracij ν SSSR, Moskva: OGI - Memorial, 2001; V. P. Danilov/S. A. KrasiVnikov (Hg.): Specpereselency ν Zapadnoj Sibiri (4 Bde.), Novosibirsk: Nauka (Bd. l)/ÈKOR (Bde. 2 - 4 ) , 1992-6; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 5, Specpereselency ν SSSR. Schließlich existierten auch im Stalinismus weiterhin Gefängnisse, die hauptsächlich als Untersuchungs- und Durchgangsgefängnisse dienten. Allerdings wurden auch besonders gefährliche Gewaltverbrecher sowie Häftlinge, die in Lagern weitere Straftaten begangen hatten, in Gefängnisse verlegt - insbesondere in Phasen, in denen die Todesstrafe für Kapitalverbrechen offiziell abgeschafft war (von 1947 bis 1954, für „Vaterlandsverräter" und „Spione" wurde sie bereits im Jahre 1950 wieder eingeführt). Die durchschnittliche Zahl von Gefängnisinsassen schwankte während des Stalinismus zwischen 100.000 und 300.000, phasenweise lag sie auch höher (Aleksandr /. Kokurin: Tjuremnaja Sistema: 1934-1960, in: Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej, S. 538-539). 45 Oleg Chlevnjuk, Einleitung zu Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3: Èkonomika Gulaga, S. 1 ff. Für eine Analyse der besonderen Rolle der Lager im Vergleich zu anderen Haftverbüßungsorten, namentlich von „Besserungsarbeitskolonien", s. Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e- 1950-e gg., S. 9 2 - 100.
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes
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dem Volkskommissar Jagoda zwei Tage nach Ausgabe des Dekrets des SNK dessen operative Umsetzung vollzog. 46 So unterstellte Jagoda das zu organisierende Lager unmittelbar dem Direktor des GULAG. Hierzu ist zu bemerken, daß erst einen Monat zuvor die administrative Stellung der zu diesem Zeitpunkt existierenden Lager des NKWD neu definiert worden war, wobei deren Aufteilung in zwei Kategorien zutage trat: Während die Mehrzahl der Lagerverwaltungen den Leitern der territorialen Verwaltungen des NKWD untergeordnet wurde (so daß sich der Dienstweg zwischen ihnen und dem GULAG verlängerte), behielten nur fünf Lager, denen die Realisierung besonders wichtiger wirtschaftlicher Objekte oblag, ihre direkte Verantwortlichkeit gegenüber der Hauptverwaltung der Lager. 47 Ebendieser Status wurde auch dem Norilsker Lager von Beginn an verliehen. Seine herausgehobene Stellung offenbaren jedoch noch weitere Punkte in Jagodas Order: Der Direktor des GULAG wurde angewiesen, „angesichts der besonders harten Bedingungen in Norilsk" erhöhte Versorgungsnormen für Lebensmittel, Ausrüstungsgüter und monetäre Prämien auszuarbeiten und vorzulegen. Der letzte Punkt des Orders lautete: „In Anbetracht der besonderen Bedeutung des Norilsker Bauvorhabens und der äußerst schweren [äußeren] Bedingungen, in denen es sich befindet, verpflichte ich alle Organe des NKWD zur sofortigen Beantwortung aller Anfragen des GULAG oder des Norilsker Lagers, die dieses Bauprojekt betreffen." 48 Die Bedeutung, die dem Norilsker Projekt von Seiten der Staats- und Parteiführung beigemessen wurde und die mit ihm verbundenen besonderen Schwierigkeiten waren den Administratoren des Lagersystems von Beginn an bewußt und veranlaßten sie, ihm ihrerseits besondere Priorität einzuräumen.
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes Zur Identifizierung jener Akteure, die die Ausbeutung von Zwangsarbeit in Norilsk planten, steuerten und kontrollierten, ist es erforderlich, die Verwaltungsstrukturen zu skizzieren, die das Objekt aufwies und in die es eingebettet war. 49 46 Veröffentlicht in: Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 2: Karatel'naja sistema: struktura i kadry, S. 119. 47 Smirnov/Sigacev/Skapov, Sistema mest zakljucenija ν SSSR, S. 39; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 2, Karatel'naja sistema, S. 117 f. Bei den genannten fünf Lagern handelte es sich um folgende Lagerkomplexe: Baikal-Amur-Lager, Weißmeer-Ostsee-Lager, Dmitrovskij-Lager, Uchta-Pecora-Lager (vgl. o. S. 41, Fußnote 35) und Temnikovskij-Lager (Temlag). Das Nordöstliche Lager zählte nicht dazu, da es dem GULAG erst 1938 unterstellt wurde und bis dahin der OGPU bzw. dem NKWD direkt unterstand. Das neue Verwaltungsschema hatte allerdings nur zwei Jahre Bestand; 1937 wurden sämtliche Lager wieder direkt dem GULAG unterstellt (Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg., S. 101 ff.). 48
Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 2, Karatel'naja sistema, S. 119. Schon während der 1920er Jahre nahmen die Verwaltungsorgane des damals noch im Entstehen begriffenen Systems der sowjetischen Straflager und der übrigen Haftverbüßungs49
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
Zugleich kann die Untersuchung der institutionellen Rahmenbedingungen dazu genutzt werden, der Frage nachzugehen, welchen übergeordneten Zielen die betreffenden Akteure verpflichtet waren und welcher Spielraum ihnen bei deren Verfolgung zur Verfügung stand. Zunächst ist festzuhalten, daß das ,Objekt Norilsk' über nahezu den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg in zwei unterschiedliche administrative Strukturen zerfiel. Eine davon trug in den 1930er Jahren die Bezeichnung „Norilsker Bauvorhaben" (NoriVskoe stroiteVstvo, kurz: NoriVstroj) und ab Anfang der 1940er Jahre „Norilsker Kombinat" (NoriVskij kombinat). 50 Ihr oblag zu jedem Zeitpunkt die Leitung praktisch aller wirtschaftlicher Aktivitäten, die i m Rahmen des Gesamtprojektes geplant und ausgeführt wurden. Obwohl die Hauptaufgabe des Kombinates in der Gewinnung (bzw. Herstellung) metallurgischer Erzeugnisse bestand, nahm es daher zugleich die Funktion einer universellen Bau-, Erschließungs- und Entwicklungsagentur für die gesamte Norilsker Region wahr. So erklärt es sich, daß in seine Verantwortung so vielfältige und unterschiedliche wirtschaftliche Aktivitäten fielen wie der Betrieb des Hafens und der Waren- und Vorratslager in Dudinka, die Unterhaltung des in den frühen 1940er Jahren errichteten Sovchozorte komplizierte, phasenweise unübersichtliche und zudem rasch veränderliche Formen an. Im Zuge der Expansion des Systems im Laufe der 1930er und 1940er Jahre nahm die Komplexität dieser administrativen Strukturen weiter zu. Mit diesem Problem hat sich die Forschung bisweilen schwergetan. Die von Stettner unternommenen Rekonstruktionsversuche des Verwaltungsapparates des Lagersystems sind wenig hilfreich, da sie ein Sammelsurium von zutreffenden und falschen Angaben darstellen, was angesichts der vom Autor verwendeten unzureichenden Quellenbasis kaum verwundert (,Stettner, Archipel GULag, S. 115-157, S. 400-414). Hingegen gibt die Darstellung von Jakobson die Verhältnisse für die Frühphase bis zur Mitte der 1930er Jahre weitgehend korrekt wieder (Michael Jakobson: Origins of the GULAG: The Soviet Prison Camp System 1917-1934, Lexington: University Press of Kentucky, 1993, S. 91 -125, 150), wenngleich auf S. 138 der unzutreffende Eindruck vermittelt wird, nach dieser Periode seien bis in die Mitte der 1940er Jahre hinein keine nennenswerten Veränderungen mehr eingetreten. Die bislang vollständigste, exakteste und detaillierteste Nachzeichnung der verschiedenen Entwicklungsstufen des Behördenapparates bieten M. Dzekobson/M.B. Smirnov, Sistema mest zakljucenija ν RSFSR i SSSR. 1917-1930 gg., in: Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej ν SSSR, S. 10-24 und Smirnov/Sigacev/ Skapov, Sistema mest zakljucenija ν SSSR. Allerdings erheben diese Beiträge eher einen enzyklopädischen denn einen analytischen Anspruch, weswegen die dort zu findenden Beschreibungen der Funktionen der jeweiligen Institutionen äußerst knapp gehalten sind. Einen kurzen, doch anschaulichen Überblick über die Funktionen verschiedener Verwaltungseinheiten liefert Paul R. Gregory: An Introduction to the Economics of the Gulag, in: Gregory/ Lazare ν, The Economics of Forced Labor, S. 1-21, obschon sich auch dort noch einige Ungenauigkeiten finden (während das in Figure 1.1 (S. 7) präsentierte Funktionsschema weitgehend korrekt ist, handelt es sich bei den im Text erwähnten „[the Gulag's] own main industrial administrations" tatsächlich um Branchenhauptverwaltungen des NKWD, nicht des GULAG - S. 7 f., entsprechend: S. 10 f.). Einen ersten Versuch, die wesentlichen administrativen Strukturen, die an der Verwaltung des sowjetischen Lagersystems beteiligt waren, in ihren Aufgaben und funktionalen Beziehungen zueinander zu erfassen und eingehender zu analysieren, unternimmt Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg. 50 In voller Länge: „Norilsker Bergbau- und metallurgisches Kombinat" (NoriVskij metallurgiceskij kombinat).
gorno-
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes
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Landwirtschaftsbetriebes, der Betrieb der Eisenbahnlinie Dudinka-Norilsk sowie der Bau der ersten Häuser und Straßenzüge der Stadt Norilsk. 5 1 Dem Kombinat mit seinen rein ökonomischen Aufgaben stand das „Norilsker Besserungsarbeitslager" gegenüber, welches - wie auch alle anderen großen stalinistischen Lager - aus mehreren Abteilungen und Unterabteilungen bestand und daher treffender als Lagerkomplex zu bezeichnen wäre. Als Strafvollzugseinrichtung mußte das Lager laut der sowjetischen Gesetzgebung und amtlichen (obschon geheimen) Instruktionen zwei zentrale Aufgaben erfüllen: zum einen die Verwahrung und Isolierung der Häftlinge, zum anderen deren politische Umerziehung, die sowohl durch den Arbeitseinsatz als auch durch begleitende kulturelle und agitatorische Maßnahmen gewährleistet werden sollte. 5 2 Seine wirtschaftliche Aufgabe beschränkte sich hingegen darauf, dem Kombinat (bzw. Bauvorhaben) die zur Ausführung der vielfältigen Bau- und Produktionsaufgaben benötigten Zwangsarbeiter bereitzustellen. Diese Aufgabenteilung wird von der ehemaligen Gefangenen Evfrosinija Kersnovskaja anschaulich beschrieben: „Wir [die Gefangenen] hatten zwei Arten von Herren: das Lager und den Produktionssektor, das heißt das metallurgische Kombinat. In vereinfachter Form kann man sich das so vorstellen: die, die uns unterdrücken und die, die uns ausbeuten. [ . . . ] wenn der Produktionssektor der Sklavenhalter war, so war das Lager der Sklavenhändler. Übrigens trifft auch das nicht ganz zu: Das Lager verkaufte seine lebendige Ware nicht, sondern vermietete sie; der Sklavenhalter hingegen war nur ein temporärer Besitzer, er bezahlte dem Lager für die Überlassung [der Häftlinge], doch über unser Schicksal verfügen konnte er nicht." 53 Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej, S. 338. „Besserungsarbeitskodex" der RSFSR vom 1. August 1933, veröffentlicht in: Kokurin/ Petrov, GULAG: 1918-1960, hier: S. 73; „Ordnung der Besserungsarbeitslager" vom 07. April 1930, GARF. R-5446.lla.594: 11 ff., veröffentlicht in: Kokurin/Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 65-72; Vorlesung des Leiters des GULAG, Nasedkin, in der Hochschule des NKWD am 5. Oktober 1945, ebd., S. 298 f.; interne Vorlesung über die Entstehung und Funktionen des GULAG vom 12. Mai 1947, GARF. R-9414.1.74: 4. 53 Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 108 f. Die Autorin befand sich von 1944 bis 1952 im Norilsker Lager in Haft. Zu ihrer Person vgl. L'vov, Noril'skie sud'by, S. 173 — 184. Die Bemerkung „über unser Schicksal bestimmen konnte er [das Kombinat - S. E.] nicht" ist allerdings differenziert zu beurteilen. Zwar waren die Häftlinge im eigentlichen Lager (der „Zone") unmittelbar nur dem Zugriff der Lageradministration ausgesetzt und wurden sowohl auf dem Weg zur Arbeit als auch an der Arbeitsstelle selbst von Wachtruppen beaufsichtigt, die ebenfalls der Lageradministration unterstanden. Allerdings hatte das Kombinat durch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen fraglos einen beträchtlichen Einfluß auf das Schicksal der Gefangenen. Auch an der Zuteilung angemessener Beschäftigungen für Häftlinge mit entsprechenden Qualifikationen war das Kombinat beteiligt. Schließlich war es nicht ausgeschlossen, daß Funktionsträger des Kombinates im Lagersektor zugunsten von Häftlingen intervenierten, wobei mitunter auch die Parteiorganisation als Mittel zur Durchsetzung konkreter Sanktionen in Frage kommen konnte. Ein derartiger Fall ist Kersnovskaja nach eigener Schilderung selbst widerfahren, als ihr (freier) Brigadier, ein Beschäftigter des Kombinates, der erfahren hatte, daß sie von einem Offizier ihrer Lagerabteilung mißhandelt worden war, den Verantwortlichen im Lager aufsuchte, zur Rede stellte und seine Bestrafung erwirkte (.Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 88 ff.). Ob solche Interventionen häufig vorkamen, kann allerdings bezweifelt werden. 52
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
Eine derartige Arbeitsteilung bedeutete freilich nicht, daß es sich bei Lager und Kombinat um zwei unabhängige, klar voneinander abgegrenzte Institutionen handelte. Um dies zu erkennen, ist es notwendig, die Funktionsweise ihrer Administration zu beleuchten, wobei es sich empfiehlt, zugleich die Entwicklung der zentralen Verwaltungsstrukturen zu diskutieren, die den Norilsker Institutionen übergeordnet waren. Im Jahre 1935 war dem GULAG die uneingeschränkte und ungeteilte Verantwortung für das industrielle Großprojekt Norilsk übertragen worden, was implizierte, daß dessen Leitung, welche organisatorische Struktur auch immer sie annehmen würde, alleine dem GULAG gegenüber weisungsgebunden gewesen wäre. Tatsächlich spricht diese Logik bereits aus dem ersten und zugleich konstituierenden Dokument über die in Norilsk zu schaffenden Verwaltungsstrukturen: In seinem bereits erwähnten Streng Geheimen Order Nr. 00239 vom 25. Juni 1935 befahl Genrich Jagoda, Volkskommissar für Inneres: „2. In Norilsk ein Besserungsarbeitslager zu organisieren, es mit der Bezeichnung „Norilsker Besserungsarbeitslager" zu versehen und ihm [die Erfüllung folgender Aufgaben] aufzuerlegen: a) den Bau des Nickelkombinates b) die Erschließung der Region, in der das Kombinat und seine Unternehmen gelegen sind. [...] 4. Genossen Matveev zum Direktor des Norilsker Bauvorhabens und Lagers zu ernennen." 54
Bei kritischer Betrachtung weist der Wortlaut dieses Dokumentes einen Widerspruch auf: Wäre dem Lager tatsächlich, wie in Punkt 2 bestimmt, die Rolle einer Metastruktur zugedacht gewesen, welcher die Ausführung sowohl des konkreten Bau- als auch des allgemeineren Erschließungsauftrages oblegen hätte, wäre die Ernennung Vladimir Matveevs zum Direktor des Bauvorhabens redundant gewesen. Nun wird jedoch in Punkt 4 gerade diese Funktion an erster Stelle genannt - noch vor der Leitungsfunktion im Lager. Vor dem Hintergrund der Praxis, die bei der Verwaltung anderer Objekte des GULAG zur Anwendung kam, und der sich in den kommenden Jahren in Norilsk tatsächlich einstellenden Sachlage kann dieser Widerspruch allerdings als simple terminologische Ungenauigkeit eingestuft werden, die zugleich bezeichnend ist für die eingeschränkte Bedeutung, die in jenem Moment der exakten Bestimmung und Abgrenzung administrativer Verantwortlichkeiten - sprich: dem Ziehen einer Grenze zwischen Lager und Kombinat - beigemessen wurde. Daher scheint eine schlichtere Auslegung des Orders angebracht, die etwa lauten könnte, in Norilsk sei ein Lager zu gründen, dessen Häftlinge das Kombinat bauen und alle übrigen Arbeiten ausführen müßten; Matveev schließlich solle die Leitung von alledem übernehmen. 54 Dokument veröffentlicht in: Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 2, Karatel'naja sistema, S. 119.
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes
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Nicht anders stellten sich während der ersten drei Jahre die Verhältnisse in Norilsk dar. In dieser Zeit bestand zwischen Lager und Bauvorhaben praktisch keine Trennung (vgl. Anhang H. III, Abb. VI), statt dessen existierten „sogenannte ,Gebiete4 [russisch: rajony] mit gemischten Lager- und Produktionsfunktionen". 55 Eine Entflechtung beider Verantwortungsbereiche erfolgte erst im Zuge der Neuorganisation des gesamten Komplexes durch Avraamij Zavenjagin, den zweiten Direktor von Noril'stroj, im zweiten Quartal 1938.56 Unmittelbar nach seinem Amtsantritt trennte er die Lagerstrukturen aus dem Bauvorhaben heraus und versah sie mit einer eigenen Buchhaltung.57 Die ausschließliche Rechenschaftspflicht von Lager und Bauvorhaben gegenüber den jeweils zuständigen Abteilungen des GULAG blieb jedoch vorerst bestehen (vgl. Anhang H. III, Abb. VII). Dies änderte sich erst im Jahre 1941 im Zuge eines breiteren Reorganisationsprozesses, der zwischen 1939 und 1941 den zentralen Verwaltungsapparat des sowjetischen Lagersystems grundlegend verwandelte. Bis dahin hatte dem GULAG die allumfassende Verwaltung des Lagersystems und der mit diesem verbundenen Wirtschaftsobjekte oblegen. Er war somit verantwortlich für die Erfüllung von Produktionsaufgaben, für die Gewährleistung der Verwahrung und Isolierung der Häftlinge unter den gesetzlich und administrativ vorgeschriebenen Bedingungen sowie für deren „Umerziehung". 58 In der Praxis führte die Fülle unterschiedlicher Aufgaben zunehmend zu Konflikten und Problemen. Zwar bekannte sich die GULAG-Führung ausdrücklich dazu, daß ihre grundlegende und hauptsächliche Aufgabe darin bestand, „die Menschen, ihre physische [Arbeits]Kraft nutzbar zu machen", doch beklagte sie zugleich die durch diese Prioritätensetzung bedingte Vernachlässigung der übrigen Ziele. 59 Zudem warf die stetig wachsende Anzahl und gleichzeitige Diversifikation der Wirtschaftsprojekte, die dem GULAG bis dahin übertragen worden waren, immer anspruchsvollere 55 GARF. R-9414.ld.1118: 6. S. auch Ertz, Building Norilsk, S. 144. 56 Zur Person Zavenjagins s. Uvov, Noril'skie sud'by, S. 51-66. Ab 1933 fungierte Zavenjagin als Direktor des Bauvorhabens in Magnitogorsk (,Stephen Kotkin: Magnetic Mountain: Stalinism as a Civilization, Berkeley: University of California Press, 1995, S. 55), bis er im März 1937 auf den Posten eines stellvertretenden Volkskommissars für Schwerindustrie nach Moskau berufen wurde. Ein Jahr später wurde er von dieser Position abgelöst, was bedeutete, daß ihm drohte, der breiten ,Säuberungswelle' zum Opfer zu fallen, die das Volkskommissariat erfaßte. Am 22. März 1938 wandte er sich in einem Brief an Stalin und Molotov, in dem er seine Unschuld beteuerte und ersuchte, für einen schwierigen Einsatz im Hohen Norden oder in Sibirien abgeordnet zu werden (Α. V. Kvasonkin/A. Ja. Livsin/O. V. Chlevnjuk: Sovetskoe Rukovodstvo: Perepiska 1928-1941, Moskva: ROSSPÉN, 1999, S. 392). Im Gegensatz zu nahezu allen übrigen früheren engen Mitarbeitern des ehemaligen Volkskommissars für Schwerindustrie Sergo Ordjonikidze (der sich im Februar 1937 das Leben genommen hatte) wurde Zavenjagin daraufhin tatsächlich nicht erschossen, sondern nach Norilsk beordert. 57 GARF. R-9414.ld.1118: 6. 58 Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg, S 101 ff. 59 Ivanova, GULAG ν sisteme totalitarnogo gosudarstva, S. 104. Das Zitat ist dem Protokoll einer Partei Versammlung des Zentralapparates des GULAG von April 1937 entnommen. 4 Ertz
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
technische und organisatorische Fragen auf, mit denen die Entwicklung technischer und wirtschaftlicher Expertise in der Hauptverwaltung kaum noch Schritt halten konnte. 6 0 Angesichts dieser Entwicklungen war innerhalb des G U L A G bereits ab Ende der 1930er Jahre eine Reihe spezialisierter Verwaltungen geschaffen worden, die jeweils für die Leitung der Wirtschaftsvorhaben einer bestimmten Branche verantwortlich waren. 6 1 Diese Verwaltungseinheiten wurden in den Jahren 1940 und 1941 sukzessive aus dem G U L A G ausgegliedert und in den Rang eigenständiger Hauptverwaltungen innerhalb des N K W D erhoben, wodurch der G U L A G von der wirtschaftlichen Verantwortung für die Mehrzahl der Investitionsprojekte und Industriebetriebe des N K W D befreit wurde. 6 2 Neben der Aufsicht über die verbleibenden, weitaus weniger prioritären Sektoren der Lagerwirtschaft - hauptsächlich Aktivitäten in Landwirtschaft und Leichtindustrie - verblieben beim G U L A G vornehmlich nicht-ökonomische Aufgaben. Hierzu zählten die Gewährleistung der Isolierung der Häftlinge, die Kontrolle der Bedingungen ihrer Unterbringung und ihres Gesundheitszustandes, die Regelung und Kontrolle des Lagerregimes, die Organisation der politisch-propagandistischen Arbeit innerhalb sämtlicher Lager und Kolonien und, gemeinsam mit den neuen Produktionslagerhauptverwaltungen, die Überwachung der Intensität ihrer Arbeitsausnutzung. 63 60 Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 242. 61 Für ein Übersichtsschema dieser Verwaltungen s. GARF. R-9414.1.846: 1 (Stand vom 31. Januar 1941). 62 Für eine detailliertere Darstellung dieser Vorgänge s. Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e 1950-e gg., S. 106 ff. Dort wird auch die sich ergebende Aufgabenverteilung zwischen GULAG und den neugegründeten Produktionslagerhauptverwaltungen ausführlicher diskutiert. An dieser Stelle sei lediglich angemerkt, daß die Existenz und die Rolle der letzteren in der Literatur gelegentlich übersehen wird, was zu Mißperzeptionen führen kann. So vermittelt das vom GULAG ab 1941 hinterlassene Quellenmaterial (das zudem wesentlich umfangreicher ist als die aus den 1930er Jahren erhaltenen Dokumente - s. o. S. 26) erwartungsgemäß den Eindruck, er habe wirtschaftlichen Fragen weniger, der Regelung der äußeren Lebensbedingungen oder auch der kulturellen Umerziehung der Häftlinge hingegen mehr Beachtung geschenkt. Hiervon allerdings abzuleiten, daß dies auch der der Verwaltung des Lagersystems insgesamt zugrundeliegenden Zielhierarchie entsprochen hätte, wäre ein Irrtum, dem nur erliegt, wer ausschließlich den GULAG und die von diesem hinterlassenen Dokumente im Blick hat. So glaubt etwa Steven Barnes zu erkennen, daß, soweit der Arbeitsprozeß der Häftlinge betroffen war, „the key statistic for the Gulag bureaucracy was ,labor utilization.'" (Steven A. Barnes: Researching Daily Life in the Gulag, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, 1/2 (Spring 2000), S. 377-390, hier: S. 384). Nun taucht diese Kenngröße tatsächlich in zahlreichen Dokumenten des GULAG auf, zählte doch deren Kontrolle in den 1940er und 1950er Jahren zu dessen verbliebenen Aufgaben (Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e-1950-e gg., S. 112 ff.). Barnes' Schlußfolgerung, ökonomische Größen wie Produktionsvolumen, Kosten und Produktivität hätten demnach eine vernachlässigbare Rolle gespielt, geht jedoch fehl, denn die Beschäftigung mit genau diesen Problemen war Hauptaufgabe der neuen Produktionslagerhauptverwaltungen. Darüber hinaus ist zu vermerken, daß der GULAG nichtsdestoweniger auch in dieser Periode bedeutsame Maßnahmen propagierte, die die Steigerung der Produktivität der Zwangsarbeit im gesamten Lagersystem zum Ziele hatten (Ertz, Trading Effort for Freedom).
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Einer der neugeschaffenen wirtschaftlichen Hauptverwaltungen, derjenigen „der Lager der Montan- und metallurgischen Unternehmen" (Glavnoe upravlenie kurz: GULGMP), wurde mit deren lagerej gorno-metallurgiceskich predprijatij, Gründung Ende Februar 1941 auch das Norilsker Kombinat unterstellt. 64 Auch das Norilsker Lager wurde fortan offiziell als Lager der GULGMP geführt - eine Bezeichnung, die allerdings in die Irre führen könnte, denn faktisch übernahm die GULGMP lediglich die Verantwortung für die wirtschaftliche und finanzielle Tätigkeit des Lagers (was sich bereits daraus ergab, daß das Budget des Lagers in jenes des Kombinates eingegliedert war 65 ) und damit jene Funktion, die zuvor die Finanz- und die Planabteilung des GULAG innegehabt hatten66. Hinsichtlich der Rolle des Norilsker Lagers als Strafvollzugs- und Haftanstalt hatte sich dessen Führung hingegen auch weiterhin an den Anforderungen zu orientieren, die der GULAG für sämtliche Lager und Kolonien vorgab (vgl. Anhang H. III, Abb. VIII). Gewisse Überschneidungen der Verantwortlichkeiten von GULGMP und GULAG ergaben sich allerdings bezüglich der Gewährleistung einer hohen Arbeitsausnutzungsquote der Häftlinge (dem Verhältnis von arbeitenden Häftlingen zur Gesamtzahl aller Gefangenen). 67 Zwar wurden, wie im folgenden noch an vielen Beispielen erkennbar werden wird, die grundlegendsten und für das gesamte Lagersystem gültigen Regulative zur Organisation der Zwangsarbeit auf ministerialer oder noch höherer politischer Ebene beschlossen, doch fand die Vorbereitung solcher Gesetzesakte innerhalb der genannten Hauptverwaltungen statt, wobei dem GULAG stets eine besondere Rolle zukam. 68 Sowohl in der Schaffung der neuen Branchenhauptverwaltungen innerhalb des NKWD als auch in der neuen Verteilung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen zwischen diesen und dem GULAG trat die Tendenz zur Entflechtung wirt63 Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e - 1950-e gg., S. 112 ff. 64 Streng Geheimer Order Nr. 00212 des NKWD vom 26. Februar 1941. 65 Wesentlich später - im Jahre 1950 - erhielten die Lager der GULGMP, unter ihnen das Norilsker Lager, eigene, vom Produktionssektor unabhängige Budgets. Faktisch blieben ihre finanziellen Handlungsspielräume jedoch weiterhin eingeschränkt (GARF. R-9401.4.2693: 177). 66 Bei dieser vereinfachenden Darstellung bleibt unerwähnt, daß diese beiden Abteilungen des GULAG bereits im August 1940 aufgelöst und ihre Aufgaben an die Zentrale Plan- und Finanzabteilung des NKWD übertragen worden waren (Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e1950-e gg., S. 107). 67 Dies mag einleuchten, da es zwar in der Verantwortlichkeit des Lagerpersonals lag, welche Häftlinge täglich aus dem Lager zum Arbeitseinsatz geführt wurden, das Kombinat es jedoch auch seinerseits versäumen konnte, für alle Häftlinge Arbeit zu organisieren (Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e- 1950-e gg., S. 113). 68 Auch während der Existenz der Produktionslagerhauptverwaltungen bestand die Rolle der „Organisations- und Rechtsabteilung" innerhalb der Zweiten Verwaltung des GULAG in der Ausarbeitung von Projekten gesetzlich-administrativer Dokumente, die die Arbeit sämtlicher „Besserungsarbeitslager" und ,,-kolonien" des N K W D / M W D betrafen, sowie in der Kommentierung von analogen Projekten, die gegebenenfalls von anderen Abteilungen des Ministeriums vorgelegt wurden (GARF. R-9414.1.374: 11 f.). 4*
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Β. Parameter des Untersuchungsobjektes
schaftlicher und nicht-wirtschaftlicher Aufgaben, welche die aus Lagern einerseits und Unternehmen oder Bauvorhaben andererseits bestehenden einzelnen Objekte des NKWD zu erfüllen hatten, klar zutage. Inwieweit eine solche Trennung jedoch tatsächlich eintreten würde, hing nicht zuletzt davon ab, ob für jeden Aufgabenkomplex eigenständige, hinreichend durchsetzungsfähige administrative Strukturen zuständig waren. Gerade hier mangelte es dem Anfang der 1940er Jahre eingeführten neuen Verwaltungsmodell jedoch an Konsequenz: Trotz der Aufspaltung der Verantwortlichkeiten im Ministerium und obwohl die unterschiedlichen Aufgabenbereiche auf der Ebene der Unternehmen und der zugehörigen Lager klar umrissen waren, wurden die meisten Objekte weiterhin von einer einheitlichen Führung geleitet.69 Dies galt auch für Norilsk. Gleich seinem Vorgänger Matveev hatte auch Avraamij Zavenjagin, der bis Ende März 1941 im Amt verblieb 70 , als Direktor des Kombinates zugleich den Posten des Lagerdirektors inne. Der erste Satz eines zwischen Januar 1940 und Februar 1941 verfaßten Berichtes über die Struktur des Norilsker Lagers lautete daher programmatisch: „Der Leiter des Norilsker Kombinates ist zugleich auch der Leiter des ITL [„Besserungsarbeitslagers" - S. E.]." Zavenjagin konnte dabei auf eine Reihe von Stellvertretern zurückgreifen, von denen einer für das Lager, andere für die unterschiedlichen Bereiche des Kombinates zuständig waren. 71 Daß Zavenjagin seine Verantwortung für das Lager auch tatsächlich wahrnahm, bezeugen verschiedene Erlasse zu Fragen des Lagersektors, die er während seiner Amtszeit ausgab.72 Seine Nachfolger Aleksandr Panjukov (1941-1948) und Vladimir Zverev (1948-1953) bekleideten ebenfalls die Direktorenposten von Kombinat und Lager zugleich.73 Doch nicht nur sie, sondern auch andere leitende Funktionsträger waren mit doppelten Verantwortlichkeiten für Kombinat und Lagersektor ausgestattet.74 Letztlich lief die administrative Struktur von Kombinat und Lager damit auf ein einfaches Prinzip hinaus, welches Aleksandr Gaevskij, der während seiner Haftzeit temporär in der Verwaltung des Kombinates beschäftigt war, auf die Formel brachte: „der Direktor des Kombinates war ,Zar und Gott'." 7 5 69 Ertz, Lagernaja sistema ν 1930-e- 1950-e gg., S. 114 f. Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej, S. 339. 71 Informationszentrum des UMWD Krasnojarsk: Archivbestand des Norilsker Lagers, Kopie des Dokumentes im Besitz des Autors (ohne Archivsignaturen). 72 Tafjana Vensenosceva: Sozdanie opornoj bazy dlja stroitel'stva NGMK: Noril'lag pri V. Z. Matveeve, in: Noril'skij Memorial, 4 (Okt. 1998), S. 23-25, hier: S. 24. 73 Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej, S. 339. 74 So gab es etwa nur einen stellvertretenden Direktor für Personalangelegenheiten (Kader), der für Kombinat und Lager gleichermaßen verantwortlich war (GARF. R-9414.1.461: 53\Anatolij L. L'vov: Rodionovy, in: Krasnojarskij rabocij, 3./4./5. September 1992). 75 Gaevskij, Erinnerungen (o. T.). Analog Avgust S. Kalejs: „Der Direktor des Kombinates und des Lagers stellte [ . . . ] die einzige wahre [letztgenanntes Wort ist im Manuskript handschriftlich ergänzt - S. E.] Macht in Norilsk dar. Die Rolle und Bedeutung der politischen Abteilung des Kombinates, des Gewerkschaftskomitees und insbesondere des lokalen Sowjets waren minimal." Pis'mo ο stroiteljach Noril'ska, 1965: RGASPI. 560.1.14: 6. 70
III. Administrative Struktur des Kombinates und des Lagerkomplexes
53
Eine derartige Konzentration der Verantwortlichkeiten für unterschiedliche Aufgabenbereiche schuf jedoch die Voraussetzungen für einen Zielkonflikt - in Norilsk ebenso wie in vielen anderen Lagern und Wirtschaftsobjekten des N K W D / M W D . Generell sahen sich dort seit Anfang der 1940er Jahre einheitliche Verwaltungen zwei unterschiedlichen Kategorien von Forderungen gegenüber, die von verschiedenen Institutionen an sie herangetragen wurden: Während der G U L A G in erster Linie die ordnungsgemäße Unterhaltung der Lager erwartete 7 6 , verlangten die entsprechenden Branchenhauptverwaltungen (im Norilsker Fall: die G U L G M P ) die Erfüllung der Produktionspläne. Einen Hinweis darauf, für welche Zielhierarchie sich die Führung des Norilsker Lagers und Kombinates in dieser Situation entschied, liefert ein i m Herbst 1951 von Inspektoren des G U L A G angefertigtes Revisionsprotokoll des Lagers, worin es heißt: „Der MWD der UdSSR hat wiederholt festgestellt, daß im Norilsker ITL seit langer Zeit, bei gleichzeitigem Vorliegen positiver Kennziffern der Erfüllung von Produktions- und Kapitalbauplänen, die Order des MWD zur Konsolidierung der Bewachung, der Haftbedingungen und zur Verstärkung der Isolierung der Häftlinge grob verletzt werden [ . . . ] Die Führung des Lagers [die mit jener des Kombinates identisch war - S. E.] und der Politischen Abteilung schenkten ihre Hauptaufmerksamkeit [ . . . ] nicht der gründlichen Verbesserung der Arbeit der lagerinternen Institutionen, sondern der Lösung der wirtschaftlichen und Produktionsaufgaben. Aus genau diesem Grunde wurde keine Beharrlichkeit darin gezeigt, das Haftregime, die Isolierung und die Bewachung der Gefangenen in Ordnung zu bringen." 77 Aus dieser Einschätzung erschließt sich, daß wirtschaftliche Ziele in der Zielfunktion der Leitung des Norilsker Kombinates und Lagers eindeutigen Vorrang gegenüber den spezifischen Aufgaben des Lagers als Haftanstalt hatten. 7 8 Eine 76 Eingehender zu dem vom GULAG seit der Bildung der Produktionslagerhauptverwaltungen und insbesondere nach Kriegsende entwickelten Anforderungskatalog an den Zustand der Lager des NKWD / MWD, der nicht selten in der Formel kondensiert wurde, die Lager sollten sich in „mustergültige" ( 151%
> 121%
> 1 3 5 % [sie]
Quelle: GARF. R-9414.1d. 151: 290.
Für Gefangene, die als Ingenieure oder Techniker leitende Funktionen innehatten, sah Zverevs Vorschlag eine besondere Regelung vor: Sie sollten bereits bei einfacher Normerfüllung in dem Bereich, dem sie zuarbeiteten oder der ihrer Verantwortung unterstand, bis zu zwei Arbeitstaggutschriften gewährt bekommen. Unter der Bedingung, daß neben der Erfüllung des Produktionsplanes auch noch sämtliche technischen und organisatorischen Kennziffern (etwa für Kosten, Produktivität und Arbeitsunfälle) innerhalb der Zielwerte lagen, konnten ihnen drei Tage gutgeschrieben werden. Die Vorschläge Zverevs stießen auf Zustimmung in den Führungen sowohl der GULGMP als auch des GULAG. Gemeinsam mit der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR erarbeitete letzterer den Entwurf einer Verordnung, die sie auf eine gesetzliche Basis stellen sollte. Der Text dieses Dokumentes lag bereits im August 1950 vor, doch wurde es erst im Herbst des folgenden Jahres beschlossen. 115 Ob dieser Verzug, wie einige Details vermuten lassen, tatsächlich nur ein Beispiel bürokratischer Trägheit darstellt, kann nicht abschließend geklärt 113 GARF. R-9414.Id. 151: 285 f., 289. 114 Ebd., 286 f., 290. us Ebd., 297-300.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
171
werden. 116 Wichtiger ist freilich, daß er keine praktischen Auswirkungen hatte, denn in seinem Schreiben vom 27. Mai 1950 hatte Zverev mitgeteilt, daß er die beigefügten Skalen im Vorgriff auf die erwartete Bestätigung durch das Ministerium bereits in Kraft gesetzt habe. 117 Dieses Vorgang ist aufschlußreich, zeugt er doch von dem Spielraum, den der Direktor eines bedeutenden Kombinates hinsichtlich der Arbeitsorganisation der Häftlinge besaß - oder sich zumindest zu verschaffen wußte. Im gegebenen Fall nutzte er ihn dazu, ein effektiveres Instrument zur Erhöhung der Produktivität der Zwangsarbeiter zu schaffen und somit die Intensität und Effizienz ihrer Ausnutzung zu steigern. Zu ergänzen ist, daß zahlreiche Erinnerungen ehemaliger Gefangener die verbreitete Anwendung von Arbeitstaggutschriften im Norilsker Lager ab Beginn der 1950er Jahre dokumentieren und dabei sowohl die Differenzierung der Berechnungsskalen für verschiedene Arbeitsbereiche als auch die Berechtigung politischer' Häftlinge zum Empfang dieser Boni bestätigen.118
4. Monetäre Prämien Neben Arbeitstaggutschriften wurden in den Lagern und Kolonien des NKWD / MWD auch monetäre Anreize eingesetzt, um die Arbeitsproduktivität der Häftlinge zu erhöhen. Während der 1930er und bis zum Ende der 1940er Jahre sollten alle arbeitenden und die Arbeitsnormen erfüllenden Häftlinge regelmäßige Zahlungen erhalten, die gleichwohl nicht als Lohn oder Gehalt, sondern als „monetäre Belohnungen" oder „Prämien" (deneznoe pooscrenie oder (deneznoe) premiai'noe voznagrazdenie) bezeichnet wurden. Der Zugriff der Häftlinge auf dieses Geld unterlag gewissen Beschränkungen. Laut der „Temporären Instruktion zum Regime und den Haftbedingungen der Gefangenen in den Besserungsarbeitslagern des NKWD der UdSSR" aus dem Jahre 1939 sollte die Ausgabe „gleichmäßig und gestückelt erfolgen, wobei die Gefangenen in bar über jeweils nicht mehr als 50 Rubel verfügen sollen." 119 Im Januar 1944 wurde dieser Betrag auf 150 Rubel angehoben.120 Zudem sollte ein geringer Teil der Prämiensumme zurückgehalten und auf das persönliche Konto der Gefangenen überwiesen werden, wo das Geld bis zu deren Freilassung verbleiben sollte. 121 116 Ebd., 283 f. 117 Ebd., 290. us Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 213, 271; Numerov, Zolotaja Zvez'da GULAGa, S. 402; Rubinstejn, Iz vospominanij, S. 188 f.; Vilis Traubergis: Noril'skoe vosstanie, veröffentlicht unter: http://www.memorial.krsk.ru/memuar/Traubergis.htm ; Veselovskij, Skrytaja biografija, S. 164, 167 f. 119 Streng Geheimer Order des NKWD Nr. 00889 vom 2. August 1939. Hervorhebung entspricht dem Original. S. auch Kokurin/ Ρetrov, GULAG: 1918-1960, S. 461, wo die Hervorhebung allerdings verlorengegangen ist. 120 Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 4, Naselenie Gulaga, S. 250 f.; vgl. auch GARF. R-9414.1.77: 28.
172
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
Die Höhe der Prämienzahlungen hielt sich allerdings durchweg in engen Grenzen. Im Jahre 1935 etwa betrug die durchschnittliche Auszahlung an arbeitende Häftlinge in allen Lagern des NKWD nicht mehr als 53 Kopeken pro Tag, was der Planziffer nahezu exakt entsprach. 122 Zudem läßt selbst die Dokumentation des GULAG Zweifel aufkommen, ob tatsächlich alle Gefangenen diese Beträge jederzeit ausgehändigt bekamen: Im Juni 1944 verwies der Leiter des GULAG, Nasedkin, in einem Zirkular an die Leitungen aller Lager und an die territorialen und republikanischen Verwaltungen der Kolonien auf Informationen, nach denen in einer Reihe von Lagern und Kolonien die Auszahlung der Prämien an die Gefangenen systematisch verzögert worden war. 123 Um abzuschätzen, in welchem Umfang die Zwangsarbeiter in Norilsk derartige Prämien erhielten, können zunächst die Bilanzen zu den Unterbringungs- und Unterhaltskosten der Häftlinge herangezogen werden. Die Angaben, die sich dort zum Prämienfonds der Häftlinge und seiner tatsächlichen Verwendung finden, sind in Abb. 12 dargestellt. Da diese Zahlen für sämtliche im Kombinat arbeitenden Häftlinge aggregiert sind, ist es denkbar, daß die mittlere tatsächlich ausgezahlte Summe höher lag, da nicht alle Häftlinge jederzeit die Produktionsnormen erfüllten. Nichtsdestoweniger läßt sich erkennen, von welch äußerst bescheidenem Umfang auch in Norilsk die Zahlungen waren, die für die Prämierung der Häftlingsarbeit im dargestellten Zeitraum vorgesehen waren. Bei näherer Betrachtung fallen sodann zwei Besonderheiten ins Auge. Zunächst sind dies die in den Jahren 1936 und 1937 im Vergleich sowohl mit späteren Perioden als auch mit den Planvorgaben erhöhten Werte. Die Ausführungen, die den Bilanzen dieser Jahre beigefügt sind, liefern eine Erklärung hierfür. Demnach entsprachen in dieser Zeit die Prämien jenem Betrag, der nach Abzug der Unterbringungskosten der Häftlinge von der Bezahlung der von ihnen erbrachten Arbeitsleistung verblieb, weswegen eine Übererfüllung der Normen (bei konstanten Unterhaltskosten) einen überproportionalen Anstieg der Prämien nach sich ziehen konnte. 124 Das deutliche Überschreiten der geplanten Höhe der Prämien im Jahre 1936 war vor diesem Hintergrund sowohl der Planübererfüllung in einzelnen Bereichen des Bauvorhabens geschuldet (wohingegen das Bauvorhaben als Ganzes das Planziel deutlich verfehlte 125 ) als auch einer „künstlichen Er121 Kokurin /Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 65. Die Instruktion zu den Haftbedingungen und dem Haftregime, die von März 1947 an in sämtlichen Lagern und Kolonien Gültigkeit besaß, nennt einen Anteil von 15%. An selber Stelle wird der maximale Geldbetrag, über den Häftlinge auf einmal verfügen können sollten, mit nur 100 Rb. beziffert (Geheimer Order des MWD Nr. 0190 vom 29. März 1947). 122 GARF. R-9414.1.3050: 18us. Zum Vergleich: Im Jahre 1934 bewegten sich sowohl das durchschnittliche als auch das mittlere Monatsgehalt (der Median) sowjetischer Industriearbeiter im Bereich zwischen 140 und 200 Rb. (Abram Bergson: The Structure of Soviet Wages: A Study in Socialist Economics, Cambridge: Harvard University Press, 1946: S. 228). 123 GARF. R-9414.1.324: 68. 124 GARF. R-9414.ld.968: 24 f. Wie im folgenden ersichtlich wird, wurde eine solche Methode der Bestimmung der Höhe der Prämien in den 1940er Jahren nicht mehr angewandt. 125 Ertz, Building Norilsk, S. 146.
173
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
h ö h u n g der P r ä m i e n z u m Z w e c k e der F o r c i e r u n g v o n A r b e i t e n äußerster D r i n g l i c h k e i t " . D a n e b e n w u r d e n f r e i l i c h a u c h F ä l l e der „ Ü b e r t r e i b u n g des U m f a n g s der e r l e d i g t e n A r b e i t e n " v e r z e i c h n e t 1 2 6 - e i n P h ä n o m e n , das i n der gesamten s o w j e t i s c h e n I n d u s t r i e unter der B e z e i c h n u n g pripiski
(Sg.: ~a) b e k a n n t w a r u n d f ü r das
i m L a g e r j a r g o n e i n eigener B e g r i f f geprägt w u r d e :
2,10 2.32
, ™ 1,60
1,98 \ • 1,28
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tufta}
21
2,15
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A 1,60/
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\\
1
-37
1,74 J·
1,33
0,70
1936
1937
1938
1942
1943
—•— Planvorgabe
1944
1945
1946
1947
1948*
1949
—•— Tatsächliche Zahlungen
Quellen: GARF. R-9414.ld.854: 57, 80; R-9414.ld.968: 24-26; R-9414.ld.969: 10; R-9414.ld.1118: 24; R-8361.1.40: 42us.; R-8361.1.56: 40; R-8361.1.71: 56; R-8361.1.95: 101; R-8361.1.101: 156; R-8361.1.125: 152us.; R-8361.1.155: 140; R-8361.1.174: 98. * In der Bilanz von 1948 ist erkennbar, daß als Planziffer für dieses Jahr zunächst 2,15 Rb. eingetragen war, was nachträglich zunächst zu 2,10 Rb. und schließlich zu 1,70 Rb. korrigiert wurde. ** Zahlen für den Zeitraum 1939- 1941 sind vorläufig nicht verfügbar. Abb. 12: Mittlere geplante und tatsächliche Prämienzahlungen an die i m Norilsker Kombinat beschäftigten Häftlinge, 1 9 3 6 - 1949 (Rubel j e arbeitendem Häftling und abgeleistetem Arbeitstag)
K a n n der erste angeführte G r u n d f ü r erhöhte P r ä m i e n z a h l u n g e n n o c h als I n d i z dafür gelten, daß d i e F ü h r u n g des N o r i l s k e r B a u v o r h a b e n s diese b e w u ß t u n d z i e l o r i e n t i e r t als A r b e i t s a n r e i z e einsetzte, hatte sich das B i l d bereits i m f o l g e n d e n Jahr u m g e k e h r t , da d i e Ü b e r s c h r e i t u n g der g e p l a n t e n P r ä m i e n s u m m e n u n m e h r als Prob l e m w a h r g e n o m m e n w u r d e . U m i h m z u begegnen, erarbeitete d i e L e i t u n g des B a u v o r h a b e n s z u m e i n e n eine neue, n i e d r i g e r e T a r i f s k a l a u n d f ü h r t e z u m anderen das sogenannte „ P r ä m i e n b r o t ' 4 ein. D a h i n t e r v e r b a r g s i c h d i e U m w a n d l u n g
von
126 GARF. R-9414.ld.854: 12. 127 Z u einem dokumentierten Fall von pripiski auf der Leitungsebene des Kombinates vgl. Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Ekonomika Gulaga, S. 430 f. Zur tufta unter arbeitenden Häftlingen vgl. i m allgemeinen Rossi , Spravocnik po Gulagu, S. 414 ff.; Applebaum, Gulag, S. 350 ff. Für das Norilsker Lager finden sich Hinweise auf die Praktizierung von tufta auch in einigen Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter (Applebaum, Gulag, S. 358; Klimovic, Konec Gorlaga, S. 42 f.; Snegov, Jazyk, kotoryj nenavidit, S. 45 ff.; Suprunenko, Ne iskazaja istoriju, S. 7).
174
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
400 Gramm der täglichen Brotration je Häftling in eine leistungsabhängige Prämie, die fortan anstelle eines Teils der monetären Prämie ausgegeben wurde. 128 Wie Abb. 12 illustriert, konnten die Prämienzahlungen auf diese Weise rasch abgesenkt werden. 129 Es stünde zu erwarten, daß sich eine derartige, faktisch ersatzlose Kürzung der monetären Anreize ungünstig auf die Arbeitsmotivation der Gefangenen auswirkte - vorausgesetzt, dieses Anreizsystem hatte vor 1938 effektiv gearbeitet. Auch hier sind jedoch gewisse Zweifel angebracht, räumt doch der Jahresbericht des Kombinates für 1937 ein, daß es beim Umgang mit den Guthabenkonten der Häftlinge, die in jenem Jahr noch in den einzelnen Lagerunterabteilungen geführt wurden, zu zahlreichen Mißbräuchen gekommen sei - „sowohl von Seiten der Arbeiter als auch von Seiten der Buchhalter." 130 Die zweite Auffälligkeit der in Abb. 12 präsentierten Daten besteht darin, daß die tatsächlichen Prämienzahlungen während der 1940er Jahre nahezu durchgehend unterhalb der Planzahlen lagen. Zudem wurde letztere im Jahre 1948 offenbar nachträglich nach unten korrigiert und damit dem faktischen, niedrigeren Niveau angepaßt. Bemerkenswert ist diese Beobachtung deswegen, weil das Norilsker Kombinat im selben Zeitraum die Produktionspläne regelmäßig übererfüllte, was prinzipiell Prämienzahlungen erwarten ließe, die sich ebenfalls über den geplanten Beträgen bewegten. Eine mögliche Erklärung mag darin liegen, daß Gefangene, die ihre Norm nicht erfüllten, keine prozentual verminderte, sondern gar keine Prämie erhielten, was die gesamte Prämiensumme überproportional verringerte. Andererseits ist zu bedenken, daß Prämienzahlungen aus Sicht der Führung des Kombinates einen Kostenpunkt darstellten, der sich in der gesamten Kostenstruktur des Unternehmens niederschlug. Um zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß dies der Fall war, ist in Abb. 13 für jedes Jahr die Differenz zwischen den geplanten und den faktischen Ausgaben für einen Häftlingsarbeitstag abgetragen sowohl ohne (A) als auch mit (B) Berücksichtigung der Differenz zwischen den geplanten und den tatsächlichen Prämienzahlungen. Diese Darstellung veranschaulicht, daß die durch verringerte Prämienzahlungen erzielten finanziellen Einsparungen insbesondere im Zeitraum 1944-1947 eine erhebliche Kostenentlastung für das Kombinat bedeuteten. Gerade in der Periode bis zur Preisreform vom 15. September 1946, in der sich die tatsächlichen Kosten für einen Arbeitstag auf Werte zwischen acht und zehn Rubeln beliefen (in den Jahren unmittelbar danach betrugen sie zwischen 14 bis 16 Rb.), war die erzielte zusätzliche Ersparnis beträchtlich. 131 Berücksichtigt man schließlich, daß solche Einsparungen nicht nur die finanziellen Spielräume des Kombinates erweiterten, son128
GARF. R-9414.ld.968: 25. Eine ähnliche Praxis sahen in gewissem Umfang auch die 1939 für das gesamte Lagersystem erlassenen Normen für die Nahrungsrationen der Häftlinge vor (Kokurin/ Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 478). 129 GARF. R-9414.ld.969: 10. 130 GARF. R-9414.ld.968: 9. 131 Vgl. Anhang H. II, Abb. V.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
175
dem auch in den Jahresbilanzen regelmäßig als besondere Erfolge hervorgehoben wurden, drängt sich der Eindruck auf, daß die Kombinatsleitung in den Prämienzahlungen an Häftlinge in diesem Zeitraum eher ein verhältnismäßig einfach zu erschließendes Kostensenkungspotential denn ein wirkungsvolles Instrument zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität sah.
5,00
_
4,00 3,00
2,00 1,00
h
IP
0,00 -1,00 1936
1938
1942
η H
ι 1943
• A: Saldo exkl. Prämienzahlungen
1944
Ί |j.i_f0 1945
1946
1947
1948
1949
• B: Saldo inkl. Prämienzahlungen
Quellen: Eigene Berechnungen auf Grundlage von: G A R E R-9414.ld.854: 80; R-9414.ld.1118: 24; R-8361.1.40: 42us.; R-8361.1.56: 40; R-8361.1.71: 56; R-8361.1.95: 101; R-8361.1.101: 36, 156us.; R-8361.1.125: 152; R-8361.1.155: 140us.; R-8361.1.174: 98us. * Daten für die Jahre 1937 sowie 1939 bis 1941 sind nicht verfügbar.
Abb. 13: Differenz (Saldo) zwischen geplanten und faktischen Ausgaben für einen Häftlingsarbeitstag - ohne (A) und mit (B) Berücksichtigung der Differenz zwischen geplanten und tatsächlichen Prämienzahlungen, 1936-1949 (Rb. je Person und Arbeitstag) Bezeichnenderweise sind in den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge nur vereinzelte Vermerke zu monetären Prämien anzutreffen. A n einer Stelle wird deren Höhe als „verschwindend gering" eingestuft. 1 3 2 Evfrosinija Kersnovskaja gibt an, 1947/48 monatlich etwa 35 Rb. erhalten zu haben, was sich mit den ermittelten und in Abb. 12 dargestellten Werten deckt. Für diesen Betrag konnte sie nach eigenen Angaben entweder eine Ration Brot (700 g) oder ein Stück Seife kaufen. 1 3 3 Der ehemalige Häftling Mitrofan Rubeko erinnert sich folgendermaßen: „Offiziell erhielten die Verurteilten für [ihre] Arbeit Gehalt nach Listen, das sie [aber] i m übrigen nicht erreichte und sich [statt dessen] in den Taschen der Lageradministration ansammelte. Erst 1945 begann man, erbärmliche Summen auszuzahlen." 1 3 4 132 Für beiläufige Erwähnungen s. Ravdel', Kaplja okeana, AMCM. 2.1.100: 115; Zitat aus: Torbin, Erinnerungen, AMCM. 2.2.91: 126. 133 Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 98. 134
Assanov, Zizn' i sud'ba Mitrofana Petrovica Rubeko (1998), S. 11 f.
176
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
Roberts Gabris schließlich erwähnt ein „Gehalt," das es ihm im Zeitraum nach 1945 erlaubt hätte, einmal im Monat ein wenig zusätzliches Brot zu erwerben wäre ihm nicht der Wert seiner von Mitgefangenen gestohlenen Bettwäsche auf dieses ,Einkommen4 angerechnet worden. 135 Somit vermitteln die vorliegenden Quellen übereinstimmend das Bild, daß monetären Anreizen im Norilsker Lager bis in die späten 1940er Jahre hinein keine nennenswerte Rolle hinsichtlich der Arbeitsmotivierung der Häftlinge beigemessen wurde. Ähnliches galt offenbar für andere Lager: Eine Aktennotiz, die im Juli 1948 vom GULAG im Namen des stellvertretenden Innenministers, Cernysov, angefertigt wurde, führt zwar aus: „In den Produktions- und Finanzplänen der Lager und Kolonien sind für die Auszahlung von Prämien an die die Produktionspläne erfüllenden und übererfüllenden [Häftlinge] gewisse Summen von im Mittel bis zu 1,5-2 Rb. pro Tag und Person vorgesehen", fährt jedoch vielsagend fort: „Diese Beträge werden den Gefangenen ausgezahlt oder auf ihr Konto überwiesen, sofern die Kolonie oder das Lager selbst über ausreichende Einnahmen verfügen." 136
5. Einführung von Arbeitslöhnen Erst gegen Ende der 1940er Jahre bahnte sich in der Frage des Einsatzes monetärer Anreize zur Steigerung der Arbeitsproduktivität der Häftlinge ein grundlegender Wandel an. Ähnlich wie bei der nahezu zeitgleich beschlossenen Wiedereinführung von Arbeitstaggutschriften ging auch diesem Strategiewechsel ein umfangreicher Austausch von Meinungen, Forderungen und Vorschlägen innerhalb der Führungskreise von GULAG und M WD voraus 137 , und erneut kam den Lagern des Dal'stroj eine gewisse Pilotfunktion zu. Gemäß einem Ende 1948 verabschiedeten gemeinsamen Dekret des CK und des Ministerrates wurden dort (sowie, „zu Versuchszwecken", in vier weiteren Lagerabteilungen von verschiedenen Branchen zugehörigen Lagern) Lohnzahlungen an alle arbeitenden Häftlinge aufgenommen. 138 Bereits ein halbes Jahr später betrachtete man dieses Experiment im MWD als gelungen. In einem der bereits erwähnten Berichte des Innenministers Kruglov an Stalin, Berija und Malenkov heißt es: „Die Ergebnisse des neuen Systems im ersten Halbjahr 1949 zeigen die große Zweckdienlichkeit dieser Maßnahme. Sowohl im Dal'stroj als auch in den anderen Lagerunterabteilungen ist die Arbeitsproduktivität der Häftlinge deutlich gestiegen, haben sich Arbeitsund Lagerdisziplin gefestigt, ist die Anzahl von Verstößen gegen das Lagerregime zurück135 Gabris, Norilsk - Baltic Katyn, S. 154 f. Zudem wurde Gabris, wie auch viele seiner Mitgefangenen, zur Zeichnung sowjetischer Staatsanleihen genötigt, wofür er einen Betrag aufwenden mußte, der der Höhe seiner Prämien für mehr als einen Monat entsprach. 136 GARF.R-9414.1.368: 401. 137 Borodkin/Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 425 ff. 138 Streng Geheimes Dekret des CK und des SM Nr. 4293-1703ss vom 20. November 1948, veröffentlicht in Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Ékonomika Gulaga, S. 299 ff.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
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gegangen und haben sich sowohl der Zustand der Lagerabteilungen als auch deren wirtschaftlich-finanzielle Lage insgesamt gebessert." 139
Es dauerte wenig mehr als ein weiteres halbes Jahr, bis beschlossen wurde, Arbeitslöhne in sämtlichen Lagern und Kolonien des MWD einzuführen. 140 Die technischen Einzelheiten regelte ein Order des MWD, der wenige Wochen nach der Grundsatzentscheidung des Politbüros erging. 141 Er legte fest, daß alle arbeitenden und die Arbeitsnormen erfüllenden Häftlinge in den Lagern Lohnzahlungen erhalten sollten, ganz gleich, ob sie außerhalb oder innerhalb des Lagers beschäftigt waren. Folglich waren Gefangene der oben erläuterten Gruppen „ A " und „B" gleichermaßen betroffen. Die Höhe der Arbeitslöhne für Häftlinge sollte anhand der Tariflisten und Skalen errechnet werden, die für freie Arbeitskräfte in identischen Positionen gegolten hätten - einschließlich aller zugehörigen Sonderregelungen und Prämiensysteme. Wurden in bestimmten Unternehmensbereichen freie Arbeiter nach progressiven Lohnsystemen oder im Akkord entlohnt, sollte gleiches auch für die dort beschäftigten Häftlinge gelten. Gab es in einem Unternehmen keine freien Beschäftigten, sollten statt dessen die Lohnskalen freier Arbeiter aus anderen, vergleichbaren sowjetischen Betrieben herangezogen werden. Zur Berechnung des Bruttolohns jedes einzelnen Häftlings waren diese Werte um einen gewissen, im Dokument nicht genau spezifizierten Faktor zu vermindern - allein für administratives Personal, Ingenieure und Techniker wurde eine Spanne von 30-50 % vorgegeben. Den resultierenden Betrag bekamen die Gefangenen jedoch noch nicht ausgezahlt: Zunächst wurden die im jeweiligen Lager anfallenden mittleren Kosten für Mindestnahrungsration, Kleidung und Schuhwerk pro Häftling abgezogen, danach zusätzlich noch die Lohnsteuer. Immerhin war festgelegt, daß der Restbetrag, den die Häftlinge erhalten sollten, 10 % ihres Bruttolohns nicht unterschreiten durfte. Geschah dies dennoch, sollte als Bemessungsgrundlage anstelle des reduzierten der volle Lohnsatz, der für freie Arbeiter gegolten hätte, gewählt werden. Gefangene, die aus Krankheits- oder sonstigen Gründen dauerhaft oder temporär nicht arbeiteten, sollten keine Zahlungen erhalten, im Gegenzug wurden ihnen allerdings auch keine Unterhaltskosten in Rechnung gestellt. Häftlinge, die aus nicht von ihnen zu verantwortenden Gründen die Normen nicht erfüllten, sollten 10 % des Bruttolohns erhalten. 142 Die Koppelung der Lohnstruktur in den Lagern und Kolonien an Lohn- und Gehaltsschemata der zivilen Wirtschaft bedeutete zugleich die Übernahme der dort 139 GARF. R-9414.1.326: 23. 140 Streng Geheimes Dekret des CK und des SM Nr. 1065-376ss vom 13. März 1950, veröffentlicht in Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Èkonomika Gulaga, S. 304 ff. Die Speziallager blieben von diesem Schritt allerdings vorerst ausgenommen: Dort wurde das Lohnsystem erst knapp zwei Jahre später eingeführt (Streng Geheimer Order des MWD Nr. 0076 vom 29. Januar 1952; GARF. R-9414.1.510: 39). 141 Streng Geheimer Order des MWD Nr. 00273 vom 29. April 1950. 142 Ebd. 12 Ertz
178
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
gültigen Prinzipien der Lohndifferenzierung. Wie der Order des MWD ausführt, war dieser Effekt durchaus beabsichtigt. Auch im Wirtschaftssystem des MWD sollten in denjenigen Industrien und Branchen, die als prioritär eingestuft waren - etwa der Kohle- und Goldförderung sowie der metallurgischen Industrie - höhere Löhne gezahlt werden als in weniger bedeutenden Branchen wie der Leicht- oder der holzverarbeitenden Industrie. Daneben sollten Beschäftigte, die unmittelbar im Produktionsprozeß tätig waren, höhere Einkommen beziehen als solche, die in Zulieferbetrieben arbeiteten, und qualifizierte Häftlinge sollten besser bezahlt werden als unqualifizierte. Um den Zwangsarbeitern angemessene Verwendungsmöglichkeiten für das verdiente Geld zu bieten, sah das Dekret von CK und Ministerrat schließlich vor, zeitgleich mit der Einführung von Arbeitslöhnen den Verkauf zusätzlicher Lebensmittel und industrieller Erzeugnisse über das Handels- und Versorgungsnetz der Lager und Kolonien zu organisieren, wozu dem Handelsministerium auferlegt wurde, die benötigten Waren aus für den Verbrauchermarkt vorgesehenen Beständen bereitzustellen. 143 Um die Einführung des Lohnsystems zu erleichtern, gewährte der MWD seinen Lagern und Unternehmen mehrmonatige Fristen - den Lagern der GULGMP einschließlich des Norilsker Lagers bis zum 1. Juli 1950. Allerdings stellte die Umstellung die Lagerverwaltungen nicht nur vor administrative, sondern auch vor budgetäre Probleme. Gemäß dem Order des MWD sollten die Lager die Lohnzahlungen an Häftlinge aus den allgemeinen finanziellen Mitteln bestreiten, die ihnen für das Jahr 1950 bereitstanden. Das bedeutete jedoch nichts anderes, als daß ihnen für die zusätzlichen Aufwendungen, die die Auszahlung von Löhnen erforderte, im laufenden Jahr keine zusätzlichen Gelder zur Verfügung gestellt wurden. Wie der Jahresbilanz der GULGMP für 1950, die die Ergebnisse der wirtschaftlichen Tätigkeit sämtlicher dieser Hauptverwaltung unterstellten Unternehmen und Lager zusammenfaßte, zu entnehmen ist, kam es infolgedessen während der Übergangsperiode zu ,,unausweichliche[n] Schwierigkeiten in der Arbeit der Lager." 144 Bezeichnenderweise ist an gleicher Stelle nachzulesen, daß viele Lagerverwaltungen zur Überwindung des finanziellen Engpasses die Nahrungsmittelversorgung der Häftlinge und ihre Ausstattung mit Kleidung und Ausrüstung gegenüber der Planvorgabe reduzierten, um die zusätzlichen Ausgaben zumindest teilweise zu kompensieren. 145 Somit hatte die unvollkommene Planung der zentralen Behörden zur Folge, daß Lagerverwaltungen in der zweiten Jahreshälfte 1950 die Ausgaben für Häftlinge an einer Stelle kürzten, um die vorgeschriebene Erhöhung an anderer Stelle zu finanzieren. Detaillierte Auskünfte über die konkreten Umstände und Auswirkungen der Einführung von Lohnzahlungen im Norilsker Lager liefert ein Bericht mit Datum vom 20. Februar 1951, den der Direktor des Kombinates und Lagers, Zverev, der 143 Streng Geheimes Dekret des CK und des SM Nr. 1065-376ss vom 13. März 1950. •44 GARF.R-9401.4.2693: 177. 145 Ebd., 178.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
179
GULGMP zukommen ließ. Demnach startete die Lagerleitung nach ausgiebigen internen Besprechungen mit dem Führungspersonal eine breitangelegte, lagerweite Informationskampagne. Mehr als 350 Mitarbeiter der Lagerverwaltung hielten den Häftlingen Vorträge über die Vorzüge des Lohnsystems und trafen sich mit den Brigadieren und den Verantwortlichen für Kulturarbeit unter ihnen zu regelmäßigen Unterredungen. Auch Wandzeitungen und das von der Kultur- und Erziehungsabteilung herausgegebene Bulletin „Für die Stoßarbeit" wurden ausgiebig zur Agitation genutzt. 146 Die Auszahlung von Gehältern begann für etwa die Hälfte der Häftlinge zum 1. Juni, für alle übrigen zum 1. Juli des Jahres. Nach Zverevs Angaben korrelierte die Umstellung in mehrfacher Hinsicht mit einer Intensivierung der Arbeitsausnutzung der Gefangenen. Der prozentuale Anteil der außerhalb des Lagers tätigen Häftlinge der Gruppe „ A " erhöhte sich von 81,9 % im ersten Halbjahr auf 83,0 % im zweiten, während sich die Gruppe der aus Krankheitsgründen nicht arbeitenden Häftlinge von 6,9% auf 5,0% verminderte. 147 Am ausgeprägtesten war der Rückgang, wie aus Tab. 10 zu ersehen ist, unter den in „Genesungspunkten" oder ,,-kommandos" befindlichen Zwangsarbeitern, deren Gesundheitszustand im allgemeinen als weniger kritisch gelten konnte als jener der in akuter medizinischer Behandlung befindlichen Häftlinge. Hierzu vermerkt der Bericht Zverevs: „Die Ambulanzen suchten nur noch tatsächlich (behandlungsbedürftige) Kranke auf, während sich die Gruppe derjenigen, die um ,medizinische Behandlung ohne Notwendigkeit' nachsuchten [ . . . ] und anderer permanenter Besucher der Ambulanzen im Zusammenhang mit der Einführung von Arbeitstaggutschriften und Lohnzahlungen bedeutend verringerte." 148 Selbst Kranke in stationärer Behandlung, insbesondere frisch operierte, so heißt es, „verlangen nach vorzeitiger Entlassung und Rückkehr zu ihren Brigaden," und „Anträge von Invaliden auf Reaktivierung, insbesondere von solchen, die über eine Qualifikation verfügen, sind keine Seltenheit". 149 Aus Sicht der Norilsker Lagerverwaltung bestand ein direkter Kausalnexus zwischen solchen Beobachtungen einerseits und der Aufnahme von Lohnzahlungen sowie der etwa zeitgleich erfolgten Wiedereinführung von Arbeitstaggutschriften andererseits. Daß das verdiente Geld es den Gefangenen erlaubte, ihre Ernährung wesentlich aufzubessern, war demnach nicht nur ein Anreiz an sich. Es kam auch dem deutlich gesteigerten Interesse vieler entgegen, als zum Arbeitseinsatz uneingeschränkt tauglich eingestuft zu werden, um „zu den schwersten körperlichen Arbeiten mit hohen Arbeitstaggutschriften herangezogen zu werden." Zum Beleg 146 GARF. R-8361.1.273: 150. 147 Ebd., 151. Erneut ergeben sich hier geringfügige Abweichungen von den in Tab. 5 im Unterkapitel C. IV verwendeten Daten, die für das Gesamtjahr 1950 die Quote der Gruppe „ A " mit 81,2% angeben. Offensichtlich beruhten die von Zverev genannten Daten auf einer anderen Berechnungsmethode. 148 GARF. R-8361.1.273: 153. 149 Ebd., 153 f. 13*
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
180
verwies Zverev darauf, daß „sowohl das konstitutionelle P r o f i l 1 5 0 der [Gesamtheit der] Häftlinge als auch die Gruppe , C \ ungeachtet der Tatsache, daß der Winter in der Arktis die härteste Periode darstellt, auf sommerlichem Niveau verharrte, was es bis dahin noch nie gegeben h a t . " 1 5 1 Neben derartigen Effekten, zu denen ein signifikanter Rückgang der Anzahl von Verstößen gegen das Lagerregime hinzuk a m 1 5 2 , dürfte jedoch vor allem ein Indikator sowohl die Führung des Norilsker Kombinates und Lagers als auch die G U L G M P interessiert haben: die mittlere Arbeitsproduktivität der Häftlinge. Sie stieg nach Angaben von Zverev i m zweiten Halbjahr 1950 auf 116,4% der Planvorgabe - nachdem sie in den vorangegangenen sechs Monaten bei durchschnittlich 105,6 % gelegen hatte. 1 5 3 Tabelle 10 Entwicklung des Anteils der aus Krankheitsgründen nicht arbeitenden Häftlinge (Gruppe „C") an der Gesamtzahl aller Häftlinge im Norilsker Lager im Jahre 1950 (Prozentwerte) Darunter Quartal
Planvorgabe
Faktisch
I
8,4
II
8,4
In Genesungspunkten
Ambulant
Stationär
6,9
2,2
2,2
2,4
6,9
2,2
2,1
2,3
III
8,4
5,0
2,0
1,9
1.8
IV
8,4
5,0
2,1
1,9
1,7
Quelle: GARF. R-8361.1.273: 153.
Der zitierte Report von Februar 1951 basiert zwar ausschließlich auf Beobachtungen, die während der ersten Monate nach Einführung von Arbeitslöhnen für 150 Gemeint ist die Einstufung ihres Gesundheitszustandes nach Kategorien (s. Unterkapitel C. II). 151 GARF. R-8361.1.273: 153. Auch diese Beobachtung wird mit einer Statistik belegt: Die Anteile der Häftlinge, die ihrer gesundheitlichen Konstitution nach der I. Kategorie zugerechnet wurden (vgl. Unterkapitel C. II), betrug in den vier Quartalen des Jahres: 80,3 %, 81,0%, 82,1 % und 82,1 %. Der Anteil der „Invaliden" belief sich jeweils auf 2,3 %; 2,5 %; 1,8% und 2,0%. 152 Ebd., 155. Gegenübergestellt werden die Jahre 1950 und 1949. In dieser Hinsicht ist das Bild allerdings etwas widersprüchlich: Während die Gesamtzahl solcher Vorfälle im Jahre 1950 den Zahlen zufolge um mehr als ein Drittel zurückging, stieg die berichtete Zahl der Fälle von Mord und Totschlag drastisch an (von 17 auf 73). Auch Trunkenheit unter den Häftlingen wurde in 1950 deutlich öfter verzeichnet (1.961 gegenüber 1.086 Fällen), während sich die Zahl von Diebstählen von 2.301 auf 1.320 Fälle ermäßigte. Bei Beurteilung dieser Zahlen ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Häftlingszahl im Norilsker Lager im zweiten Halbjahr 1950 um annähernd ein Drittel anstieg und daß sich im selben Zeitraum der Anteil ,echter' Krimineller unter den Insassen des Lagers deutlich erhöhte (s. o. S. 116). '53 GARF. R-8361.1.273: 151.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
181
Häftlinge angestellt wurden. Dokumente aus späteren Perioden enthalten jedoch ähnliche Aussagen, so etwa eine der Revisionsakten des Norilsker Lagers aus dem Jahre 1952: „Der Übergang zur Bezahlung der Häftlingsarbeit stellte für die überwiegende Masse der Gefangenen einen großen Anreiz zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität dar". 1 5 4 Im Juni desselben Jahres teilte der stellvertretende Direktor des Norilsker Lagers und des Speziallagers Nr. 2, Cernjak, der GULGMP mit, daß bestimmte Gruppen von Gefangenen, insbesondere solche mit beruflichen Qualifikationen, seit der Einführung von Lohnzahlungen wesentlich effektiver arbeiteten. 155 Für das Lagersystem als Ganzes vermitteln detaillierte Berichte des GULAG und des MWD ein weitgehend übereinstimmendes Bild. Zwar deuten einige interne Dokumente darauf hin, daß es in einzelnen Lagern zu Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten bei der Auszahlung von Arbeitslöhnen an die Gefangenen kam. 1 5 6 Nichtsdestoweniger überwiegen Berichte über spürbare Produktivitätssteigerungen, die mit der Aufnahme von Lohnzahlungen einsetzten. Zudem finden sich, wie auch bereits im Zusammenhang der erneuten Einführung von Arbeitstaggutschriften gegen Ende der 1940er Jahre, wiederholt Verweise auf das gestiegene Interesse von Häftlingen an einer ihrer Qualifikation entsprechenden Verwendung. 157 Im Herbst 1954 urteilte der Innenminister der UdSSR, Kruglov, in einem Vortrag vor Führungspersonal von „Besserungsarbeitslagern" und ,,-kolonien" des MWD rückblickend, die Aufnahme von Lohnzahlungen habe sich „wesentlich auf das Wachstum der Arbeitsproduktivität der Gefangenen, die Erhöhung ihrer Arbeitsdisziplin und auf den Rückgang von Verstößen gegen das Lagerregime" ausgewirkt. 158 Es stellt sich nun die Frage, von welcher Höhe die Löhne waren, die die Insassen des Norilsker Lagers erhielten. Laut einer speziellen Akte zum Lager, die im Frühjahr 1953 anläßlich der Übergabe des GULAG aus dem Verantwortungsbereich des MWD in jenen des Justizministeriums angelegt wurde, betrug der durchschnittliche Bruttolohn eines arbeitenden Häftlings im Jahre 1952 monatlich 504 Rubel; im ersten Quartal des Folgejahres belief er sich auf 414 Rb. 1 5 9 Demgegen154 GARF. R-9414.1.642: 80. 1 55 GARF. R-8361.1.305: 10. Aus dem Kontext geht nicht eindeutig hervor, ob sich diese Äußerung auf die Häftlinge des Speziallagers Nr. 2 (in dem Lohnzahlungen erst wenige Monate zuvor aufgenommen worden waren), auf die Häftlinge des Norilsker Lagers oder auf die Insassen beider Lagerkomplexe bezieht. 156 GARF. R-9414.1.507: 229. 157 GARF. R-9414.1.103: 359; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Èkonomika Gulaga, S. 306 ff. Für Zitate aus weiteren, ähnlichlautenden Dokumenten s. Borodkin/Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 431. 158 Kokurin /Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 669. 159 GARF. R-9414.1.174: 34us. Laut Zverevs Ausführungen hing der deutliche Rückgang dieses Wertes binnen so kurzer Frist mit einer signifikanten Veränderung der Zusammensetzung des Arbeitskräftebestandes zusammen: „Im Zeitraum 1951 - 1952 schieden aus dem
182
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
über verdienten qualifizierte Arbeiter in der ,freien' sowjetischen Industrie Anfang 1953 in der Kohleförderung im Mittel 1.465 Rb. und in der Buntmetallurgie 1.343 Rb. monatlich. 160 Zwar waren nicht alle Insassen des Norilsker Lagers in diesen beiden Branchen beschäftigt, die in der UdSSR generell zu den bestentlohnten zählten 161 , doch würde dieser Effekt zweifelsohne mehr als ausgeglichen, berücksichtigte man zudem, daß völlig freie Arbeiter in Norilsk nicht nur reguläre Löhne, sondern auch immense Polarzuschläge erhalten hätten. Daher war die tatsächliche Diskrepanz zwischen den Bruttolöhnen der Norilsker Häftlinge und dem Lohnniveau auf dem sowjetischen Arbeitsmarkt vermutlich noch größer, als diese Gegenüberstellung suggeriert. 162 Aus Sicht der Gefangenen war freilich weniger ihr Bruttolohn von Interesse als vielmehr jener Betrag, den sie nach allen Abzügen ausgezahlt bekamen. Hierzu finden sich in der Übergabeakte von 1953 und in einer Revisionsakte des Norilsker Lagers aus dem Jahre 1952 Aufstellungen für die Jahre 1951, 1952 und für Anfang 1953, die in Abb. 14 visualisiert sind. Auf den ersten Blick demonstrieren sie eine durchgängig beträchtliche Lohndifferenzierung, die an die Lohnstruktur in der sowjetischen Industrie der 1930er Jahre erinnert. 163 Konkret bedeutete dies etwa, daß in Norilsk im Jahre 1952 nahezu 5.000 Häftlinge mehr als 500 Rubel monatlich ausgezahlt bekamen, während 8.000 Arbeiter weniger als 75 Rb. erhielten. 164 Ähnliche Beobachtungen lassen sich für andere Lager anstellen, zu denen vergleichbare Tabellen existieren. 165 Vergleicht man zudem die Norilsker Datensätze für die Jahre 1951 und 1952, zeigt sich, daß die Anzahl der Häftlinge, die entweder das garantierte Minimum oder aber gar keinen Lohn erhielten, innerhalb eines Jahres um über 4.000 Personen zurückging, wobei sich allein die Gruppe der von Gehaltszahlungen ausgeschlossenen Gefangenen nahezu halbierte. Zugleich nahm die Zahl der Zwangsarbeiter, die mehr als 500 Rb. monatlich erhielten, um über 1.500 Personen zu. Norilsker Lager die qualifiziertesten unter den gefangenen Arbeitskräften aus, die [ . . . ] über Jahre hinweg hohe Qualifikationen erworben und hohe tarifliche Lohngruppen erreicht hatten, während im Gegenzug zu 80 % unqualifizierte Arbeitskräfte eintrafen, die einer langen Zeit bedürfen, um praktische Fähigkeiten zu erwerben und in hohe Lohngruppen aufzusteigen." (Ebd., 13; vgl. auch R-9401.4.2753: 61). 160 γ ρ Popov. Èkonomiceskaja politika sovetskogo gosudarstva. 1946-1953 gg., Tambov: Tambovskij gos. tech. universitet, 2000, S. 65. 161
In einer völlig anderen, als strategisch unbedeutend eingestuften Branche wie der Textil- und Schuhindustrie betrug das Durchschnittsgehalt im selben Zeitraum nur 651 Rubel und lag damit noch immer deutlich über dem Bruttolohn der Häftlinge des Norilsker Lagers (ebd.). •62 Vgl. Unterkapitel C. V. 163
Bergson , The Structure of Soviet Wages, S. 228. Für die gesamtwirtschaftliche Lohnstruktur in der UdSSR der frühen 1950er Jahre liegen nur lückenhafte Informationen vor. 164 Dabei wird unterstellt, daß auch sämtliche Gefangenen, die nur die garantierten 10% ihres Bruttolohnes erhielten, zur zweiten Gruppe zählten. '65 Borodkin/Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 433 f.
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• 1953 (I.Quartal)
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Garantiertes M i n i m u m i . H . \ . IO»» des Lohns Von Lohnzahlungen suspendiert
Quelle: GARF. R-9414.1.642: 80 f.; R-9414.1.174: 34us., 51us.
Abb. 14: Mittlere Anzahl arbeitender Häftlinge des Norilsker Lagers, gestaffelt nach der Höhe des ihnen in bar ausgezahlten mittleren monatlichen Lohns, f 1951 -1953 (absolute Zahlen)
Diese Beobachtungen bestätigen die Darstellung der Lageradministration, nach der nicht nur die Einführung von Lohnzahlungen an sich, sondern gerade auch deren Differenzierung nach unterschiedlichen Lohngruppen für viele Häftlinge einen effektiven Anreiz zur Leistung möglichst produktiver und gut entlohnter Arbeit darstellte. Der deutliche Rückgang des Anteils von Gefangenen in höheren Lohngruppen zum 1. Quartal 1953 kann dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit den erwähnten Veränderungen in der Qualifikationsstruktur der Zwangsarbeiter erklärt werden, zumal er nicht mit einem Anstieg, sondern mit einem weiteren Rückgang der Anzahl der von Lohnzahlungen suspendierten Häftlinge einherging. 166 Schließlich läßt sich anhand der Quelldaten zu Abb. 14 näherungsweise die Höhe des durchschnittlichen Lohns bestimmen, den ein arbeitender Gefangener in Norilsk tatsächlich ausgezahlt bekam. Für jene Gefangenen, die Lohnzahlungen erhielten, betrug sie in den Jahren 1951, 1952 sowie im ersten Quartal 1953 im Mittel jeweils 214, 235 und 206 Rubel. 167 Damit lagen die Arbeitslöhne der Gefan166 Vgl.S. 181, Fußnote 159. 167
Da das Datenmaterial keine exakte Berechnung, sondern lediglich eine Annäherung des Mittelwertes zuläßt, mögen die genannten Zahlen einen Fehler in der Größenordnung von 5, maximal 10 % aufweisen. Aus Sicht des Kombinates waren auch diejenigen Mittelwerte von Bedeutung, die sich bei Einbeziehung der von Lohnzahlungen suspendierten Häftlinge ergaben, da erst diese Zahlen die mittleren Lohnkosten je Arbeiter ausdrückten. Sie lagen in den genannten Perioden bei 198, 225 bzw. 198 Rubel pro Person und Monat.
184
D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
genen in Norilsk um einiges über den Beträgen, die im Mittel im gesamten Lagersystem gezahlt wurden: 1953 belief sich der mittlere Bruttoarbeitslohn für Gefangene in allen Lagern und Kolonien des MWD auf 324 Rubel, die mittlere tatsächlich ausgezahlte Summe betrug 129 Rb. 1 6 8 Dieser Befund ist nicht überraschend, sollte sich doch die Lohnstruktur in den Arbeitslagern an jener orientieren, die für die gesamte sowjetische Wirtschaft galt, in der die Nickelindustrie zu den Branchen allerhöchster Priorität zählte. Was die Auswirkungen betrifft, die die Einführung von Lohnzahlungen auf das Leben der Gefangenen im Norilsker Lager hatte, enthält der vom Lagerdirektor im Frühjahr 1951 vorgestellte Bericht ebenfalls aufschlußreiche Informationen, so etwa einen Vergleich der den Häftlingen im ersten und zweiten Halbjahr 1950 ausgezahlten Gelder. Aus Tab. 11 ist zu ersehen, daß sich deren Betrag um nahezu den Faktor neun erhöhte: Tabelle 11 Summe der Auszahlungen an Häftlinge des Norilsker Lagers vor und nach der Umstellung auf reguläre Lohnzahlungen (Rubel) 1. Halbjahr 1950 Überweisungen auf die persönlichen Konten der Häftlinge
2. Halbjahr 1950
450.000
22.954.000
Auszahlungen in bar
10.486.000
70.893.000
Σ
10.936.000
93.847.000
Quelle: GARF. R-8361.1.273: 152. * Die für das zweite Halbjahr angeführten Daten sind konsistent mit den genannten, vom Autor genäherten mittleren Beträgen, die einem Häftling in Norilsk in den Folgejahren monatlich ausgezahlt wurden.
Zugleich ist aus diesen Zahlen ersichtlich, daß die Gefangenen den Großteil der ihnen zustehenden Gelder in bar erhielten, so daß sie sie innerhalb des Lagers verausgaben konnten, etwa für den Erwerb von Nahrungsmitteln. Tatsächlich erwarben Häftlinge in der zweiten Jahreshälfte zusätzliche Verpflegungs- und Gebrauchsgüter im Gegenwert von 28,7 Mio. Rubel; allein die Umsätze der Lagergeschäfte vervierfachten sich in diesem Zeitraum auf 13,34 Mio. Rubel. 169 Da die vorliegenden Quellen es nicht erlauben, das innerhalb des Lagers verfügbare Warenangebot in qualitativer und preislicher Hinsicht zu bewerten, können aus 168 Kokurin/ Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 669. Vergleichszahlen zu Unterschieden der Brutto- und Nettolohnniveaus der Häftlinge in den Lagern unterschiedlicher Branchenhauptverwaltungen des MWD für die ersten drei Quartale des Jahres 1951 liefern ein ähnliches Bild: Die Lager der GULGMP, zu denen das Norilsker zählte, weisen deutlich höhere Zahlen auf als etwa jene Lager, deren Häftlinge in der Landwirtschaft, Leichtindustrie (3. Verwaltung des GULAG) oder der Holzverarbeitung (GULLP) eingesetzt wurden (GARF. R-9414.1.326: 180 ff.). 169 GARF. R-8361.1.273: 155.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
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diesen Zahlen freilich keine unmittelbaren Aussagen zum relativen Wert der Einkünfte der Häftlinge gewonnen werden. Neben dem Erwerb von Gütern stand es den Gefangenen jedoch offen, das empfangene Geld anzusparen oder einen Teil davon in Freiheit lebenden Verwandten zu überweisen. Die letztgenannte Option erlangte in Norilsk erst mit der Einführung von Lohnzahlungen eine gewisse Bedeutung: Der Betrag aller transferierten Gelder stieg von nur 13.000 Rb. in den ersten sechs Monaten des Jahres 1950 auf immerhin 949.000 Rb. in der zweiten Jahreshälfte an. 1 7 0 Aufschlußreich sind schließlich die Empfehlungen, mit denen Zverev seinen mehrfach zitierten Report Schloß. Der Direktor des Norilsker Kombinates und Lagers plädierte darin für die Gewährung zusätzlicher, kostenpflichtiger Kinovorführungen und Darbietungen der Kulturbrigade der Kultur- und Erziehungsabteilung des Lagers, für die Erhöhung der Obergrenze des Betrags, den Häftlinge auf einmal von ihren Konten abheben durften, auf 300 Rb. sowie für die Erhöhung des Angebots der Lagerläden an Nahrungs- und Genußmitteln („tierische Fette, Fleisch-, Fisch-, Obst- und Gemüsekonserven, Zucker, Konditor- und Tabakwaren4'), um die stark anwachsende Nachfrage der Häftlinge nach diesen Produkten in vollem Umfang zu befriedigen. Solche Forderungen unterstreichen nicht nur, daß zahlreiche Gefangene von ihrem verfügbaren Einkommen innerhalb des Lagers Gebrauch machten, sondern auch, daß die Lagerleitung die wirtschaftliche Bedeutung des Systems der Lohnzahlungen an Zwangsarbeiter erkannt hatte und seine Realisierung aktiv unterstützte. 171 Es verbleibt nunmehr, Informationen auszuwerten, die in Erinnerungen ehemaliger Häftlinge enthalten sind. Vier aussagekräftige Passagen konnten hierzu ausfindig gemacht werden. Pavel Ceburkin, in jener Zeit Arzt in der Zehnten Lagerabteilung, nennt zwar als Zeitpunkt der Einführung von Arbeitslöhnen irrtümlicherweise das Jahr 1947, bestätigt jedoch exakt das in den behördlichen Dokumenten beschriebene Prinzip ihrer Berechnung und Auszahlungspraxis: „für Gefangene wurden Arbeitslöhne eingeführt. Nach nördlichen Lohnsätzen172, doch um 30 % niedriger als für zivile Arbeitskräfte. Einbehalten wurden lediglich [die Kosten] für ,Tisch' und ,Wohnung', der Rest flöß auf das Konto. Ich konnte [ . . . ] bis zu 250 Rubel im Monat abheben [ . . . ] Ich erhielt 1.200 Rubel monatlich, nach den Abzügen blieb eine gewisse Summe übrig und sammelte sich auf dem Konto an. Einige Fahrer [ . . . ] verdienten bis zu 5 tausend im Monat!" 1 7 3 170 Ebd., 152. Für die Nachfrage nach Nahrungsmitteln unter den Häftlingen und die Summe der Überweisungen an Verwandte außerhalb des Lagers sind Anstiege ähnlichen Ausmaßes wie in Norilsk auch für das Vorkutinsker Lager dokumentiert (Borodkin/Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 430). πι GARF. R-8361.1.273: 156. 172
Auch diese Aussage trifft offenkundig nicht zu, wie sowohl der Vergleich der Arbeitslöhne der Norilsker Häftlinge mit der Lohnhöhe in anderen Lagern belegt als auch der Umstand, daß diese Zuschläge bis zum Jahre 1952 selbst ehemaligen Gefangenen nicht gewährt wurden. 173 Ceburkin, Erinnerungen, AMCM. 2.1.125: 21.
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D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
Ähnliches berichtet der damalige Häftling Boris Veselovskij, der kurze Zeit nach seinem Eintreffen in Norilsk Ende 1950 dem Zentralen Ausbesserungswerk des Kombinates zugeteilt wurde, wo er als Elektriker arbeitete: „Trotz der Abzüge für die Unterkunft i m Lager und die Ausrüstung befanden sich gegen Ende 1952 auf meinem Sparbuch [gemeint ist das persönliche Konto - S. E.] ungefähr 3000 Rubel/'174 Roberts Gabris erlebte die Einführung von Arbeitslöhnen als eine tiefgreifende positive Veränderung, die ihn i m nachhinein zur Betrachtung bewog, ab diesem Moment hätte man anstatt von der bloßen „Existenz" fast vom „Leben" der Häftlinge i m Lager sprechen können: „Nun wurden wir alle [ . . . ] gemäß der abgeleisteten Arbeit bezahlt, gerade so, wie freie Menschen - jedenfalls wurde uns das so dargestellt. Natürlich wurde von unserem Lohn zunächst ein Abzug einbehalten, für Essen, Kleidung, Unterkunft, Bewachungskosten, Stacheldraht und andere Arbeitslager-,Notwendigkeiten\ Von der verbleibenden Summe wurde ein geringfügiger Teil auf unserem persönlichen Konto deponiert, den wir erst nach Ablauf unserer Lagerhaft erhalten würden. Alles, was übrigblieb, wurde uns ausgehändigt. [ . . . ] Zunächst konnten wir nicht glauben, daß solche Dinge tatsächlich geschahen, aber als unser verständigster Mann, Ergelnieks, seiner Frau einen kleinen Betrag von seinem Konto überwies und eine Antwort zurückkam, daß sie ihn erhalten hatte, begannen wir, Vertrauen in unsere Löhne und Boni zu schöpfen." 175 Eine etwas andere Perspektive auf Merkmale des Lohnsystems und seine Bedeutung aus Sicht der Häftlinge eröffnet schließlich Evfrosinija Kersnovskaja i m Zusammenhang der Schilderung ihrer Freilassung: „Der August 1952 begann. Und schließlich kam der Tag, an dem, unter Berücksichtigung der Arbeitstaggutschriften, meine Haftzeit ablief [ . . . ] Am nächsten Tag befahl man mir, in die Buchhaltung zu kommen, um die mir zustehenden 242 Rubel zu erhalten. Die übrigen 2000 Rubel wurden in den sogenannten Befreiungsfonds überwiesen. Nicht alle Gefangenen verdienten soviel. Viele [verdienten] nur so wenig, daß sie dem Staat ihre Haftverpflegung schuldig blieben. Ist das [nicht] grotesk? Gewiß. Doch seit Einführung des Rentabilitätsprinzips bezahlten wir unsere minimale Verpflegung; einen Teil des von uns verdienten Geldes händigte man uns als Lohn aus, und für dieses Geld konnten wir uns irgend etwas hinzukaufen aus dem Verpflegungsangebot der Lagerkantine. Doch dieses Recht besaßen wir nur theoretisch, faktisch betraf es nur diejenigen, die nicht arbeiteten und den ganzen Tag Schlange stehen konnten. Der größere Teil unserer Einkünfte flöß jedoch in den Befreiungsfonds. Ihm wurde Geld entnommen für die Kranken [unter den Freigelassenen - S. E.] und für die Bezahlung der Reise für diejenigen, denen es erlaubt war, [aus Norilsk] fortzufahren. Geld erhielten auch die, die zum Krüppel geworden waren. Darüber hinaus konnten wohnungslose Personen ohne Verwandte einen Antrag an den Direktor stellen und 50 Prozent ihrer Gelder erhalten. Während der zwei Jahre, in denen das Rentabilitätsprinzip galt, waren von dem von mir verdienten Geld dem Befreiungsfonds mehr als 4.000 Rubel zugeführt worden, so daß ich mehr als 2.000 Rubel erhalten konnte. Überflüssig zu sagen, daß ich auf dieses Gefängnisgeld verzichtete. Ich bin kein 174
Veselovskij, Skrytaja biografija, S. 165. 175 Gabris, Norilsk - Baltic Katyn, S. 223.
II. Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität
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Krüppel und in der Lage, meinen Lebensunterhalt nach meiner Entlassung zu bestreiten! Von den 242 Rubeln, die man mir aushändigte, legte ich hundert für mich zurück, und für das restliche Geld kaufte ich in der Lagerkantine, nachdem ich einen halben Tag Schlange gestanden hatte, Piroggen für meine ganze Brigade." 176
Zwar bestätigen Kersnovskajas Aussagen weitgehend alle bisher genannten Information zum Zeitpunkt der Einführung, zur Methode und zum Umfang der Lohnzahlungen an Häftlinge in Norilsk. Allerdings werfen sie mit der Erwähnung des „Befreiungsfonds", der den Zugriff der Gefangenen auf das von ihnen verdiente Geld wesentlich eingeschränkt habe, neue Fragen auf. Hinweise zur Existenz eines derartigen Fonds tauchen tatsächlich auch in behördlichen Quellen auf. So hieß es bereits in einem wesentlich früheren Dokument, der „Ordnung der Besserungsarbeitslager" vom 7. April 1930, in Artikel 40: „Zur materiellen Unterstützung von Personen, die aus Lagern entlassen werden, wird ein spezieller Fonds gebildet. Dieser Fonds setzt sich zusammen: 1) aus teilweisen Abzügen der den Gefangenen zustehenden monetären Prämien, 2) Abzügen [sie] von dem Arbeitslohn der Häftlinge 177 und 3) aus sonstigen Zuflüssen." 178 Zudem kommt in einem im Juni 1952 und damit nahezu zeitgleich mit der Freilassung von Kersnovskaja vom damaligen Direktor des GULAG, Dolgich, an den Stellvertretenden Innenminister, Cernysov, verfaßten Brief zur Sprache, daß gemäß dem Geheimen Order des MWD Nr. 0591 vom 25. August 1951 10 % des Lohnes, der zur Auszahlung an die Häftlinge der „Besserungsarbeitslager" bestimmt war, einem „Befreiungsfonds" zugeführt werden sollten. 179 Diese Erwähnung fiel im Kontext der Erörterung des Umgangs mit einem solchen Fonds in den Speziallagern, in denen Lohnzahlungen erst wenige Monate zuvor aufgenommen worden waren. Daß Dolgich in dieser Frage die Meinung vertrat, Häftlinge der Speziallager sollten nur während der letzten fünf Jahre ihrer Haftzeit in den Fonds einzahlen müssen, legt allerdings nahe, daß dieser tatsächlich nur sicherstellen sollte, daß sämtliche Gefangenen zum Zeitpunkt ihrer Entlassung über eine gewisse Summe Geldes verfügten. Zwar können in Ermangelung weiterer Quellen die verbleibenden Unstimmigkeiten zwischen diesen Informationen und den Aussagen der übrigen Häftlinge einerseits und Kersnovskajas Darstellung andererseits nicht vollständig ausgeräumt werden. Nichtsdestoweniger bestätigen alle vorliegenden Zeugnisse ehemaliger Gefangener des Norilsker Lagers sowohl die tatsächliche Anwendung der seit 176 Kersnovskaja, 177
Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 271 f.
Wurde in diesem Zeitraum der Begriff „Arbeitslohn" benutzt, ist davon auszugehen, daß es sich um das Arbeitsentgelt handelte, welches die Lager von den die Häftlinge beschäftigenden Betrieben ausgezahlt bekamen. Unterstanden sowohl Lager als auch Arbeitgeber' der Gefangenen einer einheitlichen Verwaltung (wie etwa in Norilsk), war dieser Vorgang hauptsächlich bilanztechnischer Natur. In jedem Falle aber bekamen die Häftlinge selbst diese Zahlungen bis zur beschriebenen Einführung von Löhnen im Jahre 1950 nicht zu Gesicht. 178 Kokurin/ Petrov, GULAG: 1918-1960, S. 70. Vgl. auch oben, S. 171 f. 179 GARF. R-9414.1.510: 30.
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D. Regulierung von Zwangsarbeit in Norilsk
1950 gültigen Regelungen für Lohnzahlungen an Häftlinge als auch die aus behördlichen Statistiken hervortretende erhebliche Lohndifferenzierung. Zudem wurde deutlich, daß die Einführung von Lohnzahlungen für eine große Zahl der arbeitenden Häftlinge einen zusätzlichen Nutzen bedeutete, der, war er nun substantiell oder bescheiden, sie zu einer Steigerung ihrer Produktivität veranlaßte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß im stalinistischen Lagersystem zur Erzielung einer hohen Arbeitsproduktivität über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg Zwangs- und Anreizsysteme miteinander kombiniert wurden. Gerade hinsichtlich der Arbeitsanreize waren allerdings Anzahl, Natur, Reichweite und Bedeutung der einzelnen Maßnahmen im Zeitablauf starken Schwankungen unterworfen. Während der 1930er Jahre wurde versucht, die Arbeitsproduktivität der Häftlinge durch den Einsatz von Zwangsmitteln und die Aussicht auf bescheidene Verbesserungen ihrer Lebens- und Haftbedingungen zu steigern, kombiniert mit der Aussicht auf vorzeitige Freilassung aufgrund der Gewährung von Arbeitstaggutschriften. Der Nebeneffekt des letztgenannten Instruments - die mittel- und langfristige Reduzierung der Häftlingszahlen - bewog den NKWD im Jahre 1939 jedoch zu dessen Abschaffung und einer Hinwendung zu einer deutlich stärker auf Zwang basierten Strategie. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf sich die sowjetische Führung zur Mobilisierung nicht nur der Lagerinsassen, sondern der gesamten Bevölkerung mannigfacher Formen von Zwang bediente, setzte sich innerhalb der Führung des Lagersystems allmählich die Einsicht durch, daß dieser Weg keine optimale Strategie zur Erzielung einer hohen Arbeitsproduktivität darstellte. Sowohl die (Wieder-)Einführung von Arbeitstaggutschriften in vielen als auch die Aufnahme von Lohnzahlungen in sämtlichen Lagern gegen Ende der 1940er Jahre illustriert, daß leistungsabhängige Anreize letztlich als effektiveres Mittel zur Erreichung der selbstgesteckten Produktivitätsziele betrachtet wurden.
E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge I. Methodische Vorbemerkungen In den vorangegangenen Kapiteln wurde eine Vielzahl von Informationen verarbeitet, die Hinweise auf die der Praxis der Ausnutzung von Zwangsarbeit in Norilsk zugrundeliegenden Strategien liefern. Auf der Grundlage von internen behördlichen Dokumenten und von Erinnerungen ehemaliger Lagerinsassen wurden Probleme wie die Häftlingssterblichkeit, der Einsatz von Zwangsarbeitern in unterschiedlichen Arbeitsbereichen und Funktionen, die Dauer ihrer Arbeitszeit und schließlich Zwangs- und Anreizsysteme, mit denen ihre Arbeitsproduktivität erhöht werden sollte, diskutiert. Ein Aspekt, der bisher nur am Rande berührt wurde, waren die individuellen Formen, die Zwangsarbeit aus Sicht der Betroffenen annahm - namentlich die Frage, welche konkreten Arbeiten sie unter welchen Bedingungen verrichten mußten. Bei ihrer Beantwortung kommt persönlichen Zeugnissen der damaligen Gefangenen die größte Bedeutung zu: Da die Lagerverwaltung kaum einen Anlaß hatte, den Arbeitsalltag der Lagerinsassen zu dokumentieren, finden sich in den von ihr hinterlassenen Quellen allenfalls spärliche Informationen hierzu. Auch unter zwei weiteren Gesichtspunkten verdienen Selbstzeugnisse ehemaliger Häftlinge eine eingehendere Betrachtung. Zum einen geben sie Aufschluß darüber, wie sich die bereits diskutierten Praktiken der Regulierung von Zwangsarbeit durch die zentrale und lokale Lageradministration auf die Betroffenen auswirkten. Zum anderen sind viele der verwendeten Selbstzeugnisse ehemaliger Gefangener der Norilsker Lager kaum leichter zugänglich als die archivierten behördlichen Quellen. Auf die Vielzahl von in westlichen Sprachen veröffentlichten Schilderungen des Arbeitsalltags in anderen stalinistischen Lagern und Kolonien oder auf Synthesen solcher Quellen zu verweisen, wäre jedoch problematisch: Da im vorangegangenen einige signifikante Unterschiede zwischen dem Norilsker Lager und der Mehrzahl der übrigen stalinistischen Zwangsarbeitslager festgestellt wurden, muß angenommen werden, daß Aussagen von Quellen aus anderen Kontexten nicht in jeder Hinsicht repräsentativ für die Norilsker Verhältnisse sind. Vorauszuschicken sind allerdings einige methodische Bemerkungen zu den Eigenheiten dieser Quellen und zu daraus resultierenden Problemen bei ihrer Benutzung und Interpretation. Zunächst muß unterstrichen werden, daß es sich bei jedem derartigen Dokument um einen Bericht aus einer individuellen Mikroperspektive handelt. Konkret bedeutet dies, daß sich die Autoren jeweils zu bestimmten Zeitpunkten in bestimmten Lagerunterabteilungen befanden. Wie sehr
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
sich jedoch bereits zwei Lagerabteilungen desselben Regimetyps voneinander unterscheiden konnten, erlebte etwa Sergej Stejn, als er Anfang Oktober 1939 von der Zweiten Lagerabteilung, in der Erdarbeiter und Projektierer untergebracht waren, in die Erste verlegt wurde. Dort lebten hauptsächlich Produktionsarbeiter und zwar nahezu ausschließlich unpolitische' Häftlinge und Berufskriminelle. „Ich empfand den Verlust der alten Wohnstätte schmerzlich, in den ersten Tagen [ . . . ] stärker, als man gemeinhin sein Elternhaus vermißt. Dort, in dieser ewig hungrigen Zweiten [Abteilung], in der man die Löffel trockenleckt und das Brot bis auf den letzten Krumen verzehrt, war es verhältnismäßig reinlich und sauber, interessant und zivilisiert. Dort wohnte die Intelligenz". Nun jedoch fand sich Stejn im „Herrschaftsbereich der organisierten Kriminellen [russisch: blatnyeJ" 1 wieder, der ihn mit „Gestank und Schmutz empfing. Auf den vollgespuckten Pritschen lagen schmuddelige Matratzen herum. Die Kissen hatten keine Bezüge, die Decken ebensowenig." Wie Stejn später erfuhr, erhielten die Produktionsarbeiter durchaus Bettwäsche - sogar neue, unbenutzte Garnituren - doch tauschten sie sie sofort nach Empfang bei den Lagerangestellten gegen Spiritus ein. Dank des Einflusses und der Beziehungen der blatnye bestand in der Abteilung immerhin kein Mangel an Brot, so daß Stejn sie als „die satteste und schmutzigste" Lagerabteilung in Norilsk empfand. 2 Selbstverständlich variierte die Versorgungs- und Unterkunftssituation nicht nur zwischen verschiedenen Norilsker Lagerabteilungen zu einem gegebenen Zeitpunkt, sondern auch zwischen Lagerunterabteilungen unterschiedlicher Regimetypen und zu verschiedenen Perioden. Ähnliches galt für die Arbeitsbedingungen in Abhängigkeit von den Einsatzbereichen, in denen Häftlinge arbeiten mußten, von den Voraussetzungen, die sie dazu mitbrachten, und von den am individuellen Arbeitsplatz durchgesetzten Arbeitsregelungen. Angesichts der Zahl von etwa 275.000 Häftlingen, die im Norilsker Lager innerhalb von 21 Jahren inhaftiert waren, können daher selbst mehrere Dutzend verschiedene Quellen kein auch nur annähernd vollständiges Bild von den Arbeitsverhältnissen im gesamten Bauvorhaben und Kombinat oder von den Lebensverhältnissen im gesamten Lagerkomplex liefern. Doch nicht nur die geringe Größe jener Gruppe von ehemaligen Häftlingen, die sich später entschlossen, ihre Erlebnisse im Lager schriftlich festzuhalten, ruft Repräsentativitätsprobleme hervor, sondern auch ihre Zusammensetzung. Verglichen mit den Ergebnissen der quantitativen Analyse des Beschäftigungsprofils der Häftlinge 3 liegt eine weit überproportionale Zahl von Erinnerungen vor, welche von ehemaligen Zwangsarbeitern verfaßt worden sind, die phasenweise oder nahezu permanent administrative, technische oder in anderer Hinsicht herausgehobene Arbeiten verrichteten. Im folgenden werden solche Quellen daher zu1
Snegov, Jazyk, kotoryj nenavidit, S. 62 f. 2 Ebd., S. 72. 3 s. Unterkapitel C. VII.
I. Methodische Vorbemerkungen
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gunsten von Erinnerungen ehemaliger Häftlinge, die körperliche Arbeit leisten mußten, stark untergewichtet. Eine weitere Ursache von Verzerrungen läßt sich dagegen kaum ausräumen. Die Autoren aller vorliegenden Erinnerungen waren für politische', sprich: „konterrevolutionäre" Vergehen verurteilt worden. Berichte oder Memoiren ehemaliger Lagerinsassen, die Haftstrafen für gewöhnliche' Vergehen, geschweige denn für unpolitische' Schwerverbrechen verbüßt haben, konnten dagegen nicht ausfindig gemacht werden. Nun waren zwar häufig Gefangene unterschiedlicher Kategorien in denselben Baracken untergebracht. Auch gab es zu verschiedenen Perioden „gemischte" Brigaden. Dennoch bleiben die aus solchen Begegnungen resultierenden Möglichkeiten, Informationen zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen unpolitischer' Häftlinge indirekt aus den Erinnerungen politischer' Lagerinsassen zu gewinnen, beschränkt. Schließlich sind in der Regel keine Zeugnisse von denjenigen Häftlingen erhalten, die den Aufenthalt im Lager nicht überlebten - ein Problem, das allerdings bei Lagern mit deutlich höherer Sterblichkeit schwerer wiegt als in Norilsk, wo es ,nur' etwa sechs Prozent sämtlicher Häftlinge, die sich jemals im Lager befanden, betrifft. 4 Weiterhin gilt es, bei der Beurteilung der benutzten Selbstzeugnisse zu berücksichtigen, daß zwischen den Geschehnissen selbst und ihrer schriftlichen Fixierung ein mindestens dreistufiger Prozeß der Selektion und Modifikation von Informationen lag - von der subjektiven Wahrnehmung und Erfahrung von Ereignissen im Lager durch die Autoren über nachfolgende Prozesse des Verarbeitens, Erinnerns und Vergessens bis hin zur Auswahl und Ausgestaltung dessen, was letztlich niedergeschrieben wurde. Wesentliche Einflußfaktoren waren dabei selbstredend der zeitliche Abstand zwischen den fraglichen Ereignissen und dem Verfassungsdatum von Erinnerungen sowie der Kontext, in dem letztere formuliert und eventuell publiziert worden sind.5 Nun sind fast alle der vorliegenden Quellen während der Glasnost '-Periode oder im Verlauf der 1990er Jahre und damit zum einen Jahrzehnte nach den beschriebenen Erlebnissen und zum anderen unter den Bedingungen eines beträchtlichen Pluralismus und einer weitgehend unbeschränkten Meinungsfreiheit verfaßt oder veröffentlicht worden. Mehr noch, oft bildeten sie intendierte Bestandteile von Diskursen, die eine möglichst uneingeschränkte Aufklärung der „Wahrheit" über die bis dahin strikt geheimgehaltenen Verbrechen des Sowjetstaates zum Ziele hatten.6 Während es daher als unwahrscheinlich gelten 4 Auch hier gibt es seltene Ausnahmen, wie etwa Briefe, die von Häftlingen vor ihrem Tod im Lager verfaßt wurden. Ein Beispiel hierfür bildet ein Brief, den Adam Mednis im Januar 1941 in Norilsk an seine Frau geschrieben hat, der allerdings keine präzisen Angaben zu materiellen Arbeits- und Lebensbedingungen enthält. Der Autor starb im Norilsker Lager drei Jahre später (RGASPI. 560.1.32). 5 Für eine exemplarische Demonstration der Abhängigkeit der Deutung der eigenen Lebensgeschichte vom jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext s. Marianne R. Kamp: Three Lives of Saodat: Communist, Uzbek, Survivor, in: Oral History Review 28/2 (Summer/Fall 2001), S. 21-58. 6 Die positivistische Absicht der „Rekonstruktion der historischen Wahrheit" zählt etwa zu den erklärten Zielen der Tätigkeit der nichtstaatlichen Gesellschaft „Memorial", deren
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
kann, daß in diesen Dokumenten Härten des Lagerlebens - sofern sie nicht an persönliche Tabus rührten - aus politisch-gesellschaftlichen Gründen verschwiegen oder verharmlost worden sind, muß berücksichtigt werden, daß die Vollständigkeit und Genauigkeit der dort niedergelegten Erinnerungen unter der langen, zwischenzeitlich verstrichenen Zeitspanne gelitten haben kann. Betrachtet man nun den Inhalt der benutzten Selbstzeugnisse ehemaliger Norilsker Lagerinsassen genauer, wird schnell deutlich, daß in ihnen eine Fülle unterschiedlicher Faktoren zur Sprache kommt, die die damaligen individuellen Lebenssituationen der Betroffenen unmittelbar und mittelbar bestimmten. Häufig wird, wenngleich in unterschiedlicher Ausführlichkeit, der Lebensweg der Autoren vor ihrem Eintreffen im Norilsker Lager geschildert - sowohl vor als auch nach der Verhaftung. Ein wichtiger Gegenstand von Reflexionen ist oft die Haftsituation als solche, die nicht nur die Herauslösung aus vorherigen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und emotionalen Lebenskontexten bedeutete, sondern auch die Verarbeitung des Erlebnisses, aus zumeist als zutiefst ungerecht empfundenen Gründen inhaftiert und verurteilt worden zu sein. Aus der Zeit des eigentlichen Lageraufenthaltes finden sich sodann Schilderungen der Erfahrung von Erkrankungen und Tod (einerseits von Todesfällen unter Mitgefangenen, andererseits der drohenden Perspektive des eigenen Todes), von Demütigungen und Mißhandlungen (die von Seiten der Aufseher, der Wachsoldaten sowie anderer Häftlinge erfolgen konnten) oder von persönlichen Beziehungen, Konflikten und Bindungen innerhalb des Lagers. Solche und weitere Faktoren bildeten für die Autoren zweifellos zentrale Bestandteile der Gesamtwahrnehmung des Lageraufenthaltes. Der Versuch, sie alle zu berücksichtigen, liefe jedoch auf eine Analyse der individuellen Lebensbedingungen und Schicksale einzelner Gefangener hinaus, was sowohl die hier verfolgte Fragestellung als auch den zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde. Die hier verfolgte Absicht ist eine andere. Sie besteht darin, Beispiele zu liefern, wie einzelne Häftlinge der Norilsker Lager zu verschiedenen Perioden die Arbeiten, die sie verrichten mußten, erlebten. Dadurch soll ein, wenngleich fragmentarisches, so doch anschaulicheres Bild davon vermittelt werden, welcher Art die Zwangsarbeit war, von der in den vorangegangenen Kapiteln nahezu ausschließlich in abstrakter Form gesprochen wurde. In der folgenden Vorstellung von Auszügen aus Häftlingserinnerungen werden daher hauptsächlich solche Aussagen angeführt, die sich unmittelbar auf die Arbeitsprozesse beziehen, in die ihre Autoren eingebunden waren. Soweit verfügbar, werden zusätzlich Informationen zu den materiellen Lebensbedingungen im Lager wiedergegeben, sofern es sich dabei um Schilderungen von Umständen handelt, für die in der Hauptsache die Lagerverwaltung verantwortlich war, und die zudem nicht nur wenige individuelle Häftlinge Mitglieder sich um die Sammlung, Bewahrung und Veröffentlichung von Erinnerungen von Repressionsopfern enorme Verdienste erworben haben (Statut vom 19. April 1992, s. http:// www.memo.ru / about / ustav.htm).
I. Methodische Vorbemerkungen
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betrafen, sondern für alle oder die Mehrzahl der die jeweiligen Autoren umgebenden Lagerinsassen die Regel darstellten. Beispiele für solche Faktoren sind Umfang und Qualität der Ernährung, Bedingungen der Unterbringung, ausgehändigte Kleidung und Ausrüstung, hygienische und sanitäre Verhältnisse. Nun könnte man erwarten, daß Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter gerade zu solchen elementaren Fragen detaillierte Informationen bereithielten. Tatsächlich aber werden die verfügbaren Texte von Darstellungen einmaliger, außergewöhnlicher persönlicher Erlebnisse dominiert. Ausführlich werden Begegnungen, Gespräche oder auch Konflikte mit Mitgefangenen wiedergegeben. Mithäftlingen und deren Schicksalen werden nicht selten Exkurse gewidmet, wobei die darin zutage tretende Absicht, das Andenken von Einzelpersonen zu bewahren, mitunter offen bekundet wird. Auch Berichte zu Interaktionen mit Vertretern der Lagerverwaltung, Wachtruppen oder Aufsehern, die für einzelne Häftlinge von Bedeutung waren, sind oft anzutreffen. Die materiellen Lebensbedingungen und die individuellen Arbeitsumstände werden in den benutzten Quellen dagegen auffallend knapp abgehandelt. Auch Fragen zur Arbeitsorganisation oder zur Beziehung zwischen der Arbeit des Einzelnen und größeren Produktionszusammenhängen werden äußerst selten berührt. Und obgleich nahezu alle Autoren den größten Teil der im Lager bewußt erlebten Zeit mit der Verrichtung von Zwangsarbeit verbrachten, wird diese selbst in ausführlichen, Hunderte von Seiten umfassenden Erinnerungen meist nur in beiläufigen Einsprengseln oder allenfalls in wenigen, kurzen Abschnitten explizit beschrieben. Besonders rar sind dabei Darstellungen technisch anspruchsloser, doch physisch schwerer Arbeiten. Häftlinge, die als Ärzte, Krankenpfleger, in technischen oder administrativen Positionen oder sogar als Leiter von Abteilungen oder Produktionseinheiten tätig waren, neigten demgegenüber weitaus eher dazu, Prozeß und Resultate der eigenen Arbeit detailliert darzulegen. Partiell läßt sich ein solcher Befund fraglos mit Funktionsmechanismen des menschlichen Gedächtnisses erklären. Einmalige Erlebnisse, zumal wenn sie von einer besonderen emotionalen Qualität sind, werden in der Erinnerung exakter und über längere Zeiträume hinweg bewahrt als monotone, wiederkehrende Tätigkeiten.7 Auch bieten letztere nicht nur der Erinnerung, sondern auch der Nacherzählung selten prägnante Anhaltspunkte. Doch unter der Annahme, daß die Niederschrift von Lebenserinnerungen in aller Regel mit einer nachträglichen Interpretation und Bewertung des eigenen Lebens einhergeht, ist nicht verwunderlich, wenn Situationen, in denen das Ich als selbstbestimmt handelndes Subjekt in Erscheinung trat, stärker betont werden als solche, in denen es sich vornehmlich dem Willen übergeordneter Autoritäten beugen mußte. In Begegnungen mit anderen Menschen - seien es Mitgefangene oder selbst Angehörige der Lageradministration 7 Zur Intensität der Erinnerung von Ereignissen unterschiedlicher Qualität s. Marigold Linton: Transformations of Memory in Everyday Life, in: Ulric Neisser (Hg.): Memory Observed: Remembering in Natural Contexts, San Francisco: W. H. Freeman and Company, 1982, S. 77-91, hier: S. 87 ff.
13 Ertz
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
konnten Gefangene ihre Individualität, manifestiert in ihrem Erleben und Handeln, wesentlich stärker erfahren als bei der unfreiwilligen, wiederholten Verrichtung körperlicher Arbeiten. Obgleich all diese generellen und spezifischen inhaltlichen Merkmale, die Selbstzeugnissen ehemaliger Häftlinge innewohnen, auch durch selektive und interpretative Strategien nur bedingt ausgeräumt werden können, ist doch andererseits die Unersetzbarkeit dieser Dokumente zu betonen. Denn auch wenn die vorliegenden Darstellungen alltäglicher Arbeits- und allgemeiner materieller Lebensbedingungen äußerst fragmentarisch sind - so daß das Bild, das sich aus ihnen zusammenfügt, ebenfalls als ein fragmentarisches verstanden werden muß - bilden sie nahezu die einzigen und zweifelsohne die verläßlichsten Quellen, die uns mitteilen, welchen konkreten Formen der Ausnutzung von Zwangsarbeit und welchen damit verbundenen Lebensumständen unzählige individuelle Menschen in Norilsk ausgesetzt waren. Im folgenden werden Informationen zu diesen Fragen, zusammengetragen aus den vorliegenden Selbstzeugnissen, in loser chronologischer Ordnung zitiert und paraphrasiert.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit und materiellen Lebensumständen Eine der wenigen verfügbaren Schilderungen der Verhältnisse in der Vorkriegsperiode stammt von Fëdor Vintens, der im August 1939 gemeinsam mit etwa 2.500 weiteren Häftlingen aus dem in Auflösung begriffenen Solovecker Gefängnis (ehedem: Lager) in Norilsk eintraf. 8 Erst nach Ablauf einer zweiwöchigen Quarantänefrist, die sie in einem abgetrennten Teil der Lagerabteilung verbrachten, wurden die Gefangenen in regulären Baracken untergebracht. Dank seiner technischen Ausbildung wurde Vintens einer von zwei jeweils 30 Mann starken „Ingenieurbrigaden" zugeteilt, die aus dem Kontingent der Neuankömmlinge geformt wurden. Ihre erste Aufgabe bestand allerdings in der Einebnung von Baugrund. Die Arbeitszeit betrug zehn Stunden täglich, doch verlängerte sie sich durch nicht eingerechnete Pausen, Appelle und den Weg zur Arbeit und zurück auf bis zu vierzehn Stunden.9 Nach wenigen Wochen wurden die Mitglieder von Vintens' Brigade der „Mechanischen Versuchsabteilung4' zugewiesen, deren Leiterin, die freie Angestellte Ol'ga Lukasevic, sich bemühte, ihre gefangenen Untergebenen bei sich zu behalten. In der Auseinandersetzung mit übergeordneten Funktionären der mittleren Führungsebene, die nach Vintens' Empfinden „selbstherrlich [handelten], ohne Rücksichtnahme auf Produktionsinteressen" 10, war sie jedoch nicht immer erfolg8 Vintens, Zapiski na pamjat', AMCM. 2.2.11: 25. 9 Ebd., 29. 10 Ebd., 32.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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reich. So kam es, daß auch die Brigade von Vintens bald wieder zu „Allgemeinen Arbeiten" abkommandiert wurde, namentlich zum Ausheben von Baugruben im Permafrostboden. Zu dieser Zeit waren solche Arbeiten kaum mechanisiert; als einziges Arbeitsinstrument dienten Brechstangen. Spezielle Technologien zur Arbeitserleichterung, etwa die von einem politischen' Gefangenen entwickelte Methode der elektrischen Aufheizung des Bodens, wurden erst zu späterer Zeit angewandt.11 All diese Arbeiten fanden auch im Winter unter freiem Himmel statt, es sei denn, das Wetter wurde für zertifiziert erklärt - dann wurden die Häftlinge zurück ins Lager geführt. 12 Ansonsten gab es nichts, was während der Arbeit Schutz vor Frost oder Wind geboten hätte. Während kurzer Arbeitsunterbrechungen oder Pausen konnten sich die Häftlinge allenfalls in halbfertigen Gebäuden unterstellen, wobei stets einer von ihnen darauf achtete, daß niemand einschlief und erfror. Eine weitere Aufgabe bestand darin, in Schubkarren Beton zu transportieren. Nach Vintens' Worten waren viele seiner Kameraden für diese Art schwerer körperlicher Arbeit denkbar ungeeignet, was sowohl eine niedrige Produktivität als auch den Verlust von Menschen zur Folge hatte.13 Schließlich erreichte Lukasevic, daß ihre Abteilung unmittelbar dem Direktor des Kombinates unterstellt wurde und unbehelligt ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeit aufnehmen konnte. Fëdor Vintens und die verbliebenen Mitglieder seiner Brigade wurden fortan von Verpflichtungen zu „Allgemeinen Arbeiten" verschont und in einer separaten Behausung untergebracht. Daneben wurden sie nun gemäß den für Ingenieure und Technisches Personal gültigen, verbesserten Normen versorgt, erhielten einen Bediensteten aus dem kriminellen Milieu und das unbeschränkte Recht zum Empfang von Paketen und Geld von ihren Verwandten. 14 Ein ähnliches Bild von Erdarbeiten vermitteln die Erinnerungen von Aleksandr Starovojtov, der, ebenfalls zunächst im Solovecker Gefängnis inhaftiert, bereits 1938 nach Norilsk überstellt worden war. 15 Auch er wurde gegen Anfang der 1940er Jahre zur Einebnung von Baugrund herangezogen. Nach seinen Worten wurde diese Arbeit im Winter stark behindert - einerseits durch Schneeverwehungen, die sich ständig neu bildeten, andererseits durch die Knappheit an Strom, die zur Folge hatte, daß die Arbeitsplätze nur spärlich beleuchtet wurden. Auch Starovojtov berichtet von einem geringen Mechanisierungsgrad: „Technik gab es fast gar keine [ . . . ] All dies erschöpfte die Leute bis zum äußersten, zumal die meisten von ihnen niemals zuvor eine Brechstange auch nur in Händen gehalten hatten." 16 Daß sich der frühere Lebenswandel von Häftlingen auf ihr Schicksal im Lager auswirkte, suggerieren auch die Erinnerungen von Dmitrij Bystroletov. Der Autor, h Ebd., 29 f. 12 Ebd. Vgl. auch Unterkapitel D. I. 1. 13 Vintens, Zapiski na pamjat', AMCM. 2.2.11: 30. h Ebd., 33. 15 Starovojtov, Éto bylo pravda, AMCM. 2.1.115: 37. 16 Ebd., 39. 14*
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
ein zweifach promovierter Arzt, war von August 1939 bis Herbst 1940 in der 1. Lagerabteilung des Norilsker Lagers inhaftiert und war nach kurzer Tätigkeit im Lagerkrankenhaus auf eigenen Wunsch in eine Baubrigade versetzt worden. „[Die Arbeit] war schwer. Meine Brigade hackte den Permafrostboden auf. Genauer - [sie] bereitete Löcher für die Deponierung von Ammonal [eine Sprengstoffsorte - S.E.] vor. Unter anderen klimatischen Bedingungen wäre dies ein Kinderspiel, doch dort war es eine äußerst schwierige Aufgabe: Stößt man auf einen Stein, muß man [ . . . ] ein neues [Loch] beginnen."17 Innerhalb seiner Brigade beobachtete Bystroletov, daß die Arbeit verschiedenen Häftlingen unterschiedlich schwer fiel. So gab es durchaus Gefangene, denen die Normerfüllung keine Probleme bereitete. Zwei Arbeiter etwa „gingen nach der Arbeit schnurstracks in den Club, wo sie in Laienkonzerten auftraten." Bei beiden handelte es sich um gewöhnliche' Straftäter. Doch nicht nur solche, sondern selbst die notorischen Berufskriminellen, die es in seiner Brigade ebenfalls gab, erfüllten die Arbeitsnorm. „Lediglich Konterrevolutionäre blieben allesamt hinter ihr zurück", was Bystroletov mit ihrem Altersprofil erklärt: „Die einfachen Kriminellen waren jünger als die Konterrevolutionäre, während die Urki 1 8 [sogar] ihre Kinder hätten sein können. Unter den schweren klimatischen Bedingungen konnte dieser Altersunterschied nicht ohne Folgen bleiben: Wie zu erwarten war, versagte das Herz zuerst, und die bejahrteren Menschen wurden arbeitsunfähig [ . . . ] Von gewaltiger Bedeutung war auch die [soziale] Herkunft der Lagerinsassen: Fast alle gewöhnlichen Kriminellen und ausnahmslos alle Urki kamen aus Bauern- und Arbeiterfamilien"
- während die „Konterrevolutionäre" nach Bystroletovs Beobachtung hauptsächlich aus gebildeten Milieus stammten. Ihre vergleichsweise eingeschränkte Arbeitsfähigkeit erschwerte daher das Los vieler politischer' Häftlinge: „Einen bejahrten Pädagogen neben einen jungen Kolchozbauern zu stellen, jedem je ein Brecheisen in die Hand zu drücken und dann die Erfüllung ein und derselben Norm zu fordern - das war objektiv ungerecht. Doch genau so geschah es." 19 Aleksandr Gaevskij traf mit einem Häftlingstransport aus Krasnojarsk im September 1939 in Norilsk ein. Die Dritte Lagerabteilung, in der Gaevskij anfangs 17
Bystroletov, Pir bessmertnych, S. 121. Urki (Sg. urka /urkagan) wurden bereits im zaristischen Rußland etablierte Berufskriminelle genannt, die eine Führungsrolle in der kriminellen Sphäre beanspruchten - auch und gerade innerhalb von Haftverbüßungsanstalten. Seit den späten 1920er Jahren trat neben diese Bezeichnung der Begriff vory-v-zakone (wörtlich: „Diebe-im-Gesetz"), der die deutlich ausgefeilteren und strikteren Verhaltenskodizes reflektiert, welche den in dieser Zeit entstehenden und bis in die frühen 1950er Jahre hinein existierenden strafferen und oft überregionalen Organisationsstrukturen unter den Kriminellen zugrunde lagen (für einen luziden Überblick s. Frederico Varese: The Society of the Vory-V-Zakone, 1930s-1950s, in: Cahiers du monde russe, 39/4 (Okt.-Dez. 1998), S. 515-538). Auch in dieser Periode wurde freilich noch die Bezeichnung urki verwendet. Außenstehende bezogen sich dabei mitunter schlichtweg auf sämtliche Angehörigen des organisierten Kriminellenmilieus (Rossi, Spravocnik po Gulagu, S. 428) - wie offenbar auch im vorliegenden Zitat. 18
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Bystroletov,
Pir bessmertnych, S. 121 f.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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untergebracht war, verfügte zwar mit Waschräumen, einem Club, einem Laden, einer stationären Krankenstation und Sandsteinbaracken über eine beachtliche Infrastruktur. Doch waren die Wände der Wohnbaracken nicht verputzt, und kalte Luft und Schnee drangen durch zahlreiche Spalten und Ritzen ins Innere. Nach seiner Ankunft wurde auch Gaevskij einer Brigade zugeteilt, die Bauarbeiten verrichten mußte, und auch in seinem Fall geschah dies mit rudimentärem Werkzeug und unter extremen Witterungsbedingungen: „Es gab nicht die geringsten Unterstände, wo man sich aufwärmen konnte. Nur das Entzünden von Feuern war erlaubt [ . . . ] Zu behaupten, wir hätten von morgens bis abends gearbeitet, träfe nicht zu, da zu dieser Zeit Polarnacht herrschte, dazu fast ununterbrochene Schneestürme", die starke Erfrierungen verursachten, zuerst und besonders im Gesicht: „Während des Schneesturmes geht der Frost in der Regel zurück, und feuchter Schnee verklebt das Gesicht und bildet eine Eiskruste." Wurden Schneestürme dennoch von starkem Frost begleitet, was mitunter auch vorkam, traten Erfrierungen selbstredend noch rascher ein. 20 „Allgemeine Arbeiten", die unter freiem Himmel stattfanden, waren daher laut Gaevskij die härtesten. Wurden die dort eingesetzten Gefangenen allzu unzureichend ernährt, war eine Zunahme ihrer Sterblichkeit die unmittelbare Folge. Besonders deutlich konnte der Autor dies in einem der Kriegsjahre beobachten, als es während der Navigationsperiode nicht gelungen war, genügend Nahrungsmittel nach Norilsk zu bringen. 21 „Zuallererst bekamen das die Gefangenen zu spüren. Man begann, sie mit gekochten Weizenkörnern zu ernähren, und auch das nur nach minimalen Normen. Das führte zur Auszehrung vor allem derer, die Allgemeine Arbeiten leisteten. Während der Arbeit fällt ein Mensch, der äußerlich gesund erscheint, plötzlich hin, seine Körpertemperatur sinkt stark ab, und er ist nicht mehr in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, geschweige denn sich zu bewegen. Um diesen Zustand nicht Auszehrung nennen zu müssen, hat man sich den Begriff »Unterkühlung' ausgedacht. Die Arbeitsstätten befanden sich manchmal mehrere Kilometer von der Lagerabteilung entfernt. Die Arbeit der Brigade wurde nicht unterbrochen, und die ,Unterkühlten' warteten auf das Ende des Arbeitstages - wenn sie durchhielten. Bei der Rückkehr von der Arbeit nötigten die Wachsoldaten diejenigen, die sich bewegen konnten, die liegengebliebenen Kameraden zu tragen. Für die während des Arbeitstages erschöpften [Häftlinge] war das eine schwere, zusätzliche Belastung. Nachdem man die Bewegungsunfähigen (oder Leichen) ins Lager gebracht hatte, wurden sie in den Schnee geworfen, und die Häftlinge liefen zu ihren Baracken. Das ist natürlich grausam, doch jeder wollte vor allem sein eigenes Leben bewahren." 22
Zu seinem Glück wurde Gaevskij, der ein Ingenieurdiplom besaß, nach einiger Zeit auf einen Verwaltungsposten in der Technischen Versorgungsabteilung des Kombinates versetzt. Der Leiter dieser Abteilung und die Gruppenleiter waren 20
Gaevskij, Erinnerungen (o. T.). 21 Ebd. 22 Ebd.
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
zivile Angestellte, alle übrigen Mitarbeiter Häftlinge. Faktisch, so Gaevskij, erledigten die Gefangenen auch die Arbeit ihrer zivilen Kollegen. 23 Verglichen mit der quantitativen Verteilung der Zwangsarbeiter in Norilsk 24 sind Darstellungen von bauvorbereitenden und Bauarbeiten im Vergleich zu Berichten von Tätigkeiten in produktionsnahen Bereichen unter den gesichteten Häftlingserinnerungen leicht überrepräsentiert, was auf eine analoge Ungleichheit bei der Verteilung der politischen' Häftlinge nach Einsatzbereichen hindeutet. Eine der Schilderungen von Arbeiten im engeren Produktionsbereich des Kombinates stammt von Evgenija Kurbatova, die im Herbst 1944 in Norilsk eintraf und dort der Sortieranlage einer der Erzgruben zugeteilt wurde: „Im Winter [ . . . ] wird die Erzsortieranlage nicht geheizt. Die Transportbänder blieben vor Kälte stehen [ . . . ] und um sie [wieder] in Gang zu bringen, muß man die Schmierung erwärmen, aber wie? Einen Ausweg fanden die [unleserlich]Sortierer 25 (in der Erzsortieranlage arbeiteten ausschließlich Frauen), und zwar kletterten wir auf die Bänder und sprangen auf und ab, um die Schmierung zu erwärmen, und stellt euch vor, die Bänder liefen [wieder]. Und so durften wir 12 Stunden die Bänder nicht verlassen, mußten, wie Maschinen, das Erz sortieren (d. h. [taubes Gestein] aussortieren und in den Bunker werfen), und das reine Erz wurde weiterbefördert und gelangte in den [anderen] Bunker [ . . . ] Irgendwo ganz oben glimmen Lampen, doch ringsum ist Erz- und Gesteinsstaub und schrecklicher Krach und Gepolter" 26
Wenn die gefangenen Frauen von dieser Arbeit ins Lager zurückkehrten, waren sie regelmäßig sehr verschmutzt, doch um sich und möglicherweise ihre Kleidung zu waschen, gab man ihnen jeweils nur eine einzige Schöpfkelle warmen Wassers - benötigten sie mehr, mußten sie Schnee tauen. Erst im Jahre 1947 wurde ein Duschraum fertiggestellt, was zu einer gewissen Verbesserung der hygienischen Verhältnisse führte. 27 In Kurbatovas Lagerabteilung wurden die Gefangenen um fünf Uhr morgens geweckt und um sechs Uhr zur Arbeit geführt, von der sie abends gegen 7:30 Uhr zurückkehrten. Als besonders belastend empfand sie daher die einmal wöchentlich nächtens veranstaltete Durchsuchung der Baracke, die meist von Mitternacht bis drei Uhr morgens andauerte. Laut Kurbatova waren die meisten Häftlinge daher froh, wenn sie in der Nachtschicht arbeiteten. Die tägliche Essensration für die Arbeiterinnen in der Erzsortieranlage war kärglich. Während der gesamten zehn Jahre von Kurbatovas Haftzeit bestand sie aus 650 g Brot sowie aus Lagersuppe auf der Basis von Soja oder Hafer. Weiterhin berichtet Kurbatova von kalten Baracken, in denen unhygienische Zustände herrschten und zudem viele Wanzen lebten. Das 23 Ebd. 24 Vgl. Unterkapitel C. VI. 25 Bei diesem Begriff handelt es sich um eine maskuline Form. Anhand der in der nachfolgenden Klammer gelieferten Erläuterung kann gefolgert werden, daß es sich bei den „ [ . . . ]Sortierern" um männliche Arbeiter aus einem anderen Produktionsbereich handelte. 26
Kurbatova, Moi vospominanija, AMCM. 2.2.51: lOus, 11. 27 Ebd., 11, 12us.
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Ungeziefer wurde allerdings bald nach ihrer Ankunft im Lager auf Initiative des neubestellten Leiters der Lagerabteilung erfolgreich bekämpft und trat seitdem nicht mehr in Erscheinung. 28 Nach etwa dreijähriger Arbeit als Erzsortiererin wurde Kurbatova auf eine Stelle in der Buchhaltung der Sortieranlage versetzt. Dort mußte sie zwar nicht mehr körperlich, doch dafür ständig nachts arbeiten. 29 Nachdem sie dort ein oder zwei Jahre verbracht hatte, wurde sie zu „Allgemeinen Arbeiten" geschickt. Die Aufgabe ihrer neuen Brigade bestand darin, Eisenbahnwaggons zu be- und entladen sowie entgleiste Waggons wieder zurück auf die Schienen zu stellen.30 Evfrosinija Kersnovskaja durchlief während ihres Aufenthaltes im Norilsker Lager von 1944 bis 1952 mehrere Lagerabteilungen und war in vielen verschiedenen Funktionen beschäftigt. Im Sommer 1944 gelangte sie zunächst in die 8. Lagerabteilung in Zlobino bei Krasnojarsk, wo sie Zement und Ziegelsteine auf Lastkähne verladen mußte. Die dortigen Lebensbedingungen beschreibt sie als deutlich besser als in Gefängnissen und Lagern in Novosibirsk und Tomsk, in denen sie zuvor inhaftiert war. Die tägliche Arbeitszeit betrug nur acht Stunden, unterbrochen durch eine einstündige Mittagspause. Ungewohnt war für Kersnovskaja nicht nur die Ausgabe von Seife im Waschraum, sondern auch der Umfang der täglichen Nahrungsration, die aus Trockenfisch, Grütze aus amerikanischen Sojabohnen und 760 g Brot bestand.31 Ähnliche Erfahrungen machte Kersnovskaja in Dudinka, wohin sie im Herbst 1944 verlegt wurde: „800 Gramm Brot, zweimal täglich ein Liter dicker Lagersuppe mit Kleie, manchmal auch mit Getreideschrot, und 200 Gramm Trockenfisch. Unglaublich!" Freilich waren die Arbeitszeiten bei den Ent- und Verladearbeiten, die sie auch dort verrichten mußte, länger als in Krasnojarsk, und selbst zur Verladung von Ziegelsteinen erhielten die Häftlinge keine Handschuhe.32 Kurze Zeit später wurde Kersnovskaja nach Norilsk verlegt. Auch hier empfand sie die Versorgung der Häftlinge als besser als in den Haftverbüßungsorten, die sie zuvor kennengelernt hatte. Freilich blieb ihr keineswegs verborgen, daß auch in Norilsk Häftlinge hungerten. So wurden zwar monatlich 450 g Zucker an die Gefangenen ausgegeben - auch dies eine Neuheit im Vergleich zu Kersnovskajas früheren Lagererfahrungen. Als Angestellte im Zentralen Lagerkrankenhaus erlebte sie jedoch, daß manche Häftlinge diesen Zucker umgehend in Brot tauschten, welches sie auf der Stelle aufaßen, was nicht wenige Fälle von Darmverschlingungen zur Folge hatte.33 Im Verlauf der folgenden Jahre wechselte Kersnovskaja immer wieder zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Nach längeren Arbeitsphasen im Lagerkrankenhaus 28 Ebd., 11 us, 12. 29 Ebd., 12us. 30 Ebd., 15. 31 Kersnovskaja, 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd., S. 59.
Skol'ko stoit celovek, Bd. IV, S. 17.
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
und in der Zentralen Leichenhalle wurde sie im Frühjahr 1948 auf eigenen Wunsch in eines der Kohlebergwerke verlegt. Dort arbeiteten noch etwa 200 bis 240 andere Frauen, die gegenüber ihren männlichen Kollegen allerdings deutlich in der Minderzahl waren. 34 Die Häftlingsarbeiter im Bergwerk hatten nur zwei- bis dreimal monatlich Zugang zum Waschraum und mußten sich zudem ständig in ihrer Arbeitskleidung bewegen. Nur wenige besonders produktive Arbeiter (otlicniki) konnten auf Antrag der Produktionsverwaltung eine zweite Garnitur Kleidungsstücke erhalten. Bessergestellt waren die Ingenieure, Mechaniker und Markscheider unter den Gefangenen - sie durften den separaten Waschraum der Zivilbeschäftigten mitbenutzen.35 Daneben gab es einen weiteren, weniger gut ausgestatteten Waschraum, der für die besten Bohrhauer und Stempelsetzer vorgesehen war. Nun gehörten jeder der täglichen drei Schichten jeweils ein Bohrhauer und zwei Stempelsetzer an, doch waren für erstere insgesamt nur zwei und für letztere nur vier Gutscheine vorgesehen. Die Angehörigen der schwächsten Schicht gingen daher leer aus und mußten wie alle anderen Häftlinge ungewaschen ins Lager zurückkehren. Offensichtlich sollte diese Regelung zu höheren Leistungen anspornen, doch konnte sie auch dazu verleiten, die Arbeit nicht nur rascher, sondern auch nachlässiger zu verrichten. Im Falle der Stempelsetzer konnte dies dazu führen, daß die von ihnen errichtete Decke schon während der darauffolgenden Schicht einstürzte. Solcherart konnten die Folgen sein, kommentiert Kersnovskaja mit einem gewissen Sarkasmus, wenn unter den lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen unter Tage ein Kampf um zusätzliche 150-200 g Brot und das Vorrecht zum Waschen organisiert wurde. 36 Generell ließ die Direktion es beim Treffen von Sicherheitsvorkehrungen oft an Sorgfalt mangeln, wovon mehrere kritische Situationen und Unfälle zeugen, die Kersnovskaja selbst erlebte. 37 Und obgleich sie niemals zuvor in einem Bergwerk gearbeitet hatte, war die „Instruktion", die sie am ersten Arbeitstag von einem Steiger erhielt, kaum dazu angetan, sie über Besonderheiten und Gefahren der Arbeit unter Tage aufzuklären: „,Gehen wir ins Instruktionszimmer/ Mit schleppenden Schritten ging er voran in den nahegelegenen Schuppen, die mechanische Werkstatt. Dort nahm er ein Buch aus dem Schrank, notierte meinen Namen und sagte: ,Unterschreibe!' Das bedeutete, daß ich die Instruktion durchlaufen hatte. Danach erhielt ich eine Akkumulatorlampe, und nun war ich ein Bergmann." 38
Von ihrem eigentlichen Arbeitsalltag, den sie im Winter 1949 mit knapp jedem zehnten arbeitenden Häftling im Norilsker Lager teilte (5.452 von insgesamt 34 35 36 37 38
Ebd., S. 279 ff., ebd., Bd. V, S. 34, 111. Ebd., Bd. V, S. 13 f. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 219 f. Ebd., S. 18 f. Kersnovskaja benutzt hier die männliche Berufsbezeichnung (sachter).
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56.836 Zwangsarbeitern waren zu diesem Zeitpunkt in Kohleschächten beschäftigt 39 ), liefert Kersnovskaja folgende knappe Schilderung: „Ich arbeite. Rhythmisch bücke ich mich, fasse mit der großen (40 χ 60 cm) Schaufel Kohle, richte mich auf, helfe mit dem Knie nach und schleudere sie, so weit ich kann. Ich bin müde. Todmüde. Mein Rücken und meine Hände brennen, die Lippen und selbst meine Zunge sind ausgetrocknet." 40 Obwohl Kersnovskaja an der Härte ihrer Zwangsarbeit keinen Zweifel läßt, klingt an anderer Stelle in ihren Aufzeichnungen ein gewisser Stolz über ihre Leistung (und möglicherweise über ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihr Beharrungsvermögen) an, so etwa in der Aussage: „nach vier Jahren 41 war ich ein echter Bergmann geworden." Auch sah sie in der ab dem Jahre 1950 bestehenden Möglichkeit, Arbeitstaggutschriften zu erwerben, einen großen Vorteil: „So, wie ich arbeitete, konnte man dort die Haftzeit verkürzen [ . . . ] Für einen abgeleisteten Arbeitstag wurden drei Tage gutgeschrieben." 42 Freilich waren manche Arbeitsbereiche hinsichtlich der Gewährung von Anreizen benachteiligt, so etwa der Stollenvortrieb zur Erschließung und Vorbereitung künftiger Abbaufelder. Obgleich von dieser Arbeit die künftige Planerfüllung abhing, konnten die dort beschäftigten Bergleute selbst bei hoher Arbeitsleistung keine erhöhten Essensrationen verdienen. 43 Anfang Juli 1951 bewahrte Kersnovskaja durch rasches Eingreifen zwei Mitgefangene vor einem schweren Arbeitsunfall, wofür sie vom Leiter des Schachts belobigt wurde und eine Prämie von 100 Rubel erhalten sollte. Hiervon erfuhr sie erst, nachdem sie wenig später gemeinsam mit allen anderen dort arbeitenden Frauen aus dem Bergwerk entfernt und in eine andere Lagerabteilung verlegt worden war, deren Leiter ihr nicht wohlgesonnen war. In dieser Situation eine offizielle Belobigung ausgesprochen zu bekommen, bedeutete für Kersnovskaja eine immense Befriedigung. „Übrigens, meine Prämie - hundert Rubel - bekam ich nie zu Gesicht. Doch hatte das auch nur irgendeine Bedeutung?"44 In der neuen Lagerabteilung mußte sie in Ermangelung anderer Beschäftigungen vorübergehend Ziegelsteine von einem Ort zum anderen schleppen, was sie als zutiefst demotivierend empfand. 45 Nach einer erneuten kurzen Tätigkeitsphase im Lagerkrankenhaus wurde sie bald darauf der Eisenbahn des Kombinates zugeteilt: „Das war eine schwere und sehr undankbare Arbeit. Für die Eisenbahn gibt es keine zertifizierten [aufgrund der Witterungsbedingungen arbeitsfreien - S. E.] Tage. Im Gegenteil, 39 GARF. R-9414.ld.472: 3. 40 Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 43 f. 41 Tatsächlich arbeitete Kersnovskaja laut den Daten, die sie an anderer Stelle für den Beginn und das Ende ihrer Arbeit im Kohlebergwerk liefert, nur etwas länger als drei Jahre dort. 42 Ebd., S. 213. 43 Ebd., S. 214. 44 Ebd., S. 219 f., 222 f. 45 Ebd., S. 224 f.
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
je bösartiger die Schneestürme, je mehr Schnee lag, desto anstrengender war die Arbeit das Auf- und Umstellen von Schutzwänden, das Freiräumen der Strecke... Und dann das Eishacken! Im Süden denken die Leute, daß Eis etwas Zerbrechliches ist: Ein Schlag und es zerbricht in Stücke. Doch bei Frosttemperaturen von 50-55 Grad ist das Eis so hart wie Eisen. Wenn es gerade keine Schneeverwehungen gab, wurden wir gezwungen, das Eis in den Baugruben aufzuhacken. Die Normen für alle Arten von Arbeiten waren grauenhaft. Der, der diese ,Normen' aufgestellt hat, hatte keine Vorstellung davon, was echter Frost bedeutet."46
Lockeren Schnee mußten die Frauen in Kersnovskajas Brigade auf Schlitten laden und 40 Meter weit transportieren - 220 Kubikmeter pro Person und Schicht. Für das Loshacken von Eis in Baugruben, das zudem in drei Arbeitsschritten aus der Grube hinausbefördert werden mußte, betrug die Tagesnorm 11 Kubikmeter. „Hacke und Brecheisen [ . . . ] rutschen entweder ab oder bleiben stecken, und selbst einen Splitter herauszubrechen ist äußerst schwer, von 11 Kubikmetern gar nicht zu sprechen. Die Norm zu erfüllen war unmöglich. Und das bedeutet die Hungerration, was bei solchem Frost besonders quälend ist." Ironischerweise brauchten sich die Gefangenen um die Normerfüllung nicht zu sorgen, wenn sie unter erschwerten Bedingungen arbeiten mußten - nachts oder während eines Schneesturms. In solchen Fällen, so Kersnovskaja, war eine Überprüfung der Arbeitsergebnisse unmöglich - man konnte sich „die Zahlen aus der Luft greifen." 47 „Die allerschwerste, zugleich aber gutbezahlte (bis zu 900 g Brot!) Arbeit," berichtet Kersnovskaja weiter, „war allerdings das Auswechseln von vor Kälte gebrochenen Gleisen [ . . . ] Wie oft mußten wir in Eile beim Herannahen eines Zuges die Schienen von der Draisine weifen und die Draisine selbst aus dem Gleis heben, um sie danach erneut aufzugleisen und mit den Schienen zu beladen! Der laufende Meter Schiene wog 32 kg." 4 8 Trotz der Schwere solcher Arbeiten, die als Hilfsarbeiten (podsobnye raboty) galten, bemühten sich die Frauen in Kersnovskajas Brigade nach Kräften, gute Ergebnisse zu erzielen: „Man muß sich beeilen, für jeden Stillstand der Waggons bezahlt die [gesamte] Brigade. Jede Minute Stillstand bedeutet eine Kürzung der Ration. Und von ihr hängt schließlich unser Leben ab. Außerdem hängen von der Beurteilung unserer Arbeit die Arbeitstaggutschriften ab, was gleichbedeutend ist mit der Nähe der Freiheit." 49 Roberts Gabris, ein Offizier der lettischen Armee, war bald nach der Besetzung der baltischen Staaten durch die Rote Armee im Jahre 1940 interniert und zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Herbst 1941 traf er gemeinsam mit einem ganzen Kontingent baltischer Offiziere in Norilsk ein, wo er in der Lagerabteilung Nr. 7 untergebracht wurde. Während seines Lageraufenthaltes 46 47 48 49
Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
242. 242 f. 243 f. 265.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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wurde er mehrfach über längere Zeit zu verschiedenen Arten „Allgemeiner Arbeiten" eingesetzt. „Wir wurden in Brigaden von 40 bis 50 Mann aufgeteilt [ . . . ] Wir reparierten die Böden [der Baracken - S.E.] und die Pritschen und setzten einen Ziegelofen. Es gab keinen Strom im Lager. Statt dessen benutzten wir Kerosinlampen. Ringsum errichteten wir einen Stacheldrahtzaun. Dann erhielten wir einiges an Arbeitskleidung und Bettzeug [ . . . ] Unsere erste Aufgabe bestand darin, eine Lehmgrube für das kommende Jahr vorzubereiten. Zunächst entfernten wir sämtliche Sträucher und die Grasnarbe. [ . . . ] Dergestalt vorbereiteter Boden taute in den Sommermonaten besser auf, bis zu einer Tiefe von fast ein bis eineinhalb Metern. [ . . . ] Als Arbeitsgeräte erhielten wir Schubkarren, Bohlen und benutzte Schaufeln. Und was für Schaufeln! Zuvor waren sie zum Schippen von Steinen benutzt worden, so daß sie nun extrem stumpf waren. Wir fragten unseren Vorarbeiter nach jemandem, der sie schärfen könne, doch dieser hielt eine passende Antwort bereit: ,Ein echter sowjetischer Arbeiter kann auch mit einer stumpfen Schaufel die Grasnarbe stechen.'" 50
Ab Februar 1943 mußte Gabris selbst in einer Lehmgrube arbeiten, was er zunächst als verhältnismäßig erträglich erlebte. „Der Lehm wurde mit Loren abtransportiert. Unsere Aufgabe war es, ihn zu den Loren zu befördern und diese zur Gießerei zu schieben. Solange der Lehm gefroren war, ging die Beladung sehr einfach vonstatten. Wir waren in der Lage, die geforderte Norm zu erfüllen [ . . . 1 Später im Frühjahr, wenn der Lehm weich wurde, war er aufgrund seiner Klebrigkeit wesentlich schwieriger zu handhaben. Wir waren oft gezwungen, die Arbeit zu unterbrechen, um unsere Schaufeln zu reinigen [ . . . ] Der Sommer 1943 war sehr warm und der Lehm taute bis zu einer Rekordtiefe auf. [ . . . ] Wenn die Loren eintrafen, beeilten wir uns, sie so schnell wie möglich zu beladen, denn unsere Essensration hing von der Geschwindigkeit ab, mit der wir jede Lore beluden. Wenn wir dies in 15 Minuten schafften [ . . . 1 konnten wir eine Pause machen, bis die nächste Lore ankam. Manchmal kam ein hinkender Vorarbeiter des Weges, um uns zu überprüfen. Er sah uns sonnenbaden, lächelte, sagte ein, zwei höfliche Worte und hinkte weiter. Eigentlich konnte man das Arbeiten in der Lehmgrube keine Knochenarbeit nennen. So schien es mir jedenfalls damals."51
Diese Situation änderte sich allerdings, je tiefer die Lehmgrube wurde, denn „die Schienen und Loren blieben auf dem ursprünglichen Niveau. [ . . . ] Die Lorenbeladung erforderte nun zwei Schritte. Zunächst häuften wir den Lehm am Rand der Grube auf. Sobald der Lorenzug ankam, ließen wir alles stehen und liegen und rannten hinüber, um ihn zu beladen. [ . . . ] Jeder gab sein Bestes, um die Loren schnell zu beladen, denn der langsamste Arbeiter bekam nur die Garantie-Ration [die niedrigste Ration - S. E.] Jeder, der ständig die Garantie bekam, war bald außerstande, jegliche Arbeitsquote zu erfüllen. Rotgesichtig und laut schreiend rannten der Chef der Lehmgrube und unser Brigadier herum und gaben uns den schlauen Rat, mehr Lehm am Grubenrand aufzuhäufen, dann könne das erforderliche Ladetempo erreicht werden. Selbst unser ansonsten gelassener Vorarbeiter hinkte herum und schrie uns an: ,Zum Teufel, warum arbeitet ihr Kerle 50 Gabris, Norilsk - Baltic Katyn, S. 58. 51 Ebd., S. 123.
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nicht? Als Zeit dazu war, erlaubte ich euch, euch zu sonnen, jetzt ist es Zeit, schneller zu arbeiten!"' 52 Nachdem Gabris zwischenzeitlich als Brotträger und Bediensteter in einer Baracke von Schuhmachern und Schneidern gearbeitet hatte, wo er seine physischen Kräfte regenerieren konnte, wurde er i m Jahre 1948 einer Brigade in einem Kalkbergwerk zugeteilt. „Die Abbauarbeiten fanden in etwa einhundert Meter Tiefe statt. Unter Tage war die Temperatur konstant, gerade ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Zum Abbau des Kalksteins wurde Sprengstoff verwendet. Die durch die Explosion gewonnenen Brocken wurden von Hand gesammelt und in Loren verladen. Mehrere Loren wurden dann zusammengekuppelt und von einer Lokomotive zur Fabrik befördert. Die leeren Loren wurden an der Zugbildungsstelle wieder entgegengenommen und mit Muskelkraft zurück vor Ort gebracht. Dabei entgleisten sie oft. Um sie wieder aufzugleisen, wurden einfache Holzbalken als Hebel benutzt, was mit einer großen Kraftanstrengung verbunden war und wobei viel kostbare Zeit verlorenging, doch die Quote mußte erfüllt werden [ . . . ] Die Beleuchtung unter Tage war außerordentlich schlecht und wurde schwächer, je tiefer man kam. Oft waren die Schienen vom Ort der Sprengung entfernt. In diesem Fall mußten die Felsbrocken von Hand zu den Loren transportiert werden. Kleine Stücke mit der Schaufel aufzunehmen war fast unmöglich, da der Kalksteinboden unglaublich zerklüftet war." 53 Boris Vitman, der i m Sommer 1948 ins Norilsker Lager gelangte, gewährt Einblicke in die Arbeit der Häftlinge der Lagerabteilung in Dudinka zu dieser Zeit. Einerseits genossen deren Insassen gewisse Vorzüge: „ B e i der Entladung der Flußund Ozeandampfer fiel immer mal wieder etwas für die Gefangenen ab, deshalb war die zerstörerische Abhängigkeit von der Brotration und der Schöpfkelle Lagersuppe nicht so gravierend." 5 4 Andererseits mußten viele von ihnen Arbeiten verrichten, die nicht nur anstrengend, sondern auch äußerst gefährlich waren: „Die Brigade, in die es mich verschlug, war mit der Anlandung von Holzflößen beschäftigt [ . . . ] Dieses Holz, das von Gefangenen in der sibirischen Taiga geschlagen worden war, erreichte über zahlreiche Zuflüsse den Enisej. Auf dem Fluß schwamm es in großen Flößen weiter nach Norden, nach Igarka und Dudinka. Im Hafen wurden die Flöße aufgelöst und mit Bootshaken an dem relativ steilen Ufer an Land gezogen. Diese Arbeit setzte beträchtliche Körperkraft, Gewandtheit und Geschicklichkeit voraus. Die dicken, umfänglichen Stämme, schwer vom Wasser [mit dem sie sich vollgesogen hatten S. E.], rissen sich oft los und rutschten [das Ufer] hinab. Schafft man es [dann] nicht, fortzuspringen, wird man im besten Falle verkrüppelt. Diese Arbeit galt als die schwerste und gefährlichste. [ . . . ] Geschwächt von den Verhören in Lefortovo [Name eines Moskauer Gefängnisses] und von den Etappen, hatte ich nicht die Kraft zur Verrichtung dieser Arbeit. Zudem begann bei mir nun auch noch der Skorbut. Auf dem Körper bildeten sich dunkellilafarbene Flecken, die Füße und Hände schwollen an, und meine Reaktion verlangsamte sich. Und erneut [hatte ich] ein gewisses Glück. Der Stamm, der auf mich 52 Ebd., S. 124. 53 Ebd., S. 180 f. 54
Boris V. Vitman: Spion, kotoromu izmenila Rodina, Kazan': Elko-S, 1993, S. 238.
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fiel, war nicht besonders dick... Gerade mal einen Monat lag ich [danach] in der Sanitätsabteilung"55
- in der es Vitman gelang, Kontakte zu knüpfen, die ihm zu einer ungefährlicheren Arbeit verhalfen. Rygor Klimovic, ,politischer' Häftling in der 4. Lagerabteilung des Norilsker Lagers, mußte im Winter 1948/49 eine Brigade, die fast vollständig aus Bühnenkünstlern und Intellektuellen bestand, bei der Verrichtung „Allgemeiner Arbeiten" anleiten. Die Aufgabe bestand im Ausheben von Baugruben für das Fundament der neu zu errichtenden Kupferfabrik. Die Gruben mußten bis auf den gewachsenen Fels reichen, der etwa 25 Meter unter der Erdoberfläche lag. Außer Brechstangen und Spitzhacken standen keinerlei Hilfsmittel zur Verfügung. Insgesamt waren auf der Baustelle 64 Brigaden im Einsatz, was einer Zahl von etwa zweitausend Zwangsarbeitern entsprach. 56 Für sie alle gab es nur ein einziges Holzgebäude, in dem sie sich aufwärmen konnten: „dort war für nicht mehr als fünf Brigaden gleichzeitig Platz, und die [insgesamt fünf S. E.] Vorarbeiter benutzten es als materiellen Anreiz für den Arbeitswettbewerb, indem sie bloß denjenigen Brigaden erlaubten, sich zu wärmen, die in diesem Wettbewerb die besten Ergebnisse aufwiesen [ . . . ] Unter diesen Bedingungen hatte unsere Brigade keine Chance [, Zutritt zu dieser Baracke zu erlangen] [ . . . ] Wir waren gezwungen, den ganzen Tag im Frost zu verbringen und hackten, von ihm durchdrungen, mit unseren letzten Kräften [den Boden auf], so daß der ganze Körper von dumpfem Schmerz ächzte. Unsere Kräfte schwanden von Tag zu Tag. Mit jedem Tag wurde das Brecheisen schwerer, der Dauerfrostboden unnachgiebiger, unsere Arbeitsleistung geringer und unser Stück Brot kleiner. Die Mitglieder meiner Brigade wurden immer ungehaltener, jähzorniger, bösartiger [ . . . ] Von unserer früheren Eintracht verblieben nicht einmal mehr Erinnerungen [ . . . ] und das Gesetz der Taiga entfaltete seine Wirkung:,Stirb heute du, ich [sterbe] morgen 4 ." 57
Die Versuche Klimovics, die Mitglieder seiner Brigade zu Friedfertigkeit und solidarischem Handeln zu bewegen, fielen auf unfruchtbaren Boden, während unterdessen die Lagerabteilung dem neugegründeten Speziallager eingegliedert wurde und sich das Regime entsprechend verschärfte. Unter verschärften Haft- und Arbeitsbedingungen mußte auch Nina Odolinskaja schwere Zwangsarbeit verrichten. Ihr Schicksal teilte sie mit zahlreichen anderen ukrainischen Frauen, die gleich ihr als Katorga-Strafgefangene im Jahre 1945 in Norilsk eintrafen. In ihrer Lagerabteilung, deren Insassen den Norilsker Flughafen bauen mußten, bestanden die Häftlingsunterkünfte aus Zelten, die über dem nackten Tundraboden aufgeschlagen worden waren. 58 Beständiger Mangel herrschte an Wasser: Es mußte im Sommer in Fässern mühsam aus einem nahegelegenen Bach herangeschafft und im Winter aus Schnee gewonnen werden. Ein Waschraum 55 E b d .
56 Klimovic, Konec Gorlaga, S. 50 f. 57 Ebd., S. 50 ff. 58 Odolinskaja, Sovetskie katorzanki, AMCM. 2.2.66: 26-27.
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
wurde erst wesentlich später errichtet. 59 Obgleich die Zelte im Winter von außen mit Schnee abgedichtet und ununterbrochen beheizt wurden, war der Kälteschutz mangelhaft: Auf dem Boden und in den Ecken bildete sich Eis, und auf den unteren Pritschen froren den Schlafenden die Haare an der Zeltwand fest. 60 Einer Quarantäne wurden die Katorga-Häftlinge vor Beginn der Zwangsarbeit nicht unterzogen: „Zwei Tage nach unserer Ankunft führte man uns [ . . . ] aus dem Wohnbereich [des Lagers] heraus und in die umzäunten Arbeitszonen hinein, unterteilte uns in Brigaden, bestimmte die Brigadiere und befahl uns, zu arbeiten. An einer Stelle mußte man Grund ausheben, mit Schubkarren an eine andere Stelle befördern und dort auf eine Halde kippen - so stand ihnen [den Brigaden] bevor, das Gelände für die [ . . . ] Startbahnen des zukünftigen Norilsker Flughafens einzuebnen. Die Schubkarren waren aus Holz, quietschend und schwer, wie aus dem vergangenen Jahrhundert." 61
Die Arbeit selbst charakterisiert Odolinskaja als „hart, unproduktiv, oft sinnlos und nicht die geringste Befriedigung bereitend." 62 Nach dem ersten Jahr verblieben beim Bau des Flughafens ausschließlich Frauen, denn unter den dort herrschenden Bedingungen „kamen während des ersten Jahres 1945-46 viele männliche Katorga-Häftlinge um. Besonders hoch war die Sterblichkeit unter den Balten. Sie starben an Erschöpfung, an Krankheiten, erfroren. Dafür erwiesen sich die Frauen als überlebensfähig[er]". 63 Doch auch ihnen fiel die zwölfstündige Arbeit mit Brecheisen, Schaufel und Schubkarre alles andere als leicht. 64 Im Winter trug dazu auch die extreme Kälte bei. Zwar existierten an den Arbeitsstellen einzelne hölzerne Buden mit Öfen, in denen man sich aufwärmen konnte, doch blieben sie für die Gefangenen bis zur Mittagspause verschlossen. Eine Folge der langen, harten Arbeit war nicht zuletzt permanente Übermüdung: „nach dem Abendessen legten sich alle vor Müdigkeit sofort schlafen. Für den Zapfenstreich bestand keine Notwendigkeit - lange vor dem Signal schliefen schon alle. Und die Nacht erschien äußerst kurz." 65 Verpflegt wurden die Häftlinge laut Odolinskaja zweimal täglich, morgens und abends. Im einzelnen bedeutete dies: „Morgens eine Kelle Lagersuppe, 200 g Grütze, 10 g Zucker, 100 g Fisch, Tee, 10 g Pflanzenöl zur Grütze. Abends das gleiche, allerdings 47 g Fleisch anstatt des Fischs." Außerdem erhielten alle 59 Ebd., 27. 60 Ebd., 33. 61 Ebd., 27. 62 Ebd., 30. 63 Ebd., 28. Auch Evfrosinija Kersnovskaja registrierte eine erhöhte Sterblichkeit unter Häftlingen aus dem Baltikum: „Sie waren an eine proteinreiche Ernährung gewöhnt, an Fleisch und Milch. Für sie bedeutete die Lagerration den Tod." (Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. IV, S. 143). 64 Odolinskaja, Sovetskie katorzanki, AMCM. 2.2.66: 29. 65 Ebd., 32.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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nicht arbeitenden Häftlinge 400 g Brot, arbeitende dagegen 600 bis 900 g sowie zusätzliche 200 bis 400 g Grütze. 66 Unter normalen Umständen hätte Nina Odolinskaja diese Versorgung, zumindest im Vergleich zur Lage der ausgehungerten Nachkriegsbevölkerung, als „nicht gerade schlecht" eingestuft. Allerdings, betont sie, waren die Rationen der schweren Arbeit und dem damit verbundenen erhöhten Energieverbrauch der Häftlinge völlig unangemessen. Auch waren die Nahrungsmittel oft von minderer Qualität 67 , und wenngleich sie den gefangenen Frauen in ihrer Mehrzahl das Überleben ermöglichten, war doch Hunger eine permanente Erfahrung. Eine Reihe von Frauen verleitete er gar zu Verzweiflungstaten, etwa der Benutzung entwendeten Flugzeugmotorenöls zur Essenszubereitung, was ernsthafte Vergiftungen zur Folge hatte.68 Das begehrteste Gut im Lager war daher Brot, das zugleich die Funktion einer universellen Währung erlangte. 69 Odolinskajas bescheidener, doch unerfüllter Traum bestand zu jener Zeit darin, sich einmal alleine von diesem Brot satt zu essen. Dennoch benennt sie im nachhinein weder den Hunger noch die aufzehrende Arbeit oder die Kälte als schlimmste ihrer Lagererfahrungen: „Viel schlimmer war das Ungeziefer" - Läuse und Wanzen, die die Häftlinge quälten und gegen die kein Mittel half. 70 Nach der Fertigstellung des Flughafens wurde Odolinskaja gemeinsam mit den übrigen Katorga-Häftlingen in eine Lagerabteilung in Norilsk verlegt. Auch dort mußte sie in Sand- und Tongruben schwere körperliche Arbeit verrichten. 71 Zu Beginn des Jahres 1949 wurde den Katorga-Häftlingen verkündet, daß ein Teil von ihnen in das neugegründete Speziallager Nr. 2 verlegt werde. Nach Odolinskajas Darstellung bedeutete das für diejenigen, die im Norilsker Lager verbleiben würden, daß sie fortan keine Nummern mehr auf der Kleidung tragen müßten, leichtere Arbeit in den Fabriken des Kombinates zugewiesen bekämen und Prämienzahlungen empfangen würden. Für die ins Speziallager verlegten katorzniki blieb hingegen alles beim alten. Nach langen, quälenden Tagen des Wartens erfuhr Odolinskaja, daß sie den Weg ins Speziallager antreten mußte.72 In der Sechsten Lagerabteilung war dort für die Katorga-Häftlinge eine besondere Zone abgetrennt, doch bald scherte sich darum niemand mehr, so daß es tagsüber möglich war, Kontakte mit den übrigen gefangenen Frauen zu knüpfen. 73 66 Ebd., 30. 67 Ebd., 31. 68 Ebd., 68 f. 69 Ebd., 31. In anderen Schilderungen des Lageralltags wird neben Brot auch Tabak diese Rolle zugeschrieben. So erinnert sich etwa Roberts Gabris: „In our camp, bread was considered as precious as silver, but tobacco was even more precious. We equated it to gold. This was our form of exchange system." (Gabris , Norilsk - Baltic Katyn, S. 108). 70 Odolinskaja, Sovetskie katorzanki, AMCM. 2.2.66: 31. 71 Ebd., 70, 89-91. 72 Ebd., 80. 73 Ebd., 87.
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
Im Speziallager setzten sich für Odolinskaja die schweren Sandarbeiten fort. Gearbeitet wurde auch an Feiertagen, und anders als zuvor im Norilsker Lager, wo bei zertifiziertem Wetter auch die Arbeit von Katorga-Häftlingen eingestellt worden war 74 , mußte sie nun bei jeder Witterung und Temperatur unter freiem Himmel arbeiten. 75 Trotz der erschwerten Arbeitsbedingungen zeigte das grundlegende Anreizsystem der leistungsabhängigen Rationsbemessung auch im Speziallager Wirkung: „Tatsächlich erlaubte es das System nicht, wenig zu arbeiten. Die Brigade erhielt eine erhöhte Ration für die Erfüllung [der Produktionsnorm]. Bei Übererfüllung gab es noch etwas Brot und Grütze zusätzlich. Und jeder, der schwächere Arbeitsresultate lieferte, wurde zu einer unerwünschten Person aus Sicht derjenigen, die gewissenhaft arbeiteten in dem Bestreben, diese Ration zu erlangen." 76
Nach mehreren Jahren Arbeit im Speziallager wurde Odolinskaja im Winter 1951/52 schließlich einer Brigade von Arbeiterinnen mit geschwächtem Gesundheitszustand zugewiesen, der hauptsächlich Frauen mit Herz- und Kreislaufproblemen und Atemwegserkrankungen angehörten. Odolinskaja verdankte ihre Versetzung freilich ihrer starken Kurzsichtigkeit. Wie sich jedoch bald herausstellte, fiel ihr die Arbeit in dieser Brigade nicht wesentlich leichter. Brigaden, die „reguläre", planmäßige Arbeiten verrichteten, hatten ihrer Ansicht nach den Vorzug, daß dort ein geregelter Arbeitsrhythmus herrschte. Auch konnten die Häftlinge dort höhere Verpflegungsrationen sowie geringfügige monetäre Prämien erhalten und wurden bei der Versorgung mit Ausrüstung und Unterkünften bevorzugt. Beides galt nach Odolinskajas Erfahrung nicht für Brigaden, die „leichtere" Arbeiten verrichteten: „Ihr Arbeitstag dauerte länger, und sie mußten die unterschiedlichsten Arbeiten erledigen. Hauptsächlich war dies Abraumförderung. Denn um Sand aus der Grube zu gewinnen, muß man zunächst die oberste Schicht Gesträuch, Gräser und Torf abtragen und fortschaffen, in der Regel mit Schubkarren. [ . . . ] Im Winter steht [hingegen] der endlose Kampf mit dem Schnee an, die Verlegung von Gleisen für Loren und jede Menge anderer Aufgaben. Diese Brigaden erledigten, was gerade anfiel. Und teilweise mußten sie härter arbeiten als [reguläre] Be- und Entladebrigaden." 77
Jan Minorovic ist ein weiterer ehemaliger Häftling des Speziallagers Nr. 2, der Erinnerungen hinterlassen hat. Im Herbst 1948 gelangte er in die 1. Lagerabteilung, deren Insassen mit der Gewinnung von Nickelerzen im Tagebauverfahren beschäftigt waren. 74 Ebd., 33. 75 Ebd., 91. 76 Ebd., 104. Die Verwendung des Adverbs dobrosovestno (gewissenhaft, wörtlich: guten Gewissens) - anstelle eines wertneutraleren Ausdrucks wie etwa „unter Einsatz aller Kräfte" - läßt vermuten, daß die Erfüllung der Zwangsarbeit für Odolinskaja eine moralische Konnotation besaß. Ob diese in ihrem persönlichen Arbeitsethos oder aber in der erzwungenen Mitverantwortung für andere Brigademitglieder begründet war, muß allerdings offenbleiben. 77 Ebd., 133-134.
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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„Ich wurde einer Brigade zugeteilt, die Eisenbahngleise auf einen Berg hinauf legen mußte [ . . . ] Die Arbeit war sehr hart [ . . . ] Zu dieser Zeit begann die Polarnacht, der Wind blies mit einer Geschwindigkeit von bis zu 25 Metern pro Sekunde [ . . . ] Warm angezogen waren wir, doch was hilft das, wenn die Ernährung nicht die Kräfte wiederherstellt, die bei schwerer Arbeit unter harten klimatischen Bedingungen verbraucht werden? Die Kräfte meines Organismus gingen zur Neige. Dank eines Bekannten [ . . . ] gelang es mir, in eine Brigade zu kommen, die ,dochodjagi' genannt wurde. In ihr befanden sich jene, die die erschöpfende Arbeit und Unterernährung an den Rand der dystrophischen Auszehrung gebracht hatte.78 Diese Brigade erhielt Nahrungsrationen mit erhöhtem Kaloriengehalt und wurde zu leichteren Arbeiten eingesetzt."79 Ein anderer Häftling derselben Lagerabteilung des Speziallagers, Jan Grodzidskij, wurde in der Kohleförderung eingesetzt, was er i m Vergleich zu anderen Einsatzbereichen als leichteres Schicksal empfand: „Ich hatte Glück: Ich arbeitete im Kohleschacht, mir war nicht so kalt wie denen, die beim Bau von Norilsk oder des Kombinates arbeiteten. Und uns war es egal, ob über Tage Tag war oder Nacht. Ich leistete gute Arbeit, wurde bald Brigadier, absolvierte bergmännischtechnische Kurse und wurde Bergbaumeister. Ständig war ich Sieger in allen möglichen sozialistischen Wettbewerben [ . . . ] Wir arbeiteten von früh bis spät, jeweils 12 Stunden. Jeden Abend um 20:00 Uhr war Kontrolle, dann wurden wir bis zum nächsten Morgen [in der Baracke] eingeschlossen."80 Wenngleich Grodzidskij andere Härten des Lageralltags nicht verschweigt, treten in seiner Schilderung die harten Arbeitsbedingungen als solche weniger pointiert hervor als in den vorangegangenen Berichten. Tatsächlich gibt es auch vereinzelte Selbstzeugnisse ehemaliger Gefangener des Norilsker Lagers (aus der Gruppe derer, die körperliche Arbeit leisten mußten - für Erinnerungen von Häftlingen, die administrative Tätigkeiten ausübten, gilt dies um so mehr 8 1 ), die kein einseitig negatives B i l d von der Lagerarbeit zeichnen. Ein Beispiel hierfür ist Zachar Ravdel', der i m Jahre 1939 i m Norilsker Lager eintraf. Seine fünfundzwanzigköpfige Brigade, der er selbst vorstand, hatte zunächst die Aufgabe, Baracken und sonstige Gebäude zu errichten. Zu jener Zeit galt in seiner Lagerabteilung ein 78
Der Begriff dochodjaga (Plural: -/) war im stalinistischen Lagersystem weithin bekannt (. Rossi , Spravocnik po Gulagu, S. 105). Er war, wie von Minorovic beschrieben, auf Häftlinge gemünzt, die sich in einem körperlichen Zustand befanden, der möglicherweise annähernd mit dem von jenen Gefangenen deutscher Konzentrationslager verglichen werden kann, die von ihren Mithäftlingen gelegentlich als „Muselmänner" bezeichnet wurden. Allerdings nennen weder Rossi noch Minorovic die völlige Apathie, die neben dem körperlichen Verfall für letztere als kennzeichnend galt, als notwendiges Kriterium für die Verwendung der Bezeichnung dochodjaga. 79 Minorovic, Uznik Gorlaga. 80 O. L. Podborskaja: Malo, ctoby zit'. Mnogo, ctoby umeret'... , in: Podborskaja, Noril'skaja Golgofa, S. 148-152, hier: S. 150 f. 81 Beispiele hierfür sind etwa die Erinnerungen von Pavel Ceburkin und Pëtr Sagojan, die als Arzt bzw. als Sanitäter in Lagerkrankenhäusern arbeiteten (Ceburkin, Erinnerungen (O.T.), AMCM. 2.1.125; Sagojan, 1937 god ν moej zizni, AMCM. 2.1.104). 14 Ertz
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E. Zwangsarbeit in Norilsk aus der Sicht ehemaliger Häftlinge
zehnstündiger Arbeitstag von 8 bis 19 Uhr mit einstündiger Mittagspause.82 Erst danach wurde mit dem Auffahren und der Ausbeutung von Kohlestollen begonnen, in denen in zwei Elf-Stunden-Schichten gearbeitet wurde. 83 Die Temperatur in den Stollen, die in den „Smidt-Berg" hineingetrieben wurden 84 , betrug konstant zwischen -3 und -5°C. Im Sommer führte dies zu hoher Feuchtigkeit und permanenter Kondensation, was unter den Arbeitern fortwährend Erkältungen hervorrief. Im Winter hingegen, wenn es im Freien wesentlich kälter war als unter Tage, war die Arbeit im Berg sehr begehrt. Nun finden sich in Ravdel's Erinnerungen zwar durchaus Beschreibungen der Härte der Arbeit. Auch schildert er einen Unfall, der offensichtlich durch unzureichende Sicherheitsvorkehrungen verursacht worden war und nur dank glücklicher Umstände keine Opfer forderte. 85 Andererseits berichtet er mit Stolz von den überdurchschnittlichen produktiven Leistungen seiner Brigade, die ihr viele Privilegien einbrachten: „Wir standen ständig auf der Roten Tafel, erhielten zusätzliche Nahrungsrationen, bessere Ausrüstung, das [unbeschränkte86 - S. E.] Recht, Lebensmittel im Lagergeschäft zu kaufen und Briefe zu empfangen, und eine Reihe anderer Vergünstigungen, die für die besten Brigaden galten." 87 Zwar beschreibt Ravdel' das Auftreten von Skorbut infolge einseitiger Ernährung, doch erwies sich nach seiner Darstellung der dagegen verabreichte übelschmeckende Aufguß als recht effektiv, sofern die Häftlinge ihn denn tatsächlich einnahmen.88 Eine weitere Erfahrung des Lagerlebens war freilich die allgegenwärtige Korruption des Lagerpersonals: „Mitarbeiter der URC [Registrierungs- und Verteilungsstelle der Häftlinge - S. E.] nahmen [Bestechungsgelder] als Gegenleistung für die Verlegung zu einer anderen Arbeit, Häftlingsärzte aus den Reihen der Kriminellen für Arbeitsbefreiungen, Wachtruppen für die Gelegenheit, ein wenig am Lagerfeuer zu sitzen und nicht zu arbeiten, Köche für eine zusätzliche Portion Lagersuppe, kurzum, jeder für was er wollte und konnte. Fast unser gesamter Verdienst [ . . . ] ging für Bestechungen drauf." 89 82 Ravdel', Kaplja okeana, AMCM. 2.1.100: 106-7. 83 Ebd., 118. 84
Der mehrere hundert Meter hohe, Norilsk überragende Berg (vgl. Anhang H. IV, Abb. XII; Anhang H. V, Abb. XIV) war nach dem Geophysiker Otto Iu. Smidt benannt. Smidt war unter anderem Leiter mehrerer arktischer Expeditionen (darunter auch der berühmten „Celjuskin"-Expedition, die im Jahre 1934 Schiffbruch erlitt und in einem gewagten und unionsweit propagandistisch ausgeschlachteten Manöver mit Flugzeugen gerettet wurde) sowie von 1932 bis 1939 Leiter der Hauptverwaltung des Nördlichen Seewegs. 85 Ebd., 117-119. 86 Ebd., 113. 87 Ebd., 120. 88 Ebd., 111. 89 Ebd., 115. Freilich ist zu beachten, daß zumindest in einigen der von Ravdel' angeführten Fälle von einer nicht vom Lagerregime vorgesehenen Gegenleistung die Rede ist (obschon Arbeitsbefreiung oder die Zuweisung einer anderen, leichteren Arbeit im Einzelfall nicht im Widerspruch mit gültigen Vorschriften stehen mochten), so daß es sich - zumindest
II. Individuelle Darstellungen von Zwangsarbeit
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Daß selbst der Leiter der Lagerabteilung in diese Praxis involviert war, verlieh dem Bestechungssystem aus Sicht der Gefangenen einen beinahe offiziellen Charakter. Im Frühjahr 1940 wurde Ravdel's Brigade nach Dudinka verlegt, wo sie vor allem Kohle aus den aus Norilsk eintreffenden Eisenbahn waggons in Transportschiffe verladen mußte. Die Anforderungen an die Häftlinge waren dabei äußerst hoch: Zwei Arbeiter mußten jeweils einen Waggon innerhalb von 40 Minuten entladen, ansonsten drohte der gesamten Brigade eine Rationskürzung. Daher stellte sie selbst „ein strenges Arbeitsregime auf: Wer seine Arbeit früher beendet, hilft denjenigen, die mit ihr im Rückstand sind - sofern sie dies nicht selbst zu verantworten haben." Trotz harter Arbeitsbedingungen lehnte Ravdel' in dieser Zeit ein Angebot ab, auf eine körperlich weniger anstrengende administrative Position zu wechseln, die seinen Qualifikationen stärker entsprochen hätte, da ihm nach seinen Worten die Funktion des Brigadiers „imponierte". Auch hielten ihn nach eigenen Angaben die guten Beziehungen zu den Mitgliedern seiner Brigade zurück. 90 Hauptsächlich bestand diese aus Gefangenen mit,politischen' Urteilen. Nach seiner Einschätzung erwiesen sich diese Häftlinge als die „arbeitsfähigste, qualifizierteste und zuverlässigste" Gruppe unter der Lagerbevölkerung. Im Gegensatz zu ,nicht-politischen4 Häftlingen „drückten" sie sich, so Ravdel's Beobachtung, in der Regel nicht vor schwerer Arbeit und verdarben oder stahlen auch nicht die ihnen anvertraute Ausrüstung. 91 Freilich räumt auch er ein, daß die große Mehrzahl der „Konterrevolutionäre" schwere körperliche Arbeiten nicht gewohnt war und zugleich kaum darauf hoffen konnte, eine leichtere und angenehmere Arbeit zu erhalten. Nach seinen Worten trug dies insbesondere während der Kriegsjahre wesentlich zu der hohen Sterblichkeit unter dieser Gruppe von Häftlingen bei, von der wiederum ältere Personen besonders betroffen waren. 92 In Ravdel's etwa zehn Jahre nach seiner Freilassung verfaßten Erinnerungen mögen bisweilen Töne anklingen, die auf eine gewisse nachträgliche Versöhnung des Autors mit seinem Schicksal hindeuten - eine Tendenz, die in der persönlichen Erinnerungsliteratur mitunter anzutreffen ist. Doch gibt es auch diametral entgegengesetzte Fälle. Jadviga Male vie beschränkt sich darauf, die Zeit, die sie von 1945 bis 1955 als Gefangene des Norilsker Lagers verbrachte, im Rückblick folgendermaßen zusammenzufassen: „Über die zehn Jahre des Lebens im Lager kann man in einem Satz sagen: 10 Jahre der Hölle." 93
in seinen Beispielen - nicht notwendigerweise um das bloße Erpressen von Geld handelte. Mit „Verdienst" meint Ravdel' die geringfügigen monetären Prämien, die zu dieser Zeit an arbeitende Häftlinge ausgezahlt wurden. 90 Ravdel', Kaplja okeana, AMCM. 2.1.100: 154. 91 Ebd., 133. 92 Ebd., 157. 93 Jadviga Malevic: Ljublju i nenavizu, in: Noril'skij Memorial, Nr. 3 (Okt. 1996), S. 9. 1*
F. Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse Die vorliegende Studie unternahm erstmals den Versuch, auf der Basis von behördlichen Archivmaterialien und Quellen persönlicher Provenienz die Methoden und Strategien der Ausnutzung von Zwangsarbeit im stalinistischen Lagersystem zu identifizieren und einer gezielten Analyse zu unterziehen. Das wesentliche Erkenntnisinteresse bestand darin, zur Ergründung der dem System inhärenten Logik beizutragen und Faktoren und Einflußgrößen, die seine Erscheinungsformen bestimmten, zu ermitteln. Diese Fragestellung wurde auf das Fallbeispiel des Norilsker Lagers und des Norilsker Kombinates angewandt. Im folgenden sollen die wesentlichen Ergebnisse knapp zusammengefaßt und im Anschluß daraufhin überprüft werden, ob sie erlauben, Antworten auf die Hauptfragen zu formulieren. Im ersten Schritt wurden die Parameter und Charakteristika des Untersuchungsobjektes bestimmt. Es wurde gezeigt, daß der Bau des Norilsker Kombinates ein äußerst ehrgeiziges industrielles Investitionsvorhaben darstellte - den Aufbau eines vollkommen neuen Industriestandortes in einer bis dahin praktisch unbesiedelten, entlegenen Region der Sowjetunion. Aufgrund der extremen klimatischen und geographischen Bedingungen der Norilsker Region handelte es sich um eines der schwierigsten Projekte, die in der Sowjetunion im Zuge des Industrialisierungsprozesses der 1930er Jahre in Angriff genommen wurden. Zugleich wurde ihm angesichts der beispiellos reichen Lagerstätten von Nichteisenmetallen, die es nutzbar zu machen galt, von Beginn an eine strategisch herausragende Bedeutung zuerkannt. Die sowjetische Staats- und Parteiführung entschied, dieses Vorhaben mittels des massenhaften Einsatzes von Zwangsarbeit zu realisieren. Maßgeblich für ihren Entschluß waren die in den Jahren zuvor mit anderen industriellen Großprojekten gesammelten Erfahrungen, die diese Methode geeignet erscheinen ließen, derartige Aufgaben zu bewältigen. Zeitgleich mit der Aufnahme der Arbeiten in Norilsk wurde daher ein Lagerkomplex gegründet, der mit dem Bauprojekt (später: dem Kombinat) in engem Verbund stand. Parallel zur rapiden, nur in Anfangsphase und Kriegszeit infolge von Managementfehlern und Versorgungsengpässen gebremsten Expansion der Bau-, Investirions- und Produktionstätigkeiten des Kombinates wuchs das Norilsker Lager bis zu Beginn der 1950er Jahre zu einem der größten Lagerkomplexe der Sowjetunion an. Aufgrund seiner entlegenen Lage wurde es zwar auch bevorzugt zur Internierung und Isolierung von größtenteils nach politisch-ideologischen Kriterien definierten Kategorien besonders gefährlicher' Häftlinge genutzt - was sich insbesondere in der Gründung von „Katorga"-Lagerabteilungen, von Lagerabteilungen
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„strengen Regimes" sowie des Speziallagers Nr. 2 niederschlug. Dennoch spielte die wirtschaftliche Funktion des Kombinates bei der Verwaltung des aus Kombinat und Lager bestehenden Gesamtkomplexes die entscheidende Rolle. Ihre Dominanz wurde durch den strukturellen, für das Lagersystem insgesamt typischen Umstand befördert, daß Lager und Kombinat faktisch einer einzigen Führung unterstanden, die der Erfüllung von Produktions- und Planzielen oberste Priorität einräumte, während sie denjenigen Aufgaben, die sich mit der Rolle des Lagers als Haftanstalt verbanden, nachrangige Bedeutung beimaß. Daß diese Zielhierarchie auch mehrfache administrative Umstrukturierungen weitgehend unverändert überdauerte, deutet darauf hin, daß sie den auf übergeordneten politischen Ebenen vorherrschenden Präferenzen entsprang. Im zweiten Teil der Untersuchung wurde zunächst die Praxis der Bereitstellung von Zwangsarbeitern für das Norilsker Bauvorhaben und Kombinat beleuchtet. Wie sich zeigte, richtete sich diese weitgehend nach dem Arbeitskräftebedarf des Objektes. Von der überwiegend auf politische Ursachen zurückzuführenden Konjunktur' der Häftlingszahlen während des Stalinismus, die sich in der Entwicklung der Insassenzahlen der meisten übrigen sowjetischen Lager niederschlug, blieb das Norilsker Lager phasenweise gänzlich unberührt. Zudem wurden im allgemeinen nur solche Häftlinge nach Norilsk verlegt, die aufgrund ihrer Konstitution als geeignet betrachtet wurden, unter polaren Bedingungen körperliche Arbeit zu leisten. Zur Beurteilung der Behandlung der Zwangsarbeiter in Norilsk wurde sodann deren Sterblichkeit eingehend analysiert. Abgesehen von den ersten Jahren war diese zwar bis in die späten 1940er Jahre hinein beträchtlich, lag jedoch zugleich permanent unter den Durchschnittswerten für sämtliche sowjetischen Lager und Kolonien. Es konnte gezeigt werden, daß dafür nicht nur die konsequente Auslese körperlich überdurchschnittlich widerstandsfähiger Häftlinge verantwortlich war, sondern auch die im Vergleich zu den meisten übrigen Lagern geringfügig bessere Ernährung und Versorgung der Insassen des Norilsker Lagers. Bei der anschließenden Betrachtung der Organisation der Ausnutzung von Zwangsarbeit in Norilsk wurde deutlich, daß durchweg angestrebt wurde, den Anteil der im Produktionsbereich eingesetzten Häftlinge zu maximieren. Dieses Ziel galt generell für das gesamte Lagersystem, wo es jedoch - auch wenn man von den extremsten, in der Hauptsache von exogenen Einflußfaktoren hervorgerufenen Krisen absieht1 - meist nur in sehr eingeschränkter Form erreicht wurde. Hierfür waren neben der Notwendigkeit des Unterhalts der lagerinternen Infrastruktur in erster Linie extrem hohe Krankenstände verantwortlich. Auch in dieser Hinsicht 1 Wie bereits erwähnt, traten Phasen allgemeiner wirtschaftlicher Knappheit und Not sowie chaotischer organisatorischer und planerischer Verhältnisse in der Sowjetunion während der Geschichte des Lagersystems immer wieder auf und wirkten sich verheerend auf Lebensbedingungen und Überlebenschancen der Häftlinge aus. Erinnert sei insbesondere an die Hungersnot der frühen 1930er Jahre, an das durch den Massenterror der späten 1930er Jahre ausgelöste Chaos, an den Zweiten Weltkrieg mit all seinen katastrophalen Begleiterscheinungen sowie an die Hungersnot der Jahre 1946-48.
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F. Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse
hob sich das Norilsker Lager freilich von dem Bild des durchschnittlichen stalinistischen Arbeitslagers ab. Dank signifikant niedrigerer Krankenziffern leisteten dort in aller Regel deutlich mehr als 80 % der Gefangenen produktive Arbeit im oder für das Kombinat. Ein weiteres vom GULAG für das gesamte Lagersystem vorgegebenes Ziel bestand darin, besondere Qualifikationen der Gefangenen bei ihrem Arbeitseinsatz so weit als möglich zu berücksichtigen. Im Norilsker Lager geschah dies zwar häufig, allerdings keineswegs immer und nicht in stärkerem Maße als im Mittel in anderen Lagern. Am Norilsker Beispiel konnte zugleich beobachtet werden, daß eine derartige Praxis wiederholt von Repressionswellen sowie von erratischen Wendungen bei der Abwägung zwischen dem möglichen Nutzen, der aus qualifizierten „Konterrevolutionären" gezogen werden konnte, und der vermeintlich von ihnen ausgehenden Bedrohung durchkreuzt wurde. Das Gesamtbild der Ausnutzung von Häftlingsarbeit in Norilsk fällt indes eindeutig aus. Häftlinge trugen als einfache Arbeiter zu jeder Zeit die Hauptlast der Realisierung des gesamten Investitions- und Produktionsvolumens. Sie verrichteten Schwerstarbeiten nicht nur im Bausektor, sondern auch in sämtlichen Produktionsbereichen des Kombinates. Bis zu Stalins Tod änderte sich an diesem Bild praktisch nichts - ungeachtet der gewaltigen Expansion und der damit einhergehenden Diversifikation des Produktionsprofils des Kombinates, die sich innerhalb dieses nahezu achtzehnjährigen Zeitraums vollzog. Zwar trat im Verlauf der 1940er Jahre eine neue Schicht von ,zivilen' Arbeitern neben die Häftlinge. Es wurde jedoch gezeigt, daß es sich bei dieser Gruppe hauptsächlich um entlassene Lagerinsassen und um „Spezialsiedler" handelte, die weiterhin staatlichem Zwang ausgesetzt waren, indem sie in einem verbannungsähnlichen Status leben mußten und zugleich wirtschaftlich ausgebeutet wurden. Daher läßt sich nahezu ohne Abstriche festhalten, daß das gesamte Norilsker Industrie vorhaben von Beginn an und bis zu Stalins Tod nahezu ausschließlich auf Zwangsarbeit beruhte. Um die Strategie, die hinter der Ausnutzung von Zwangsarbeit in Norilsk stand, genauer zu erfassen, wurden schließlich Normen und Instrumente untersucht, mit denen die operative Verwaltung und Steuerung der Häftlingsarbeit vollzogen wurde. Dabei trat zunächst in den Arbeitszeitregelungen das Ziel einer möglichst extensiven Ausnutzung der Arbeitskraft der Lagerinsassen zutage. Hiervon zeugen bereits die vom N K W D / M W D ausgegebenen, für sämtliche Lager (und zumeist auch Kolonien) gültigen Vorschriften. Allerdings dehnte die Administration des Norilsker Lagers und Kombinates diese Vorgaben noch weiter aus. Wenn nahezu alle ehemaligen Insassen der Norilsker Lager von zehnstündigen und längeren Arbeitstagen für reguläre Häftlinge und von der häufigen Streichung der ohnehin wenigen vorgesehenen freien Tage berichten, dann waren solche Maßnahmen - sieht man von den Kriegsjahren ab - nicht durch zentral erlassene Direktiven abgedeckt, sondern von der lokalen Administration zu verantworten. Lange Arbeitszeiten waren jedoch nicht das einzige Mittel, mit dem hohe Produktionsergebnisse erzielt werden sollten; auch die Arbeitsproduktivität der Häftlinge war Gegenstand stetiger Bemühungen. Um sie zu steigern, wurde sowohl in
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Norilsk als auch im gesamten Lagersystem eine im Zeitablauf veränderliche Kombination von Maßnahmen eingesetzt. Permanent und überall kam das Zwangsmittel der Verknappung der Nahrungsrationen bei Untererfüllung der Arbeitsnormen zum Einsatz. Im Gegenzug wurde die Erfüllung und Übererfüllung der Normen mit einer verbesserten Verpflegung belohnt. Nicht selten entfaltete diese Politik freilich eine kontraproduktive Wirkung, indem sie die Auszehrung geschwächter Häftlinge noch beschleunigte und somit zum Verlust von Arbeitskräften führte. Daneben wurden jedoch auch Strategien angewendet, die ausschließlich mit positiven Arbeitsanreizen operierten. Hierzu zählten etwa die Inszenierung von „Stoßarbeitertum" und „Stachanov"-Bewegung, deren Teilnehmern neben Belobigungen eine verbesserte Versorgung und eine Lockerung der Haftbedingungen winkten. Als materielle Anreize für produktive Häftlinge waren zudem monetäre Prämien vorgesehen, doch waren deren Beträge äußerst geringfügig und wurden zudem mitunter nur unregelmäßig ausgezahlt, so daß der motivierende Effekt äußerst beschränkt blieb. Erst die im Sommer 1950 aufgenommenen, wesentlich höheren (wenngleich noch immer weit hinter den Löhnen freier Arbeiter zurückbleibenden) regulären Lohnzahlungen an die Zwangsarbeiter führten zu einer deutlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität. Als ähnlich effektiv erwies sich ein weiteres, nur unter den Bedingungen von Zwangsarbeit denkbares Anreizsystem, welches den Gefangenen die Perspektive eröffnete, durch besonders produktive Arbeit ihre Haftdauer deutlich zu verkürzen. Auch dieses Instrument war allerdings weder in Norilsk noch im gesamten Lagersystem permanent im Einsatz. Nachdem es im Jahre 1939 ausgesetzt worden war, wurde es erst ein Jahrzehnt später in einer Reihe wirtschaftlich bedeutsamer Lager wieder eingefühlt, darunter auch dem Norilsker. Welche Mittel zu verschiedenen Zeitpunkten zur Produktivitätssteigerung eingesetzt wurden, war zum Teil durch exogene Ereignisse bedingt. Während des Zweiten Weltkrieges etwa stellte sich aus Sicht der Staatsführung angesichts extremer Ressourcenknappheit die Frage nach der Gewährung großzügiger Vergünstigungen oder Zugeständnisse weder im Hinblick auf die Insassen des Lagersystems noch für die Masse der restlichen sowjetischen Bevölkerung. Abgesehen von solchen Sondereinflüssen ist jedoch unverkennbar, daß sich im Verwaltungsapparat des Lagersystems und, zumindest im Norilsker Fall, partiell auch bei lokalen Lagerverwaltungen ein zunehmendes Bewußtsein für die Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit verschiedener Maßnahmen hinsichtlich des Erreichens angestrebter Ziele einstellte. So lag dem im Verlauf der 1940er Jahre hervortretenden Trend zu immer ausgefeilteren Anreizsystemen die auf jahrelanger Beobachtung und Erfahrung beruhende Einsicht zugrunde, daß die Ausübung von Zwang alleine nicht ausreichte, um Zwangsarbeiter zu maximaler Produktivität anzutreiben. Daß statt dessen ein Weg eingeschlagen wurde, der mit der Gewährung von Arbeitstaggutschriften und Lohnzahlungen die wirtschaftliche Grundidee der Ausnutzung von Zwangsarbeit unterminierte, belegt zugleich, daß das Interesse der Staats- und Parteiführung an den wirtschaftlichen Resultaten der Ausnutzung der Häftlingsarbeit durchweg beträchtlich war und im Spätstalinismus sogar noch zunahm.
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F. Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse
In ihrem letzten Teil wandte sich die Untersuchung schließlich konkreten Beschreibungen der Zwangsarbeit zu, die in Selbstzeugnissen ehemaliger Häftlinge der Norilsker Lager enthalten sind. Diese Quellen berichten durchweg von schweren körperlichen Arbeiten, die unter äußerst harten Bedingungen verrichtet werden mußten und unter denen - in Verbindung mit weiteren Entbehrungen, Demütigungen und Härten des Lagerlebens, deren Betrachtung größtenteils ausgespart werden mußte - die übergroße Masse der Häftlinge beständig litt. Auch in Norilsk waren Unterernährung und Überanstrengung, Erschöpfung und Auszehrung, Mangelkrankheiten und eine inadäquate medizinisch-sanitäre Fürsorge alltägliche Erfahrungen für die Gefangenen und forderten unter ihnen viele Todesopfer. *
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Anhand dieser Ergebnisse lassen sich nunmehr die Grundzüge der Strategie benennen, die dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern in Norilsk zugrunde lag. Sie fußte auf dem vom N K W D / M W D und seinen Hauptverwaltungen bei der Organisation der Zwangsarbeit im gesamten Lagersystem verfolgten Ansatz, nach dem Häftlinge in erster Linie eine exogen zur Verfügung gestellte Ressource bildeten, die zur Lösung von Produktions- und Investitionsaufgaben einzusetzen war. Nun kann jedoch der Umgang mit Ressourcen prinzipiell unterschiedliche Formen annehmen. Namentlich kann ihre Verwendung effizient oder ineffizient gestaltet werden. Im stalinistischen Lagersystem ließ sich die Frage der Effizienz hypothetisch auf zwei Probleme reduzieren: Dem Ziel einer möglichst intensiven Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge stand das Ziel der Erhaltung dieser Ressource gegenüber. Beide Ziele waren wechselseitig voneinander abhängig: Eine zu hohe Arbeitsbeanspruchung der Gefangenen konnte insbesondere unter den Bedingungen ihrer mangelhaften Versorgung eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes hervorrufen und ihre Sterblichkeit erhöhen. Ein schlechter Gesundheitszustand und eine erhöhte Sterblichkeit der Häftlinge liefen wiederum dem Ziel einer hohen Arbeitsausnutzung zuwider. Eine nationale' Strategie für einen effizienten Umgang mit der,Ressource Zwangsarbeit4 hätte diesen Effekt berücksichtigt und daher versucht, das Ziel einer hohen Arbeitsausnutzung mit der gleichzeitigen Gewährleistung eines guten Gesundheitszustandes und einer niedrigen Sterblichkeit der Häftlinge zu verbinden.2 Es konnte gezeigt werden, daß die in Norilsk angewandte Strategie, die den Handlungen sowohl der lokalen als auch der zentralen verantwortlichen Institutionen und Akteure zugrunde lag, Spuren eines solchen Effizienzdenkens aufwies. Ansätze eines ökonomisch nationalen' Umgangs mit der,Ressource Zwangsarbeit' in Norilsk äußerten sich etwa in der Auslese besonders gesunder und widerstandsfähiger Gefangener sowie in der Gewährung höherer Versorgungsnormen und be2
Wenn hier der Begriff „rational" verwendet wird, so geschieht dies selbstredend im Sinne einer begrenzten Rationalität, die auf der Prämisse beruht, daß sich die Akteure bereits für den Einsatz von Zwangsarbeit zur Lösung wirtschaftlicher Aufgaben entschieden haben und die Rationalität dieser einmal getroffenen Entscheidung nicht weiter hinterfragen.
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sonders wirksamer Arbeitsanreize. Die zu erwartenden und auch tatsächlich eintretenden Konsequenzen solcher Maßnahmen waren eine geringere Krankenquote, eine signifikant höhere Ausnutzung der Arbeitskraft der Gefangenen sowie eine deutlich niedrigere Sterblichkeit - sprich: eine höhere mittlere Überlebenswahrscheinlichkeit - als jeweils in den allermeisten anderen sowjetischen Lagern und Kolonien zu beobachten waren. In der in Norilsk angewandten Politik äußerte sich insofern ein stärkeres und wirksameres Bemühen, die Arbeitsfähigkeit der Häftlinge zu bewahren, um Einbußen dieser Ressource in Grenzen zu halten. Weswegen gerade in Norilsk eine solche Strategie zum Einsatz kam, läßt sich leicht mit den Besonderheiten des dort verfolgten wirtschaftlichen Projektes erklären. Wie in kaum einem anderen Vorhaben, mit dessen Durchführung der NKWD / MWD beauftragt worden war, verbanden sich in ihm eine extrem hohe Erwartungshaltung der Staats- und Parteiführung mit außerordentlich widrigen äußeren Bedingungen. Für die Administratoren des Lagersystems stellte das Norilsker Bau- und Industrieprojekt somit eine außergewöhnliche Herausforderung dar. Allein aus diesem Grunde sahen sie sich zu den genannten Maßnahmen veranlaßt, die daher nicht als Ausdruck eines besonders ,humanen4 Verhaltens aufgefaßt werden sollten: Dieselben Akteure in GULAG und NKWD/MWD, die dem Norilsker Lager und dessen Häftlingen eine Sonderbehandlung zuteil werden ließen, sahen keinen Anlaß, diese auf die Mehrzahl der übrigen Lager auszudehnen.3 Konkret gesprochen: Die Politik, gesundheitlich geschwächte oder angeschlagene Häftlinge nicht nach Norilsk zu verschicken, stand nicht der Verwendung ebensolcher Zwangsarbeiter zu winterlichen Holzfällarbeiten in Lagern im Ural oder in Sibirien entgegen. Ähnliches galt für die Führung des Norilsker Kombinates und Lagers. Während sie einerseits in Teilbereichen Verständnis für die ökonomische Zweckmäßigkeit der Gewährung von Arbeitsanreizen für Häftlinge demonstrierte, dominierte andererseits die Erfüllung von Produktionsplänen ihre Zielfunktion in einem Maße, das selbst vom GULAG und dem NKWD / MWD gelegentlich beanstandet wurde. An der rein utilitaristischen Motivation der in Norilsk implementierten Politik kann daher in bezug auf beide Verwaltungsebenen kaum ein Zweifel aufkommen. 4 Trotz der aus dem Profil des Norilsker Vorhabens resultierenden Besonderheiten kann daher behauptet werden, daß sich die dort erkennbare Strategie zur Ausbeu3
Zwar wurden in gewissen Fragen - namentlich bei der Einführung besonderer Arbeitsanreize - manche anderen Lager ähnlich bevorzugt behandelt wie das Norilsker. Voraussetzung hierfür war jedoch, daß ihnen eine ähnlich herausragende wirtschaftliche Bedeutung beigemessen wurde. 4 Eine solches Bild erschließt sich nicht nur aus den Handlungen der administrativen Akteure, sondern wurde auch aus der Häftlingsperspektive wahrgenommen, wie die Einschätzung von Evfrosinija Kersnovskaja illustriert, geäußert in bezug auf ihre temporäre Tätigkeit in der chirurgischen Abteilung des Norilsker Lagerkrankenhauses in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre: „Wir wurden nicht geschont, mit uns machte man nicht viel Federlesens, unser Tod bereitete nicht allzuviel Kummer, doch bei Arbeitsprozessen Verletzte behandelte man, verlangte die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit und ihre schleunigste Rückkehr zum Einsatz" (.Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. IV, S. 58).
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F. Zusammenfassung und Deutung der Ergebnisse
tung von Zwangsarbeit nicht substantiell von jener unterschied, die im Lagersystem insgesamt zur Anwendung kam. Unter dem Einfluß überdurchschnittlich starker wirtschaftlicher Sachzwänge wurden aus ihr für das Norilsker Industrieprojekt allerdings in Teilbereichen rationalere konkrete Handlungen abgeleitet, als dies für die meisten übrigen Lager galt. Daher liegt es nahe, zwei zentrale Bestimmungsgrößen der Erscheinungsformen des stalinistischen Lagersystems zu unterscheiden.5 Zum einen ist dies die Betrachtung und Behandlung der Häftlinge als Ressource, die es wirtschaftlich auszubeuten galt. Bereits dieser Zugang implizierte, daß das Leiden und der Tod von Häftlingen nicht als Ereignisse betrachtet wurden, die es um jeden Preis zu vermeiden galt. Die zweite Bestimmungsgröße aber bestand im Grad der Rücksichtslosigkeit, Nachlässigkeit und Irrationalität, mit der dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt wurde. Dieser war von entscheidender Bedeutung hinsichtlich des Ausmaßes, welches das Leiden und Sterben in den Lagern annahm.6 Die Feststellung, daß die verantwortlichen administrativen Strukturen die Gefangenen im stalinistischen Lagersystem in entscheidenden Fragen - oft genug in solchen, von denen ihr physisches Leben und Überleben abhing - primär als wirtschaftliche Ressource betrachteten und behandelten, bedeutet freilich nicht, daß das Lagersystem als eine ausschließlich wirtschaftliche Institution zu verstehen wäre. 7 Die Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge geschah vielmehr unter der Nebenbedingung der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe sowie, insbesondere im Falle von als politisch und gesellschaftlich besonders gefährlich erachteten Personen, ihrer Isolation vom Rest der Gesellschaft. Auch wirkten Repressionswellen und -maßnahmen, die von der politischen Führung ausgelöst wurden, regelmäßig bis in das Lagersystem hinein und durchkreuzten dessen wirtschaftliche Operationen. Vereinzelt waren schließlich selbst in Norilsk Ansätze von Versuchen erkennbar, Häftlinge durch politische Agitation „umzuerziehen" - wenngleich aus den untersuchten Häftlingserinnerungen durchweg hervorgeht, daß diese Aufgabe von der Lagerleitung, wenn überhaupt, dann überwiegend halbherzig, mechanisch und unter minimalem Ressourceneinsatz wahrgenommen wurde. 8 5 Die nun gezogenen Schlußfolgerungen betreffen den Betrachtungszeitraum, der in dieser Studie abgedeckt wurde. Ob sie in gleicher oder ähnlicher Form auch für die frühen 1930er Jahre gelten, bleibt zu prüfen. 6 Wenn sich in den Handlungen der zentralen und lokalen administrativen Akteure hinsichtlich der Verwaltung von Häftlingsarbeit in Norilsk Ansätze eines ökonomisch ,rationalen' Umgangs mit dieser ,Ressource' zeigten, verbleibt die Frage, inwiefern es in jenen Lagern, in denen noch deutlich schlimmere Verhältnisse herrschten und erheblich höhere Verluste an Menschen in Kauf genommen wurden, an einer solchen Rationalität' mangelte und wo im einzelnen die Gründe und bei welchen Akteuren die Verantwortlichkeiten hierfür zu suchen sind. Solchen Fragen anhand weiterer Studien des Verhaltens der zentralen und dezentralen Verwaltungsstrukturen des Lagersystems nachzugehen, ist eine Aufgabe, die künftigen Forschungen vorbehalten bleiben muß. 7 Ein solcher Schluß würde eine neuerliche Vereinfachung darstellen, vergleichbar den in der Einführung kritisierten.
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Vergegenwärtigt man sich schließlich die eingangs betonte Abhängigkeit der Entwicklung des Lagersystems von der politischen ,Konjunktur 4 der Häftlingszahlen, wird am Beispiel von Norilsk auch erkennbar, daß die Ausnutzung von Zwangsarbeit in den stalinistischen Lagern durchaus einer ökonomischen Logik folgte. Gegeben den unabänderlichen politischen Willen zur Inhaftierung von Millionen Menschen, war die Entscheidung, die Arbeitskraft eines möglichst großen Teils dieser Personen zur Realisierung bedeutender wirtschaftlicher Aufgaben auszubeuten, ökonomisch begründbar. Ihr Einsatz zum Aufbau eines Industriestandortes wie Norilsk, wofür freie Arbeitskräfte nur unter Aufwendung beträchtlicher Sonderzahlungen rekrutiert werden konnten, erscheint besonders schlüssig. Hierdurch konnte aus den Lagerinsassen tatsächlich ein substantieller Nutzen gezogen werden, der die Kosten ihrer Unterbringung, Verpflegung und Bewachung mehr als kompensierte.9 Die Verluste, die der sowjetischen Gesellschaft durch die massenhafte Herauslösung von Menschen aus ihren vorherigen gesellschaftlichen und ökonomischen Rollen infolge exzessiver Inhaftierungspraktiken während des Stalinismus entstanden, waren zwar in einer solchen Rechnung ebensowenig enthalten wie das subjektiv erfahrene Leid der Häftlinge in den Lagern. Doch kann kaum ein Zweifel bestehen, daß diese Faktoren im Entscheidungskalkül der stalinistischen Staats- und Parteiführung ohnehin eine grundlegend andere Bewertung erfuhren als in den Augen der damals Betroffenen, geschweige denn heutiger Beobachter mit humanistisch und liberal geprägten Weltanschauungen. Nun entstanden dem stalinistischen Staat freilich auch nach einer solchen, auf seinen eigenen politischen Präferenzen und Bewertungsmaßstäben basierenden Rechnung in vielen anderen Lagern und Kolonien beträchtliche ökonomische Verluste. Durch nach- und fahrlässigen Umgang mit der ,Ressource Zwangsarbeit4, mangelhafte Organisation und Kontrolle, dysfunktionales Verhalten auf mittleren und niederen Verwaltungsebenen, massive Fehlplanungen und Fehlinvestitionen, strukturelle Schwächen und Ineffizienzen der sowjetischen Wirtschaft und schließlich die gelegentliche Durchkreuzung ökonomischer durch politische Maßnahmen ging ein bedeutender Anteil der von den Gefangenen im Lagersystem erpreßten Arbeitsleistung verloren. 10 Doch tat all dies der Konsequenz, mit der die dar8
Zudem waren politische Agitation und Propaganda bezeichnenderweise dann am sichtbarsten, wenn sie auf die Steigerung der Produktion abzielten (vgl. Unterkapitel D. II. 5). Aufschlußreich ist auch die verschwindend geringe Höhe der Beträge, die für „Kultur- und Erziehungsmaßnahmen" sowohl in dem vom Zentrum abgesegneten Finanzplan vorgesehen waren als auch faktisch verausgabt wurden. In den 1940er Jahren schwankten sie durchgehend um 10 Kopeken pro Tag und Gefangenen, was etwa 1 % der Unterhaltskosten der Häftlinge entsprach (vgl. Anhang H. II, Abb. V). 9
Vgl. dazu die Betrachtungen in Kapitel G. !0 Es empfiehlt sich allerdings, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß die Verschwendung und Fehlallokation von Ressourcen Erscheinungen darstellten, die nicht auf die Lagerökonomie beschränkt waren, geschweige denn dort ihren Ursprung nahmen, sondern vielmehr für die gesamte sowjetische Wirtschaft kennzeichnend waren. Wenngleich Fälle äußerster Nachlässigkeit des Umgangs mit Häftlingsarbeitern oder auch die Inangriffnahme be-
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gelegte generelle Strategie der Ausnutzung von Zwangsarbeit verfolgt wurde, keinen Abbruch. Solange Stalin am Leben war, wurde von der Praxis massenhafter Repressionen und Inhaftierungen nicht abgerückt: In der Spätphase des Stalinismus war die Zahl der Insassen von Lagern und Kolonien höher und deren durchschnittliche Haftstrafe erheblich länger als jemals zuvor. 11 Zugleich verdeutlichen das Festhalten an der Verfolgung anspruchsvollster wirtschaftlicher Projekte 12, Versuche zur Beseitigung persistenter Ineffizienzen durch begrenzte Korrektive 13 sowie die gleichzeitige Aufrechterhaltung der Zielvorgabe der möglichst weitgehenden Kostendeckung auch in der Nachkriegszeit 14, daß das Gewicht der wirtschaftlichen Anforderungen an das Lagersystem in dieser Periode eher zu- als abnahm. Sowohl die (primär politischen) Rahmenbedingungen für die Existenz des Lagersystems als auch die (primär wirtschaftlichen) Zielvorgaben, die innerhalb dieser erreicht werden sollten, blieben damit während Stalins Herrschaft im wesentlichen unverändert. Deshalb blieben auch die seit den späten 1940er Jahren von einigen leitenden Kadern des MWD ausgearbeiteten, teils weitreichenden Pläne zur Reform des Lagersystems und zur Neudefinition seiner Funktionen bis auf vereinzelte Experimente unrealisiert. 15 Erst der Tod des Diktators schuf die politischen Voraussetzungen, in denen sich der Prozeß der radikalen Verkleinerung, Umgestaltung und letztlich weitgehenden Auflösung des Lagersystems stalinistischer Prägung vollziehen konnte.
sonders unsinniger Investitionsprojekte durch den erhöhten Grad der Geheimhaltung im Lagersystem und die scheinbar universelle Verfügbarkeit der ,Ressource Zwangsarbeit' begünstigt wurden, so sind doch ihre grundlegenden Ursachen in den allgemeinen Strukturbedingungen der sowjetischen Wirtschaftsordnung zu suchen. 11 s. beispielsweise Zemskov, GULAG, Sociologiceskie Issledovanija, 6 (1991), S. 14; 7 (1991), S. 12. 12 Tatsächlich wurde in der Nachkriegszeit ein neues, gigantisches Investitionsprogramm für den MWD aufgelegt, das über viele Jahre hinaus die Bindung gewaltiger Arbeitskräfteressourcen vorsah (Smirnov / Sigacev / Skapov, Sistema mest zakljucenija ν SSSR, S. 55 f.; Marta Kraveri/Oleg Chlevnjuk: Krizis Èkonomiki MVD (konec 1940-ch - 1950-e gody), in: Cahiers du monde russe, 36/ 1 - 2 (Jan.-Juni 1995), S. 179-190; Kokurin /M orukov, Stalinskie stroiki GULAGa). 13 Hier ist insbesondere die Einführung elaborierter Anreizsysteme für die Zwangsarbeiter zu nennen - vgl. Unterkapitel D. II. 14 Ertz, Trading Effort for Freedom. 15 Yoram Gorlizki / Oleg Khlevniuk: Cold Peace: Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945-1953, Oxford & New York: Oxford University Press, 2004, S. 127-133; Tikhonov, The End of the Gulag. Auch die beständigen Forderungen aus dem MWD, das Lagersystem über das allgemeine Staatsbudget zu finanzieren, blieben erfolglos. Ein solcher Schritt hätte dem MWD den Vorteil einer ,weichen Budgetrestriktion' beschert. Dies aber wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Abrücken von den wirtschaftlichen und finanziellen Erwartungen und Ambitionen, die sich zu Lebzeiten Stalins mit dem Lagersystem verbanden (Borodkin /Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 427).
G. Exkurs: Möglichkeiten und Grenzen der Bewertung des Nutzens von Zwangsarbeit in Norilsk In einem Nachtrag sollen knapp einige Fragen diskutiert werden, die im Kontext der ökonomischen Funktion des stalinistischen Lagersystems immer wieder berührt werden. Dabei handelt es sich zum einen um die Bewertung der Rolle von Zwangsarbeit im sowjetischen Industrialisierungsprozeß und in der sowjetischen Wirtschaft insgesamt, zum anderen um die Frage nach der ökonomischen Zweckmäßigkeit ihrer Ausnutzung. Mit Blick auf das Lagersystem als Ganzes hat Oleg Chlevnjuk bereits wesentliche Dimensionen, Aspekte und Grenzen einer solchen Diskussion differenziert ausgeleuchtet, zugleich jedoch auf die Vorläufrgkeit vieler bisheriger Antworten und die Notwendigkeit weiterer quellenbasierter Studien hingewiesen.1 Daher soll die Gelegenheit, die das im Rahmen dieser Fallstudie zusammengetragene Material bietet, nicht ungenutzt bleiben, sowohl zum Industrieprojekt Norilsk als auch zum gesamten System der Lager und Kolonien und den mit ihm verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten einige Anmerkungen zu machen. Hierzu sollen verschiedene Herangehensweisen an die genannten Fragen auf ihre Durchführbarkeit am Quellenmaterial und auf ihr heuristisches Potential erprobt werden. Zunächst wird dabei eine rein betriebswirtschaftliche Sichtweise gewählt, die sodann schrittweise erweitert wird. Betrachtet man einzelne wirtschaftliche Vorhaben, die während des Stalinismus unter Einsatz von Zwangsarbeit verfolgt wurden, liegt es zunächst nahe, deren individuellen wirtschaftlichen Nutzen zu untersuchen. Wie sich jedoch am Beispiel des Norilsker Kombinates exemplarisch zeigt, stößt ein solches Vorgehen schnell auf erhebliche Probleme. Zwar weisen Bilanzen des Kombinates, soweit sie aus der Periode der Existenz des Norilsker Lagers vorliegen, nahezu durchgehend Gewinne aus.2 Für den laufenden Produktionsbetrieb galt daher, daß das Kombinat in der Regel mehr Geld - sprich: in monetären Größen bewertete Ressourcen oder Güter - erlöste, als verausgabt wurde. Da die dem sowjetischen System der administrativen Preissetzung zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe jedoch bekanntlich in hohem Maße von staatlichen wirtschaftspolitischen Präferenzen abhingen, ist die Verwendung von Unternehmensgewinnen als Rentabilitätsindikatoren pro1 Khlevnyuk, The Economy of the OGPU, NKVD and MVD, insbes. S. 58-66; ähnlich: Khlevniuk, The History of the Gulag, S. 332-338. 2 Als Gewinn wird hier die Differenz zwischen dem in Abnehmerpreisen gemessenen Wert der Marktproduktion und deren Selbstkosten bezeichnet (vgl. Anhang H. I, Tab. II). Demnach wurde lediglich im Jahre 1943 ein geringfügiger Verlust ausgewiesen.
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G. Exkurs: Bewertung des Nutzens von Zwangsarbeit in Norilsk
blematisch. Für das Lagersystem als Ganzes läßt sich dies am deutlichsten an den Auswirkungen der Preisreform vom 15. September 1946 demonstrieren. Indem sie eine relative Verteuerung zahlreicher einfacher Versorgungsgüter bewirkte, verursachte die Neujustierung des Preisgefüges eine erhebliche Veränderung der terms oftrade zuungunsten der Lagerwirtschaft. 3 Damit machte sie die Kostenneutralität des Lagersystems, die seit dessen Entstehung angestrebt und in den Jahren vor 1946 immerhin phasenweise erreicht worden war, zunichte und trug maßgeblich dazu bei, daß dieses Ziel auch in den darauffolgenden Jahren verfehlt wurde. 4 Das Norilsker Kombinat schrieb zwar auch nach der Preisreform noch Gewinne, doch wurden auch sie drastisch geschmälert. Noch problematischer als die Bewertung der Wirtschaftlichkeit von Produktionsaktivitäten gestaltet sich die Evaluation der Investitionstätigkeit, in die ein großer Teil der Zwangsarbeiter in Norilsk und in vielen anderen Lagern involviert war. In der Sowjetunion wurde der Wert des Anlagevermögens üblicherweise gemäß den laut Plan zu dessen Erstellung aufzuwendenden Finanzmitteln taxiert. 5 Da jedoch weder Abschreibungen auf Investitionen vorgenommen wurden noch alternative Maßstäbe zu ihrer Bewertung (etwa Marktpreise) existierten, sind die Möglichkeiten einer kritischen Bestimmung ihrer Wirtschaftlichkeit extrem eingeschränkt. Einer fundierten Wirtschaftlichkeitsanalyse stehen damit sowohl Wesensmerkmale des sowjetischen Wirtschaftssystems als auch sowjetische Buchhaltungspraktiken entgegen. Was bleibt, ist die Betrachtung von Norilsk als langfristiges ökonomisches Gesamtprojekt. Hier nun läßt sich kaum bestreiten, daß die Ausbeutung 3
Beispielhaft sei erwähnt, daß sich die offiziellen Brotpreise schlagartig mehr als verdreifachten (Naum Jasny: The Soviet Price System, in: The American Economic Review, 40/5 (Dez. 1950), S. 845-863, hier: S. 850; Irving B. Kravis/Joseph Mintzes: Food Prices in the Soviet Union, 1936-50, in: The Review of Economics and Statistics, 32/2 (Mai 1950), S. 164-168, hier: S. 166). Die Verteuerung der Lebensmittelversorgung war auch in Norilsk Hauptursache des erheblichen Anstiegs der Unterhaltskosten der Häftlinge, den die Preisreform mit sich brachte (s. Anhang H. II, Abb. V). 4 Für konkrete Daten zur Kostenlage des gesamten Lagersystems zu verschiedenen Zeitpunkten seiner Existenz siehe Ertz, Trading Effort for Freedom, S. 487. Andrej Suslov läßt in seiner Darstellung die Preisreform von 1946 und ihre einschneidenden Effekte auf die Finanzlage des Lagersystems gänzlich unberücksichtigt. Daher ist seiner Interpretation, nach der unterschiedliche Finanzdaten, die sich in Dokumenten des NKWD / MWD aus verschiedenen Perioden finden, maßgeblich mit wechselnden Intentionen der Führung des Ministeriums in unterschiedlichen politischen Kontexten zu erklären seien, nicht zuzustimmen (Α. V. Suslov: Prinuditel'nyj trud na Urale (konec 1920-ch - nacalo 1950-ch gg.): effektivnost' i proizvoditel'nost', in: Borodkin /Gregory/Chlevnjuk, GULAG: Èkonomika prinuditel'nogo truda, S. 255-278, hier: S. 265). 5 Nichtsdestoweniger konnten die tatsächlichen Ausgaben erheblich von den Planwerten abweichen. Einen Extremfall stellte in Norilsk das Jahr 1937 dar, in dem für Bauarbeiten, deren Kosten mit 22,6 Mio. Rb. veranschlagt worden waren, tatsächlich 47,9 Mio. Rb. aufgewendet wurden (GARF. R-9414.ld.969: 6). Die getätigten Investitionen wurden dennoch mit 22,6 Mio. Rb. bewertet.
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der Zwangsarbeit von Hunderttausenden Gefangenen ein greifbares, substantielles und dauerhaftes wirtschaftliches Resultat hervorgebracht hat. Die Stadt Norilsk, die während der ersten 20 Jahre ihrer Existenz nahezu ausschließlich von Häftlingen gebaut wurde 6, zählt heute etwa 130.000 Einwohner und ist damit die nördlichste Großstadt der Welt. Das Norilsker Kombinat, nach wie vor ihr beherrschender Wirtschaftsfaktor, bildet mittlerweile den Kernbestandteil der Aktiengesellschaft Noril'skij NikeV, die zu den zehn größten und zugleich zu den profitabelsten Konzernen Rußlands zählt. Im Jahre 2004 erwirtschaftete Noril'skij NikeV bei einem Umsatz von etwa sieben Mrd. US-Dollar, der etwa 1,2% des russischen Bruttoinlandsproduktes ausmachte und zu 80 % am ursprünglichen Standort in der Tajmyr-Region erwirtschaftet wurde, einen Vorsteuergewinn von 2,5 Mrd. Dollar. Mit über 20 % Marktanteil ist das Unternehmen gegenwärtig weltgrößter Nickelproduzent. Seine Anteile an den Weltmärkten für Palladium und Platin betragen 40 % und 13 % respektive, darüber hinaus liefert es 10 % der Weltkobaltproduktion sowie 3% des weltweit verarbeiteten Kupfers. 7 Vernachlässigt man die kaum quantifizierbaren, horrenden ökologischen Kosten der vergangenen und gegenwärtigen Produktion 8, ließen sich Bau und Betrieb des Industriestandortes Norilsk aus heutiger Sicht daher als eine betriebswirtschaftliche Erfolgsgeschichte lesen. In dieser Hinsicht erscheint das Gesamtprojekt Norilsk im Vergleich zu vielen anderen stalinistischen Lagern und den mit ihnen verbundenen Wirtschaftsprojekten insbesondere solchen, die bereits während oder kurz nach Ende der Herrschaft Stalins in gewaltigen Investitionsruinen endeten9 - als einer der wohl spektakulärsten Sonderfälle. Doch auch diese Sichtweise ist mit Problemen verbunden. So ließe sich einwenden, daß aus heutiger Perspektive der von Häftlingen geleistete Beitrag zum Aufbau des Industriestandortes kaum mehr von den Resultaten der späteren Arbeit freier Beschäftigter zu trennen ist. Immerhin erwies sich während und nach der Auflösung des Lagers die hauptsächlich von Gefangenen errichtete Infrastruktur 6 Formell wurde Norilsk der Status einer Stadt erst im Jahre 1953 verliehen, allerdings galt auch offiziell schon bald das Jahr 1935 als,Geburtsstunde' der Stadt (L'vov; Noril'sk, S. 5). 7 Noril'skij Nikel': Godovoj Otcet 2004, Norilsk: 2005, S. 51, 77, 88; Internetpräsenz des Konzerns: http://www.nornik.ru/about/ ; The World Bank: Russian Federation Country Brief 2006; Tageszeitung Die Welt, 22. April 2004; Platinum 2005: Johnson Matthey Interim Review, Royston: Johnson Matthey, 2005, S. 2. 8 Die ökologische Belastung, die Gründung und Betrieb des Industriestandortes Norilsk verursachten, ist in der Tat von nahezu beispiellosem Ausmaß und dauert bis heute an. Laut offiziellen russischen Statistiken emittierte die Stadt Norilsk im Jahre 2003 nicht weniger als 2.020.000 t Luftschadstoffe, um ein vielfaches mehr als jede andere russische Stadt - die ElfMillionen-Metropole Moskau etwa emittierte ,nur' 97.000 t (Osnovnye pokazateli ochrany okruzajuscej sredy: statisticeskij bjulleten', Moskva: Federal'naja sluzba gosudarstvennoj statistiki, 2004, S. 53 f.). Zur vom Norilsker Kombinat in jüngerer Zeit verursachten Umweltverschmutzung vgl. weiterhin: Andrew R. Bond: Air Pollution in Noril'sk: A Soviet Worst Case?, in: Soviet Geography, 25/9 (Nov. 1984), S. 665-680; Vladimir Kotov, Elena Nikitina: Russia Wrestles with an Old Polluter, in: Environment, 38/9 (1996), S. 6-11, 32-37. 9 Khlevnyuk, The Economy of the OGPU, NKVD, and MVD, S. 61 ff.
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für die nachfolgenden freien Arbeiter in vielerlei Hinsicht als unzureichend. Schwerer noch wiegt der Einwand, daß der Hauptgrund des scheinbar eindrucksvollen Erfolges des Norilsker Kombinates der nahezu beispiellose Ressourcenreichtum der Region ist. Rohstoffe und Energie waren und sind bis heute im Überfluß vorhanden. Daraus aber leitet sich die Frage ab, ob die sowjetische Führung unter solchen Umständen selbst bei Anwendung einer suboptimalen Strategie (wie sie die massenhafte Ausnutzung von Zwangsarbeit möglicherweise darstellte) erfolgreich sein konnte, anders ausgedrückt: ob Bau und Betrieb des Kombinates unter Heranziehung freier Arbeit nicht noch profitabler hätten ausfallen können. Eine Antwort auf diese Frage verspräche eine vergleichende Kosten-NutzenAnalyse von Zwangsarbeit und freier Arbeit. 10 Doch auch hier läßt die Datenverfügbarkeit zu wünschen übrig. Zum einen wurde gezeigt, daß es sich während des Stalinismus nur bei einem geringfügigen Anteil der nicht-gefangenen Beschäftigten des Norilsker Kombinates um tatsächlich freie Arbeitskräfte handelte. Zum anderen bereitet die sowjetische Buchführungspraxis erneut erhebliche Schwierigkeiten bei der Ermittlung relevanter Kenngrößen. Zwar wies das Norilsker Kombinat in seinen Statistiken und Bilanzen durchaus die Pro-Kopf-Produktivität seiner Arbeiter aus. Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch, daß es sich bei diesen Werten um nichts anderes handelte als die Jahresproduktion des Kombinates, geteilt durch die Summe aller Arbeiter. 11 Unberücksichtigt blieben dabei nicht nur die Produktionsbeiträge aller übrigen Beschäftigten, einschließlich der Bediensteten, Ingenieure, technischen und leitenden Angestellten, sondern auch etwaige Produktivitätsunterschiede zwischen gefangenen und zivilen Arbeitern. 12 Zwar sollte die Anwendung identischer Produktionsnormen für Zwangsarbeiter und zivile Beschäftigte gewährleisten, daß sich die Leistungen beider Gruppen nicht signifikant voneinander unterschieden. Indikatoren zur Planerfüllung deuten allerdings darauf hin, daß der Anteil der Arbeiter, die die Planziele verfehlten, unter den Häftlingen höher war als unter zivilen Beschäftigten, während die relative Zahl von Zwangsarbeitern, die Rekordwerte aufstellten, niedriger lag. 13 In Ermangelung zuverläs!0 Suslov, Prinuditel'nyj trud na Urale, S. 258. 11 s. beispielsweise GARF. R-8361.1.11:32. 12 Ein derartiges Desinteresse am Vergleich der Produktivität von Zwangsarbeitern und Zivilbeschäftigten war nicht auf Norilsk beschränkt: Ein im Jahre 1936 auf Initiative der Staatlichen Planungsbehörde verabschiedeter Erlaß des SNK verlangte, in Bilanzen von Unternehmen arbeitsbezogene Kennwerte grundsätzlich für alle Kategorien von Arbeitskräften gemeinsam auszuweisen (vgl. Chlusov, Ekonomika GULAGa i ee rol' ν razvitii strany, S. 46 ff.; Suslov, Prinuditel'nyj trud na Urale, S. 266). 13 Ein Indiz hierfür sind etwa die unterschiedlichen Anteile von stachanovcy unter den gefangenen und zivilen Beschäftigten (s. Unterkapitel D. II. 2). Zahlen, die für das Jahr 1951 für sämtliche Unternehmen des MWD vorliegen, liefern ein ähnliches Bild (.Borodkin/Ertz, Forced Labour and the Need for Motivation, S. 432). Für die Region Molotov (vor 1940 und seit 1957: Perm') findet Suslov hingegen bei einer Gegenüberstellung von Produktivitätsdaten landwirtschaftlicher Kolonien einerseits und regulärer Kolchoz-Betriebe andererseits keine signifikanten Unterschiede (Suslov; Prinuditel'nyj trud na Urale, S. 267 ff.).
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siger und repräsentativer Daten 14 lassen sich letztlich keine befriedigenden Antworten auf die Frage nach Produktivitätsunterschieden zwischen Häftlingsarbeitern und zivilen oder freien Beschäftigten in Norilsk oder auch in der sowjetischen Wirtschaft insgesamt formulieren. 15 Immerhin kann zumindest für Norilsk die Vermutung, daß sich die jeweiligen Produktivitätsniveaus, wenn sie auch nicht identisch waren, so doch bei gleichen Arbeitsbereichen und Tätigkeiten in einer ähnlichen Größenordnung bewegten, einige Plausibilität beanspruchen. Ungeachtet der genannten Unwägbarkeiten soll daher nicht versäumt werden, einen Blick auf die Kostenseite zu werfen und zu untersuchen, wieviel das Kombinat für die Beschäftigung von Häftlingen einerseits und zivilen Arbeitern andererseits bezahlte. Wiederum ist die Datenbasis unvollständig und lückenhaft, so daß eine Betrachtung des gesamten Kombinates ausscheidet. Begrenzte Einblicke erlauben jedoch die eigenständigen Bilanzen des Kapitalbausektors, in denen nicht nur die Anzahl aller gefangenen und zivilen Beschäftigten, sondern auch die für beide Gruppen aufgewendeten finanziellen Mittel verbucht wurden. Bei Zivilbeschäftigten handelte es sich dabei um die ausgezahlte Lohnsumme, bei den Häftlingen hingegen um den Betrag, der dem Lager für ihre Bereitstellung überwiesen wurde. Die Höhe dieser Summen hing vom Qualifikationsprofil der Häftlinge ab für qualifizierte Häftlinge erhielt das Lager, besonders in den späten 1940er Jahren, deutlich mehr Geld. Den in Abb. 15 veranschaulichten Zahlen lassen sich zunächst die Durchschnittslohnkosten für Zivilbeschäftigte entnehmen. Im Betrachtungszeitraum bewegte sich der mittlere Jahresverdienst ziviler Arbeiter demnach zwischen 8.553 Rb. im Jahre 1944 und 19.165 Rb. im Jahre 1949, während ein durchschnittlicher Ingenieur oder leitender Angestellter zwischen 22.246 Rb. (1943) und 35.547 Rb. (1949) verdiente. Einerseits indizieren diese Zahlen ein relativ hohes Lohnniveau, was unterstreicht, daß die verhältnismäßig wenigen zivilen Beschäftigten im Kapitalbausektor tendenziell anspruchsvolle Funktionen ausübten.16 14 Ein weiteres Unschärfemoment bilden einzelne Berichte ehemaliger Häftlinge in Norilsk, nach denen in Situationen, in denen Zwangsarbeiter gemeinsam mit Zivilbeschäftigten tätig waren, von Gefangenen verrichtete Arbeit ihren zivilen Kollegen gutgeschrieben wurde - mitunter gezwungenermaßen, mitunter jedoch auch mit gegenseitigem Einverständnis, da zivile Arbeiter für dieselbe Leistung attraktivere Prämien erhielten (Kersnovskaja, Skol'ko stoit celovek, Bd. V, S. 42 f.; Veselovskij, Skrytaja biografija, S. 165; Gaevskij, Erinnerungen (o.T.)). 15 Zwar liegen Daten vor, nach denen die Arbeitsproduktivität in den späten 1940er Jahren in den Unternehmen, die den Lagerhauptverwaltungen des MWD unterstellt waren, insgesamt nur bei etwa 50-60 % des Durchschnittswertes von zivilen Industrien der entsprechenden Branchen lag. Allerdings muß ein wesentlicher Grund für diese Diskrepanz darin gesehen werden, daß der Mechanisierungsgrad in den mit Zwangsarbeit betriebenen Unternehmungen, Wirtschafts- und Bauprojekten gerade in der Nachkriegszeit weit unterdurchschnittlich war {Andrej K. Sokolov: Prinuzdenie k trudu ν sovetskoj ékonomike: 1930-e - seredina 1950-ch gg., in: Borodkin / Gregory/Chlevnjuk, GULAG: Ekonomika prinuditel'nogo truda, S. 17-66, hier: S. 63). 16 Vgl. Unterkapitel C. VI.
15 Ertz
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Andererseits hätten sie noch weitaus höher gelegen, hätten sämtliche Zivilbeschäftigten Polarzuschläge erhalten, was für die Mehrzahl von ihnen, wie bereits festgestellt wurde, nicht zutraf. Für die gefangenen Beschäftigten mußte der Kapitalbausektor dagegen erheblich weniger aufwenden; hier bewegten sich die durchschnittlichen Kosten für einen Arbeiter zwischen 3.251 Rb. (1944) und 5.987 Rb. (1949), während sie für Ingenieure oder technische Arbeiter zwischen 3.961 Rb. (1944) und 10.514 Rb. (1948) lagen. Da diese Werte jeweils annähernd mit den Kosten übereinstimmen, die dem Lager im Mittel für die Unterhaltung eines Häftlings entstanden17 - einschließlich des Aufwands für Bewachung, Infrastruktur und Verwaltung - ist es plausibel, die Größenordnung der Kostenunterschiede auf das gesamte Kombinat zu extrapolieren.
• Durchschnittsarbeitskosten Häftlingiarbeiter EI Durchschnittsarbeitskosten Ingenieure/technisches Personal (Häftlinge) • Durchschnittsgehalt zivile Arbeiter • Durchschnittsgehalt Ingenieure/techn. Personal (zivile Beschäftigte)
Quellen: GARE R-8361.1.57: 22 f.; R-8361.1.63: 73; R-8361.1.96: 54 f.; R-8361.1.102: 162; R-8361.1.144; R-8361.1.174: 107 f. * Für 1947 liegen keine Daten vor. ** Erneut muß auf die Preisreform vom 15. September 1946 verwiesen werden, die eine Veränderung (in bezug auf viele Lebensmittel: eine deutliche Verminderung) der Kaufkraft der Nominallöhne zur Folge hatte.
Abb. 15: Gegenüberstellung des Durchschnittslohns ziviler Beschäftigter und der Durchschnittsarbeitskosten für Zwangsarbeiter im Kapitalbausektor, 1943 - 1949 (Rb. je Person und Jahr)
Im Lichte dieser Zahlen zeichnet sich ab, daß sich Bau und Betrieb des Kombinates in der Frühphase ohne den Einsatz von Zwangsarbeitern deutlich kostenaufwendiger gestaltet hätten, da freie Arbeiter in den 1940er Jahren und selbst Jahrzehnte später noch nur mit hohen finanziellen Zuschlägen und Sonderleistungen 17 Vgl. Anhang H. II, Abb. V. Da die Zahl der Arbeiter unter den Gefangenen um ein vielfaches höher lag als die der Ingenieure, sind die relativ hohen Zahlungen für letztere bei der Bildung eines Mittelwertes entsprechend unterzugewichten - vgl. hierzu Tab. 6b im Unterkapitel C. VII.
G. Exkurs: Bewertung des Nutzens von Zwangsarbeit in Norilsk
227
bewogen werden konnten, nach Norilsk zu ziehen. Zwar wurde die Produktion des Kombinates während und nach der Auflösung des Lagers im Zeitraum 1953 bis 1956 letztlich erfolgreich auf freie Arbeitskräfte umgestellt, doch war dieser Prozeß mit einer drastischen Verringerung der Mitarbeiterzahl und einer Mechanisierung der Produktion verbunden, was mit einem erhöhten Kapitaleinsatz einherging. Obgleich daraus noch nicht folgt, daß Norilsk nicht auch ohne den Einsatz von Zwangsarbeit hätte gebaut werden können, muß daher als unwahrscheinlich gelten, daß die, wenngleich verzögerte, so doch noch immer rasche Aufnahme der Nikkeiproduktion in den frühen 1940er Jahren bei der Beschäftigung ausschließlich freier Arbeiter und ohne den Einsatz erheblich umfangreicherer materieller und finanzieller Ressourcen möglich gewesen wäre. 18 Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß sich die Entscheidung, in Norilsk ein Nickelkombinat zu errichten, aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ausgezahlt hat und der Einsatz von Zwangsarbeit half, dieses Vorhaben kostengünstig und rasch zu realisieren. Zugleich verweisen die skizzierten methodischen Probleme darauf, daß eine Bewertung des ökonomischen Nutzens und der Kosten von Zwangsarbeit entscheidend von der Bewertung der eingesetzten Ressourcen abhängt. In Norilsk und auch im stalinistischen Lagersystem insgesamt wurde der ,Preis4 der Zwangsarbeiter primär in den Kosten gesehen, die für ihre Versorgung aufgewandt werden mußten. Aus einer volkswirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Perspektive muß selbstredend eingewendet werden, daß eine solche Kalkulation die immensen sozialen, kulturellen und demographischen Verluste ausklammerte, die das Schicksal der Zwangsarbeiter in Norilsk und andernorts bedeutete und die ihrerseits erhebliche und zugleich kaum meßbare gesellschaftliche Kosten verursachten. Doch wie bereits angedeutet wurde, hätte eine solche Argumentation in der Logik des stalinistischen Systems nicht verfangen - da diese Kosten entweder nicht als solche betrachtet wurden oder mit dem vermeintlichen politischen Nutzen der Entfernung politischer und sonstiger Straftäter (bzw. schädlicher Elemente') aus der Gesellschaft gerechtfertigt worden wären. Besinnt man sich auf die Wertegrundlage moderner liberaler Gesellschaften, kann es indes nur eine Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des stalinistischen Lagersystems geben. Sie besteht in der Zurückweisung der vom stalinistischen Regime aufgestellten, ideologisch begründeten Bewertungsmaßstäbe, welche es in die Lage versetzten, die enormen Kosten, die die exzessive Inhaftierungspraxis und die darauffolgende unerbittliche Ausnutzung der Arbeitskraft dieser Menschen in Zwangsarbeitslagern sowohl der Gesellschaft als auch den Betroffenen aufbürdeten, zu ignorieren. 18 Hier ließe sich die Frage anschließen, ob eine spätere Aufnahme der Nickelproduktion in Norilsk schwerwiegende Folgen gezeitigt hätte. Während die Abnehmerindustrien zweifellos gewisse Einschränkungen hätten hinnehmen müssen, sei zugleich daran erinnert, daß das Kombinat erst relativ spät im Verlauf des Zweiten Weltkrieges einen nennenswerten Beitrag zur Rüstungsproduktion leistete, so daß ihm keine derart entscheidende militärstrategische Bedeutung zukam, wie bisweilen suggeriert wurde. 16*
t
t
t
t
t
t
t
Erzförderung (gesamt) Stein
Feinstein
Rohnickel
Elektrolytnickel
Rohkupfer
Elektrolytkupfer
1937
31.245* (30.000)
1939
1940
1941
1942
1943
1944
1945
(10.000)
221.626 228.724 324.198 476.123 618.944 689.549 859.319 (225.000) (300.000) (250.000) (360.000) (650.000) (650.000) (750.000) ** 5.050 30.130 81.099 191.898 150.590 169.604 255.225 (10.000) (30.000) (75.000) (190.000) (155.000) (150.000) (220.000) 659 2.335 7.851 ** 98.792 88.092 140.895 (5.000) (89.565) (107.050) (112.050) 700*** 829 3.139 12.000 15.858 18.262 23.666 (1.000) (2.000) (1.500) (10.000) (17.275) (16.434) (23.600) 876 3.975 6.673 9.480 (1.300) (856) (4.500) (6.061) (8.080) 514 2.152 3.846 5.664 (400) (4.000) (3.500) (5.500) 81 446 1.914 3.609 4.253 (500) (1.900) (-) (-) (5.000) (3.500) (4.500) 48 519 780 (-) (-) (500) 1.010 1.444 2.150 3.450 (4.000) (2.000) (3.300) 3.000
1938
62.202
* Fettgedruckte Zahlen stellen die tatsächliche Produktion dar, Zahlen in Klammern die letztgültige Planziffer. ** Leerfelder deuten auf keine Produktion hin, sofern sie sich vor dem jeweils chronologisch ersten Eintrag einer Zeile befinden. Leerstellen in späteren Jahren (nach bereits erfolgtem Produktionsstart) sind hingegen der NichtVerfügbarkeit von Daten geschuldet. *** Angabe entnommen dem „Bericht zur Erfüllung des Investitionsplans in den Bauprojekten des GULAG im Jahr 1939" (GARF. R-9414.1.2977: 231us.). Andere Werte finden sich jedoch in der Jahresbilanz des Norilsker Kombinates für das Jahr 1941 (309 t. - GARF. R-8361.1.11: 41) sowie in der Jahresbilanz der Verwaltung für Montanindustrie und Metallurgie (UGMP) des NKWD für das Jahr 1940 (293 t. - GARF. R-9401.4.2016: 54us.).
Quellen: RGASPI. 17.3.1008: 95; GARF. R-8361.1.11: 10, 41; R-8361.1.40: 25 ff., 63; R-8361.1.56: 23; R-8361.1.71: 29, 66 ff.; R-8361.1.95: 4 ff., 72 f.; R-9401.4.2016: 19; R-9414.1.30: 42; R-9414.1.2977: 231us.; R-9414.ld.969: 12, 88; R-9414.ld.1118: 50.
Platinoide kg (in Schlämmen) Kobalt kg
r
Steinkohle
Einheit
Tabelle la: Entwicklung der Produktion der Haupterzeugnisse des Norilsker Kombinates in realen Einheiten, 1937 -1945
I. Produktionsstatistiken des Norilsker Kombinates
H. Anhang
t
t
Elektrolytkupfer
5.112 (4.500) 1.023 (800)
1951
4.770 (6.200)
8.754 (6.700) 1.240 (1.000)
8.409 (8.200)
10.854 (10.510)
37.712 (35.000)
16382 (20.000) 2.043 (15.000)
10.589 (10.300) 22.200 (30.000) 16.620 (28.000)
12.025 (12.000)
34.378
36.024
15.071 (15.000)
166.000 206.310 (160.000) (200.000)
8.785 16.000 20.410 27.144 (13.000) (20.000) (26.000)
11.248 (14.000) 1.782 (1.650)
9.168 (9.100)
(31.800)
1954
32.545
35.944
15.950 (17.500)
251.330 (260.000)
35.014
1953
(42.500)
**
(38.500)
1952
** Für alle Leerfelder gilt: Keine Daten verfügbar.
* Fettgedruckte Zahlen stellen die tatsächliche Produktion dar, Zahlen in Klammern die letztgültige Planziffer.
R-9401.4.1155: 4, 49; R-9401.4.861: 70; R-9401.4.2635: 2-4; R-9401.4.1321: 56, 63, 65; RGAÈ. 9022.1.1703: 112.
Quellen: GARF. R-8361.1.101: 122 f.; R-8361.1.125: 6 ff., 115; R-8361.1.143; R-8361.1.155: 135; R-8361.1.173: 10 ff., 76, 85; R-8361.1.368: 2; R-9401.4.753: 5;
kg
4.190 (4.125)
6.580 (5.500) 1.161 (1.000)
7.890 (7.800)
10.550 (10.020)
31.481 (27.950)
250.900
42.055 55.952 79.127 108.411 132.045 (30.000) (50.000) (60.000) (100.200)
t
Rohkupfer
7.202 (7.200)
1950
Kobalt
t
Elektrolytnickel
9.171 (9.170)
1949
3.554 (4.100)
t
Rohnickel
26.705 (25.260)
1948
1.182.900 1.310.400 1.447.645 1.610.140 1.847.397 (1.900.000) (1.150.000) (1.300.000) (1.400.000) (1.400.000) (1.700.000)
1947
210.628 214.300 (200.000) (230.000) 128.936 (123.980)
1.000.790* (900.000)
1946
Platinoide kg (in Schlämmen) (3.550)
t
Feinstein
Erzförderung t (gesamt) (200.000) Stein t
Steinkohle
Einheit
Tabelle Ib: Produktion der Haupterzeugnisse des Norilsker Kombinates in realen Einheiten, 1946-1954
I. Produktionsstatistiken des Norilsker Kombinates 229
H. Anhang
230
Entwicklung der Nickelproduktion (t) 18.000 Elektro lytnickel (Planvorgabe) IElektrolytnickel (faktisch) Rohnickel (Planvorgabe) I Rohnickel (faktisch)
1941
1942
1943
1944
1945
1946
1947
1948
1949
1950
1951
1952
1953
1954
Entwicklung der Produktion von Platinoiden (in Schlämmen, kg) 35.000 Platinoide (Planvorgabe)
30.000
I Platinoide (faktisch) 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000
0 1941
1942
1943
1944
1945
1946
1947
1948
1949
1950
1951
1952
1953
1954
Quellen: s. Quellenangabe zu Tabelle I.
Abb. I und II: Entwicklung der Produktion ausgewählter Erzeugnisse des Norilsker Kombinates in realen Einheiten, 1941-1954
konst.
lfde.
1941 konst. lfde.
1942 konst. lfde.
1943 konst.
lfde.
1944
63.222
90.895
132.887
* Dienstleistungen der Industriebetriebe an Dritte und an den Kapitalbausektor, Bau- und Konstruktionsarbeiten, Instandhaltungs- und Wartungsarbeiten, sonstige Dienstleistungen. ** Koks ging zu 15 % des Abnahmepreises in die Marktproduktion ein. *** Der höhere, in Klammern gesetzte Wert umfaßte die Investitionsarbeiten im Bergbausektor. Dieser Posten wurde der Marktproduktion jedoch nur im Jahre 1941 zugeschlagen, in allen Folgejahren wurde er getrennt ausgewiesen.
Quellen: s. Quellenangaben zu Tab. I.
Tatsächliche Selbstkosten der Marktproduktion:
Steinkohle (nur Marktproduktion) 10,48// 615 13.058 1.805 12.849 1.907 14.066 2.410 16.000 Stein 127 It 997 2.826 Feinstein 1.025// 3.218 9.105 8.186 53.576 Rohnickel 3.600/1 174 786 Elektrolytnickel 4.500// 2.314 8.280 9.682 34.641 17.307 61.922 Rohkupfer 890// 72 314 397 1.116 1.703 4.784 2.751 7.726 Elektrolytkupfer 1.110// 52 119 830 2.335 Platinoide (in Schlämmen) 3.085/kg 2.703 18.022 3.659 19.290 6.633 39.775 Kobalt 56 /kg Koks 15%** 25 171 Kalziumkarbid 826// 117 910 183 1.110 Elektrische Energie 0,056 / kwh 543 2.426 651 2.792 1.154 3.225 1.800 6.106 Dienstleistungen* 1.266 8.439 1.598 10.332 2.054 12.373 1.526 9.126 (2.148***) (14.326***) Marktproduktion insgesamt: 7.948 45.959 17.994 108.851 20.544 90.170 33.572 144.821
Preise konst.
Konstanter Preis je Einheit (Rb.)
Tabelle IIa: Zusammensetzung und Entwicklung der Marktproduktion des Norilsker Kombinates in konstanten Preisen von 1926/27 und in laufenden Abnehmerpreisen, 1941 -1944 (Tsd. Rubel)
I. Produktionsstatistiken des Norilsker Kombinates 231
890/ t
3.785
15%
48.379
2.034
4.550
52
201.587
242.243
12.780
7.059
17.678 5.856
65.749
2.837
~
16.450 1.289
21.962
20.166
518.620
407.360
12.709
119.917
64.492
34.816
88.232
5.578
180.794
~
21.615
531.429
74.392
4.431
14.713
1.376
22.036
37.840
49.670 16.594
24.619
77.515
5.225
7.845
169.635
15.841
40.603
3.133
12.926
91.590
9.609
lfde.
35.505
;46.654
2.376
4.603
18.504
359.600
401.108
konst.
154.843
685 17.839 37.043
104
2.355 695
1.135 10.964
80.726
8.517
102
2.650 32.409
330.944
1.320 403
3.510 62.835
1.448 2.325
12.585
220
866
19.082 121.774
konst. lfde.
~
43.249
Quellen: s. Quellenangaben zu Tabelle I. * Die starke Zunahme der bilanzierten Marktproduktion von Kohle und Koks zwischen 1947 und 1948 hatte offensichtlich bilanztechnische Gründe, da in diesem Zeitraum zum einen keine wesentlichen neuen Produktionskapazitäten in Betrieb genommen wurden, die hypothetisch als neue Abnehmer hätten fungieren können, zum anderen jedoch die absolute Kohleförderung vergleichsweise moderat anstieg (vgl. Tabelle Ib). Analoges gilt für die Zunahme des Anteils von Elektroenergie an der Marktproduktion zwischen 1945 und 1946.
Marktproduktion:
Marktproduktion insgesamt: Tatsächliche Selbstkosten der
Dienstleistungen
826 It 206 0,056Ikwh (1945) 0,065 lkwh (ab 1946)
33
15%
168
~
konst. lfde.
10.633
10.643
Kalziumkarbid Elektrische Energie
56 Ikg
1.110/f
2.676
25.488
Koks*
Kobalt
(in Schlämmen) 3.085 Ikg
Platinoide
Elektrolytkupfer
Rohkupfer
Elektrolytnickel 4.500 It
10,48/f
konst. konst. lfde.
Marktproduktion)*
Steinkohle (nur
Preise
Konstanter Preis je Einheit (Rb.)
Tabelle IIb: Zusammensetzung und Entwicklung der Marktproduktion des Norilsker Kombinates in konstanten Preisen von 1926/27 und in laufenden Abnehmerpreisen, 1945 -1948 (Tsd. Rubel)
232 H. Anhang
I. Produktionsstatistiken des Norilsker Kombinates
233
Quellen: GARF. R-8361.1.102: 3 f.; R-9414.ld.854: 73; R-9414.ld.969: 4; R-9414.ld.1118: 16; Order des NKWD Nr. 249 vom 13. April 1940; R-9401.4.2051: 4; R-8361.1.10: 20; R-8361.1.41: 17; R-8361.1.57: 27us.; R-8361.1.69: 4; R-8361.1.96: 3, 3us.; R-8361.1.144: 5; Streng Geheimer Order des MWD Nr. 00286 vom 03. Mai 1950; R-9401.4.1155: 49; Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 3, Èkonomika Gulaga, S. 261. * Die Jahresinvestitionssumme für 1951 ist extrapoliert (Stand: Anfang November). Abb. I I I : Gegenüberstellung der Investitionen des Norilsker Bauprojektes / Kombinates und der Marktproduktion des Kombinates, 1 9 3 5 - 1951 (Tsd. Rubel)
01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
1936
1937
1938
1939
Jahr
Stichtag
Anzahl
Jahr
Stichtag
Anzahl
01.01. 45.691 65.481 63.306 66.480
01.01. 57.543 34.526 32.310 38.437
1954
1953
1952
01.01.
01.01.
01.01.
01.01.
58.651
Stichtag
36.734
67.889
68.849
72.940*
1955
Anzahl
1956
01.01.
Jahr
01.01.
33.519
13.629
Stichtag Anzahl
H. Anhang
* In Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej ν SSSR fälschlich: 72.490 (S. 339).
Quellen: GARF. R-9414.1.174: 7; R-9414.1.1155: 20, 54us., 55; R-9414.1.1160: 4; R-9414.1.2784: 18; R-9414.ld.358: 1, 17, 29, 55; R-9414.ld.364. 2, 19, 37, 54; R-9414.ld.370: 24, 60; R-9414.ld.371: 2, 29, 54, 70; R-9414.ld.379: 15, 92us.; R-9414.ld.390: 2, 47, 85, 129; R-9414.ld.424: 8, 58, 114, 165; R-9414.ld.442: 1, 45, 88, 130; R-9414.ld.455: 8, 52, 98, 152; R-9414.ld.466: 10, 57us., 103us., 146us.; R-9414.ld.472: 2us., 17us., 42us., 64us.; R-9414.ld.479: 3us., 27us., 51us., 75us.; R-9414.ld.485: 3us., 21us, 40 us., 58 us., 78; R-9414.ld.495: 2us., 21us., 39us., 57us.; R-9414.ld.500: 2us., 31us., 46us., 58us.; R-9414.ld.502: 1, 4, 7, 10; R-9414.ld.506: 15us., 47us., 48us., 73us., 74us., llOus.; R-9414.ld.508: 4; R-9414.ld.511: 8us. 67us. 124us., 150us.; R-9414.ld.513: 3us., 39us., 70us.
11.560 1944 01.01. 34.572 1949 10.858 01.04. 32.913 01.04. 55.978 01.04. 10.331 01.07. 31.343 01.07. 51.787 01.07. 19.511 01.10. 30.131 01.10. 58.681 01.10.
Jahr 01.01. 27.678 21.214 17.477
01.01. 39.476 1951 70.758 01.04. 12.701 66.054 01.07. 9.956 70.967 01.10.
7.927 1943 01.01. 30.757 1948 01.01. 56.779 7.383 01.04. 29.908 01.04. 55.425 01.04. 64.393 8.791 01.07. 28.739 01.07. 55.216 01.07. 41.724 34.236 01.10. 59.561 01.10. 34.064 10.886 01.10.
9.139 1942 01.01. 23.779 1947 9.013 01.04. 22.322 01.04. 44.471 01.04. 8.892 01.07. 22.232 01.07. 44.187 01.07. 8.447 01.10. 30.781 01.10. 56.113 01.10.
1.251 1941 01.01. 20.535 1946 1.255 01.04. 18.337 01.04. 37.735 01.04. 3.821 01.07. 17.491 01.07. 38.297 01.07. 8.566 01.10. 20.378 01.10. 45.297 01.10.
01.01. 19.579 1945 01.01. 32.309 1950 01.04. 19.179 01.04. 32.573 01.04. 59.221 01.04. 01.07. 18.267 01.07. 35.493 01.07. 56.776 01.07. 1.200 01.10. 20.436 01.10. 38.742 01.10. 72.818 01.10.
01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
1940
Stichtag Anzahl
Jahr
1935
Tabelle III: Anzahl der Häftlinge des Norilsker Lagers, 1935-1956 (absolute Zahlen, einschließlich Katorga-Häftlinge)
II. Häftlingsstatistiken der Norilsker Lager 234
I.
t i n s s t a t i s t i k e n de Norilsker
ae
235
Tabelle /V* Anzahl der Katorga-Häftlinge i m Norilsker Lager, 1945 - 1 9 5 4 Jahr
Stichtag
1945
01.01.
662
01.04.
635
01.07. 1946
1947
1948
1949
Anzahl
Jahr
Stichtag
Anzahl
1950
01.01.
4.352
01.04.
4.338
2.891
01.07.
4.324
10.10.
4.325
01.10.
3.091
01.01.
5.452
01.01.
4.275
01.04.
5.349
01.04.
4.251
01.07.
5.997
01.07.
3.835
01.10.
3.827
01.10.
8.072
01.01.
8.209
01.04.
1951
1952
01.01.
3.891
8.043
01.04.
3.788
01.07.
8.384
01.07.
3.904
01.10.
9.144
01.10.
3.891
01.01.
8.857
01.04.
8.742
1953
01.01.
3.894
01.04.
3.882
01.07.
8.692
01.07.
3.867
01.10.
6.371*
01.10.
3.714
01.01.
5.374
01.01.
3.697
01.04.
5.288
01.04.
3.679
01.07.
4.569
01.07.
3.661
01.10.
4.536
01.10.
5.957*
1954
Quellen: GARF. R-9414.ld.424: 12, 69, 114, 165; R-9414.ld.442: 1, 45, 88, 130; R-9414.ld.455: 8, 52, 98, 152; R-9414.ld.466: 10, 57us., 103us., 146us.; R-9414.ld.472. 2us., 17us., 42us., 64us.; R-9414.ld.479: 3us., 27us., 51us., 75us.; R-9414.ld.485: 3us., 21us., 40 us., 58 us., 78; R-9414.ld.495: 2us., 21us., 39us., 57us.; R-9414.ld.500: 2us„ 31us., 46us., 58us.; R-9414.ld.502: 1, 4, 7, 10; R-9414.ld.506: 15us.,47us., 48us., 73us., 74us., llOus.; R-9414.ld.508: 4; R-9414.ld.511: 8us. * Der starke Rückgang der Katorga-Häftlinge gegen Jahresende 1948 und der erneute abrupte Anstieg gegen Ende 1954 spiegeln die Gründung bzw. die Auflösung des Speziallagers Nr. 2 wider, das auf der Basis von Lagereinheiten des Norilsker Lagers gegründet wurde und dessen verbliebene Häftlinge, darunter zuletzt 3.389 Katorga-Häftlinge, nach seiner Auflösung wieder dem Norilsker Lager zugerechnet wurden (vgl. Tabelle V). Der Eintrag zum 01. 10.1954 ist der letzte verfügbare. Die nächste Eintragung liegt für den 1. Juli 1955 vor und lautet „0 Personen" (GARF. R-9414.ld.511: 124us.).
236
H. Anhang Tabelle V Anzahl der Häftlinge im Speziallager Nr. 2,1948-1954 (einschließlich Katorga)
Jahr
Stichtag
1948
01.01.
1949
1950
1951
Anzahl
darunter Katorga
Jahr
Stichtag
1952
Anzahl
darunter Katorga
01.01.
20.218
4.441
01.04.
01.04.
20.042
4.418
01.07.
01.07.
18.356
4.262
01.10.
20.138
4.254
01.10.
7.258
2.420
01.01.
14.802
3.199
01.01.
20.167
4.237
01.04.
14.961
3.436
01.03.*
19.879
4.224 k. A.
1953
01.07.
17.095
3.948
01.07.
19.545
01.10.
17.421
3.938
01.10.
15.292
k. A.
01.01.
17.424
4.077
01.01.
15.083
3.467
01.04.
17.314
4.062
01.04.
14.823
3.448
01.07.
17.252
4.049
01.07.
14.325**
3.389
01.10.
18.605
4.108
01.10.
01.01.
19.186
4.106
01.04.
18.989
4.094
01.07.
19.323
4.457
01.10.
20.326
4.462
1954
Quellen: GARF. R-9414.ld.466: 146us.; R-9414.ld.472: 2us., 18us., 42us., 64us.; R-9414.ld.479: 3us., 27us., 51us., 75us.; R-9414.ld.485: 78, 25us., 40us., 58us.; R-9414.ld.495: 2us„ 21us., 39us., 57us., R-9414.ld.502: 1,4, 7, 14; R-9414.ld.506: 48us., 74us.; R-9414.ld.508: 4, 8us., 19, 31us., 32. * Für den Ol. April sind keine Daten verügbar. ** Sämtliche Häftlinge verbucht unter „Abgänge in andere Lager".
I.
tinsstatistiken de Norilsker
237
ae
Tabelle VI Gegenüberstellung der Anzahl der Häftlinge in den Norilsker Lagern und in sämtlichen Lagern und Kolonien des N K W D / M W D , 1930-1959
Datum
Lager des NKWD/ MWD
01.01.30 01.01.31 01.01.32 01.01.33 01.01.34 01.01.35 01.01.36 01.01.37 01.01.38 01.01.39 01.01.40 01.01.41 01.01.42 01.01.43 01.01.44 01.01.45 01.01.46 01.01.47 01.01.48 01.01.49 01.01.50 01.01.51 01.01.52 01.01.53 01.01.54 01.01.55 01.01.56 01.01.57 01.01.58 01.01.59
179.000 212.000 268.700 334.300 510.307 725.483 839.406 820.881 996.367 1.317.195 1.344.408 1.500.524 1.415.596 983.974 663.594 715.506 600.897 808.839 1.108.057 1.216.361 1.416.300 1.533.767 1.711.202 1.727.970 873.950 748.489 557.877 492.095 409.567 388.114
Kolonien
Lager und Kolonien des Norilsker NKWD/ Lager MWD*
257.110
(767.417)
457.088* 375.488* 885.203* 355.243 328.383 465.864 387.822 503.308 522. 597 768.510 526.037 912.136 1.091.478 1.140.339 1.144.975 994.379 793.312 740.554 451.053 326.791 223.753 315.822 312.332 474.593
1.296.494* 1.196.369* 1.881.570* 1.672.438 1.672.791 1.966.388 1.803.418 1.487.282 1.186.191 1.484.016 1.126.934 1.720.975 2.199.535 2.356.700 2.561.275 2.528.146 2.504.514 2.468.524 1.325.003 1.075.280 781.630 807.977 721.899 862.707
1.251 9.139 7.927 11.560 19.579 20.535 23.779 30.757 34.572 32.309 39.476 45.691 56.779 57.543 58.651 72.940 68.849 67.889 36.734 33.519 13.629
Speziallager Nr. 2
14.802 17.424 19.186 20.218 20.167 15.083
Norilsker Lager und Speziallager Nr. 2
1.251 9.139 7.927 11.560 19.579 20.535 23.779 30.757 34.572 32.309 39.476 45.691 56.779 72.345 76.075 92.126 89.067 88.056 51.817
Quellen: Zu Norilsk: vgl. Quellen zu Tab. III und Tab. V. Zu den Lagern und Kolonien des NKWD / MWD: Daten bis 1948: GARF. R-9414.1.1155: la, 2; R-9414.1.330: 55; Daten für 1949-1954: Zemskov, GULAG, Sociologiceskie Issledovanija, 6 (1991), S. 11; 7 (1991), S. 12. Daten für 1955-1959: Istorija stalinskogo Gulaga, Bd. 4, Naselenie Gulaga, S. 134; Daten für Kolonien für 1934: ebd., S. 35. * Bis zum Juli 1934 waren die schon zuvor existenten Kolonien den republikanischen Volkskommissariaten der Justiz unterstellt. Für das Jahr 1935 liegen keine Gefangenenzahlen für die Kolonien vor. Die Daten für die Kolonien sowie für sämtliche Lager und Kolonien in den Jahren 1936-38 schließen die Gefängnisse mit ein.
Februar
März
April
Mai
Juni Juli
August
September
Oktober
November Dezember Σ
H. Anhang
* Für Januar 1949 und Mai 1950 sind in den Statistiken der URO keine Einträge vorhanden. Allerdings wird die Zahl von 696 Todesfällen im Gesamtjahr 1950 auch in einem ausführlichen Bericht der Norilsker Lagerleitung zur Tätigkeit des Norilsker Lagers genannt (GARF. R-9414.Id. 151: 19). ** Ab Mai 1954 sind in den Statistiken der URO Todesfälle im Norilsker Lager nicht mehr gesondert ausgewiesen.
Quellen: GARF. R-9414.1.2740: 26, 33, 42, 48, 63, 75; R-9414.1.2784: 7, 8, 9, 10, 26; R-9414.1.2788: 3, 6, 9, 11, 15, 17, 19, 24, 27, 30, 33, 34; R-9414.1.2796: 102us., 103, 114us., 128; R-9414.1.2804: 2, 39; R-9414.1.2817: 2, 11, 21, 30, 39, 48; R-9414.1.2821: 31us., 118us.; R-9414.1.2822: 61us., 62, 126us., 127; R-9414.1.2829: 7, 20us., 52us.; R-9414.1.2840: 47, lOOus., 158us., 216us.; R-9414.1.2850: 40us., 99, 170us., 230us.; R-9414.1.2852: 34us., 76us., 118us., 168us.; R-9414.1.2868: 64us., 116us.; R-9414.1.2869: 60us., 135us.; R-9414.ld.383: 4, 4us.; R-9414.Id.400: 1, lus.; R-9414.ld.416: 1, lus.; R-9414.ld.434: 2, 2us., 3, 3us.; R-9414.ld.450: 2, 2us., 3, 3us.; R-9414.ld.472: 6us., llus., 18, 25us., 35, 43, 51, 58, 65, 72, 80; R-9414.ld.479: 4, 12, 20, 28, 36, 44, 52, 60, 68, 76, 84, 92; R-9414.ld.485: 4, 10, 16, 22, 28, 35, 41, 47, 53, 59, 65, 71; R-9414.ld.495: 3, 10, 16, 22, 28, 34,40, 46, 52, 58, 64, 70; R-9414.ld.500: 3, 9, 15, 32, 38, 43, 47, 51, 55, 59, 63, 71; R-9414.ld.508: 6, 10, 14, 18.
1935 Ö~ Ö" Ö~ Ö~ 1936 1 0 1 1 0 1 4 4 3 6 13 11 45 1937 10 5 4 7 9 9 9 5 5 4 5 3 75 1938 5 1 0 1 1 3 7 5 10 16 19 25 93 1939 20 15 6 11 6 5 5 13 84 134 65 38 402 1940 38 34 54 29 23 28 28 15 6 9 12 8 284 1941 9 13 14 8 8 8 12 15 12 31 80 71 281 1942 60(69) 35(42) 40(122) 31 (41) 29(38) 46(49) 58(233) 135(227) 169(245) 238(238) 204(244) 166(179) 1.211 (1727) 1943 208(199) 162(166) 145(164) 153(167) 135(124) 113(122) 162(162) 146(145) 193(193) 265(363) 429(437) 282(280) 2.393(2522) 1944 194(207) 165(167) 162(164) 185(189) 111 (113) 108(108) 133(117) 148(149) 101 (101) 96(74) 78(78) 87(62) 1.568(1529) 1945 92(96) 59(59) 69(96) 93(91) 79(79) 89(90) 49(49) 61 (104) 98(100) 193(194) 152(156) 162(110) 1.196(1224) 1946 99(99) 120(121) 89(89) 99(99) 76(75) 75(83) 53(43) 105(98) 96(93) 102(102) 136(139) 140(140) 1.190(1181) 1947 90 100 100 106 89 92 97 175 165 249 219 214 1.696 1948 155 137 122 96 86 43 103 58 54 58 70 57 1.039 1949 60 (*) 60(60) 59(57) 49(49) 54(54) 46(46) 44(44) 46(46) 49(52) 47(47) 59(59) 66(66) 639(580*) 1950 47(90) 87(43) 55 (55) 39(39) 62 (*) 41 (62) 37(85) 79(71) 56(56) 81 (79) 55(61) 54(55) 693 (696*) 1951 48(50) 50(53) 58(58) 58(58) 51 (51) 43 (58) 60(62) 54(50) 52(52) 64(64) 55 (55) 71 (71) 664(682) 1952 54(54) 51 (50) 63(61) 37(34) 41 (44) 62(53) 56(59) 56(49) 64(66) 71 (70) 56(59) 43(50) 654(649) 1953 (76) (38) (40) (27) (42) (34) (22) (40) (27) (21) (21) (13) (401) 1954 (25) (23) (19) (15) ** (82)
Januar
Tabelle VII: Daten der Sanitären Abteilung (in Klammern: der URO) des GULAG zur Sterblichkeit unter den Häftlingen des Norilsker Lagers (absolute Zahlen) 238
23
8
9
17
16
5
9
18
18
26
16
14
18
6
17
13
19
32
20
16
39
38
12
58
12
29 9
23 9
28
12
31 18
14
22
Juni Juli
16
12
22
23
16
22
29
Mai
14
7
31
34
21
38
April
16
31
16
13
25
März
3
286
179
186
306
August
237
(1)
September (15)
Oktober
81
(209)
(108)
November Dezember
Σ = 1.275.
(333)
Σ
tinsstatistiken de Norilsker a e
* Für das Jahr 1948 sind in Ermangelung explizit aufgeführter Todesfälle jene „Abgänge" aufgeführt, die in den Akten unter „andere Gründe" verbucht sind (abgesehen von Freilassungen, Flucht oder Überstellungen in andere Haftverbüßungsorte). Da für die Folgejahre, in denen die Sterblichkeit nunmehr getrennt ausgewiesen wurde, die Anzahl solcher „anderer Abgänge" wesentlich geringer ist, kann angenommen werden, daß zwar sicherlich nicht alle, doch zumindest ein erheblicher Teil der für 1948 verbuchten Abgänge Todesfälle darstellt. Da deren genauer Anteil jedoch nicht ermittelt werden konnte, wurde die Zahl 333 bei der Bildung der Summe der Todesfälle nicht berücksichtigt.
Quellen: GARF. R-9414.ld.466: 146us, 151us, 157us.; R-9414.ld.472: 2us, 12us, 19, 26, 35, 43, 51,58, 65, 72, 80; R-9414.ld.479: 4, 12, 20, 28, 36, 44, 52, 60, 68, 76, 84, 92; R-9414.ld.485: 78, 82, 90, 26, 32, 35, 41, 47, 53, 59, 65, 71; R-9414.1.2840: 47us, lOOus, 158us, 216us.; R-9414.ld.502: 1-12; R-9414.ld.506: 68us.; R-9414.ld.508: llus., 16; R-9414.1.2852: 80us., 119us.
1954 13
1953 21
1952 10
14
1951 11
12
17
21
1950 21
12
k.A. 31
Februar
1949 29
1948*
Januar
Tabelle VIII: Daten der URO des GULAG zur Sterblichkeit unter den Häftlingen des Speziallagers Nr. 2,1948-1954 (absolute Zahlen) I. 239
H. Anhang
240
Tabelle IX Gegenüberstellung der prozentualen Sterblichkeit im Norilsker Lager und in sämtlichen Lagern des N K W D / M W D auf der Basis der Zahlen der Sanitären Abteilung des G U L A G , 1932-1959 Norilsker Lager Jahr
Berechnungen der Sanitären Abteilung
Eigene Näherungen
Berechnungen auf der Basis von URO-Daten
Sämtliche Lager des NKWD/MWD
Sämtliche Lager und Kolonien des NKWD/MWD*
1932
4,80%
4,76%
1933
15,20%
15,30%
1934
4,28 %
4,28%
1935
3,63 %
2,75 %
1936
1,01 %
0,75 %
2,43 %
2,11 %
1937
0,70 %
0,85 %
3,01 %
2,42%
1938
0,86 %
0,90%
6,69%
5,35 %
1939
2,42 %
2,47 %
3,30%
3,10%
1940
1,37 %
1,47%
2,96%
2,72%
1941
1,25 %
1,35%
6,11%
6,00%
1942
4,22%**
4,40%
6,48 %
22,22%
24,90%
1943
7,42%**
7,49%
7,76%
22,74%
22,40%
1944
4,84 %
4,88 %
9,49 %
9,20%
1945
3,21 %
3,30%
5,97 %
5,95 %
1946
2,82 %
2,89%
2,61 %
2,20%
1947
3,32 %
3,37 %
3,48 %
1948
1,84%
3,59% 2,28 %
1949
1,14%
1,21%
1950
1,09%
0,95 %
1951
0,95 %
0,92%
1952
0,99%
0,84%
1953
0,82%
0,67 %
1954
0,67 %
1955
0,53 %
1956
0,40%
1957
0,37 %
1958
0,36%
1959
0,37 %
Quellen: GARF R-9414.1.2740: 34, 43, 49, 62, 85; R-9414.1.2784: 7-10, 26; R-9414.1.2788: 3, 6, 9, 11, 15, 17, 19, 24, 27, 30, 33, 34; R-9414.1.2796: 97, 102us., 103, 114us., 128, 141, 247; R-9414.1.2804: 2us., 3, 39; R-9414.1.2817: 2, 11, 21, 30, 39, 48; R-9414.1.2821: 31us., 118us.; R-9414.1.2822: 61us., 62, 126us., 127; R-9414.1.2883: 114, 116 sowie eigene Berechnungen auf der Grundlage von Daten aus Tabelle III und Tabelle VII. * Die Sterblichkeitsziffern der Kolonien flössen erst ab dem Jahre 1934 ein. ** Angesichts der erheblich höheren Sterblichkeitswerte, die in den URO-Statistiken für das Norilsker Lager für die Jahre 1942 und 1943 angegeben sind, wurden auf der Basis dieser Daten und der monatlichen Häftlingszahlen der URO alternative Sterblichkeitsraten berechnet. Für 1942 ergab sich dabei eine ungewichtete mittlere jährliche Häftlingssterblichkeit im Norilsker Lager von 6,48%, für 1943 von 7,76%.
241
II. Häftlingsstatistiken der Norilsker Lager
- Berechnungen der Sanitären Abteilung des GULAG - Eigene Berechnungen unter Verwendung von Näherungswerten - Gesonderte Berechnungen auf der Basis von URO-Daten für 1942/3
1,00
0,00 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953
Quellen: Eigene Berechnungen auf der Basis von Daten aus Tabelle IX. Abb. IV: Entwicklung des Verhältnisses der Häftlingssterblichkeit i m Norilsker Lager zu der mittleren Sterblichkeit in allen Lagern des N K W D / M W D , 1936-1953
20,00 18,00 16,00 14,00
12,00 10,00
• Kultur- und Erziehungsmaßnahmen • Wachtruppcn • Verwaltungsaufwand S Medizinische Versorgung • Infrastrukturelle Aufwendungen H Versorgung mit Gebrauchsgütern • Nahrungsmittelversorgung
8,00
6,00 4,00
2,00 0,00 1941
1942
1943
1944
1945
1946 *
1947
1948
1949
Quellen: GARF. R-8361.1.11: 35; R-8361.1.40: 42; R-8361.1.56: 40; R-8361.1.71: 56; R-8361.1.95: 101; R-8361.1.101: 156; R-8361.1.125: 152us.; R-8361.1.155: 140; R-8361.1.174: 98. * Wie im Text beschrieben, trat am 15. September 1946 eine Preisreform in Kraft, die eine deutliche nominale und relative Verteuerung von Grundnahrungsmitteln mit sich brachte. Abb. V: Entwicklung der Unterhaltskosten für alle arbeitenden Häftlinge i m Norilsker Kombinat, 1941 - 1 9 4 9 (mittlere Aufwendungen für einen Häftling/Tag; Rb.)
16 Ertz
(1)
(2) (3)
(4)
Summe aller Kontingente
(5)
54.404 54.242 60.784 70.599 76.636 80.142 79.114 83.596 82.163 81.448 82.176 88.370 88.386 88.155 85.711 90.983
(6)
(7)
Häftlinge (Verurteilte u. Untersuchungshäftlinge, einschl. Katorga)
32.436 32.573 35.493 38.742 39.476 37.735 37.196 45.297 45.615 44.154 46.151 57.140 56.779 55.246 55.425 60.735
(8)
Wachtruppen und Feuerwehr
2.494 2.609 2.932 3.107 3.803 3.900 3.899 3.626 3.375 4.066 4.341 3.764 3.182 3.929 3.475 3.322
(8a) (9)
Vertragliche Arbeiter, ITR und Angestellte
16.850 10.998 9.782 9.072 7.086 9.591 10.158 15.104 24.691 25.888 24.728 22.713 23.499 24.117 22.023 21.516
(11)
Ehem. Häftlinge, durch spez. Erlasse des GKO an die Bauprojekte des M WD gebunden (10)
(lia)
(12)
Spezialkontingent aus Reihen Repatriierter (13)
Spezialkontingent, überführt zur Spezialumsiedlung (Repatriierte) (14)
CIO) π- (11) ~
Ehem. arbeitsmobilisierte Deutsche, nun Spezialsiedler
[Ab 1947: Ehemalige] Arbeitsmobilisierte (Deutsche, Finnen, Rumänen, Italiener, Ungarn)
Arbeitssiedler
(5) + (6) + (7) + (8)
Ehem. Häftlinge, vertragl. an der Arbeitsstelle belassen 1.468 20.812 1.156 1.832 4.876 20.315 1.234 0 120 2.002 6.192 20.908 1.243 2.500 2.500 140 1.170 11.000 24.349 1.244 6.116 6.116 148 2.679 11.617 25.185 11.611 11.611 364 2.891 12.333 28.715 13.315 13.315 377 2.902 12.278 29.237 12.681 12.681 1.903 7.560 28.193 6.772 2.998 9.770 43 164 28.230 668 7.150 7.818 43 282 175 29.954 169 6.667 6.836 43 278 183 29.069 94 6.394 6.488 43 278 147 26.477 4.311 4.311 43 252 147 26.681 4.443 4.443 43 293 147 28.046 4.167 4.167 284 412 25.498 4.052 4.052 285 451 24.838 4.723 4.723 280 407
H. Anhang
Übrige Spezialsiedler (ehem. Kulaken u. a.)
Quellen: GARF. R-9414.ld.430: lus., 2, 9us., 10, 26us., 27, 33us., 34; R-9414.ld.447: lus., 2, 14us., 15, 22us., 23, 38us., 39; R-1914.ld.457: 2us., 3, 18us., 19, 26us., 27, 38us., 39; R-9414.ld.470: 2us., 3, 14us., 15, 26us., 27, 38us., 39; Werte der Spalten (8a) und (lia): eigene Berechnungen. Die Spaltenüberschriften sind weitgehend den Quellen entnommen.
1945 01.01. 01.04. 01.07. 01.10. 1946 01.01. 01.04. 01.07. 01.10. 1947 01.01. 01.04. 01.07. 01.10. 1948 01.01. 01.04. 01.07. 01.10.
242
III. Organisationsdiagramme
III. Organisationsdiagramme zur administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Bauvorhabens/Kombinates und des Norilsker Lagers
NKWD
— f i —
GULAG Abteilungen des G U L A G für Wirtschaftsfragen: Finanzabteilung, Planabteilung, Bergbauabteilung
—1
Verwaltungen und Abteilungen f ü r : Operatives, Erfassung und Verteilung der Häftlinge, Personai, Sanitäres, Politisches,
Norilsker Bauvorhaben und Norilsker Lager Verantwortlich gegenüber den Wirtschaftsabteilungen des G U L A G hinsichtlich der Ausführung aller Bau- und Produktionsaufgaben sowie aller sonstigen wirtschaftlichen und finanziellen Fragen Verantwortlich gegenüber allen übrigen Abteilungen und Verwaltungen des G U L A G hinsichtlich der lagerspezifischen Funktionen
Administrative Verantwortlichkeit, Weisungsbefugnis Rechenschaftspflicht Abb. V I : Schematische Darstellung der administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Bauvorhabens/Kombinates und des Norilsker Lagers, 0 6 / 1 9 3 5 - 0 4 / 1 9 3 8
243
244
H. Anhang
* Von August 1940 bis Februar 1941 lag die finanzielle, ökonomische und technische Verantwortung weitestgehend bei der neugeschaffenen „Verwaltung für Montan- und Metallurgische Industrie" (UMP), dem Vorläufer der am 26. Februar 1941 gegründeten GULGMP, die wiederum ab diesem Zeitpunkt direkt dem NKWD unterstand (vgl. Abb. VIII). ** Verwaltungen und Abteilungen für Operatives, Erfassung und Verteilung der Häftlinge, Personal, Sanitäres, Politisches, Wachtruppen, Versorgung, Mobilisierung. Abb. V I I : Schematische Darstellung der administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Bauvorhabens / Kombinates und des Norilsker Lagers, 0 4 / 1 9 3 8 - 0 2 / 1 9 4 1
III. Organisationsdiagramme
** S. entsprechende Anmerkung zu Abb. VII. Abb. V I I I : Schematische Darstellung der administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Kombinates und des Norilsker Lagers, 0 2 / 1 9 4 1 - 0 4 / 1 9 5 3
245
H. Anhang
246
^
Überlassung von Arbeitskräften (Häftlingen) auf Vertragsbasis.
Abb. I X : Schematische Darstellung der administrativen Zugehörigkeit des Norilsker Kombinates und des Norilsker Lagers, 0 4 / 1 9 5 3 - 0 8 / 1 9 5 6
IV. Karten zur Dislokation der Norilsker Lager
247
IV. Karten zur Dislokation der Norilsker Lager K P A C H O f l P C K M M (\veMam
uuecnasc
καρηι
a
Μανηινια ψ: ÏOOO.ÛOO
* Ein Maßstab kann aufgrund der mehrfachen Reproduktion nicht angegeben werden. Zur Orientierung: Die Luftlinienentfernung zwischen Norilsk und Dudinka beträgt etwa 80 km. Weitere Erläuterungen s. Abb. Xb.
Abb. Xa: Krasnojarsker Gebiet, nördlicher Teil (mit Lagebezeichnungen von Lagerunterabteilungen des Norilsker Lagers, Stand: erste Jahreshälfte 1952)
H. Anhang
248
Erläuterung der Symbole «»-w-f.
Gebietsgrenzen
•**-*·-φ0ίί-Μ0άαρ; -/j^
;;. ·
Qeprrp*^ 91637
Quelle: GARE R-9414.1.569: 6. * Alle Karten (Abb. X - X I I I ) sind annähernd genordet. Die Legende bezieht sich auf Abb. Χ, X I und XII. Letztgenannte Karten befinden sich in einer speziellen Akte zum Norilsker Lager (GARF. R-9414.1.569), die am 1. März 1952 angelegt wurde. Obgleich sich dort auch Dokumente aus dem Jahre 1953 befinden, müssen die Karten im zweiten Quartal 1952 erstellt worden sein, da sie die Unterschrift des stellvertretenden Direktors des Norilsker Lagers, I. G. Popkov, tragen, der diese Funktion nur bis zum 2. Juni 1952 bekleidete (Smirnov, Sistema ispravitel'no-trudovych lagerej ν SSSR, S. 339). ** Lagerabteilungen des Speziallagers Nr. 2 sind auf diesen Karten nicht verzeichnet. Abb. Xb: Krasnojarsker Gebiet, südlicher Teil (mit Lagebezeichnungen von Lagerunterabteilungen des Norilsker Lagers, Stand: erste Jahreshälfte 1952)
IV. Karten zur Dislokation der Norilsker Lager
Quelle: GARF. R-9414.1.569: 7.
Abb. XI: Gebiet zwischen Norilsk und Dudinka (mit Lagebezeichnungen von Lagerunterabteilungen des Norilsker Lagers, Stand: erste Jahreshälfte 1952)
249
H. Anhang
250
Quelle: GARF. R-9414.1.569: 7. * Die gestrichelten Straßen und Eisenbahnlinien in Bildmitte weisen auf die Standorte der wichtigsten Fabriken und Betriebe hin (vgl. auch Abb. XIII). Manche der Lagerabteilungen sind von stilisiertem Stacheldraht umgeben. Deutlich erkennbar sind im Westen das Profil des „Smidt-Berges", in dem Steinkohle gefördert wurde, sowie im Süden verschiedene weitere Bergzüge, in denen sich die als erstes entdeckten Erzlagerstätten befanden. Abb. X I I : Norilsk und nähere Umgebung (mit Lagebezeichnungen von Lagerunterabteilungen des Norilsker Lagers, Stand: erste Jahreshälfte 1952)
IV. Karten zur Dislokation der Norilsker Lager
251
Quelle: GARF. R-9414.1.2599: 35. * Im Gegensatz zu Abb. XII ist in dieser Karte der Verlauf der neutrassierten Regelspurbahn (1.524 mm) verzeichnet, die 1952 endgültig in Betrieb genommen wurde und die an ihre Kapazitätsgrenzen stoßende Schmalspureisenbahnstrecke als Hauptverkehrsader zwischen Norilsk und Dudinka ersetzte. Ferner sind die wichtigsten Fabriken des Kombinates sowie das Areal der im Bau befindlichen Stadt erkennbar (bei letzterem handelt es sich um das Siebeneck, das die Lagerverwaltung und drei der Lagerabteilungen des Speziallagers umschließt). Abb. X I I I : Norilsk und nähere Umgebung (mit Lagebezeichnungen der Lagerunterabteilungen des Speziallagers Nr. 2, Stand: 1953)
252
H. Anhang
V. Ansichten des Norilsker Bauvorhabens /Kombinates
Abb. XIV: „Smidt-Berg", im Vordergrund erste Gebäude des Norilsker Bauvorhabens (1937)
Abb. XV: Ansicht der Außenanlagen des Erzstollens 2 / 4 (1940er Jahre - 1948 oder früher)
V. Ansichten des Norilsker Bauvorhabens/Kombinates
Abb. XVI: Teilansicht der „Großen Metallurgischen Fabrik". Hinter den vorderen Fußgängern auf der Straße ist ein Wachturm erkennbar (1943/44)
Abb. XVII: Vorbereitung von Sprenglöchern im Erztagebau (1940er Jahre - 1948 oder früher)
253
254
H. Anhang
Abb. XVIII: Stützarbeiten in einem Kohlestollen (1940er Jahre - 1948 oder früher)
Abb. XIX: Aleksandr Panjukov (2. v. 1., mit schwarzer Kappe), Direktor des Kombinates und Lagers von 1941 bis 1948, bei einer Besprechung mit leitenden Mitarbeitern der Kapitalbauverwaltung (zwischen 1945 und 1947)
Quellen: Abb. XV, XVII, XVIII: RGAÉ. 8704.1.956; Abb. XIX: RGAÈ. 8704.1.964; Abb. XIV, XVI, XX bereitgestellt vom Museum für die Geschichte der Norilsker Industrieregion, Norilsk.
Abb. XX: Teilansicht von Norilsk vom Fuße des „Smidt-Berges" aus (der Großteil der Industrieanlagen und das spätere Stadtzentrum liegen außerhalb des Blickfeldes). Im Vordergrund links ist die mit doppeltem Stacheldraht umzäunte 2. Lagerabteilung des Norilsker Lagers zu erkennen. Mitte, möglicherweise Ende der 1940er Jahre.
V. Ansichten des Norilsker Bauvorhabens / Kombinates 255
Quellen- und Literaturverzeichnis I. Quellen 1. Dokumente der sowjetischen Staats- und Parteiorgane Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau (GARF) Bestand R-5446: Rat der Volkskommissare/Ministerrat der UdSSR. Bestand R-8361: Hauptverwaltung der Lager der Montan- und metallurgischen Unternehmen des Volkskommissariats / Ministeriums für Inneres der UdSSR. Bestand R-9401: Volkskommissariat/Ministerium für Inneres der UdSSR. Bestand R-9414: Hauptverwaltung der Haftanstalten des Volkskommissariats/Ministeriums für Inneres der UdSSR. Teile der Bestände R-9414 und R-5446 wurden benutzt in den Archiven der Hoover Institution on War, Revolution, and Peace, Stanford, Kalifornien. Staatliches Russisches Archiv für Wirtschaft, Moskau (RGAÉ) Bestand 8704: Hauptverwaltung der Lager der Montan- und metallurgischen Unternehmen des Volkskommissariats / Ministeriums für Inneres der UdSSR. Bestand 9022: Ministerium für Buntmetallurgie der UdSSR. Staatliches Russisches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte, Moskau (RGASPI) Bestand 17: Zentralkomitee der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bol'seviki/der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Informationszentrum des UMWD des Krasnojarsker Gebiets, Krasnojarsk Kopien von ca. 20 unterschiedlichen Dokumenten aus dem Archivbestand des Norilsker Lagers, bereitgestellt von Volodja Birger (Memorial Krasnojarsk); im Besitz des Autors. Quelleneditionen Chlusov, M. I. (Hg.): Ekonomika GULAGa i ee rol' ν razvitii strany, 1930-e gody: Sbornik dokumentov, Moskva: Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Rossijskoj Istorii, 1998. Danilov, V. P. /Krasil'nikov, S. A. (Hg.): Specpereselency ν Zapadnoj Sibiri (4 Bde.), Novosibirsk: Nauka (Bd. l)/ÈKOR (Bde. 2 - 4 ) , 1992-6. Dugin, Α. N. (Hg.): Neizvestnyj GULAG: Dokumenty i fakty, Moskva: Nauka, 1999. Istorija stalinskogo Gulaga: Konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov, Sobranie dokumentov ν 7-mi tomach, Moskva: ROSSPÉN, 2004-5 (7 Bde.). Kokurin, Α. I.IMorukov, Iu. N. (Hg.): Stalinskie stroiki GULAGa: 1930-1953 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva: Materik, 2005. 17 Ertz
Quellen- und Literaturverzeichnis
258
Kokurin, k.UPetrov, Ν. V. (Hg.): GULAG (Glavnoe Upravlenie Lagerej): 1918-1960 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva: Materik, 2000. Krasil'nikov, S. A. (Hg.): Rozdenie GULAGa: Diskussii ν verchnich eselonach vlasti, in: Istoriceskij Archiv, 5 / 4 (1997), S. 142-156. Kvasonkin, Α. V./ Livsin, A. Ja J Chlevnjuk, Ο. V.: Sovetskoe Rukovodstvo: Perepiska 1928 — 1941, Moskva: ROSSPEN, 1999. Vilenski, S. S J Kokurin, Α. I. /Atmaskina, G. V./Novicenko, I. Ju. (Hg.): Deti GULAGa: 1918-1956 (Rossija. XX vek. Dokumenty), Moskva: Materik, 2002.
2. Persönliche Zeugnisse ehemaliger Gefangener Unveröffentlichte Staatliches Russisches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte, Moskau (RGASPI) Kalejs, Avgust S.: Pis'mo ο stroiteljach Noril'ska, 1965, RGASPI. 560.1.14. Repin, Michail V.: Erinnerungen (ohne Titel und Jahr), RGASPI. 560.1.31. Archiv des Moskauer Zentrums zur wissenschaftlichen Information und Aufklärung „Memorial" (AMCM) Ceburkin, Pavel V.: Erinnerungen (ohne Titel und Jahr), AMCM. 2.1.125. Kurbatova, Evgenija G.: Moi vospominanija, 1991, AMCM. 2.2.51. Odolinskaja, Nina F.: Sovetskie katorzanki, 1991, AMCM. 2.2.66. RavdelZacharL:
Kaplja okeana, 1960, AMCM. 2.1.100.
Sagojan, Pëtr Ο.: 1937 god ν moej zizni, 1989, AMCM. 2.1.104. Semakin, Nikolaj K.: Vospominanija ostavsegosja zivym nevol'nika, 1996, AMCM. 2.3.58. Starovojtov,
Aleksandr E.: Êto bylo pravda, 1988, AMCM. 2.1.115.
Torbin, Stepan S.: Vospominanija, 1993, AMCM. 2.2.91. Wintens, Fëdor I.: Zapiski na pamjat', 1992, AMCM. 2.2.11.
Veröffentlichte Antipova , Α.: Nacional'nost': zakljucennyj, in: Noril'skij Memorial, 3 (Okt. 1996), S. 1214. Badas, Semën I.: Kolyma ty moja, Kolyma... Dokumentär naja povest', New York: Effect Publishing, 1986. Berger-Barzilaj, Iosif M. [Pseudonym für Zeleznjak, Isaak]: Krusenie pokolenija. Vospominanija, Firenze: Aurora, 1973. Bystroletov,
Dmitrij Α.: Pir bessmertnych: Putesestvie na kraj noci, Moskva: Granica, 1993.
Gabris, Roberts: Norilsk - Baltic Katyn, Riga: Liesma, 1998 [?]. Gaevskij, Aleksandr Α.: Erinnerungen (ohne Titel und Jahr), veröffentlicht unter http:// www.memorial.krsk.ru / memuar / mgaew.htm.
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Index Allgemeine Arbeiten 135, 194-211 Amnestien - 1945 19,81 - 1953 62,79,81 - für Schwangere und Mütter von Kleinkindern 100 Arbeitsanreize 157-158, 215 siehe auch Arbeitslöhne; Arbeitstaggutschriften; Prämien, monetäre Arbeitsausnutzung - Grad 117-122, 179,213-214 - Strategie 118-119, 157-158, 213-215, 216-220 Arbeitsbedingungen - Schilderungen 194-211, 216 Arbeitslöhne (für Häftlinge) 176-188, 215 - Befreiungsfonds 186-187 - Berechnung 177 - Einführung 176-179 - Höhe 181-184 - im Speziallager 177, 181 - Lohndifferenzierung 177-178, 182-184, 185-186 - Vergleich mit regulären Industrielöhnen 181-182
Arbeitsnormen 158-160, 202, 211 Arbeitsproduktivität 157, 224-225 siehe auch Arbeitsanreize Arbeitstaggutschriften 162, 163-171, 179, 186, 201-202,215 - Sonderregelung in Norilsk 169-171 Arbeitsunfälle 115,200-201,204-205,210 Arbeitsverweigerung 118, 160, 166 Arbeitszeit - Länge 143-156,214 - Jahresarbeitszeit 143-152 - Tagesarbeitszeit 152-156 - Vergleich mit regulärer Industriearbeitszeit 150,156
Archive, frühere sowjetische - für die Themenstellung relevante 25 - 27 - Öffnung 15, 25 Aufseher 116, 128, 192, 193 Baikal-Amur-Lager 41, 45, 165 Baikal-Amur-Magistrale 41 Berija, Lavrentij 60, 81, 87, 92, 137, 145, 165,168,169, 176 „Besserungsarbeit" am Arbeitsplatz 18 „Besserungsarbeitskolonien" - Merkmale 23, 43 siehe auch Haftverbüßungs- und Verbannungsorte, unterschiedliche Typen „Besserungsarbeitslager" - Entstehung und Merkmale des Typus 23, 39,41-44 Bockov, Viktor 81 Bodenschätze siehe Norilsker Region Brigaden - Arbeitsorganisation in 163, 202-203, 205,211 Brigadiere 163, 179, 203, 205, 209-211 Bystroletov, Dmitrij 195-196 Bytoviki 134 Ceburkin, Andrej 128 Ceburkin, Pavel 87, 112, 114, 185, 209 Cernysov, Vasilij 83, 145, 152, 153, 176, 187 CK siehe Politbüro Dal'stroj 62, 81, 104, 106, 128, 167, 169, 176 Dauerfrostboden 33, 36, 135, 195-196, 205 Deportationen siehe auch Verbannte - von „Kulaken" 39, 43, 125 - von ethnisch-nationalen Gruppen 43, 125-126 Dmitrovskij-Lager 41, 45
Index Dobrovol'skij, Nikolaj 76, 169 Dochodjagi 209 Dolgich, Ivan 116, 119, 187 Dudinka 34, 37 - Lagerabteilung 34, 154, 199, 204, 211 Eisenbahn Cum-Salechard-Igarka 37, 167 Eisenbahn Dudinka-Norilsk 37, 69 Enisej 33, 37-38, 85, 112, 204 - Schiffbarkeit 38 Exekutionen siehe Terror Fachleute unter den Häftlingen Verwendung 133-138, 142, 214 Feinstein 59, 66 - Produktionsziffern 228-229 Fluchtversuche 79 Frauen unter den Häftlingen - im Lagersystem 87, 100-101, 118 - in Norilsk 85, 87, 111, 198-202, 205208,211 Freie Beschäftigte des Kombinates - Anzahl 129 - Privilegien 127-128 Gabris, Roberts 148, 151, 176, 186, 202204 Gaevskij, Aleksandr 52, 86, 109, 112, 148, 155, 166, 196-198 Gefängnisse 44 Geheimhaltung im Sowjetstaat 25-26 Genesungspunkte /-kommandos 118, 179 — 180 GKO - Beschlüsse zum Lagersystem 127, 129 - Beschlüsse zum Norilsker Kombinat /Lager 126 Glavpromstroj 93, 167 Gorsenin, Konstantin 55 Grodzidskij, Jan 209 GULAG - Aufgaben 49-51 - Gründung 16 - Reorganisation Anfang der 1940er Jahre 51 Gulag - Verwendung des Begriffs in der Literatur 16-20
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GULGMP - Gründung und Aufgaben 5 0 - 5 1 Häftlinge siehe auch Katorga-Häftlinge - politische'/gewöhnliche' 13-14, 134 — 136, 191, 196,211 - Arbeitsausnutzung 117-122, 130-142 - Arbeitsfähigkeit 82-89 - Auslese widerstandsfähiger 84-86, 106, 213,216-217 - Gesundheitszustand 82 - 89 - Transport nach Norilsk 38, 78, 85-86, 109 -Unterbringung 75-76, 190, 197-198, 199, 203,205-206 - Unterhaltskosten 172, 219, 241 Häftlingssterblichkeit 213 - Beerdigungen 96, 109 - im Lagersystem 104-106, 109-110, 240-241 - in Norilsk 101 -109, 197, 238-241 - infolge von Arbeitsunfällen 115 - infolge von Gewaltverbrechen 115, 180 - Obduktionen 96 - Verläßlichkeit behördlicher Statistiken 91-101 - wirtschaftliche Implikationen 89 - 90 Häftlingszahlen - Hintergründe der Entwicklung 19, 7 9 - 8 1 - im Lagersystem 13, 79-81, 237 - in Norilsk 24, 77-79, 234-237 - Verläßlichkeit behördlicher Statistiken 28-30 Haftverbüßungs- und Verbannungsorte, unterschiedliche Typen 43-44 Hunger - Hungersnöte in der UdSSR 80, 113, 213 - in Norilsk 107, 111-113, 161, 199, 202, 205-207, 209 Hygiene (mangelnde) 75, 107, 198, 200, 205-207 Industrialisierungskampagne - sowjetische 39, 59, 64, 212 Ingenieure und technisches Personal 134 — 135, 139-142, 159, 170, 177, 194-195, 197-198, 200, 224, 225-226 „Invalide" 82-84, 88-89, 179
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Index
Inzir, Lev 92 ITL siehe „Besserungsarbeitslager" ITR siehe Ingenieure und technische Angestellte Jagoda, Genrich 45, 48, 108 Justizministerium 16, 55, 246 Juzuralnikel' - Nickelkombinat 64-65, 67 Kaiargon, Lagerabteilung 96 Karagandaer Lager 21-22, 137 Karten - zum Norilsker Lager 247 - 250 - zum Speziallager Nr. 2 251 Katorga-Häftlinge 70-71, 81, 113-114, 145 - in Norilsk 71-72, 113-114, 148, 205208,212, 235-236 Kersnovskaja, Evfrosinija 47, 86, 95-97, 103, 134, 148, 154, 160, 175, 186-187, 199-202, 206,217 Klima siehe Norilsker Region Klimovic, Rygor 99, 159, 205 Kobalt - Produktionsziffern 228-229 - Vorkommen 40, 68 Kohle - Fördermengen 228-229 - Vorkommen 40, 60, 68 Komi - Autonome Region 41 Konterrevolutionäre Straftaten 13 Korruption 174, 201, 210-211 Kostendeckungsprinzip 42, 220 Krankenstand 120-122, 179-180, 214 Krankheiten - Dystrophie 161, 209 - Erkältungen 210 - Pellagra 161 - Ruhr 109, 161 - Skorbut 37, 85, 111,204,210 - Tuberkulose 85, 161 Krasnojarsk 37 - Affinagefabrik 59 - Lagerabteilung 38, 85-86, 154, 199 Kriminalität im Lager 116, 180
Kruglov, Sergej 55, 62, 76, 128, 176 Kupfer - Produktionsziffern 228-229 - Vorkommen 39-40, 68-69 Kurbatova, Evgenija 154, 198-199 Kuznecov, P. I. 55-56 Lagersystem - Forschungsproblematik 13-21 - Funktionen 20 - 21, 41 - 44 - Umfang 23 - Ursprünge 39, 41-43 Ljamin, V. S. 119, 168 Loginov, Aleksej 56, 62 Lukasevic, Ol'ga 194-195 Malenkov, Georgij 169, 176 Malevic, Jadviga 211 Matveev, Vladimir 48, 49, 52, 57, 84, 160 Mechanisierung von Arbeitsprozessen 62, 195,203-205,225,227 Mednis, Adam 191 Ministerium für Buntmetallurgie 54, 55, 67, 246 Ministerium für Metallurgie 54, 62 Ministerrat 27 - Beschlüsse zum Lagersystem 41, 54, 72, 129, 167-168, 176-177 - Beschlüsse zum Norilsker Kombinat/Lager 40 Minorovic, Jan 149, 155, 208-209 Molotov (Region) 224 Molotov, Vjaceslav 49 Moskau-Wolga-Kanal 41 Nahrungsmittelversorgung in Norilsk 37, 45, 107-108, 112-113, 114, 178, 197, 213 Nahrungsrationen - Abhängigkeit von der Planerfüllung 160161, 173-174, 200-201,203-205, 208, 210-211,215 - Umfang 199, 202, 206-207 Nasedkin, Viktor 47, 81, 83, 93, 118, 145, 153,172 Nickel - (verzögerte) Aufnahme der Produktion in Norilsk 59
Index - Produktionsziffern 228-230 - Verwendung 63 - 64 - Vorkommen 39-40, 68-69 Nickelindustrie - sowjetische 64-67 NKGB/MGB 16 N K W D / M W D 16 - Gründung 40 Nördlicher Seeweg 38 Nordöstliches Lager 41, 45, 70, 81, 99, 165 Noril'skij NikeV (modernes Unternehmen) 223 Norilsk - heutiger Zustand 223 - Stadtgründung 223 Norilsker Kombinat - administrative Struktur 46-49, 52-54, 243-246 - Baubeschluß 40 - Beitrag zur Kriegswirtschaft 65 - 67 - Investitionen, Höhe und Art 63, 233 - landwirtschaftliche Aktivitäten 37, 132 - Produktionsziffern 228-232 - Projektierung 36, 59-60 - Rohstoffbasis siehe Norilsker Region, Bodenschätze - wirtschaftliche Entwicklung 57 - 63 - wirtschaftspolitische Bedeutung 63-69 Norilsker Lager - administrative Struktur 46-49, 52-54, 69, 243-246 - Auflösung 62 - Ausdehnung 69 - 70 - unterschiedliche Regimetypen 70 - 71 Norilsker Region - Bodenschätze 38-40, 59-60, 68-69 - Erschließungsgeschichte 38-40 - geographische Lage 33 - Klima- und Witterungsbedingungen 36 - ökologische Schäden 36, 223 - Transport- und Versorgungsprobleme 36 38 - Vegetation 33 Numero ν, Nikolaj 149, 154 Oberster Volkswirtschaftsrat 39 Odolinskaja, Nina 148-149, 160, 205-208
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OGPU 16 - Lagersystem der 39 Ordjonikidze, Grigorij („Sergo") 40,49 Panjukov, Aleksandr 52, 254 Platingruppe, Metalle der - Produktionsziffern 228-230 - Vorkommen 68 - 69 Polarnacht 35, 103, 197, 209 Politbüro 27 - Beschluß zur sowjetischen Nickelindustrie 64 - Beschlüsse zum Lagersystem 41, 54, 72, 129, 167, 176-177 - Beschlüsse zum Norilsker Kombinat /Lager 39-40, 60, 128 Popkov, I. G. 248 Potapov, Michail 37 Prämien - monetäre 45, 171 - 176, 208, 215 - Höhe 172-173 Präsidium des Obersten Sowjet - Beschlüsse zum Lagersystem 70, 81, 100, 125, 126, 166 Preisreform 1946 174, 222 Pripiski 160, 173 Profitabilität siehe Wirtschaftlichkeit Qualifikation - Erwerb im Lager 162, 209 Quarantäne 118, 194, 206 Quellen, behördliche 25 - 27 - Art und Vollständigkeit 26-28 - Verläßlichkeit 28-30 - Wert25-26 Quellen, Selbstzeugnisse ehemaliger Häftlinge 30, 189-194 Rat der Volkskommissare siehe Ministerrat Ravdel', Zachar 134, 148, 153, 209-211 Repatriierte (ehemalige sowjetische Kriegsgefangene) 129, 242 Repressionen 13-14 -gegen »politische' Häftlinge 135-136, 214,218 siehe auch Terror
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Index
Ressource - Zwangsarbeit als 216 - 218 Rubeko, Mitrofan 86, 148, 175 Sagojan, Pëtr 209 Sanitärabteilung (des GULAG) - Aufgaben 28, 92 -Statistiken 87-89, 91-95, 97-100, 101-102, 105-106, 238, 240 Säuglingssterblichkeit 100-101 Schneestürme 35, 36, 58, 107, 148, 151, 160, 197, 202 Severonikel', Kombinat 64-65, 67 Sevvostlag siehe Nordöstliches Lager Smidt, Otto Iu. 210 Sokolov, Α. P. 134, 137 Solovecker Lager/Gefängnis 42, 86, 109, 194-195 Spezialkontingent 128-129, 242 Speziallager (allgemein) 72, 145 Speziallager Nr. 2 24, 213 - Gründung und Struktur 73 - Häftlingsaufstand 73-74, 103 Stachanov-Bewegung 161-163, 165,215 Stalin, Josef 19, 23, 27, 40, 49, 169, 176 - Tod 14, 43, 79, 81, 125, 168, 214, 220 Stalingrad, Schlacht von 148 Starovojtov, Aleksandr 195 Stoßarbeiter 163, 165, 215 Strafjustiz - allgemeine 14, 80 - politische 14, 81 Strategie siehe Arbeitsausnutzung Temnikovskij-Lager 45 Terror - Exekutionen 98-99 - späte 1930er Jahre 80, 98, 213 - Zweiter Weltkrieg 99 Tevosjan, Ivan 55 Todesstrafe, temporäre Abschaffung 44, 115 Torbin, Stepan 63, 86, 114 Transsibirische Eisenbahn 37, 85 Trofimov, Β. P. 168 Trus, Leonid 149 Tuf ta 159, 173 Uchta-Pecora-Lager 41, 45, 70 Ufa, Nickelkombinat 65, 67
Ugolovniki 134 siehe auch Urki; Vory-v-zakone; Kriminalität im Lager Umerziehung der Häftlinge 42, 218 Ungeziefer 198-199, 207 Urki 190, 196 URO - Aufgaben 28, 93 - Statistiken 28, 78, 91-92, 93-95, 9 8 100, 101-102, 105-106, 120, 234-242 Urvancev, Nikolaj 39 Vajgacskaer Expedition 164-165 Verbannte - im Norilsker Kombinat 125-126, 129, 242 - Status 17, 43 - Zahlen 43 Vereinigte Staaten von Amerika 60 Veselovskij, Boris 186 Vintens, Fëdor 99, 136, 166, 194-195 Vitman, Boris 204-205 Vorkutinsker Lager 165 siehe auch Uchta-Pecora-Lager Voroncov, Α. E. 40 Vory-v-zakone 116, 190, 196 Wachsoldaten 73, 96, 116, 192, 193, 242 Weißmeer-Ostsee-Kanal 41, 43, 164 Weißmeer-Ostsee-Lager 41, 45 Weltkrieg, Zweiter 70 - bevorzugte Versorgung des Norilsker Kombinates 60-61, 112 - erhöhte Häftlingssterblichkeit im Lagersystem 213, 105, 109-110, 197 - Rückgang der Häftlingszahlen 81 - Verlängerung der Arbeitszeiten 144-145, 150, 153, 156 - Versorgung des Kombinates mit Arbeitskräften 126 - Versorgungsstörungen in Norilsk 61, 112-113 Wirtschaftliche Logik der Ausnutzung von Zwangsarbeit im Stalinismus 219-220 Wirtschaftlichkeit der Ausnutzung von Zwangsarbeit - ethische Bewertung 227 - im Lagersystem 221-222 - in Norilsk 221-227
Index - politische Bewertung 227 - quantitative Bestimmung 221 -227 Wirtschaftsrat beim Rat der Volkskommissare 127 Zavenjagin, Avraamij 49, 52, 62, 134, 137, 151,160 Zeleznjak, Isaak 92, 99, 111 Zertifiziertes Wetter 152, 195, 201, 208 Zielhierarchie - der Leitung des Lagersystems 49, 53 - 54, 56, 167-168,213,217-218
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- der Norilsker Kombinats- und Lagerleitung 53, 56,213,217-218 Zielkonflikt zwischen wirtschaftlichen und penitentiären Interessen 53 - 56, 75 - 76 Zivile Beschäftigte des Kombinates 214 - Anzahl 123-124 - Herkunft und Status 124-127, 129-130 - Verwendung 130-133 Zverev, Vladimir 52-53, 55, 73, 76, 116, 129, 169-171, 178-180, 181, 185 Zwangsmittel 157-158, 160-161, 166, 215